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German Pages [277] Year 2019
Schriften des Zentrums für Europäische und Internationale Strafrechtsstudien
Band 10
Herausgegeben von Arndt Sinn
Georg Michael Gesk / Arndt Sinn (Hg.)
Organisierte Kriminalität und Terrorismus im Rechtsvergleich Deutsch-Chinesischer Rechtsdialog, Band I
V&R unipress Universitätsverlag Osnabrück
Dieser Band ist in Zusammenarbeit des Zentrums für Europäische und Internationale Strafrechtsstudien (ZEIS) und des Center for International Research on Chinese Law and Economics (CIRCLE) entstanden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Sievert Stiftung für Wissenschaft und Kultur. © 2019, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5367 ISBN 978-3-7370-0951-5
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Georg Gesk Organisierte Kriminalität und Terrorismus als interkulturelle Rechtsphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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LIU Mei / ZHENG Xi Bestimmungen der Chinesischen Strafprozessordnung gegen organisiertes Verbrechen und Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bernhard Kretschmer Terrorismusverfolgung in Deutschland – tatsächliche und rechtliche Aspekte zum islamistischen Terror . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XIONG Qi Die organisierte Kriminalität und ihr »Schutzschirm« in der VR China – Eine Betrachtung aus kriminologischer und rechtsdogmatischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Pierre Hauck Organisierte Staatenkriminalität
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YU Liang Reflexion der chinesischen Strafgesetzgebung zum Cyber-Terrorismus . . 105 Arndt Sinn Ermittlungen im Darknet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
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Inhalt
CHANG Liching Sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen und Organisierte Kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Sven Peterke Terroristen als Kriegsverbrecher vor dem IStGH – Anmerkungen zum Fall al-Mahdi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 ZHANG Jie Die internationale Zusammenarbeit Chinas im Anti-Terrorismus im Rahmen der Shanghai Cooperation Organization . . . . . . . . . . . . . . . 209 Georg Gesk Transnationale Strukturen im Strafprozessrecht – das Beispiel der gemeinsamen Ermittlungsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 JIANG Su Der Erziehungsarrest in der chinesischen Anti-Terrorismus-Gesetzgebung 251 Autorenverzeichnis
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Vorwort
Organisierte Kriminalität und Terrorismus sind Themen, welche die kriminalpolitische Diskussion der letzten Jahrzehnte weltweit beherrscht haben. Gründe dafür sind die internationale Dimension beider Phänomene und ihr zerstörerisches Wirken, das sich bei organsierter Kriminalität in den enormen Gewinnen aus illegalen Aktivitäten zeigt und bei Terrorismus zu vielen Opfern führt, die Gesellschaft erschüttert und Demokratien gefährdet. Nicht zu übersehen ist, dass sich organsierte Kriminalität und Terrorismus »modernisiert« haben. Das zeigt sich beim Einsatz technischer Innovationen ebenso wie bei Verschränkungen beider Phänomene, die zunächst tatsächlich kaum wahrgenommen wurden und rechtlichen Anpassungsbedarf erfordern. Obwohl der Begriff »organisierte Kriminalität« keine Entdeckung der jüngeren Zeit ist, fand jedenfalls in Deutschland erst in den letzten 30 Jahren eine intensive rechtliche Auseinandersetzung mit ihr statt, während das Phänomen des Terrorismus vor dem Hintergrund der RAF-Anschläge schon länger diskutiert wurde. Maßgeblich waren vor allem eine besorgniserregende Entwicklung der Rauschgiftkriminalität und eine zunehmende organisierte Begehungsweise dieser und anderer Straftaten. Auch die strafprozessuale Bewältigung dieses Phänomens begann erst in den 1980er Jahren in rechtsstaatlichen Bahnen zu verlaufen und mündete unter anderem in einem Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität (OrgKG vom 15. 7. 1992). Mit diesem Gesetz wurde der Grundstein für ein modernes Verfolgungskonzept der OK gelegt. Zielsetzung war es im Allgemeinen, die Ermittlungs- und Aufklärungsmöglichkeiten im Hinblick auf die besonderen Strukturen der organisierten Kriminalität und auf die fortschreitende Professionalisierung der Straftäter in diesem Bereich zu verbessern. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde auch in Deutschland ein neues Kapitel der rechtlichen Bewältigung des Terrorismus aufgeschlagen, das neue Kontroversen ausgelöst hat. In China wähnte man sich lange Zeit in einer Situation, in der man sich vom Terrorismus nicht betroffen sah und in der man glaubte, organisierte Kriminalität sei in
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Vorwort
einem sozialistischen Land kein mögliches Problem. Spätestens seit dem Jahr 2008, in dem sich ein Scharfschütze im Botschaftsviertel in Beijing verschanzt hatte, war klar, dass der Terrorismus in der Mitte der chinesischen Gesellschaft angekommen war. Auch der Einfluss organisierter Verbrechensstrukturen lässt sich seit einigen Jahren nicht mehr leugnen. Als Konsequenz dieser Entwicklungen haben auch in China Gesellschaft, Strafrecht und Politik angefangen umzudenken und nach neuen Antworten zu suchen. Erste wichtige Änderungen vollzogen sich mit der Reform des Strafprozessrechts 2012, im materiellen Recht wurden insbesondere 2015 neue Straftatbestände in das chinesische Strafgesetzbuch eingefügt, beinahe zeitgleich wurde ein Anti-Terrorismus-Gesetz verabschiedet, das im chinesischen Zusammenhang erstmals versucht, den Begriff des Terrorismus tatsächlich zu definieren. Somit hat sich die normative Situation in den letzten Jahren stark verändert und es ist sinnvoll, die Erfolge bzw. Unzulänglichkeiten der neuen Bestimmungen und der seither gemachten Erfahrungen kritisch zu begleiten. Der vorliegende Band gibt einen Einblick in die rechtliche Bewältigung beider Kriminalitäsphänomene aus deutscher und chinesischer Sicht. In den hier abgedruckten Beiträgen eines im Sommer 2017 an der Universität Osnabrück veranstalteten Symposiums spiegelt sich ein wichtiger Schritt zum Verständnis der rechtlichen Regelungen in den beiden beteiligten Ländern wider. Wenn dieser Band auch die damit zusammenhängenden Fragen nicht nur aus deutscher und chinesischer Perspektive beleuchtet, sondern weitere Brücken zum internationalen Strafrecht und zum in Taiwan geltenden Recht schlägt, dann ist dies ein wichtiger weiterer Schritt, um eine Einordnung der damit zusammenhängenden Phänomene zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Gleichzeitig wird aus den Beiträgen deutlich, dass gerade bei organisierter Kriminalität und Terrorismus materielles und prozessuales Strafrecht ineinandergreifen, ja sogar das Maßnahmen- bzw. Strafvollzugsrecht im weiteren Sinne miteinander verschränkt werden. So hoffen die Autoren nunmehr, dass die vielen in dieser Publikation angesprochenen Aspekte Grund zum Dialog im Rahmen einer größeren akademischen Öffentlichkeit gibt und sich weitergehende Möglichkeiten für einen Fachdiskurs ergeben. Dass die vorliegenden Beiträge und der Dialog, von dem sie zeugen, möglich wurden, verdanken die Herausgeber zum einen den Autorinnen und Autoren, die sich nicht gescheut hatten, sich auf das Wagnis eines Diskurses über die behandelten Themen einzulassen, sondern die auch nicht müde wurden, Manuskripte nachzuarbeiten und für Rückfragen zur Verfügung zu stehen. Zum anderen geht ein ganz großer Dank an die Sievert-Stiftung für Wissenschaft und Kultur und deren Vorsitzenden Prof. Dr. Hans-Wolf Sievert. Deren finanzielle und ideelle Förderung hat nicht nur den Lehrstuhl für Chinesisches Recht am
Vorwort
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rechtswissenschaftlichen Fachbereich der Universität Osnabrück ermöglicht, sondern sie war auch für die Gründung des CIRCLE (Center for International Research on Chinese Law and Economics), in dessen Rahmen das Symposium 2017 stattfand, essentiell wichtig. Ohne diese gezielte Förderung hätte weder die reichhaltige Partizipation chinesischer Kolleginnen und Kollegen organisiert werden können, noch wäre der Druck des vorliegenden Bandes abgesichert gewesen. Ebenso sind natürlich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie das Sekretariat der Professur für Chinesisches Recht Feng Yimeng, Milena Mühlenkamp, Katrin Sowinski, Julia Feldkamp und Andrea Wittur-Münnich zu erwähnen, ohne die weder das Symposium, noch die Übersetzungen, noch die Erstellung des Manuskripts des vorliegenden Bandes möglich gewesen wären. Bei den Übersetzungen soll auch die tatkräftige Mithilfe von Frau Ying Lackner nicht unerwähnt bleiben, dennoch sind alle schriftlichen Übersetzungen von mir (Georg Gesk) mindestens sprachlich noch einmal überprüft, wenn nicht komplett erstellt worden. Dass die nunmehr erfolgende Publikation trotz all der Verzögerungen, die es gab, den Weg ins Verlagsprogramm von Vandenhoeck & Ruprecht unipress gefunden hat, auch dafür sei hier herzlich gedankt. Georg Gesk Bissendorf 5. 2. 2019
Arndt Sinn Bad Iburg, 5. 2. 2019
Georg Gesk*
Organisierte Kriminalität und Terrorismus als interkulturelle Rechtsphänomene
Im Rechtsdialog zwischen Deutschland und China gibt es auch und gerade im Bereich des Strafrechts einen großen Dialogbedarf. Das Verbrechen ist zunehmend international, das Strafrecht verharrt auf Grund seiner Anbindung an den Souveränitätsgedanken und auf Grund der für eine Gesetzgebung notwendigen staatlichen Strukturen überwiegend auf einer nationalen Perspektive. Dennoch – wie an dem in diesem Band angesprochenen Thema mehr als deutlich wird, befinden wir uns in einer Welt, in der sowohl die organisierte Kriminalität, als auch der Terrorismus zunehmend international strukturiert sind. Daher ist eine effektive Repression und Prävention relevanter Verbrechenstypen nur schwer erreichbar, wenn man sich lediglich in den Schranken des traditionellen Strafrechts bewegt: der souveräne Staat, der nur innerhalb seiner Grenzen das eigene (Straf)-Recht durchsetzt, kann nur bedingt auf internationale Verbrechensstrukturen reagieren und muss sich daher in seinen Ermittlungs- und Verfolgungsmöglichkeiten auf diese neue Realität einstellen. Die Herausforderungen, die sich daraus ergeben, und die Lösungsansätze, die in allen der hier vorliegenden Beiträge sichtbar werden, sprechen ihre eigene Sprache und machen mehr als deutlich, wie der Dialog als Wegbereiter der Zusammenarbeit wichtig ist. Will man aber zu einer effektiven Zusammenarbeit zwischen zwei Rechtskulturen und Rechtssystemen kommen, dann ist es unabdingbar notwendig, dass man sich über Gemeinsamkeiten und Differenzen gegenseitig austauscht. Nur so wird deutlich, wo gangbare Wege sind, die beiden Rechtskulturen eine effektive und rechtsstaatlichen Grundsätzen genügende Zusammenarbeit erlauben. Gleichzeitig wird daraus aber auch deutlich, wo Standpunkte und ungelöste bzw. unzureichend gelöste Problemlagen der einen Seite für die jeweils andere Seite zu Klippen werden, die eine Zusammenarbeit entweder gefährden oder unter Umständen sogar partiell unmöglich machen. Dabei fällt innerhalb der topischen Betrachtung von organisierter Kriminalität und Terrorismus zunächst auf, wie beide Seiten von sehr unterschiedlichen * Prof. Dr. (NTU) Georg Gesk, Universität Osnabrück
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Georg Gesk
dogmatischen Einordnungen ausgehen. Auf deutscher Seite ist hierbei zu beachten, dass es im Strafgesetzbuch den Begriff der organisierten Kriminalität in dieser Formulierung überhaupt nicht gibt, denn § 129 des deutschen Strafgesetzbuchs (StGB) spricht zunächst von kriminellen Vereinigungen und hat dabei, wie aus der Legaldefinition des Begriffs »Vereinigung« in § 129 II StGB deutlich wird, relativ feste Strukturen im Auge. Dieses traditionelle Bild der kriminellen Vereinigung, die sich im Zeitalter des Internet in Richtung einer nachfrageorientierten spontanen Bildung krimineller Kooperationen entwickelt, die sich projektbezogen konstituieren und auflösen, wird berechtigt kritisiert (siehe den Beitrag von Arndt Sinn). Die »Flexibilisierung« der Strukturen des internationalen Verbrechens ist dabei nicht nur ein dogmatisches Problem, das u. U. die Subsumtion krimineller Strukturen unter die Begrifflichkeit des § 129 StGB verhindert, sondern es ist Beispielhaft für den Versuch der organisierten Kriminalität, sich durch die bewusste Nutzung solcher normativer Probleme den Anschein legaler Wirtschaftsunternehmen zu verschaffen, ohne dass sich an ihrem Angriff auf wichtige Rechtsgüter deswegen irgendetwas ändern würde. So sehen wir auch innerhalb der Diskussion um die sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen in Taiwan ähnliche Prozesse am Werk (siehe CHANG Liching). Trotz dieses Problems der Grauzonen, in denen es fraglich ist, ob und wie Strafrecht angewandt werden kann, ohne dass diesem gesetzgeberische Anpassungen vorausgehen, sind zumindest Teile der internationalen Kriminalität nach wie vor in »Drogenkartellen«, »Schlepperorganisationen« etc. organisiert. Daher hält der deutsche Gesetzgeber auch an der bislang geltenden dogmatischen Grundkonstruktion insoweit fest, als er den Begriff der kriminellen Vereinigung aus § 129 StGB aufgreift und zur Grundlage der Legaldefinition der »terroristischen Vereinigung« in § 129a I StGB macht. Der Gesetzgeber geht hier lapidar davon aus, dass jede kriminelle Vereinigung, deren Ziel es ist, »1. Mord (§ 211) oder Totschlag (§ 212) oder Völkermord (§ 6 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder § 12 des Völkerstrafgesetzbuches) oder 2. Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder des § 239b« zu begehen, gleichzeitig auch eine terroristische Vereinigung ist. Dasselbe gilt für die Bestimmung des § 129a II, der ebenfalls den Begriff der Vereinigung aus § 129 II mit fest definierten Katalogstraftaten verbindet und dadurch parallel zu demselben Ergebnis kommt: jede kriminelle Vereinigung, die auf eine schwere Verletzung zentraler Rechtsgüter abzielt, qualifiziert sich durch die beabsichtigte Bedrohung oder Verletzung der betroffenen Rechtsgüter als terroristische Vereinigung. Wir sehen hier die Weigerung des deutschen Gesetzgebers der 1970er und 1980er Jahre, sich im Strafrecht angesichts der Bedrohung von Politik und Gesellschaft durch einen radikalen Linksterrorismus auf die Diskussion ideologischer Motive einzulassen. Waren diese u. U. für die nachge-
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ordnete Zumessung der Schuld noch im Gerichtssaal adressierbar, waren sie zumindest in der zentralen Frage der Tatbestandsmäßigkeit, also in der Eingangs des gerichtlichen Verfahrens festzustellenden Frage, ob die Tat genuin als Verbrechen eingeordnet wird, vollständig ausgeklammert. Das Gericht sollte, so weit wie möglich, kein Ort der politischen Auseinandersetzung des Staates mit radikalem Gedankengut sein. Ein wirkliches Verständnis für diese apolitische strafrechtliche Definition des Terrorismus erschließt sich also zumindest in Teilen erst aus der kulturellen Einordnung in die neueste deutsche Geschichte und ist daher nicht nur ein juristisches, sondern auch ein kulturelles Phänomen. Diese deutsche Sicht der Dinge wird im chinesischen Strafrecht in keiner Weise geteilt. Auf Grund unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Narrative werden die Wurzeln des Terrorismus und die Ursachen der organisierten Kriminalität in vollkommen unterschiedlichen Zusammenhängen gesehen. Während der Terrorismus als staatszersetzend und damit immer mit einer politischen Dimension gedacht wird, ordnet die Gesellschaft die organisierte Kriminalität vollkommen anders ein. Man denkt, dass es sich bei der Mafia um ein Phänomen und eine Folge des Kapitalismus handelt, die es konsequenterweise in China als sozialistischem Staat nicht geben kann (und nicht geben darf). Deshalb sind die Vorstufen hierzu – also die organisierte Kriminalität in ihren unterschiedlichen Intensitätsstufen – in aller Schärfe zu bekämpfen. Wird also der Terrorismus bekämpft, weil er die Legitimität der staatlichen Herrschaft in seinem eigenen Narrativ nicht anerkennt, wird die organisierte Kriminalität deshalb bekämpft, weil sie die Legitimität der Herrschaft im Narrativ des herrschenden staatlich-politischen Systems selbst untergräbt (näher hierzu, siehe Xiong Qi). Diese grundsätzlich von der deutschen zu unterscheidende Begründung der Repression spiegelt sich auch in der dogmatischen Struktur des chinesischen Strafgesetzes (cStG) wieder. Dieses differenziert zwischen drei sehr unterschiedlichen Phänomenen: der Tatbestandskomplex des Terrorismus wird in den §§ 120 bis 120-6 cStG geregelt (die in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnte »Vorverlagerung« ist Gegenstand mehrerer Beiträge, insbesondere bei YU Liang und LIU Mei/ZHENG Xi); die organisierte Kriminalität ist hingegen entweder in den Tatbeständen des § 294 cStG adressiert (siehe den Beitrag von XIONG Qi, der insbesondere auch auf das Problem der Konvergenz krimineller und politischer Strukturen und damit auf die Bildung korrupter Cluster eingeht), oder aber in der Form eines eigenen Tatbestandsmerkmals in diversen Bestimmungen enthalten. Dabei kann das »Organisieren« Teil eines Grundtatbestands sein, wie etwa beim »gewaltsamen Organisieren von Behinderten oder Minderjährigen unter 14 Jahren, um zu betteln« (§ 262 cStG), oder Teil einer Qualifizierung, wie etwa beim »Organisieren anderer, um menschliche Organe zu verkaufen« des § 234 III cStG, der in seinem Grundtatbestand lediglich die Körperverletzung adressiert. Während die Tatbestände des Terrorismus zu
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Kapitel II »Gefährdung der öffentlichen Sicherheit« (危害公共安全罪) gehören, wird die Bildung von Strukturen der organisierten Kriminalität als Bestandteil von Kapitel VI »Verletzung der gesellschaftlichen Ordnung« (妨害社会管理秩 序罪) gesehen. Die Vorstufen der organisierten Kriminalität, die sich im Organisieren bestimmter Strukturen zu kriminellen Zwecken ausdrücken, ohne dass diese bereits zu festen Strukturen geführt haben müssen, findet sich dabei über diverse Kapitel des cStG verstreut. Eben weil es also keine gemeinsame dogmatische Grundlage für die Tatbestände der organisierten Kriminalität im Besonderen Teil des chinesischen Strafrechts gibt, sehen wir, wie § 26 cStG im Allgemeinen Teil versucht, den Täterbegriff näher zu definieren, indem er innerhalb des organisierten Verbrechens die Stellung des Individuums in der Organisation adressiert und damit den Grundstein für eine differenzierte Betrachtung der Akteure im Bereich von Schuld und Strafzumessung legt (siehe die Andeutungen hierzu in LIU Mei/ZHENG Xi). Wir finden im Allgemeinen Teil des deutschen Strafrechts keine Parallelbestimmung zu § 26 cStG, sodass es keine grundsätzliche Bestimmung gibt, die innerhalb der Begriffe Täterschaft bzw. Teilnahme ausdrücklich auf das Problem der Zurechnung beim organisierten Verbrechen eingeht. Eben deshalb ist auch nur von der Rechtsprechung klärbar, inwiefern es Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen den Begriffen der »Bande« (vgl. etwa den Begriff der Diebes»bande« in § 244 I (2) StGB) bzw. der »kriminellen Vereinigung« (§ 129 StGB) gibt.1 Insbesondere beim Problem der strafrechtlichen Verantwortung im Bereich des Terrorismus haben dabei sowohl das deutsche, also auch das chinesische Strafrecht den Gedanken der Prävention in der Risikogesellschaft dahingehend umgesetzt, dass man sich nicht mit einer Diskussion der Verantwortung nach einem erfolgten schweren Verbrechen zufriedengibt, sondern versucht, durch eine Intervention des Strafrechts vor der Realisierung schwerer Rechtsgutsverletzungen eben diese grundsätzlich zu verhindern. Dafür ist die Frage der Verantwortung in Bezug auf hierarchische Stellung innerhalb der terroristischen Organisation nicht wirklich hilfreich. Zwar wirkt sich die Funktion, die ein Täter erfüllt, auf die Schwere der Schuld und damit auf die Schwere der Strafe aus, aber der präventive Charakter, der nach einem schweren Attentat von der differenzierten Bestrafung der Täter ausgeht, ist sehr begrenzt. Mit deshalb hat der deutsche Strafgesetzgeber die Untergliederung der Funktion, die ein Täter innerhalb der (allgemein) kriminellen oder in der (qualifiziert) terroristischen Organisation ausübt, nicht in vagen Worten und abstrahierter Form im 1 Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der kriminellen Vereinigung und der Diebesbande ist z. B. der Mangel an Strukturforderungen bei letzterer. Nach dieser Unterscheidung könnte das Vorhandensein einer Diebesbande auch bei Fällen des ad hoc organisierten »crime on demand« bejaht werden, wogegen genau dieser Mangel an Struktur den Begriff der kriminellen Vereinigung in einem solchen Fall ausschließen würde; vgl. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch Kommentar, Beck: München, 65. Aufl., 2018, § 244 Rn 35.
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Allgemeinen Teil des StGB adressiert, sondern er hat sie zum Gegenstand einer tatbestandlichen Vorverlagerung gemacht, welche einzelne Handlungsschritte innerhalb der Organisation einer terroristischen Vereinigung, so etwa das Anwerben von Mitgliedern, die Finanzierung von terroristischen Tätigkeiten oder die Bereitstellung von Wohnungen etc. als jeweils eigenen Tatbestand fasst. Genau dieses legislative Beispiel der Vorverlagerung relevanter Tatbestände wurde auch in den neuen materiellrechtlichen Verbrechensbegriffen zum Terrorismus in der VR China angewandt (zur Einbindung dieser neuen Tatbestände in den Gedanken der Risikogesellschaft und dem sich daraus ergebenden gesetzgeberischen Gestaltungsdruck, siehe JIANG Su), sodass hier im cStG mittlerweile eine doppelte Differenzierung stattfindet. Zum einen wird eine Differenzierung in der Verantwortung je nach Stellung in der Organisation nach § 26 cStG vorgenommen, zum anderen erfolgt eine Differenzierung nach Tatbestandsmäßigkeit, wie sie sich aus Anwendung der Bestimmungen in den §§ 120 bis 120-6 cStG ergibt. Wir sehen hier, wie die Strafgesetzbücher in Deutschland bzw. in China zunächst von unterschiedlichen strukturell-normativen Voraussetzungen ausgehen, wie sie aber gemeinsam die Notwendigkeit und Wichtigkeit des Bestimmtheitsgebots wahrnehmen und daher beide gemeinsam die gesetzgeberische Technik einer Vorverlagerung der Strafbarkeit in vorbereitende oder unterstützende Tatbestände anwenden. Wir sehen daran gleichzeitig, dass beide Rechtskulturen ursprünglich von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen, wie sie sich aber auf Grund funktionaler Erwägungen ähnlich entwickeln. Wir sehen in den einzelnen Beiträgen aber auch, wie sich die Unterschiede der tatbestandlichen Einordnung im Prozessrecht (und im Strafvollzug) wiederspiegeln und auf diese Weise in ihrer grundsätzlichen Wichtigkeit eine erste Orientierung erlauben. Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten sehen wir aber auch inkongruente Entwicklungslinien, bei denen sich normative und institutionelle Prämissen in der konkreten und praktischen Arbeit der Strafverfolgungsorgane und der Strafjustiz verändern. Zum einen verringern sich im Bereich der Ermittlungen Unterschiede, die sich in der dogmatisch-materiellrechtlichen Einordnung ergeben: das deutsche System, das terroristische Vereinigungen in den Rahmen der organisierten Kriminalität stellt und auf jegliche Erwähnung terroristischer Motive verzichtet, wirkt zunächst sehr nüchtern und könnte den Schluss nahelegen, dass beide Bereiche auch in der Arbeit der Ermittlungsbehörden dieselbe Nähe aufweisen. Dennoch wird die im materiellen Recht fehlende dogmatische Differenzierung, die im Tatbestand nicht wirklich zwischen einem Drogenkartell und einer dschihadistischen Organisation unterscheidet, auf der Arbeitsebene durchaus vorgenommen. Wenn ein Drogenkartell zur Erreichung seiner Ziele von vornherein plant, andere Wettbewerber dadurch aus dem Markt zu drängen, dass es sie tötet, und wenn eine dschihadistische Organisation, die »Ungläubige« tötet, um auf diese Weise
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das Reich Gottes auf Erden zu erzwingen, dann sind beide demselben Tatbestand in § 129a I (1) StGB zuzuordnen. Trotz dieser normativ-definitorischen Nähe der kriminellen und der terroristischen Vereinigung müssen wir in der Wirklichkeit der Strafrechtspflege feststellen, wie die Zuständigkeit für Bandenkriminalität und für Terrorismusabwehr in institutioneller Hinsicht differenziert gehandhabt wird. Es mag sein, dass auf diese Weise in der Vergangenheit, in der kriminelle Vereinigungen und terroristische Vereinigungen in Deutschland relativ eindeutig getrennt waren, ein Effizienzvorteil bestand. Als vor Jahrzehnten die Mitglieder der RAF versuchten, sich durch Bankraub zu finanzieren, da waren sie nicht in kleinkriminelle Milieus involviert. In Zeiten, in denen ein Anis Amri zunächst als Drogendealer auf einer relativ niedrigen Ebene aktiv war, bevor er den Berliner Weihnachtsmarkt angriff, oder in der ein Chérif Chekatt in Deutschland als Kleinkrimineller auffiel, bevor er in Straßburg auf dem Weihnachtsmarkt in dschihadistischer Absicht mehrere Menschen tötete, ist diese kategorische Trennung zum Ermittlungshemmnis geworden, das durch nationale Strukturen von Strafrecht und Strafjustiz zusätzlich erschwert wird. Hybride Strukturen, die jegliche Art krimineller Kontakte multifunktional zur Erreichung sehr unterschiedlicher Zwecke umsetzen, stellen hier eine ernsthafte Herausforderung dar (siehe Bernhard Kretschmer). Das Problem wird dadurch verschärft, dass die längerfristig existenten Strukturen, von denen § 129 StGB und damit auch die Bestimmungen des § 129a I, II StGB ausgehen, sich im Zeitalter des Internet zunehmend auflösen und zu einer eher nebulösen Tendenzwolke werden, aus der heraus sich kriminelle Strukturen nur punktuell und »on demand« bilden (vgl. im chinesischen Kontext die Ausführungen von YU Liang). Diese Veränderungen, die auf den erweiterten Kontaktmöglichkeiten des Internet beruhen und die sich zu Nutze machen, dass das Internet einen globalen Aktionsradius geradezu garantiert, dass es also relativ einfach ist, sich in der Planung von Verbrechen zu einem Großteil dem Zugriff des Staates zu entziehen, in dem eine Rechtsgutsverletzung intendiert ist, stellt die deutsche Realität genauso vor große Herausforderungen (hierzu Arndt Sinn), wie sie in China zu einer vollkommenen Neustrukturierung der relevanten Bestimmungen und Institutionen geführt hat. Das Problem wird in diesem Band mehrfach angesprochen, findet sich aber sehr explizit etwa beim Problem der Finanzierung von Terrorismus in China durch organisierte Kriminalität in den Staaten Zentralasiens und dem sich hieraus ergebenden Zwang zu transnationalen Ermittlungen (ZHANG Jie). Eine gegenläufige Entwicklung ist auf Grund der Schwere der betroffenen Rechtsgüter zu beobachten, denn diese führt in den konkreten Ermittlungen sehr schnell und in durchaus ähnlicher Weise zur Bildung spezifischer Ermittlungsgruppen, die versuchen alles zusammenzuführen, was es an verfügbaren Informationen gibt. Dies führt dann am Ende doch zu einer relativen Gleichbehandlung des zu extremer Gewalt bereiten Drogenkartells und der vor
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Mord nicht zurückschreckenden dschihadistischen Organisation. Dass dabei die strukturellen Schwierigkeiten der nur manchmal erfolgreichen Kommunikation innerhalb von spezialisierten Behörden trotzdem relevant sind, wird am Fall Anis Amri deutlich (siehe Bernhard Kretschmer). Wenn eine Person tagsüber geschmuggelte Zigaretten verkauft, um am Abend über dieselben Kontaktpersonen einen terroristischen Anschlag zu planen, dann wird die im Normalfall notwendige funktionale Unterteilung der zuständigen Ermittlungsbehörden leider zum Problem, das ein zeitnahes Teilen wichtiger Informationen ernsthaft stören kann. Das gilt umso mehr, wenn sich kleinkriminelles Milieu und terroristische Ziele nicht im selben Land befinden. Genau diese strukturelle Inkongruenz hybrider terroristischer Strukturen betrifft China genauso wie Deutschland oder die EU und führt daher in beiden Rechtskreisen zur Bildung neuer Strukturen und Institutionen (im Falle Deutschlands, vgl. Georg Gesk; im Falle Chinas, vgl. ZHANG Jie). Dennoch wird aus den Beiträgen auch deutlich, wie es im chinesischen Strafrecht Bereiche gibt, die zwar von westlichen kriminologischen Theorien beeinflusst sind, die aber zu unterschiedlichen normativ-institutionellen Konsequenzen führen. Wie bereits anhand des Beispiels des oben zitierten § 26 cStG verdeutlicht werden kann, hat das chinesische Strafrecht den Gedanken der »Sozialgefährlichkeit« (社会危害性) rezipiert und entwickelt. Dieser Gedanke stammte in China zunächst aus dem sowjetischen Strafrecht2, hat aber mittlerweile durchaus eine autonome Begründung erfahren. Die Begründungsmuster, die in diesem Zusammenhang in chinesischen Publikationen angeboten werden, folgen dabei den normativen Vorgaben in § 26 cStG und plädieren für eine unterschiedliche Schuldzumessung auf Grund des unterschiedlichen Verantwortungsgrades innerhalb einer kriminellen Organisation3, denn derjenige, der die Gemeinschaft in stärkerem Maße schädigt, soll auch stärker zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden. Derselbe Gedanke der Sozialschädlichkeit, der in Form der »Gefährdung« oder – genauer – der »Gefährlichkeitsprognose« auch im Rahmen der Maßnahmen zur Besserung und Sicherung nach § 66 ff StGB als Begründung für die Sicherungsverwahrung dient4, wird in China als Begründung für den Erziehungsarrest herangezogen (siehe JIANG Su). Dieser ist außerhalb des cStG im Rahmen des »Anti-Terrorismus-Gesetz« normiert und wurde durch dieses Gesetz im Jahr 2016 als Maßnahme bei der Kombination aus 2 Vgl. Chen Xingliang (陈兴良), The Transformation of Knowledge in Criminal Law: Academic History (刑法的只是转型【学术史】), Beijing: China Renmin University Press, 2. Aufl., 2017, S. 243ff. 3 Vgl. Qu Xinjiu (曲新久), Strafrechtslehre (刑法学), Beijing: Fada Press, 2016, 5. Aufl., S. 159; Zhao Bingzhi (赵秉志), Study on cases of criminal law and legal philosophy (中国刑法案例与 学理研究), Bd. 1, Beijing: Law Press China, 2004, S. 349. 4 Vgl. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch Kommentar, München: Beck, 65. Aufl., 2018, § 66 Rn 66.
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zurückliegenden terroristischen Straftaten, verbüßter Haft und hohem Rückfallrisiko (Risiko erneut erhebliche Straftaten zu begehen) eingeführt. In diesem Zusammenhang ist die sehr sachlich vorgetragene Einführung in die Rationalität des Regelungszusammenhangs und die so dezent formulierte wie in der Sache substantielle Kritik von JIANG Su an diesem System lesenswert. Wenn wir dabei in diesem Band von einem deutsch-chinesischen Dialog sprechen, dann wird aus verschiedensten Beiträgen deutlich, dass dies nicht in einem engen Sinne zu verstehen ist. Die Themen der organisierten Kriminalität, des Terrorismus und der hybriden Formen beider transzendieren die Grenzen des Nationalstaats und sind nur dann in ihrer Relevanz verstehbar, wenn wir uns dieser grenz- und systemüberschreitenden Dimension stellen. Das Beispiel der taiwanischen Strafrechtsreform im Bereich der Kinderpornographie (siehe CHANG Liching) zeigt, wie in einer chinesisch geprägten Gesellschaft, die sich im Strafrecht sehr stark an die deutsche Strafrechtsdogmatik und teilweise sogar an einzelne Formulierungen des StGB anlehnt, eine sehr pragmatische Haltung dominiert. Trotzdem zeigt sich auch hier der gesellschaftliche Wandel in einer Neuorientierung von Grundbegriffen, wird also auch hier die kulturspezifische Dimension in der Veränderung der Vorstellungen von Täter, Opfer und Handlungsautonomie deutlich. Gleichzeitig ersehen wir aus dem Beitrag, wie eine effektive Bekämpfung international organisierter Kriminalität nur international bzw. interregional gelingen kann. Ein weiteres Problem, das den Diskussionsrahmen weit über Europa und China hinausträgt, entzündet sich insbesondere bei Teilphänomenen des Terrorismus bzw. der organisierten Kriminalität an der Frage, in wie weit ein Strafrecht, das sich lediglich auf nationales Strafrecht und auf nationale Strafverfolgung stützt, in der heutigen Zeit zu gravierenden Lücken in der Strafverfolgung führt. Wie an dem Beispiel der Zerstörung von Kulturgütern durch islamische Fundamentalisten (siehe Sven Peterke) oder der Frage, inwieweit eine organisierte Staatenkriminalität im Rahmen des Strafrechts aufgearbeitet werden kann (siehe Pierre Hauck), deutlich wird, muss das nationale materielle Strafrecht zumindest in Teilen von einem überstaatlichen Strafrecht überlagert werden, um eine effektive Repression und Prävention erreichen zu können. Die Gründe hierfür können so unterschiedlich sein, wie die Ziele, die damit verfolgt werden. Wie am Beispiel des »Kulturterrorismus« aufgezeigt wird, ist es möglich, dass eine Tat ein internationales Interesse rechtfertigt, obwohl es sich wesentlich gegen »Objekte«, sprich gegen Kulturgüter richtet. Inwiefern die Tatsache, dass sich ein terroristischer Angriff vor allem auf Kulturgüter richtet, welche in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen wurden, als solches bereits das Eingreifen des ICC rechtfertigt, kann im Rahmen der vorliegenden Beiträge und der nach wie vor geringen Verfahrenszahlen nicht wirklich beantwortet werden. Wie am Beispiel der organisierten Staatenkrimi-
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nalität deutlich wird, entscheidet sich die Frage der effektiven Strafverfolgung abseits der Normierung im Strafrecht bzw. Strafprozessrecht nicht nur an den objektiven Voraussetzungen eines Strafverfahrens, also an den organisatorischen und institutionellen Möglichkeiten der Justiz, sondern auch an dessen subjektiven Voraussetzungen, also an dem institutionellen Willen, organisierte Staatenkriminalität strafrechtlich zu verfolgen. In diesem Zusammenhang sehen wir auch, dass diese nur dann wirklich unterbunden bzw. geahndet werden kann, wenn es Standards gibt, die jenseits des nationalen Strafgesetzgebers akzeptiert sind und die daher einen Rechtfertigungsdruck auslösen, dem sich ein einzelner Staat auf Dauer nicht einfach widersetzen kann. Auch um solche Standards aufzubauen ist ein kulturübergreifender Dialog sehr wichtig. Wie wir aber auch an den Beispielen des Kulturterrorismus und der organisierten Staatenkriminalität sehen, ist es nicht ausreichend, sich auf die materiellrechtliche Seite des Themas zu konzentrieren, sondern ist es essentiell notwendig, die prozessrechtliche, ja sogar die organisationsrechtliche Seite des Themas mit einzubeziehen. Solange ein materielles Strafrecht nicht prozessual (und institutionell) durchsetzbar ist, solange wird eben dieses materielle Strafrecht weder Repression noch Prävention von Straftaten leisten können. Um genau diese Anpassungen im Strafprozessrecht geht es in mehreren Beiträgen. Zunächst wird deutlich, wie die VR China in sehr pragmatischer Weise das Problem der organisierten Kriminalität und damit auch des Terrorismus vornehmlich als ein Problem des Strafprozessrechts betrachten, denn Verbrechen, die kollektiv und konspirativ stattfinden, stellen besondere Anforderungen an die Ermittlungsbehörden. China hat in diesem Zusammenhang in der Prozessrechtsreform von 2012 viele Änderungen eingebracht, die teilweise weitere normative Anpassungen erfordern (vgl. LIU Mei/ZHENG Xi). Im europäischen Kontext wird dabei deutlich, wie die organisierte Kriminalität über das Internet neue Formen der »Organisation« (Stichworte »crime as a service« und »crime on demand«) aufweist und neue Technologien offensiv für kriminelle Zwecke nutzt. Die gemeinsame Antwort von Gesetzgeber und Ermittlungsbehörden sind dabei die Quellenüberwachung und die Bildung spezialisierter Einheiten innerhalb der Ermittlungsbehörden für den Online-Bereich (siehe Arndt Sinn). Wie sehr dieses Problem auch in China existiert, einem Ort wo das Internet häufig leistungsstärker ist als in europäischen Staaten, wird an dem Beitrag zum Cyber-Terrorismus und dessen Herausforderungen für das chinesische Prozessrecht deutlich (YU Liang). Da aber die Möglichkeiten des Internet nicht vor nationalen Grenzen Halt machen, sehen wir unter vollkommen unterschiedlichen Vorzeichen die Geburt eines transnationalen Prozessrechts. Dies führt mittlerweile in Europa zu institutionellen und normativen Anpassungen, die bei der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen ihren Ausgang nahmen, die aber seither zu Neuerungen wie dem europäischen
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Georg Gesk
Haftbefehl oder zur Einführung sehr effizient arbeitender, fallbezogener Joint Investigation Teams geführt haben (Georg Gesk). Die strategischen Herausforderungen, die hieraus entstehen, haben auf Seiten Chinas dazu geführt, dass sich China, Russland und die Staaten Zentralasiens in der Shanghai Cooperation Organisation absprechen und insbesondere im Bereich des Anti-Terrorismus Lösungen finden, die grenzüberschreitende Online-Ermittlungen genauso erlauben, wie sie eine grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzung ermöglichen (ZHANG Jie).
LIU Mei* / ZHENG Xi**
Bestimmungen der Chinesischen Strafprozessordnung gegen organisiertes Verbrechen und Terrorismus
I.
Historische Entwicklung der chinesischen Strafprozessordnung in Bezug auf Bestimmungen gegen organisiertes Verbrechen und Terrorismus
1.
Betroffende Vorschriften nach chStPO 1996
Im chinesischen Strafgesetzbuch (中华人民共和国刑法, im Folgenden chStGB) gibt es keine ausdrückliche Regelung zum »organisierten Verbrechen«. § 26 chStGB wird allerdings nach Meinung der chinesischen Strafrechtler als materieller Tatbestand des organisierten Verbrechens betrachtet. Demnach werden kriminelle Organisationen in drei Gruppen unterteilt, und zwar gewöhnliche Verbrecherorganisationen, Mafia und Terrororganisationen.1 Danach wird das Sanktionensystem gegen das organisierte Verbrechen überwiegend von der chinesischen Strafprozessordnung (中华人民共和国刑事诉讼法, im Folgenden chStPO) geregelt. Vor der Prozessrechtsreform 2012 waren die Vorschriften gegen das organisierte Verbrechen in der chStPO in der Fassung von 1996 sehr begrenzt. Nach den ursprünglichen Bestimmungen darf die Ermittlungsfrist nur bei »organisiertem Verbrechen« ggf. verlängert werden. § 126 chStPO bestimmt: »wenn die Untersuchung nicht innerhalb der in § 124 dieses Gesetzes genannten Frist abgeschlossen werden kann, ist es möglich, die Frist in folgenden Fällen um zwei Monate zu verlängern; dies muss von der Volksstaatsanwaltschaft einer Provinz, einer
* Prof. Dr. LIU Mei (刘玫), China University of Political Science and Law (中国政法大学), Fakultät für Strafjustiz ** Assoc. Prof. Dr. Zheng Xi (郑曦), Beijing Foreign Studies University (北京外国语大学), Juristische Fakultät 1 Vgl. YU Zhigang (于志刚), Das strafrechtliche Sanktionensystem gegen die organisierte Kriminalität und seine Verbesserung (我国刑法中有组织犯罪的制裁体系及其完善), in: Acade mic Journal of Zhongzhou (中州学刊), 05/2010, S. 87.
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autonomen Region oder einer Stadt unter Verwaltung der Zentralregierung genehmigt oder entscheiden werden: (1) gravierende und komplexe Fälle in abgelegenen Gebieten, in denen der Verkehr sehr stark eingeschränkt ist; (2) schwere Fälle, in denen kriminelle Banden involviert sind; (3) gravierende und komplexe Fälle, die Menschen betreffen, die Verbrechen mit häufigen Ortswechseln begehen und (4) gravierende und komplexe Fälle, deren Einfluss sehr breit gefächert ist und bei denen es schwierig ist, Beweise zu erhalten.«
Abgesehen hiervon gab es keine weiteren Regelungen. Dass weitere Bestimmungen zum organisierten Verbrechen, insbesondere dass Bestimmungen zum Terrorismus fehlen, dafür gibt es einige historische Gründe. Als die chStPO im Jahr 1996 geändert wurde, stellte die organisierte Kriminalität für die chinesische Gesellschaftsordnung noch keine ernsthafte Gefahr dar. Auch die Bedrohung Chinas durch den Terrorismus war damals nur sehr gering. Überdies hatte der Gesetzgeber kein Bewusstsein davon, wie er versuchen sollte, das Problem der organisierten Kriminalität vermittels des Prozessgesetzes zu regeln. Infolgedessen zeigten die Regelungen im Strafprozessgesetz große Defizite beim Umgang mit dem organisierten Verbrechen auf. Diese Defizite hatten in der Folge zu großen Problemen in der Praxis geführt und den Versuch einer effektiven Repression von organisierter Kriminalität und insbesondere der Repression von Terrorismus ernsthaft behindert. Daher kam der Gesetzgeber nicht umhin, das Problem der organisierten Kriminalität im Rahmen der chStPO erneut zu durchdenken.
2.
Der Einfluss von Chinas Beitritt zur UN-Konvetion gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität und von Änderungen des chStGB
Im Angesicht einer Tag für Tag zunehmenden Bedrohung durch die organisierte Kriminalität, insbesondere durch die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, hat China ebenso wie mehr als hundert andere Staaten die »UN-Konvention gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität« im Dezember 2000 unterzeichnet und diese im August 2003 noch vor ihrem offiziellen in Kraft treten ratifiziert. Durch die UN-Konvention wurde eine ganze Reihe von Verfahren und Institutionen geschaffen, die für das Strafprozessrecht relevant sind, so z. B. das Verfahren der Beschlagnahme. Auch Mechanismen für die internationale Zusammenarbeit im Strafvollzug, für gemeinsame Ermittlungen, für den Schutz von Zeugen und Opfern, und die Rechtmäßigkeit besonderer Ermitt-
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lungsmethoden wurden hierin bestimmt. Sondermaßnahmen der Ermittlungen sind seither rechtlich zulässig. Dem entsprechend hat der Beitritt zu dieser Konvention die Reformdiskussionen der chStPO auch und gerade im Bereich der Bekämpfung von organisierter Kriminalität sehr stark beeinflusst. Vor allem eine Intensivierung des Opfer- und Zeugenschutzes, die Ermöglichung besonderer Ermittlungstechniken, und die Schaffung des Einzugs widerrechtlich erworbenen Vermögens wurden in die Reform von 2012 mit einbezogen. Zusätzlich zum Beitritt zur UN-Konvention gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität haben auch die Änderungen des chStGB zu einer Verbesserung der Regelungen gegen die organisierte Kriminalität bzw. gegen den Terrorismus im Strafprozessgesetz beigetragen. Das »dritte Strafrechtsänderungsgesetz« (刑法修正案(三)) vom Dezember 2001 hat dazu geführt, dass die Freiheitstrafen für Organisation und Führung terroristischer Organisationen heraufgesetzt wurden und dass zusätzliche Strafmöglichkeiten bei der Förderung von Terrorismus eingeführt wurden. Überdies wurde die Geldwäsche als eine Tat im Vorfeld des Terrorismus geregelt. Im Februar 2011 hat das »achte Strafrechtsänderungsgesetz« (刑法修正案(八)) die Bestimmungen gegen die organisierte Kriminalität abermals verbessert. Insbesondere wurde im materiellen Strafrecht genauer bestimmt, welche Eigenschaften eine kriminelle Organisation aufweisen muss. Weiter wurde der Strafrahmen erhöht und der Sanktionskatalog wurde dahingehend ausgeweitet, dass seither für viele Verbrechen die zusätzliche Option der Geldstrafe geschaffen wurde. Außerdem wurde geregelt, dass Verbrecher, die wegen Staatsgefährdung, Terrorismus oder Verbrechen der organisierten Kriminalität zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden, nach erfolgtem Strafvollzug und bei Wiederholung des Verbrechens jeder Zeit als Wiederholungstäter bestrafbar sind. Das »Neunte Strafrechtsänderungsgesetz« (刑法修正案(九)) vom August 2015 hat die Sanktionierung terroristischer Verbrechen eindeutig verschärft. Gegenüber dem Organisieren, der Führung und der Teilnahme terroristischen Organisation wurden die Strafen verschärft und zusätzlich eine fakultative Geldstrafe eingeführt. Zugleich sind die Verherrlichung von Terrorismus und Extremismus, die Aufhetzung zu terroristischen Gewalttaten, der Besitz von Gegenständen, Büchern, Audio- und Videoprodukten, welche den Terrorismus verherrlichen, die Verweigerung der Zeugenaussage oder der Bereitstellung von Beweismitteln gegen Terrorismus und Extremismus, das Ausüben von Zwang gegenüber Dritten, damit diese in der Öffentlichkeit Symbole oder Kleidung und Accessoires mit terroristischen oder extremistischen Emblemen tragen bzw. zeigen als Straftaten in das chStGB eingeführt worden. Diese Verstärkungen gegen Terrorismus und Extremismus im materiellen Strafrecht haben den Gesetzgeber dazu veranlasst, auch die entsprechenden Regelungen im Strafprozessrecht zu ändern, damit das Prozessrecht mit dem materiellen Strafrecht vereinbar bleibt.
24 3.
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Änderungen der Regelungen des organisierten Verbrechens und Terrorismus nach dem chinesischen Strafprozessgesetz 2012
2012 wurde eine revidierte Fassung der chStPO vom Nationalen Volkskongress der VR China verabschiedet. Das neue Strafprozessgesetz hat einige der Bestimmungen aus der UN-Konvention gegen grenzüberschreitender organisierter Kriminalität übernommen. Daneben wurden viele Bestimmungen zur Verfolgung von organisierter Kriminalität, insbesondere des Terrorismus neu eingefügt. Dadurch wurde eine Harmonisierung der Bestimmungen zwischen materiellem und prozessualem Strafrecht erreicht; gleichzeitig wurde den Anforderungen der Realität Rechnung getragen. Die Änderungen, die sich in der Revision der chStPO in Bezug auf das organisierte Verbrechen bzw. den Terrorismus ergaben, sollen zu einer stärkeren verfahrensrechtlichen Kontrolle dieser Verbrechen führen, um dadurch zu einer verstärkten und effektiveren Repression zu gelangen. So ist beispielsweise geregelt, dass bei Verdächtigen in Terrorismusverfahren jeder Kontakt mit einem Rechtsanwalt im Vorfeld von den Ermittlungsorganen genehmigt werden muss. Dazu wird erlaubt, Verdächtige oder Angeklagte in Terrorismusverfahren an einem bestimmten Ort unter Hausarrest zu stellen. In Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität wird der Einsatz sogenannter technischer Ermittlungsmaßnahmen erlaubt. Ebenfalls in Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität ist es seither bei Flucht oder Tod von Verdächtigen oder Angeklagten möglich, dennoch ein Einziehungsverfahren durchzuführen. Diese Regelungen erleichtern es den zuständigen Behörden, bei Verdacht auf Terrorismus und auf organisierte Kriminalität Ermittlungen durchzuführen und Anklage zu erheben. Dadurch wird die Fähigkeit des Staates, sich gegenüber der organisierten Kriminalität und insbesondere dem Terrorismus durchzusetzen, gestärkt. Diese Änderungen der chStPO sind Maßnahmen, mit welchen der Gesetzgeber die Probleme der organisierten Kriminalität und insbesondere des Terrorismus zu lösen versucht, um dadurch der Gefahr, welche von diesen Verbrechen für den Staat bzw. die Gesellschaft ausgeht. Vor allem der Gefährdung von Staat und Gesellschaft durch kriminelle Organisationen und durch den Terrorismus soll durch diese Maßnahmen effektiv entgegengewirkt werden. Da der Terrorismus international als Verbrechen gegen die Menschheit betrachtet wird, sind diese Maßnahmen auch mit der allgemeinen Überzeugung der internationalen Staatenmehrheit vereinbar, dass der Terrorismus konsequent bekämpft werden soll. Neben der Intensivierung der Repression von organisierter Kriminalität, insbesondere von Terrorismus, hat die revidierte chinesische StPO auch den Schutz derjenigen Personen im Auge, die durch relevante Verfahren betroffen sind. So ist zB das mittlere Volksgericht als Erstinstanz für Terrorismusfälle
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zuständig. Damit ist aber die Instanz, an der das Verfahren eröffnet wird, höher, als in üblichen Strafverfahren. Man hofft, dass die höhere Instanz auch für eine bessere Qualität steht. Die Verbesserung des Schutzes von Zeugen, Gutachtern und Opfern in Verfahren wegen Terrorismus und organisierter Kriminalität soll es erleichtern, von diesen und deren Familien und Angehörigen eher qualifizierte Aussagen zum Anlassverfahren zu bekommen. Diese Bestimmungen zeigen, wie die chStPO die Forderung der Verfassung, dass staatliche Organe die Verfassung respektieren sollen2, durchsetzt und wie die chStPO dem Grundsatz, »Menschenrechte zu respektieren und zu schützen« entspricht.3
II.
Konkrete Regelungen der chStPO in Verfahren gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus
1.
Zuständigkeit
§ 20 chStPO (2012) Fassung bestimmt: »Das Mittlere Volksgericht ist bei folgenden Straftaten als Gericht erster Instanz zuständig: (1) Fälle, die die Staatssicherheit gefährden und Fälle vom Terrorismus; (2) Strafsachen, die durch lebenslange Freiheitsstrafe oder Todesstrafe bedroht sind.«
Im Vergleich zur alten chStPO (1996) ist die Zuständigkeit der ersten Instanz bei Terrorismus-Verfahren angehoben worden, damit diese von allgemeinen und normalen Fällen unterscheidbar bleiben. Der Gesetzgeber hat diese Bestimmungen dergestalt erlassen, weil er davon ausgeht, dass terroristische Verbrechen üblicherweise eine Mehrzahl von Personen betreffen, die meist über internationale Grenzen hinweg agieren. Im Vergleich zu normalen Verfahren sind sie komplexer, auch die im Verfahren notwendigen Gerichtsverhandlungen sind komplizierter. Im Gegensatz zu allgemeinen Volksgerichten zeichnen sich die mittleren Volksgerichte aber durch eine höhere Bildung, bessere Vernehmungstechniken und durch ein Höheres Maß an Erfahrung aus. Darum ist die Anhebung der institutionellen Zuständigkeit in der ersten Instanz ein Weg, zu einer besseren Aufklärung des Sachverhalts zu kommen und die gesetzlichen Bestimmungen konsequenter anzuwenden.
2 Art. 33 chVerfassung (1982). 3 § 2 chStPO.
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Parallel dazu wird die Zuständigkeit der öffentlichen Anklageerhebung nach § 173 chStPO auch in den Instanzen des Volksprokurats erhöht,4 damit der Angeklagte im Berufungsverfahren vor das Obervolksgericht gehen kann. Daraus ersehen wir, wie die hierarchische Anhebung der Befugnisse von Ermittlungsund Anklagebehörde generell vollzieht. Trotzdem verbleibt dem Angeklagten die Möglichkeit der Berufung vor dem Oberen Volksgericht. So wird einerseits die terroristischen Täter wirkender zu schlagen, und andererseits die Rechte der Beklagten einschließlich der Teilnehmer des Prozesses gewähr zu leisten. Dadurch soll auf der einen Seite garantiert werden, dass terroristische Verbrechen effektiv bekämpft werden, auf der anderen Seite sollen dadurch die Rechte der Verfahrensbeteiligten – einschließlich diejenigen des Angeklagten – umfangreich gewahrt werden.
2.
Kontaktrechte der Verteidigung
§ 37 Abs. 35 bestimmt: »In Fällen, welche die staatliche Sicherheit gefährden, in Fällen terroristischer Verbrechen und in Fällen besonders schwerer Korruption muss der Kontakt des verteidigenden Rechtsanwalts mit dem Verdächtigen, der sich in Untersuchungshaft befindet, von der Ermittlungsbehörde genehmigt werden. In vorgenannten Fällen muss die Ermittlungsbehörde das Untersuchungsgefängnis vorab informieren.« Bei Verbrechen, die weniger schwerer Natur sind, sind nach § 37 Abs. 1, 2 die Kontaktrechte des verteidigenden Rechtsanwalts mit Verdächtigen oder Angeklagten, die sich in Untersuchungshaft befinden, nicht eingeschränkt. Der Anwalt muss nur die Urkunde über die Zulassung zur Anwaltschaft und sein Mandat bzw. die Akte zur Genehmigung der Prozesshilfe vorweisen, damit ihm das Untersuchungsgefängnis innerhalb von 48 Stunden den Kontakt zu seinem Mandanten herstellt. Eine vorherige
4 § 172 chStPO. Ist das Volksprokurat der Meinung, dass die Tatsache eines Verbrechens in Bezug auf einen Angeklagten bereits geklärt ist, dass die Beweise konkret und ausreichend sind, sodass nach Gesetz eine Anklage erhoben werden soll, wird nach den Bestimmungen der gerichtlichen Zuständigkeit vor dem zuständigen Volksgericht Klage erhoben; Akte und Beweismittel werden an das Volksgericht überstellt. 人民检察院认为犯罪嫌疑人的犯罪事实已 经查清,证据确实、充分,依法应当追究刑事责任的,应当作出起诉决定,按照审判 管辖的规定,向人民法院提起公诉,并将案卷材料、证据移送人民法院。 5 In der Version der chStPO vom 26. 10. 2018 hat sich zwar die Zählung, nicht aber der wesentliche Inhalt geändert. Es handelt sich also nach der aktuellen Version um § 39 Abs. 3 chStPO (2018), ein Kontakt des verteidigenden Rechtsanwalts mit dem Angeklagten bedarf nach wie vor der »Genehmigung« (许可); diese muss der Haftanstalt im Vorfeld von den Ermittlungsbehörden mitgeteilt werden. (Anmerkung des Übersetzers).
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Genehmigung durch die Ermittlungsbehörde oder durch eine andere Behörde ist nicht notwendig.6 Es wird klar, dass das Recht des Verdächtigen, seinen Rechtsanwalt zu treffen, bei Fällen von Terrorismus im Vergleich zu anderen Fällen eingeschränkt ist. Es reicht nicht, dass der Anwalt seine »drei Urkunden und Ausweise« vorzeigt, um den Kontakt zu dem Angeklagten herzustellen. Dem Anwaltstermin muss von den Ermittlungsorganen zugestimmt werden. Dabei ist bemerkenswert, dass diese Einschränkung des Kontakts als solche ebenfalls eingeschränkt ist, denn sie bezieht sich nur auf das Ermittlungsverfahren. Während der Hauptverhandlung vor Gericht ist ein uneingeschränkter Kontakt des Verteidigers mit dem Angeklagten auch in der Untersuchungshaft möglich. Der Verteidiger kann also in solchen herkömmlichen Fällen direkt seine Ausweise etc. vorweisen und Zugang zum Angeklagten fordern. Es gibt zwei Gründe für den Gesetzgeber, um das Kontaktrecht zwischen Verteidiger und Angeklagtem in der chStPO in dieser Weise zu regeln. Erstens involvieren terroristische Taten meistens viele Täter, sind sehr komplex, und haben ein weites Bezugsfeld. Daher sind erfolgreiche Ermittlungen sehr schwierig. Besonders schwer werden die Ermittlungen, wenn nicht alle Teilnehmer gefasst sind. Um also das Ermittlungsgeheimnis zu wahren und um zu verhindern, dass ein Teil der Ermittlungsergebnisse an die Öffentlichkeit gelangen, ist es eine verständliche Forderung, wenn der Kontakt von Verteidiger und Angeklagtem im Vorfeld durch die Ermittlungsbehörde genehmigt werden muss. Das entspricht den Anforderungen an die Ermittlungen bei organisierter Kriminalität, insbesondere bei terroristischen Verbrechen. Zweitens ist vorstehende Beschränkung des Kontakts von Verteidiger und Angeklagtem auf die Phase der Ermittlungen eingeschränkt. Nach der erfolgten Anklage sind die Dringlichkeit und die Notwendigkeit der Geheimhaltung, die während der Ermittlungen vorliegen, nicht mehr vorhanden. Darum ist eine weitere Einschränkung des Kontaktrechts nicht mehr notwendig, weswegen 6 § 37 Abs. 1 chStPO: Rechtsanwälte können in ihrer Funktion als Verteidiger sich mit Verdächtigen und Angeklagten, welche sich in Untersuchungshaft befinden, persönlich treffen und mit diesen schriftlich kommunizieren. So dies vom Volksgericht bzw. vom Volksprokurat genehmigt ist, können sich andere Verteidiger ebenfalls mit Verdächtigen und Angeklagten persönlich treffen und mit diesen im Schriftverkehr kommunizieren. § 37 Abs. 2 chStPO: Wenn ein Rechtsanwalt in seiner Funktion als Verteidiger seine Anwaltslizenz, seinen Nachweis, dass er zu einer Kanzlei gehört, sein Mandat oder seine Ermächtigung als Pflichverteidiger vorweist, und verlangt er, den inhaftierten Verdächtigen bzw. Angeklagten zu sehen, so hat ihm das Untersuchungsgefängnis umgehend Zutritt zu diesem zu verschaffen; dieser darf nicht länger als 48 Stunden hinausgezögert werden. 《中华人民共和国 刑事诉讼法》第37条第1款规定:»辩护律师可以同在押的犯罪嫌疑人、被告人会见和 通信。其他辩护人经人民法院、人民检察院许可,也可以同在押的犯罪嫌疑人、被告 人会见和通信。«第2款规定:»辩护律师持律师执业证书、律师事务所证明和委托书或 者法律援助公函要求会见在押的犯罪嫌疑人、被告人的,看守所应当及时安排会见, 至迟不得超过四十八小时。«
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hier eine vollständige Garantie der Verteidigungsrechte des Angeklagten einsetzt. Die chStPO hat also das Kontaktrecht zwischen Verteidiger und Angeklagtem nur in eingeschränkter Form begrenzt. Die Werte der Verbrechenskontrolle und der Garantie der Menschenrechte werden gegenseitig abgewogen und ausgeglichen.
3.
Der Schutz von Zeugen, Sachverständigen und Opfern
§ 62 chStPO bestimmt: »Wo Zeugen, Sachverständige oder Opfer in Fällen von Verbrechen, die die Staatssicherheit gefährden, in Fällen terroristischer Verbrechen, in Fällen von mafiaartiger organisierter Kriminalität und bei Drogendelikten im Verfahren wegen ihrer Aussage in akuter Gefahr für Leib und Leben von sich oder von ihren Angehörigen geraten, ergreift das Volksgericht, das Volksprokurat oder die Polizeibehörde eine oder mehrere der folgenden Schutzmaßnahmen: (1) personenbezogene Daten wie tatsächlicher Namen, Adresse und Arbeitseinheit werden nicht veröffentlicht; (2) Ergreifen von Maßnahmen, welche das Aussehen und die tatsächliche Stimme während des Erscheinens vor Gericht verschleiern; (3) Verbot des Kontakts bestimmter Personen mit Zeugen, Gutachtern, Opfern und deren nahen Verwandten; (4) Ergreifen besonderer Maßnahmen für den Personenschutz und für den Schutz des Wohnorts; (5) andere notwendige Schutzmaßnahmen. Wenn Zeugen, Gutachter, Opfer oder deren Angehörige wegen ihrer Aussage vor Gericht in Gefahr geraten, können sie das Volksgericht, das Volksprokurat oder die Polizeibehörde um Schutz bitten. Das Volksgericht, das Volksprokurat und die Polizeibehörde ergreifen Schutzmaßnahmen nach Vorgabe der Gesetze, betroffene Einheiten und Personen haben die Pflicht zur Kooperation.« Durch diese Bestimmung ist ein systematischer Schutz von Zeugen, Gutachtern bzw. Opfern bei Fällen von staatsgefährdenden Verbrechern, von Terrorismus oder von schwerer organisierter Kriminalität ermöglicht worden. Nach der oben erwähnten Bestimmung hat das System des Personen- bzw. Objektschutzes für Zeugen, Gutachter bzw. Opfer folgende Eigenschaften: 1) Volksgericht, Staatsanwaltschaft bzw. Polizeibehörde sind die Organe, welche das Schutzrecht ausführen. Sie haben die Kompetenz, Schutzmaßnahmen zu ergreifen und dürfen sich dieser nicht entziehen; 2) das Objekt des Schutzes ist nicht auf Zeugen eingeschränkt, sondern umfasst auch Prozessbeteiligte wie Sachverständige und Opfer; 3) der Auslöser für Schutzmaßnahmen muss nicht in der Bedrohung des Zeugen etc. in Person bestehen, sondern umfasst auch die Bedrohung von dessen Angehörigen; 4) das Verfahren zur Einrichtung geeigneter Schutzmaßnahmen kann von Volksgerichten, Staatsanwaltschaften bzw. Polizeibehörden auf Grund von deren Amtsbefugnis eingeleitet werden, es kann aber auch auf Grund eines Antrags durch die Betroffenen eingeleitet werden; 5) die
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Schutzmaßnahmen können vielfältig sein, z. B. Schutz persönlicher Daten, anonymisierte Aussagen, Kontaktverbote von bestimmten Personen, besondere Schutzmaßnahmen usw.; 6) auch der Wohnort kann in die Schutzmaßnahmen integriert werden. Die Schutzregelungen für Zeugen, Gutachter bzw. Opfer in Verfahren gegen Terrorismus bzw. gegen mafiaartige organisierte Kriminalität wurden mit der Reform des Strafprozessrechts im Jahr 2012 eingeführt. Durch sie wurden die Verfahrensgarantien für Verfahrensbeteiligte sehr stark ausgeweitet, weswegen sie eine wichtige gesetzgeberische Errungenschaft darstellen. Allerdings gibt es immer noch einige Regelungslücken und Unklarheiten, welche in der Praxis zu Unklarheiten in der Kompetenzverteilung führen und die in Zukunft eine legislative Feinabstimmung erfordern.
4.
Der Hausarrest
§ 73 Abs. 1 chStPO bestimmt: »Der Hausarrest erfolgt im Wohnsitz des Strafverdächtigen oder Angeklagten. Wenn er keinen festen Wohnsitz hat, kann dieser an einem ihm zugewiesenen Ort durchgeführt werden. Wenn der Verdächtige oder Beklagte eine Tat begangen hat, die die Staatssicherheit gefährdet, die zum Terrorismus oder zur besonders schweren Korruption gehört, und wenn die Vollstreckung am Wohnsitz die Ermittlungen behindern kann, so kann sie auch an einem anderen, hierfür zugewiesenen Ort durchgeführt werden, sofern dies vom übergeordneten Volksprokurat oder der übergehordneten Polizeibehörde genehmigt wird. Sie darf jedoch nicht in einem Untersuchungsgefängnis oder an einem besonderen Ermittlungsort durchgeführt werden.« Demnach soll die Zwangsmaßnahme des Hausarrests grundsätzlich am Wohnsitz des Verdächtigen bzw. des Angeklagten durchgeführt werden. Ausnahmsweise kann sie auch an einem durch die Ermittlungsbehörden zugewiesenen Ort erfolgen. Um effektiver gegen Verdächtige und Angeklagte, die unter dem Verdacht stehen, terroristische Straftaten begangen zu haben, vorgehen zu können, kann der Hausarrest in solchen Fällen an einem von der Ermittlungsbehörde bestimmten Ort durchgeführt werden. Um aber die Rechte des Verdächtigen bzw. Angeklagten nicht ungerechtfertigt einzuschränken, sind folgende Dinge zu beachten: 1) die Durchführung des Hausarrests an einem von den Ermittlungsbehörden bestimmten Ort ist eine Ausnahmeregelung und nicht der Normalfall. Deshalb ist auch in Fällen des Verdachts auf terroristische Straftaten der Hausarrest grundsätzlich am Wohnort durchzuführen. 2) Selbst wenn der Verdächtige bzw. der Angeklagte einen festen Wohnsitz hat, darf der Hausarrest nicht an diesem durchgeführt werden, wenn die ersthafte Gefahr besteht, dass dadurch die Ermittlungen schwerwiegend behindert werden. So könnte es zB
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sein, dass es sich um eine gemeinsame Täterschaft handelt und die Durchführung des Hausarrests am Wohnort die Mittäter vor einer bestehenden Entdeckung warnt. 3) der Hausarrest an einem von den Ermittlungsbehörden bestimmten Wohnsitz muss von der nächst höheren Staatsanwaltschaft oder Polizeibehörde durch ein strenges Verfahren genehmigt werden. Weil bei terroristischen Verbrechen das mittlere Volksgericht als erste Instanz zuständig ist, verweist das »übergeordnete Volksprokurat oder die übergeordnete Polizeibehörde« in § 172 chStPO auf die leitenden Behörden der Provinzen, autonomen Gebiete und zentral verwalteten Städte als Entscheidungsinstanz. 4) Der Hausarrest an einem von der Ermittlungsbehörde bestimmten Ort darf nicht als eine andere Form der Untersuchungshaft missbraucht werden. Deshalb darf dieser nicht in einem Untersuchungsgefängnis oder an einem besonderen Ermittlungsort durchgeführt werden. 5) Grundsätzlich sind die Staatsanwaltschaft und die Polizei dazu berechtigt den Hausarrest an einem von der Ermittlungsbehörde bestimmten Wohnsitz zu bestimmen. Da es während der Gerichtsverhandlung den Grund der »Gefährdung der Ermittlungen« nicht gibt, darf das Volksgericht keinen Hausarrest an einem Ort anordnen, der nicht gleichzeitig der Wohnsitz des Angeklagten ist, es sei denn, der Angeklagte verfügt über keinen festen Wohnsitz. 6) Bei der Anrechnung des Hausarrests auf eine etwaige Gefängnisstrafe oder auf Meldebeschränkungen wird der Hausarrest, der von den Ermittlungsbehörden an einem anderen als dem Wohnort bestimmt ist, bessergestellt, als der allgemeine Hausarrest. Während letzterer nicht auf eine Haftstrafe angerechnet werden darf, wird der Hausarrest, der an einem Ort durchgeführt wird, der nicht der Wohnort ist, im Verhältnis von 1:1 auf Führungsaufsicht (管制) angerechnet und im Verhältnis 2:1 auf Strafarrest (拘役) und zeitige Freiheitsstrafe (有期徒刑) angerechnet.
5.
Benachrichtigung der Familienangehörigen nach der Festnahme
§ 83 Abs. 2 chStPO schreibt vor: »Nach erfolgter Festnahme muss eine Person umgehend an das Untersuchungsgefängnis überstellt werden, dies muss innerhalb von 24 Stunden geschehen. Es sei denn, es ist unmöglich die Familienangehörigen zu verständigen, oder eine Verständigung derselben kann die Ermittlungen bei Verdacht auf Gefährdung der staatlichen Sicherheit oder bei Terrorismus behindern, müssen innerhalb von 24 Stunden nach Verhaftung die Familienangehörigen verständigt werden. Besteht der Grund der Behinderung der Ermittlungen nicht weiter, sind die Familienangehörigen umgehend zu verständigen.« Wird eine Person verhaftet, die unter dem Verdacht steht, terroristische Verbrechen begangen zu haben, dann sind die Ermittlungsbehörden nicht dazu
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verpflichtet, die Familienangehörigen innerhalb von 24 Stunden seit Verhaftung zu verständigen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Verhaftete erstens im Verdacht steht, terroristische Verbrechen begangen zu haben, und dass zweitens die Möglichkeit besteht, dass eine Verständigung der Familienangehörigen die Ermittlungen behindert. Diese Bestimmung zielt darauf ab, die Heimlichkeit der Ermittlungen aufrechtzuerhalten um zu verhindern, dass eine zu schnelle Verständigung der Familienangehörigen dazu führen kann, dass andere Tatverdächtige gewarnt sind und flüchten, sich verbergen, Beweismittel vernichten und dadurch die Ermittlungen beeinträchtigen – oder dass sie weitere terroristische Verbrechen verüben. Die vorliegende Bestimmung wurde daher als Ausnahmeregelung eingeführt, um einen konkreten Bedarf innerhalb der Strafjustiz anzusprechen. Es gilt dabei allerdings zu beachten, dass diese Ausnahme bereits dann eingesetzt werden kann, wenn lediglich die Möglichkeit besteht, dass die Untersuchung durch eine Benachrichtigung der Familienangehörigen behindert wird. Besteht dieses Hindernis nicht mehr, dann müssen die Familienangehörigen des Verdächtigen umgehend über die Tatsache der Verhaftung informiert werden.
6.
Technische Ermittlungsmaßnahmen
Die revidierte chStPO hat das Kapitel »Untersuchung« um das Kapitel 8 »Ermittlungen mit technischen Maßnahmen« ergänzt. Darin wird bestimmt: »Bei Verbrechen, welche die Staatssicherheit gefährden, bei Terrorismus, bei mafiaartiger organisierter Kriminalität, bei schweren Drogendelikten und bei anderen Verbrechen, die die Gesellschaft schwer schädigen, können im Bedarfsfall und nach strengem Genehmigungsverfahren technische Ermittlungsmaßnahmen bei Ermittlungen eingesetzt werden.«7 Es können also bei terroristischen Verbrechen und bei Verbrechen, die der organisierten Kriminalität zuzuordnen sind, technische Ermittlungsmaßnahmen eingeleitet werden. Die technischen Maßnahmen, die nach den Bestimmungen der chStPO zu Ermittlungszwecken ergriffen werden können, sind im weiteren Sinne definiert. Nach §§ 148–152 chStPO beinhaltet dies »Ermittlungen mit technischen Mitteln« im engeren Sinne (also alle Maßnahmen welche Erkenntnisse der modernen Wissenschaft, sowie deren Methoden und Techniken anwenden)8, geheime Untersuchung und kontrollierte Übergabe. Diese Regelung stimmt mit § 20 Abs. 1 7 § 148 Abs. 1 chStPO. 8 SONG Yinghui (宋英辉), Über Ermittlungen mit technischen Maßnahmen des Strafprozessrechts (刑事程序中的技术侦查研究), in: Chinese Journal of Law (法学研究), 2000, Nr. 3, S. 73.
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UN-Konvention gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität überein. Letztere fordert von den Signatarstaaten, Bestimmungen über die kontrollierte Übergabe, digitale Überwachung oder Überwachung in anderer Form sowie Spionage einzuführen.9 Um technische Ermittlungsmaßnahmen in der Praxis richtig einzusetzen, hat das Ministeriums für Öffentliche Sicherheit (Polizeiministerium) Regelungen für technische Maßnahmen in den »Vorschriften des Ministeriums für öffentliche Sicherheit über das Verfahren in Strafsachen« konkretisiert und verfeinert. Momentan weisen die technischen Maßnahmen, die in Verfahren bei Verdacht auf Terrorismus oder auf organisierte Kriminalität in China auftauchen, folgende Charakteristika auf: 1) Bestimmte anwendbare Taten. Nach § 148 chStPO sind technische Maßnahmen nur bei Verbrechen, welche die Staatssicherheit gefährden, bei Terrorismus, bei Verbrechen der mafia-artigen organisierten Kriminalität, bei schweren Drogendelikten und bei anderen Verbrechen, die die Gesellschaft schwerwiegend gefährden, anwendbar. In allen anderen Fällen dürfen technische Ermittlungsmaßnahmen nicht eingesetzt werden.10 2) Anwendung bei bestimmten Personen. Nach § 255 Abs. 2 »Vorschriften des Ministeriums für öffentliche Sicherheit über das Verfahren in Strafsachen«: »Personen, auf die technische Ermittlungsmaßnahmen angewandt werden können, sind Verdächtige, Angeklagte, sowie Personen, die in direktem Zusammenhang mit der Verbrechenshandlung stehen.« Der Begriff der »Personen, die in direktem Zusammenhang mit der Verbrechenshandlung stehen« bezeichnet Mittäter, Täter von vor- oder nachgelagerten Verbrechen, oder Täter von Verbrechen, welche in anderweitiger Verbindung mit der Tat stehen, gegen die ermittelt wird. Abgesehen von diesen Personen dürfen technische Ermittlungsmaßnahmen nicht eingesetzt werden; dieses Verbot gilt auch für den Einsatz
9 § 20 Abs. 1 UN-Konvention gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität: »Sofern es die wesentlichen Grundsätze seiner innerstaatlichen Rechtsordnung zulassen, trifft jeder Vertragsstaat im Rahmen seiner Möglichkeiten und unter den in seinem innerstaatlichen Recht vorgeschriebenen Bedingungen die erforderlichen Maßnahmen, um die angemessene Anwendung der kontrollierten Lieferung und, soweit er dies für zweckmäßig erachtet, anderer besonderer Ermittlungsmethoden, wie elektronische oder andere Formen der Überwachung und verdeckte Ermittlungen, durch seine zuständigen Behörden in seinem Hoheitsgebiet zum Zweck der wirksamen Bekämpfung der organisierten Kriminalität zu ermöglichen.« 10 Die Staatsanwaltschaft konnte bislang bei Fällen schwerer Korruption und Bestechung sowie bei schweren Fällen von Willkür im Amte, welche die Rechte der Bürger verletzt haben selbständig technische Ermittlungen anordnen, für die Durchführung war jedoch auch hier die Polizeibehörde zuständig; vgl. § 148 Abs. 2 chStPO. Bei Fällen, in denen die staatliche Sicherheit gefährdet oder verletzt wird, verfügen die Organe der Staatssicherheit über die Kompetenz, technische Ermittlungsmaßnahmen durchzuführen; vgl. § 4 chStPO.
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gegen nahe Familienangehörige des Verdächtigen bzw. des Angeklagten und für andere Personen. 3) Bestimmtheit der Anwendungsdauer. Nach § 149 chStPO werden technische Ermittlungsmaßnahmen in einem bestimmten Fall zunächst nicht länger als drei Monate ab dem Tag der Genehmigung eingesetzt. Ist der Fall komplex und schwierig und müssen die technischen Ermittlungsmaßnahmen deshalb nach Ablauf der ursprünglichen Anwendungsdauer fortgesetzt werden, kann die Frist verlängert werden. Die Verlängerung bedarf der Genehmigung. Jede Verlängerung der Frist darf die Dauer von drei Monaten nicht überschreiten. 4) Bestimmtheit des Zustimmungsverfahrens. Nach § 256 »Vorschriften des Ministeriums für öffentliche Sicherheit über das Verfahren in Strafsachen« dürfen technische Ermittlungsmaßnahmen nur dann eingesetzt werden, wenn sie zuvor genehmigt wurden. Daher muss ein Antrag für den Einsatz technischer Ermittlungsmaßnahmen gestellt werden. Dieser muss vom Leiter des Amtes für öffentliche Sicherheit (Polizeibehörde) auf der Ebene einer Stadt mit Bezirken genehmigt werden. Die Genehmigung erfolgt schriftlich. 5) Bestimmtheit der Beweisregeln bzw. der Regeln für den Beweisausschluss. Nach § 152 chStPO sind Beweise, die mittels technischer Ermittlungsmaßnahmen gewonnen wurden, im Strafverfahren anwendbar. Der Anwendungszweck der durch technische Ermittlungen gewonnenen Beweise ist nach § 150 chStPO dahingehend eingeschränkt, dass entsprechende Beweismittel nur für Ermittlungen, Anklage und Gerichtsverhandlung desjenigen Verfahrens eingesetzt werden können, für das die Genehmigung vorliegt. Für andere Zwecke dürfen diese Beweise nicht eingesetzt werden. Darüber hinaus ist auch geregelt, dass die Ermittler verpflichtet sind, Staatsgeheimisse, Geschäftsgeheimnisse bzw. persönliche Geheimnisse zu bewahren; Dokumente, die zu den Ermittlungen nicht benötigt werden, müssen vernichtet werden. Im Hinblick auf die Beweisverwendung ist zu beachten, dass aus dem Einbringen der Beweise im Verfahren eine Gefahr für bestimmte Personen entstehen kann oder dass andere einschneidende Folgen daraus erstehen. In diesem Fall muss die Persönlichkeit der Ermittler, die Art der Ermittlungsmethoden etc. geschützt werden. Im Zweifelsfall ist es dem Gericht erlaubt, die Aufnahme der relevanten Beweise außerhalb des Gerichtssaals durchzuführen.
7.
Begrenzte Erlaubnis der Beweisaufnahme außerhalb des Gerichtssaals
Die revidierte Fassung des § 152 chStPO bestimmt: »Material, das durch technische Ermittlungsmaßnahmen, die in diesem Abschnitt bestimmt sind, gewonnen wird, kann als Beweismittel vor Gericht verwendet werden. Wenn die Verwendung dieser Beweismittel die persönliche Sicherheit relevanter Personen
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gefährdet oder wenn dabei andere schwerwiegende Folgen drohen, dann soll die Enttarnung von Personen oder das Publikwerden von Ermittlungsmethoden verhindert werden. In einem solchen Fall können die Beweismittel auch außerhalb des Gerichtssaals untersucht werden.« Diese Bestimmung adressiert insbesondere die Verwertung der durch technische Ermittlungen gewonnenen Beweismittel nach dem die Ermittlungsmaßnahmen bereits abgeschlossen sind. Wenn es im Rahmen dieser Beweisverwertung zu der Gefahr kommt, dass die persönliche Sicherheit einzelner Personen gefährdet ist, oder dass wichtige Ermittlungsmethoden bekannt werden, oder dass es zu anderen schwerwiegenden Folgen kommt, dann sollen Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Im Extremfall können diese so weit gehen, das Gericht außerhalb des Gerichtssaals die Beweismittel untersucht. Da technische Ermittlungen faktisch überwiegend auf die Bereiche organisierte Kriminalität und Terrorismus konzentriert sind, führt diese Bestimmung in der Realität dazu, dass Zeugen unter den gesetzlichen Voraussetzungen nicht vor Gericht aussagen müssen, sondern dass der Richter die relevanten Beweismittel außerhalb des Gerichtssaals überprüft. Diese Bestimmung bezüglich der außergerichtlichen Untersuchung von Beweisstücken war erst im Zuge der Neufassung der chStPO im Jahr 1996 eingeführt worden. Das Hauptziel der Bestimmung ist der Schutz der Ermittler und anderer mit den Ermittlungen in Zusammenhang stehenden Personen. Trotzdem vergrößert diese Bestimmung ein ohnehin bereits bestehendes Problem, denn es senkt den Anteil der Zeugen, die im Verfahren gegen Verbrechen der organisierten Kriminalität bzw. des Terrorismus nicht aussagen, noch weiter ab. Der Prozentsatz der Zeugen die vor Gericht aussagen, ist in China bislang schon sehr niedrig gewesen. Nach einer von Prof. CHEN Guangzhong geleiteten Pilotstudie über »Zeugenaussagen vor Gericht«, machten vor Beginn der Studie nur maximal 2,3 % der Zeugen an erstinstanzlichen Gerichten im Zuge des Verfahrens eine Aussage, minimal waren es lediglich 0,33 %. In Verfahren der zweiten Instanz war der Prozentsatz der Zeugen, die eine Aussage vor Gericht machten, maximal 7,38 % und minimal 1,35 %.11 Auf Grund der Bestimmung des § 152 chStPO ist der Prozent der Zeugen, die in Verfahren gegen organisierte Kriminalität oder gegen Terrorismus aussagen noch geringer, so dass er unter dem Durchschnittswert der Zeugenaussagen in normalen Verfahren liegt. Dies ist aber eine Verletzung des Rechts des Angeklagten auf Gegenüberstellung, gleichzeitig verstößt es gegen das Prinzip der direkten Verhandlung. 11 CHEN Guangzhong (陈光中), ZHENG Xi (郑曦), XIE Lizhen (谢丽珍), Studie zur Verbesserung der Institution der Zeugenaussage vor Gericht – Pilotversuch und Gerichtspraxis (完 善证人出庭制度的若干问题探析——基于实证试点和调研的研究), in: Tribune of Political Science and Law (政法论坛), 2017 Vol. 4., S. 40ff.
Bestimmungen der chStPO gegen organisiertes Verbrechen und Terrorismus
8.
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Verfahren der Beschlagnahme von widerrechtlich Erworbenem
Bei der Revision der chStPO im Jahr 2012 wurde ein Kapitel mit dem Titel »Besonderes Verfahren« eingefügt. Der dritte Abschnitt dieses Kapitels lautet »Verfahren zur Beschlagnahme illegaler Erträge in Fällen, in denen der Verdächtige oder Angeklagte geflüchtet oder verstorben ist.« Hierzu regelt § 280 chStPO folgendes: »Wenn ein Verdächtiger oder ein Angeklagter, dem schwere Straftaten im Bereich der Tatbestände der Unterschlagung, der Bestechung oder des Terrorismus zur Last gelegt werden und er auch ein Jahr nach der Ausschreibung zur Fahndung noch flüchtig oder aber verstorben ist, so kann das Volksprokurat nach den Regelungen des Strafgesetzbuches beim Volksgericht einen Antrag auf Beschlagnahme illegal erworbener Einkünfte stellen.« Konkret kann das Verfahren der Beschlagnahme nach den entsprechenden Bestimmungen im Strafgesetzbuch auf folgende terroristische Verbrechen angewandt werden: Bildung, Führung und Beitritt zu einer terroristischen Organisation, Beihilfe zu terroristischen Aktivitäten, Vorbereitung terroristischer Aktivitäten, Verherrlichung von Terrorismus und Extremismus, Aufstachelung zu terroristischen Aktivitäten, Instrumentalisierung von Extremismus zur Störung der Rechtsordnung, Zwang Dritter zum Tragen von Kleidung und Emblemen, die Terrorismus und Extremismus verherrlichen, widerrechtlicher Besitz von Gegenständen, welche Terrorismus oder Extremismus verherrlichen.12 Das Ziel, weswegen man ein Verfahren zum Einzug von widerrechtlichen Einkünften eingeführt hat, besteht darin, die Finanzierungskette des Terrorismus effektiv zu durchtrennen und in dem Versuch, eine Finanzierung der Täter durch terroristische Verbrechen zu unterbinden. Deshalb ist es bei einer Flucht, die länger als ein Jahr andauert oder bei dem Tod von Verdächtigen bzw. Angeklagten nunmehr möglich, dass eine Beschlagnahme unabhängig auch bei fehlendem Schuldurteil möglich ist. Diese Regelung entspricht den Notwendigkeiten der Repression des Terrorismus. Dennoch muss bei der Anwendung dieses Verfahrens sichergestellt werden, dass der vom Gesetzgeber intendierte Normenzweck in den konkreten Verfahren verwirklicht wird, dazu gilt es die Rechte des Verdächtigen bzw. des Angeklagten zu schützen. Aus diesem Grund gilt es folgendes zu beachten: 1) Das mittlere Volksgericht, das für den Tatort oder für den Wohnort des Verdächtigen oder des Angeklagten zuständig ist, hat die alleinige Zuständigkeit für Verfahren zur Beschlagnahme in Abwesenheit. 12 Vgl. Oberster Volksgerichtshof (最高人民法院), Oberstes Volksprokurat (最高人民检察院), Interpretation über die Anwendung des Verfahrens zur Beschlagnahme illegaler Erträgen aus Fällen, in denen der Verdächtige oder Beklagte entkommen oder verstorben ist (关于适用犯 罪嫌疑人、被告人逃匿、死亡案件违法所得没收程序若干问题的规定), § 1 Abs. 3.
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2) Für den Beginn des Verfahrens muss zunächst das Amt für öffentliche Sicherheit (also die Polizei) ein Schreiben mit der Forderung einer Beschlagnahme widerrechtlich erworbener Einkünfte an das Volksprokurat richten; letzteres beantragt dann beim Volksgericht die Eröffnung eines Beschlagnahmeverfahrens. 3) Nach Eingang des Antrags beim Volksgericht muss dieses für sechs Monate eine öffentliche Bekanntmachung veröffentlichen. Enge Familienangehörige oder andere direkt vom Verfahren betroffene können einen Antrag auf Teilnahme an dem Verfahren stellen; sie können auch einen Prozessbeauftragten für eine Teilnahme an dem Verfahren bestimmen. Das Volksgericht eröffnet nach Ablauf der sechsmonatigen Frist die Verhandlung. Nehmen Personen an dem Verfahren teil, die hiervon direkt betroffen sind, tagt das Volksgericht in öffentlicher Verhandlung.13 4) Fällt das Volksgericht in dem Verfahren eine Entscheidung, dann verfügt das Volksgericht bei widerrechtlich erlangten Einkünften oder bei Gegenständen, welche zum Verüben von Verbrechen verwendet wurden, durch Beschluss die Beschlagnahme, es sei denn, die entsprechenden Gegenstände müssen an den Angeklagten zurückgegeben werden. Wenn die Einkünfte nicht zu beschlagnahmen sind, soll das Volksgericht die Ablehnung des Antrags auf Beschlagnahme beschließen. Der Verdächtige, der Angeklagte, nahe Angehörige und andere Personen, die ein direktes Interesse an dem Verfahren geltend machen können, sowie das Volksprokurat können nach Gesetz Berufung einlegen oder andere Einsprüche geltend machen.14 5) Stellt sich der Verdächtige oder der Angeklagte den Behörden der Strafjustiz, oder wird er gefasst, dann wird das Verfahren in der Weise geändert, dass das Volksgericht die Verfahrenseinstellung anordnet. In der Folge wird das Verfahren nach den Bestimmungen der chStPO an dem üblicherweise zuständigen Gericht durchgeführt, es kommt demnach zu Ermittlungen, zur Anklage und zur Verhandlung, während das Sonderverfahren nicht weiter vorangetrieben werden soll. 6) Wird im Rechtshilfeverfahren festgestellt, dass die Beschlagnahme illegal erworbener Einkünfte widerrechtlich erfolgt ist, müssen die beschlagnahmten Gegenstände zurückgegeben werden bzw. muss der Schaden ersetzt werden, so dass die rechtmäßigen Interessen des Betroffenen gewahrt werden.
13 Vgl. § 281 chStPO. 14 Vgl. § 282 chStPO.
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III.
Praktische Auswirkungen und Verbesserung der Bestimmungen gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus
1.
Praktische Auswirkungen der Regelungen
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Nach der Einführung der neuen Vorschriften der chStPO zur organisierten Kriminalität und zu terroristischen Straftaten » haben die chinesischen Justizorgane15 große Erfolge in der Repression der organisierten Kriminalität, insbesondere in der Repression des Terrorismus erzielt. Im Tätigkeitsbericht des Obersten Volksprokurats für das Jahr 2016, den dessen Präsident Cao Jianming (曹建明) vor dem Nationalen Volkskongress vorstellte, wurden im Jahr 2015 insgesamt 2027 Täter von den Volksprokuraten wegen organisierter Kriminalität (Mafia) verfolgt. Demgegenüber waren es 2016 nur mehr 1106 Täter. Nach dem Tätigkeitsbericht, den der Präsident des Obersten Volksgerichtshofs Zhou Qiang (周强) im Jahr 2016 an den Nationalen Volkskongress übermittelte, waren in 2015 insgesamt 1084 Fälle anhängig, welche die staatliche Sicherheit oder gewalttätige Formen des Terrorismus betrafen; dabei wurden 1419 Täter verurteilt. Auch wenn die Maßnahmen sich in der Praxis als effizient erweisen, gibt es innerhalb der Bestimmungen zur organisierten Kriminalität und zu terroristischen Straftaten immer noch Raum für Verbesserungen; insbesondere gilt dies für die Themen des Zeugenschutzes und der technischen Ermittlungsmaßnahmen.
2.
Verbesserung des Zeugenschutzes
Gegenwärtig gibt es im Bereich des Zeugenschutzes folgende Probleme: 1) Unklarheiten bezüglich der zum Zeugenschutz Verpflichteten. Nach den Bestimmungen der chStPO sind alle drei Behörden, das Amt für öffentliche Sicherheit (Polizei), das Volksprokurat bzw. das Volksgericht, dazu verpflichtet, Zeugen zu schützen. Es fehlt jedoch die Konkretisierung, welche Behörde in welchem Verfahrensabschnitt welchen Pflichten nachkommen soll, welche Schutzmaßnahmen ergriffen werden können, wer die Verantwortung für die Einleitung und Durchführung der Maßnahmen trägt, wie diese Verantwortung übergeleitet werden kann etc., sodass es in der Praxis zu Fällen kommt, in denen die drei Behörden sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben bzw. sich selbst 15 Nach chinesischer Lesart bestehen die Justizorgane (司法机关) aus dem Volksgericht (人民 法院) und dem Volksprokurat (人民检察院).
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aus der Verantwortung stehlen. Folglich gibt es in der Praxis immer wieder die Gefahr, dass der Zeugenschutz nur angeblich existiert, während die Zeugen tatsächlich gefährdet sind. 2) Zu spätes Eingreifen der Maßnahmen des Zeugenschutzes. Nach den Bestimmungen des § 61 chStPO ist der Schutzmechanismus in Wirklichkeit eine nachträgliche Sanktion: Die Behörden müssen abwarten, bis Zeugen tatsächlich bedroht, beleidigt, verprügelt oder mit Rachehandlungen überzogen werden, bevor die Behörden die Täter mit straf- oder ordnungsrechtlichen Sanktionen belegen können. Selbst wenn eine Behörde bereits im Vorfeld schützen möchte, sind ihr wegen des Fehlens einer entsprechenden Rechtsgrundlage die Hände gebunden, sodass sie keine Schutzmaßnahmen durchführen kann. 3) Der Anwendungsbereich von besonderen Schutzmaßnahmen ist auf bestimmte Verbrechen eingeschränkt. Obwohl § 62 chStPO die Bestimmungen von § 61 chStPO inhaltlich ergänzt, können Zeugen oder deren nahe Verwandte im Fall, dass ihre persönliche Sicherheit gefährdet ist, ihre Aussage in besonderer Weise durchführen. Allerdings kommt diese Bestimmung nur bei Verbrechen gegen die Staatssicherheit, bei Terrorismus, bei mafia-artiger organisierter Kriminalität und bei Drogenhandel zur Anwendung. Dieser Anwendungsbereich ist zu eng eingegrenzt und wirkt sich in Form eines unzureichenden Zeugenschutzes aus. Um die oben genannten Probleme zu lösen, sollten folgende Verbesserung vorgenommen werden: 1) Die Kompetenzverteilung zwischen Behörden sollte geklärt werden. Maßnahmen zum Zeugenschutz sollten von allen drei juristischen Behörden beschlossen werden können, jedoch sollte nur das Amt für öffentliche Sicherheit (die Polizei) für die Durchführung der Schutzmaßnahmen zuständig sein. Der Grund hierfür liegt in den relativ größeren Ressourcen und Kapazitäten des Amts für öffentliche Sicherheit. Aus demselben Grund hat der Gesetzgeber bereits jetzt die Kompetenz zur Durchführung aller Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren, von der Durchführung von Ersatzmaßnahmen für Untersuchungshaft über die Durchführung des Hausarrests bis hin zur Durchsetzung von Verhaftung und Arrest. 2) Der vorbeugende Zeugenschutz muss verstärkt werden. Es muss erlaubt sein, dass Zeugen bereits dann schon Polizeischutz zukommt, wenn sie nur in der Gefahr sind, bedroht, beleidigt, geschlagen oder mit anderen Rachehandlungen überzogen zu werden. Wenn Polizei, Volksprokurat oder Volksgericht der Überzeugung sind, dass diese Gefahr besteht, dann ist dies für die Anordnung von Maßnahmen des Zeugenschutzes ausreichend. Die Situation, in der Zeugen erst verletzt werden müssen, bevor eine Sanktionierung stattfinden kann ist zu passiv.
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3) Die Sonderregelungen, welche in § 62 chStPO vorgesehen sind, sollten generell einsetzbar sein. Die Behörden müssen in jedem Fall die Notwendigkeit präventiver Schutzmaßnahmen prüfen und im Zweifelsfall beschließen, ob und wie entsprechende besondere Maßnahmen vorgenommen werden sollen. Auf diese Weise wird einerseits vermieden, dass Zeugen gefährdet werden, anderseits kann dadurch vermieden werden, dass die Kompetenz der Justizbehörden missbraucht wird.
3.
Abschaffung des Hausarrests an besonderen hierfür bestimmten Orten
Wie oben bereits erwähnt, dient der Hauarrest an besonderen hierfür bestimmten Orten einer effektiven Bekämpfung des Terrorismus, anderer Formen der organisierten Kriminalität, sowie anderer schwerer Verbrechen. Dabei lässt sich eine Einschränkung der Rechte des Verdächtigen bzw. des Angeklagten nicht vermeiden. Dennoch gibt es im Zusammenhang mit dem Hausarrest an besonderen hierfür bestimmten Orten drei Probleme, die es in der Abwägung als ratsam erscheinen lassen, diesen als Institution abzuschaffen. 1) Der Hausarrest an besonderen hierfür bestimmten Orten kennt kein Rechtshilfeverfahren, daher kann nicht dafür garantiert werden, dass er in fairer Weise angewandt wird. Der Hausarrest an besonderen hierfür bestimmten Orten ist – anders als die Verhaftung – nicht vom Volksgericht genehmigt oder vom Volksprokurat genehmigt bzw. nach Prüfung gestattet. Es reicht zur Genehmigung aus, wenn die übergeordnete Polizeibehörde bzw. die übergeordnete Staatsanwaltschaft dem Hausarrest an einem besonderen hierfür bestimmten Ort zustimmt. In Anbetracht der engen hierarchischen Verflechtung der Polizeibehörden bzw. der Volksprokurate und angesichts der Kongruenz des Verfolgungsinteresses ist es fraglich, wie auf diese Weise ein faires Verfahren garantiert werden soll. 2) Der Hausarrest an einem besonderen hierfür bestimmten Ort kommt einer »Untersuchungshaft in anderem Gewand« gleich. Es ist möglich, dass dadurch in schwerer Weise gegen die Rechte des Verdächtigen bzw. des Angeklagten verstoßen wird. Nach den Bestimmungen der chStPO gibt es fünf verschiedene Formen der Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsstadium. Dabei kann laut Gesetz bei Arrest (拘留) und Verhaftung (逮捕) das Mittel der Untersuchungshaft angeordnet werden. Obwohl der Hausarrest an einem besonderen hierfür bestimmten Ort nicht den Begriff der Untersuchungshaft verwendet, ist er faktisch dennoch eine Form derselben. Verglichen mit Arrest und Verhaftung sehen wir, wie die Betroffenen bei den beiden letzteren innerhalb von 24 Stunden ins Untersuchungsgefängnis verbracht werden müssen. Die Aufsicht des Untersuchungsgefängnisses über Verdächtige und Angeklagte, die sich in Untersu-
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chungshaft befinden, vollzieht sich nach klaren und umfassenden Regeln. Dazu ist die Kontrolldichte durch Videoüberwachung in Untersuchungsgefängnissen sehr hoch, sodass die Möglichkeit und damit die Wahrscheinlichkeit von Folter oder Erpressung eines Geständnisses in der Untersuchungshaft gering ist. Da der Ort, an dem ein besonders bestimmter Hausarrest durchgeführt wird, kein Untersuchungsgefängnis und kein Ort ist, an dem üblicherweise Ermittlungen durchgeführt werden, sind die materiellen und institutionellen Voraussetzungen eines solchen Ortes auf keinen Fall so gut, wie diejenigen im Untersuchungsgefängnis. Es kann daher sehr leicht zu Komplikationen oder zu widerrechtlichen Handlungen kommen. Die prozessrechtlichen Garantien des Verdächtigen bzw. des Angeklagten, ja die Garantie für Leib und Leben der Betroffenen sind daher nur sehr schwer aufrecht zu erhalten und direkt bedroht. 3) Der Hausarrest an einem besonderen hierfür bestimmten Ort erschwert den Kontakt zwischen Verteidiger und Angeklagtem zusätzlich. Nach den Bestimmungen von § 37 Abs. 3 chStPO muss der Kontakt zwischen Verteidiger und Angeklagtem bei Verdacht auf terroristische Verbrechen durch die Ermittlungsbehörden im Vorfeld genehmigt werden. Dadurch ist der Kontakt zwischen Anwalt und Mandant im Vergleich zu normalen Fällen deutlich erschwert. Wenn die Kontaktmöglichkeit zwischen Anwalt und Mandant auf Grund der Erfordernisse der Ermittlungen beschränkt wird, dann ist diese institutionelle Entscheidung nachvollziehbar. Wenn aber bei Personen, die unter dem Verdacht terroristischer oder anderer Straftaten stehen, ein Hausarrest an einem besonderen dafür bestimmten Ort angeordnet wird, dann muss der Strafverteidiger nach den § 37 Abs. 5 chStPO dennoch zuerst die Genehmigung durch die Ermittlungsbehörde erhalten, bevor er Kontakt zu seinem Mandanten aufnehmen kann. Es kommt daher vor, dass Ermittlungsbehörden Personen entgegen der gesetzlich bestimmten Bedingungen für die Verhaftung festnehmen, um sie dann in Hausarrest an einem besonderen dafür bestimmten Ort einzuweisen und dadurch die Kontaktmöglichkeiten des Anwalts mit seinem Mandanten zu beschränken. Weil also der Hausarrest an einem besonderen hierfür bestimmten Ort die drei oben beschriebenen schwerwiegenden Probleme aufweist, weil es die Grundrechte von Verdächtigen und Angeklagten verletzt, weil auch bei einer regelmäßigen, strengen Überprüfung der Anordnung des Hausarrests an einem besonderen hierfür bestimmten Ort die oben beschriebenen Probleme nicht wirklich unterbinden kann, weil dazu die aktuelle chStPO die Institution der Untersuchungshaft umfassend geregelt hat, deshalb erscheint es den Autoren angebracht, die Sonderform des Hausarrests an einem besonderen dafür bestimmten Ort gänzlich abzuschaffen. Dies ist die einzige Möglichkeit, zu einem Ausgleich zwischen effektiver Repression des Verbrechens und Garantie der Menschenrechte zu kommen.
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4.
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Verbesserungen im Rahmen technischer Ermittlungsmaßnahmen
Bei den technischen Ermittlungsmaßnahmen liegt das aktuelle Hauptproblem darin, dass es im Rahmen des Einsatzes technischer Ermittlungsmaßnahmen an Kontrolle und Aufsicht fehlt. Wenn technische Ermittlungsmaßnahmen unsachgemäß oder missbräuchlich angewandt werden, ist es leicht möglich, dass legitime Rechte von Bürgern verletzt werden. Aus diesem Grunde gibt es Kollegen, die das US-amerikanische Beispiel zitieren und fordern, dass technische Ermittlungsmaßnahmen in den Begriff der Durchsuchung integriert werden sollten. Auf diese Weise würde der Einsatz technischer Ermittlungsmaßnahmen vor deren Beginn von einer neutralen Justizbehörde oder vom relativ neutralen Volksprokurat überprüft, bevor eine Zustimmung erfolgt. Dadurch würde eine Form der vorherigen gerichtlichen Verfügung eingeführt, was Möglichkeiten zum Missbrauch unterbindet.16 Diese Meinung verfügt natürlich über eine vorwärtsgerichtete Perspektive. Ihre Durchführbarkeit ist aber angesichts des geltenden Verfassungsrahmens zweifelhaft. Dieser bestimmt, dass »die Volksgerichte, die Volksprokurate und die Organe der öffentlichen Sicherheit sich bei der Behandlung von Strafsachen ihre Aufgaben in der Weise teilen sollen, dass sie jeweils für ihre eigene Arbeit verantwortlich sind, sie koordinieren ihre Bemühungen und kontrollieren sich gegenseitig.« Darum wäre es wohl realistischer, wenn eine nachträgliche Überprüfung festgesetzt werden kann, denn ein solches System wäre mit den vorstehenden Bestimmungen auf jeden Fall kompatibel und hat daher größere Chancen auf Realisierung. Nach geltendem Recht gibt es umfassende Verfahren und Regelungen, vermittels derer technische Ermittlungsmaßnahmen nachträglich überprüft werden können. Das Subjekt, das die nachträgliche Überprüfung durchführt, kann entweder die Ermittlungsbehörde selber sein, oder aber das Volksprokurat, denn diese hat auch die Kompetenz Verhaftung und Anklage in ähnlicher Weise nachträglich zu kontrollieren. Auch die Gerichte könnten eine solche Überprüfung durchführen. Eine interne Kontrolle durch die Ermittlungsbehörde hat direkte Auswirkungen auf Belohnung und Disziplinierung der einzelnen Ermittler, auf deren Karriere und auf deren berufliches Weiterkommen; die interne Kontrolle hätte daher die Vorteile, dass sie einfach, direkt, schnell und effizient durchführbar wäre. Trotzdem sind auch ihre Nachteile evident: innerhalb einer Behörde gibt es eine Interessenkongruenz, insbesondere bei der Verfolgung von Verbrechen. Eine Revision in eigener Sache ist daher immer schwierig. Insbe16 Vgl. YAN Liguo (闫利国), XU Guanghua (徐光华), Der Einsatz technischer Ermittlungsmaßnahmen am Beispiel des Abhörens (技术侦查在刑事诉讼中的运用——以监听为视 角), in Journal of Huazhong University of Science and Technology (Social Science Edition) (华中科技大学学报(社会科学版)), 2010, Nr. 2, S. 57.
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sondere in der chinesischen Gesellschaft, in der Kritik oft als persönliche Kränkung erfahren wird, müsste hierzu erst einmal die psychologisch-emotionale Hemmschwelle zur Akzeptanz von Kritik überwunden werden. Folglich müsste eine effektive nachträgliche Überprüfung auf dem Prinzip der externen Kontrolle aufbauen und müsste hierzu beim Gericht angesiedelt sein. Nach § 152 chStPO sind »Beweise, die mittels technischer Ermittlungsmaßnahmen gewonnen werden, im Strafverfahren verwertbar.« Demzufolge sollte die Gewinnung dieser Beweise extern kontrolliert werden. Eine wirklich effiziente Kontrolle wird meist eine externe Kontrolle sein. Dies gilt in besonderem Maße für den Fall, dass die externe Kontrolle von einem Gericht durchgeführt wird. Für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit technischer Ermittlungsmaßnahmen gilt, dass die Gerichte momentan zwei Methoden hierzu anwenden könnten. Die Anwendung des Beweisverwertungsverbots ist zwar von den gesetzlichen Bestimmungen her möglich, trotzdem wird dieses nur mit extremer Vorsicht in der Praxis eingesetzt. Trotz der Ausgrenzung von rechtswidrigen physischen Beweisen tendieren die Gerichte dazu, extreme Vorsicht walten zu lassen. Auch die Partizipation der Ermittlungsbeamten im gerichtlichen Verfahren sollte dringend erhöht werden. Vorschriften, die zu einer Verbesserung dieses Systems führen sollen, sind bereits aktuellen im Einsatz. Wenn aber die Rechtmäßigkeit technischer Ermittlungsmaßnahmen, welche von einem Ermittler eingeleitet wurden, zu einem Teil der Verhandlung vor Gericht werden, dann schreckt diese Überprüfung der Rechtmäßigkeit entsprechender Anordnungen von dem potentiellen Missbrauch relevanter Kompetenzen ab.
Literatur CHEN, Guangzhong (陈光中), ZHENG, Xi (郑曦), XIE, Lizhen (谢丽珍), Studie zur Verbesserung der Institution der Zeugenaussage vor Gericht – Pilotversuch und Gerichtspraxis (完善证人出庭制度的若干问题探析——基于实证试点和调研的研究), in: Tribune of Political Science and Law (政法论坛), 2017 Vol. 4, S. 40–51. SONG, Yinghui (宋英辉), Über Ermittlungen mit technischen Maßnahmen des Strafprozessrechts (刑事程序中的技术侦查研究), in: Chinese Journal of Law (法学研究), 2000, Nr. 3, S. 73–86. YAN, Liguo (闫利国), XU, Guanghua (徐光华), Der Einsatz technischer Ermittlungsmaßnahmen am Beispiel des Abhörens (技术侦查在刑事诉讼中的运用——以监听 为视角), Journal of Huazhong University of Science and Technology (Social Science Edition) (华中科技大学学报(社会科学版)), 2010, Nr. 2, S. 52–58. YU, Zhigang (于志刚), Das strafrechtliche Sanktionensystem gegen die organisierte Kriminalität und seine Verbesserung (我国刑法中有组织犯罪的制裁体系及其完善), in: Academic Journal of Zhongzhou (中州学刊), 05/2010, S. 87–91.
Bernhard Kretschmer*
Terrorismusverfolgung in Deutschland – tatsächliche und rechtliche Aspekte zum islamistischen Terror
I.
Islamistischer Terror – ein Auszug
Am 19. Dezember 2016 kaperte der tunesische Staatsangehörige Anis Amri in Berlin einen mit Stahlträgern beladenen Lkw und steuerte das schwere Fahrzeug in die Menschenmenge, die sich auf dem Weihnachtsmarkt am Fuße der Gedächtniskirche versammelt hatte. Dadurch verloren neben dem polnischen LkwFahrer, den Amri erschoss, weitere 11 Menschen ihr Leben und nochmals 55 Menschen wurden teils schwer verletzt.1 Bei diesem Anschlag vom Breitscheidplatz handelt es sich um den bislang schwersten islamistischen Terroranschlag auf deutschem Boden. Schon davor waren allerdings – wie man so sagt – die Einschläge nähergekommen, wenngleich diese bis dahin – teils durch Glück, teils durch gute Arbeit von Polizei und Nachrichtendiensten – eher glimpflich ausgegangen waren2 oder sogar ganz verhindert werden konnten. So misslangen in Ludwigshafen nur zwei bzw. drei Wochen vor dem Berliner Geschehen zwei Anschläge eines Täters auf den Weihnachtsmarkt bzw. den belebten Rathausplatz, die er mit in Rucksäcken präparierten Nagelbomben verüben wollte. Beiden Tätern – sowohl dem Mörder vom Breitscheidplatz als auch dem deutsch-irakischen Attentäter von Ludwigshafen – war bzw. ist allerdings mit Mitteln des Strafrechts nicht bzw. nicht mehr beizukommen: Der besagte Amri wurde nämlich schon wenige Tage später nahe Mailand in einem Schusswechsel mit der Polizei getötet.3 Und den Täter von Ludwigshafen kann man deshalb nicht bestrafen, weil er erst 12 Jahre alt und damit nach deutschem Recht strafunmündig ist.4 Für ihn greifen daher ausschließlich Maßnahmen der Kin* Prof. Dr. Bernhard Kretschmer, Justus-Liebig-Universität Gießen 1 Die Angaben zur Zahl der Verletzten sind uneinheitlich, wobei auch von bis zu 70 Verletzten gesprochen wird, weil sich viele Personen nur ambulant behandeln ließen. Nicht wenige Verletzte mussten allerdings monatelang stationär versorgt werden. 2 Ohne hierbei das Leid der dennoch betroffenen Opfer übersehen oder kleinreden zu wollen. 3 Genauer: am 23. 12. 2016 in Sesto San Giovanni anlässlich einer Personenkontrolle. 4 Die strafrechtliche Verantwortlichkeit setzt in Deutschland mit 14 Jahren ein (§ 19 StGB), dies
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der- und Jugendhilfe, um den jungen Menschen noch »zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit« zu erziehen (§ 1 Abs. 1 SGB VIII), was angesichts der Gefährlichkeit des ideologisch aggressiven Jungen eine mit Freiheitsentziehung verbundene Heimunterbringung aufgrund familiengerichtlicher Genehmigung erfordert (§ 1631b BGB). In seiner Person zeigt sich anschaulich eine besondere Seite dieses Terrorphänomens: nämlich dass der radikale Islamismus eine ausgesprochene Jugendbewegung ist und nicht wenige Terroristen minderjährig sind. Augenscheinlich gelingt es islamistischen Seelenfängern recht gut, orientierungs- und sinnsuchenden jungen Menschen das Gefühl von Werthaftigkeit zu vermitteln. Dass es nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz bislang keine weiteren islamistischen Terroranschläge in Deutschland gegeben hat (sofern man von den Messerattacken eines psychisch gestörten Islamisten absieht, bei der ein Kaufhauskunde getötet wurde), ist wiederum dem Glück und der guten Arbeit der Sicherheitsdienste zu danken. Garantien, dass es so bleibt, gibt es aber keine, wie auch der Blick auf andere Länder zeigt. Die irische Untergrundorganisation IRA (Irish Republican Army), die sich in Nordirland von den 1960ern bis hin zum Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 (Good Friday Agreement) einen Guerillakampf mit der britischen Armee lieferte, hat es einmal treffend auf den Punkt gebracht, nämlich: »Wir müssen nur einmal Glück haben, ihr jedes Mal.« Schon in diesem Augenblick, in dem diese Zeilen geschrieben oder gelesen werden, könnte dieses Glück vorüber sein – oder jederzeit anders.
II.
Islamistische Gefährder
Was Amri angeht, stellte sich schon bald nach dem Anschlag heraus, dass er den deutschen Sicherheitsbehörden keineswegs unbekannt war. Schon zehn Monate vor der Tat – im Februar 2016 – war er als sog. Gefährder (Funktionstyp: Akteur) eingestuft worden, dem man einen terroristischen Anschlag zutraute. Dabei ist der Begriff des Gefährders dem positiven Gesetzesrecht (noch) unbekannt, weil es sich um eine polizeiliche Terminologie handelt, die aus polizeilichen Bedürfnissen erwachsen ist.5 Es handelt sich einstweilen um eine Bezeichnung, die dem polizeilichen Informationsmanagement dient, wobei es um eine Person geht, der aufgrund bestimmter Tatsachen zuzutrauen ist, dass sie (hier: politisch aber auch nur vorbehaltlich der sittlichen und geistigen Reife des Jugendlichen (§§ 1, 3 JGG). Strafrechtliche Präventionsmaßregeln (§§ 61ff. StGB) können gegen Kinder unter 14 Jahren nicht ergehen. 5 Näher Böhm, Der Gefährder und das Gefährdungsrecht, 2011, insbes. S. 227; vgl. dazu aus wissenssoziologischer Perspektive Kretschmann, APuZ (Aus Politik und Zeitgeschichte), Nr. 32–33/2017 (Heft: Innere Sicherheit), 11ff.
Terrorismusverfolgung in Deutschland
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motivierte) Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird. Diese Einschätzung und Beurteilung obliegt der jeweils zuständigen staatsschützenden Polizeibehörde, die das Risikopotential bewertet und individuell zugeschnittene Maßnahmen konzipiert, welche sich wiederum auf bewährte Routinen stützen.6 Sofern die etwaig vorhandenen rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann es sich insbesondere um folgende Maßnahmen handeln: Ausschreibungen in nationalen und europäischen Informations- und Fahndungssystemen, bilateraler Informationsaustausch der Sicherheits- und Ausländerbehörden, Verbleibskontrollen der erfassten Gefährder bei Bedarf (insbes. in Gefährdungslagen), sog. Gefährderansprachen (falls opportun), ED-Behandlung, Ausreisebeschränkungen und Meldeauflagen, Observationen unterschiedlicher Intensität und Dauer, Einsatz technischer Überwachungsmittel (nicht nur Telekommunikation), Durchsuchungen von Personen, Wohnungen und Fahrzeugen, Finanzermittlungen, zudem der Einsatz von OpenSource Intelligence (d. h. Gewinnung, Auswertung und Analyse öffentlich verfügbarer Informationen). Diverse Maßnahmen dieser Art sind auch in Bezug auf Amri ergriffen worden. So war er beispielsweise als sog. Foreign Fighter (FOFI) im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben, in welchem die Schengen-Staaten sicherheitsrelevante Daten zum jeweiligen Austausch und Abruf bereithalten. Dabei meint der Begriff des Foreign Fighters solche Personen, die als Dschihadisten gemutmaßt werden, weshalb unüberwachte Grenzübertritte zu unterbinden sind. Für eine von Amri ausgehende Anschlagsgefahr sprachen recht früh gewichtige Anhaltspunkte: So hatte er etwa Anschlagswünsche gegenüber einer in das islamistische Netzwerk eingeschleusten Vertrauensperson geäußert, das Beschaffen von Schnellfeuerwaffen in Aussicht gestellt und Bombenanleitungen im Internet recherchiert. Selbst mit dem Erfahrungswissen von heute lässt sich jedoch nicht sicher beurteilen, ob es sich damals – Ende 2015/Anfang 2016 – zunächst nur um bloße Fantasien und Wichtigtuerei (»Maulheldentum«) gehandelt hat. Wie spätere Ermittlungen gezeigt haben, hat Amri seine Mordpläne offenbar erst in den letzten Monaten vor der Tat konkretisiert und dabei eben nicht auf Bomben oder Kalaschnikows gesetzt, sondern auf ein Kraftfahrzeug, wie ihm dies in Nizza vorgemacht wurde und worauf nach ihm Täter in Barcelona, London, New York, Stockholm und andernorts setzten, kurzum: wie dies von islamistischen Strategen propagiert wird. Diese empfehlen nämlich ihnen zugetanen Terroristen, Anschläge mit einfachen Mitteln und kurzer Vorlaufzeit durchzuführen, weil das den Zugriff aufmerksamer Sicherheitsbehörden weniger wahrscheinlich macht. Amri stand jedenfalls in seiner Vorbereitungsphase recht rege mit einem »Führungsoffizier« des sog. Islamischen Staates in Kontakt – und das wohl noch unmittelbar vor seiner Mordfahrt. 6 Vgl. bereits von Denkowski, Kriminalistik 2007, 325ff.
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Im damaligen Bewertungssystem der deutschen Sicherheitsbehörden war die Gefährlichkeit des Amri auf einer sich von »1« bis »8« abschwächenden Skala seit Februar 2016 mit »5« eingeordnet worden, was heißt: Anschlag eher unwahrscheinlich. Im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), unter dessen Dach seit 2004 die rund 40 deutschen Sicherheitsstellen zusammenkommen,7 stand Amri regelmäßig auf der Tagungsordnung verschiedener Sitzungsformate. Zwar gab es durchaus unterschiedliche Sichtweisen auf seine Person, doch war die Gefährdungseinschätzung bei »5« im Wesentlichen konsentiert. Dass es später dennoch zum Mordanschlag kam und sich damit die geringere Wahrscheinlichkeit realisierte, sollte nicht zum voreiligen Schluss verleiten, dass die damalige Einschätzung unzutreffend war. Im Leben ist es bekanntlich ständig so, dass Dinge eintreten, deren Nichteintritt eigentlich wahrscheinlicher war. Und hier war sogar eine signifikante Anschlagswahrscheinlichkeit gesehen worden. Mittlerweile haben die deutschen Sicherheitsbehörden allerdings ein neues Bewertungssystem (Radar-iTE) eingeführt, das weitere psychologische Kriterien einbezieht (insgesamt 73 Merkmale) und Ergebnisse im Ampelsignal produziert. Dieses hätte für Amri ein eindeutiges Rotsignal ergeben. Ob das die personell überforderten Berliner Sicherheitsbehörden dazu gebracht hätte, ihn intensiv(er) zu überwachen als ihn – wie dies geschehen ist – weitgehend aus der Überwachung zu entlassen, bleibt offen. Wie konnte es nun sein, dass dieser polizeibekannte Mann frei herumlaufen und schließlich morden konnte, ohne rechtzeitig aus dem Verkehr gezogen worden zu sein? Diese Frage stellte sich erst recht, als bekannt wurde, dass Amri vor seiner Ankunft in Deutschland (Juli 2015) schon jahrelang in einem italienischen Gefängnis eingesessen hatte, dass er hierzulande unter verschiedenen Identitäten unberechtigt Asyl beantragt hatte (zumeist als angeblicher Ägypter), dass er auf diese Weise doppelte oder gar mehrfache Sozialleistungen bezogen hat, dass diverse Strafverfahren gegen ihn geführt wurden, ohne dass dies zur Verhaftung geführt hätte, dass er munter zwischen Nordrhein-Westfalen und Berlin hin und her fuhr, wie es ihm gefiel, dass er sich bis zuletzt in Berlin aufhielt, obwohl er wegen abgelehnten Asylantrags schon seit einem halben Jahr hätte ausreisen müssen, und mehr noch: dass er – wie bereits erwähnt – gegenüber einer verdeckt ermittelnden Vertrauensperson erklärt hatte, Kalaschnikows in Paris oder Neapel kaufen zu wollen, um einen Anschlag zu begehen, sowie zum Bombenbau recherchiert hatte? In den Medien hält sich hartnäckig die Rede von 14 Identitäten, derer sich Amri bedient habe, wenngleich sich diese Zahl vor allem durch abweichende Schreibweisen der tatsächlich verwendeten Namen und Geburtsdaten aufsummiert. Aber obwohl diese Zahl übertrieben ist: Immerhin hat er Asylgesuche 7 Vgl. dazu etwa Roggan, ZRP 2017, 208, 210 m.w.N.
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unter vier verschiedenen Falschnamen gestellt, ohne dass dies zunächst aufgefallen wäre. Damit jonglierte er mit mehreren Persönlichkeiten, wie dies freilich eine Vielzahl von Personen – mit Schwerpunkt aus dem Maghreb – in ganz ähnlicher Weise betrieben haben, wobei die meisten von ihnen keinen terroristischen, sondern eher einen allgemeinkriminellen Hintergrund haben. Diese Missstände waren (auch) eine Folge allzu offener Grenzen sowie einer unzureichenden daktyloskopischen Erfassung und Abgleichung, die wiederum zu erklären ist erstens mit einer im Jahr 2015 insuffizienten rechtlichen wie technischen Behördenausstattung (was schon vor dem Anschlag – auch durch Aktivität des Gesetzgebers – behoben worden ist) und zweitens mit der sog. Flüchtlingswelle, die in der zweiten Jahreshälfte 2015 über die deutschen Asyl- und Ausländerbehörden hineinbrach und mit den vorhandenen bzw. verfügbar gemachten personellen Ressourcen nur verzögert bearbeitet werden konnte. In dieser Flut schwamm auch Amri, wie dies für andere gilt, die über kriminelle Attitüden mit und ohne islamistischen Hintergrund verfügen. Die Flüchtlingskrise darf aber nicht den Blick dafür verstellen, dass viele gefährliche Personen schon längst davor im Land waren oder sogar hierzulande geboren worden sind. Darunter ist auch eine nicht geringe Zahl von Konvertiten, deren Radikalisierungspotential oftmals höher liegt. In Deutschland geht man bei schwankenden Zahlen davon aus, dass ungefähr 43.000 Menschen zur islamistischen Szene gehören, davon ungefähr 10.000 Salafisten. Gewiss sind viele von ihnen nicht gefährlich, auch wenn sie sich wohl allesamt eine andere Welt erträumen als den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, nämlich statt seiner eine auf den Koran und die Hadithen ausgerichtete Gesellschaft. Von diesen Personen werden immerhin mehr als 1.600 dem islamistisch-terroristischen Spektrum zugezählt, darunter über 700 sog. Gefährder (dazu sogleich). Diese Personen allesamt rund um die Uhr dauerhaft überwachen zu wollen, ist von vornherein aussichtslos. Für eine Rundumüberwachung einer zu observierenden Person bedarf es ungefähr 25 bis 30 dafür geschulter Polizisten. Selbst das garantiert nicht, dass die betreffende Person ihre Überwachung nicht bemerkt und sich ihrer entzieht, wobei der betroffene Personenkreis nicht selten ausgesprochen polizeierfahren ist, mit der Observation rechnet und dementsprechend vorsichtig und konspirativ agiert: Das galt auch für den Terroristen Amri, der anfänglich als Nachrichtenmittler für andere Islamisten vermutet wurde, bevor er selbst mehr in das Interesse rückte. Zu erinnern ist daran, dass sich die Polizei nicht nur um islamistische Gefährder zu kümmern, sondern weit mehr Aufgaben zu bewältigen hat. Das gilt nicht weniger für die spezialisierten Überwachungsteams, die bei Ermittlungen zur Bekämpfung von Organisierter Kriminalität und anderem mehr ebenso zwingend wie dringend benötigt werden.
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Das aufgezeigte Problem ist virulent trotz des Umstandes, dass sich nicht wenige der gefährlichen Personen derzeit außer Landes aufhalten, weil sie in ihren Heiligen Krieg – den Dschihad – ausgereist sind und sich in den Kampfgebieten des sog. Islamischen Staates (IS) aufhalten (sofern sie dort nicht gefallen sind). Zwar mag der IS seine einige Jahre währende Gebietshoheit in Syrien und im Irak mittlerweile wieder ganz oder weitestgehend eingebüßt haben, doch kann aktuell nicht davon geredet werden, dass er inaktiv geworden wäre. Nach wie vor gibt es Rückzugs- und Betätigungsräume für Dschihadisten, wie dies etwa für Somalia oder auch Libyen gilt, dessen staatliche Integrität nach der Beseitigung des Gaddafi-Regimes im Jahre 2011 nach wie vor nicht verfestigt werden konnte. Zu gewärtigen ist dabei ein hochbrisantes Paradoxon: Je erfolgreicher der Kampf in der arabischen Welt gegen den IS verläuft, desto öfter ist mit einer Rückkehr islamistischer Krieger in die verhasste Welt des Westens zu rechnen (mithin auch nach Deutschland). Das ist deshalb heikel, weil diese Personen meist nicht nur eine Waffen- oder auch Sprengstoffausbildung erhalten haben, sondern zudem kampferfahren, oft verroht und zudem Beschuss gewohnt sind. Damit ist ihre Kampfkraft der von »normalen« Polizisten oftmals überlegen und sind sie selbst für Spezialeinsatzkräfte ausgesprochen ernstzunehmende Gegner. Zwar wartet erst einmal das Gefängnis auf sie, wenn man ihrer (rechtzeitig) habhaft wird, weil die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung strafbar ist (§ 129b StGB) und zumeist weitere Strafbarkeiten nach dem Völkerstrafgesetzbuch (Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen) sowie dem Kriegswaffenkontrollgesetz hinzutreten. Doch selbst wenn sich manche – vielleicht infolge aufgelegter Programme zur Deradikalisierung – in der Haftzeit läutern mögen, so ist dennoch zu erwarten, dass viele Islamisten ihrer radikalen Ideologie treubleiben. Die von ihnen ausgehende Gefahr kann durch das Gefängnis nur für einige Zeit eingedämmt werden, nicht notwendig auf Dauer. Für die mediale Öffentlichkeit gilt jedenfalls durch stete Wiederholung als gesichert, dass die Sicherheitsbehörden rundum versagt haben. Im Bund sowie in den Ländern Nordrhein-Westfalen und Berlin wurden angesichts dieser Anwürfe externe Personen damit betraut, die jeweiligen Vorgänge auf mögliches Behördenversagen zu prüfen, sodann auch parlamentarische Untersuchungsausschüsse eingesetzt. Die Untersuchung durch unabhängige Sonderbeauftragte hat den Vorteil, dass es sich um hochqualifizierte Juristen aus Wissenschaft oder Praxis handelt, welche die komplexen rechtlichen Zusammenhänge überblicken und einordnen können. Zudem sind sie in der Lage, zielorientiert zu arbeiten und zeitnahe Ergebnisse vorzulegen, was angesichts des hohen Informationsinteresses der Öffentlichkeit besonderes Gewicht besitzt. Allerdings ist zu sehen, dass die eingesetzten Experten trotz ihrer Bestellung durch Parlament oder Regierung keine eigenen Hoheitsbefugnisse haben, um beispielsweise Zeugen bei strafbewehrter Wahrheitspflicht zu vernehmen. Vielmehr sind sie auf den guten Willen
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der Beteiligten angewiesen, worauf nicht immer Verlass ist. Ihnen gegenüber haben parlamentarische Untersuchungsausschüsse deutlich mehr Befugnisse (vergleichbar einem Richter), weshalb sie Zeugen unter Eid zur Aussage zwingen können und anderes mehr. Ihr Nachteil liegt allerdings darin, dass sie recht schwerfällig agieren, ihre Ergebnisse meist erst nach Jahren präsentieren, dass sie von politischen Interessen und Ränken geleitet sind und nicht zuletzt auch, dass die Parlamentarier nahezu über keine eigene fachliche Expertise verfügen. Dem Autor dieser Zeilen fiel es im Auftrag der Landesregierung für Nordrhein-Westfalen zu, als Sonderbeauftragter das Behördenhandeln dieses Bundeslandes zu untersuchen. Immerhin hatte sich Amri vielfach in NordrheinWestfalen aufgehalten (wo auch die aufenthaltsrechtliche Zuständigkeit lag), wiewohl es den Terroristen ungleich mehr nach Berlin zog. Angesichts des nach dem Anschlag anlaufenden Landtagswahlkampfes in diesem Bundesland, des hohen Öffentlichkeitsinteresses und der gedrängten Begutachtungszeit war das eine verantwortungsvolle und nicht minder brisante wie ambitionierte Aufgabe. Lief die Zusammenarbeit mit den Behörden des Landes gut, war dies mit Stellen des Bundes sowie anderer Bundesländer zumeist nicht der Fall, weil sich diese einer Zusammenarbeit weithin entzogen. Das kam freilich nicht überraschend, sondern war im sonst oft segensreichen Föderalismus zu erwarten (womit keiner zentralistischen Sicherheitsstruktur das Wort geredet werden soll, weil diese fast immer daran krankt, dass lokale Verantwortungsübernahme fehlt). Jedenfalls ist es ein allgemeines Phänomen, dass sich Behörden ungern von außen in die eigenen Akten schauen lassen. Gerade weil das bekannt ist, wurden längst vor dem Anschlag eigene Stellen und Formate geschaffen, unter deren Dach die jeweils befassten Behörden zusammenkommen. Auf europäischer Ebene haben sich bekanntlich Europol (für die polizeiliche Zusammenarbeit) und Eurojust (für die justizielle Zusammenarbeit) als ausgesprochen wirkungsvoll erwiesen, um Brücken zwischen den Sicherheitsbehörden der Mitgliedstaaten zu bauen. Mit Blick auf den Terrorismus kommt diese Aufgabe in Deutschland dem besagten GTAZ zu, das sich zwar als hilfreich gezeigt hat, wiewohl die Zusammenarbeit weiter optimiert werden könnte. Das gilt erst recht für den bilateralen Austausch, der nur von auf Außendarstellung bedachten Behördenleitern gelobt wird, aber bei näherem Blick gehöriges Verbesserungspotential beinhaltet. Das hat nicht zuletzt der Fall Amri aufgezeigt. Gerade mobile Täter wie er machen klar, dass rein örtliche Zuständigkeitszuweisungen nach Stadt oder Bundesland unzureichend sein können. Hier bietet sich an, Strukturen dafür zu schaffen, dass gemeinsame Arbeitsteams der betroffenen Bundesländer gebildet werden können, um mobile Gefährder gemeinsam zu »verwalten«. Vertieft man sich jedenfalls in die Akten dieses Falles, figuriert sich die Welt vielfach anders als in den Medien dargestellt. Deutlich werden die Schwierigkeiten der Sicherheitsbehörden, einen als gefährlich eingeschätzten Menschen in
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den Griff zu bekommen. Wer die amerikanische Erfolgsserie »Homeland« kennt, kann nachfühlen, worauf ich abhebe und wie es den verantwortlich tätigen Beamten ging und geht: Sie »riechen« das Verbrechen und die Gefährdung, doch fehlen ihnen belastbare Belege für den finalen Zugriff. Wenn es dann ganz schief läuft, begleiten sie den Gefährder bis zur Tat, ohne diese verhindern zu können. So war dies auch im Fall Amri.
III.
Rechtlicher Bestand
Was die rechtlichen Reaktionsmöglichkeiten anging, um die von Amri ausgehenden Gefahren einzudämmen, vermag der Befund nicht zu gefallen. Strafrechtlich war dem Terroristen bis zum Anschlag nicht recht beizukommen. Einige der gegen ihn geführten Verfahren scheiterten aus Rechtsgründen, andere waren zu klein, um eine Haft zu ermöglichen (Diebstahl eines Mobiltelefons, Sozialleistungsbetrug im geringen Umfang von – je nach Berechnung – 162,80 € bzw. 266,22 €), und in den sonstigen Verfahren lagen keine hinreichend belastbaren Tatnachweise vor oder hätten erst noch ermittelt werden müssen. Zwar war Amri bei einem Ausreiseversuch mit gefälschten ID-Karten erwischt worden, ohne dass er deshalb – was wohl möglich gewesen wäre – wegen Urkundenfälschung in Untersuchungshaft genommen worden ist. Doch wäre naiv zu glauben, dass der hafterfahrene Mann, der sich vermutlich erst in seinen italienischen Gefängnisjahren radikalisiert hat, durch einige Monate weiterer Haft geläutert worden wäre. Eine bessere Chance des strafrechtlichen Zugriffs hätte schon darin bestanden, ihn in Berlin als Rauschgiftdealer festzusetzen, der er war. Das hätte aber eine bessere Koordinierung der Berliner Strafverfolgungsbehörden bedurft, um durch intensivierte Ermittlungen den gewerbsmäßigen Rauschmittelhandel beweiskräftig zu belegen. So wurde Amri von der fachzuständigen Abteilung nur als einer von vielen tatverdächtigen Drogendealern gesehen. Dadurch wurde versäumt, sich des sog. Al-Capone-Prinzips zu bedienen, nämlich ihn für eine andere Tat festzusetzen als jene, um die es eigentlich geht. Im Fall des US-Mafiabosses gelang dies 1931 mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung, beim Gefährder Amri hätte es eben Rauchgifthandel sein können. Mittlerweile haben die deutschen Sicherheitsbehörden dazu gelernt. Jedenfalls war die Verdachtslage im Fall Amri unzureichend, um ihn wegen der einschlägigen Terrorismusvorschriften des deutschen Strafrechts in Untersuchungshaft zu nehmen, obwohl diese Tatbestände weit in das eigentliche Deliktsvorfeld hineinreichen. Für eine Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (strafbar nach § 129b StGB) gab es nur vage Ver-
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dachtsmomente:8 Dass er im konspirativen Duktus gehaltene Telefonate mit unbekannten Personen geführt hatte, die sich offenbar in Dschihad-Gebieten aufgehalten haben, genügt dafür nicht. Unzureichend waren auch die Anhaltspunkte, um ihn wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat (§ 89a StGB) in Haft nehmen zu können. Für eine diesbezügliche Verurteilung bedarf es nämlich eines festen – nachweislichen – Tatentschlusses,9 der bei bloßem Fabulieren und bloßer Tatgeneigtheit nicht gegeben ist.10 Der gegen ihn bestehende Verdacht genügte zwar, um weitere (verdeckte) Ermittlungen durchzuführen,11 doch ließ er sich in der Folgezeit nicht verdichten. Im scheinbaren Gegenteil wurde stattdessen beobachtet, dass sich der spätere Mörder weithin im allgemeinen Berliner Kriminellen- und Drogenmilieu bewegt. Dass gebrochene Existenzen – zumal Kokainkonsumenten – allerdings nicht verhaltenskonsistent agieren und angesichts der obendrein als aggressiv bekannten Gesamtpersönlichkeit zu befürchten ist, dass sich die Sinnsuche wieder in der radikalislamistischen Gedankenwelt aktualisiert, wurde von den Sicherheitsbehörden nicht ausreichend bedacht. Solche Fehleinschätzungen sollten im neuen Gefährderbewertungssystem, von dem schon die Rede war, eigentlich nicht mehr vorkommen. War Amri strafrechtlich nicht beizukommen, gelang es immerhin, ihn durch Ablehnung seines unbegründeten Asylantrags zeitnah ausreisepflichtig zu machen. Das wäre einiges schwieriger gewesen, wenn er bereits ein dauerhaftes Bleiberecht gehabt hätte, weil dann eine Ausweisung oder Abschiebungsanordnung (§ 58a AufenthG) erforderlich geworden wäre, um ihn außer Landes schaffen zu können. Dann hätte allerdings das Material präsentiert werden müssen, auf dem sich seine Gefährdungseinschätzung gründet. Opportun war das zunächst aber nicht, weil dann die in das Netzwerk eingeschleuste Vertrauensperson enttarnt worden wäre und zum Schutz ihres Lebens vorzeitig hätte abgezogen werden müssen, obwohl sie noch für weitere Ermittlungen benötigt wurde. Obwohl Amri ausreisepflichtig war, konnte gleichwohl von Gesetzes wegen keine Abschiebungshaft gegen ihn ergehen, weil nicht – wie dies im zu dieser Zeit geltenden Recht vorgeschrieben war – mit seiner Abschiebung binnen dreier Monate zu rechnen war (§ 62 Abs. 3 S. 3 AufenthG). Mittlerweile hat der Ge8 Eingehend zu dieser Strafbarkeit und der Deliktsstruktur Kretschmer, German Law Journal Vol. 13 (2012), No. 9, 1016ff., insbes. 1023ff., 1027ff. 9 So der Bundesgerichtshof in verfassungskonformer Reduktion: BGH, Urt. v. 8. 5. 2014 – 3 StR 243/13, BGHSt 59, 218, 220ff. = NStZ 2014, 703ff.; zur verbotenen Ausreise im Sinne von § 89a Abs. 2a StGB vgl. BGH, Beschl. v. 6. 4. 2017 – 3 StR 326/16, NJW 2017, 2928. 10 Es bedarf schon eindeutiger Anschlagsvorbereitungen, vgl. etwa OLG Celle, Urt. v. 7. 12. 2015 – 4-1/15-2 StE 6/15-3, juris Rz. 857. 11 Vgl. zu dieser Auffangfunktion Paeffgen, in: NK-StGB, 5. Aufl. 2017, § 89a Rn. 3.
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setzgeber diese Frist zwar auf sechs Monate mit weiterer Option verlängert, was der nach europäischem Recht zulässigen Maximaldauer von Abschiebungshaft entspricht. Aber was hilft es, wenn der Heimatstaat – wie dies bei Amri und auch sonst oft der Fall war und ist – seinen Staatsangehörigen schlicht nicht als eigenen Bürger erkennen will und keine Reisepapiere für ihn ausstellt? Nachvollziehbar ist die pragmatische Haltung dieser Staaten übrigens sehr wohl: Schon die Rücknahme von gewöhnlichen Straßenganoven belastet die dort meist schwache Zivilgesellschaft, erst recht gilt dies für islamistische Gefährder, die in der Heimat ebenso Anschläge begehen könnten. Denn wir sollten keinen falschen Eindruck gewinnen: Niemand leidet so sehr unter islamistischen Terroristen wie Muslime. Und nirgends werden so viele islamistische Anschläge begangen wie in muslimischen Staaten. Das gilt übrigens auch für Tunesien, das in der Vergangenheit weit schwerere Anschläge als jenen von Berlin über sich ergehen lassen musste. Wäre ich dortiger Regierungschef: Meine Bereitschaft zur Rücknahme wäre gleichfalls gering.
IV.
Rechtliche Lösungen?
Was also tun, wenn es für eine strafrechtliche Verurteilung bzw. Untersuchungshaft nicht oder noch nicht reicht und eine Abschiebung ebenfalls nicht möglich ist? Geht es um Ausländer, mag an Ausweisung oder sonstige Aufenthaltsbeendigung gedacht werden, wenngleich das Problem dadurch nur exportiert wird. Wir haben aber schon konstatiert, dass die Abschiebung häufig nicht gelingen will und die Abschiebungshaft dann gar nicht erst angeordnet werden darf oder irgendwann abgebrochen werden muss. Diese aufenthaltsrechtlichen Fragen sollen hier allerdings nicht vertieft werden. Denn ohnedies ist zu bemerken, dass die Mehrzahl der Gefährder deutsche Staatsangehörige sind, für die so oder so eine Inlandslösung gesucht werden muss. Auf zwei der aktuell diskutierten Aspekte werde ich mich im Folgenden beschränken: die Präventivhaft und die elektronische Fußfessel.
1.
Präventivhaft
Tatsächlich kennen alle Bundesländer einen Unterbindungsgewahrsam, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat von erheblicher Bedeutung zu verhindern. An der Deliktsschwere scheitert es für die in Rede stehenden Gefährder nicht, doch fehlt regelmäßig die gedrängte Nähe. Das hat im politischen Raum die Frage nach längerfristigen Haftmaßnahmen aufgeworfen, um als gefährlich eingeschätzte Personen – wie es heißt – aus dem
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Verkehr zu ziehen. In diesem Sinne hat der Entwurf der bayrischen Staatsregierung für ein »Gesetz zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen«12 vorgesehen, Personen zur Abwehr einer Gefahr oder auch nur einer dort neu in das Polizeirecht zu installierenden drohenden Gefahr (sic!) zu inhaftieren, was potentiell unbegrenzt erfolgen kann. Das sollte zwar nur mit richterlicher Erlaubnis erfolgen dürfen, doch taugte dies angesichts der offenen Gesetzesformulierung, welche bereits die Gefahr einer Gefahr ausreichen lassen will, kaum für eine zuverlässige Begrenzung. Zwar wurde dieser Gesetzesentwurf infolge der an ihm geäußerten Kritik letztlich noch ein wenig abgeschwächt, doch ob das ausreicht, dass das nunmehr in Geltung gesetzte Recht (in Gestalt der neuen Art. 11 Abs. 3, 17 Abs. 1 Nr. 3, 20 Nr. 3 bayPAG)13 die absehbare verfassungsgerichtliche Überprüfung übersteht, ist alles andere als gesichert. Ähnliches fand sich übrigens auch im Entwurf der seinerzeit oppositionellen CDU-Fraktion für das Land Niedersachsen,14 nach dem die Haft allerdings auf maximal 18 Monate begrenzt sein sollte, was mit einer Analogie zur teleologisch nicht verstandenen Höchstdauer der Abschiebungshaft begründet wurde. Diese Fristen sind allerdings nicht kompatibel damit, dass eine Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr nach deutschem Strafprozessrecht auf ein Jahr begrenzt ist (§ 122a StPO). Derlei polizeiliche Vorbeugungshaft ist ersichtlich von der Idee und dem Konzept des sog. Feindstrafrechts inspiriert, welches vor einigen Jahren von Günther Jakobs unter nicht offengelegtem Rückgriff auf den Staatstheoretiker Carl Schmitt reanimiert worden ist.15 Tatsächlich ist darin die Präventivhaft gegen Staatsfeinde vorgesehen, wie sie in den vorgenannten Konzepten entworfen oder gar umgesetzt ist. In der Wissenschaft hat dieses Konzept – zu Recht – kaum Gefolgschaft gefunden, sondern vehemente Ablehnung erfahren.16 Vertreten wird es im Wesentlichen von seinem Schüler Pawlik – insbes. in dessen Schrift »Der Terrorist und sein Recht«17 – sowie dessen Schüler Kubiciel. Letzterer hat den genannten Vorschlag der niedersächsischen CDU-Fraktion als rechtskonform begutachtet und den Präventivgewahrsam gutgeheißen wohlwissend um die Kollision mit Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), 12 LT-Drs. 17/16299 v. 4. 4. 2017. 13 Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG), i. d. F. des Gesetzes v. 24. 7. 2017 (GVBl. S. 388). 14 Gesetzentwurf für ein Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung v. 21. 2. 2017, LT-Drs. 17/7415. 15 Vgl. Jakobs, Staatliche Strafe, 2004, 45ff.; HRRS 2004, 88ff. und 2006, 289ff.; ZStW 117 (2005), 839ff. 16 S. dazu etwa Greco, Feindstrafrecht, 2010; ders., GA 2006, 96ff.; Morguet, Feindstrafrecht – eine kritische Analyse, 2009; Paeffgen, Amelung-FS, 2009, 88ff.; Sauer, NJW 2005, 1703, 1705; Schünemann, Nehm-FS, 2006, 219ff.; Vormbaum, Kritik des Feindstrafrechts, 2010. 17 2008, insbes. S. 42, 45 zur vorbeugenden Inhaftierung.
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auf die ich gleich zu sprechen komme.18 Dabei ist daran zu erinnern, dass der besagte Schmitt den totalen NS-Staat staatstheoretisch fundiert und legitimiert hat. Die vorgelegten Entwürfe reihen sich nahtlos – mit zeitlicher Unterbrechung – an den »Grunderlaß Verbrechensbekämpfung« an, nach dem in polizeiliche Vorbeugungshaft genommen werden kann, »wer einen auf eine schwere Tat abzielenden Willen durch Handlungen offenbart, welche die Voraussetzungen eines bestimmten strafbaren Tatbestands noch nicht erfüllen« – dieser Erlass datiert auf den 14. Dezember 1937, die Hochphase des Nationalsozialismus.19 Ungeachtet dessen, dass die genannten Vorschläge dem Gedankengut des totalen Staats huldigen und deutschem Verfassungsrecht widerstreiten, sind sie unvereinbar mit Art. 5 Abs. 1 der EMRK und dem darin verbürgten Recht auf Freiheit und Sicherheit. Nach diesem Menschenrecht ist eine Entziehung der Freiheit nur zulässig in den dort genannten Katalogfällen. Soweit die Freiheitsentziehung für zulässig gehalten wird, »wenn begründeter Anlaß zu der Annahme besteht, daß es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat … zu hindern« (lit. c Var. 2), hat dies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auf Freiheitsentziehungen beschränkt, die im Zusammenhang mit einem Strafverfahren stehen.20 Und Freiheitsentziehungen zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung (Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. b) sind nur zulässig, wenn es sich um eine insbesondere hinsichtlich des Ortes und der Zeit ihrer Begehung und ihres Opfers bzw. ihrer Opfer konkrete und spezifische Straftat handelt.21 Das kann zwar einen Unterbindungsgewahrsam legitimieren (etwa gegen einen zum Spiel angereisten Hooligan), aber keine Präventivhaft. Treffend hat das OLG Frankfurt erkannt, dass »das Instrument des Gewahrsams während der Nazizeit äußerst massiv missbraucht wurde«, weshalb es »rechtlich unmöglich gemacht werden [sollte], dass die Vorschrift [des Unterbindungsgewahrsams] zu einer Ermächtigung zum sog. Vorbeugegewahrsam (früher: Schutzhaft) ausgeweitet wird.«22
18 Kubiciel, Augsburger Papier zur Kriminalpolitik 1/2017; ZRP 2017, 57, 59. 19 Abgedr. in: Ayaß, Gemeinschaftsfremde, 1998, Nr. 50. Die zitierte Passage findet sich dort unter A.II.1.d. 20 EGMR, Urt. v. 1. 12. 2011 – 8080/08, 8577/08 (Schwabe u. M.G.), Rz. 69ff., NVwZ 2012, 1089, 1090f.; Urt. v. 7. 3. 2013 – 15598/08 (Ostendorf), Rz. 66ff., 77ff., NVwZ 2014, 43, 44ff. jeweils m. w. N. (auch zum Folgenden); s.a. Calliess, in: ders./Ruffert, EZV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 6 EU-GRCharta Rn. 16. 21 EGMR, Urt. v. 1. 12. 2011 – 8080/08, 8577/08 (Schwabe u. M.G.), Rz. 73, NVwZ 2012, 1089, 1091; Urt. v. 7. 3. 2013 – 15598/08 (Ostendorf), Rz. 69ff., 90ff., NVwZ 2014, 43, 45, 47f. m. w. N.; BVerfG, Beschl. v. 18. 4. 2016 – 2 BvR 1833/12, 2 BvR 1945/12, NVwZ 2016, 1079. 22 Beschl. v. 18. 6. 2007 – 20 W 221/06, BeckRS 2007, 15767.
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2.
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Elektronische Aufenthaltsüberwachung
Anderes könnte womöglich im Rahmen einer Elektronischen Aufenthaltsüberwachung für die »elektronische Fußfessel« gelten, die in Deutschland seit 2011 im Recht der Führungsaufsicht normiert worden ist, um vor allem entlassene Sexual- und Gewaltstraftäter zu überwachen. Durch neuerliches Gesetz vom 11. 6. 201723 hat der deutsche Gesetzgeber das auf die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat (§ 89a StGB) und die Terrorismusfinanzierung (§ 89c StGB) ausgedehnt. Angesichts dessen, dass diesbezügliche Verurteilungen äußerst selten sind, darf das als Schaufenstergesetzgebung abgetan werden. Durch das neuerliche Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20. 7. 201724 kann die elektronische Fußfessel nunmehr überdies gegen ausreisepflichtige Gefährder angeordnet werden (§ 56a AufenthG n. F.). Dabei wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bedroht, wer das Gerät abnimmt oder sonst nicht bereithält (§ 95 Abs. 2 Nr. 1a AufenthG n. F.), weshalb schon das Nichtladen der Akkus strafbar sein kann. In handwerklicher Hinsicht ist das eilig gezimmerte Gesetz schludrig formuliert und auch sonst rechtlich angreifbar, doch ist hier kein Raum für eine vertiefte Kritik. Das ebenfalls neue BKA-Gesetz vom 1. 6. 201725, welches die Befugnisse des Bundeskriminalamtes regelt, sieht gleichfalls eine Fußfessel für Gefährder vor, was auch Deutsche erfassen kann (§ 20z BKAG n. F., ab 25. 5. 2018: § 56 BKAG). Auch hieran knüpft sich eine Strafandrohung von bis zu drei Jahren im Falle von Zuwiderhandlungen (§ 39 Abs. 1 BKAG n. F., ab 25. 5. 2018: 87 BKAG). Indessen ist diese Vorschrift in ihren Eingriffsvoraussetzungen nicht nur vage, sondern auch sonst in vielen Dingen nicht überzeugend, was hier gleichfalls nicht zu vertiefen ist. Dass etwa die Bestrafung von einem Antrag der Polizei abhängig sein soll, dürfte im Nachkriegsdeutschland einmalig sein.26 Eigentlich figuriert sich in solcher Weise ein Polizeistaat. Nach dem Wunsch der Politik soll all das allerdings Vorbild für die Polizeigesetze aller Bundesländer sein.27 23 24 25 26
53. Strafrechtsänderungsgesetz v. 11. 6. 2017, BGBl. I 1612. BGBl. I 2780. BGBl. I 1354. Ähnliches gilt für die aufenthaltsrechtliche Gefährderfußfessel, bei der die Strafbarkeit von einem Antrag der für die Überwachung zuständigen Stelle abhängig gemacht worden ist (§ 95 Abs. 7 AufenthG n. F.). 27 Rechtlich vorgesehen ist die Fußfessel mittlerweile in Baden-Württemberg und Bayern, weitere Länder wollen nachziehen. In Baden-Württemberg findet sich die Rechtsgrundlage in § 27c PolG aufgrund des Gesetzes v. 28. 11. 2017 (GVBl. S. 624); Zuwiderhandlungen sind mit Haftstrafen bis zu zwei Jahren bedroht (§ 84b PolG BW n. F.), zu verfolgen nur auf Antrag eines regionalen Polizeipräsidiums, des Polizeipräsidiums Einsatz oder des Landeskriminalamts. In Bayern ist die Fußfessel in Art. 32a PAG normiert aufgrund des Gesetzes vom 24. 7. 2017 (GVBl. S. 388); Verstöße sind dort aber nicht unter Strafe gestellt, sondern werden mit Vorbeugungshaft gem. Art. 17 Abs. 1 Nr. 5 PAG beantwortet. Der Gesetzentwurf der
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Ungeachtet dessen ist es erstaunlich unreflektiert, in der Fußfessel gegen islamistische Gefährder überhaupt ein Mittel der Gefahrenabwehr zu sehen. Die wissenschaftliche Evaluation hinsichtlich der in der Führungsaufsicht eingesetzten Fußfesseln hat ein zwiespältiges Bild ergeben.28 Die Hälfte der betroffenen Personen ist trotz Fußfessel rückfällig geworden. Nun ist zu sehen, dass die in der Führungsaufsicht eingesetzte Fußfessel bislang gegen Gewalt- und Sexualstraftäter eingesetzt wird, die mehr- bzw. langjährige Freiheitsentziehungen hinter sich gebracht haben, meist im fortgeschrittenen Alter sind und ein hohes Interesse daran haben, nicht mehr in Haft zu geraten, sondern ein unauffälliges Leben innerhalb der Gesellschaft zu führen. Für sie kann die Fußfessel hilfreich sein, wenn sie etwa einen pädophilen Missbrauchstäter von Schulen, Freibädern und sonstigen Plätzen fernhält, wo sich vorwiegend Kinder und Jugendliche aufhalten. Islamistische Gefährder (wie auch geneigte Amoktäter) haben indessen ein von der bislang bekannten Zielgruppe erheblich abweichendes psychologisches Profil. Wer zum Opfer seines Lebens bereit ist, um im Paradies entlohnt zu werden, fürchtet keine Bestrafung mehr und/oder den Ausschluss aus der Gesellschaft der Ungläubigen. Das gilt für solche Attentäter, die bis zum Tode kämpfen und morden sollen und wollen (London), ebenso wie für solche, die – wie Amri – ihre Tat überleben dürfen, um dann dem Kalifat gegebenenfalls woanders zu dienen. Wer im Grunde zum Anschlag entschlossen ist, wird sich von einer Fußfessel folglich nicht hindern lassen, sondern eher bestätigt sehen. Welche Alternativen sollte er sonst auch sehen? Erstens könnte er sich der Fußfessel entledigen und untertauchen (ggf. ins Ausland oder in den Dschihad),29 zweitens einen Anschlag bei bestmöglicher Gelegenheit verüben oder sich drittens den – wie er sie nennt – Kuffar unterwerfen, also den für ihn Ungläubigen. Daran, dass Letzteres geschieht, kann ich nicht recht glauben. Bekanntlich ist es mittlerweile – worauf schon oben hingewiesen wurde – gerade nicht mehr islamistische Anschlagsstrategie, aufwändige Vorbereitungen zu treffen, auf die Sicherheitskräfte aufmerksam werden könnten. Die IS-Strategen sind lernfähig und durchaus weitsichtig. Waren die Vorbereitungen für den Anschlag vom 11. 9. 2001 auf das WTC und das Pentagon noch langwierig, geniedersächsischen CDU-Fraktion v. 21. 2. 2017 (LT-Drs. 17/7415) wollte Zuwiderhandlungen mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren bedrohen, hat aber übersehen, dass Landesstrafrecht maximal zweijährige Haftstrafen androhen darf (Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 EGStGB). 28 Ausführlich Bräuchle, Die elektronische Aufenthaltsüberwachung gefährlicher Straftäter im Rahmen der Führungsaufsicht, 2016; dies./Kinzig, Rechtspolitische Perspektiven der elektronischen Aufenthaltsüberwachung, 2017. 29 In Bayern – wo diese Form der Überwachung mittlerweile eingesetzt wird – ist ein Gefährder zuletzt sogar mitsamt Fußfessel ausgeflogen und in die Türkei ausgereist. Weil kein Ausreiseverbot bestand, gab es am Flughafen schlicht keinen Grund, ihn an- und aufzuhalten.
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nügen jetzt Kfz und Küchenmesser. Es muss auch keine Metropole sein, sondern genauso kommt ein Musikfest in der Provinz infrage. Entscheidend sind mediale Aufmerksamkeit und erzeugte Verunsicherung, um die liberale Gesellschaft vor sich her zu treiben, Zwietracht gegen normale Muslime zu sähen sowie die Bürgerrechte durch einfältige Funktionäre zu erodieren, die sich unwissentlich zum Büttel der Islamisten machen. Täter in Frankreich, Berlin, Melbourne und andernorts trugen allesamt Fußfesseln. Es ist zu erwarten, dass IS-Strategen anstreben werden, einen Gesinnungsgenossen zielgenau mit Fußfessel zum Anschlag zu bringen, weil das Aufmerksamkeit, Verunsicherung und Hilflosigkeit erst recht garantiert und zum weiteren Abbau des freiheitlichen Rechtsstaats beiträgt. Die Anordnung einer Fußfessel ist noch zweifelhafter, wenn sie gegen einen Gefährder ergeht, der noch nicht fest zum Anschlag entschlossen ist. Durch die Fußfessel wird die betreffende Person erheblich stigmatisiert. Bereits die aktuelle Klientel der haftentlassenen Gewalt- und Sexualstraftäter leidet erheblich unter ihr, weil sie ihre Sozialisierung hemmt oder sogar verhindert (weshalb Bewährungshelfer die Fußfessel überwiegend ablehnen).30 Für die Gruppe der islamistischen Gefährder gilt dies noch weit mehr, weil es sich meist um junge Männer handelt, deren Lebensführung durch Anlegen einer Fußfessel noch stärker beeinträchtigt wird. So wird Sportausübung wie Fußballspielen behindert bis unmöglich. Soziale Interaktionen mit der »normalen« Gesellschaft sind erschwert, der womöglich stabilisierende Beziehungsaufbau zu nichtislamistischen Partnern fast unmöglich. Dadurch wird das ohnehin beachtliche Frustrationsniveau dieser Personen noch weiter erhöht. Durch Dauerrepressalien werden sie geradezu in die Gesellschaft derer verdammt, aus der sie eigentlich gelöst werden sollen. Kurzum: Die elektronische Fußfessel für islamistische Gefährder ist eine rechtspolitische Verirrung eines hysterisierten Gesetzgebers, die mehr schadet als nützt und die Gefahr von Anschlägen eher steigert als verringert. Zudem geht die Gefahr schwerer Straftaten sowie für Leib und Leben von Menschen nicht nur von islamistischen Gefährdern aus. Wer diesen Schritt im Präventionsstaat geht, wird dem Gefahrenverdacht auch gegen Rockergruppierungen, OK-Strukturen und anderen mehr nachgehen müssen. Dass sich das ohne weiteres durchsetzen ließe, liegt nicht nahe. So wird erheblicher Zündstoff in die Gesellschaft getragen und die Saat der IS-Strategen wäre tatsächlich aufgegangen. 30 Zur verfassungsrechtlichen Zweifelhaftigkeit ausführlich Kaiser, Auf Schritt und Tritt – die elektronische Aufenthaltsüberwachung, 2016, S. 131ff. m. w. N.; Önel, Verfassungsmäßigkeit und Effektivität der »elektronischen Fußfessel«, 2012, S. 26ff. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den bereits seit 2011 bzw. 2012 anhängigen Verfassungsbeschwerden gegen die Fußfessel (2 BvR 916/11, 2 BvR 2633/11 und 2 BvR 636/12) stehen noch aus.
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V.
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Schluss
Es ist abschließend festzuhalten, dass es keiner besonderen Logistik für Taten wie die des Amri braucht. Eigentlich reicht etwas Phantasie. Zuverlässig verhindern lässt sich Terror folglich nicht, nur nach Kräften bekämpfen und begrenzen. Im Rechtsstaat gibt es eben keine absolute Sicherheit, noch weniger in Unrechtsstaaten. Gute Führung lässt sich indessen durch Terror nicht beirren und noch weniger in blinden Aktionismus treiben. Ernst Benda – einst Bundesinnenminister (1968–1969) und dann Präsident des Bundesverfassungsgerichts (1971– 1983) –, der sich unter der existenziellen Bedrohung des Atomkrieges intensiv mit der »Notstandsverfassung« (1966) befasst hat, trat einst im Kampf gegen den Terror vehement gegen eine Sicherungshaft ein, die er für eindeutig verfassungswidrig hielt. Mit Blick auf den Terror mahnte er zum Vermächtnis:31 »Nichts ist so schwierig wie der Kampf gegen einen unsichtbaren Feind. Gewonnen werden kann er nicht gegen den Rechtsstaat, sondern nur mit ihm.«
Literatur Ayaß, Wolfgang, Gemeinschaftsfremde – Quellen zur Verfolgung von »Asozialen« 1933– 1945, Bundesarchiv, Heft 5, Koblenz, 1998. Böhm, María Laura, Der Gefährder und das Gefährdungsrecht, Göttingen, 2011. Bräuchle, Anne, Die elektronische Aufenthaltsüberwachung gefährlicher Straftäter im Rahmen der Führungsaufsicht, Tübingen, 2016. Bräuchle, Anne / Kinzig, Jörg, Rechtspolitische Perspektiven der elektronischen Aufenthaltsüberwachung, Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie, Band 38, Tübingen, 2017. Calliess, Christian / Ruffert, Matthias, EUV/AEUV, 5. Aufl., München, 2016. Denkowski, Charles von, Einstufung als (islamistische) Gefährder und (heimliche) Folgeeingriffe, Kriminalistik 2007, S. 325–332. Greco, Luís, Feindstrafrecht, Baden-Baden, 2010. Greco, Luís, Über das so genannte Feindstrafrecht, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 2006, S. 96–114. Jakobs, Günther, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, Paderborn, 2004. Jakobs, Günther, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht 2004, S. 88–95. Jakobs, Günther, Feindstrafrecht? – Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit, Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht 2006, S. 289–297. 31 In: Die Welt v. 26. 7. 2004.
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Die organisierte Kriminalität und ihr »Schutzschirm« in der VR China – Eine Betrachtung aus kriminologischer und rechtsdogmatischer Perspektive
I.
Einleitung
Die Beziehung von organisierter Kriminalität (im Weiteren »O.K.« genannt) und Bestechungsdelikten lässt sich in China – wie auch in Deutschland und fast allen anderen Ländern – aus kriminologischer Perspektive wie folgt charakterisieren: Zumindest in ihrem Kern ist Korruption »zur organisierten Wirtschaftskriminalität zu zählen«.1 Der Unterschied der Situation in beiden Ländern liegt insbesondere darin, dass in Deutschland nicht die gewaltorientierte organisierte Kriminalität, sondern nur die organisierte Wirtschaftskriminalität mit Hilfe von Korruption systematischen Einfluss auf Politik ausübt,2 während sich in China eine allgemeine Beziehung zwischen ( jeglicher Art von) organisierter Kriminalität und Korruption finden lässt.3 Diese bringt durch Bestechung usw. einen sogenannten »Schutzschirm« hervor, der in der Vergangenheit als ein notwendiges Merkmal der organisierten kriminellen Gruppe (»mafiaartige kriminelle Gruppe« im Sinne von § 294 chinesisches Strafgesetz (中华人民共和国刑法, im Folgenden kurz cStG) galt.4 Aus dieser Situation ergibt sich die Frage, ob das Verhältnis zwischen O.K. und ihrem jeweiligen »Schutzschirm« in China auch von rechtsdogmatischer Bedeutung ist. Aus dieser Situation ergibt sich für den vorliegenden Aufsatz eine zweifache Fragestellung. Erstens: Wie wird im heutigen China das Verhältnis zwischen O.K., Schutzschirm und Korruption aus kriminologischer Hinsicht detailliert dargestellt? Zweitens: Wie wird das Element »Schutzschirm« hinsichtlich der
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Ao. Prof. Dr., LL. M., Universität Wuhan Bannenberg/Schaupensteiner, Korruption in Deutschland, 2004, S. 18. Bannenberg/Schaupensteiner (Fn. 1), S. 35–36. Vgl. MO Hongxian (莫洪宪), Forschung zur organisierten Kriminalität (有组织犯罪研究), Wuhan University Press (武汉大学出版社), 1998, S. 25, 34, 82. 4 MA Kechang (马克昌), WU Zhenxing (吴振兴), MO Hongxian (莫洪宪) u. a., Generaltheorie zu 100 Delikten (百罪通论), Peking University Press (北京大学出版社) 2014, S. 951.
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O.K.-Delikte im Rahmen des geltenden chinesischen materiellen Strafrechts behandelt und welche rechtsdogmatischen Konsequenzen bringt dies mit sich?
II.
Begriffserklärung: das chinesische Verständnis von O.K., krimineller Gruppe und mafiaartiger krimineller Gruppe
1. Zunächst ist zu beachten, dass sich im chinesischen Strafgesetzbuch keine Definition der O.K. findet. Die O.K. ist daher Begriff, der ausschließlich im kriminologischen Sinne benutzt wird. Nach MO Hongxian sollten alle Begriffe, die mit der O.K. zusammenhängen oder die dieser ähnlich sind, nach dem jeweiligen Organisationsgrad in folgender Reihe stehen: allgemeine Beteiligung, gemeinschaftliche Tatbegehung, Bandenkriminalität, kriminelle Gruppe, mafiaartige kriminelle Gruppe und Mafiaorganisation. Unter diesen Begriffen werden nur für den ersten, vierten und fünften Begriff Legaldefinitionen angeboten.5 Der erste und vierte Begriff tauchen nämlich bei §§ 25, 26 Abs. 2 cStG auf; der fünfte taucht bei § 294 cStG auf. Es wäre also zunächst zu fragen, wie sich das Verhältnis zwischen dem Begriff der O.K., welcher nicht als juristischer Begriff verwandt wird, und den übrigen gesetzlich geregelten Begriffen gestaltet. Wäre der erstere ein Oberbegriff der letzteren? Nach MO kann die O.K. mit Hilfe der Theorie der dissipativen Struktur so definiert werden: Die O.K. ist »ein einheitliches kriminelles System, dessen Hauptziel das ökonomische Interesse ist, dessen Hauptmittel Gewalttätigkeit und Bestechung sind, dessen Struktur funktionsfähig, arbeitsteilig, organisiert und auf mehreren Ebenen beruhend ist und dessen Mitgliederstruktur stabil ist«.6 Nach dieser Definition sind nur die folgenden drei Elemente als Unterbegriffe eingeschlossen, nämlich kriminelle Gruppe, mafiaartige kriminelle Gruppe und Mafiaorganisation. Dabei finden sich nur der erste und zweite der oben erwähnten Begriffe im chinesischen Strafgesetzbuch, während MO davon ausgeht, dass die anderen drei Begriffe, nämlich allgemeine Beteiligung, gemeinschaftliche Tatbegehung und Bandenkriminalität, wegen des Fehlens der Organisiertheit auszuschließen seien. Die Ausschließung von allgemeiner Beteiligung und gemeinschaftlicher Tatbegehung sei selbstverständlich, da es diesen zwei Formen der Beteiligung ersichtlich an bestimmter Organisiertheit fehle.7 Was Bandenkriminalität betrifft, ist in China strittig, ob sie vom Begriff der O.K. eingeschlossen wird. Auf der einen Seite deutet schon der Bestandteil »Bande-« 5 MO Hongxian (Fn. 3), S. 19f. 6 Vgl. MO Hongxian (Fn. 3), S. 34. 7 Vgl. MO Hongxian (Fn. 3), S. 19.
Die organisierte Kriminalität und ihr »Schutzschirm« in der VR China
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darauf hin, dass es sich dabei um (ausreichend) organisierte Gruppen handelt; auf der anderen Seite stellt sich die Bandenkriminalität als eine lediglich lockere Form der Organisation dar.8 Die Gegenmeinung, die in ähnlich wie der deutsche BGH-Entscheidung argumentiert,9 hat zu Recht wahrgenommen, dass die Organisation der Bande in diesem Sinne nicht zwangsläufig eine feste Verflochtenheit deren Mitglieder verlangt, so dass man nicht behaupten kann, dass die Bandenkriminalität den Grad der Organisiertheit, der bei einer O.K. vorliegen sollte, immer erreichen kann. Vielmehr ist es durchaus möglich, dass eine vorläufige »Bande« nur aus Mitgliedern besteht, die gelegentlich eine Tat zusammen begehen und sich nach dieser Tat wieder zerstreuen.10 Die drei Begriffe, die nach MO noch von der oben dargestellten O.K.-Definition eingeschlossen werden, entsprechen exakt den drei Entwicklungsstufen der O.K.: danach gehört die kriminelle Gruppe zur primären Stufe der O.K., die mafiaartige kriminelle Gruppe korrespondiert mit der oberen Stufe der O.K., während die in der geltenden Fassung des chinesischen StGB nicht erwähnte Mafiaorganisation eine »Super«-Stufe der O.K entspricht.11 Daraus wird deutlich, dass sich der O.K.-Begriff mit den gesetzlichen Begriffen zu einem großen Teil überlappt. Oder anders formuliert: Der O.K.-Begriff ist gerade deshalb ein außerjuristischer Begriff, weil er auch die Mafiaorganisation umfasst, die im geltenden chinesischen Strafgesetzbuch nicht geregelt ist. 2. Die sogenannte »primäre Stufe« der O.K., nämlich die kriminelle Gruppe, wird in § 26 Abs. 2 cStG geregelt: »Eine von mindestens drei Personen zwecks gemeinschaftlicher Begehung von Straftaten gebildete, verhältnismäßig festgefügte kriminelle Organisation ist eine kriminelle Gruppe«.12 Diese Vorschrift wurde durch eine 1984 vom Obersten Volksgericht, der Obersten Volksstaatsanwaltschaft und dem Sicherheitsministerium (Polizei) erlassene »Justizinterpretation« näher erläutert; danach wird die kriminelle Gruppe von nicht weniger als 3 Personen gebildet, wobei deren wichtigste Mitglieder normalerweise fest sind. Die kriminelle Gruppe muss darüber hinaus schwere verbrecherische Aktivitäten von einer oder mehreren Arten häufig gemeinschaftlich und mit Vorplanung begehen. Sie müsse auch auffällige »Rädelsführer« haben und immer schwerwiegende Sozialschädlichkeit mit sich bringen. Obwohl durch die »Jus8 Vgl. SUN Maoli (孙茂利), ZHAO Sumin (赵素敏), Die stufenweise Entwicklung des Verbrechens unter dem Aspekt der Entstehung und der Merkmale von Mafiaverbrechen (从黑社 会犯罪的形成及特点看犯罪的阶梯性发展), Policing Studies Journal (公安研究), 1995 vol. 3, S. 12f. 9 Z. B. BGHSt 46, 321, 329, siehe Sinn, Organisierte Kriminalität 3.0, 2016, S. 26, 35–41. 10 Vgl. MO Hongxian (Fn. 3), S. 20–21. 11 Vgl. YE Liangfang (叶良芳), Strafrecht BT (刑法分论), Law Press China (法律出版社), 2017, S. 293; MO Hongxian (Fn. 3), S. 69–94. 12 Übersetzung nach Strupp, Das neue Strafgesetzbuch der VR China, 1998, S. 111.
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tizinterpretation« weitere Forderungen für die Organisation einer »kriminellen Gruppe« erhoben werden, ist der erforderliche Organisationsgrad nach wie vor nur sehr gering mit einer relativ niedrigeren Schwelle. Sowohl der Gesetzestext als auch die Darlegung in der Interpretation fordern nur eine »verhältnismäßig« festgefügte Organisation.13 Sie ist einerseits von den Beteiligungsformen zu unterscheiden, die das Mindestmaß der Organisiertheit überhaupt nicht erreichen, wie etwa allgemeine Beteiligung und gemeinschaftliche Tatbegehung, welche gewöhnlich unter § 25 Abs. 1 cStG fallen. Die primäre Stufe der O.K. ist andererseits auch von der oberen Stufe der O.K., welche als »mafiaartige kriminelle Gruppe« unter § 294 cStG fällt, zu unterscheiden, weil die letztere einen ersichtlich höheren Grad der Organisiertheit verlangt. In diesem Sinne ist die primäre Stufe der O.K. der Oberbegriff der oberen Stufe der O.K., was sich in den gesetzlichen Bezeichnungen wiederspiegelt: Die »kriminelle Gruppe« schließt logischerweise die »mafiaartige kriminelle Gruppe« ein. Die mögliche Existenz einer »Super«-Stufe der O.K., nämlich die Mafiaorganisation (chin. 黑社会, wörtlich: »schwarze Gesellschaft«), wird bis jetzt in China nicht offiziell anerkannt.14 Nur einmal wird die »Mafiaorganisation« im ganzen chinesischen Strafgesetzbuch erwähnt, nämlich in § 294 Abs. 2, wo es sich aber nur um »ausländische« Mafiaorganisationen handelt. Damit soll verboten werden, dass Angehörige von »ausländischen« Mafiaorganisationen auf dem Gebiet der Volksrepublik China organisierte Mitglieder anwerben. An allen anderen Stellen im chinesischen Strafgesetzbuch, wo auf Mafia hingewiesen wird, bezieht sich der Gesetzgeber ausschließlich auf »mafiaartige« Organisationen, die aufgrund einiger gemeinsamer Merkmale als »Vorentwurf« der Mafiaorganisation gelten.15 Zwar könnte man wohl gegen eine solche Meinung argumentieren, dass sich aus der offiziellen Nichtanerkennung der Existenz von Mafiaorganisationen nicht unbedingt herleiten lässt, dass im Bereich der Kriminologie das Vorhandensein dieses Begriffs ebenfalls zu verneinen wäre, denn Kriminologie ist nach allem eine wertneutrale, von der offiziellen Betrachtungsweise der Justiz unabhängige, empirisch-wissenschaftliche Disziplin.16 Aber obige Denkweise, die fraglich zu sein scheint, wird auch in einer klassischen Studie im Bereich der Kriminologie in China vertreten. Dort wird behauptet, dass die Existenz bzw. Entwicklung der Mafiaorganisation ein von der politischen Lage bestimmtes Phänomen sei; die Mafia habe sich bereits als ein selbständiger Machtpol auf der 13 In diesem Sinne wäre der deutsche Begriff »Straftäterverflechtungen« mit dem Charakter von Zweckgemeinschaften vergleichbar. Siehe Eisenberg/Ohder, JZ 1990, 574, 577. 14 Vgl. LI Hong (黎宏), Strafrecht Besonderer Teil (刑法学各论), Law Press China (法律出版 社), 2016, S. 385. 15 MO Hongxian (Fn. 3), S. 76; Li Hong (Fn. 14), S. 385. 16 Vgl. Kaiser, Kriminologie, 1996, Rn. § 4/1–5, § 5/10.
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politischen Bühne der westlichen Länder aufgeschwungen, da der westliche politische Pluralismus nicht in der Lage sei, diesen Prozess zu verhindern.17 Zwischen den Zeilen wird somit das chinesische Politiksystem als (einziges) effektives Heilmittel gegen die Mafiaorganisation bzw. ihre Institutionalisierung propagiert. Es soll hier dahingestellt bleiben, ob diese Ansicht an sich richtig ist. Wichtig ist nur festzustellen, dass die Mehrheit der chinesischen Kriminologinnen bzw. Kriminologen ebenfalls mit der Vorstellung einverstanden sind, dass in der heutigen chinesischen Gesellschaft keine wirklichen Mafiaorganisationen existieren können. 3. Der juristische Begriff »mafiaartige kriminelle Gruppe« wird im chinesischen Strafgesetzbuch ausführlich erläutert. Laut § 294 Abs. 5 Nr. 1–4 cStG muss eine mafiaartige kriminelle Gruppe gleichzeitig die folgenden 4 Merkmale haben: 1) Es muss sich um eine festgefügte Organisation mit höherer Anzahl an Personen, erkennbaren Organisatoren, einem Anführer und festen Kernmitgliedern handeln. 2) Die Organisation muss auf Gewinn der wirtschaftlichen Interessen durch organisierte illegale Aktivitäten oder andere Mittel zielen und über eine gewisse wirtschaftliche Stärke verfügen, um die Aktivitäten der Gruppe zu unterstützen. 3) Sie muss mehrere illegale Aktivitäten durch Gewalt, Drohung oder andere Mittel organisieren, durch die sich die Bevölkerung eingeschüchtert oder bedroht fühlt. 4) Eine Hegemonie oder erhebliche Einflussnahme in bestimmten Bereichen und das Schikanieren und Unterdrücken der Massen ist durch illegale Aktivitäten oder dadurch zustande gekommen, dass Mitarbeiter staatlicher Behörden diese Gruppe decken oder den illegalen Aktivitäten der Gruppe stillschweigend freie Hand lassen, so dass die Ordnung des wirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Lebens untergraben wird.18 Da jede »mafiaartige kriminelle Gruppe« zugleich immer eine »kriminelle Gruppe« ist, was umgekehrt nicht der Fall ist, kann die letztere als O.K. im weiteren Sinne genannt werden, während die erstere als O.K. im engeren Sinne eingeordnet werden kann. Die O.K. im engeren Sinne entspricht ihrer oberen Entwicklungsstufe. Die (»normalen«) kriminellen Gruppen, die nicht zur O.K. im engeren Sinne gehören, korrespondieren mit der primären Stufe. Beide Definitionen bilden zusammen die Menge »O.K. im weiteren Sinne«. Falls der auf der »Super«-Stufe liegende nicht juristische Begriff »Mafiaorganisation« auch einbezogen würde, könnten alle diese Begriffe eine Menge »O.K. im weitesten Sinne« bilden. Das Verhältnis dazwischen lässt sich folgendermaßen darstellen:
17 MO Hongxian (Fn. 3), S. 94. 18 Übersetzung nach Strupp (Fn. 12), S. 199.
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alle O.K.-relevanten Begriffe
alle juristischen Begriffe
»normale« Beteiligung
Mittäterschaft bzw. Teilnahme
außerjuristischer Begriff
kriminelle Gruppe (§ 26 II chStGB einschl. § 294 chStGB) = O.K. im weiteren Sinne
»normale« kriminelle Gruppe (§ 26 II chStGB ohne § 294 chStGB) = primäre Stufe
mafiaartige kriminelle Gruppe (§ 294 chStGB) = O.K. im engeren Sinne = obere Stufe
Mafiaorganisation = »Super«-Stufe (in China nicht offiziell anerkannt)
Übersicht 1: Verhältnis zwischen relevanten Begriffen
III.
Die O.K. und ihr »Schutzschirm« aus kriminologischer Perspektive
1. Im § 294 Abs. 5 Nr. 4 cStG wird der »Schutzschirm« der O.K. (im engeren Sinne) ausdrücklich erwähnt: Das vierte Merkmal der mafiaartigen kriminellen Gruppe fordert, dass eine Hegemonie oder erhebliche Einflussnahme in bestimmten Bereichen und das Schikanieren bzw. Unterdrücken der Massen durch illegale Aktivitäten oder dadurch zustande kommt, dass Mitarbeiter staatlicher Behörden diese Gruppe decken oder der Gruppe stillschweigend freie Hand lassen, illegale Aktivitäten zu begehen. Solche Mitarbeiter staatlicher Behörden sind also »Schutzschirme« der O.K., durch deren Hilfe die kriminelle Gruppe der Bestrafung entgehen kann. Jedoch ist der »Schutzschirm« kein unentbehrliches Merkmal für das Vorliegen einer O.K. (im engeren Sinne), sondern nur eine fakultative Voraussetzung. Die andere Alternative bildet der erstere Fall, der in diesem Paragraph erwähnt wird, dass eine Hegemonie oder erhebliche Einflussnahme in bestimmten Bereichen usw. durch illegale Aktivitäten zustande gekommen ist. Dass im heutigen chinesischen Strafgesetzbuch der »Schutzschirm« nicht mehr als unabdingbare Voraussetzung des Vorliegens einer mafiaartigen kriminellen Gruppe gilt, ist das Ergebnis sowohl der Änderung durch den Gesetz-
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geber, die 2011 durch das 8. Strafrechtsänderungsgesetz erfolgte, als auch der Entwicklung der Rechtsprechung. Die ältere Fassung von § 294 Abs. 1 cStG lautet: »Wer eine mafiaartige kriminelle Gruppe organisiert oder anführt und sich an solchen Organisationen aktiv beteiligt, welche mit Gewalt oder Drohung oder mit anderen Methoden in organisierter Weise gesetzeswidrige kriminelle Aktivitäten betreiben, wobei sie in einem bestimmten Sektor Hegemonie ausüben, mutwillig und verwerflich Böses tun, die Massen schikanieren und unterdrücken bzw. grausam verletzen und töten und in ernster und schwerwiegender Weise die Ordnung des wirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Lebens untergraben, wird mit zeitiger Freiheitsstrafe von drei Jahren bis zu zehn Jahren bestraft. […]«19 Hieraus lässt sich zwar nicht ersehen, ob der »Schutzschirm« als ein notwendiges Merkmal gelten soll, aber die darauf bezogene im Jahr 2000 erlassene Justizinterpretation, die in China unter Umständen in der Tat als Gesetzgebungsergänzung gelten kann,20 fordert deutlich, dass die mafiaartige Gruppe durch Vorteilsgewährung, Drohung usw. die Mitarbeiter staatlicher Behörden verlockt oder zwingt, an Gruppenaktivitäten teilzunehmen oder illegalen Schutz dafür anzubieten. Danach galt eine kriminelle Gruppe nur dann als »mafiaartig«, wenn sie den Schutz der Mitarbeiter staatlicher Behörden genießen konnte. Diese Vorbedingung hat ersichtliche praktische Probleme in der Rechtsprechung mit sich gebracht, weil sie die Bekämpfung der O.K. erheblich erschwert hat, was eigentlich gegen den Sinn und Zweck von § 294 cStG war und zur Folge hatte, dass einige mafiaartige kriminelle Gruppen nur als »normale« kriminelle Gruppen identifiziert wurden.21 2002 hat die Legislative deutlich erklärt, dass eine mafiaartige kriminelle Gruppe (nur) gleichzeitig vier Merkmale haben solle, nämlich jeweils das strukturelle, wirtschaftliche sowie aktionale Merkmal und schließlich das Merkmal der Sozialschädlichkeit.22 Demgemäß wurde auf das Schutzschirm-Merkmal verzichtet. 2011 wurde die Diskrepanz beseitigt und die Meinung der Legislative durch das oben erwähnte 8. Strafrechtsänderungsgesetz verbindlich in das geltende Strafgesetzbuch eingeführt.
19 Übersetzung von Strupp (Fn. 12), S. 199. 20 Diese gesetzähnliche Geltungskraft der Justizinterpretation könnte nur im Rahmen der Ermächtigung der Legislative bestehen und ihr sollten Schranken seitens des Gesetzgebungsrechts gesetzt werden. Siehe Wang Cheng (王成), Studien zur Bindungswirkung der Justizinterpretationen des Obersten Gerichtshofs (最高法院司法解释效力研究), Peking University Law Journal (中外法学), 2016 vol. 28–1, S. 263, 267ff. 21 JIN Gaofeng (靳高风), Analyse von Strukturen mit Mafiaqualität und von deren tatsächlichen Merkmalen (黑社会性质的组织及其犯罪的事实性特征分析), Journal of Chinese People’s Public Security University (中国人民公安大学学报), 2004 No. 6, S. 51, 53. 22 SHI Jinghai (石经海), LI Jia (李佳), Systematisches Verständnis und Einordnung von Charakteristika mafia-artiger Organisationen (黑社会性质组织本质特征之系统性理解与认 定), Journal of Law Application (法律适用), 2016 vol. 9, S. 52f.
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2. Somit ist einerseits klar, dass der »Schutzschirm« nicht mehr als Tatbestandsmerkmal von § 294 cStG gilt, andererseits ist das enge Verhältnis zwischen der O.K. und ihrem Schutzschirm der daraus entstehenden Korruption aus kriminologischer Perspektive nicht zu übersehen. Man denke nur daran, dass, wie oben dargestellt, in China die »Super«-Stufe der O.K., nämlich die (echte) Mafiaorganisation, nicht offiziell anerkannt wird. Dem entspricht, dass sich die in der heutigen chinesischen Gesellschaft vorhandenen O.K.-Gruppen nicht als selbständige politische Kräfte gegen das Regime darstellen können, sondern dass sie nur quasi-politische Kräfte darstellen, die auf jeden Fall mit Beamten innerhalb des herrschenden politischen Systems »zusammenarbeiten« müssen, weshalb sie oft Beamte zur »Mitarbeit« verlocken, manchmal aber auch dazu zwingen.23 Diesen »kooperativen« Teil der politischen Herrschaft bilden selbstredend die korrupten Mitarbeiter staatlicher Behörden, welche die O.K. in Schutz nehmen. Dieses »kooperative« Verhältnis beruht auf zweierlei Aspekten. Auf der einen Seite sind politische Faktoren zu berücksichtigen, auf der anderen Seite ist dieses Phänomen teilweise auch anhand gesellschaftlicher Faktoren erklärbar. Genauer gesagt: Auf der einen Seite hat das einzigartige politische System in China einen wichtigen Beitrag zu diesem kooperativen Verhältnis geleistet. In diesem System werden alle wichtigen Positionen in Regierung, Verwaltung und gesellschaftlichen Organisationen von der kommunistischen Partei direkt oder aber mit Zustimmung der Partei besetzt. Grundlegende politische Entscheidungen werden von der Parteiführung getroffen und mit den Regierungsspitzen abgestimmt.24 Das heißt, das chinesische politische System ist stark »bürokratenorientiert« strukturiert. Und da das ganze Beamtentum ausschließlich durch die Partei geleitet wird, ist fast jede Angelegenheit der Verwaltung ein Prozess, der einseitig durch den Machthaber, nämlich das von der Partei geleitete Beamtentum, entschieden wird. In dieser Beziehung sind korrupte Mitarbeiter staatlicher Behörden häufig in der Lage, gegenüber denjenigen »rent-setting« vorzunehmen,25 die sich Begünstigungen ausbitten, darunter natürlich auch O.K.-Mitglieder. Mit anderen Worten: In einer Gesellschaft, wo die meisten Ressourcen von der administrativen Macht zugewiesen werden und nicht alle Menschen gleichen Zugang zu diesen Ressourcen haben, ist Korruption unter Umständen für die Bevölkerung eine »rationale« Handlungsalternative, welche 23 Vgl. HUANG Chong (黄翀), Braucht das Delikt der organisierten Kriminalität ein Merkmal des »Schutzschirms«? (我国黑社会性质组织构成是否需要»保护伞«属性), Legal System and Society Journal (法制与社会), 2011 vol. 6, S. 180. 24 Jürgen Hartmann, Politik in China, Springer, 2006, S. 71ff. 25 Vgl. MI Linna (糜琳娜), ZHU Qing (朱青), Analyse des »Schutzschirms« krimineller Organisationen (析有组织犯罪的»保护伞«), Journal of Henan Public Security Academy (河南公 安高等专科学校学报), 2007 No. 5, S. 29f.
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sich durchaus als »evolutionäres stabiles Gleichgewicht« betrachtet werden könnte, besonders wenn sie für die meisten Mitbürger schon zu einem Verhaltensmodell geworden ist.26 Was die O.K.-Mitglieder bei diesem Handlungsmuster suchen, ist die Chance des »rent-seeking«. Ziel und Gegenstand solcher Handlungen ist daher der Schutz krimineller Aktivitäten der O.K., welcher von korrupten Beamten der O.K. angeboten wird. Auf der anderen Seite haben auch soziologische Faktoren einen Beitrag zu diesem Phänomen geleistet. Im Vergleich zur starken zentralstaatlichen Verwaltung ist die Funktionsfähigkeit der chinesischen Gemeindeverwaltung üblicherweise viel schwächer,27 so dass aus bestimmten historischen oder aktuellen Gründen in manchen Regionen die Basisverwaltung beinahe lahmgelegt ist oder als funktionslos zu gelten hat, so dass sich kriminelle Gruppen teilweise zum tatsächlichen »Herrn der Lage« aufschwingen konnten.28 Besonders wenn die Versorgung mit öffentlichen Gütern nicht ausreichend ist, haben kriminelle Organisationen eine Gelegenheit, sich so zu inszenieren, dass sie gar als »unterirdische Polizei« oder »sekundäre Regierung« hervortreten.29 In diesem Sinne handelt es sich dabei um eine sogenannte »alternative Regierungsstruktur«, welche durch die O.K. dann angeboten wird, wenn der legale öffentliche Dienst aufgrund diverser Ursachen entweder gar nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen erreichbar ist.30 Auch die Untersuchungen zum historischen Phänomen der Mafia in Italien hat gezeigt, dass die Mafia nur Wirkung haben kann, wenn staatliche Institutionen (besonders die Institutionen der Strafrechtspflege) – allen voran die Polizei – »unterwandert« sind.31 Je größer die Nahtstelle von O.K. und »legaler Macht« ist, desto höher scheint die Funktionsfähigkeit der kriminellen Gruppen zu sein. Im Gegensatz zu Deutschland, wo solche Nahtstellen glücklicherweise kaum vorhanden sind (oder vorhanden waren),32 sind sie in China recht einfach zu spüren. 3. In bestimmten Bereichen, wie etwa beim »Abfangen von Petitionsstellern« und »Abreißen alter Gebäude bzw. Umsiedeln von deren Bewohnern«, ist diese
26 Ming LU, Hui PAN, Government-Enterprise Connection, Springer, 2016, S. 22. 27 Vgl. CHEN Boli (陈伯礼), YANG Daoxian (杨道现), TAN Zhenguo (谭振国), Die Ursachen des »Schutzschirms« der organisierten Kriminalität unter dem verwaltungsrechtlichen Blickwinkel (行政法学视角下黑社会性质组织»保护伞«的成因及其对策, Public Security Science Journal (公安学刊), 2013 No. 2, S. 50, 52. 28 MI Linna, ZHU Qing (Fn. 25), S. 30. 29 XIANG Jiquan (项继权), CHU Xin (储鑫), Politischer Einfluss, politischer Freiraum und Abwehr von mafiaartigem Verbrechen (黑社会性质犯罪的政治影响、政治空间与防范), Journal of Jiangsu Administration Institute (江苏行政学院学报), 2016 No. 1, S. 97, 98. 30 Vgl. Ichniowski/Preston, Industrial and Labor Relations Review 1989 vol. 42 No. 4, 549, 553. 31 Eisenberg, NJW 1993, 1033, 1034. 32 Eisenberg (Fn. 31), 1034.
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»unterirdische polizeiliche Funktion« der kriminellen Gruppen besonders beobachtbar.33 a) Das »Abfangen von Petitionsstellern« ist ein einzigartiges Phänomen der chinesischen Politik, das sich in der Folge des chinesischen Petitionssystems herausgebildet hat. Die chinesische Verfassung (vgl. Art. 41 cVerfG (1982)) sieht vor, dass sich jeder Bürger mit Beschwerden oder Vorschlägen direkt an den Staat wenden kann. Unter diesen Beschwerden der Bürger sind solche gegen tatsächlich oder vermeintlich erfahrenes Unrecht von größerer Bedeutung. Die Möglichkeit der Beschwerde ist das Hauptanliegen des Petitionswesens, denn durch sie wird ein positives Image der Partei als übergreifend, und effektiv hervorgerufen. Dazu wird argumentiert, dass dies mit der Schaffung einer »harmonischen Gesellschaft«, einem der offiziellen Ziele der Gesellschaftsentwicklung Chinas, einhergeht.34 Der Grund dafür, dass in China das institutionelle Hierarchien überspringende Petitionswesen im Grunde als ein alternatives (Neben-)Justizsystem fungiert, liegt auch darin, dass die Unabhängigkeit des Justizsystems in China in Teilen fehlt, d. h. dass die Justiz oft politischen Entscheidungen unterworfen wird. Nach Berichten westlicher Beobachter empfinden sich die meisten chinesischen Richter als Exekutivbeamte, die das Interesse des Staates zu wahren haben: »Fällen die Gerichte Urteile, so kommt es vor, dass sie anschließend mit den Behörden verhandeln, ob und wie man dort das Urteil zu beachten gedenken«.35 Die Professionalität der juristischen Berufe war für China einerseits tatsächlich ein systemisches Problem, das sich nicht in kurzer Zeit völlig und leicht lösen lässt, andererseits geht das Problem weit über die bloße Mangelhaftigkeit der richterlichen Ausbildung hinaus.36 Insbesondere in den letzten 5 Jahren ist die allgemeine Situation der Juristenausbildung in China deutlich verbessert worden. Trotzdem stellt die Unabhängigkeit des Richters im heutigen China immer noch ein Tabu dar, so dass es immer wieder Fälle gibt, die in westlichen Ländern (nur) durch das Justizsystem behandelt werden, die aber in China durch das Petitionswesen effektiver und zufriedenstellender behandelt werden können. Das hat zur Folge, dass die Bevölkerung in China häufig mehr Vertrauen zum Petitionswesen als zur Justiz hat, was nach der Ansicht einiger Autoren eine Hypothek für das Ansehen von Justiz und Gesetzen darstellt.37 Freilich liegt die Verantwortung hierfür weniger im Petitionswesen, sondern in den Konsequenzen der Abhängigkeit des Justizsystems selber. Diese bewirkt, dass die Justiz in den Augen der einfachen Leute weniger zuverlässig zu sein scheint. Sie nutzen 33 34 35 36 37
XIANG Jiquan, CHU Xin (Fn. 29), S. 98. Lipinsky, Der chinesische Frauenverband, 2006, S. 180. Hartmann (Fn. 24), S. 112. XIONG Qi (熊琦), Massenmedien und Strafurteil, Freiburg/Br.: MPI, 2012, S. 322ff. Xujun Gao, Jie Long, University of St. Thomas Law Journal, 2015 vol. 12, S. 34, 35.
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daher das Petitionswesen als Berufungsinstanz oder als einen generellen Ersatz für den Rechtsweg, entweder weil sie vom Gerichtsprozess oder einem nicht vollstreckbaren Urteil enttäuscht sind, oder weil sich das zuständige Gericht geweigert hat, die Anklage überhaupt zuzulassen.38 Diese Situation führt zu einer Spannungslage zwischen den unterschiedlichen Haltungen zum Petitionssystem: Beamten auf der Spitzenebene nehmen im Allgemeinen eine flexible Haltung zu diesem System ein. Einerseits kann ihre Haltung positiv sein, weil dieses System zu einem gewissen Grad symbolhaft für die Bemühungen um den Aufbau einer harmonischen Gesellschaft ist (wie oben dargestellt) und über wichtige politische Funktionen verfügt,39 wie z. B. die Möglichkeit Informationen aus erster Hand zu gewinnen. Andererseits kann ihre Haltung dazu auch negativ sein. Die Gründe hierfür können unterschiedlich sein, so wird etwa eine Petition als »abnorm« betrachtet, wenn der Petitionssteller seinen Antrag nicht an die korrespondierende Instanz der Petitionsbehörde, sondern direkt an die Behörden in der Provinzhauptstadt oder in Peking einreicht;40 auch wenn sich die Petition während eines »empfindlichen Zeitraums«, wie z. B. während der Olympischen Spiele in Peking ereignet, oder wenn die Gefahr besteht, dass sich der Petitionsfall selbst zu einer gesellschaftlichen Sensation entwickelt, so dass ein schlechtes Licht auf das Positivimage der Partei geworfen werden könnte, steht man einer solchen Petition auf offizieller Seite eher ablehnend gegenüber. Mit anderen Worten: da die »Erhaltung der Stabilität« der chinesischen Gesellschaft als eine »politische Metanorm« gilt, die alle anderen gesellschaftlichen Probleme dominiert,41 ist die Haltung hoher Beamter zur Petition davon abhängig, ob sich der Petitionsfall als ein »destabilisierender Faktor« erweisen könnte. Wird diese Frage verneint, wird die Funktion der Petition überwiegend positiv bewertet; wird sie bejaht, dann erfolgt die Bewertung umgekehrt. Im Gegensatz hierzu ist die Haltung der Beamten zur Petition auf den unteren administrativen Ebenen eher einheitlich: man begegnet sowohl den Petitionen an sich als auch deren Stellern grundsätzlich mit Ablehnung. Das gilt ganz besonders für die Fälle, in denen sich der Petitionssteller an höhere (und nicht korrespondierende) Instanzen wendet, denn dabei handelt es sich oft um deutliche »Klagen« gegen Beamte auf unteren administrativen Ebenen. Deswegen werden Petitionssteller häufig durch lokale Beamten davon abgehalten, Petitionsanträge bei höheren Instanzen einzureichen. Zur Erreichung dieses Ziels schreckt man immer wieder auch vor Gewalttätigkeit nicht zurück, so dass es Petitionssteller 38 39 40 41
Lipinsky (Fn. 34), S. 181. Xujun Gao, Jie Long (Fn. 37), S. 36. Gao Xujun, Long Jie, (Fn. 37), S. 37. Gallagher, Asian Survey, 2005 vol. 45 No. 1, 21, 29.
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gibt, die gefangengenommen, misshandelt, in Zwangsarbeitslager, Geheimgefängnisse oder sogar »psychiatrische Krankenhäuser« verbracht und eingesperrt werden.42 Jede dieser »Maßnahmen des Abfangens von Petitionsstellern« ist selbstverständlich eine Straftat, wobei es keine Rolle spielt, ob sie durch einen Mitarbeiter einer staatlichen Behörde selbst oder lediglich vermittels des Befehls eines Vorgesetzten ausgeführt wird. Deshalb möchten sich lokale Beamten zunehmend weniger in offener Weise und ohne Skrupel in diese Angelegenheiten einmischen, insbesondere wenn solche Ereignisse von Massenmedien berichtet werden und sich sofort zu einem öffentlichen Spektakel entwickeln. Als Ersatzmaßnahme werden solche Maßnahmen häufig an lokale mafiaartige Gruppen übertragen,43 so dass sich die Beamten nicht direkt darin zu verwickeln brauchen, und, falls nötig, noch genügend Zeit haben, eine andere Haltung einzunehmen und zu zeigen, dass sie sich von jeglicher Obstruktion der Petition distanzieren. b) Das Phänomen des »Abreißens alter Gebäude bzw. des Umsiedelns von deren Bewohnern« ist in China oft während einer städtebaulichen Neuordnung beobachtbar. Dabei werden alte Gebäude, die als Hindernisse für neue städtische Infrastrukturmaßnahmen oder für moderne Wohnanlagen betrachtet werden,44 oft ohne Zustimmung oder nur mit einer erzwungenen Zustimmung der Bewohner abgerissen, so dass deren Bewohner unter Umständen zur Umsiedlung gezwungen sind. Häufig befinden sich die abzureißenden alten Gebäude entweder auf staatseigenem Land45 oder in Kollektiveigentum,46 so dass die Verhandlungsmacht der Bewohner gegenüber dem Staat sehr schwach ist. Auch wenn der Verlust der Wohnung (häufig) nicht zufriedenstellend kompensiert wird, nehmen die meisten Bewohner in einem solchen Fall lieber den schlechten Ausgleich für die Umsiedlung einfach hin. Nur einige »nicht kooperative« Bewohner entscheiden sich, in ihren alten Gebäuden zu bleiben, statt umgesiedelt zu werden. Diejenigen Bewohner, die sich für »Widerstand« entschieden haben, werden »Nagelhaushalte« genannt.47 Diese Bezeichnung beinhaltet eine abwertende Konnotation und entspricht der üblichen, auf kollektive Interessen fokussierten offiziellen Meinung, dass diese »Nagelhaushalte« nur an ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen, jedoch nicht 42 Gao Xujun, Long Jie, (Fn. 37), S. 38. 43 Vgl. ZHOU Qiming (周其明), Eine verfassungsrechtliche Erklärung des Petitionssystems – eine Skizze zur Verteilung staatlicher Macht und bürgerlichen Rechten (信访学的宪法学解 读—简论国家权力与公民权利的配置), Journal of People’s Congress Studying (人大研究), 2005 vol. 10, S. 24. 44 Vgl. Michelson, Social Problems 2008 vol. 55 No. 1, 43, 62–63, wo ein lebendiges Beispiel vom Aufbau des Pekinger Westbahnhofs angeführt wird. Mehr dazu siehe auch Li Zhang, Urban Anthropology, 2004 vol. 33, S. 247ff. 45 Münzel, ZChinR 2012, S. 24. 46 Shieh, Pacific Affairs 2011 vol. 84 No. 3, S. 475, 488. 47 Münzel (Fn. 45), 24.
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an das öffentliche Interesse der städtischen Entwicklung denken und deshalb als egoistische Unruhestifter zu etikettieren seien.48 Daher wird ihnen oft mit Gewalt begegnet: allein im Jahr 2003 ereigneten sich schon 1500 Fälle von Gewalttätigkeit im Bereich von »Abreißen und Umsiedeln« in der Hauptstadt Peking.49 Ähnlich wie beim »Abfangen von Petitionsstellern« wird oft ein beträchtlicher Teil der Arbeit des »Abreißens und Umsiedelns« lokalen kriminellen Gruppen übertragen, so dass sich die dafür verantwortlichen Beamten nicht direkt mit den theoretisch geltenden gesetzlichen Regeln konfrontiert sehen. Die von mafiaartigen kriminellen Gruppen ausgeübte Gewalttätigkeit wird daher immer wieder von den zuständigen Beamten stillschweigend akzeptiert. Durch die Übertragung von Aufgaben und Verantwortung an kriminelle Gruppen wird den lokalen Beamten die Chance eröffnet, sich vom möglichen Vorwurf gesetzwidriger Verwaltung zu distanzieren, falls der Fall plötzlich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erweckt und die Situation nicht mehr auf lokaler Ebene kontrollierbar bleibt. In einem Kurzbeitrag eines westlichen Beobachters wird ein Dialog zwischen einem Bauern, dessen Wohnung durch gewalttätige Maßnahmen abgerissen wurde, und seinem »Bürgermeister« wiedergegeben; dabei bezieht sich das Pronomen »die« auf die beim »Abreißen und Umsiedeln« arbeitenden Mitglieder einer kriminellen Gruppe. Der Bürgermeister sagte auf die Klagen des Bauern hin: »Wir können da nichts machen. Die sind die Mafia, die legen dich um, ohne mit der Wimper zu zucken. Die reizen wir lieber nicht. Rede selbst mit denen, wenn du das fertigbringst.«50 Trotz dieser Kritik werden auch solche Fälle immer wieder seriös behandelt. Eine Vorbedingung hierfür ist oft die Aufmerksamkeit der Massenmedien oder eine andere Möglichkeit, den Fall in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses zu bringen. Eine andere Fallgruppe schließt an die Tatsache an, dass der Grad der in diesen Fällen ausgeübten Gewalttat die Erwartungshaltung wesentlich übersteigt. Als Beispiel mag der Fall des »lebendig Begrabenen« herangezogen werden. Er ereignete sich in der Provinz Jiangsu, wo während des Abreißens einer alten Wohnung ein Bulldozerfahrer »versehentlich« eine 92-jährige Frau unter einer zerbrochenen Wand lebendig begrub und dadurch tötete.51 Da eine Tötung, sei sie vorsätzlich oder fahrlässig begangen, auf jeden Fall die Obergrenze den Grad der »normalen« und üblicherweise beim »Abreißen und Umsiedeln« geduldeten Gewalttätigkeit bei weitem überschreitet, ist in solch einem Fall die
48 49 50 51
Vgl. Michelson (Fn. 44), 62. Li Zhang (Fn. 44), 249. Münzel (Fn. 45), 24. LI Jing (李静), FU Miao (傅淼), Für das Abreißen der alten Häuser, das zum lebendigen Begraben führt, braucht man eine plausible offizielle Erklärung (拆迁致老人被活埋 官方回 应需服众), China Newspaper Industry Journal (中国报业), 2016 vol. 19, S. 56.
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Möglichkeit gering, die begangene Straftat durch einen politisch-administrativen »Schutzschirm« zu decken. 4. Auffällig ist auch das bidirektionale Verhältnis zwischen mafiaartigen kriminellen Gruppen und ihren Schutzschirmen. Einerseits suchen mafiaartige kriminelle Gruppen jede Chance, einen Schutzschirm, d. h. illegale Schutzmöglichkeiten durch Mitarbeiter staatlicher Behörden zu gewinnen. Andererseits kann ein korrupter Mitarbeiter einer staatlichem Behörde selbst der Anführer oder sogar der Begründer einer kriminellen Gruppe sein, so dass er die mafiaartige Gruppe für seine »eigene« hält.52 Als Beispiel wäre der Fall Long Jiefeng heranzuziehen: Long war ein Polizeibeamter in der Provinz Guangdong und hatte unter der Maske der Legalität seine eigene mafiaartige kriminelle Gruppe »Long Xing Hui« gegründet, welche sich zwischenzeitlich als recht »erfolgreiche« kriminelle Gruppe erwies.53 In dieser Beziehung dient die staatliche Exekutivgewalt direkt als Instrument für mafiaartige kriminelle Aktivitäten. Wenn mafiaartige kriminelle Gruppen danach streben, einen Schutzschirm zu gewinnen, stehen normalerweise die folgenden 3 Möglichkeiten zur Verfügung: Erstens kann der Schutz, wie oben dargestellt, durch Bestechung und Vorteilsgewährung gekauft werden. Dieses Phänomen kommt deutlich häufiger in den Bereichen der Polizei und Justiz als in der allgemeinen Verwaltung vor.54 Zweitens kann der Schutzschirm auch durch »Durchdringen« zustande kommen.55 Dabei suchen einige Mitglieder der kriminellen Gruppe die Chance, in den Beamtenapparat aufgenommen zu werden, um dann als Beamte, insbesondere als Polizeibeamte oder Beamte in relevanten Fachverwaltungen, zu arbeiten. Bildlich lässt sich dieser Prozess als ein gegenseitiges »Durchdringen« darstellen, denn das Mitglied der kriminellen Gruppe kommt aus der Außenwelt jenseits der Staatsmacht und integriert sich in die Welt des Beamtentums, so dass sich beide Sphären – die mafiaartige Gruppe und die Staatsmacht – am Ende gegenseitig durchdringen. Drittens kann der Schutzschirm kann auch durch Drohung gewonnen werden. Obwohl dieser Fallgruppe mittlerweile eher selten ist, gibt es nach wir vor Einzelfälle, in denen kriminelle Gruppen Mitarbeiter staatlicher Behörden unter Druck setzen und dadurch zur Gewährleistung eines bestimm52 QIU Geping (邱格平), Vom »Schutzschirm« zum Paten – eine Erklärung des Rollenwandels von Beamten innerhalb von mafiaartigen Organisationen (从»保护伞«到黑老大——解读中 国黑社会性质组织中官员角色的变迁), Issues on Juvenile Crimes and Delinquency (青少 年犯罪问题), 2008 vol. 1, S. 13f. 53 XU Xingui (徐信贵), GAO Changsi (高长思), Die Ursachen und Erscheinungsformen des »Schutzschirms« der organisierten Kriminalität (论黑社会性质组织»保护伞«的形成原因 及方式), Journal of Fujian Police College (福建警察学院学报), 2012 vol. 1, S. 9, 14. 54 CUI Can (崔灿), Xing Min (邢敏), Studien zur Repression von Amtsdelikten innerhalb des »Schutzschirms« mafiaartiger Organisationen (查处黑社会性质组织»保护伞«职务犯罪问 题研究), Journal of Shandong Police College (山东警察学院学报), 2014 vol. 6, S. 119f. 55 XU Xingui, GAO Changsi, (Fn. 53), S. 14.
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ten Schutzes nötigen. Die Effizienz solcher Drohungen setzt normalerweise voraus, dass sich der betroffene Mitarbeiter der staatlichen Behörde im Vorfeld gegenüber den Drohenden erpressbar gemacht hat, dass diese also eine Handhabe gegen ihn besitzen. Dies kann etwa eine unrühmliche Vorgeschichte sein, welche die kriminelle Gruppe in Erfahrung gebracht hat, oder eine Vorteilsannahme, oder ein Bordellbesuch usw.56 Betrachtet man dieses zweiseitige Verhältnis näher, stellt man fest, dass es 3 Stufen aufweist:57 Auf der ersten Stufe beschränkt sich die »Zusammenarbeit« zwischen mafiaartigen kriminellen Gruppen und korrupten Beamten noch auf einzelne Personen, Bereiche und Gewerbearten. Es handelt sich dabei um eine Beziehung zwischen kleineren kriminellen Gruppen und Beamten niedrigeren Ranges. Auf der zweiten Stufe taucht das Phänomen »Symbiose« auf, denn es handelt sich um gemeinsame Interessen von Gruppen mittleren Umfangs und Beamten mittleren Ranges, darunter finden sich besonders Angehörige der Polizei, Staatsanwälte, Richter und wichtigere Parteikader der Justiz- und Verwaltungsabteilungen, so dass eine relativ stabile »Allianz« der beiderseitigen Interessen besteht. Auf der dritten Stufe gebe es ein allgemeines Netz im Verhältnis zwischen mafiaartigen kriminellen Gruppen und Beamten. Auf dieser Ebene stellen sich oft große mafiaartige kriminelle Gruppen als anscheinend legale große Firmen dar, wobei die korrupten Beamten (oft von höherem Rang) gleichzeitig wichtige Anführer sind, oder dass sie sogar die Begründer dieser Gruppen sind. Dadurch gewinnen mafiaartige kriminelle Gruppen offizielle »Vertreter« in staatlichen Behörden.58 5. Das »symbiotische« Verhältnis zwischen mafiaartigen kriminellen Gruppen und ihrem »Schutzschirm« stützt sich, wie jedes Korruptionsverhältnis, auf die mangelnde Aufsicht durch die Staatsmacht. Das heißt, dass der für die Entstehung des Schutzverhältnisses zwischen Beamtenapparat und krimineller Gruppe Hauptverantwortliche derjenige ist, der eigentlich die Aufsicht über letztere ausüben soll.59 Eine 2015 in Wuhan, China durchgeführte empirische Forschung60 zum Verhältnis von korrupten Beamten und Bestechenden unterstützt diese Beobachtungen in Teilen. Trotz der Unvollständigkeit und der sehr begrenzten Zugänglichkeit der Daten wurden 2 Datenbanken erstellt: Datenbank A enthält die 56 57 58 59 60
XU Xingui, GAO Changsi, (Fn. 53), S. 15. CUI Can, XING Min (Fn. 54), S. 120. CUI Can, XING Min (Fn. 54), S. 120f. Vgl. Eigens, Das Netz der Korruption, 2003, S. 83f. Vgl. XIONG Qi (熊琦), MO Hongxian (莫洪宪), Die rechtliche Behandlung der BeamtenGeschäftsleuten-Kollaboration währen der »neuen Normalität der Korruptionsbekämpfung« (»反腐新常态«下官商勾结的法律治理), Jiangxi Social Sciences (江西社会科学), 2015 vol. 5, S. 11, 13ff.
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2012–2015 in chinesischen (staatlichen) Massenmedien berichteten 31 Fälle von Korruption, d. h. von Fällen, in welche Beamte von hohem Rang verwickelt waren. Datenbank B enthält die 125 Urteile, in denen Gerichte in Wuhan in den Jahren 2012–2015 den Sachverhalt der Korruption festgestellt haben. Bei der Analyse dieser Datenbaken ergibt sich, dass sich sowohl im Datensatz A als auch im Datensatz B ähnliche Tendenz zeigen. Demnach konzentrieren sich die Arbeitsstellen korrupter Beamter auf die politische Macht. Datenbank A ist zu entnehmen, dass 39 % der (in diese Forschung einbezogenen) korrupten Beamten in Parteiorganen arbeiten, 39 % sind in der Regierung (Verwaltungsabteilungen) tätig, 19 % üben Funktionen der Konsultativkonferenz aus und 3 % arbeiten in staatseigenen Unternehmen.61 Im Vergleich zu Arbeitsstellen, welche direkt politische Macht ausüben, wie etwa Parteiorgane und Regierung, zählt die Konsultativkonferenz nicht zu den typischen Machtorganen. Man muss sich hier nur verdeutlichen, dass es sich bei der Konsultativkonferenz de facto um eine Sinekure für ehemalige wichtige Beamte handelt. Verdeutlicht man sich diesen Hintergrund, dann arbeiten bzw. arbeiteten ungefähr 97 % aller korrupten Beamten aus Datenbank A in Machtorganen. Datenbank B ist zu entnehmen, dass 47 % der ermittelten korrupten Beamten in der Regierung arbeiten, 22 % in Unternehmen, 18 % in (öffentlich-rechtlichen) institutionellen Einheiten (wie etwa staatlichen Universitäten, Krankenhäusern usw.), 1 % in Parteiorganen, 1 % auf dem Land, 1 % in der Konsultativkonferenz, 1 % im Volkskongress und 9 % in anderen Einheiten.62 Insgesamt arbeiten mehr als 50 % der korrupten Beamten aus Datenbank B in Organen, welche direkt mit der Ausübung von Staatsmacht betraut sind. Kaum verwunderlich ist auch, dass sich die Wahrscheinlichkeit der Korruption hauptsächlich auf diejenigen Gebiete konzentriert, wo eine Verwaltungsgenehmigung käuflich ist oder wo diese oft nur durch Bestechung zu erreichen ist. Datenbank A ist zu entnehmen, dass 31 % der beteiligten korrupten Beamten auf den Gebieten Energie bzw. Mineralien arbeiten, 23 % sind mit Immobilien bzw. dem »Abreißen und Umsiedeln« alter Gebäude befasst, 18 % arbeiten auf Gebiet der Infrastruktur, 13 % sind mit der Auflassung von Grundstücken betraut, 10 % haben die Gebiete der Fusion und Übernahme bzw. den Handel mit Aktienanteilen staatseigener Unternehmen zur Aufgabe, 5 % sind auf anderen Gebieten tätig. Datenbank B ist zu entnehmen, dass 37 % der korrupten Beamten auf dem Gebiet der Rechnungsprüfung von Infrastrukturmaßnahmen arbeiten, 15 % sind verantwortlich für die Schätzung von Grundstücken, von Infrastrukturmaßnahmen oder von Fällen des »Abreißens und Umsiedelns« alter Gebäude, 10 % sind mit der Deklaration, Überprüfung und Bestätigung von Anlagever61 XIONG Qi (熊琦), MO Hongxian (莫洪宪), (Fn. 60), S. 14. 62 XIONG Qi (熊琦), MO Hongxian (莫洪宪), (Fn. 60), S. 14.
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mögen und Investitionen betraut, 6 % führen Restrukturierungen von Unternehmen durch, 6 % sind für die Erteilung von Gewerbebefugnissen zuständig, 5 % arbeiten im Gesundheitswesen, 5 % vergeben Subventionen in den Sektoren Energie bzw. Politik, 4 % sind in der allgemeinen Verwaltung tätig, 4 % erarbeiten Ausschreibungen und Preisangebote, 2 % sind auf dem Gebiet der Geldmittelzirkulation tätig, 1 % sind mit Fragen des Verkehrs betraut.63 Daran zeigt sich, dass diejenigen Arbeitsgebiete, in denen sich marktwirtschaftliche Konkurrenz relativ vollkommen entwickelt hat, weniger vom Korruptionsverhältnis und daher auch weniger vom O.K.-Schutzschirm-Verhältnis beeinflusst werden.64 Die Korruption erweist sich daher nicht als Problem des sogenannten Mammonismus,65 sondern ist hauptsächlich das Resultat von Machtkonzentration und fehlender Funktionsfähigkeit der Überwachung. In erster Linie wird das Korruptionsproblem also nicht durch moralische Erziehung oder juristische Schulung verbessert, denn der Kern des Problems liegt nicht hauptsächlich in diesen Ursachen: die Täter der Korruption sind »auffällig unauffällig«, denn ihr Erziehungsniveau ist vergleichsweise hoch und sie sind im Alltagsleben vergleichsweise anständig.66 Die Lösung des Problems liegt also nicht in einer Rückkehr zur Planwirtschaft, die eine noch stärkere und umfangreichere Konzentration der Macht zur Folge haben würde, was wiederum nur zahlreiche Chancen für »rent-setting« ermöglichen würde,67 sondern in der gesunden Weiterentwicklung der Marktwirtschaft, welche sich bislang als effiziente Möglichkeit zur Eindämmung der Korruption erwiesen hat. Sie bildet zugleich auch die richtige Lösung des Schutzschirm-Phänomens zwischen korrupten Beamten und der O.K., da die meisten Schutzschirm-Verhältnisse durch Bestechung »gekauft« werden.
63 XIONG Qi (熊琦), MO Hongxian (莫洪宪), (Fn. 60), S. 14. 64 Vgl. Minxin Pei, China’s Crony Capitalism, Harvard University Press, 2016, S. 148. 65 So z. B. GAO Weixiang (高巍翔), Errichtung einer richtigen materialistischen Weltsicht: Ansatzpunkte für die clean-governance-Erziehung in Parteiorganisationen akademischer Institutionen (树立正确的物质利益观:高效党风廉政建设的着力点), Journal of University of Electronic Science and Technology of China (电子科技大学学报), 2010 vol. 1, S. 43f. 66 Vgl. Bannenberg, Korruption in Deutschland, in: Nell u. a. (Hrsg.), Korruption, 2003, S. 125. 67 Vgl. Pei (Fn. 64), S. 149.
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IV.
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Die O.K. und ihr »Schutzschirm« aus rechtsdogmatischer Perspektive
1. Aus rechtsdogmatischer Perspektive ist das Schutzschirmphänomen ebenfalls alles andere als problemlos. Wie gesagt ist der Schutzschirm nicht mehr ein unentbehrliches Tatbestandsmerkmal bei Organisation und, Anführung von bzw. Beteiligung an mafiaartigen kriminellen Gruppen (§ 294 Abs. 1 cStG, im Folgenden allgemeines O.K.-Delikt genannt). Damit hat sich das Problem in gewisser Weise umgekehrt. Genauer gesagt: Auch wenn klar ist, dass das allgemeine O.K.-Delikt nicht mehr den Schutzschirm voraussetzt; so ist auf der anderen Seite wiederum nicht ganz klar, was genau passiert, wenn ein solcher Schutzschirm dennoch vorliegt. Falls ein korrupter Beamter, z. B. ein korrupter Richter, dadurch zum »Schutzschirm« einer kriminellen Gruppe geworden ist, dass er die mafiaartige kriminelle Gruppe deckt, oder der Gruppe stillschweigend freie Hand lässt, damit diese Straftaten begehen kann, ist er bereits wegen der Inschutznahme und Duldung einer mafiaartigen kriminellen Gruppe (§ 294 Abs. 3 cStG, im folgenden Inschutznahme der O.K. genannt) strafbar. § 294 Abs. 3 cStG lautet: »Mitarbeiter staatlicher Behörden, die mafiaartige kriminelle Gruppen decken, oder mafiaartigen kriminellen Gruppen stillschweigend freie Hand lassen, gesetzwidrige kriminelle Aktivitäten zu betreiben, werden mit zeitiger Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren bestraft; liegen schwerwiegende Tatumstände vor, ergeht die zeitige Freiheitsstrafe ab 5 Jahre.«68 Üblicherweise setzt ein solcher Vorgang voraus, dass der betreffende korrupte Beamte im Zuge der Schutzgewährung auf jeden Fall seine Dienstpflicht verletzt hat, soweit der »Schutzschirm« wirklich funktioniert oder auch nur entsprechende Eignung aufweist. In diesem Sinne hätte der korrupte Beamte zugleich das Delikt der Dienstpflichtverletzung begangen, für den Fall des Richters wäre es das der Rechtsbeugung (§ 399 Abs. 1 cStG). Handelt es sich dabei um Tateinheit oder um Tatmehrheit? Das ist nicht unstrittig. 2. Anscheinend hat das chinesische Strafrecht bereits seine Antwort dazu in § 294 Abs. 4 cStG gegeben: »Wer eine der in Abs. 1–3 genannten Straftaten begangen hat und noch weitere strafbare Handlungen begeht, wird nach den Bestimmungen der Tatmehrheit bestraft.«69 Es bleibt jedoch das Problem, ob diese Tatmehrheitsbestimmung klar genug und somit ohne weiteres anwendbar ist. Dies wird sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung teilweise verneint oder angezweifelt.
68 Übersetzung nach Strupp (Fn. 12), S. 199. 69 Übersetzung nach Strupp (Fn. 12), S. 200.
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1) Obwohl das Problem in diesem Fall bei den Tatbeständen der Verwirklichung des Schutzschirms (im Sinne von § 294 Abs. 3 cStG) und der Dienstpflichtverletzung (im Sinne von §§ 397ff. cStG) auftritt, gibt es ein ähnliches Problem beim allgemeinen O.K.-Delikt (§ 294 Abs. 1 cStG) und der pauschalen Tatmehrheitsbestimmung (§ 294 Abs. 4 cStG). Sowohl die Richtigkeit als auch die Zweckmäßigkeit dieser Tatmehrheitsbestimmung werden in der Literatur angezweifelt. Es wird häufig bemängelt, dass offensichtlich ein circulus vitiosus zwischen § 294 Abs. 1 und Abs. 5 cStG besteht, was dazu führt, dass es nicht mehr angebracht scheint, § 294 Abs. 4 cStG (Tatmehrheitsbestimmung) überhaupt anzuwenden, denn die Forderung, »noch weitere strafbare Handlungen« zu begehen, (Abs. 4) ist gleichzeitig Voraussetzung für eine Anwendung von Abs. 1 (dem »allgemeinen O.K.-Delikt«) und von Abs. 5, so dass jede Anwendung von Abs. 4 in diesem Fall eine »Doppelverwertung« darstellen würde.70 Dies lässt sich anhand eines einfachen Beispiels belegen: Täter O ist der Organisator einer mafiaartigen kriminellen Gruppe. O hat zusammen mit anderen Mitgliedern mehrmals Raub bzw. Körperverletzung im Rahmen der illegalen Aktivitäten seiner Gruppe begangen. Soll die Tatmehrheitsbestimmung gelten, hätte sich O also wegen mindestens drei Delikten, also wegen Raub, Körperverletzung und allgemeinem O.K.-Delikt strafbar gemacht. Das heißt, auf der einen Seite liegt bereits das allgemeine O.K.-Delikt (Gründung einer mafiaartigen kriminellen Gruppe) vor, auf der anderen Seite liegen auch andere Gewaltdelikte (Raub und Körperverletzung) vor, denn § 294 Abs. 4 cStG hat deutlich darauf hingewiesen, dass Tatmehrheit vorliegen soll, soweit »weitere strafbare Handlungen« begangen werden, was in diesem Fall unstreitig wäre: Im Vergleich zur Begründung der mafiaartigen kriminellen Gruppe wären Raub und Körperverletzung zweifelsohne »weitere strafbare Handlungen«. Aber diese logische Kette ist nicht einwandfrei, denn schon der erste Schritt, d. h. die Feststellung, O habe sich wegen eines allgemeinen O.K.-Delikts strafbar gemacht, ist problematisch. Man denke daran, dass § 294 Abs. 1 cStG nur in Verbindung mit § 294 Abs. 5 cStG anwendbar ist, da nur in § 294 Abs. 5 cStG näher erklärt wird, was zu einer mafiaartigen kriminellen Gruppe zählt. Durch die von O und anderen Mitgliedern konstant begangenen Gewalttätigkeiten (Raub, Körperverletzung usw.), die die in § 294 Abs. 5 cStG aufgelisteten Merkmale erfüllen, erkennt man vor allem, dass es sich dabei um eine mafiaartige kriminelle Gruppe handelt. Erst dann kommt das Problem des allgemei70 CHEN Hongbing (陈红兵), Forschung zu chinesischen Problemen der Konkurrenzlehre (中 国式的刑法竞合问题研究), CUPL Press (政法大学出版社), 2016, S. 91f.; ähnlich ZHANG Mingkai (张明凯), Strafrecht (刑法学), 5. Aufl., Law Press China (法律出版社), 2016, S. 1071–1072.
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nen O.K.-Delikts, also der Begründung der mafiaartigen kriminellen Gruppe, in Frage. Läge hier eine Tatmehrheit von allgemeinem O.K.-Delikt und weiteren Gewaltdelikten vor, würde die Gewaltdelikte bei dieser Feststellung zweimal bewertet: Einmal als selbständige Delikte, einmal als Voraussetzung des allgemeinen O.K.-Delikts. Deswegen wird diese Struktur von § 294 cStG im Schrifttum stark kritisiert. Es wird sogar vorgeschlagen, den ganzen § 294 cStG aufzuheben, denn sonst würde seine Anwendung gegen das Schuldprinzip verstoßen und daher die Rechte des Täters verletzen, was wiederum die Wirtschaftsentwicklung stören und der Korruption im Justizwesen Vorschub leisten würde.71 2) Ähnliche Streitkonstellationen tauchen auch in Deutschland auf. Für die Wahl zwischen Tateinheit und Tatmehrheit bei §§ 129, 129a StGB, wenn etwa ein Mitglied einer kriminellen Organisation (z. B. einer Terrororganisation) im Zusammenhang mit seiner Mitgliedschaft andere Delikte (z. B. Morde) begeht, bestehen unterschiedliche Lösungsvorschläge: Einige treten für Tatmehrheit ein – diese Meinung gilt angeblich als die Mehrheitsmeinung –,72 und andere wollen eine Tateinheit befürworten, was sich als Mindermeinung darstellt. Abgesehen davon wird aber auch wiederum behauptet, dass nach langjähriger Rechtsprechung des BGH, der sich der überwiegende Teil der Literatur auch angeschlossen habe, Tateinheit dann vorliegt, wenn das Mitglied einer kriminellen Vereinigung in Verfolgung ihrer Ziele eine Straftat begeht.73 Welche Behauptung richtig ist oder ob dazwischen echte Meinungsunterschiede bestehen, wollen wir dahingestellt sein lassen. Für die Annahme einer Tateinheit spricht, dass sich das Gründen der kriminellen Vereinigung in einem mitgliedschaftlichen Sich-Beteiligen fortsetzt, und deshalb die an sich selbständigen Delikte unter der Voraussetzung der Klammerwirkung zu einer Idealkonkurrenz verbunden werden können.74 Das bedeutet, dass einerseits eine durch Vereinigungsmitglieder begangene »weitere Straftat«, soweit sie die Ziele der Vereinigung noch verfolgt, einen Dauerdeliktscharakter hat und als Fortsetzung des Gründens der Vereinigung betrachtet werden kann, andererseits können mehrere solche »weitere Straftaten« auch in Tateinheit stehen, soweit die Voraussetzungen der Klammerwirkung erfüllt werden können.75 Neben dem Dauerdeliktscharakter spricht auch der Wortlaut der §§ 129, 129a StGB für die Tateinheit, denn sich »als Mitglied« an einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung zu beteiligen fällt schon unter den Wortlaut dieser zwei Straftatbestände.76 Aber hier wird zunächst 71 ZHANG Mingkai (Fn. 69), S. 1072 Fn. 57. 72 So Roxin, Strafrecht AT B2, 2006, Rn. § 33/100. 73 So MükoStGB/Schäfer, 3. Aufl. 2017, StGB § 129 Rn. 141f.; ähnlich Lackner/Kühl/Heger, 28. Aufl. 2014 StGB § 129 Rn. 13. 74 Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, 29. Aufl. 2014, StGB § 129 Rn. 27. 75 Vgl. MükoStGB/Schäfer (Fn. 73), Rn. 141. 76 Roxin (Fn. 72), Rn. § 33/100.
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von einer ungesagten Prämisse ausgegangen, wonach es ein und dieselbe Sache sei, das »andere Delikt« zu begehen und sich als Mitglied an einer kriminellen Vereinigung zu beteiligen; der Unrechts- und Schuldgehalt des ersteren und derjenige des letzteren sei ebenfalls gleichzustellen, sonst wäre die Feststellung, dass der Wortlaut der §§ 129, 129a StGB die Handlung einschließe, sich an einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung zu beteiligen, überhaupt irrelevant. Die Prämisse wird oft dadurch implizit befürwortet, dass man hier die der Tatmehrheit noch überlassene Möglichkeit darauf einschränken möchte, dass die Beteiligung nicht zugleich unter eine der Tatbestandsvarianten falle, so stehe das Gründen einer kriminellen Vereinigung in Tatmehrheit mit einer späteren Straftatbeteiligung, wenn diese nicht zugleich eine mitgliedschaftliche Beteiligung sei.77 Darüber hinaus wird manchmal die Tateinheit auch akzeptiert, soweit eine »weitere Straftat« noch als beispielsweise »Unterstützung« im Sinne von § 129 Abs. 1 StGB verstanden werden könne, ungeachtet derer sich die Gründung in einer Mitgliedschaft in diesem Fall nicht fortsetze.78 Das alles besagt, dass die Möglichkeit der Tatmehrheit nur besteht, wenn eine »weitere Straftat« nicht unter Tatbestandswortlaut von § 129 Abs. 1 StGB fallen kann. Der sprachliche Spielraum ist hier relativ groß, denn die Handlungen, die, von der Perspektive der Tatmodalitäten aus betrachtet, sehr unterschiedlich sind, scheinen vom Blickwinkel des § 129 Abs. 1 StGB ganz einheitlich zu sein, weil all diese verschiedenen Arten von Handlungen unter demselben normativen Dach, sei es Unterstützung oder Beteiligung usw., subsumiert werden können. Auch nach neueren Meinungen soll eine solch pauschale Handlungsbeschreibung der »Summe der Beteiligungsakte eines Mitglieds« vorbehaltlos gelten, falls der Gesetzgeber sie im Tatbestand niedergeschlagen hat.79 Das kann dann zur Folge haben, dass die Möglichkeit der Tatmehrheit zwar existiert, aber nur noch eine Randfigur spielt. Vereinfacht lässt sich diese Linie der Argumentation wie folgt darstellen: Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmefällen muss eine »weitere Straftat« im Normalfall zunächst in § 129 StGB integriert werden, infolgedessen scheint sie gegenüber dem § 129 StGB-Delikt untergeordnet zu sein. Für die Tatmehrheit spricht jedoch, dass die »weitere Straftat« eine Selbständigkeit gegenüber der Bildung (bzw. Unterstützung usw.) krimineller Vereinigungen aufweist und daher nicht untergeordnet sein sollte, denn der Unrechts- und Schuldgehalt der ersteren ist anders zu beurteilen als der der letzteren.80 In diesem Sinne gilt § 129 StGB als »bloßes Gefährdungsdelikt«,81 mit dem die mit einer kriminellen Vereinigung verbundene vereinigungsspezifische 77 78 79 80 81
SK-StGB/Rudolphi/Stein, 2005, StGB § 129 Rn. 34. Grünwald, FS-Bockelmann, 737, 742. Vgl. van Lessen, NStZ 2016, 446, 447. NK-StGB/Heribert Ostendorf, 5. Aufl. 2017, StGB § 129 Rn. 32. Heribert Ostendorf (Fn. 80), Rn. 32.
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Gefährdung gewichtiger Rechtsgüter erfasst wird.82 Entlang dieses Gedankengangs sollte die »weitere Straftat« mit dem Delikt des § 129 StGB in Tatmehrheit stehen, da es sich bei dem ersteren normalerweise um ein Verletzungsdelikt handelt. Die jüngere Rechtsprechung in Deutschland83 stellt sich demgegenüber auf einen kompromissartigen Standpunkt, wonach die »weiteren Straftaten« untereinander in Tatmehrheit, gegenüber § 129 StGB aber jeweils in Tateinheit stehen.84 Auf jeden Fall ist klar, dass eine »pauschale« Tatmehrheitsbestimmung sehr problematisch zu sein scheint. Bei vorschneller Anwendung einer solchen pauschalen Bestimmung werden viele detaillierte Probleme übersehen. 3. Aus den Streitkonstellationen in Deutschland um die Konkurrenzfragen von §§ 129, 129a StGB erhellt sich die Frage, warum es auch für das chinesische Strafrecht kein gangbarer Weg sein kann, alle möglichen »weiteren Straftaten« mit dem allgemeinen O.K.-Delikt einfach in Tatmehrheit stehen zu lassen. Die Argumente, die nach denen deren Vertreter in Deutschland eine Tatmehrheit befürworten, sind in China noch weniger haltbar. Wenn etwa behauptet wird, dass die (selbständige) abstrakte Gefährdung der Überindividualrechtsgüter im Hinblick auf § 294 Abs. 1 cStG nur in Gründung und Anführung der kriminellen Gruppe verkörpert werden können, nicht aber in der (bloßen) Beteiligung,85 dann ist dies unbefriedigend, denn es bedeutet letztendlich, dass auch für den Fall, wo die Tatmehrheit wegen der Selbständigkeit der »weiteren Straftaten« vorliegen könnte, hier das »Sich-Beteiligen« ausgeschlossen wäre, denn die Gründung bzw. Anführung einer kriminellen Gruppe an sich stelle zwar schon eine (abstrakte) Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar, aber die bloße Beteiligung an dieser Gruppe könne nicht schon eine solche Gefährdung mit sich bringen. Als Konsequenz wird dann angenommen, es bleibe für die bloße Beteiligung nur die Möglichkeit der Tateinheit.86 Der § 294 Abs. 4 cStG, der als eine pauschale Tatmehrheitsbestimmung nicht problemlos zu funktionieren vermag, gilt zugleich sowohl für das allgemeine O.K.-Delikt als auch für die Inschutznahme der O.K. Genauer gesagt: Deckt ein korrupter Richter durch die Rechtsbeugung die im Rahmen der mafiaartigen kriminellen Gruppe begangenen Straftaten, was ihn selbst zum »Schutzschirm« der mafiaartigen kriminellen Gruppe macht, fällt seine Handlung, wie oben 82 83 84 85
Sinn (Fn. 9), S. 27. BGH 60, 308 = NJW 16, 657. Fischer-StGB, 64 Aufl. 2017, StGB § 129 Rn. 51. CHEN Hongbing (陈红兵), Verständnis und Anwendung von »Idealkonkurrenzen« im 9. Strafrechtsänderungsgesetz – erneute Parteinahme für die »große Konkurrenzlehre« (《刑 法修正案(九)》中»同时构成其他犯罪«相关条款的理解适用—— »大竟合论«立场再 提倡), Political Science and Law (政治与法律), 2016 vol. 2, S. 17, 27. 86 Vgl. CHEN Hongbing (Fn. 70), S. 92f.
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erwähnt, ebenfalls zugleich unter zwei Tatbestände: Inschutznahme der O.K. (§ 294 Abs. 3 cStG) auf der einen Seite und Rechtsbeugung (§ 399 Abs. 1 cStG) auf der anderen Seite. Der gesetzlich bestimmten Tatmehrheitsbestimmung (§ 294 Abs. 4 cStG) zu Folge sollte in diesem Fall anscheinend auch eine Tatmehrheit vorliegen. Die obige Analyse hat aber gezeigt, dass diese Bestimmung problematisch und kontrovers ist. Die Möglichkeit der Tatmehrheit sollte darauf eingeschränkt werden, dass das O.K.-Delikt, sei es das allgemeine O.K.-Delikt oder die Inschutznahme der O.K., tatsächlich einen spezifisch anderen Unrechts- bzw. Schuldgehalt beinhaltet als lediglich den der »weiteren Straftaten«. Ob bei der Inschutznahme der O.K. jedoch auch eine solche Möglichkeit bestehet, ist fragwürdig. Anders als bei dem allgemeinen O.K.-Delikt, wo man noch eingehend unter Gründung, Anführung und (bloßer) Beteiligung unterscheidet und daher wohl behaupten könnte, dass der Unrechts- bzw. Schuldgehalt der ersten zwei Alternativen einen anderen (d. h. abstrakte Gefährdung der öffentlichen Ordnung) darstellt als derjenige der letzten (d. h. keine selbständige abstrakte Gefährdung der öffentlichen Ordnung, sondern Verletzung konkreter individueller Rechtsgüter), gibt es bei der Inschutznahme der O.K. zwei Handlungsalternativen, nämlich »decken« und »stillschweigend freie Hand lassen«, die nicht nur untereinander gleichen Unrechts- bzw. Schuldgehalt besitzen, sondern die auch denselben Unrechts- bzw. Schuldgehalt besitzen, denn nach chinesischer Auffassung wird sowohl »eine weitere Straftat« wie auch die Rechtsbeugung als (konkretes) Gefährdungsdelikt verstanden.87 Im Fall des »Schutzschirms«, bei dem sowohl das O.K.-Delikt (§ 294 Abs. 3 cStG) als auch die »weitere Straftat« (etwa Rechtsbeugung, § 399 Abs. 1 cStG) ein Gefährdungsdelikt sind, verhindert daher die wesentliche Ähnlichkeit der geschätzten Rechtsgüter die Möglichkeit der Konstruktion einer Tatmehrheit. Diese Einordnung entspricht der jüngeren chinesischen Rechtsprechung. In einer empirischen Untersuchung von 2015 wurden insgesamt 31 Fälle eines »Schutzschirms« der mafiaartigen kriminellen Gruppe untersucht,88 in denen die Täter »Justizbeamte« waren, die nach chinesischem Verständnis nicht nur Richter und Staatsanwälte, sondern auch Polizeibeamte einschließen. In 29 Fällen wurden die Täter wegen Inschutznahme der O.K. (§ 294 Abs. 3 cStG) verurteilt, während die Täter in nur 2 Fällen wegen Rechtsbeugung (§ 399 Abs. 1 cStG) verurteilt wurden.89
87 LI Hong (Fn. 14), S. 554. 88 LUO Duo (骆多), Rechtstatsachenforschung in Probleme bei der Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit von »Schutzschirmen« bei mafiaartigem organisiertem Verbrechen (黑社会 性质组织犯罪»保护伞«定罪疑难问题实证研究——以全国46起涉黑案件为样本), Journal of Chongqing University of Technology (Social Science) (重庆理工大学学报), 2015 vol. 29–2, S. 77ff. 89 LUO Duo (Fn. 88), S. 78.
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Die sogenannte »Tatmehrheitsbestimmung« kam in diesen Fällen also fast gar nicht zur Anwendung. Neben den oben erwähnten Gründen könnte noch ein Gesichtspunkt diesen Befund erklären, nämlich der Wortlaut der »Tatmehrheitsbestimmung« (§ 294 Abs. 4 cStG) bzw. seine Interpretation. Danach wird ausdrücklich verlangt, dass »noch weitere« strafbare Handlungen vorgenommen werden müssen. Im Fall des Schutzschirms finden sich aber keine wirklichen »weiteren« Handlungen außerhalb des »Deckens« oder »Freihandlassens«, da das Decken bzw. Freihandlassen an sich bereits eine Dienstpflichtverletzung darstellt, die wiederum als Rechtsbeugung bewertet werden kann. Zusammenfassend ist die Anwendung der »Tatmehrheitsbestimmung« (§ 294 Abs. 4 cStG) nicht bedenkenlos. Schon im Fall des allgemeinen O.K.-Delikts erweist sie sich als eine dogmatisch problematische Vorschrift. Im Fall des Schutzschirms, kann selbst bei Anwendung der Klausel zur »Tatmehrheitsbestimmung« hieraus meist nicht gefolgert werden, dass Inschutznahme der O.K. und Rechtsbeugung (u. a.) in Tatmehrheit stehen.
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Pierre Hauck*
Organisierte Staatenkriminalität
I.
Einführung und Begriffsbestimmungen
Organisierte Kriminalität, also die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten,1 ist keine Kriminalitätsbeschreibung, die ausschließlich für privat handelnde Tätergruppen reserviert ist. Auch Repräsentanten und Funktionsträger des Staates verhalten sich mitunter in derart sozial abweichender und strafwürdiger Weise. Angesprochen ist damit der Bereich der organisierten Regierungs- und Staatenkriminalität, der die Kriminologie, Soziologie und Politikwissenschaft schon seit einiger Zeit intensiv beschäftigt:2 Staatsgewalt dient idealerweise zwar der Verfolgung und Verhinderung von Organisierter Kriminalität. Doch Staaten und die Organisierte Kriminalität haben auch viel gemeinsam: Sie verfügen über ähnliche Macht- und Herrschaftsstrukturen, wenden Zwangsmittel an und betreiben Wirtschaftsunter-
* Prof. Dr. Pierre Hauck LL.M. (Sussex), Universität Gießen 1 »unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder unter Einflussnahme auf Politik, Massenmedien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft«; vgl. Gemeinsame Richtlinien der Justizminister/-senatoren und der Innenminister/-senatoren der Länder über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität, in: Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Anhang E Nr. 2.1. Stand: 2008. 2 Vgl. statt vieler Kramer/Michalowski/Kauzlarich, ›The Origins and Development of the Concept and Theory of State-Corporate Crime‹ (2002) 48 Crime & Delinquency 263; Lupsha, ›Transnational Organized Crime versus the Nation-State‹ (1996) 2 Transnational Organized Crime 21; Veng Mei Leong, The Disruption of International Organised Crime: An Analysis of Legal and Non-Legal Solutions (Routledge, 2016), 12; Tilly, ›War Making and State Making as Organized Crime‹ in Peter Evans, Dietrich Rueschemeyer & Theda Skocpol (eds.), Bringing the State Back In (Cambridge: Cambridge University Press, 1985) 169; Karstedt, From crimes of the powerful to the crimes of power, MschrKrim 2007, 78ff.; dies. Staatskriminalität, MschrKrim 2013, 222ff.
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nehmen.3 Es verwundert daher nicht, dass Repräsentanten und Funktionsträger eines Staates gelegentlich »die Seiten wechseln« und eine symbiotische Beziehung zur Organisierten Kriminalität eingehen. Doch auch der Staat selbst bietet strukturell alles auf, was es braucht, um von einer organisierten Form der Straftatbegehung sprechen zu können. Freilich vorausgesetzt, es kommt zu einem aktiven Tatbeitrag eines Amtsträgers im Rahmen seiner Dienstausübung zu kriminellen Zwecken.4 In meinem Vortrag möchte ich beide Bereiche, die individuelle Strafbarkeit der staatlichen Funktionsträger als natürliche Personen (Repräsentantenkriminalität) sowie die kollektive Ebene der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der jeweiligen Staaten für das strafbare Verhalten ihrer Amtsträger und Repräsentanten (Staatenkriminalität), anhand ausgewählter Beispiele beleuchten und die jeweiligen Zurechnungsmuster einander gegenüberstellen. In Abgrenzung zur »gewöhnlichen Staatskriminalität« sollen dabei nur solche Verbrechen eine Rolle spielen, die durch Planmäßigkeit und staatliche Organisiertheit zugleich gekennzeichnet sind. Wir unterscheiden dabei drei große Bereiche: Das rechtswidrige Staatshandeln auf der Grundlage eines nach nationalem und internationalem Maßstab rechtmäßigen Gesetzesrechts, das Staatshandeln aufgrund nach diesem Maßstab rechtswidrigen Gesetzesrechts und schließlich das Staatshandeln ganz ohne eine entsprechende Basis im Gesetzesrecht.
II.
Staatshandeln aufgrund rechtmäßigen Gesetzesrechts
Zunächst beschäftigen uns Fälle, in denen sich die Staatsgewalt zwar auf nach nationalen wie internationalen Standards rechtmäßiges Gesetzesrecht stützt, jedoch durch eine rechtswidrige Auslegung des eigentlich einwandfreien Gesetzes durch die Judikative Strafbarkeit begründen kann. Ebenso kann im Ausnahmefall auch eine rechtmäßige Rechtsanwendung durch die Exekutive strafbares Verhalten begründen.
3 Decoeur, Confronting the Shadow State. An International Law Perspective on State Organised Crime, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2578500, 2017, S. 10f. 4 Decoeur, aaO., S. 11.
Organisierte Staatenkriminalität
1.
Rechtswidrige Auslegung
1)
»Klassenjustiz« in der Weimarer Republik
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Ein klassisches historisches Beispiel für die systematische rechtswidrige Auslegung rechtmäßigen Gesetzesrechts liefert uns etwa die sog. deutsche Klassenjustiz zur Zeit der Weimarer Republik. Der Justiz der Weimarer Republik wird angelastet, »auf dem rechten Auge blind« gewesen zu sein, d. h. Taten rechtsextremer Straftäter milde, diejenigen der Linksextremen jedoch mit der vollen Härte des Gesetzes verfolgt zu haben:5 Am 13. März 1920 brachte der sog. Kapp-Putsch, ein nach 100 Stunden gescheiterter konterrevolutionärer Putschversuch gegen die nach der Novemberrevolution geschaffene Weimarer Republik, das republikanische Deutsche Reich an den Rand eines Bürgerkrieges und zwang die sozialdemokratischen Mitglieder der Reichsregierung zur Flucht aus Berlin. Die meisten Putschisten waren aktive Reichswehrangehörige oder ehemalige Angehörige der alten Armee und Marine, insbesondere der Marinebrigade Ehrhardt, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in reaktionären Freikorps organisierten, sowie Mitglieder der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Die Strafgerichte der Weimarer Republik ließen bei der Verfolgung unrechtmäßiger Erschießungen durch die rebellierenden Kapp-Truppen große Milde walten. Trotz der Widerrechtlichkeit und Ungesetzlichkeit der Anordnungen ihrer auf Hochverrat beruhenden »vorgesetzten Dienststellen« billigte z. B. ein Schweriner Gericht den angeklagten Offizieren guten Glauben zu. Völlig anders entschied dagegen das Reichsversorgungsgericht, das der Witwe eines Arbeiters, der in den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen rebellierenden Reichswehrtruppen und streikenden Arbeitern in Kiel ums Leben gekommen war, eine Rente verweigerte. Der Arbeiter sei an seinem Tode selbst schuld. Ein Verschulden wäre nur zu verneinen, wenn die damals in Kiel kämpfende Zivilbevölkerung tatsächlich von der Regierung zum Kampf aufgefordert worden wäre. Der Aufruf zu Generalstreik und Widerstand sei jedoch nicht von der Reichsregierung, sondern nur von den sozialdemokratischen Mitgliedern der Reichsregierung ergangen, darum könne allenfalls gefragt werden, ob der Getötete in dem guten Glauben handelte, einen Befehl der Reichsregierung auszuführen.6 Die Widersprüchlichkeit dieser beiden Urteile ist offenkundig. Sie wird jedoch in einer beamtenmäßigen obrigkeitlichen Mentalität aufgehoben, deren Prämisse immer ist, dass für Ruhe und Ordnung von oben her zu sorgen ist und dass eine quasi von unten kommende Verteidigung der Verfassung als nicht legiti5 Vgl. zum Folgenden https://de.wikipedia.org/wiki/Kapp-Putsch. 6 Jasper, Justiz und Politik in der Weimarer Republik, 30 (2) Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1982, 167 (172f.), auch zum Folgenden.
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miert zu gelten hat und unter erhöhte Beweisanforderungen gestellt wird, während der im obrigkeitlichen Instanzenzug handelnde Mitläufer auch einer hochverräterischen Unrechtsregierung den Schein der Legalität zunächst einmal für sich hat und dessen Schutz beanspruchen darf. Die Milde bei der strafrechtlichen Bewältigung des Kapp-Putsches stand in denkbar scharfem Gegensatz zu der rigorosen Bestrafung der Aufständischen in der Münchner Räterepublik und korrespondierte überdies mit der Nichtverfolgung der politischen Morde an linken Politikern. Schon 1921 hatte Emil Julius Gumbel durch eine aufsehenerregende Broschüre7 diese unterschiedliche Behandlung der politischen Morde namhaft gemacht und die Einseitigkeiten bei der juristischen und disziplinarischen Liquidierung des Kapp-Putsches im Vergleich zu den kommunistischen Aufstandsversuchen belegt. Gumbel zählt insgesamt 15 von links begangene Morde, die mit acht Hinrichtungen und im Durchschnitt 14 Jahren Einsperrung geahndet wurden, während auf 314 Morde von rechts nur durchschnittlich zwei Monate Einsperrung entfielen, weil rund 90 % dieser Morde ungesühnt blieben und nur 22 einer teilweisen Strafe zugeführt wurden. Die Erhebungen des Heidelberger Privatdozenten für Statistik wurden durch eine Denkschrift8 des Reichsjustizministeriums unter Gustav Radbruch bestätigt. Bezeichnenderweise konnte diese Denkschrift nicht von Reichs wegen veröffentlicht werden, weil angeblich kein Geld zur Verfügung stand. Gumbel selbst publizierte sie 1924 auf eigene Kosten.9 Man hat die tatsächlichen Feststellungen dieser Urteile nicht grundlos als »obrigkeitliches Angst- und Phantasieprodukt«10 bezeichnet. Der Grund für diese Ungleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte war, dass die Beamten- und Richterschaft nach dem Ende des Kaiserreichs nicht entlassen wurde, sondern in ihren Ämtern verblieb. Die Richter standen in der Mehrheit konservativen politischen Positionen nahe. So sprachen in der Weimarer Republik Richter Recht, die vorher noch Sozialdemokraten bekämpft hatten. Ohne dass man in diesem Beispiel eine echte »politische Justiz« oder eine auch nur »politisierte Justiz« erkennen müsste, schafft die Weimarer Strafjustiz somit schon in ihrer »allgemeinen politischen Funktion«11 gleichheitsrechtswidriges Unrecht. Für eine individuelle Verantwortlichkeit der beteiligten Richter taugt das durchaus als Basis, um etwa über Strafbarkeiten wegen Rechtsbeugung, Freiheitsberaubung oder Strafvereitelung im Amt zumindest nachzudenken.
7 Gumbel, Zwei Jahre Mord, Berlin 1921. 8 Gumbel (Hrsg.), Die Denkschrift des Reichsjustizministers über »Vier Jahre politischer Mord«, Berlin 1924. 9 Jasper, aaO. 10 Liepmann Kommunistenprozesse: ein Rechtsgutachten, 1928, S. 63. 11 Zu diesen drei Grundbegriffen Jasper aaO., 170.
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Terrorpropaganda als Tatvorwurf gegen türkische Journalisten
Aber auch aktuell mögen die türkischen Gesetze zur Strafbarkeit der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation, der Terrorpropaganda und des Datenmissbrauchs zwar durchaus rechtmäßig sein. Auf dieser Grundlage jedoch Deniz Yücel vor dem Hintergrund der international anerkannten Pressefreiheit monatelang in Haft zu lassen,12 erscheint mehr als fragwürdig. Denn der Vorwurf gegen Yücel wird allein mit seiner journalistischen Tätigkeit begründet. Er hat zwei Zeitungsartikel13 über die türkischen Ermittlungen gegen das linksgerichtete und in der Türkei als Terrororganisation geltende Hacker-Kollektiv RedHack verfasst. RedHack hatte sich Zugang zu den E-Mails von Berat Albayrak, Energieminister und Schwiegersohn des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdog˘an, verschafft. Die Mails wurden oppositionellen türkischen Medien zugespielt, von WikiLeaks indiziert und am 5. Dezember 2016 in einer durchsuchbaren Datenbank veröffentlicht. Auch Art. 28 der türkischen Verfassung gewährleistet die Freiheit der Presse. Der gleich darauffolgende qualifizierte Gesetzesvorbehalt schränkt diese Garantie in Gestalt einer Strafbarkeit von staatsgefährdender Pressearbeit ein. Doch das reicht noch lange nicht, um aus einer journalistischen Linie eine Straftat zu konstruieren: Aus dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt darf nicht geschlossen werden, dass der Geltungsanspruch der Pressefreiheit schon von vornherein auf den Bereich beschränkt wäre, den ihm die einfachen Gerichte nach Auslegung und Anwendung der allgemeinen Gesetze belassen. Angesichts der Bedeutung der Pressefreiheit unterliegt das Strafgesetz vielmehr seinerseits dem Gebot einschränkender Auslegung: Es ist aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat auszulegen und so in seiner das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder einzuschränken.14 Der besondere Wertgehalt des Grundrechts, nämlich die grundsätzliche Vermutung für die Freiheit der Presse im öffentlichen Leben, muss gewahrt bleiben. Wer dieses Gebot der Rechtsanwendung missachtet, begründet staatliches Unrecht. 3)
Völkerrechtliche Einordnung in Grundzügen
Dass solches Handeln eine individuelle Strafbarkeit der Amtsträger begründen kann, sagt aber noch wenig über die völkerrechtliche Relevanz solchen Staatshandelns aus. 12 Vgl. http://www.tagesschau.de/ausland/deniz-yuecel-polizeigewahrsam-tuerkei-101.html. 13 https://www.welt.de/print/die_welt/politik/article158632936/20-Gigabyte-E-Mails-die-Erdo gan-in-Bedraengnis-bringen-koennen.html. 14 BVerfGE 7, 198 (209).
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Eine Völkerrechtswidrigkeit kann sich trotz der vorhandenen Basis des rechtmäßigen Gesetzesrechts ergeben, wenn gleichwohl ein sog. völkerrechtliches Delikt (internationally wrongful act) vorliegt. Hier gelten allgemein die Regeln der Staatenverantwortlichkeit, wie sie in den ILC-Draft Articles on the Responsibility of States niedergelegt und größtenteils völkergewohnheitsrechtlich anerkannt sind. Maßgeblich ist also ein Staatshandeln, das völkerrechtliche Pflichten verletzt. Eine solche internationale Staatshaftung folgt aber grundsätzlich ganz anderen Zurechnungsmustern als eine individuelle Strafbarkeit: Der Verantwortungsmaßstab ist das Völkerrecht, nicht das Strafgesetz, die Rechtfertigungsgründe adressieren ein Völkerrechtssubjekt und ein Schuldprinzip ist weitgehend unbekannt. Insofern ist staatliches Unrecht bei der Ungleichbehandlung von Beschuldigten in einem nationalen Strafverfahren völkerrechtlich grundsätzlich ohne Belang. Denn ein Staat bleibt auch im Unrecht grundsätzlich souverän. Allerdings wurde von der ILC zwischen 1976 und 1996 zwischen zwei Kategorien von Verbrechen unterschieden: der schwereren Form des international crime und der weniger schwerwiegenden des international delict. Ein international crime wurde bei einer Verletzung des Völkerrechts angenommen, die als besonders schwerwiegende Missachtung der Völkerrechtsordnung zu werten ist (»essential for the protection of fundamental interests of the international community«) und die viel weitreichendere strafende Folgen hatte als ein einfaches Delikt. Hierzu gehören u. a. die Verletzung des Gewaltverbots sowie die Verletzung fundamentaler Normen des Menschenrechtsschutzes. So wird z. B. im Bereich des Menschenrechtsschutzes oftmals von einem »consistent pattern of gross violations of human rights« gesprochen. Hiermit wird letztlich organisierte Staatenkriminalität angesprochen, denn es geht hier nicht um »gewöhnliche Menschenrechtsverletzungen«.15 An diesem Maßstab gemessen zeigen sich nur solche unrechtmäßigen Justizakte, die eine individuelle Strafbarkeit der Verantwortlichen begründet haben, als in diesem Maße völkerrechtswidrig, wenn sie – wie im Fall der Weimarer Klassenjustiz – etwa in Gestalt von Todesurteilen das Menschenrecht auf Leben unwiederbringlich verletzt haben.
15 Vgl. Geneva Academy of International Humanitarian Law and Human Rights, What amounts to ›a serious violation of international human rights law‹? An analysis of practice and expert opinion for the purpose of the 2013 Arms Trade Treaty, August 2014, S. 9ff.
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Rechtmäßige Auslegung
In diesen ersten beiden Fällen aus der deutschen Geschichte und dem aktuellen türkischen Zeitgeschehen handelt der Staat durch seine Repräsentanten jeweils rechtswidrig, obwohl das anzuwendende Gesetz selbst rechtmäßig ist. Strafrechtlich relevantes Verhalten kommt aber auch dann in Betracht, selbst wenn das Handeln der Exekutive und Judikative nach außen den Schein der Rechtmäßigkeit wahrt. Hierher gehört das, was man einen Unrechtsstaat nennt: Hierzu ein Zitat von Golo Mann aus seiner »Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts«: »Die nackte Alleinherrschaft von Gangstern hätten die Deutschen sich 1933 nicht gefallen lassen, hätte der feine Organismus ihrer zusammengedrängten Existenz nicht ausgehalten. Hier musste das Anomale, Ungesetzliche sich hinter dem Normalen, Gesetzlichen verbergen, sonst hätte die Bürokratie nicht mitgemacht, ohne die Deutschland nicht leben konnte. Der Prozess um den Reichstagsbrand war ein merkwürdiges Beispiel dafür. Er war kein betrügerischer Schauprozess nach russischer Art. Die Richter, welche ihn führten, waren Männer vom alten Schlage, biedere Juristen aus der Kaiserzeit. Die Verbrecher, in richtiger Einschätzung und Verachtung dieses Typs, hielten es nicht für klug, sie einzuweihen; die guten Herren würden sie und sich selber schon irgendwie aus der Affäre ziehen. Was die Herren Reichsgerichtsräte denn auch taten. Sie weigerten sich, die angeklagten Kommunisten schuldig zu sprechen, weil sie offenbar nicht schuldig waren. Sie weigerten sich ebenso, den wahren Sachverhalt zu erkennen, den sie natürlich ahnten, und bewegten sich behutsam, damit der schöne Schein des Rechtsstaates, dem sie dienten, nicht plötzlich und furchtbar zerstört würde. Das Resultat war ein vorsichtig formuliertes Nichts. Man hatte die Täter, welche man gar nicht gesucht hatte, nicht gefunden; gottlob, so hieß es, seien es anscheinend keine Deutschen gewesen… Dies Versteckspielen zwischen Recht und Unrecht, dies Weitermachen des Normalen, Gesetzlichen unter dem Dach des Verbrechens hat die ganze Epoche charakterisiert.«16
Das Problem des Unrechtsstaats, wie ihn Mann hier beschreibt, liegt tiefer. Es geht um die Frage, warum etwa die Zeitgenossen des Nationalsozialismus so ohne weiteres bereit waren, den – offenbar nur aus Sicht der Nachgeborenen – so augenfälligen Widerspruch zwischen dem Unrechtsstaat und den fortbestehenden legalistischen Strukturen der Weimarer Rechtsstaatshülle einfach nicht zu sehen oder direkt zu verleugnen. Die Antwort, die Golo Mann hierauf gibt, hat es in sich: Es war gerade nicht das Offenbaren, sondern vielmehr das Nichtoffenbaren des Unrechts, das den Unrechtsstaat möglich machte. Gerade das Ver-
16 Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt 1969 (erw. Sonderausg.), S. 840f.
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stecken des Unrechts hinter der Fassade und in den Formen des Rechtsstaats ermöglichte den Staatsterror in seiner totalen Form.17
III.
Staatshandeln aufgrund rechtswidrigen Gesetzesrechts
Die zweite große Kategorie ist geprägt von der Existenz nationalen Gesetzesrechts, das internationalen Rechtsstandards gerade nicht entspricht. Derart menschen- und völkerrechtswidriges nationales Recht wirft die Frage auf, wie der Konflikt zwischen positivem Recht und abweichenden internationalen Rechtsstandards aufzulösen ist. Auch hierzu wieder zwei Beispiele:
1.
Reichstagsbrand 193318
Die sozialdemokratische Zeitung »Vorwärts« berichtete am 28. Februar 1933 vom Vortag, dass in den Abendstunden ein Riesenfeuer den Himmel über der Hauptstadt rötete und dass die Kuppel des Reichstages in hellen Flammen gestanden habe. Feuerwehr und Polizei hätten übereinstimmend als Ursache Brandstiftung genannt, da an verschiedenen Stellen Brandnester gefunden worden waren. Kurz nach 21 Uhr sei im Reichstag Feueralarm gegeben worden. Zunächst wurde ein Feuer im Restaurant gemeldet. Dort konnten die Flammen rasch erstickt werden. Aber kurz danach wurden mehrere weitere Brandherde entdeckt. In kurzer Zeit brannte der Sitzungssaal des Gebäudes lichterloh. Die Feuerwehr war inzwischen mit 15 Löschzügen vor Ort. Diese nahmen den Kampf gegen den Brand mit zahlreichen Spritzen von verschiedenen Seiten auf. Allerdings war es anfangs wegen der Hitze unmöglich, an das Zentrum des Brandes heranzukommen. Daher beschränkte sich die Feuerwehr darauf, ein Ausbreiten der Flammen zu verhindern. Erst gegen 0:25 Uhr hatte sie das Feuer weitgehend gelöscht. Im Laufe der Zeit sammelten sich mehrere tausend Schaulustige an. Mehrere Hundertschaften der Schutzpolizei führten Absperrungen durch, da man annahm, unter den Zuschauern Komplizen ausfindig zu machen. Das Blatt berichtete weiter, dass im Polizeipräsidium eine Sonderkommission gebildet worden sei. Diese habe eine Vernehmung des festgenommenen geständigen Täters Marinus van der Lubbe durchgeführt. Dieser sei 24 Jahre alt, von Beruf Maurer und stamme aus dem niederländischen Leiden. Er blieb auch bei der ersten Vernehmung dabei, allein gehandelt zu haben. Der »Vorwärts« war 17 Auer, Warum der Begriff der Rechtsgeltung nicht zur Bewältigung staatlichen Unrechts taugt, Rechtswissenschaft 2017, 45, 45f. 18 Vgl. Zum Folgenden https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagsbrand.
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allerdings der Meinung, dass der Täter gute Ortskenntnisse gehabt haben müsse, und schloss indirekt eine Mittäterschaft der Kommunisten nicht aus. Der Chef der preußischen politischen Polizei, Rudolf Diels, der unmittelbar nach der Meldung an den Tatort geeilt war, berichtete im Rückblick über die Umstände der Festnahme und des Geständnisses van der Lubbes. Wenig später trafen auch Adolf Hitler, Joseph Goebbels, Hermann Göring, Wilhelm Frick sowie wahrscheinlich Wolf-Heinrich Graf von Helldorf ein. Göring äußerte am Tatort: »Das ist der Beginn des kommunistischen Aufstandes, sie werden jetzt losschlagen! Es darf keine Minute versäumt werden!«
Adolf Hitler fand nach diesem Bericht noch schärfere Formulierungen: »Es gibt jetzt kein Erbarmen; wer sich uns in den Weg stellt, wird niedergemacht. Das deutsche Volk wird für Milde kein Verständnis haben. Jeder kommunistische Funktionär wird erschossen, wo er angetroffen wird. Die kommunistischen Abgeordneten müssen noch in dieser Nacht aufgehängt werden. Alles ist festzusetzen, was mit den Kommunisten im Bunde steht. Auch gegen Sozialdemokraten und Reichsbanner gibt es jetzt keine Schonung mehr.«
Entsprechend sahen dann auch die juristischen Reaktionen aus: Die Nazis erwirkten zunächst den Erlass einer Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. 02. 1933, in der die Todesstrafe für die Brandstiftung eingeführt wurde.19 Den Gipfel der Rechtsstaatswidrigkeit aber bildete dann das als »Lex van der Lubbe« bekannt gewordene Reichsgesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe vom 29. 03. 1933.20 Darin wurde der Geltungszeitraum der Todesstrafänderung rückwirkend auf die Zeit zwischen 31. Januar und 28. Februar 1933 erstreckt und so der Verstoß gegen das Verbot nullum crimen sine lege praevia regelrecht zementiert. Angesichts solcher Umstände entwickelte Gustav Radbruch 1946 seine berühmte Formel, wonach der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dahin zu lösen sein dürfte, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als »unrichtiges Recht« der Gerechtigkeit zu weichen hat. Wo Gerechtigkeit jedoch nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, 19 § 5: Mit dem Tode sind die Verbrechen zu bestrafen, die das Strafgesetzbuch in den §§ 81 (Hochverrat), 229 (Giftbeibringung), 307 (Brandstiftung), 311 (Explosion), (…) mit lebenslangem Zuchthaus bedroht. 20 § 1: § 5 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 gilt auch für Taten, die in der Zeit zwischen dem 31. Januar und dem 28. Februar 1933 begangen sind.
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bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur »unrichtiges Recht«, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.21
2.
DDR-Mauerschützen
Der BGH verhalf dieser »Radbruch’schen Formel« dann Jahrzehnte später zu großer praktischer Relevanz bei der Beurteilung der sog. Mauerschützen-Fälle. Beispielhaft sei die erste dieser Entscheidungen hier aufgegriffen: »Die Angeklagten waren als Angehörige der Grenztruppen der DDR – W. als Unteroffizier und Führer eines aus zwei Personen bestehenden Postens, H. als Soldat – an der Berliner Mauer eingesetzt. Dort haben sie am 1. Dezember 1984 um 3.15 Uhr auf den 20 Jahre alten, aus der DDR stammenden S. geschossen, der sich anschickte, die Mauer vom Stadtbezirk Pankow aus in Richtung auf den Bezirk Wedding zu übersteigen. S. wurde, während er auf einer an die Mauer gelehnten Leiter hochstieg, von Geschossen aus den automatischen Infanteriegewehren der Angeklagten getroffen. Ein Geschoss aus der Waffe des Angeklagten W. drang in seinen Rücken ein, als er bereits eine Hand auf die Mauerkrone gelegt hatte; diese Verletzung führte zum Tode. S. wurde auch von einem Geschoss aus der Waffe des Angeklagten H. getroffen, und zwar am Knie; diese Verletzung war für den Tod ohne Bedeutung. Die zeitliche Abfolge der beiden Schussverletzungen ist nicht geklärt. S. wurde erst kurz vor 5.30 Uhr in das Krankenhaus der Volkspolizei eingeliefert, wo er um 6.20 Uhr starb. Er wäre bei unverzüglicher ärztlicher Hilfe gerettet worden. Die Verzögerung war die Folge von Geheimhaltungsund Zuständigkeitsregeln, die den Angeklagten nicht bekannt waren. Die Angeklagten sind nicht bei der Bergung und dem Abtransport des Opfers eingesetzt worden.«22
Vor einer Strafbarkeit wegen Totschlags hätte man die Grenzsoldaten nur durch die Zuerkennung von Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen bewahren können. Größte Relevanz entfaltete hier die gesetzliche und militärische Befehlssituation zum Schusswaffeneinsatz. Zwar sah § 27 II des Grenzgesetzes der DDR einen solchen Einsatz von Feuerwaffen vor, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt. Der »ungesetzliche Grenzübertritt« war auch eine solche Straftat gem. § 213 DDR-StGB. Allerdings musste ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtet bleiben, wenn in ihm ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Ausdruck kommt. In den Worten des BGH muss der Verstoß 21 Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, Sp. 105 (107). 22 BGHSt 39, 1, 2.
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so schwer wiegen, dass er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt. Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit muss so unerträglich sein, dass das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat.23 Dieser Widerspruch zwischen § 27 II Grenzgesetz der DDR und den Menschenrechten, genauer: der Gewährleistung der Freizügigkeit in Art. 12 II IPbpR24, liegt darin, dass die DDR das menschenrechtliche Regel-AusnahmeVerhältnis zwischen Gewährleistung und Einschränkung systematisch auf den Kopf gestellt hatte: Denn den Bewohnern der DDR wurde das Recht auf freie Ausreise nicht nur in Ausnahmefällen, sondern in aller Regel vorenthalten. Auch konnte die durch die restriktiven Pass- und Ausreisevorschriften begründete Lage unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte nicht ohne Beachtung der tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze gewürdigt werden, die durch »Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl« gekennzeichnet waren und damit gegen Art. 6 IPbpR verstießen. Nach dieser Vorschrift hat »jeder Mensch ein angeborenes Recht auf Leben«; »niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden« (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und 3). Auch in der Rechtsprechung anderer Staaten zeichnet sich die Tendenz ab, den mit der Möglichkeit tödlicher Wirkung verbundenen Schusswaffengebrauch von Staatsorganen unter starker Betonung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Fälle einzugrenzen, in denen eine Gefährdung von Leib und Leben anderer zu befürchten ist.25
3.
Völkerrechtliche Einordnung
Die Rechtsgeltungsregel der Radbruchschen Formel dient hier als Vehikel zur Begründung individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit, indem sie einen positivrechtlichen Rechtfertigungsgrund des nationalen Rechts suspendiert und ihm so die Erlaubniswirkung nimmt. Staatliches Unrecht auf der Basis rechtswidrigen Gesetzesrechts kann darüber hinaus auch vom Völkerrecht sanktioniert werden, wenn darin ein Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht liegt (ius cogens), wie es von Art. 53 und 64 der Wiener Konvention anerkannt ist. Gem. Art. 53 WVK »ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen 23 BGHSt 39, 1, 15f. 24 Art. 12 Abs. 2 IPbpR lautet: »Jedermann steht es frei, Jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen«. 25 Vgl. insbesondere US Supreme Court Tennessee v. Garner 471 U.S. 1 (1985).
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werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.« Unstreitig gehören das Allgemeine Gewaltverbot, das Verbot des Völkermordes, des Sklavenhandels, der Rassendiskriminierung und der Folter sowie das Verbot der systematischen und willkürlichen Verfolgung und Verletzung von Leib und Leben zum menschenrechtlichen Mindeststandard des Völkerrechts. Die Versagung des Gesetzlichkeitsprinzips und die rückwirkende Todesstrafe infolge des Reichstagsbrands und die tödlichen Schüsse der Mauerschützen wären insofern als Verstöße gegen den menschenrechtlichen Mindeststandard zu fassen. Auch hier stützt die individuelle Verantwortlichkeit der Staatsrepräsentanten damit das völkerrechtliche Verdikt. Rechtlich folgt aus der Qualifikation einer Norm als ius cogens, dass entgegenstehende Verträge oder Völkergewohnheitsrechtssätze unwirksam sind. Für entgegenstehendes Völkervertragsrecht stellt dies Art. 53 S.1 WVK fest. Sogar Normen des innerstaatlichen Rechts, die ius cogens entgegenstehen, sind aus der Sicht des Völkerrechts unwirksam.26
IV.
Staatshandeln und fehlendes Gesetzesrecht
Zu guter Letzt kann organisierte Staatenkriminalität auch dort existieren, wo keine gesetzliche Vorgabe den Rahmen für staatliches Handeln setzen würde. Angesprochen sind damit unter anderem die Fälle, in denen der jeweilige Staat es versäumt hat, kriminelle Verhaltensweisen gesetzlich zu regeln. Beispielsweise gibt es Länder, die die vier Kernverbrechen des Völkerstrafrechts nicht in nationales Recht umgesetzt haben. Das kann völkerrechtswidrig sein, wenn eine entsprechende Umsetzungspflicht besteht. Eine Verletzung dieser Pflicht nachzuweisen ist aber schwierig, da der Staat grundsätzlich frei darin ist zu entscheiden, wie er seine völkerrechtlichen Pflichten umsetzt (obligation of result). Gerade im Bereich des Völkerstrafrechts ist eine »staatsverstärkte« Organisierte Kriminalität mittelbar anerkannt, insbesondere beim Aggressionstatbestand und bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Denn dort wird gewisser26 Peters, Völkerrecht. Allgemeiner Teil, 4. Aufl, Zürich et al. 2016, S. 86 unter Verweis auf ICTY, Prosecutor v. Furundzija, Urteil v. 10. Dezember 1998, Case IT-95-17/1-T, Rn. 153ff. Ein bekannter Fall, in dem es um die völkergewohnheitsrechtliche Anwendbarkeit von ius cogens Normen vor einem internationalen Spruchkörper ging, war übrigens der Domingues-Fall vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission aus dem Jahr 2002: Dort wurde die US-amerikanische Praxis der Hinrichtung minderjähriger Straftäter als Verstoß gegen ius cogens aufgefasst, vgl. IACHR, Report No. 62/02, Case 12.285, Michael Domingues, United States, October 22, 2002.
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maßen organisierte Staatenkriminalität als Tatbestandsmerkmal vorausgesetzt, aber der Einzelne bestraft.
V.
Folgerungen
Dieser Verschiedenartigkeit in der Erscheinung von organisierter Staatenkriminalität entspricht leider auch eine Bruchstückhaftigkeit und Inkonsistenz der rechtlichen Instrumente zu seiner Eindämmung. Nationale Regeln sprechen oft nicht dieselbe Sprache wie internationale Vorgaben des Völkerrechts. Und selbst diese letztgenannten Vorgaben sind nicht auf das Gesamtphänomen der organisierten Staatenkriminalität zugeschnitten. In der Literatur existiert deshalb heute schon der Vorschlag für eine umfassende internationale Konvention zur Verfolgung organisierter Staatenkriminalität.27 Darin sollen sich Staaten zu einer weitgehenden Kriminalisierung der strafbaren Verhaltensweisen ihrer eigenen Entscheidungsträger verpflichten. Doch was geschieht, wenn der betroffene Staat nicht bereit ist, eine zweckentsprechende Strafverfolgung auf der Grundlage dieser Neuerung oder auf der Grundlage bestehender Gesetze zu betreiben? Dann hört man heute schon den Ruf nach einer supranationalen Instanz28: Der internationale Strafgerichtshof soll es richten. Man kann ihm nur viel Erfolg wünschen.
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27 Decoeur, aaO., S. 131ff. 28 Decoeur, aaO., S. 171ff., 175ff.
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Warkentin, Falco, Damit das Leid der Opfer nicht sinnlos war – Rechtspolitische Forderungen am Ende eines Jahrhunderts der Diktaturen, Recht und Politik 1996, 139ff. Wassermann, Rudolf, Zur Bewertung der strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Unrecht, NJW 2000, 403ff. Werle, Gerhard, Rückwirkungsverbot und Staatskriminalität, NJW 2001, 3001ff. Wicker, Christian, The concepts of proportionality and state crimes in international law: an analysis of the scope of proportionality in the right of self-defence and in the regime of international countermeasures and an evaluation of the concept of state crimes, 2006. Wilms Heiner / Ziemske, Burkhardt, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, ZRP 1994, 170ff. Ziegler, Rebecca, Soziale Schicht und Kriminalität, Heidelberg 2008.
YU Liang*
Reflexion der chinesischen Strafgesetzgebung zum Cyber-Terrorismus
I.
Einführung
Im Mai 2017 machte die Ransomware »WannaCry« weltweit von sich reden, mehr als 300.000 Personen in mehr als 150 Staaten waren betroffen. Dieser Vorfall hat die weltweite Aufmerksamkeit ein weiteres Mal auf die Bedrohung durch den Cyber-Terrorismus gezogen. Traditionell ist China kein Land, das unter häufigen terroristischen Angriffen zu leiden hat, dennoch sind die Indikatoren für terroristisch motivierte Verbrechen in den letzten Jahren gestiegen. Insbesondere von der Olympiade 2008 in Beijing (Peking) erhofften sich Terroristen eine Gelegenheit, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zu ziehen. Im Jahr 2008 stieg der Index terroristisch motivierter Gewalttaten, der zuvor lange Zeit bei 2 pro Jahr gelegen hatte, sprunghaft auf 15 im Jahr 2008 an. Der TerrorismusIndex stieg für China ebenfalls von 1,47 in 2007 auf 4,16 in 2008. Seither verblieb der Terrorismus-Index für China auf diesem erhöhten Niveau, er betrug 2016 den Wert 6,108 und lag damit global an 23. Stelle1. Das bedeutet, dass die Bedrohung durch den Terrorismus in China bereits die Werte für Frankreich oder die USA übertrifft, will heißen, China ist kein so sicheres Land mehr. Vor diesem ernsten Hintergrund vollzog sich ein Peak in der chinesischen Anti-Terrorismus Gesetzgebung. Bei der Reform des »Strafprozessgesetz« (刑事诉讼法, StPG) vom 14. 3. 2012 wurde erstmalig ein spezielles Ermittlungsverfahren für terroristische Verbrechen in das Strafverfahrensrecht eingeführt; darin erfasst ist die Zuständigkeit für terroristische Verbrechen (§ 20), Beschränkungen der Kommunikationsrechte zwischen terroristischer Straftaten Verdächtiger und deren Verteidiger (§ 37), besonderer Schutz für Zeugen, Opfer und Sachverständige (§ 62), Auflagen für Hausarrest und Wohnortüberwachung (§§ 73, 83), Anwendung technischer Ermittlungsmethoden (§ 148) und die Einziehung widerrechtlich * Prof. Dr. YU Liang, Dean, Law School, Peking University of Technology and Business, China 1 Chinesischer Terrorismus Index, http://zh.tradingeconomics.com/china/terrorism-index, zuletzt aufgerufen am 14. 2. 2019.
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erlangten Vermögens für den Fall, dass Terrorverdächtige oder des Terrorismus Angeklagte untertauchen oder zu Tode kommen (§ 280). Vorstehende Bestimmungen sind über diverse strafprozessrechtliche Bestimmungen verstreut und wurden nicht als gesonderter Abschnitt für eine besondere Verbrechensgattung zusammengefasst. Es war der Anstieg des Terrorismus-Index im Jahr 2014 auf einen einstweiligen Höchstwert (6,29) der zur Verabschiedung eines normativen Dokuments führte, was endlich eigens den Anti-Terrorismus adressierte. Am 9. 9. 2014 veröffentlichten der Oberste Volksgerichtshof (OVG), das Oberste Volksprokurat (OVP) und das Ministerium für Öffentliche Sicherheit (MÖS) die »Interpretation bzgl. Fragen der Rechtsanwendung bei terroristischen und religiös extremistischen Straftaten« (im folgenden »Interpretation« genannt). Der Inhalt der Interpretation umfasst die vier Hauptpunkte, wie Grundsätze der Behandlung von Fällen des Terrorismus korrekt angewandt werden sollen, den Maßstab, mit welchem die Einordnung von Fällen als terroristisch bewältigt werden soll, die Klärung der Methoden, mit Hilfe derer diese Einordnung bewerkstelligt werden soll, sowie die Frage der gerichtlichen Zuständigkeit in Fällen von Terrorismus. Die Interpretation versucht, grundlegende Fragen, die sich bei konkreten Ermittlungen gegen terroristische Straftaten durch Justizbehörden und durch Behörden der öffentlichen Sicherheit stellen, konzertiert zu beantworten. Kurz nach dem Erlass dieser Interpretation verabschiedete der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongress am 29. 8. 2015 das 9. Strafrechtsänderungsgesetz, das im Anschluss an die Fassung des chStGB von 1997 und den Änderungen des 3. Strafrechtänderungsgesetzes von 2001 welche die Begriffe »terroristische Aktivität« (恐怖活动), »terroristische Organisation« (恐怖活动组织), und das »terroristische Verbrechen« (恐怖活动犯罪) definiert hatten, den neuen zentralen Begriff des »Terrorismus« (恐怖主义) in das chStGB einführte und was gleichzeitig in den Normen des materiellen Strafrechts die Intensität des Anti-Terrorismus verstärkte. Dabei wurden zum einen die Straftatbestände zum Terrorismus durch neue Straftatbestände ergänzt und vervollkommnet; innerhalb des § 120 chStGB wurden fünf Straftatbestände eingeführt, nämlich die Vorbereitung der Ausführung einer terroristischen Handlung; die Verherrlichung terroristischer oder extremistischer Handlungen und die Verherrlichung von Taten, welche zu solchen aufrufen; die Störung der Rechtsanwendung durch Extremismus; der Zwang anderer, Kleidung oder Abzeichen mit Werbung für Terrorismus oder Extremismus zu tragen; und der widerrechtliche Besitz von Propagandamaterial für Terrorismus oder Extremismus. Dazu wurde das Verbrechen des § 311 chStGB erweitert, so dass die Weigerung, Beweismittel über Terrorismus oder Extremismus an Justizorgane zu überstellen bei schweren Fällen in den bestehenden Straftatbestand integriert wurde. Zum anderen wurde der Strafrahmen innerhalb der bestehenden Straftatbestände verschärft. Dabei wurde innerhalb des § 120 chStGB für die Orga-
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nisierung, Leitung oder Teilnahme an terroristischen Organisationen die Vermögensstrafen der Einziehung und der Geldstrafe eingeführt. Weiter wurde die heimliche Teilnahme an terroristischen Trainingslagern im Ausland oder die Teilnahme an sogeannten »Djihad« als erschwerende Umstände in den § 322 chStGB »widerrechlicher Grenzübertritt« eingeführt. Am 27. 12. 2015 wurde das »Anti-Terrorismus-Gesetz der VR China« (im folgenden ATG) verabschiedet; dieses Gesetz enthält zum ersten Mal eine gesetzliche Definition der grundlegenden Begriffe Terrorismus, terroristische Aktivität, terroristische Organisation, terroristischer Aktivist und Terrorfall. Des Weiteren finden sich genaue Vorschriften für so unterschiedliche Sachverhalte wie die Bestimmung von terroristischen Organisationen und deren Mitgliedern; Sicherheitsvorkehrungen gegen Terrorismus; Erlangung, Analyse und Gebrauch von Informationen über Terrorismus; Ermittlungen im Fall des Verdachts auf terroristische Aktivitäten; Reaktion auf terroristische Vorfälle; internationale Zusammenarbeit im Anti-Terrorismus; Maßnahmen, welche den Anti-Terrorismus stärken und die rechtliche Verantwortung, sollte gegen Bestimmungen dieses Gesetzes verstoßen werden. Das ATG ist das erste umfassende Gesetz Chinas, was zum Anti-Terrorismus Stellung nimmt und was der chinesischen Regierung eine umfassende rechtliche Handhabe in ihrem Kampf gegen den Terrorismus zur Verfügung stellt; gleichzeitig werden dadurch die Maßnahmen gegen den Terrorismus auf den Boden des Rechts gestellt. Zeitgleich mit der Verschärfung des chinesischen Terrorismusproblems entwickelte sich das Internet in China zu einem Alltagsphänomen. Nach statistischen Angaben vom Dezember 2007 betrug die Zahl der chinesischen Internetnutzer zu diesem Zeitpunkt ca. 210 Millionen Personen, was ungefähr 16 % der Gesamtbevölkerung entspricht und damals unter dem globalen Schnitt (21,1 %) lag.2 Seither sind die Zahlen der chinesischen Internetnutzer und der Zugänge zum chinesischen Internet schnell angestiegen. Bis zum Dezember 2016 waren 731 Millionen Chinesen Internetnutzer, was in etwa der gesamten europäischen Bevölkerung entspricht, was aber dennoch nur eine Anschlussrate von 53,2 % ergibt.3 Gleichzeitig veränderte sich die Art und Weise, mit der sich die Internetnutzer in das Internet begeben. Im Jahr 2014 überstieg die Zahl der Internetzugänge per Telefon erstmals diejenige der Anschlüsse per traditionellem PC. Seither ist das Telefon das wichtigste Endgerät für Internetnutzer. In den Jahren 2007 bis 2016 hat sich die Zahl der Internet-Nutzer um den Faktor 2,481 ver2 Statistikbericht zur Entwicklung des chinesischen Internet (中国互联网络发展状况统计报 告), Juli 2008, http://www.docin.com/p-56596358.html&endPro=true, zuletzt aufgerufen am 7. 6. 2018. 3 Statistikbericht zur Entwicklung des chinesischen Internet, Folge 39, CNNIC, Januar 2017, http://tech.sina.com.cn/i/2017-01-22/doc-ifxzusws0055484.shtml?_zbs_baidu_bk, zuletzt aufgerufen am 7. 6. 2018.
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größert, die Verbreitung des Internet hat sich um den Quotient 2,325 erhöht, während sich der Terrorismus-Index in China in dieser Zeitspanne um den Faktor 3,155 vervielfacht hat. Im Gebiet Xinjiang, in dem Fälle von Terrorismus am häufigsten auftreten, ist die Zahl der Internetnutzer bis Ende 2014 auf insgesamt 16,417 Millionen Personen angewachsen, was seit 2004 einer Zunahme um das 21,07 fache entspricht. In derselben Zeit vervielfachte sich der Terrorismus-Index in dieser Region um das 3,74 fache. Es ist also offensichtlich, dass die Entwicklung des Internet Erklärungen für das Anwachsen des TerrorismusIndex bietet.4 Im Bestreben, der Gefährdung der staatlichen und der öffentlichen Sicherheit durch die Entwicklung des Internet zu begegnen, hat China in hohem Tempo mehrere gesetzlich-normative Bestimmungen zur Bekämpfung der Internet-Kriminalität (einschließlich des Cyber-Terrorismus) und zur Garantie der Internet-Sicherheit erlassen. Nachdem im Zuge der Reform der chStPO im Jahr 2012 Bestimmungen zu technischen Ermittlungsmaßnahmen und zu elektronischen Daten in das Gesetz aufgenommen worden waren, erließen OVG, OVP und MÖS am 4. 5. 2014 die »Meinung zu Fragen der Anwendung der Strafprozessordnung auf die Bearbeitung von Fällen von Internetkriminalität« (关于办理网 络犯罪案件适用刑事诉讼程序若干问题的意见) und am 20. 9. 2016 die »Bestimmungen zu Fragen der Gewinnung und des Umgangs mit elektronischen Daten im Strafverfahren« (关于办理刑事案件收集提取和审查判断电子数据 若干问题的规定). Dadurch wurden die normative Bestimmtheit und die Effizienz der Ermittlungen gegen Internetkriminalität wesentlich verstärkt. Am 7. 11. 2016 wurde das »Gesetz über die Sicherheit des Internet der VR China« (中华人 民共和国网络安全法, ISG) verabschiedet. Dieses Gesetz geht von dem Ziel der Wahrung der staatlichen Sicherheit und der Souveränität im Internet aus; es hat mit dieser Zielsetzung die hiermit zusammenhängenden Pflichten von Staat, Gesellschaft und Individuum normiert und für den Fall des Angriffs auf die staatliche Internetsicherheit institutionelle Grundlagen geschaffen. Insbesondere innerhalb des ATG wurden auf der Basis des Zugangs zum Internet nur mit Angabe persönlicher Identifikationsdaten weitergehende Bestimmungen zur Forderung der Verbreitung von Informationen und »instant messages« nur unter Angabe persönlicher Daten integriert, was zu einem gewissen Maß dabei hilft, das Problem der Identifikation von Tätern von Internetverbrechen zu lösen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Normen, welche China in den letzten Jahren zu den Themenkreisen Terrorismus und Internet erlassen hat, sich unterteilen in allgemeines und spezielles Recht, in materielles Recht und Ver4 Adilijiang Abulaiti, Guliazhati Tuerxun (阿地力江·阿布来提,古丽阿扎提·吐尔逊), Statistische Untersuchung zu Gründen terroristischer Verbrechen im Namen von »Ost-Turkestan« (基于统计分析的»东突«恐怖主义犯罪原因研究), Journal of the Chinese People’s Public Security University (Edition Sozialwissenschaften) (中国人民公安大学学报(社会科学 版)), 2016 IV, S. 7–12.
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fahrensrecht, Straf- und Verwaltungsrecht, Recht, was vom NVK erlassen wurde, und Recht, was durch abstrakt normativ gültige juristische Interpretationen gesetzt wird. Dadurch wurde die Grundlage für ein Normsystem geschaffen, was relativ wissenschaftlich fundierte, vollständige und moderne Maßnahmen gegen den Cyber-Terrorismus erlaubt. Trotzdem hat die quantitative Vermehrung der Normdokumente in Teilen dazu geführt, dass es Bereiche gibt, in denen sich Normen überlappen, wiederholen oder in gegenseitigen Konflikt bringen. Weiter ist es eine Tatsache, dass die normierten Subjekte und der normierte Raum sich weiter überwiegend auf nationale Gesetze beschränken, so dass es nach wie vor an einer gesetzlichen Regelung zum transnationalen Cyber-Terrorismus fehlt. Dieser Mangel schlägt sich natürlich auch in der Effizienz der Strafverfolgung von Cyber-Terrorismus im Alltag der Justiz nieder. Daher war China im Mai 2017 eine der Regionen, welche durch die weltweiten Attacken durch Internetviren schwere Schäden erlitt.
II.
Der Begriff des Cyber-Terrorismus
Cyber-Terrorismus ist kein Begriff, der vom Gesetzgeber offiziell definiert worden wäre, das neue ATG und das Gesetz über die Internet-Sicherheit (im folgenden ISG) haben diesen Begriff nicht eindeutig verwandt. Dennoch wird allgemein anerkannt, dass das Auftauchen des Internet und seine Entwicklung die Arten, in welchen sich Terrorismus manifestiert, seine Verbreitungskanäle, seine Zielgruppen, sein Schadenspotential etc. tiefgreifend verändert hat. Die Schaffung des Begriffs des Cyber-Terrorismus hilft dabei, diese neueste Form des Terrorismus einer spezifischen Untersuchung zu unterziehen und dadurch effektive Gegenmittel zu finden. Der Begriff des Cyber-Terrorismus findet sich daher sowohl in Forschungsergebnissen in China als auch im Ausland; dennoch weisen die konkreten Inhalte weiterhin Unterschiede auf. Da aber Terrorismus und Cyber-Terrorismus in ihrer Begrifflichkeit relativ unbestimmt sind, wird dadurch die Frage einer Eingrenzung des Begriffs Cyber-Terrorismus zusätzlich erschwert. Obwohl die UN bis dato insgesamt 13 internationale Abkommen zum Anti-Terrorismus beschlossen hat, findet sich in keinem einzigen dieser Dokumente eine genaue Definition des Begriffs »Terrorismus«. China hat im 2015 verabschiedeten ATG erstmalig im Rahmen der Gesetzgebung den Begriff »Terrorismus« in folgender Weise definiert: »die Herbeiführung gesellschaftlicher Panik, die Schädigung der öffentlichen Sicherheit, die Verletzung von Person und Vermögen, oder die Bedrohung staatlicher Behörden oder internationaler Institutionen durch Gewalt, Zerstörung oder Drohung mit dem Ziel, seine politischen oder ideologischen Ziele verbreiten oder durchzusetzen«. Im Einklang mit diesem Begriff geht dieses Gesetz noch einen Schritt weiter und defi-
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niert auch »terroristische Aktivitäten« als »folgende Handlungen mit terroristischem Charakter: (1) Aktivitäten schwerer Gesellschaftsschädlichkeit, wie das Organisieren, Planen, Vorbereiten der Ausführung oder die Ausführung von Handlungen, welche Menschen verletzen oder töten, schwere Vermögensschäden oder Schäden an der Infrastruktur herbeiführen oder welche darauf abzielen, solche herbeizuführen, und Aktivitäten, welche die öffentliche Ordnung in schwerer Weise stören oder welche darauf abzielen, diese in schwerer Weise zu stören; (2) Werbung für Terrorismus, Anstacheln zu terroristischen Aktivitäten, oder widerrechtlicher Besitz von Materialien, welche Terrorismus bewerben; Zwang anderer in der Öffentlichkeit Kleider oder Abzeichen zu tragen, welche Terrorismus bewerben; (3) Organisieren, Anführen oder Teilnehmen an Organisationen, welche terroristische Aktivitäten unternehmen; (4) das zur Verfügung Stellen von Informationen, Finanzen, Gegenständen, Diensten, Technik oder Orten, um das Organisieren und die Personen terroristischer Aktivitäten, die Durchführung terroristischer Aktivitäten oder des Trainings hierzu zu unterstützen, diesem Beihilfe zu leisten, oder diese zu vereinfachen; (5) andere terroristische Aktivitäten.« Hieraus wird deutlich, dass dieses Gesetz terroristische Aktivitäten im Großen und Ganzen in zwei Typen unterteilt, der eine Typus sind Aktivitäten welche direkt »Menschen verletzen oder töten, schwere Vermögensschäden oder Schäden an der Infrastruktur herbeiführen oder welche darauf abzielen, solche herbeizuführen, und Aktivitäten, welche die öffentliche Ordnung in schwerer Weise stören oder welche darauf abzielen, diese in schwerer Weise zu stören«; diese können als »echte terroristische Aktivitäten« bezeichnet werden. Der andere Typus sind Handlungen, welche terroristische Aktivitäten organisieren, planen, vorbereiten, bewerben, dazu anstacheln oder die bei deren Durchführung Beihilfe leisten. Da letztere Handlungen für sich selbst genommen nicht dazu geeignet sind, direkt und sofort den Staat oder die Gesellschaft aktuell und in großem Umfang zu schädigen oder die Furcht vor solchen Schäden zu erzeugen, entscheidet sich die Frage, ob es sich dabei um terroristische Handlungen handelt, vollkommen an dem Merkmal, ob das Gegenüber dieser Handlungen terroristische Eigenschaften aufweist. Diese Handlungen können daher als »indirekte terroristische Aktivitäten« bezeichnet werden. Weil aber das Gegenüber von indirekten terroristischen Handlungen oft seine Aktivitäten noch nicht wirklich realisiert hat, weil es auch nach gesetzlich definierten Maßstäben und Verfahren bestimmt werden muss, gestaltet sich die Feststellung »indirekter terroristischer Aktivitäten« als ausgesprochen schwierig und führt leicht zu Kontroversen. Cyber-Terrorismus ist ein Unterbegriff des Terrorismus, der aus der Verbindung von Terrorismus mit dem Internet hervorgeht, weswegen er zu allererst im Rahmen des Terrorismus diskutiert werden muss. Gegenwärtig wird der Begriff des Cyber-Terrorismus in der Wissenschaft in einen engeren und einen weiteren
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Begriff unterschieden. Der Begriff im engeren Sinne geht davon aus, dass CyberTerrorismus den widerrechtlichen Angriff oder die widerrechtliche Bedrohung von digitalen Informationssystemen, dem Internet, oder von Speichersystemen durch terroristische Organisationen oder Personen bezeichnet. Dadurch sollen Regierung und Bevölkerung dazu gezwungen werden, bestimmte politische und gesellschaftliche Ziele dieser terroristischen Organisationen und Personen zu verwirklichen. Dieser Begriff wird auch »cyber-orientierter Terrorismus« genannt. Dennoch differenziert sich der Cyberspace im Laufe seiner Entwicklung in einen Raum, welcher als Cybersystem der Realität dient (wie etwa Dienste, welche die Verteidigung, den Verkehr, die Energieversorgung, die Justiz etc. bedienen) und in einen rein menschgemachten virtuellen Raum (wie die Räume von Online-Spielen, soziale Netzwerke, und Räume der virtuellen Unterhaltung). Letztere sind zunehmend eindeutiger von der analogen Realtität getrennt. Obwohl § 76 I ISG das Internet als »System, das durch Computer oder andere informationelle Endpunkte und deren Geräte gebildet wird und was Informationen nach bestimmten Regeln und Prozessen sammelt, speichert, übermittelt, austauscht und verarbeitet« definiert, werden in dieser Definition reale und virtuelle Informationen nicht unterschieden. Weil aber ein Angriff auf reale Informationen direkt zu einer Gefährdung des wirklichen Lebens führt – so führt etwa ein Angriff auf Flugleitsysteme dazu, dass es durch die Kollision und den Absturz von Flugzeugen zu schweren Unfällen im Luftverkehr kommt – erfüllen diese offensichtlich den Maßstab, »Menschen zu verletzen oder zu töten, schwere Vermögensschäden oder Schäden an der Infrastruktur herbeizuführen oder darauf abzuzielen, solche herbeizuführen«. Sie reichen daher aus, um als CyberTerrorismus qualifiziert zu werden. Dagegen können Angriffe auf einen rein virtuellen Raum oder Akte der Zerstörung, die im virtuellen Raum ausgeführt werden, die Tatbestandsmerkmale, wie sie im ATG für Terrorismus aufgeführt werden, nicht erfüllen und sind daher nicht als Cyber-Terrorismus qualifiziert. Bezüglich der Frage, welche Internetsysteme ein potentielles Ziel von CyberTerrorismus darstellen können, ist der Begriff der »digitalen Schlüsselinfrastruktur« aus § 31 ISG ein möglicher Ansatzpunkt. Demnach wird die CyberSicherheit in Schutzklassen unterteilt; der Schwerpunkt des Schutzes liegt dabei auf »öffentliche Kommunikation und Informationsdienste, Energie, Verkehr, Wasserversorgung, Finanzen, öffentlicher Dienst, e-government und andere wichtige Branchen und Gebiete, dazu andere digitale Schlüsselinfrastruktur, soweit deren Zerstörung oder Unbrauchbarmachung oder die Veröffentlichung der Daten zu einer schweren Beeinträchtigung der staatlichen Sicherheit, der Versorgung der Bevölkerung oder dem öffentlichen Interesse führen«. Wird also eine internetbasierte »digitale Infrastruktur« vom Internet aus angegriffen, dann gehört dies in den Bereich des Cyber-Terrorismus. Der Unterschied zwischen Cyber-Terrorismus und traditionellen terroristischen Angriffen auf die Infra-
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struktur besteht darin, dass das direkte Angriffsobjekt des Cyber-Terrorismus das Internet selber ist und dass für die Ausführung dieser terroristischen Aktivitäten die Speicher-, Verbindungs- und Übertragungsfunktionen des Internet genutzt werden. Selbst wenn ein Angriff des Cyber-Terrorismus mit Hilfe von Computerviren, Trojanern, Malware etc. am Ende zu Schäden der Hardwaresysteme und -einrichtungen führt, dann ist dies immer noch von Handlungen des traditionellen Terrorismus, welche mit dem Internet verbundene Einrichtungen und Geräte durch direkte Demolierung, Sprengung, dem Abbrennen oder UnterWasser-Setzen etc. schädigen, zu unterschieden. Der weite Begriff des Cyber-Crime geht davon aus, dass jede Verwendung von Datentechnologie zur Erreichung bestimmter Ziele durch terroristische Organisationen oder Individuen unter Cyber-Crime subsumiert wird. Das beinhaltet also auch die Verwendung von Datentechnologie zur Organisation und Durchführung von Angriffen auf das Internet, auf Computersysteme und Kommunikationsinfrastruktur, oder die Verwendung des Internet zum Austausch von Informationen oder zur Herstellung elektronischer Drohungen.5 Dieser Begriff beinhaltet also nicht nur den Cyber-Terrorismus im engeren Sinn, sondern auch »Terrorismus mit Internet als Mittel zum Zweck«, sprich Terrorismus, der das Internet als Mittel zur Verwirklichung seiner Ziele einsetzt. In dieser Situation besteht kein substantieller Unterschied zwischen dem Internet und anderen Werkzeugen, welche zur Verwirklichung terroristischer Aktivitäten benutzt werden, wie etwa Autos, Handys, Schlüssel oder andere traditionelle Verkehrsund Kommunikationsmittel, Tatwerkzeuge usw. Die Frage, ob jemand »Terrorismus mit dem Mittel des Internets« begeht, entscheidet sich an dem Kriterium, ob die Tat inhaltlich und in ihrem Tatobjekt den Tatbestand des Terrorismus erfüllt. Weil aber das Internet in seiner Verbreitungswirkung und in seinem Speichern von Information bis zu einem gewissen Grad die Merkmale der Öffentlichkeit und der Neutralität aufweist, muss die Frage, ob es sich um einen Fall von »Terrorismus mit dem Mittel des Internet« handelt, streng geprüft werden. Zunächst muss dabei geklärt werden, ob die Benutzung des Internets durch den Täter tatsächlich den eindeutigen Merkmalen der Organisation, Planung, Vorbereitung, Bewerbung, Anstachelung, Beihilfe etc. von terroristischen Aktivitäten dient. Auf diese Weise kann eine Differenzierung zur normalen Nutzung des Internets im Alltag, zur Arbeit, zum Lernen oder zur Vergnügung durchgeführt werden. Dazu müssen die verbreiteten oder gespeicherten Informationen die Merkmale des Terrorismus aufweisen, oder sie müssen terroristischen Handlungen dienen, die außerhalb des Internets durchgeführt werden. Die Informa5 DONG Yuanyuan (董媛媛), ZHANG Mingxin (张明言), Verbreitung von Cyber-TerrorismusDaten und Gegenstrategien (论网络恐怖信息的传播及其应对策略), Nachrichten-Universität (新闻大学), 2017 No. 1, S. 71–77, 149.
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tionen als solche, oder die Handlungen, denen sie dienen, müssen also in der Lage sein, der Öffentlichkeit im tatsächlichen Alltag große Schäden zu verursachen oder große Panik auszulösen. Da beide Begriffe – das »Internet als Ziel des Terrorismus« und das »Internet als Mittel des Terrorismus« – darauf abstellen, dass dem Internet bei der Auslösung, der Beihilfe und der Realisierung terroristischer Ziele eine besondere Rolle zukommt, da weiterhin auf der phänomenologischen Seite ein zunehmend größerer Abstand zum traditionellen Terrorismus in Erscheinung tritt, ist es empfehlenswert, für die Erforschung des und die Reaktion auf den Begriff des Cyber-Terrorismus, diesen in seinem weiteren Sinne anzuwenden. Daher findet der weitere Begriff auch zunehmend Anerkennung.
III.
Grundformen des Cyber-Terrorismus
Obwohl sich in insgesamt 13 UN-Konventionen kein eindeutiger Begriff zum Cyber Terrorismus findet, hat der Sicherheitsrat der UN in den Resolutionen Nr. 1963, 2129, 2133 von ihren Mitgliedern verlangt, dass sie Maßnahmen zur Verhinderung von Cyber-Terrorismus ergreifen. Die Counter-Terrorism Implementation Task Force (CTITF, 联合国反恐任务实施力量工作组) hat den Cyber-Terrorismus in insgesamt 4 Typen unterteilt: (1) Verwendung des Internet zur Ausführung terroristischer Angriffe, welche sich aus der Distanz des Internet bedienen, um Daten in Computersystemen zu verändern oder die Übertragung von Daten zwischen Computersystemen zu stören und dadurch terroristische Angriffe durchzuführen; (2) Verwendung des Internet als Informationsquelle bei der Verfolgung terroristischer Ziele; (3) Verwendung des Internet zur Verbreitung von Informationen, welche der Entwicklung terroristischer Aktivitäten dienen; (4) Verwendung des Internet, um sich mit Anhängern und Unterstützern terroristischer Aktivitäten auszutauschen oder um solche zu Netzwerken zu organisieren.6 Diese vier Typen bezeichnen in einer relativ umfassenden Weise die Grundkonstellationen, in denen sich Internet und Terrorismus überlappen. Gleichzeitig kann auf diese Weise die aktuelle Situation des Cyber-Terrorismus in einem Land besser dargestellt werden. Betrachtet man die Situation der Intervention und Repression des Cyber-Terrorismus aus der Perspektive von Staat und Exekutive, dann ist zunächst feststellbar, dass die Verwendung des Internet als Informationsquelle für terroristische Aktivitäten zu deren Vorbereitungsstadium gehört und daher den Charakter des Terrorismus aufweist, ist aber für die Nutzung von Informationsquellen des Internet eine Autorisierung notwen6 United Nations Counter-Terrorism Implementation Task Force Working Group Report, Countering the Use of the Internet for Terrorist purposes, 2009.
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dig, so sind Terroristen, welche diese Informationsquellen ohne Autorisierung nutzen, um so an Informationen zu kommen, dann ist dies als solches bereits als terroristischer Angriff zu werten. Ist eine Informationsquelle auf dem Internet öffentlich zugänglich und erlaubt es jedweder Person, diese einzusehen und zu nutzen, dann ist – bei Mangel an ausreichenden Beweisen aus denen klar würde, dass die öffentlich zugänglichen Informationen mit dem Ziel der Begehung terroristischer Aktivitäten gesammelt wurden – diese Handlung weder legitimer Weise als terroristische Handlung klassifizierbar, noch kann dieser Handlung effektiv mit Maßnahmen begegnet werden. Sollte es aber Organisationen oder Personen, die nach Gesetz als terroristisch eingestuft sind, durch Gesetz verboten oder durch technische Maßnahmen unmöglich gemacht sein, bestimmte öffentlich zugängliche Informationen einzusehen, dann ist der widerrechtliche Erhalt dieser Informationen im Internet oder deren Erhalt unter Umgehung technischer Maßnahmen durch terroristische Organisationen oder Personen wiederum als terroristischer Angriff zu werten, dem der Staat repressiv begegnen kann. Es ist also nicht notwendig, die »Nutzung des Internets als Informationsquelle zum Ziel terroristischer Aktivitäten« als eigenen Typus des CyberTerrorismus zu verwenden. Dabei hat sich der Cyber-Terrorismus überwiegend nur in untenstehenden drei Typen ausgeformt: 1. Cyber-terroristische Angriffe. Diese Art terroristischer Aktivitäten versucht bestimmte politische oder gesellschaftliche Ziele auf die Weise durchzusetzen, dass sie für den Alltag wichtige Infrastruktur des Internet oder sogar das Internet als ganzes angreifen und zerstören, so dass dadurch Furcht erzeugt wird. Wenn ein solcher terroristischer Angriff erfolgt, dann hat er äußerst schwerwiegende Schäden zur Folge und kann auf diese Weise sehr leicht eine allgemeine gesellschaftliche Panik erzeugen, wie etwa bei dem globalen Angriff durch Ransomware im Mai 2017 geschehen. Global waren mehrere hunderttausend Computer betroffen; unzählige Daten waren entweder verschlüsselt oder zerstört und die dadurch erzeugte Panik hielt für mehrere Monate an. Das chinesische Internet hatte zum Jahresende 2015 bereits 670 Millionen Nutzer und 4,13 Millionen Webseiten. China verfügt in der globalen Rangfolge über die zweitmeisten Internetdomänen und hat vom Umfang her das größte Internet der Welt, auch die Breitbandnutzung ist hinter den USA weltweit auf Platz zwei. Die Anschlüsse für Festnetz und Mobiltelefone betragen 1 Mrd., die Computeranschlüsse von Familien im urbanen Umfeld liegen bei mehr als 60 %, die Gesamtzahl der IPAdressen beträgt 216 Millionen. Einhergehend mit dieser Entwicklung des Internet und der e-economy hat sich die Zahl potentieller Cyber-Angriffe und potentieller Ziele für internetbasierte Angriffe extrem vervielfacht, womit sich auch das Risiko von Angriffen durch Cyber-Terroristen erhöht hat. Wenn wir Angriffe auf die relativ exponierten Internetseiten staatlicher Institutionen als
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Beispiel nehmen, dann gab es im Jahr 2015 insgesamt 21.674 illegale Hacks, was gegenüber dem Jahr 2014 einer Zunahme von 36,7 % entspricht.7 Dennoch sind die technischen Voraussetzungen, um einen solchen terroristischen Angriff auf dem Internet zu starten, relativ hoch. Einzelne Terroristen und kleine terroristische Organisationen verfügen nicht über die umfangreichen Informationen und das technische Entwicklungspotential, um einen erfolgreichen Cyber-Angriff zu starten. Die Schwierigkeit einen Erfolg zu erzielen ist wesentlich größer als bei traditionellen terroristischen Angriffen wie Autodetonationen, Entführungen, Selbstmordattentaten usw.8 Obwohl also die Zahlen der Cyber-Attacken in China in den vergangenen Jahren angestiegen sind, so haben sie trotzdem nicht auf und über das Internet zu einem Zusammenbruch volkswirtschaftlich wichtiger Teile der chinesischen Infrastruktur und nicht zu einer allgemeinen öffentlichen Panik geführt. Noch seltener sind Attacken, die mit Forderungen nach politischen oder institutionellen Änderungen verbunden sind. Die Grenze zum Cyber-Terrorismus wird also nicht überschritten. Natürlich werden cyberterroristische Angriffe in dem Moment zur hauptsächlichen Form des CyberTerrorismus, in dem bestimmte Staaten, Regierungen oder entwickelte TerrorOrganisationen hinter Cyber-Attacken stehen. 2. Verwendung des Internet zur Verbreitung terroristischer Informationen. Eines der wichtigsten Ziele terroristischer Aktivitäten ist die Verbreitung terroristischen Gedankenguts und emotionaler Solidarität. Offenheit, leichte Bedienbarkeit und geringe Kapitalintensität als Merkmale des Internet haben die Übermittlung von Informationen in nie dagewesener Weise erleichtert. Das Internet wird daher sehr leicht zu einem Werkzeug, mit dem Terroristen ihre widerrechtlichen terroristischen Inhalte verbreiten. Inhaltlich können die von Terroristen auf dem Internet verbreiteten widerrechtlichen Informationen wie folgt unterteilt werden: Drohungen, terroristische Aktivitäten auszuführen; Aufstachelung zu, Werbung für, Beschönigung von und Legalisierung von terroristischen Aktivitäten; Training von Terroristen; Werben um und Einnehmen von Geldern für den Terrorismus; Verbreitung von Material mit rassistischen und das Ausland herabwürdigenden Inhalten; Verleugnung, Unterstützung und Legitimierung von Völkermord. Verglichen mit der traditionellen Verbreitung terroristischer Informationen besitzt die Verbreitung terroristischer Informationen über das Internet die Merkmale der Dezentralisierung, der Pluralisierung der Motivationen und Wertvorstellungen, der Brutalisierung der Inhalte und der 7 Generaluntersuchung der nationalen Datensicherheit 2015 (2015年国内信息安全态势大盘 点), China Data Security (中国信息安全), 2016, Folge 1, S. 62ff. 8 Australian National University Cybercrime Observatory, Cyber Terrorism: Research Review, June 2017.
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stärkeren Offensichtlichkeit terroristischer Erfolge.9 Teilweise übermitteln auch Personen, welche dem Terrorismus nicht zustimmen, widerrechtliche terroristische Inhalte, sei es aus Neugier, aus vermeintlichem Jux und Tollerei oder aus öffentlicher Effekthascherei. Sie geraten also ohne Intentionalität in diese Situation. In den vergangenen Jahren nehmen die Fälle, in denen Terroristen über das Internet widerrechtliche terroristische Inhalte verbreiten, sehr stark zu. Abgesehen davon, dass ein Teil der Terrororganisationen spezielle Internetseiten einrichten, von denen aus terroristische Inhalte gegenüber der Öffentlichkeit verherrlicht werden, gibt es zunehmend mehr soziale Plattformen, soziale Netzwerke und Kommunikationssoftware, die von Terroristen für Terroristen eingerichtet werden, so dass sie nur einer bestimmten Zahl von Nutzern zugänglich sind. Das hat die Schwierigkeit, solche terroristischen Aktivitäten zu entdecken und zu unterbinden bis zu einem bestimmten Grad erschwert. Trotzdem offenbaren die entsprechenden Inhalte ihre terroristische Natur meist ganz direkt, sodass die Erkennung und daher auch die Anzeige zumindest in dieser Beziehung wesentlich erleichtert sind. Sie sind daher auch Ziel konzertierter Aktionen durch die Polizeibehörden. Die statistischen Angaben dazu markieren eine spezifische Periode und einen spezifischen Trend im chinesischen Anti-Terrorismus. Diese Maßnahmen sind auch eine wichtige Quelle zur Aufklärung terroristischer Aktivitäten geworden. 3. Verwendung des Internet zur Organisation und Unterstützung terroristischer Aktivitäten. Das Internet ist seiner Natur nach eine Art der Übermittlung von Informationen und der Kommunikation. Einhergehend mit der schnellen Entwicklung sozialer Netzwerke und Finanzdiensten auf dem Internet können terroristische Organisationen und Individuen diese sozialen Netzwerke zur Übertragung von Informationen nutzen und die Finanzdienstleistungen als Mittel zur Finanzierung verwenden. Wenn Terroristen soziale Netzwerke (wie QQ, WeChat) und Bezahldienste aus dem Internet (wie etwa alipay) nutzen, ist dies in formaler Hinsicht natürlich vollkommen legal, gleichzeitig ist es jedoch kompliziert und heimlich, so dass die Natur der terroristischen Motive in der Kommunikation und in dem Geldtransfer verdeckt sind. Die Behörden von Polizei und Justiz haben also eine große Zahl rechtlicher Probleme, wenn sie diese Art von Verbrechen verfolgen. Obwohl nach den Bestimmungen des »Anti-GeldwäscheGesetz« (反洗钱法) bei atypischen Geldbewegungen auf dem Internet eine Überwachung einsetzen kann, ist die letztendliche Identifizierung, ob es sich bei den relevanten Organisationen und Personen außerhalb der Cyberwelt um ter9 DONG Yuanyuan (董媛媛), ZHANG Mingxin (张明言), Verbreitung von Cyber-TerrorismusDaten und Gegenstrategien (论网络恐怖信息的传播及其应对策略), Nachrichten-Universität (新闻大学), 2017 No. 1, S. 71–77, 149.
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roristische Organisationen oder um Terroristen handelt, nur außerhalb des Internet möglich. Wenn aber staatliche Behörden zu weit in soziale Medien eindringen und zu sehr finanzielle Transaktionen auf dem Internet durchleuchten, werden sie nicht nur wegen Verstößen gegen die Privatsphäre und Einschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit angezweifelt, sondern müssen sie die Arbeitsinhalte des Anti-Terrorismus drastisch ausweiten, was die Kosten der Maßnahmen gegen den Terrorismus sehr stark vergrößert. Deshalb ist die Entdeckung und Zerschlagung dieser Art terroristischer Aktivitäten im Moment das Hauptproblem, dem China in seinem Kampf gegen den Terrorismus gegenübersteht.
IV.
Neue Charakteristika des Cyber-Terrorismus
Das Auftauchen und die Entwicklung des Internets haben dazu geführt, dass die Organisationstruktur, die Handlungsmuster und die zerstörerischen Effekte des Terrorismus einer immensen Transformation unterliegen. Das beeinflusst und erschwert das Auffinden, das Erkennen und das Unterbinden solcher Aktivitäten. Verglichen mit dem traditionellen Terrorismus besitzen diese Formen des Terrorismus folgende neue Merkmale: 1. Die lockerere Organisationsstruktur zwischen Terroristen, Flexibilisierung und Pluralisierung der Organisationsformen. Traditionelle Formen des Terrorismus betonen die Organisiertheit terroristischer Aktivitäten. Es werden also »durch organisierte Gewaltanwendung oder durch deren Androhung andere in Furcht versetzt und dazu gezwungen, sich Forderungen zu fügen oder anderweitige politische Ziele zu erreichen«.10 Trotzdem haben sich individualisierte Formen terroristischer Verbrechen, wie etwa Attacken durch »einsame Wölfe« oder durch Selbstmörder, zum Mainstream des aktuellen Terrorismus gewandelt. Die akuten Schäden, die durch diese Angriffe entstehen, stehen denen, die durch den organisierten Terrorismus verursacht werden, in nichts nach.11 Das Entstehen des Internets hat dazu geführt, dass Zeit, Ort, Person und Methode an, durch und mit welchen terroristische Aktivitäten durchgeführt werden, meist nicht mehr von stark hierarchisch strukturierten Terrorgruppen (wie etwa dem IS) bestimmt und organisiert werden. Die Entwicklung des Internets hat die 10 Peter Grabowski (皮特·戈拉博斯基), Michael Stoll (迈克尔·斯托尔), Eine Einführung in den Cyber-Terrorismus (略论网络恐怖主义), Henan Police Academy Journal (河南警察学院学 报), 2016, Folge 4. 11 WANG Zhixiang (王志祥), LIU Ting (刘婷), Cyberterroristische Verbrechen und ihre gesetzliche Normierung (网络恐怖主义犯罪及其法律规制), Social Sciences Digest (社会科学 文摘), 2017, Februar, S. 21–23.
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Möglichkeiten des Individuums, Organisation, Logistik und Nutzung fremder Ressourcen zu nutzen, in hohem Maße verstärkt. Einhergehend hiermit hat sich die traditionelle, pyramidenförmige Organisationsstruktur verändert. Die terroristischen Handlungen im Internet sind dezentralisiert, verallgemeinert und vereinzelt, so dass sie sich mit mikro-terroristischen Bewegungen zusammengetan haben und zur neuesten Organisationsform des Internet geworden sind.12 Auf der einen Seite werden extremistische Inhalte und Hasskommentare an nicht weiter spezifizierte Dritte verbreitet, um dadurch zu Angriffen durch terroristische Aktivitäten auf bestimmte und unbestimmte Ziele aufzurufen. Dabei kann es sein, dass zwischen den einzelnen Handlungssubjekten keine offensichtliche Verabredung stattfindet, auch bei der Frage wer angegriffen wird, wer willens ist anzugreifen, ist nur eine nebulöse Übereinstimmung feststellbar. Die Zerstreutheit und die Zufälligkeit solcher Handlungsformen machen es schwer, diese als »organisiert« zu charakterisieren. Auf der anderen Seite bewirkt das Merkmal der Dezentralisierung der Organisationsformen des Cyber-Terrorismus, dass die Kommunikationsformen zwischen Terroristen flexibler werden. Jedes Mitglied kann jederzeit jedes andere Mitglied erreichen und ihm Befehle geben. Zudem kann auch jederzeit mit spezifischen Mitgliedern individualisiert und exklusiv kommuniziert und sich ausgetauscht werden. Plattformen sozialer Netzwerke und Informationskanäle können sehr einfach errichtet werden. Die Arten von Informationen und Dokumenten, die auf Plattformen dargestellt und übermittelt werden können sind sehr vielfältig. Das Datenvolumen ist kaum Beschränkungen unterworfen. Daher kann in der Konsequenz ein Terrorist in jedem Winkel der Erde in sehr kurzer Zeit terroristische Informationen erhalten, Fähigkeiten zu terroristischen Aktivitäten einüben, und am Ende terroristische Angriffe ausführen. 2. Skalenerweiterung. Das Internet bewirkt eine große Umwandlung des menschlichen Lebens, indem es die Grenzen des Lebens in Bezug auf Zeit, Raum und Quantität beinahe vollkommen durchbricht. Selbst wenn hunderte Millionen Nutzer über zehntausende Kilometer voneinander getrennt sind, können sie dennoch alle in Echtzeit miteinander kommunizieren. Wenn allerdings diese Verfügbarkeit von Terroristen genutzt wird, dann kann sich die Skala terroristischer Aktivitäten symmetrisch hierzu vervielfachen. Man kann also sagen, dass das Aufkommen des Internets die Terroristen dazu in die Lage versetzt hat, in größtmöglicher Weise Ressourcen, die über die gesamte Welt verstreut sind, zu 12 PI Yong (皮勇), YANG Miaoxin (杨淼鑫), Micro-Terrorismus im Zeitalter des Internet und die Gesetzgebung zur Repression desselben (网络时代微恐怖主义及其立法治理), Wuhan University Journal/Ausgabe Philosophie und Sozialwissenschaften (武汉大学学报(哲学社 会科学版)), 2017 Vol. 2, S. 73–84.
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bewegen und zu organisieren. Sie können also ihr Potential unendlich verstärken, um dadurch in der realen Welt die Asymmetrie der Macht im Vergleich mit Staaten und Regierungen auszugleichen. Einerseits bedingt die Verbreitung und Entwicklung des Internet in den einzelnen Staaten, dass jede Behörde eines jeden Staates, sobald sie mit dem Internet verbunden ist, zum Ziel terroristischer Angriffe aus irgendeinem Staat werden kann. Das bedeutet, dass sowohl die Zahl der durch Cyber-Terrorismus potentiell angegriffenen als auch die Zahl der potentiellen Angreifer beinahe unendlich zugenommen haben. Auf der anderen Seite bewirkt das Internet, dass sich die Kosten für terroristische Aktivitäten extrem verringert haben. Cyber-Terroristen können beinahe zeitgleich mehrere Ziele in jeder Gegend der Welt angreifen; die extrem zahlreichen Ziele bei gleichzeitig extrem niedrigen Kosten können Cyber-Terroristen dazu ermutigen, eine unbegrenzte Zahl an Angriffen zu unternehmen. Außerdem ist es denjenigen, welche Akte des Cyber-Terrorismus durchführen, möglich, beinahe die gesamte Verbrechenshandlung vermittels von Datentechnik im virtuellen Raum des Internet auszuführen, so dass die Distanz zwischen Angreifer und Angegriffenem in der realen Welt sehr groß sein kann. Das führt dazu, dass sich der Zusammenhang von Ursache und Wirkung im Bewusstsein des Täters unbemerkt verringert. Bei der Art und Weise der Tatausführung reicht es oft, wenn der Cyber-Terrorist ein paar Befehle in sein Keyboard eingibt, um dadurch einen terroristischen Angriff auszulösen. Er oder sie braucht sich daher nicht wie bei einem traditionellen Terrorangriff in persona an den Ort des Angriffs begeben, um dort zu schießen, eine Explosion herbeizuführen, jemanden zu entführen oder andere gewalttätige Handlungen durchzuführen; er oder sie kommt daher auch nicht Auge in Auge mit der am Tatort erzeugten Grausamkeit. All dies bewirkt, dass das Gefühl für die tatsächliche Situation und das Gefühl der Schuld beim Täter stark verringert sind. In der Konsequenz sehen wir also, dass das Erscheinen des Internets die materiellen Kosten und den psychologischen Druck für die Ausführung terroristischer Aktivitäten drastisch gesenkt hat, sodass der Cyber-Terrorismus sowohl bei der Häufigkeit seiner Ausführung als auch beim Umfang seiner Auswirkungen verglichen mit dem traditionellen Terrorismus ganz andere Dimensionen erreicht. 3. Größere Schwierigkeiten bei Erkennung und Entdeckung. Auf Grund der großen Veränderungen, welche das Internet für die Durchführung terroristischer Aktivitäten mit sich gebracht hat, ist das Erkennen und Auffinden von terroristischen Aktivitäten ebenso, wie das Erkennen von Terroristen als solchen, wesentlich schwerer geworden. Von der äußeren Erscheinungsform her sind nur widerrechtliche Informationen, die offensichtlich Terrorismus in der Öffentlichkeit verbreiten, leicht identifizierbar. Alle anderen Aktivitäten von CyberTerrorismus rufen in der Öffentlichkeit kaum Beachtung hervor. Selbst wenn ein
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schwerer Cyber-Angriff bestimmte wichtige Infrastrukturanlagen lahmlegt, dann werden dadurch in der analogen Welt keine Personen in direkter Weise getötet und es kommt nicht zu offensichtlichen Vermögensschäden. Die allgemeine Bevölkerung wird maximal bemerken, dass bestimmte Lebensbereiche nicht so einfach zu erledigen sind, wie üblich; sie wird aber dadurch nur schwer in Panik versetzt und wird dies gedanklich kaum mit Terrorismus verbinden. Wenn terroristische Aktivitäten das Internet als Raum und als Angriffsziel wählen, dann übersieht die Allgemeinheit leicht den Einfluss dieser Aktivitäten auf das alltägliche Leben. Dies behindert dann aber wiederum die Erkennung der terroristischen Natur dieser Aktivitäten. Abgesehen davon hat die Zahl terroristischer Angriffe auf dem Internet und diejenige terroristischer Informationen in der heutigen Welt astronomische Ausmaße angenommen. Es ist eine zunehmend schwieriger werdende Arbeit, aus dieser Fülle von Daten solche mit terroristischen Bezügen auszusondern. Außerdem ist es einhergehend mit der zunehmenden Verbreitung und öffentlichen Zugänglichkeit von Hacking-Tools und Kryptographie-Programmen für den Einzelnen zunehmend einfacher, Zugriff auf unterschiedliche Arten von Mitteln für Cyber-Angriffe zu bekommen oder widerrechtliche Informationen terroristischer Inhalte in verschlüsselter Weise zu übermitteln. Obwohl die Suche mit »Stichworten« einen bestimmten Erfolg beim formalen Auffinden terroristischer Inhalte aufweist, ist die Identifikation von Audio- und Videonachrichten noch sehr viel schwieriger und daher in ihrem Erfolg beschränkt. Es ist für den Staat zunehmend schwieriger, aus eigener Kraft terroristische Informationen in verschlüsselten Diensten wie WhatsApp, Snap Chat, Confide oder Signal aufzufinden. Dabei sind zahlreiche Messenger-Dienste hier noch gar nicht aufgeführt. Einige neuere Verschlüsselungstechniken gehen sogar so weit, dass sie die Nachricht kurz nach deren versenden zerstören. Dadurch kann eine Reproduktion des Inhalts meist verhindert werden.13 Andererseits ist es selbst in dem Fall, in dem eine terroristische Handlung entdeckt wurde, so, dass auch die Verfolgung von über das Internet identifizierten Terroristen für die Polizeibehörden extrem schwierig ist. Die Anonymisierung ist eines der wichtigsten Merkmale der alltäglichen Nutzung des Internets. Sogar populäre Plattformen für Onlinespiele werden zur Anonymisierung und Verschlüsselung von Täterprofilen und Inhalten verwendet. Auch dies erlaubt Cyber-Terroristen in großem Maße ihre wahre Identität mit sehr einfachen Mitteln zu verbergen. Darüber hinaus bedienen sich Aktivitäten des Cyber-Terrorismus oft indirekter Methoden. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Cyber-Attacken oder nur um die Verbreitung terroristischer In13 O. A., Vorläufige Trendanalyse des globalen modernen Terrorismus und des Cyber-Terrorismus (全球范围内现代恐怖主义与网络恐怖主义形势浅析), http://www.sohu.com/a/586 01461_257305, zuletzt aufgerufen am 17. 8. 2019.
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halte handelt, der Initiator solcher Angriffe und Informationen ist oft durch eine absurde Anzahl anderer Internetnutzer von seinem tatsächlichen Ziel getrennt. Die unablässige Vermehrung von Internet-Tools wie Internet-Viren und Trojanern bringt es mit sich, dass der Verursacher einer Cyber-Attacke sehr schnell in einem unendlichen Meer von Informationen untergeht. Die Verbreitung von VPNs und von Proxy-Servern bewirkt zudem, dass auch die Verfolgung von IPAdressen sehr leicht unterbrochen wird. Selbst wenn die originäre IP-Adresse eines Cyber-Angriffs gefunden wird, bleibt dann immer noch das Problem der Identifikation des Täters, denn es ist nicht sicher, ob die Person, die man im Nachhinein identifiziert, auch wirklich der Täter ist. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, das System der Klarnamen mit seinen gesetzlichen Garantien im Internet durchzusetzen. Weil aber die Identifizierung von Aktivitäten und Akteuren des Cyber-Terrorismus nie zuvor dagewesenen Schwierigkeiten gegenübersteht, ist die Dunkelziffer terroristischer Aktivitäten auf dem Internet weitaus größer, als bei traditionellen Formen des Terrorismus. Dies beeinflusst natürlich auch in großer Weise die Risikoanalyse in Bezug auf Cyber-Terrorismus. 3. Erschwerte Repression. Die unterschiedlichen Formen von Malware, InternetViren, Hacking-Tools, sozialen Netzwerken, Online-Bezahldiensten usw. die zur Ausführung cyber-terroristischer Aktivitäten genutzt werden vermehren sich ständig und werden dazu sehr oft mit Upgrades versehen, so dass die staatlichen Stellen, welche mit der Repression des Internet-Terrorismus betraut sind, sich im Dauerzustand der Überlastung befinden. Dazu bewirkt die Internationalität des Internet, dass auch solche Aktivitäten des Cyber-Terrorismus nur schwer effektiv bekämpft werden können, die bereits entdeckt sind. Wenn Cyber-Terroristen die Server eines anderen Landes nutzen, um von dort eine Cyber-Attacke zu starten oder illegale terroristische Informationen zu verbreiten, dann sind die AntiTerror-Behörden des angegriffenen Staates meist nicht in der Lage, die Quelle der terroristischen Aktivitäten wirklich auszuheben, denn es mangelt ihnen an der rechtlichen Kompetenz, dies im Ausland zu tun. Dieses Problem ist im Falle Chinas besonders hervorstechend.14 Im Übrigen verschleiert der politische 14 In China stammen mehr als 70 % der schädlichen Informationen über gewalttätige und terroristische Verbrechen aus dem Ausland. Deren Inhalt umfasst Verbreitung von religiösem Fanatismus, Aufruf zum Dschihad, Verbreitung von Bildern blutrünstiger terroristischer Angriffe, Verkauf von Feuerwaffen etc. Einige arabische Server verbreiten im Ausland schädliche Informationen der »Republik Ost-Turkestan«, in denen sich viele Inhalte zu Angriffen auf die Han-Population in China, auf Normen und Gesetze und auf die Gewohnheiten ethnischer Minderheiten innerhalb Chinas finden. Vgl. Büro des Staatsrats für Internet-Informationen (国务院网信办), Mehr als 70 % der schädlichen Informationen zu gewalttätigen und terroristischen Informationen stammen aus dem Ausland (超七成涉暴恐 类有害信息来自于境外网站), http://www.cac.gov.cn/2014-07/01/c_1111392005.htm, zuletzt aufgerufen am 17. 2. 2019.
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Charakter des Terrorismus durch seine Erscheinung im Internet bis zu einem bestimmten Grade seine schädliche Natur. Weil der traditionelle Terrorismus durch die Entführung von Flugzeugen, die Herbeiführung einer Explosion an einem stark bevölkerten Ort, Ausbringen von Gift etc. in dem angegriffenen Staat direkt eine große Zahl von Opfern oder große finanzielle Schäden verursacht, dadurch dass er von allen Kulturen geteilte Werte angreift, erhält der Angreifer keine positive Resonanz in der internationalen Gemeinschaft, ganz gleich welche politischen oder gesellschaftlichen Ziele er vorbringt. Es gibt kaum ein Land, das öffentlich terroristische Angriffe gutheißen oder unterstützen würde. Die Tatsache, dass die UN 13 Dokumente gegen den Terrorismus verabschiedet hat, verdeutlicht, wie die einzelnen Staaten sich einig im Kampf gegen den traditionellen Terrorismus sind. Verglichen hiermit ist der Effekt, den terroristische Cyber-Attacken haben, auf den ersten Blick nicht so offensichtlich; genauso hüllen sich die meisten terroristischen Informationen auf dem Internet in den Mantel politischer, religiöser oder ethnischer Forderungen, so dass sie leicht von der Allgemeinheit übersehen werden. Da sich auf internationaler Ebene bislang kein Konsens über den Begriff und die Äußerungsformen des Cyber-Terrorismus gebildet hat, werden Anfragen auf Maßnahmen gegen Cyber-Terrorismus, die aus einem Staat kommen, oft von anderen Staaten nicht unterstützt. Ja es kommt sogar vor, dass zwischen Staaten, die sich feindlich gegenüberstehen, die sich aber nicht eines traditionellen Krieges bedienen wollen, die Entfachung und Unterstützung von cyber-terroristischen Attacken eine besondere Form der Realisierung auswärtiger Politik darstellen. Aktuell ist man nach wie vor der Meinung, dass sich das technische Niveau von Terroristen in Bezug auf das Internet nicht an dem staatlicher Akteure messen kann. Daher ist hinter groß angelegten Cyber-Attacken immer ein Staat oder staatliche Hilfe verborgen. So hat die US-amerikanische staatliche Sicherheitsbehörde (NSA) eine Verknüpfung zwischen der nord-koreanischen Regierung und dem globalen Angriff der Ransomware wanna-cry hergestellt.15 Der US-amerikanische Kongress hat Russland eine Einmischung in die Präsidentschaftswahl des Jahres 2016 vorgeworfen und auf Grund dessen Sanktionen verhängt.
15 O. A., http://tech.163.com/17/0617/08/CN4DBCOQ00097U7R.html.
Reflexion der chinesischen Strafgesetzgebung zum Cyber-Terrorismus
V.
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Charakteristika der chinesischen Gesetzgebung gegen den Cyber-Terrorismus
Auf Grund der großen Zerstörungskraft, welche der Terrorismus gegenüber dem Staat und der Gesellschaft entfaltet, tendiert China dazu, die Effizienz des staatlichen Kamps gegen den Terrorismus mit den Mitteln des Strafrechts zu führen. Dabei weist die Strafgesetzgebung folgende Merkmale auf: 1. Verstärkung der Repression im materiellen Strafrecht. Der Cyber-Terrorismus ist eine hybride Konvergenz aus Internetstraftaten und Terrorismus. Daher verstärkt das chinesische Strafgesetz (刑法) die Repression gegen Cyber-Terrorismus durch eine parallele Verschärfung der Tatbestände des Cyber-Crime und des Terrorismus, es setzt mit dem Rechtsgüterschutz früher ein, weitet den Umfang der Strafe aus und verschärft die angedrohte Strafe.16 Konkret zeigen sich diese Merkmale an folgenden Punkten: (1) Neufassung von Vorbereitungshandlungen als eigene Tatbestände. Obwohl die Lehre von den besonderen Verbrechensarten im traditionellen Strafrecht dazu ausreicht, Vorbereitungshandlungen zu terroristischen Verbrechen zu verfolgen, so werden diese dennoch in geringerem Maße bestraft als die eigentlichen Ausführungshandlungen. Dazu ist die Bedrohung der geschützten Rechtsgüter durch die Mehrzahl der Vorbereitungshandlungen nicht ausreichend ernst, so dass eine tatsächliche Verfolgung der strafrechtlichen Verantwortung in der Praxis zumeist unterbleibt. Weil aber die Folgen der Ausführung terroristischer Handlungen zu schwerwiegend sind, sind viele Staaten in ihrer Strafrechtspolitik gegenüber terroristischen Verbrechen von einer repressiven Bestrafung zu einer präventiven Bestrafung übergegangen. Sie behandeln daher die Vorbereitung von, Beihilfe zu, Werbung für relevante Straftaten als jeweils eigenen Straftatbestand, der sanktioniert wird. Das 2015 verabschiedete neunte Strafrechtsänderungsgesetz weist daher als ein wesentliches Merkmal der gesetzgeberischen Tätigkeit die Fassung von Vorbereitungshandlungen als eigene Tatbestände auf. Grundsätzlich werden alle Vorbereitungshandlungen bestimmter Gebiete von Schwerstkriminalität als eigene Tatbestände gefasst, gleichzeitig werden Vorbereitungshandlungen bestimmter Verbrechen auf dem Internet als eigene Tatbestände gefasst.17 Die Verbrechen des Cyber-Terrorismus befinden sich genau auf der Schnittstelle dieser beiden Entwicklungen. Internet16 WANG Zhixang (王志祥), LIU Ting (刘婷), Verbrechen des Cyber-Terrorismus und seine Normierung (网络恐怖主义犯罪及其法律规制), Social Science Digest (社会科学文摘), 2017, Februar, S. 21–23. 17 JU Hao (车浩), Rechtsdogmatische Reflexion der Strafgesetzgebung – Analyse des neunten Strafrechtsänderungsgesetzes (刑事立法的法教义学反思——基于 的分析), Rechtswissenschaft (法学), 2015 Vol. 10, S. 3–16.
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Verbrechen und Verbrechen des Terrorismus sind Schwerpunkte innerhalb der chinesischen Strafgesetzgebung, es sind gleichzeitig diejenigen Bereiche, in denen Vorbereitungshandlungen als eigene Tatbestände neuformuliert werden.18 Zur Zeit bestimmen die §§ 120 und 120-1 bis 120-6 des chinesischen Strafgesetzes allesamt Handlungen wie organisieren, führen, teilnehmen und finanzieren, vorbereiten, verherrlichen, aufrufen, besitzen etc.; ihrer Natur nach sind dies allesamt Handlungen der Vorbereitung und nicht der Ausführung terroristischer Verbrechen. Das Strafrecht ändert die Vorbereitungshandlungen zu terroristischen Verbrechen in eigene Tathandlungen, durch eine Zerlegung des Verbrechensablaufs wird der Zeitpunkt der Bestrafung vorverlegt, in der Hoffnung dadurch die Keime des Terrorismus bereits abzuschrecken.19 Gleichzeitig hat das Auftauchen und die Entwicklung des Internet den Übergang von Vorbereitungshandlung zu Ausführung bei allen Verbrechen wesentlich erleichtert. Daher ist es ebenfalls notwendig bei Verbrechen, welche das Internet verwenden, so früh wie möglich präventiv einzugreifen. (2) Veränderung von Beihilfe in Haupttäterschaft. Ähnlich mit den Gedanken des Gesetzgebers, aus Vorbereitungshandlungen eigene Tatbestände zu machen, vollzog sich bei Beihilfe und Haupttäterschaft. Obwohl Täter, die das Internet dazu nutzen, um terroristische Angriffe auszuführen, nach der klassischen Strafrechtstheorie in unterschiedlicher Weise bestraft werden können, fällt deren Bestrafung im Vergleich zum Haupttäter meist geringer aus. Das »Strafgesetz« (刑法) von 1997 hat nur in § 285 den Tatbestand des illegalen Eindringens in Computersysteme und in § 286 die Zerstörung von computergestützten Datensystemen unter Strafe gestellt. Damit sind hauptsächlich nur direkte schwere Angriffe auf das Internet als Grundtatbestand geregelt. Andere Straftaten auf dem Internet müssen über die Bestimmungen des Allgemeinen Teils bezüglich der Tatbeteiligung verfolgt werden. Trotzdem ist das Internet zunehmend mehr mit der staatlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und der Leben der Bürger verbunden. Gleichzeitig steigt der Grad der Schädigung, welcher dadurch erreicht wird, dass traditionelle Verbrechen sich des Internet zur Ausführung bedienen, exponentiell an. Daher hat das »Strafrechtsänderungsgesetz« damit begonnen, die Verwendung des Internet mit dem Ziel, das Begehen von Verbrechen zu erleichtern, als eigenen Grundtatbestand zu fassen. Dadurch muss auch bei der Strafzumessung im Vergleich zur Haupttat nicht mehr eine Strafmilderung erfolgen. Bereits im »dritten Strafrechtsänderungsgesetz« wurde nicht 18 WU Shenkuo (吴沈括), Untersuchung über die Entwicklungstrends der globalen InternetGovernance unter dem Einfluß des Anti-Terrorismus (反恐形势下的全球网络治理发展态 势研究), Cyberspace Studies (网络空间研究), 2016, Vol. 4, S. 50–55. 19 LI Ziping (利子平), SHI Juhang (石聚航), Entwicklung und Verbesserung der Gesetzgebung gegen den Terrorismus in Kernchina (中国内地恐怖主义犯罪刑法立法的发展与完善), Macao Legal Studies (澳门法学), 2016, S. 47–54.
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lange nach dem Attentat vom 9/11 die »Finanzierung von terroristischen Aktivitäten« die Nutzung finanzieller Dienste auf dem Internet und die Nutzung von Finanzverbindungen auf dem Internet mit dem Ziel der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung als eigene Straftatbestände definiert, durch welche das Verbrechen unterdrückt werden sollte. Nur weil damals die internetbasierte Finanzwelt noch nicht weit genug entwickelt und allgemein verbreitet war, hatte diese Bestimmung damals kein großes allseitiges Interesse erweckt. In der Folge hat das »siebente Strafrechtsänderungsgesetz« die Bestimmungen des »Eindringens in und der illegalen Kontrolle von computergestützten Datensystemen« (§ 285 III) eingeführt; das »neunte Strafrechtsänderungsgesetz« von 2015 hat die »illegale Verwendung von Internetdaten« (§ 287-1) und die »Beihilfe zu verbrecherischen Aktivitäten auf dem Internet« hinzugefügt (§ 287-2). In all diesen Fällen wurden Verbrechenstatbestände, welche durch die Verwendung des Internet anderen Personen die Begehung von Straftaten erleichtern, in das traditionelle Strafrecht eingeführt. Gleichzeitig hiermit hat das »neunte Strafrechtsänderungsgesetz« die »finanzielle Unterstützung von terroristischen Aktivitäten« in »Beihilfe zu terroristischen Aktivitäten« verändert. Somit verwirklichte die Strafgesetzgebung den Trend, aus einem Nebentäter bei Bezug zu terroristischen Aktivitäten einen Haupttäter zu machen. (3) Ausweitung der Straftaten durch Unterlassen. Auf Grund der Anerkennung der allgemeinen Logik des menschlichen Alltags und dem Schutz, den der Bürger vernünftigerweise erwartet, bestimmt das Strafrecht normalerweise nur schwerwiegende Verletzungen von Rechtsgütern, die durch aktives Tun begangen werden, als Verbrechen. Reine Straftaten durch Unterlassen existieren nur als Ausnahmen. Weil aber der Cyber-Terrorismus stark verdeckt und schwer zu ermitteln als Merkmale aufweist, muss der Staat notgedrungen auf die Mitwirkungspflicht der allgemeinen Öffentlichkeit und der Angestellten bestimmter Branchen zurückgreifen, um dadurch die Repression gegen diese Art von Verbrechen zu verstärken. Das »neunte Strafrechtsänderungsgesetz« hat daher das vollkommen neue Verbrechen der »Weigerung der Ausführung des Sicherheitsmanagements im Internet« (§ 286-1) eingeführt. Gleichzeitig wurde das Verbrechen der »Weigerung Beweismittel bei Spionage zu übergeben« in das Verbrechen der »Weigerung Beweismittel bei Spionage, Terrorismus, Fanatismus zu übergeben« (§ 311). Das Ziel liegt offensichtlich darin, die Mitwirkungspflichten der Bürger beim Kampf gegen Cyber-Terrorismus zu verstärken. Dadurch wird wieder einmal die Schärfe des Kampfes des »Strafgesetz« gegen den Cyber-Terrorismus verstärkt. Insbesondere für diejenigen Personen, die sich beruflich an der Errichtung, am Aufrechterhalten, am Warten und im Service des Internet beteiligen, wird dadurch die Begründung der Neutralität der Technik, durch welche sie versuchen dem Kampf gegen den Cyber-Terrorismus zu entgehen, zunehmend geringer.
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2. Erleichterung der Strafverfolgung im Strafprozessrecht. Obwohl weder das Verfahren gegen Fälle von Internetverbrechen noch das Verfahren gegen terroristische Verbrechen im Abschnitt »besondere Verfahren« des StPG bestimmt sind, finden sich im StPG insgesamt sechs Paragraphen, welche sich mit besonderen Maßnahmen bei Fällen, welche Terrorismusbezug haben, beschäftigen. Dazu ist das Verfahren bei Internet-Verbrechen im Zuge der Veröffentlichung einer Reihe spezieller Bestimmungen, insbesondere der »Interpretation bezüglich Fragen zur Anwendung des StPG bei Fällen von Internetkriminalität« (关于 办理网络犯罪案件适用刑事诉讼程序若干问题的意见, 2014), den »Bestimmungen zu Fragen der Annahme, des Vorbringens und Untersuchens bzw. Beurteilens von digitalen Beweismitteln in Strafverfahren« (关于办理刑事案件收 集提取和审查判断电子数据若干问题的规定, 2016) und den »Bestimmungen bezüglich der Einziehung illegalen Vermögens von flüchtigen oder verstorbenen Strafverdächtigen und Angeklagten« (关于适用犯罪嫌疑人、被告人逃匿、死 亡案件违法所得没收程序若干问题的规定, 2017) zunehmend offensichtlich vom allgemeinen Strafverfahren unterschieden. Insgesamt kann man feststellen, dass der Gesetzgeber auf Grund der Tatsache, dass terroristische Verbrechen und Verbrechen auf dem Internet ein großes Schadenspotential, einen großen Einflussbereich und große Probleme bei der Repression aufweisen, die verfahrensrechtlichen Einschränkungen der Ermittlungsorgane in folgenden Punkten gelockert hat: (1) Beschränkung der Verfahrensrechte von Personen, gegen die ermittelt wird. Verbrechensbekämpfung und Garantie der Menschenrechte sind zwei Ziele, die das StPG gleichzeitig verfolgt, dennoch besteht zwischen beiden ein Spannungsverhältnis und bisweilen sogar ein Gegensatz. Dabei bezieht sich der Schutz der Menschenrechte nicht nur auf den Schutz der Rechte des strafrechtlich Verfolgten, sondern auch diejenigen der Opfer oder der potentiellen Opfer der Allgemeinheit. In Anbetracht der extremen Sozialschädlichkeit des Terrorismus ist es üblich, dass viele Staaten bei der Verfolgung dieser Art von Verbrechen die Rechte der Verdächtigen in angemessener Weise beschränken, um dadurch die Effizienz des Kampfes gegen diese Verbrechen zu erhöhen. Aus diesem Grunde hat auch das StPG bestimmt, dass die Ermittlungsbehörden für den Fall, dass die Gefahr einer Behinderung der Ermittlungen besteht, Zwangsmaßnahmen wie der Hausarrest an einem bestimmten Ort, beaufsichtigten Hausarrest oder Ausbleiben einer Verständigung der Angehörigen nach Ergreifung des Verdächtigen anberaumen können. Wenn bei dieser Art von Verbrechen Verdächtige unter beaufsichtigten Hausarrest gestellt werden, wenn sie festgesetzt oder verhaftet werden, dann kann die Ermittlungsbehörde für die jeweilige Zeit den Kontakt zwischen Verdächtigem und dem ihn verteidigenden Rechtsanwalt ablehnen. Natürlich gelten die besonderen Beschränkungen der Rechte von Verdächtigen, welche wegen terroristischer Aktivitäten verfolgt
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werden, nach StPG nur im Stadium der Ermittlungen, im sich anschließenden Abschnitt des Gerichtsverfahrens genießen beinahe alle Angeklagten dieselben Rechte und tragen dieselben Pflichten. Abgesehen davon wiegt der Vorwurf des Terrorismus so schwer, dass Angeklagte, denen dies vorgeworfen wird, die zusätzlichen Garantien haben, welche mit dem mittleren Volksgericht als Eingangsinstanz verbunden sind. (2) Erlaubnis technische Ermittlungsmaßnahmen durchführen zu dürfen. Verglichen mit traditionellen Ermittlungsmaßnahmen können technische Ermittlungsmaßnahmen noch korrekter, zeitnaher, umfassender Hinweise auf Verbrechen entdecken und aufbewahren. Sie erhöhen daher die Effizienz der Verbrechensbekämpfung. Gleichzeitig stellen sie eine ernste Beschränkung und einen schweren Eingriff in die Privatsphäre es Bürgers dar, so dass eine uneingeschränkte Anwendung zu Ängsten in der Psychologie der Allgemeinheit führt. Um also den Missbrauch dieser Ermittlungsmaßnahmen zu verhindern, hat § 148 StPG bestimmt, dass technische Ermittlungsmaßnahmen erst nach strenger Prüfung und bei Verdacht auf terroristische Aktivitäten oder bei Verdacht auf wenige andere schwere Verbrechen eingesetzt werden dürfen. Darüber hinaus bestimmt § 254 »Verfahrensbestimmungen über die Behandlung von Straffällen durch die Polizeibehörden« (公安机关办理刑事案件程序规定, VBSP), dass »(4) die Verwendung von Telekommunikation, Computersystemen und delivery chanels zur Begehung schwerer Straftaten und schwere Straftaten, die auf Computer-Netzwerke abzielen« ebenfalls in den Katalog der Straftaten eingereiht werden, in welchen technische Ermittlungsmaßnahmen angewandt werden können. Durch die offizielle Ermächtigung des Gesetzgebers und die Unterstützung durch die Bestimmung der Polizeibehörden sind die technischen Ermittlungsmaßnahmen zu einem wichtigen Mittel im Kampf gegen den CyberTerrorismus geworden. Bezüglich der Frage, was technische Ermittlungsmaßnahmen sind, bestimmt § 255 VBSP: »technische Ermittlungsmaßnahmen sind Maßnahmen zur Überwachung von Einträgen, Bewegungen, Kommunikation und Orten«. Einhergehend mit der technischen Entwicklung des Internet werden in Zukunft noch mehr und noch verschiedenartigere Ermittlungsmaßnahmen eingesetzt werden müssen, die dann notwendigerweise ebenfalls zum Bereich technischer Ermittlungsmaßnahmen zählen. (3) Lockerung für Überprüfung und Beurteilung von Beweismitteln. Nach den Forderungen, welche aus den Prinzipien beweisbasierter Urteile und der direkten Verhandlung resultieren, müssen alle Beweismittel in der Verhandlung von den Prozessparteien vorgebracht, erklärt und bewertet werden, um daran anschließend als Grundlage eines Urteils dienen zu können. Dennoch bestimmt § 152 StPG: »Falls Beweise die persönliche Sicherheit einer Person gefährden oder andere schwerwiegende Folgen haben, dann sollen Schutzmaßnahmen wie die Nicht-Offenlegung der Identität der Person oder der Art der Technik ergriffen
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werden; im Bedarfsfall können die Richter die Beweismittel außerhalb des Gerichtssaals prüfen.« Es kann unter bestimmten Umständen vorkommen, dass die Bewertung der technisch ermittelten Beweise ausgelassen wird. Auf der anderen Seite bestimmt § 20 »Interpretation bezüglich Fragen zur Anwendung des StPG bei Fällen von Internetkriminalität«: »Werden Internet-Verbrechen gegenüber nicht spezifischen Personen ausgeführt, oder werden diese organisiert, angestiftet oder wird Beihilfe dazu geleistet, dann kann für den Fall, dass Beweise, die auf Grund objektiver Beschränkungen nicht in ihrer Gesamtheit alle einzeln in mündlicher Verhandlung angeführt werden können, in eine Liste der elektronischen und schriftlichen Beweismittel eingebracht werden, in der Opfer, Menge schädlicher Daten, angegriffene Computersysteme und relevante Kapitalmengen aufgeführt werden. Unter genauer Erwägung der Verteidigung durch den Angeklagten und seinen Verteidiger werden die Beweismittel des gesamten Falls gemeinsam gewürdigt, so dass der relevante Sachverhalt dadurch festgestellt wird.« Diese Bestimmung verringert zu einem gewissen Grad ebenfalls den Maßstab, der bei der Bestimmung des Sachverhalts von Internet-Verbrechen angelegt wird. Weil Schlüsselbeweise in Fällen von Cyber-Terrorismus alle durch technische Ermittlungsmaßnahmen gewonnen werden und weil das Gegenüber der Angriffe ebenso wie das Gegenüber der Informationen zum Aufstacheln, Organisieren, Ausbilden und Verbreiten fast immer eine »unspezifische Mehrheit« ist, daher bedeutet dies, dass Beweisaufnahme und -beurteilung in Fällen von Cyber-Terrorismus sehr wahrscheinlich Gebrauch von Bestimmungen über die vereinfachte Beweiswürdigung machen.
VI.
Reflexion über die Gesetzgebung gegen den Cyber-Terrorismus
Einer der Gründe für Terrorismus besteht in einem kulturellen Konflikt, traditionelle soziale Kontrollmechanismen und die Ausgleichsfunktion des Rechts werden schwächer auf Grund des Gegensatzes politischer Forderungen und der Pluralisierung von Wertvorstellungen; genau hier erleichtert das Internet die beschleunigte Fragmentierung von Werten und Handlungsmustern.20 Der CyberTerrorismus ist eine hybride Form des Verbrechens, welche sich aus der Verbindung von Terrorismus und Cyber-Crime entwickelt hat, wobei sich das Strafrecht in angemessener Weise an diese Entwicklung anpassen sollte, um den bestmöglichen Effekt im Kampf hiergegen zu erreichen. Obwohl sich die chi20 HE Ronggong (何荣功), Überlegungen zur »präventiven« Strafgesetzgebung gegen den Terrorismus (»预防性«反恐刑事立法思考) China Law Journal (中国法学), 2016 Vol. 3, 145– 163.
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nesische Strafrechtsgesetzgebung gegen cyber-terroristische Aktivitäten in den letzten Jahren relativ stark entwickelt hat, bedarf es noch der Hilfe einer geänderten Gesellschaftspolitik und Verbesserungen durch den Gesetzgeber in anderen Bereichen, um Cyber-Terrorismus tatsächlich wirkungsvoll eindämmen zu können. Die Handhabe des Strafrechts kann nur das letzte Mittel im Kampf gegen diese Verbrechensformen sein. Um neue Situationen, die im Rahmen des Cyber-Terrorismus in der Zukunft wahrscheinlich auftauchen werden, besser begegnen zu können, sollte die chinesische Strafrechtswissenschaft folgende Problemstellungen aufarbeiten: 1. Beziehungen zwischen dem nationalen und dem internationalen Strafrecht. Obwohl die Bestimmungen des chinesischen Strafrechts gegen den Cyber-Terrorismus zurzeit bereits ein relativ vollständiges System gebildet haben, das in den strafrechtlichen Tatbeständen Handlungen in einem Umfang umfasst, welches dasjenige der meisten anderen Staaten übersteigt und was daher eine bestimmte Führungsrolle einnimmt, sind die Tatbestände keine, welche eine Zuständigkeit des internationalen Strafgerichtshofs begründen. Auch die »Internationale Konvention gegen den Terrorismus« (反恐国际公约) muss in nationales Recht überführt werden, bevor er wirklich Rechtskraft entwickelt. Auf Grund der unterschiedlichen Ausrichtungen und Interessen der einzelnen Staaten ist es sehr schwer, eine gemeinsame Haltung in Bezug auf Definition und Bestrafung von Terrorismus zu finden, deshalb wirkt das nationale Strafrecht angesichts des globalen Terrorismus außerordentlich begrenzt. Weil der CyberTerrorismus transnationale Charakteristika aufweist, findet ein großer Teil der Aktivitäten des Cyber-Terrorismus im Ausland statt, die Organisationen und Personen des Cyber-Terrorismus befinden sich ebenfalls zumeist im Ausland. Daher werden rein nationale Bemühungen der Kontrolle und Abwehr auf dem Internet als erfolglos bewertet. Dennoch ist das staatliche Souveränitätsprinzip im Internet kaum geringer als in der analogen Welt. Inwiefern ist es einem geschädigten Staat erlaubt, sich in Ermangelung einer justiziellen Zusammenarbeit zu verteidigen? Es ist eine große Streitfrage, ob ein Staat in einem solchen Fall das Internet anderer Staaten direkt besuchen und zum Gegenangriff übergehen darf. Wenn dazu Personen entsandt werden, um in einem anderen Staat Ermittlungsmaßnahmen durchzuführen und Verbrechen zu unterbinden, dann wird das vollends als Bruch der Souveränität anderer Staaten betrachtet.21 Die Effizienz von Gegenmaßnahmen entscheidet sich daher zu einem großen Teil auf transnationaler Ebene durch eine enge internationale Kooperation und ge21 Peter Grabowski (皮特·戈拉博斯基), Michael Stoll (迈克尔·斯托尔), Kurze Einführung in den Cyber-Terrorismus (略论网络恐怖主义), Henan Police Academy Journal (河南警察学 院学报), 2016, Vol. 4, S. 55–61.
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meinsame Aktionen. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die globale Zusammenarbeit der Regierungen der einzige Weg, um diese Art von Lösung zu realisieren.22 Obwohl die UN bezüglich der traditionellen Erscheinungsformen des Terrorismus eine Reihe von Konventionen gegen die widerrechtliche Entführung von Flugzeugen, des Angriffs auf den Luftverkehr, Flughäfen und Diplomaten, den illegalen Gebrauch von spaltbarem Material und Sprengstoffen etc. verabschiedet hat, wurde der Cyber-Terrorismus bislang in keiner der UN-Konventionen offiziell erwähnt. Obwohl die Resolutionen Nr. 1963, 2129 und 2133 des Weltsicherheitsrats der UN die Mitgliedstaaten dazu auffordern, Maßnahmen gegen den Cyber-Terrorismus zu ergreifen, sind die Bestimmungen gegen den Cyber-Terrorismus zu unbestimmt, so dass sie für das nationale Recht der einzelnen Staaten bislang nicht als eindeutig verbindliche Rechtsquelle des internationalen Rechts dienen können. Obwohl China unter dem Dach der Shanghai Konvention auch die »Shanghai Konvention gegen Terrorismus, Sezessionismus und Extremismus« (打击恐怖主义、分裂主义和极端主义上海公约) unterzeichnet hat und darin eindeutig auf »Cyber-Terrorismus« (信息恐怖主义) Bezug genommen wird, wo die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen werden, der Gefahr der Verwendung des Internets auf Grund terroristischer Ziele entgegenzutreten, so hat diese Konvention die Mitgliedstaaten nicht dazu aufgerufen, ihre relevanten gesetzlichen Bestimmungen gegenseitig anzugleichen. Daher wird nur nach einer politischen Koordinierung und nach einem Abgleich von Informationen gesucht, um dadurch die Sicherheit der einzelnen Mitgliedstaaten und der Organisation als Ganzem im virtuellen Raum zu realisieren. Abgesehen davon hat diese Konvention nur 6 Mitgliedstaaten, regional beschränkt sie sich auf Nordost- und Zentralasien, was ihren Einfluss ganz offensichtlich begrenzt. Daher kann der relative gesetzgeberische Vorsprung, den China im Inland auf diesem Gebiet des Strafrechts erreicht hat, auf einer breiteren internationalen Ebene nicht wirklich seine Wirkung entfalten. Darum sollte China in Zukunft bei seiner Gesetzgebung zur Repression des Cyber-Terrorismus die Abfassung eines relevanten internationalen Gesetzesrahmens noch mehr in den Fokus rücken. Es sollte sich zum Vorreiter der Unterzeichnung globaler, regionaler und bilateraler Abkommen machen und sich darum bemühen, dass der Standard, den China in seinen nationalen Gesetzen bereits erreicht hat, von anderen Staaten unterstützt wird, um so in diesem Bereich zu einer Basis des künftigen internationalen Rechts zu werden. Seit 2011 haben die Mitgliedstaaten der Shanghai Cooperation Organization bereits mehrmals einen Entwurf für »Handlungsempfehlungen für 22 Ulrich Sieber, Globale Risikogesellschaft und Strafrecht in der Informationsgesellschaft: Paradigmenwechsel des Strafrechts im 21. Jahrhundert (全球风险社会与信息社会中的刑 法:二十一世纪刑法模式的转换), ZHOU Zunyou (Trans.), China Law Publishing, 2012, S. 422.
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staatliche Informationssicherheit« (信息安全国际行为准则) an die Generalversammlung der UN mit der Bitte um Verabschiedung überstellt. § 2 IV dieser Handlungsempfehlungen ruft alle Staaten dazu auf, »bei der Repression von Verbrechen und terroristischen Handlungen, welche Informationstechnologien und das Internet benutzen, zusammenzuarbeiten.« (合作打击利用信息通信技 术和信息通信网络从事犯罪和恐怖活动) § 6 der Handlungsempfehlungen wiederholt, dass jeder Staat die Pflicht und das Recht hat, seine Internetsphäre und seine digitale Infrastruktur gegen Bedrohungen, Störungen, Angriffe und vor Schäden zu schützen. Sollten diese Handlungsempfehlungen eines Tages angenommen werden, dann könnte dadurch im Bereich des Cyber-Terrorismus die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen wesentlich verbessert werden. 2. Beziehung zwischen allgemeiner Strafgesetzgebung und besonderer Gesetzgebung im Verwaltungsrecht. In der Realität beruhen die gesetzlichen Bestimmungen Chinas zur Prävention und Repression von Cyber-Terrorismus nicht nur auf dem »Strafgesetz« (刑法) und dem »Strafprozessgesetz« (刑事诉讼法), sondern auch auf der Gesetzgebung des besonderen Verwaltungsrechts, wie dem »Antiterrorismusgesetz« (反恐怖主义法), dem »Internetsicherheitsgesetz« (网 络安全法) und dem »Staatssicherheitsgesetz« (国家安全法), dazu gesellen sich noch eine Reihe von »Verwaltungsbestimmungen« (行政法规), »juristischen Interpretationen« (司法解释) und »Dokumenten mit normativer Wirkung« (规 范性文件). Diese normativen Dokumente haben die Nachteile der Strafrechtsgesetzgebung, also den Mangel an Fokussiertheit, effektiv aufgearbeitet und sowohl den Standard für die Bestimmung als auch das Verfahren zur Umsetzung der entsprechenden Bestimmungen konkretisiert, so dass hierdurch die Systematisierung und Vervollkommnung der relevanten chinesischen Gesetzgebung erreicht wurden. Dennoch bringt es das quantitative Anwachsen der Gesetzgebung mit sich, dass die Inhalte der Sondergesetzgebung teilweise im Widerspruch zur Strafgesetzgebung stehen. § 92 des »Gesetzgebungsgesetz« (中华人民共和国 立法法) bestimmt: »Bei Gesetzen, Verwaltungsbestimmungen, regionalen Bestimmungen und Autonomiestatuten sowie einfachen Verordnungen und Exekutivbestimmungen, welche von derselben Institution erlassen wurden, geht die besondere Bestimmung vor der allgemeinen Bestimmung vor; wenn es Unterschiede zwischen neuen und alten Bestimmungen gibt, dann geht die neuere Bestimmung vor.« Es findet sich aber keine Bestimmung darüber, ob bei einem Widerspruch zwischen Bestimmungen, welche von unterschiedlichen Institutionen erlassen wurden, diejenigen der hierarchisch höheren Institution Anwendung findet. Wenn es zu Diskrepanzen zwischen dem vom Nationalen Volkskongress (NVK) erlassenen Strafrecht und den vom ständigen Ausschuss des NVK erlassenen Bestimmungen des besonderen Verwaltungsrechts im Einzelfall zu Widersprüchen kommt, dann sehen sich die zuständigen Behörden
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einem Problem in der Rechtsanwendung gegenüber. Dies beeinflusst wiederum die Legitimität, mit der Fälle erledigt werden, und macht sich auch in Verfahren gegen Cyber-Terrorismus bemerkbar. So bestimmt zB § 80 Antiterrorismusgesetz (ATG): »Wer an einer der folgenden Handlungen teilnimmt, der wird in minderen Fällen, die keine Straftaten sind, von der Polizei mit 10 bis 15 Tagen Arrest belegt, zusätzlich kann ein Bußgeld bis zu 10.000 RMB verhängt werden: (1) Verherrlichung von Terrorismus oder Extremismus oder Anstachelung zur Begehung terroristischer oder extremistischer Handlungen; … (3) Zwang Dritter, in der Öffentlichkeit Kleidungsstücke oder Abzeichen zu tragen, welche Terrorismus oder Extremismus verherrlichen; … .« Diese beiden Bestimmungen entsprechen gleichzeitig den Tatbeständen des § 122-3 chStGB,der ebenfalls die Verherrlichung von Terrorismus und Extremismus, die Anstachelung zur Verübung terroristischer und extremistischer Handlungen normiert; dazu wird in § 122-5 chStGB der Zwang Dritter zum Tragen von Kleidern oder Abzeichen, welche Terrorismus oder Extremismus verherrlichen als Straftatbestand bestimmt. Die »Teilnahme« (参与) an den vorstehend beschriebenen Tathandlungen ist ganz offensichtlich bereits ein Verbrechen. Trotzdem bestimmt § 80 ATG, dass die Handlung der »Teilnahme« (参与) in »minderen Fällen, welche keine Straftaten sind« eine normative Begründung für die Anwendung von Verwaltungssanktionen darstellt, bestimmt § 13 chStGB: »Straftaten sind alle Handlungen, die die Souveränität, territoriale Integrität und Sicherheit des Staates gefährden, den Staat aufspalten, das Regime der demokratischen Diktatur des Volkes umstürzen, das sozialistische System stürzen, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung beschädigen, das Staatseigentum oder das Kollektiveigentum der werktätigen Massen verletzen, das rechtmäßige private Eigentum der Bürger verletzen bzw. andere für die Gesellschaft gefährliche Handlungen, die dem Gesetz gemäß strafrechtlich zu bestrafen sind; jedoch gelten sie nicht als Straftaten, wenn sie den Tatumständen nach eindeutig geringfügig sind und keine erhebliche Gefährdung darstellen.« Hieraus wird deutlich, dass eine tatbestandsmäßige Handlung, welche gegen das Strafrecht verstößt und welche schädlich ist, nur dann nicht als Verbrechen gilt, wenn sie »eindeutig geringfügig« ist und »keine erhebliche Gefährdung« darstellt. Die Bestimmung über den Ausschluss geringfügiger Fälle aus dem Bereich des Verbrechens, wie er sich im ATG findet, steht also offensichtlich im Widerspruch mit der Definition des Verbrechens in § 13 chStGB. Dazu bestimmt § 45 ATG: »Aufgrund der Notwendigkeit der Informationsbeschaffung in der Anti-TerrorArbeit können Polizeibehörde, Staatssicherheitsbehörde und militärische Stellen nach den staatlichen Bestimmungen und auf Grund eines strengen Genehmigungsverfahren technische Ermittlungsmaßnahmen einleiten.« Inwiefern sich die technischen »Ermittlungsmaßnahmen« (技术侦察措施), von denen hier die Rede ist, von dem Begriff der »technischen Ermittlungsmaßnahmen« (技术侦查
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措施) in § 148 chStPO unterscheidet, ob sich innerhalb der Bedeutung Unterschiede ergeben oder ob es zu Überschneidungen kommt, das ist und bleibt unklar. Diese fehlende Einheitlichkeit der Fachbegriffe schafft für Behörden, welche einen Fall bearbeiten, augenscheinliche Probleme und kann sogar dazu führen, dass die Ermittlungsbehörden durch eine prioritäre Anwendung des ATG die zwingenden Bestimmungen der chStPO zu technische Ermittlungsmaßnahmen dahingehend vermeiden, dass sie sich nicht daranhalten, dass solche erst nach der offiziellen Eröffnung eines Falles eingeleitet werden können. Tatsächlich verhält es sich mit dem Cyber-Terrorismus nicht wie mit traditionellen natürlichen Verbrechen, vielmehr sind es typische gesetzlich oder administrativ definierte Verbrechen. Daher sollte die Strafgesetzgebung von der Gesetzgebung im Verwaltungsrecht wissenschaftlich gegeneinander abgegrenzt werden, sodass in der Repression dieser Verbrechen klar ist, welche Bestimmung welchen Stellenwert hat und welche Funktion sie erfüllt. Ebenso sollten dadurch die inhaltlichen Betonungen und formalen Unterschiede beachtet werden. Weil aber das Strafrecht in Bezug auf den Rechtsgüterschutz immer die Funktion einer ultimativen Garantie darstellt, ist es auch in der Repression von Verbrechen eine ultima ratio, das durch die Grundsätze des nulla poena sine lege und der Gesetzlichkeit des Verfahrens eingeschränkt wird. Da es im gesetzgeberischen Verfahren und in seinen Änderungen ein strengeres Verfahren durchläuft, sollten die Inhalte der Strafgesetzgebung immer ein hohes Maß an Allgemeinheit und Abstraktheit wahren, es kann sogar die Technik der Blankettstrafgesetzgebung anwenden, um dadurch in formaler Hinsicht seine Kontinuität zu wahren. Die Verwaltungsgesetzgebung sollte zum Ziel haben, die Rechtsgüter, welche durch das Strafrecht bestimmt sind, zu schützen. Hierzu bedient es sich inhaltlich konkreter, situativ stark abgestimmter, verfahrensmäßig einfach und flexibel handhabbarer Bestimmungen, um dadurch den Rechtsgüterschutz zu verbessern. Bei der Repression von Cyber-Terrorismus kommt der Strafgesetzgebung ganz offensichtlich eine wichtigere Rolle zu. Deshalb muss die Gesetzgebung im besonderen Verwaltungsrecht in ihren Grundbegriffen und in ihren fundamentalen Institutionen eine Kompatibilität mit dem Strafrecht waren. Einzig für den Fall, dass das Strafrecht keine eindeutige Bestimmung kennt, können für konkrete Aktivitäten des Cyber-Terrors und unter Berücksichtigung der relativen Rechte und Pflichten der Opfer, ergänzende und verfeinernde Bestimmungen erlassen werden. Aktuell hat der chinesische Strafgesetzgeber im materiellen und im prozessualen Strafrecht bei der Repression von Cyber-Terrorismus einen stabilen und vollständigen gesetzlichen Rahmen geschaffen, sodass nur einige wenige Phänomene terroristischer Aktivitäten auf dem Internet noch nicht kriminalisiert sind und als verwaltungsrechtswidrige Handlungen geahndet werden. Zu denken ist hier etwa an die Verherrlichung von Terrorismus, wenn die Handlung sich aus dem Inland an das ausländische Internet wendet, das Er-
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stellen extremistischer Webseiten, oder technische Maßnahmen und Geräte oder das Bereitstellen und die Beihilfe zum Bereitstellen von solchen, um die Abschirmung ausländischer terroristischer und extremistischer Informationen durch die Aufsichtsbehörden von Telefon und Internet durch in ihrer Herstellung, Verbreitung und Anwendung verbotene Mittel zu umgehen oder zu zerstören. Im juristischen Alltag muss dann im jeweiligen Einzelfall entschieden werden, ob die Schwelle zum Strafrecht bereits überschritten ist und die Tat als Verbrechen geahndet werden soll. 3. Beziehung zwischen materiellem und prozessualem Strafrecht. Mittlerweile sind die Bestimmungen des chStGB über Cyber-Terrorismus vergleichsweise fortschrittlich und übersteigen das Niveau der meisten Einzelstaaten bzw. der internationalen Verträge. Das Design der Verbrechen und Tatbestände umfasst grundsätzlich die unterschiedlichen Formen des Cyber-Terrorismus; daher bietet es im materiellen Strafrecht die Bedingungen für einen Kampf gegen diese Verbrechen. Teilweise wird vorgebracht, dass die neu eingeführten Verbrechen unter anderem als »Verherrlichung oder Entschuldigung von Terrorismus« (赞 美或辩解恐怖主义罪)23 und als »Erlangen terroristischer Informationen« (获取 恐怖主义信息罪)24 bezeichnet werden sollten. Doch können diese beiden Verbrechen zu einem gewissen Grad mit der Ausübung der grundrechtlichen Meinungsfreiheit in Konflikt geraten, weswegen die Legitimität und die Konstruktion der Tatbestände einer aufmerksamen Diskussion bedürfen. Obwohl es bei einem weiteren »Upgrade« des Cyber-Terrorismus nötig sein wird, die Repression desselben zu intensivieren, so ist der einzige Raum der übrig bleibt, um dies zu bewerkstelligen, derjenige des Strafrahmens. Weil aber das Merkmal des Extremismus intrinsisch zum Terrorismus dazugehört und als solches bereits die Strafschärfung beeinflusst, kann es den in diesem Zusammenhang erhofften Effekt nicht erreichen. Vor dem Hintergrund der strafrechtspolitischen Betonung der Prävention durch Strafrecht muss daher der Schwerpunkt der zukünftigen Strafrechtsgesetzgebung zum Anti-Terrorismus darauf liegen, wie man die entsprechende Entdeckung und das Verfahren der Verfolgung verbessern kann. Aktuell sollte das chinesische Strafverfahrensrecht im Hinblick auf Cyber-Terrorismus bezüglich der folgenden zwei Felder angepasst werden: Erstens sollten die international anerkannten Standards der Strafjustiz beim Aufbau eines fairen 23 WANG Zhixiang (王志祥), LIU Ting (刘婷), Das Verbrechen des Cyberterrorismus und seine rechtlichen Bestimmungen (网络恐怖主义犯罪及其法律规制), Social Sciences Digest (社 会科学文摘), 2017, Februar, S. 21–23. 24 PI Yong (皮勇), YANG Miaoxin (杨淼鑫), Micro-Terrorismus im Zeitalter des Internet und die Gesetzgebung zur Repression desselben (网络时代微恐怖主义及其立法治理), Wuhan University Journal (Philosophie und Sozialwissenschaften) (武汉大学学报(哲学社会科学 版)), 2017 Vol. 2, S. 73–84.
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Verfahrens als Zielmarke dienen. Hierzu bedarf es eines grundsätzlichen Umbaus des Systems der chinesischen Strafjustiz und ihrer Arbeitsweise, so dass die grundsätzliche Legitimität und Fairness der repressiven Verfahren gegen den Cyber-Terrorismus garantiert werden. Die UN-Resolution Nr. 191, welche von der 59. Hauptversammlung der UN im Jahr 2004 angenommen wurde, hat abermals betont, dass beim Kampf gegen den Terrorismus die Menschenrechte und Grundfreiheiten aller Menschen geachtet werden müssen. Dabei ist die Rechtsstaatlichkeit das entscheidende Element; die Achtung der Menschenrechte, die Achtung der Demokratie und die Achtung des Rechtsstaats bedingen sich gegenseitig. Daher wird gefordert, dass die Maßnahmen der einzelnen Staaten gegen den Terrorismus den Pflichten aus internationalen Bestimmungen genügen. Auch in dem »Leitfaden zur internationalen Informationssicherheit (7)« (信息安全国际行为准则 (七)), den die Mitglieder der Shanghai Cooperation Organization der UN überstellt haben, wird festgestellt, dass die einzelnen Staaten anerkennen sollten, dass »der Mensch online dieselben Rechte und Pflichten hat, die er offline auch hat (人们在线时也必须享有离线时享有的相 同权利和义务). Eine umfassende Achtung der Rechte und Freiheiten des Cyberspace beinhaltet das Recht und die Freiheit zur Suche, zum Erlangen und zum Verbreiten von Information.« Die Charakteristika des Cyber-Terrorismus bringen es mit sich, dass in großem Maße technische Ermittlungsmaßnahmen eingesetzt werden müssen, um diese Art von Verbrechen effizient zu entdecken und zu verhindern. Wenn aber technische Ermittlungsmaßnahmen wie »Internet Überwachung« (网络监控) oder »Erhebung des Augenscheins über die Distanz des Internet« (网络远程勘验) verbreitet eingesetzt werden, dann werden Persönlichkeitsrechte und Vermögensrechte der durch diese Maßnahmen Betroffenen ebenso eingeschränkt, wird in diese ebenso eingegriffen, wie bei den traditionellen Ermittlungsmaßnahmen der Durchsuchung und der Beschlagnahme. Es handelt sich also um Zwangsmaßnahmen im Rahmen der Ermittlungen. Daher sollten diese vor ihrer Durchführung durch eine neutrale Institution geprüft und genehmigt werden. Doch nach den aktuellen Bestimmungen der chStPO muss die Ermittlungsbehörde für diese Maßnahmen lediglich die interne Genehmigung durch den jeweiligen Behördenleiter einholen; ein Antrag auf schriftliche Genehmigung durch eine Justizbehörde ist nicht erforderlich. In einer Situation, in der es an einer externen Kontrolle durch die Justiz fehlt, ist der Missbrauch technischer Ermittlungsmaßnahmen sehr einfach. Obwohl die chStPO den Einsatz technischer Ermittlungsmaßnahmen auf besonders schwere Verbrechen wie Terrorismus, Cyber-Crime etc. einschränkt, bestimmt § 152 chStPO, dass »Material, das nach den in diesem Abschnitt bestimmten Ermittlungsmaßnahmen gewonnen wurde, […] als Beweismittel verwendet werden« darf. Das bedeutet, dass Verbrechen, die durch Beweismittel nachgewiesen werden, welche durch technische Ermittlungsmaßnahmen gewonnen wurden,
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andere sein können, als diejenigen, wozu die Gewinnung technischer Ermittlungsmaßnahmen ursprünglich beantragt wurde. Es ist also zulässig, dass die Beweismittel tatsächlich für den Nachweis eines anderen Verbrechens eingesetzt werden, so dass die Ermittlungsorgane in der Versuchung stehen, technische Ermittlungsmaßnahmen gegen Cyber-Terrorismus zu beantragen, obwohl sie eigentlich intendieren, gemeine Verbrechen zu verfolgen. Es ist daher notwendig, dass für technische Ermittlungsmaßnahmen eine juristische Überprüfung und ein schriftliches Genehmigungsverfahren eingeführt werden. Dazu sollte ein Ermittlungssystem eingeführt werden, in dem die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen führt. Die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zur Repression von Cyber-Terrorismus muss verstärkt werden. Zweitens ist die Existenz von ausgereiften, pluralistischen Sonderverfahren ein wichtiges Kennzeichen für den hohen Entwicklungsstand der Strafjustiz eines Landes. Es ist daher in rechtsstaatlich gut entwickelten Staaten eine allgemeine Methode, für terroristische Verbrechen, für Verbrechen der organisierten Kriminalität etc. gesonderte Verfahrensarten einzurichten. Das chStPG und die damit zusammenhängenden Justizinterpretationen haben bereits einige Sonderbestimmungen zu terroristischen Verbrechen und zu Verbrechen auf dem Internet hervorgebracht; diese sind jedoch zerstreut und es fehlen insbesondere Bestimmungen über spezielle Ermittlungsorgane, spezielle Zuständigkeiten und spezielle Wege der Amtshilfe. Auch innerhalb der Bestimmungen, welche die Rechte derjenigen, die strafrechtlich verfolgt werden, betreffen, gibt es Unzulänglichkeiten, die durch den Aufbau eines besonderen Verfahrens für Fälle des Terrorismus in systematischer Weise normativ aufgearbeitet werden sollten. 4. Beziehungen zwischen staatlichen Aufgaben und bürgerlichen Pflichten. Die Merkmale der technischen Versiertheit, Größe der Verbreitung und Stärke der Verschleierung des Cyber-Terrorismus ist bestimmend dafür, dass es mit rein staatlichen Mitteln zusehends schwieriger wird, diese Art von Verbrechen zu bekämpfen. Gleichzeitig nimmt die Beteiligung privaten Kapitals an Bereichen wie dem gesellschaftlich-ökonomischen Leben und der Infrastruktur ständig zu, so dass der Staat in seiner Aufgabe, den Cyber-Terrorismus zu bekämpfen, auf die Beteiligung von Nicht-Regierungsorganisationen, Unternehmen und Bürgern angewiesen ist. Dabei ist die Gestaltung der Rechte und Pflichten von Regierung und Bürgern ein wichtiges Problem, das der Strafgesetzgeber in Zukunft lösen muss. Auf der einen Seite steht die Frage, ob der Bürger das Recht hat, aus eigener Kraft gegen Cyber-Terrorismus vorzugehen, wenn die Regierung entweder keine Möglichkeit hat, Cyber-Terrorismus umgehend zu entdecken oder wenn sie im Fall der Entdeckung nicht die Mittel und Ressourcen hat, dagegen vorzugehen? Vor allem wenn Bürger ohne Genehmigung und ohne Ermächtigung selbsttätig Internetseiten des Cyber-Terrorismus oder feindlicher Staaten
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identifizieren, um diese zu attackieren, oder wenn Bürger »Anti-Hacker« Handlungen ergreifen, wenn sie also Hacker-Tools oder Viren entwickeln oder einsetzen, dann erhebt sich die Frage, ob dies unter dem Begriff der Notwehr abgedeckt ist, oder ob dies selbst wiederum unter die Kategorie des CyberTerrorismus fällt, ist bislang nicht autoritativ entschieden. Es ist daher offensichtlich, dass einer der Schwerpunkte, welche der Gesetzgeber in Zukunft im materiellen und im prozessualen Strafrecht einer eindeutigen Regelung zuführen muss, die Normierung von Handlungen gegen Cyber-Terrorismus, welche von Bürgern ausgeführt werden, ist. Auf der anderen Seite neigt die Regierung in einer Zeit, in der sie zunehmende Schwierigkeiten damit hat, dem Problem des Cyber-Terrorismus zu begegnen, dazu, die Mitwirkungspflichten des Bürgers zu erweitern um den Aufgaben, deren Lösung eine Sache der Regierung ist, auch tatsächlich nachkommen zu können. Einhergehend mit der permanenten Veränderung des Cyber-Terrorismus wird auch der Umfang der bürgerlichen Pflichten zur Mitwirkung zunehmend erweitert; darunter befinden sich die sofortige Entdeckung, Meldung und Verhinderung von Cyber-Terrorismus, die gesetzlich bestimmte Speicherung, das Sammeln und die Übergabe von Beweismitteln zum Cyber-Terrorismus, ja sogar die routinemäßige Berichtspflicht über bestimmte Sachverhalte der Internet-Sicherheit und die Verpflichtung, der Regierung technische Möglichkeiten zum Auslesen von Software und Softwarelücken zur Verfügung zu stellen. Diese Pflichten vergrößern nicht nur die unternehmerischen Kosten in beträchtlicher Weise, sondern führen auch dazu, dass die Kunden aus Angst vor Datenklau auf die Dienste von Anbietern verzichten. Das ist aber wiederum eine existentielle Bedrohung für die betroffenen Unternehmen. In jüngster Zeit gibt es bereits mehrere Beispiele fortgeschrittener Staaten, welche die informationelle Auskunft von Nicht-Regierungsorganisationen und die Tendenz zur gemeinsamen Nutzung von Informationen zum Inhalt haben. Siehe etwa die Einigung von EU-Parlament und EU-Kommission über eine Gesetzgebung zur Internet-Sicherheit vom 7. 12. 2015 oder den Cybersecurity Act vom 18. 12. 2015 in den USA. All diese Bestimmungen zielen darauf ab, die Hindernisse zwischen Regierung und privaten Unternehmen bei der gemeinsamen Verwendung von Informationen, welche für die Cyber-Sicherheit relevant sind, abzubauen. Dazu sollen rechtliche Risiken, wie etwa das Verbrechen des Verrats persönlicher Daten von Bürgern, welche sich aus dieser Zusammenarbeit für die einzelnen Subjekte ergeben, vermieden werden. Die chinesische Gesetzgebung hierzu ist bislang weitgehend auf der Stufe der Stärkung der Mitwirkungspflichten der Bürger stehen geblieben, es fehlt ihr aber an einer agilen, feinen und eindeutigen Bestimmung zum Haftungsausschluss. Dies führt leicht zu Spannungen zwischen Staat und Bevölkerung. In einem Fall, in dem in Kalifornien im Dezember 2015 eine Terrorattacke stattgefunden hatte, wollte die US-amerikanische Polizei das iPhone des Täters auslesen und ver-
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langte dafür die Unterstützung des Herstellers. Apple weigerte sich jedoch, bei der Entschlüsselung zu helfen. Der Streit landete vor dem Gericht, das entschied, dass Apple die Pflicht zur Zusammenarbeit hat, es verlangte aber gleichzeitig, dass die Regierung den Forderungen der Legitimität, Rationalität, der Technik, der Ersetzbarkeit, der finanziellen Gegenleistung, der Haftung und des Rechtsschutzes entsprechen müsse.25 Ohne Zweifel bildet dieser Fall für den zukünftigen chinesischen Gesetzgeber einen wichtigen Referenzwert.
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Arndt Sinn*
Ermittlungen im Darknet
I.
Einleitung und Grundlagen
Das Internet ist heute ein nicht mehr wegzudenkender Teil unserer Gesellschaft. Es ermöglicht neue Formen der Kommunikation, Information und des Konsums sowie der Algorithmisierung von Produktion, Dienstleistungen und Verwaltung. Gleichzeitig wird aber auch die Nutzung des Internets für kriminelle oder die gesellschaftliche und staatliche Sicherheit gefährdende Aktivitäten immer wieder thematisiert. In den 90er Jahren war das primär der unkontrollierte Zugang zu Pornographie, in den 2000er Jahren Tauschbörsen für Musik und Filme und heute in den 2010er Jahren wird immer wieder über die Radikalisierung von Tätern durch im Internet kursierende Medien sowie den Zugang und die Verfügbarkeit von Drogen und Waffen gesprochen. Cybercrime gehört zu den priorisierten Deliktsbereichen in der deutschen Strafverfolgungsarchitektur. Technisch gesehen hat sich seit der weiten Verfügbarkeit des Internets in Form des WorldWide-Web (WWW) bis zum heutigen Tag viel verändert. Neben dem öffentlich leicht zugänglichen sowie von Google und anderen Suchmaschinen indexierten WWW sind heute weitere Ausprägungen des Internets bekannt. Einige davon sind gezielt darauf ausgelegt, eine nicht oder nur schwer nachvollziehbare Kommunikation und Datenaustausch zu ermöglichen. Sie werden heute oft unter dem Begriff »Darknet« zusammengefasst. Es handelt sich um Kanäle im Internet, die oft auch für illegale Zwecke genutzt werden. Hierzu gehören Marktplätze wie Silk Road und zahlreiche Foren im TOR Netz (the onion router network), aber auch Tauschbörsen für Software und Medien. Dabei darf nicht übersehen werden, dass natürlich auch zahlreiche völlig legale und nachvollziehbare Nutzungsformen im Darknet vorhanden sind, die ausschließlich den Aspekt des freien und unbeobachteten Informationsaustauschs verfolgen. Im Darknet, dem »dunklen Teil des Internets«, ist es tatsächlich in vielen Ecken und Winkeln so finster, dass Kriminelle ihre Geschäfte nahezu ohne das * Prof. Dr. Prof. h.c. Arndt Sinn, Universität Osnabrück, Fachbereich Rechtswissenschaften
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Arndt Sinn
Risiko entdeckt zu werden abwickeln können. Es gibt keine zentralen Server, Google hilft nicht bei der Suche, und die Internetadressen bestehen aus kryptischen Buchstaben-Zahlenfolgen mit der Endung ».onion«. Das liegt an der Architektur des und dem Zugang zum Darknet: Während im World Wide Web die Daten auf zentralen Rechnern liegen, die dann vom Nutzer direkt abgerufen werden können, werden die Daten im Darknet dezentral auf einzelnen PCs von Nutzern des Netzwerks bereitgestellt und beim Abruf über weitere Nutzer-PCs umgeleitet. Zugang zum Darknet erhält der Nutzer über kostenlose Anonymisierungssoftware. Am weitesten verbreitet ist der TORBrowser. Diese Software leitet die verschlüsselte Kommunikation zwischen zwei PCs stets über einen dritten Rechner. Damit wird es unmöglich, dass die Kommunikationspartner wissen, mit wem sie tatsächlich in Kontakt stehen. Die wahren Identitäten bleiben für alle Beteiligten im Dunkeln. Auch die Polizei hat bisher eher wenige Möglichkeiten, die dunklen Räume zu erhellen. Genau diese Eigenschaften des Darknets machen es so attraktiv für Kriminelle. Es sind die idealen Bedingungen, um mit niedrigstem Entdeckungsrisiko Geschäfte abzuwickeln. Im Darknet wird alles angeboten: Drogen1, Waffen, Kinderpornographie bis hin zum live gestreamten Missbrauch, gefälschte Pässe sowie alle Arten krimineller Dienstleistungen (crime-as-a-service). Bezahlt wird i. d. R. mit der Kryptowa¨hrung Bitcoin, einer virtuellen Währung, die ebenfalls die Anonymität des Zahlenden wahrt. Bitcoin nutzt als Datenbasis eine Blockchain, in der die gesamte Historie aller jemals durchgefu¨ hrten Transaktionen enthalten ist. Diese Blockchain ist vollsta¨ndig transparent und fu¨ r jeden stets einsehbar. Entita¨ten, zwischen denen Bitcoins transferiert werden, sind sogenannte Bitcoin-Wallets. Diese sind per se nicht an die Identita¨ t einer Person geknu¨ pft und ko¨ nnen in beliebiger Anzahl erzeugt werden, sodass Partner einer Bitcoin-Transaktion in der Regel vollsta¨ndig anonym bleiben ko¨ nnen.2 Entsprechend erfreut sich Bitcoin großer Beliebtheit als Wa¨ hrung fu¨ r die Durchfu¨ hrung illegaler Handelsgescha¨fte im Darknet. Auf der Plattform Silk Road konnte seit der Inbetriebnahme im Jahr 2011 nahezu alles käuflich erworben werden, was illegal ist. Der Umsatz wurde auf 1,2 Mrd. US-Dollar geschätzt. Allein der Handel mit Drogen soll ein Volumen von 1 Mrd. US-Dollar betragen haben. Das amerikanische FBI hat den Betreiber der Seite im Oktober 2013 festgenommen und die Seite gesperrt. Die Ermittlungen waren nur deshalb erfolgreich, weil der Betreiber seine Identität in Foren und 1 Ausführlich dazu Europol, Drugs and the darknet – Perspectives for enforcement, research and policy, abrufbar unter: https://www.europol.europa.eu/publications-documents/drugs-anddarknet-perspectives-for-enforcement-research-and-policy (abgerufen am 9. 2. 2018). 2 Vgl. Boehm/Pesch, Bitcoins: Rechtliche Herausforderungen einer virtuellen Währung – Eine erste juristische Einordung, MMR 2014, 75ff.
Ermittlungen im Darknet
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sozialen Netzwerken aus Mangel an Vorsicht offengelegt hatte. Wenig später wurde Silk Road 2.0 eröffnet und im Jahr 2014 zerschlagen. Erfolgreich waren dabei Ermittlungen durch verdeckte Ermittler, die als Kunden u. a. Drogen gekauft hatten, um an die Identitäten der Verkäufer zu gelangen. Inzwischen wurde Silk Road 3.0 eröffnet. Nachhaltig haben die Ermittlungserfolge die illegalen Geschäfte im Darknet nicht schwächen können. Auch das Waffengeschäft blüht. Von der Handfeuerwaffe bis zum Maschinengewehr ist alles zu haben, und die Angebote werden angenommen: Der Amokläufer von München hatte die Tatwaffe im Darknet erworben.3 Auch der Tausch von Kinderpornographie findet auf einschlägigen Plattformen statt. Um tauschen zu können, muss man sich als vertrauensvoll erweisen, indem man selbst entsprechende Inhalte einstellt. Andernfalls findet man keine Tauschpartner im Darknet. Aufgrund des niedrigen Entdeckungsrisikos im Darknet scheint die Hemmschwelle beim sexuellen Missbrauch von Kindern auch noch zu sinken. Der Missbrauch kann bestellt und live via Skype mitverfolgt werden. 20 Minuten kosten 100 US-Dollar. Dafür verkaufen philippinische Eltern ihre Kinder zu sexuellem Missbrauch vor einer Online-Kamera. Europol sind Netzwerke von Online-Kindesmissbrauch mit bis zu 25.000 Teilnehmern bekannt.4 Auch die Dokumentenfälscher bieten alles an, was Profit verspricht: EU-Reisepässe, US-Pässe, Fahrausweise etc. Zusatzleistungen versprechen einen Eintrag in die entsprechenden Datenbanken. Zu den Wachstumsmärkten gehört auch das Angebot krimineller Dienstleistungen. So kann auf Bestellung jede Art von Schadsoftware erworben werden, die Rechner ausspioniert, lahmlegt oder für weitere kriminelle Zwecke missbraucht. Sogar ein Mord kann bestellt werden.5 Dieses »Darknet« hat als vom restlichen Internet aus nicht unmittelbar zugänglicher Raum für extremistische Botschaften und kriminelles Gedanken- und Handelsgut sowie als Kommunikations- und Interaktionsform in einem scheinbar rechtsfreien Raum zunehmend an Relevanz gewonnen. Im Darknet ist eine Umgebung entstanden, die durch das Versprechen von Anonymität und 3 BKA, Bundeslagebild Waffenkriminalität 2016, S. 9, abrufbar unter: https://www.bka.de/Sha redDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Waffenkriminalitaet/ waffenkriminalitaetBundeslagebild2016.html;jsessionid=7AE254EC774D85ADFDA55F9E485 CB3CB.live0612?nn=28062 (abgerufen am 9. 2. 2018). Das Landgericht München I hat den Händler, der die Waffe im Darknet angeboten und an den Amokläufer verkauft hatte, am 19. 01. 2018 wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Körperverletzung und Verstößen gegen das Waffengesetz zu sieben Jahren Haft verurteilt. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, ihre Veröffentlichung steht noch aus. 4 Siehe dazu Europol, Internet and Organised Crime Threat Assessment, S. 58ff., abrufbar unter: https://www.europol.europa.eu/iocta/2017/index.html (abgerufen am 9. 2. 2018). 5 Zu den verschiedenen Erscheinungsformen siehe Europol, Internet and Organised Crime Threat Assessment, abrufbar unter: https://www.europol.europa.eu/iocta/2017/index.html.
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Arndt Sinn
Nichtverfolgbarkeit attraktiv auf Radikale und Kriminelle wirkt. Neue Erkenntnisse des BKA6 gehen davon aus, dass sich etwa 10–15 % der Syrienreisenden ausschließlich u¨ ber das Internet radikalisiert haben, ein signifikanter Anteil davon ist auf Darknetaktivita¨ ten zuru¨ ckzufu¨ hren, die Dunkelziffer liegt hier wahrscheinlich deutlich ho¨ her. Auch die organisierte Kriminalität hat das Darknet als Handelsplatz für illegale Aktivitäten, Dienstleistungen und Produkte längst erkannt. Europol7 und auch das Bundeskriminalamt8 nennen hier insbesondere crime-as-a-service als neue Betätigungsform. Beobachtet werden internationale, arbeitsteilig strukturierte Gruppen, die in nicht öffentlich zugänglichen Teilen des Internets eine breite Palette von illegalen Dienstleistungen anbieten und damit hohe Gewinne erwirtschaften. Angeboten werden bspw: Ransomware (-toolkits), Bereitstellung von Botnetzen für verschiedene kriminelle Aktivitäten, DDoS-Attacken, Malwareherstellung und -Verteilung, Datendiebstahl, Verkauf/Angebot sensibler Daten, z. B. Zugangs- oder Zahlungsdaten, Vermittlung von Finanz- oder Warenagenten, die die Herkunft der durch Straftaten erlangten Finanzmittel oder Waren gegen Bezahlung verschleiern, Kommunikationsplattformen zum Austausch von kriminellem Know-how, wie beispielsweise Foren der Underground Economy, Anonymisierungs- und Hostingdienste zum Verschleiern der eigenen Identität, sog. Dropzones zum Ablegen illegal erlangter Informationen und/oder Waren. In rechtlicher Hinsicht gilt es im Zusammenhang mit Ermittlungen im Darknet verschiedene Fragen zu beantworten: Welche Ermächtigungsgrundlagen können genutzt werden? Können Ermittlungen grenzüberschreitend durchgeführt werden? Kann unmittelbar auf Daten, die in einem anderen Staat liegen, zugegriffen werden? Wie können Beweise, die in einem anderen Staat erhoben werden, in ein anderes Land transferiert werden (Beweistransfer)? Können die Beweise verwertet werden (Beweisverwertung)? Das sind nur einige der derzeit diskutierten Fragen. In diesem Beitrag werde ich mich auf die mit dem Darknet in Zusammenhang stehenden Ermittlungen und deutschen Ermächtigungsgrundlagen konzentrieren.
6 So das Ergebnis einer Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind, BKA, Lageanalyse »Ausreise von Personen aus dem islamischen Spektrum in Berlin nach Syrien / Irak«, abrufbar unter: https://www.berlin.de/sen/inneres/verfassungsschutz/aktuellemeldungen/2015/artikel.329003.php (abgerufen am 9. 2. 2018). 7 Europol, Internet and Organised Crime Threat Assessment, S. 58ff., abrufbar unter: https:// www.europol.europa.eu/iocta/2017/index.html (abgerufen am 9. 2. 2018). 8 BKA, Bundeslagebild Cybercrime 2016, S. 18f., abrufbar unter: https://www.bka.de/Shared Docs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Cybercrime/cybercrime Bundeslagebild2016.html?nn=28110 (abgerufen am 9. 2. 2018).
Ermittlungen im Darknet
II.
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Das Darknet, ein rechtsfreier Raum?
Ha¨ ufig wird das Darknet als rechtsfreier Raum, also einem begrenzten Bereich, in dem anscheinsweise keine Gesetze gelten, bezeichnet.9 Rechtsfreie Räume werden in der Rechtstheorie durchaus diskutiert,10 aber die Merkmale des rechtsfreien Raums treffen auf das Darknet gerade nicht zu, denn im Darknet steht nicht die Geltung des Rechts als Erlaubnis oder Verbot in Frage. Selbstverständlich gilt auch bei Nutzung von TOR das Verbot, die Rechte anderer zu verletzen. Allerdings wird durch die erzeugte Anonymität das Risiko der Entdeckbarkeit illegalen Verhaltens aufgrund der beschriebenen technischen Möglichkeiten auf ein verschwindend geringes Maß reduziert. Um was es wirklich geht, ist also nicht die Rechtsfreiheit des Raums, sondern die eingeschränkte Ermittelbarkeit von Personen – also die Ermittlungsfreiheit des Darknets. Die Frage muss also richtig lauten: Ist das Darknet ein ermittlungsfreier Raum?
III.
Das Darknet, ein ermittlungsfreier Raum?
Die Problematik um das Darknet, die Nutzung von Kinderpornonetzwerken, Drogen- und Waffenmärkten und der damit einhergehenden Anonymität der Täter ist den Strafverfolgungsbehörden natürlich nicht verborgen geblieben. Seit vielen Jahren versuchen die Ermittler kriminellen Netzwerken auf die Spuren zu kommen und illegale Darknet-Aktivitäten zu zerschlagen. Verschiedene Abteilungen überall auf der Welt haben sich auf Ermittlungen in diesem Bereich spezialisiert. Auch in Deutschland gibt es Spezialabteilungen, die sich mit diesem Thema intensiv beschäftigen.11 Um es vorwegzunehmen, Ermittlungen im Darknet sind durchaus möglich. Allerdings gleicht die Verfolgungspraxis einem Hase und Igel Wettlauf, wobei es immer nur darum gehen kann, den Abstand zwischen den Akteuren so gering wie möglich zu halten. Denn kriminelle Ak9 Beispielsweise »Das Darknet ist ein fast rechtsfreier Raum.«, Soldt, Aus dem Darknet in Haft, FAZ.net vom 28. 7. 2016, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminali taet/prozess-gegen-darknethaendler-14361824.html (abgerufen am 9. 2. 2018); »Ein rechtsfreier Raum.«, Seher, Ein Arbeitsplatz im Dunkeln, Westfälische Rundschau vom 12. 7. 2013, abrufbar unter https://www.wr.de/politik/ein-arbeitsplatz-im-dunklen-id8181561.html (abgerufen am 9. 2. 2018). 10 Vgl. m. w. N. Rottenwallner, Über die (Un-)Möglichkeit »rechtsfreier Räume«, VR 2017, S. 253ff.; Kang, 1990, Gesetzesflut und rechtsfreier Raum. 11 Beim BKA besteht die Gruppe SO 4 – Cybercrime der Abteilung Schwere und Organisierte Kriminalität (SO), vergleichbare Einrichtungen bestehen bei den LKAs, z. B. das CybercrimeKompetenzzentrum beim LKA NRW (CCCC), das Cyber-Competence-Center (CCC) beim LKA Brandenburg sowie das Dezernat Cybercrime/Digitale Spuren beim LKA SchleswigHolstein.
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Arndt Sinn
teure nutzen jede technische Möglichkeit um ihren Vorsprung gegenüber den Strafverfolgungsorganen auszubauen. Immerhin sind Ermittlungserfolge12 im Zusammenhang mit der Zerschlagung von Silk Road-Plattformen und anderen Handelsplätzen zu verzeichnen.
1.
Ermittlungstaktisches Vorgehen
1.1
Schaffung von illegalen Angeboten und Ausnutzung des Vertrauens
Es sind Fälle bekannt, in denen sich Ermittler über einen längeren Zeitraum als Waffenverkäufer ausgegeben haben. Da für den Versand der bestellten Waren eine Empfängeradresse anzugeben war, konnten die Ermittler die Identitäten der potenziellen Kunden leicht herausfinden. Ein ähnliches Vorgehen findet man auch im Zusammenhang mit dem Drogenhandel. Im Zusammenhang mit Silk Road 1.0 hatten die Ermittlungsbehörden den Account eines Mitarbeiters des Darknet-Schwarzmarktes übernommen. Dem Informant gelang es, so viel Vertrauen zu gewinnen, dass die Behörden beim Übergang von Silk Road 1.0 zu 2.0 Ende 2014 bereits einen ihrer Männer so tief im inneren Zirkel des Schwarzmarkts platziert hatten, dass er den Administrator direkt kontaktieren konnte. Die notwendigen Informationen zur Ermittlung der Identität des Administrators konnte an die Strafverfolgungsorgane weitergeleitet werden.13 In Australien hatte die Polizei für mehrere Monate den Account eines Administrators einer Kinderpornografie-Website übernommen. Das führte zur Verhaftung von Pädophilen auf der ganzen Welt.14 Ermittlungstaktisch wird hier das Vertrauen der beteiligten Kommunikationspartner an den illegalen Handelsplattformen ausgenutzt. Die Ermittler verdecken mit dem TOR-Netzwerk ihre Identität und spiegeln dem Kommunikationspartner vor, ebenfalls Teil des illegalen Netzwerkes zu sein. Die damit einhergehenden rechtlichen Probleme sind enorm. In Deutschland sind derartige Verhaltensweisen der Strafverfol12 Darunter die Abschaltung der beiden größten Seiten »AlphaBay« und »Hansa« im Jahr 2017, Europol, Pressemitteilung vom 20. 7. 2017, abrufbar unter: https://www.europol.europa.eu/ newsroom/news/massive-blow-to-criminal-dark-web-activities-after-globally-coordinatedoperation (abgerufen am 9. 2. 2018). Besonders erfolgreich auch die Operation »Onymous« am 6. 11. 2014, im Zuge derer eine Vielzahl illegaler Handelsplätze gleichzeitig abgeschaltet wurde, siehe Europol, Europol Review 2014, S. 16, abrufbar unter: https://www.europol.euro pa.eu/activities-services/main-reports/europol-review-2014 (abgerufen am 9. 2. 2018). 13 Vgl. Kuhn, FBI verhaftet mutmaßlichen Betreiber der »Silk Road 2.0«, SZ.de vom 6. 11. 2014, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/digital/online-drogenplattform-fbi-verhaftetmutmasslichen-betreiber-der-silk-road-1.2209423 (abgerufen am 9. 2. 2018). 14 Schulz, Australiens Polizei betrieb riesige Kinderporno-Plattform, Spiegel online vom 11. 10. 2017, abrufbar unter http://www.spiegel.de/panorama/justiz/australien-polizei-ermitteltemit-eigener-kinderporno-plattform-a-1172503.html (abgerufen am 9. 2. 2018).
Ermittlungen im Darknet
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gungsorgane an strengen Voraussetzungen zu messen, die ich später noch behandeln werde. 1.2
Hacking
Eine weitere Möglichkeit, die Identität von Nutzern aufzudecken ist es, deren Hardware zu infizieren, so dass bspw. IP-Daten und MAC Adressen übertragen und bestimmten Nutzern zugeordnet werden können. Im Zusammenhang mit der Aktion des FBI »Playpen«15 hatten die Strafverfolgungsbehörden im Februar 2015 die im Darknet vorhandene Seite »Playpen« beschlagnahmt. Für einen Zeitraum von zwei Wochen wurde diese Seite dann mit Malware infiltriert. Dies geschah zu dem Zweck, die wahre IP-Adresse der Nutzer des Kinderpornographieforums offenzulegen. Durch die Malware wurde das möglich. Den Ermittlern gelang es über 1000 US basierte IP-Adressen zu sammeln. Außerdem konnten 3229 IP-Adressen Europa zugeordnet werden. Aus diesem Grund war auch Europol an der Aktion beteiligt. Details zu der Aktion wurden nicht bekannt gegeben. Die rechtlichen Schwierigkeiten liegen jedoch auf der Hand, denn das Hacking durch die Strafverfolgungsbehörden bspw. in Deutschland, Österreich und auch in anderen EU-Ländern ist grundsätzlich nicht erlaubt (zur QuellenTelekommunikationsüberwachung und Online-Durchsuchung vgl. u. V.I.). Die Frage die sich nun aufdrängt, ist, ob die von US-Seite erlangten Beweise auch in einem anderen Staat verwertet werden dürfen, wenn die Maßnahme dort nicht erlaubt war. Es geht also um den Beweistransfer. Davon abgesehen ist auch problematisch, ob die US-Behörden überhaupt die Ermittlungsbefugnis haben, Rechner, die ihren Standort in anderen Ländern haben, mit einer Maleware zu infiltrieren. Technisch ist es auch möglich mit Hackingmethoden den Datenverkehr und damit die Identität des Nutzers aus dem TOR-Netzwerk herauszuleiten. Dies setzt freilich immer voraus, dass der Nutzer den »Köder«, den die Strafverfolgungsbehörden mit einem entsprechenden Link auf einer Seite platzieren auch »frisst«. Sobald die IP-Adresse ermittelt wurde, kann über den Internetanbieter Genaueres über den Nutzer der IP-Adresse erfahren werden. Im Anschluss daran können dann die Räumlichkeiten des Verdächtigen durchsucht werden.
15 Europol, Pressemitteilung vom 5. 5. 2017, abrufbar unter https://www.europol.europa.eu/ newsroom/news/major-online-child-sexual-abuse-operation-leads-to-368-arrests-in-europe (abgerufen am 9. 2. 2018).
148 1.3
Arndt Sinn
Ermittlungen open source
Das Darknet mag zwar sehr dunkel sein, aber die Nutzer sind nicht immer so vorsichtig, dass Ermittlungen völlig aussichtslos werden. Hinweise auf die Identität können also auch dort hinterlassen werden, wo in Foren diskutiert wird oder wo Informationen ausgetauscht werden. So fand im Zusammenhang mit der Zerschlagung von Silk Road ein Steuerfahnder aufgrund einer Google-Recherche heraus, dass der Gründer der Silk Road-Seite, Ross Ulbricht, in einem beliebten Bitcoin Forum Werbung für Silk Road gemacht hatte. In einem seiner Posts hatte er sogar seine persönliche Email Adresse angegeben. Das hat ihn schließlich verraten. Die Recherche in open source Informationen kann also auch erfolgversprechend sein.16
1.4
Folge dem Geld
Wie im Bereich der offline Kriminalität gilt auch im Zusammenhang mit der Internetkriminalität und insbesondere im Zusammenhang mit dem Darknet der Grundsatz: Folge dem Geld. Damit ist gemeint, dass kriminelle Akteure selbstverständlich die Gewinne ihrer Aktivitäten nutzen wollen. Dies setzt voraus, dass das Geld gewaschen wird. So überrascht es nicht, dass auch die Kryptowährung Bitcoin, wenn sie auf kriminelle Art und Weise erlangt wurde, gewaschen werden muss, will man sie unauffällig in den legalen Finanzkreislauf zurückschleusen. Insbesondere werden Transaktionen von den Ermittlern beobachtet, mit denen Bitcoins in Bargeld eingetauscht werden. Die Überweisung von Fonds und Vermögenswerten aus dem Darknet kann den Strafverfolgungsbehörden also wichtige Anhaltspunkte liefern.
1.5
Die Logistik
Solange man Drogen, Waffen oder welches Gut auch immer nicht via Email verschicken kann, solange wird es Logistikunternehmen geben müssen, die illegale Waren transportieren und ausliefern. Also ist das Darknet letztendlich auch auf klassische Transportmittel angewiesen. In diesem Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, dass die Zollbehörden Möglichkeiten zur Überwachung des Postverkehrs erhalten müssen.17 Nicht selten scheitern sie aber an den fehlenden Ressourcen oder technischen Möglichkeiten zur Überwachung des Postverkehrs. In Deutschland werden nur 2 bis 5 % aller Postsendungen kon16 Bug, Im Darknet, FAZ.net vom 6. 12. 2017, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/wirt schaft/das-darknet-abgruende-des-internets-15326787-p4.html (abgerufen am 9. 2. 2018). 17 Vgl. Sinn, Organisierte Kriminalität 3.0, 2016, S. 71f.
Ermittlungen im Darknet
149
trolliert.18 Dementsprechend unbehelligt gelangen die illegalen Warenströme von den Versendern zu den Abnehmern.
2.
Zwischenfazit
Das Darknet ist kein ermittlungsfreier Raum. Allerdings sind die Ermittlungen durch die technischen Abläufe der Kommunikation, die eingesetzten Verschlüsselungstechnologien sowie die Entpersonalisierung der Kommunikation unter den agierenden Personen erschwert. Hinzu kommt, dass strafrechtliche Ermittlungen, die in Grundrechte der Bürger eingreifen, in Deutschland dem Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes19 genügen müssen. Das bedeutet, dass ein spezieller Grundrechtseingriff immer auf der Grundlage einer konkreten und diesen Fall betreffenden gesetzlichen Grundlage beruhen muss. Das skizierte ermittlungstaktische Vorgehen des FBI mag also gemessen an US-amerikanischen Recht nicht zu beanstanden sein. Aus deutscher Sicht birgt es jedoch zahlreiche rechtliche Schwierigkeiten. Darauf wird im Folgenden eingegangen.
IV.
Überblick über den Status quo der Gesetzgebung in Deutschland
Die Ermittlungsbehörden stehen immer vor dem Problem die Anonymität der im Darknet agierenden Täter aufzubrechen und sie bei den begangenen Taten zu identifizieren. Das führt nicht selten zu schwierigen Abwägungen zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Bürgers auf der einen Seite und den Sicherheitsinteressen der Gemeinschaft auf der anderen Seite. Mit den Neuerungen auf technischem Gebiet konnte das Recht nicht Schritt halten. Die im Zusammenhang mit der Computerkriminalität sichtbar gewordenen strafprozessualen und ermittlungsrelevanten Probleme haben in Deutschland bisher auch nicht zu einer umfassenden Gesetzesreform geführt. Deshalb agieren die Strafverfolgungsorgane in Deutschland im Rahmen der Repression in weiten Bereichen, insbesondere außerhalb der Telekommunikation, noch mit den für Sachen, also für körperliche Gegenstände geschaffenen Vorschriften. Dazu gehören die Durchsuchung und die Beschlagnahme, welche mit ausdrücklicher Billigung durch das 18 Sinn, Wirtschaftsmacht Organisierte Kriminalität: Illegale Märkte und illegaler Handel, 2018, S. 41 (m. w. N.). 19 Ausführlich hierzu Löffelmann, Die normativen Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafverfahren, 2008, S. 45ff.
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Arndt Sinn
Bundesverfassungsgericht20 nicht nur für körperliche Datenträger, sondern auch für die auf ihnen gespeicherten Daten anzuwenden sind. Der Zugriff auf Emails bei einem Email-Provider wird ebenfalls von den »alten« Beschlagnahmevorschriften für körperliche Gegenstände erfasst. In Umsetzung der Cybercrime Konvention21 wurde § 110 Abs. 3 StPO verabschiedet.22 Danach darf die Durchsicht eines elektronischen Speichermediums bei dem von der Durchsuchung Betroffenen auch auf hiervon räumlich getrennte Speichermedien erstreckt werden. Das setzt allerdings voraus, dass auf sie von dem Speichermedium aus zugegriffen werden kann. Im Bereich der Telekommunikationsüberwachung wurden einige Anpassungen des Strafprozessrechts an die Besonderheiten der Informationstechnik vorgenommen. Dazu gehört der Einsatz sog. IMSI Catcher, mit denen die Identifikations- und Standortdaten eines Mobilfunkendgeräts ermittelt werden können.23 In Deutschland und Europa wurde viel über die sog. Vorratsdatenspeicherung diskutiert.24 Darunter versteht man die Speicherung personenbezogener Daten durch oder für öffentliche Stellen, ohne dass die Daten aktuell benötigt werden. Im Kern geht es um Daten, die während einer Telekommunikation anfallen, die aber der Anbieter des Telekommunikationsdienstes für Abrechnungszwecke nicht benötigt und deshalb auch kein Interesse an einer längerfristigen Speicherung hat (z. B. bei Flatrate- und Prepaid-Tarifen, eingehende Verbindungen, Handystandort, IP-Adressen, E-Mail-Verbindungsdaten). Demgegenüber haben aber die Strafverfolgungsorgane ein Interesse daran, auf diese Daten zurückzugreifen, wenn diese auf Grund eines Anfangsverdachtes später benötigt werden. Für den Fall einer späteren Verwendung sollen die Daten bei den Telekommunikationsanbietern also »auf Vorrat« gespeichert werden. Mit einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 200625 wurden alle EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, Vorratsdatenspeicherungen einzuführen. In Deutschland trat ein entsprechendes Gesetz 20 BVerfG, Beschluss vom 12. 4. 2005 – NJW 2005, 1917ff. 21 Übereinkommen des Europarats über Computerkriminalität vom 23. November 2001 – SEV Nr. 185. 22 Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom 21. 12. 2007 – BGBl. I S. 3198. 23 § 100i StPO, eingeführt durch das Gesetz zur Änderung der StPO vom 6. 8. 2002 – BGBl. I S. 3018. 24 Zur gesellschaftlichen Diskussion siehe Nelles, »Quo vadis Vorratsdatenspeicherung?, S. 32ff. Vgl. auch Oehmichen/Mickler, Die Vorratsdatenspeicherung – Eine never ending story?, NZWiSt 2017, 298ff. 25 Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG – ABl. EU Nr. L 105, S. 54ff.
Ermittlungen im Darknet
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2008 in Kraft.26 Das Bundesverfassungsgericht erklärte die deutschen Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung mit Urteil vom 2. März 2010 für verfassungswidrig und nichtig.27 Zur Begründung gab das Gericht insbesondere die mangelnde Sicherung der Daten und die zu niedrigen Schwellen für einen Datenzugriff an. Am 8. April 2014 erklärte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für ungültig, da sie mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht vereinbar sei.28 Ein neues Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung wurde in Deutschland nach langem politischen Ringen und zäher Diskussion im Oktober 2015 verabschiedet und ist am 18. Dezember 2015 in Kraft getreten.29 Die wieder eingeführten Speicherpflichten sind spätestens ab 1. Juli 2017 zu erfüllen (§ 150 Abs. 13 TKG). Die Anbieter speichern die Daten ihrer Kunden für maximal zehn Wochen. Standortdaten von Smartphones müssen nach maximal vier Wochen gelöscht werden. Zugriff erhalten die Strafverfolgungsbehörden nur auf der Grundlage eines richterlichen Beschlusses. Die Behörden dürfen die Daten nur zur Verfolgung bestimmter schwerer Straftaten nutzen – etwa bei der Bildung terroristischer Vereinigungen, Mord, Totschlag oder sexuellem Missbrauch. Die Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung ist noch nicht am Ende, denn bereits Ende 2015 wurden Verfassungsbeschwerden gegen das neue Gesetz eingereicht.30 Verdeckte Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden im Internet sind ebenfalls möglich. Aber auch sie werden auf die vor Jahrzehnten geschaffenen Regelungen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität gestützt. Dazu gehört insbesondere § 110a StPO, der den Einsatz verdeckter Ermittler betrifft. Außerdem werden weniger grundrechtsintensive verdeckte Ermittlungen auch auf die Ermittlungsgeneralklausel des § 161 StPO gestützt, wonach die Strafverfolgungsbehörden »Ermittlungen jeder Art« vornehmen können. Die sehr eingriffsintensive Quellen-Telekommunikationsüberwachung wurde in der Praxis entgegen aller Kritik aus der Lehre31 auf die klassische Ermächtigungsgrundlage zur Telekommunikationsüberwachung (§ 100a StPO) gestützt. Seit 26 Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom 21. 12. 2007 – BGBl. I S. 3198. 27 BVerfG, Urteil vom 2. März 2010 – NJW 2010, 833ff. 28 EuGH, Urteil vom 8. April 2014 – NJW 2014, 2169ff. 29 Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10. 12. 2015 – BGBL. I Nr. 51. 30 Eine Entscheidung im Hauptverfahren erging bislang nicht. Anträge auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Außerkraftsetzung der Regelungen wurden wiederholt abgelehnt: BVerfG, Beschluss vom 26. 03. 2017 – ZD 2017, 300; BVerfG, Beschluss vom 08. 06. 2016 – NVwZ 2016, 1240ff. 31 Statt vieler Bratke, Die Quellen-Telekommunikationsüberwachung im Strafverfahren, 2013, S. 132ff. (m. w. N.); Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet: Gutachten C zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, S. C 104f. (m. w. N.).
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Sommer 2017 wurden neben der kleinen (§ 100a Abs. 1 S. 3 StPO) und großen Online-Durchsuchung (§ 100b StPO) auch eine Ermächtigungsgrundlage für die Quellen-Telekommunikationsüberwachung (§ 100a Abs. 1 S. 2 StPO) geschaffen.32 Bei dieser Art der Ermittlung wird auf dem Computer, mit dem die zu überwachende Kommunikation ausgeführt wird, heimlich ein Programm installiert, welches die Kommunikation vor der Verschlüsselung mitschneidet und an die Ermittlungsbehörde übermittelt. Die Online-Durchsuchung von Computern war in Deutschland bis 2017 nur im Bereich der Prävention33, nicht aber im Bereich der Repression erlaubt.
V.
Verdeckte Ermittlungen im Darknet
Unter den genannten Ermittlungsmaßnahmen sollen hier nur die verdeckten Ermittlungen besonders hervorgehoben werden, da es im Darknet im Wesentlichen darum geht, zunächst einmal die Identität der agierenden Täter zu ermitteln. Erst dann können weitere Ermittlungsmaßnahmen, wie Durchsuchung und Beschlagnahme oder die Herausgabe von Verkehrsdaten angeordnet werden. Durchsuchungen und Beschlagnahmen »ins Blaue hinein« sind nicht möglich, da diese einen Anfangsverdacht voraussetzen. Deshalb ist es von besonderer Bedeutung die Identitäten der agierenden Täter bestimmten Straftaten zuordnen zu können. Identitäten zu ermitteln ist bei Ermittlungen im Darknet auf verschiedene Art und Weise möglich: Zum einen (vgl. unten V. 1.) kann versucht werden, die Verschlüsselung der Kommunikation im Darknet anzugreifen, um dann mit den klassischen Ermittlungsmethoden der Telekommunikationsüberwachung und der Erhebung der IP-Adresse sowie den dazugehörigen Nutzerdaten die Identität aufzuklären. Zum anderen (V. 2.) kann aber auch versucht werden die Identität durch das Herstellen einer persönlichen Beziehung mit den auf illegalen Plattformen im Darknet agierenden Personen offenzulegen. In diesen Fällen geht es somit um die klassische Ermittlungstätigkeit durch verdeckt ermittelnde Personen, deren Aktionen sich aber an den Eigenheiten des virtuellen Raums anzupassen haben. Im Zentrum dieser Ermittlungstätigkeit steht damit die Beziehung zwischen Personen. Nicht zu übersehen sind dabei neue Mechanismen zum Aufbau von persönlichem Vertrauen. Im Darknet ist es nicht notwendig, ja nicht einmal 32 Vgl. näher meine Stellungnahme im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages unter: https://www.bundestag.de/blob/509050/6f 72dd42df 72be6f2da6a024475b3f8a/sinn-data.pdf (abgerufen am 9. 2. 2018). 33 In § 20k BKAG sowie einzelnen Landespolizeigesetzen, wie z. B. § 34d Bay PAG und § 31c POG Rheinland-Pfalz.
Ermittlungen im Darknet
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gewollt, Vertrauen und Kontakt face-to-face herzustellen. Vielmehr wird über Identifikationscodes die Funktion des persönlichen Kennens ersetzt.
1.
Technikbezogene Ermittlungshandlungen
Die klassische Überwachung der Telekommunikation mit den zur Verfügung stehenden rechtlichen Instrumentarien führte in vielen Fällen nicht mehr zu Ermittlungsansätzen. Das liegt daran, dass die Daten, also die Kommunikationsinhalte, während der Telekommunikation verschlüsselt sind. Will man auf diese Daten zugreifen, so erfordert dies einen heimlichen Zugriff auf die übermittelten Quelldaten, solange diese in dem Daten sendenden oder empfangenden digitalen Endgerät noch unverschlüsselt vorliegen. Das setzt voraus, dass die Strafverfolgungsbehörden das Sendegerät vor dem Verschlüsseln so mit einer Software infiltrieren, dass die Daten vor der Verschlüsselung noch gelesen werden können. Letztendlich geht es um das Hacken des für die Kommunikation benutzten Gerätes durch die Strafverfolgungsorgane. Seit Sommer 2017 existiert in Deutschland eine Ermächtigungsgrundlage für diese Art von Ermittlungen. In § 100a Abs. 1 S. 2 StPO34 ist die Quellen-Telekommunikationsüberwachung geregelt. Die Schaffung einer neuen Ermächtigungsgrundlage war deshalb erforderlich, weil vom Wortlaut des § 100a StPO a. F., also der klassischen Telekommunikationsüberwachung, nur erfasst war, dass »Telekommunikation überwacht und aufgezeichnet« wird. Explizit ließ sich dem Wortlaut und der Systematik nicht entnehmen, dass als Begleiteingriff auch ein heimliches Eindringen in das Kommunikationssystem, also das Aufspielen der Software auf das Endgerät vorgenommen werden darf. Zu Recht wurde deshalb auch § 100a StPO a. F. von der herrschenden Literatur35 als Ermächtigungsgrundlage abgelehnt. Auch die neue Quellen-Telekommunikationsüberwachung nach § 100a Abs. 1 S. 2 StPO stellt einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis dar (Art. 10 Abs. 1 GG), obwohl durch die Infiltration des Endgerätes durch die Software auch die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (sog. IT-Grundrecht) betroffen ist.36 Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht der Anwendbarkeit des Art. 10 Abs. 1 GG vor dem IT-Grundrecht dann den Vorrang eingeräumt, wenn sichergestellt ist, dass mit der Software ausschließlich Daten aus einem laufenden Telekommunikationsvorgang erfasst werden: »Art. 10 Abs. 1 GG ist hingegen der alleinige grundrechtliche Maßstab für die Beurteilung 34 Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. 8. 2017 – BGBl. I S. 3202. 35 Statt vieler siehe Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet: Gutachten C zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, S. C 104 (m. w. N.). 36 BVerfGE, Urteil vom 27. Februar 2008 – NJW 2008, 822ff. (824).
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einer Ermächtigung zu einer »Quellen-Telekommunikationsüberwachung«, wenn sich die Überwachung ausschließlich auf Daten aus einem laufenden Telekommunikationsvorgang beschränkt. Dies muss durch technische Vorkehrungen und rechtliche Vorgaben sichergestellt sein37«, so formulierte es das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz im Jahr 2008.38 Konkret ging es dort um Vorschriften zur sog. Online-Durchsuchung. Diese Art der Ermittlung, bei der nicht die Kommunikation überwacht, sondern der Inhalt eines informationstechnischen Systems einer verdächtigen Person heimlich und aus der Ferne durchsucht wird, ist in Deutschland ebenfalls seit dem Sommer 2017 zu repressiven Zwecken39 erlaubt und in § 100b StPO geregelt. Bei der Online-Durchsuchung handelt es sich um eine sehr eingriffsintensive Maßnahme, deren Voraussetzungen sich an den für eine Wohnraumüberwachung geltenden Regeln orientiert. In der Wissenschaft wird die Erforderlichkeit einer solchen Maßnahme in Frage gestellt.40
2.
Personenbezogene Ermittlungshandlungen
Bei den personenbezogenen Ermittlungshandlungen steht der Kontakt zwischen den Strafverfolgungsbehörden und den verdächtigen Personen im Vordergrund. Es geht um die verdeckte Sammlung von Informationen, auch unter Einsatz sog. kriminalistischer List und Täuschung. Ob diese Grundrechtsrelevanz haben und ob für einen Eingriff gegebenenfalls eine Ermächtigungsgrundlage existiert, hängt von der jeweiligen Ermittlungshandlung ab. Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit der bereits erwähnten Entscheidung zur OnlineDurchsuchung41 wertvolle Hinweise zu den Voraussetzungen von Ermittlungen im Internet, also auch im Darknet gegeben. Festzuhalten ist zunächst, dass grundsätzlich der Schutzbereich von Art. 10 Abs. 1 GG (das Telekommunikationsgeheimnis) betroffen ist, wenn es um Ermittlungen im Internet geht. Konkret 37 BVerfGE, Urteil vom 27. Februar 2008 – NJW 2008, 822ff. (826). 38 Soweit die technischen Anforderungen (insb. die Software) derzeit nicht umsetzbar sein sollten, wu¨ rde das – wie das BVerfG in seiner Entscheidung vom 20. 4. 2016 deutlich gemacht hat (BVerfG, Urteil vom 20. 4. 2016 – NJW 2016, 1781 (1796f.)) – nicht die Frage der Rechtmäßigkeit der Norm betreffen, sondern ausschließlich die Frage des Gesetzesvollzuges. Dem ist zuzustimmen. Vgl. dazu Sinn, Stellungnahme im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages unter: https://www.bundestag.de/blob/509050/6f 72dd42df 72be6f2da6a024475b3f8 a/sinn-data.pdf (abgerufen am 9. 2. 2018). 39 Nach dem BKA-Gesetz (§ 20k) und einzelnen Landespolizeigesetzen können unter strengen Bedingungen Online-Durchsuchungen zur Prävention bei zukünftigen gravierenden Rechtsgutsverletzungen erlaubt werden. 40 Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet: Gutachten C zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, S. C 109. 41 BVerfGE, Urteil vom 27. Februar 2008 – NJW 2008, 822ff.
Ermittlungen im Darknet
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geht es um das Vertrauen des Einzelnen, dass seine Fernkommunikation, an der er beteiligt ist, nicht von Dritten zur Kenntnis genommen wird. Im Zentrum steht also das Vertrauen in die unbehelligte Kommunikation. Es geht aber nicht um das Vertrauen in den Partner, dessen Integrität und Identität. In diesem Sinne stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass das Vertrauen der Kommunikationspartner zueinander nicht Gegenstand des Grundrechtsschutzes ist.42 Soweit also im Vordergrund einer staatlichen Ermittlungsmaßnahme nicht der unautorisierte Zugriff auf die Telekommunikation steht, sondern die Enttäuschung des personengebundenen Vertrauens in den Kommunikationspartner, so lange ist auch kein Eingriff in das Telekommunikationsgeheimnis anzunehmen. Die staatliche Wahrnehmung von Inhalten der Telekommunikation ist somit nur dann am Telekommunikationsgeheimnis zu messen, wenn eine staatliche Stelle eine Telekommunikationsbeziehung von außen überwacht, ohne selbst Kommunikationsadressat zu sein. Das Grundrecht schützt nicht davor, dass eine staatliche Stelle selbst eine Telekommunikationsbeziehung zu einem Grundrechtsträger aufnimmt. Deshalb wird die Täuschung über die Identität als ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erfasst. Ein diesbezüglicher Eingriff ist aber dann zu verneinen, wenn die Polizei allgemein zugängliche Inhalte erhebt, etwa indem sie open source Quellen nutzt und nicht zugangsgesicherte Webseiten einsieht. Die kurzfristige Beobachtung von Verdächtigen oder Beschuldigten im Internet kann auf die Ermittlungsgeneralklausel, § 161 Abs. 1 StPO, gestützt werden.43 In diesem Zusammenhang geht es um die kurzfristige Beobachtung von Chat-Aktivitäten in öffentlich zugänglichen Foren. Die längerfristige Beobachtung des Beschuldigten ohne Kontaktaufnahme, also das dauerhafte Beobachten von Chat-Verläufen und ähnlicher Kommunikation ist, mit entsprechender gerichtlicher Zustimmung, auf die Ermächtigungsgrundlage des § 163f Abs. 1 StPO zu gründen. Bei Maßnahmen unter Verwendung einer Legende sind verschiedene Fallgestaltungen zu unterscheiden: Um Zugang zu bestimmten Kommunikationsplattformen, wie Chatrooms und ähnlichem zu haben, ist es teilweise erforderlich, einen Account anzulegen. Da mit dem Anlegen eines solchen Accounts gleichzeitig auch verschwiegen wird, dass die dahinterstehende Person ein Beamter der Strafverfolgungsorgane ist, bedarf es einer Ermächtigungsgrundlage. Diese ist in § 161 Abs. 1 StPO, der Ermittlungsgeneralklausel zu sehen. Gleiches gilt für die Beteiligung an Diskussionen in sozialen Netzwerken, Chatrooms oder Foren. Soweit aber die 42 BVerfGE, Urteil vom 27. Februar 2008 – NJW 2008, 822ff. (835). 43 Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet: Gutachten C zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, S. C 66.
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Arndt Sinn
Kommunikation mit einer Tatprovokation einhergeht, ergeben sich neue rechtliche Schwierigkeiten. Hierbei ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu beachten, wonach die Tatprovokation zwar nicht per se menschenrechtswidrig ist, jedoch dann kein geeignetes Mittel kriminalistischer List darstellt, wenn ein völlig unbescholtener Bürger zur Begehung von Straftaten verleitet werden soll.44 Sind die Grenzen unzulässiger Tatprovokation gewahrt, so ist ebenfalls die Ermittlungsgeneralklausel die entscheidende Ermächtigungsgrundlage. Nur die offen erkennbare Bereitschaft zur Begehung oder Fortsetzung von Straftaten darf von den Strafverfolgungsbehörden ausgenutzt werden. Die Ermittlungsbeamten können sich zum Schein auf ein illegales Geschäft einlassen, beispielsweise vortäuschen, eine Waffe kaufen zu wollen, und so Informationen zur Identität des Verkäufers erlangen. Das Betreiben eines illegalen Shops oder eines Tauschforums für Kinderpornographie durch die Strafverfolgungsbehörden ist aus deutscher Sicht dagegen nicht möglich. In den Fällen dauerhafter Ermittlungen von Polizeibeamten im Internet, unter einer speziellen Legende, ist die Vorschrift zum Einsatz verdeckter Ermittler, § 110a StPO anzuwenden. Gleiches gilt für längerfristige Gesprächskontakte in Foren. Problematisch sind die Fälle, in denen der verdeckte Ermittler zur Legende die Identität einer realen Person annimmt, um das Vertrauen der verdächtigen Person zu gewinnen (verdeckte Identitätsübernahme). In diesen Fällen fehlt es an einer geeigneten Ermächtigungsgrundlage, da mit der Übernahme der Identität der realen Person ein Eingriff in deren allgemeines Persönlichkeitsrecht verbunden ist und darüber hinaus die Ausnutzung der Vertrauensbeziehung durch Vortäuschen, man sei eine vertraute Person, nicht von § 110a StPO gedeckt ist.45 Im Anschluss an Sieber46 lässt sich aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Online-Durchsuchung ein dreistufiges Eingriffsmodell für 44 Vgl. EGMR, Urteil vom 25. 3. 2015 – NStZ 2015, 412ff.; EGMR, Urteil vom 23. 10. 2014 – NJW 2015, 3631ff., hierzu auch Sinn/Maly, Zu den strafprozessualen Folgen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation – Zugleich Besprechung von EGMR, Urt. v. 23. 10. 2014 – EGMR Aktenzeichen 5464809 54648/09 (Furcht v. Germany), NStZ 2015, 379ff. ; EGMR, Urteil vom 5. 2. 2008 – NJW 2009, 3565ff. 45 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes, wonach ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vorliegt, soweit die staatliche Stelle »ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen in die Identität und die Motivation seines Kommunikationspartners ausnutzt, um persönliche Daten zu erheben, die sie ansonsten nicht erhalten würde.«, BVerfG, Urteil vom 27. 2. 2008 – NJW 2008, S. 822ff. (S. 836). Zu Einsatz und Verwendung von Accounts in Kommunikationsnetzwerken durch Bundesbehörden siehe auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Martina Renner, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE vom 22. 11. 2017, BT-Drs. 19/116ff. 46 Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet: Gutachten C zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, S. C 9f.
Ermittlungen im Darknet
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Ermittlungshandlungen im Internet entwickeln. Die erste Stufe betrifft die Nutzung der im Internet frei zugänglichen Informationen durch die Ermittlungspersonen. Derartige Maßnahmen erfordern mangels Grundrechtsrelevanz keine spezielle Ermächtigungsgrundlage. Sie sind nach der Strafprozessordnung bei Vorliegen eines Anfangsverdachtes immer möglich. Auf der zweiten Stufe finden sich Maßnahmen, bei denen der Ermittler ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen in die Identität und Motivation seines Kommunikationspartners ausnutzt, um persönliche Daten zu erheben, die er anderenfalls nicht erhalten würde. Derartige Maßnahmen sind mit einem Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verbunden. Eine Ermächtigungsgrundlage findet sich diesbezüglich in der Ermittlungsgeneralklausel, §§ 161, 163 StPO. Auf der dritten Stufe finden sich Maßnahmen, bei denen ein Beamter des Polizeidienstes als verdeckter Ermittler im Internet agiert. Derartig eingriffsintensive Maßnahmen sind an der Ermächtigungsgrundlage des § 110a StPO – dem Einsatz verdeckter Ermittler – zu messen.
VI.
Zusammenfassung
Der kurze Überblick über die Möglichkeiten von strafprozessualen Ermittlungen im Darknet hat gezeigt, dass der Abstand zwischen den im Darknet agierenden Tätern und den Strafverfolgungsbehörden noch sehr groß ist. Die technischen Möglichkeiten, die im Darknet zu kriminellen Zwecken missbraucht werden, führen zur weitgehenden Anonymisierung kriminellen Verhaltens. Die Tatanreize sind aufgrund des niedrigen Entdeckungsrisikos groß. Mit den klassischen Ermittlungsinstrumenten und Ermächtigungsgrundlagen kann nur partiell auf die neuen Herausforderungen reagiert werden. Für die zukünftige Diskussion kommt es darauf an, das Darknet rechtlich stärker auszuleuchten, um illegale Geschäfte und eine underground economy zurückzudrängen. Gleichzeitig bedarf es aber auch rechtlicher Sicherungsmechanismen zur Bewahrung der zu legalen Zwecken genutzten Anonymität bei der Kommunikation. Auch die anonyme Kommunikation ist ein Teil des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.
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Arndt Sinn
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Ermittlungen im Darknet
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CHANG Liching*
Sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen und Organisierte Kriminalität
I.
Einleitung
1995 wurden die »Bestimmungen gegen Sexhandel von Kindern und Jugendlichen« (heute: »Bestimmungen gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen« (兒童及少年性剝削防制條例), im Folgenden kurz BSAK) in Taiwan erlassen und seither mehrmals modifiziert.1 Ziel dieser Modifizierungen war es, jede sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen zu vermeiden, um auf diese Weise die Gesundheit von Leib und Seele der Kinder und Jugendlichen gewährleisten zu können. Auf Grund der Beteiligung der organisierten Kriminalität an der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen ist daraus ein kompliziertes Phänomen geworden. Die organisierte Kriminalität profitiert von der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, wodurch nicht nur deren gesunde Entwicklung von Körper und Seele beeinträchtigt und gefährdet wird, sondern auch große Gefahren für die soziale Sicherheit und den Volkswohlstand entstehen. »Sexuelle Ausbeutung« wurde ursprünglich als ein Sexhandel (性交易) betrachtet, der in beiderseitigem Einverständnis erfolgt. Mittlerweile ist es aber allgemein anerkannt, dass hinter sexueller Betätigung von Kindern und Jugendlichen meistens hochkomplexe und ungleiche Verhältnisse stecken. Wenn das Gesetz diese sexuelle Ausbeutung, die nach außen hin ohne die Ausübung von Zwang in Erscheinung tritt, vernachlässigt, dann gibt es beim Schutz von Körper und Seele von Kindern und Jugendlichen eine ernsthafte Gesetzeslücke. Nur unter der Voraussetzung, dass die daran beteiligten Organisationen mit in das normative Regelwerk gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugend* Frau Prof. Dr. iur. CHANG Liching, National University of Kaohsiung, Vorstandsvorsitzende der taiwanischen Gesellschaft für Strafrecht 1 LI Li-fen (李麗芬), Ein langer Weg von zehn Jahren gesetzlicher Veränderungen – Über Wertveränderungen in Bestimmungen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, (十 年漫漫修法路談兒童及少年性剝削修法之價值), http://www.ecpat.org.tw/dknowledge/know ledge.asp?qbid=702, zuletzt aufgerufen am 20. 07. 2017.
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lichen und in die Bestrafung dieser Ausbeutung eingebunden werden, besteht Hoffnung auf eine effizientere Repression. Im taiwanischen Recht ist die wichtigste gesetzliche Vorschrift gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen das »Gesetz zum Schutz von Kindern und Jugendlichen gegen sexuelle Ausbeutung« (兒童及少年性剝削防 制條例). Dennoch entwickelt sich die Tendenz in den vergangenen Jahren eindeutig dahingehend, dass kriminelle Organisationen zunehmend stärker in den Handel mit der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen involviert sind. So ist zB ständig zu beobachten, wie kriminelle Organisationen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen betreiben, sei es mit Hilfe des Internet, sei es mit finanziellen Verlockungen, ja sogar mit Hilfe der Kontrolle durch Gewalt oder Drogen werden entsprechende Verbrechen verübt. Außerdem besteht bei Organisationen, die mit der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen auf Gewinne abzielen, eine klare Tendenz zur Internationalisierung, was zu einer Zusammenarbeit mit internationalen Menschenhandelsorganisationen führt. Das hat aber wiederum zur Konsequenz, dass diese Art von Straftaten sich umso mehr im Verborgen abspielt, sodass entsprechende Ermittlungen folglich ebenfalls erschwert werden. Im Folgenden wird zunächst die gegenwärtige Lage der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen dargestellt, insbesondere wird auf Phänomene eingegangen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass die organisierte Kriminalität in diesen Bereichen aktiv geworden ist. Gleichzeitig werden die gesetzlichen Regelungen zur Bestrafung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in Taiwan vorgestellt. Aus einer kriminalpolitischen Perspektive, die auf eine verstärkte Repression organisierter Strukturen abzielt, werden Überlegungen zu notwendigen Gesetzesreformen und zu Veränderungen im Ermittlungsansatz durchgeführt. Das alles geschieht in der Hoffnung, dass das Problem der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen durch die organisierte Kriminalität einer besseren Lösung zugeführt wird.
II.
Zunahme des Organisationsgrads beim Verbrechen der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen
Laut einer Umfrage der »Garden of Hope Foundation« im August 2015 über die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen sind die meisten derer, die sexuell ausgebeutet werden, im Alter von 15 bis 18 Jahren. Der Hauptgrund ihrer Prostitution ist zum einen der finanzielle Bedarf (61 %), daneben wurden aber auch viele getäuscht und gezwungen (26 %), diese Tätigkeit auszuüben. In vielen
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Fällen ist das Internet das Medium, über das der Kontakt hergestellt wird2, so etwa über SMS, Soziale Netzwerke, oder Webseiten für Prostitution, ja sogar über Webseiten für Internet-Spiele, Musik usw. werden entsprechende Kontakte angebahnt.3 Wir können daran erkennen, wie sich die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen zunehmend verändert, weg von den früheren Methoden des Zwangs und der Täuschung, hin zu neuen Typen, welche das Streben von Kindern und Jugendlichen nach finanziellen Vorteilen ausnutzen. Ein großes Problem liegt darin, dass bei Kindern und Jugendlichen der gedankliche Überblick fehlt, weil sie seelisch noch unreif sind. Deswegen wird der Schutz von Körper und Seele von Kindern und Jugendlichen als eine wichtige Aufgabe im Bereich der Menschenrechte gesehen.4 Trotzdem hat sich die Lage der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen nicht wirklich verbessert, ja sie hat sich zumindest teilweise sogar auf Grund des zunehmenden Einflusses der organisierten Kriminalität noch verschlechtert. Die Situation der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen hat sich insbesondere auch deshalb verschlechtert, weil die organisierte Kriminalität sich über das Internet und über den Weg der internationalen Zusammenarbeit mit dem Menschenhandel verbindet, um dadurch das Ziel der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen zu realisieren. Im folgenden Abschnitt wird geschildert, wie sich der Einfluss der organisierten Kriminalität auf die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen konkret auswirkt.
2 Laut einer statistischen Umfrage von Juni bis August 2015 befand sich die größte Gruppe der von sexueller Ausbeutung betroffenen Kinder und Jugendlichen in der Rubrik der Schulmädchenprostitution (42 %). 43,5 % der Kontakte zur Prostitutionsindustrie wurden über SMS abgewickelt, 24,6 % der Prostituierten benutzten soziale Plattformen und soziale Apps. 11,6 % der Befragten benutzten Pornowebseiten. Dies zeigt, dass das Internet mit seinen technischen Entwicklungen eine sehr wichtige Rolle in der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen spielt. Hierzu genauer HO Min-yeh (何旻燁), 20-jährige Anstrengungen. Wird die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen unterbunden? (20年,兒少性剝削與色情杜絕了 嗎?), http://www.goh.org.tw/mobile/news_detail.asp?PKey=aBQLaB31aBKTaB30aBJSaB39, zuletzt aufgerufen am 20. 07. 2017. 3 Nach Angaben der »Liberty Times Net« ist das Internet zum Hauptvehikel der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen geworden, siehe O. A., Das Internet als Hauptmedium für die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen (兒少性剝削 網路成主 要媒介) http://news.ltn.com.tw/news/life/paper/910093, zuletzt aufgerufen am 01. 05. 2017. 4 Der Rechtsschutz von Kindern wird tendenziell von allen Ländern befürwortet. 1992 wurde die »UN Convention on the Right of the Child« beschlossen. Ihre Gültigkeit ist nach Art. 1 auf Minderjährige unter 18 Jahren eingeschränkt. In ihr sind zahlreiche Rechte des Kindes geregelt, z. B. Achtung der Kinderrechte und Diskriminierungsverbot (Art. 2), Wohl des Kindes (Art. 3), Kinderrecht auf Leben (Art. 6), Berücksichtigung des Kinderwillens (Art. 12), sowie öffentliche Sorge für und Betreuung von Kindern (Art. 7, 8, 23–29), z. B. hinsichtlich der Lebensbedingungen, des Unterhalts, der Nationalität und der sozialen Sicherheit. Vgl. Sabine Pfaff, Kinderrechte in Theorie und Praxis: Die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Costa Rica, 2010, S. 8.
164 1.
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Sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen
Innerhalb der Diskussion über die sexuelle Ausbeutung (sexual exploitation) lag der Fokus zu Anfang meist auf dem Problem der Prostitution Minderjähriger. Sexuelle Ausbeutung wurde dabei oft als eine Form des »abweichenden Verhaltens« vom eigenen Willen von Kindern und Jugendlichen bezeichnet.5 So wurden zB in den 1990er Jahren sexuell ausgebeutete Mädchen nicht von der Polizei »geschützt«, sondern wurden nach ihrem »Aufspüren« wegen »abweichenden Verhaltens« in Untersuchungshaft genommen, es wurde gegen sie ermittelt und sie wurden »eingesperrt«. Nach § 3 Jugendschutzgesetz wurden sie als »Sorgenkinder« betrachtet, die mehrmals an unangemessenen Orten erschienen. In den damaligen Fällen wurden die sexuell Ausgebeuteten also nicht nur als Opfer betrachtet, sondern vom Gesetz zusätzlich negativ bewertet, weil die normative Typisierung nicht nur von sexueller Ausbeutung ausging, sondern grundsätzlich annahm, dass die Bertoffenen dies freiwillig tun. Dadurch war aber die Gesundheit von Leib und Seele solcher Kinder und Jugendlichen zusätzlich gefährdet.6 Im Februar 2015 wurde die Bestimmung gegen den Sexualhandel von Kindern und Jugendlichen geändert. Dabei wurde der Begriff »Sexualhandel« einheitlich durch die Formulierung »sexuelle Ausbeutung« ersetzt, damit die Frage, ob es sich um einen sexuellen Handel, der sich unter Einwilligung der Betroffenen vollzieht, keinen Einfluss mehr entwickeln kann. Man erhofft sich also von dieser Änderung, dass alle Minderjährigen als Rechtssubjekte betrachtet werden, deren Rechte geschützt werden müssen.7
5 SHIH Hui-ling (施慧玲), Die gesetzliche Bedeutung und das Umsetzungslimit der Bestimmungen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen – aus Sicht der angewandelten Rechtssoziologie (兒童及少年性交易防制條例之立法意義與執法極限 ─ 一個 應用法律社會學的觀點), Rechtsanwaltszeitschrift中律師雜誌222卷, März Nr. 222, S. (頁38– 50) SHIH Hui-ling (施慧玲), Die gesetzliche Bedeutung und das Umsetzungslimit der Bestimmungen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen – aus Sicht der angewandten Rechtssoziologie (兒童及少年性交易防制條例之立法意義與執法極限 ─ 一個 應用法律社會學的觀點), Rechtsanwaltszeitschrift中律師雜誌222卷, März Nr. 222, S. 44; über die Entwicklung internationaler Bestimmungen zur Regelungen auf dem Bereich der Information über sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, vgl. KAO Yu-chuan (高 玉泉), Rückblick und Kritik von Bestimmungen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen im Internet (網際網路上兒童色情資訊規範之回顧與檢討-一個由兒童人權 出發的觀點), National Chung Cheng University Law Journal (國立中正大學法學11期), Ausgabe Nr. 11, Februar 2003, S. 3–62. 6 TING Ying-chun (丁映君), WANG Shu-fen (王淑芬), CHU Yu-Hsin (朱玉欣) et al., Handbuch gegen Sexualhandel von Kindern und Jugendlichen, Abteilung für Kinderangelegenheiten, Innenministerium, (兒童及少年性交易防制工作手冊,內政部兒童局編), Dezember 2012, S. 9ff. 7 Vgl. SHIH Hui-ling (施慧玲), Über die Gesetzgebung der sexuellen Ausbeutung von Kindern
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In den Bestimmungen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen ist sexuelle Ausbeutung nach § 2 wie folgt definiert: sexuelle Ausbeutung nimmt vor, (1) wer Kinder oder Jugendliche eine entgeltliche sexuelle Handlung oder sexuelle Nötigung ausüben lässt, (2) wer eine andere Person solch eine sexuelle Handlung oder sexuelle Nötigung anschauen lässt, (3) wer Bilder, Fotos, Filme, Videos, CDs oder andere Produkte die sexuelle Handlungen oder sexuelle Nötigung von Kindern und Jugendlichen aufnimmt oder herstellt, (4) wer Kinder oder Jugendliche als Begleitung im Bar-Service oder als erotische Urlaubs-, Singoder Tanzbegleitung einen Escort-Service ausüben lässt. Die neuen Regelungen sind bereits nach § 34 UN-Kinderrechtskonvention über das Verbot der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen an das internationale Recht angepasst worden. Sexuelle Ausbeutung ist für Kinder und Jugendliche nicht nur in körperlicher, sondern auch in seelischer Hinsicht eine große Verletzung. Aufgrund sexueller Handlungen an Kindern oder Jugendlichen können Körperfunktionen schwer beschädigt werden; z. B. Schmerzen oder Jucken des Geschlechtsorgans, Schwierigkeiten beim Laufen oder Sitzen, Quetschung, Schwellung oder Blutung am äußeren Geschlechtsorgan (beispielsweise Anus, Scheide, Perineum usw.) und am Mund oder am Rachen, Schmerzen bei Harnentleerung und Stuhlentleerung, Hämatome am Geschlechtsorgan, andere körperliche Beschwerden oder Bauchschmerzen, andere Schmerzen an sonstigen Stellen des Körpers, Schwangerschaft oder sexuell übertragbare Krankheiten8. Darüber hinaus befinden sich insbesondere Kinder noch in der geschlossenen Lernphase, in der sie erst lernen, eigene Erkundungen durchzuführen.9 Daher werden sie jede Handlung durchführen, von der sie Kenntnis haben und die sie »beherrschen«, weil ihnen korrespondierende Wertvorstellungen noch fehlen. Die gesunde Entwicklung der Seele wird daher durch sexuelle Ausbeutung gravierend gefährdet und sobald die Kinder das falsche Wertverständnis der sexuellen Ausbeuter internalisieren, werden sie sogar die Vorstellungen der sie schädigenden Personen teilen.10
und Jugendlichen (我國兒童少年性剝削防治立法), National Chung Cheng University Law Journal Nr. 2 (國立中正大學法學2期), Juli 1999, S. 57. 8 TSENG Jen-mei (曾仁美), Erziehungsbeistand von Kinder- und Jugendopfern (兒童青少年 性侵害受害者之輔導), http://drr.lib.ksu.edu.tw/bitstream/987654321/3814/7/.pdf, zuletzt aufgerufen am 20. 07. 2017. 9 CHANG Chun-hsing (張春興), Moderne Psychologie (neuüberarbeitet) (現代心理學(重修 版)), Tunghua Books (東華書局), Juli 2012, S. 273. 10 CHEN Hui-mei (陳慧美), Wesen der und Eingriff in die Problematik der sexuellen Ausbeutung – Rückbesinnung auf Maßnahmen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen (性剝削問題的本質與處遇-兒童及少年性交易防制工作的省思), Community Development Journal (社會發展季刊第91期), Ausgabe Nr. 91, Oktober 2000, S. 317.
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Obwohl der Körper von Kindern und Jugendlichen zunehmend reifer wird, sodass ein normaler Geschlechtsverkehr keinen negativen Einfluss auf Jugendliche ausübt, so bewirkt die Arbeit in einem Milieu, in dem sexuelle Ausbeutung stattfindet, zumeist, dass die von dieser Ausbeutung betroffenen Jugendlichen keine unvoreingenommene Vorstellung von sexuellen Beziehungen entwickeln können und daher die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie ein vom üblichen Verhalten abweichendes Verhaltensmuster entwickeln.11 Bei Opfern sexueller Übergriffe können seelische Probleme auftreten, wie zum Beispiel Depressionen, Beklemmung, Empörung, Entfremdung, sowie Apathie usw. Manche Jugendliche laufen von zu Hause weg, werden drogen- oder auch alkoholsüchtig, werden promisk, oder üben sogar Prostitution aus.
2.
Involviertheit von organisierter Kriminalität in die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen
Die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen steht in engstem Bezug zur organisierten Kriminalität und dem Menschenhandel. Sobald kriminelle Organisationen in den Markt der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen eingreifen, verkompliziert sich die Lage deutlich.12 Eine kriminelle Organisation wird in § 2 der Verordnung gegen die organisierte Kriminalität vom Gesetzgeber wie folgt definiert: »eine Organisation mit minimal drei Personen, die eine interne Verwaltungsstruktur besitzt, deren Ziel es ist, Verbrechen zu begehen, oder deren Mitglieder kriminelle Handlungen ausführen, und welche kollektiv über einen längeren Zeitraum durch die Ausübung von Zwang oder Gewalt diesen Zielen nachgeht.« Im Fall der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen verfolgt die kriminelle Organisation also dieses Ziel mit der Absicht, aus der planmäßigen sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen einen Profit zu erzielen. Gleichzeitig sind sie meist in die Problematik des Menschenhandels involviert. Häufig kommt es vor, dass kriminelle Organisationen Ausländer, die zum Arbeiten nach Taiwan kommen, dazu zwingt, sich am Sexhandel zu beteiligen, oder dass sie die Betroffenen belügen, um sie ins Ausland zu verbringen und dort weiter an Sex-Clubs etc. zu veräußern. Diese Fälle stellen sowohl ein Problem für die Bekämpfung der internationalen Kriminalität dar, als auch eines in den Beziehungen zwischen China, Taiwan, Hongkong und Macau. So hat zB die 11 LU Ying-chieh (盧映潔), Ist die Kinderfreundschaft eine Erbsünde? die Änderung des § 227 StGB (兩小無猜是原罪?──刑法第二二七條之與幼年人性交猥褻罪及相關條文的修 正研議), Taiwan Law Review (月旦法學雜誌), Januar 2008, S. 222–224. 12 Vgl. Arndt Sinn, Organisierte Kriminalität 3.0, Springer, Mai 2016, S. 52ff.
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chinesische Polizei einen Prostitutionsring mit über 400 Mitgliedern aufgedeckt. Die kriminelle Organisation hatte eine sehr genaue und konkrete interne Aufgabenverteilung, so dass Frauen zunächst angesprochen, ausgesucht und dann transportiert wurden. In diesem Rahmen wurden die Frauen von taiwanischen Menschenhandelsorganisationen als Individualtouristen über Hongkong und Macau nach Taiwan gebracht und anschließend auf Sex-Clubs an verschiedenen Orten verteilt, um dort Sexhandel auszuüben.13 Einmal vor Ort wurden sie mit Hilfe von Drogen, Gewalt oder Zwang dazu gebracht, Darlehensverträge zu unterschreiben, um sie festzuhalten und zu kontrollieren.14 Neben der Problematik der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen taucht also die Problematik des Menschenhandels auf. In früheren Zeiten wurden Menschen von Afrika aus als Sklaven nach Europa und Amerika verkauft. Heutzutage wird die sogenannte »Moderne Sklaverei (modern slavery)« als Handel betrieben, der Formen der sexuellen Ausbeutung und der Ausbeutung von Arbeitskraft wählt, so z. B. Zwangsarbeit, Zwangsprostitution, finanzielle Abhängigkeit (Tilgung von Schulden durch »Eigenarbeit«), Zwang von Kindern zur Prostitution usw.15 Taiwan hat wie alle anderen Staaten dieser Welt die Schwere des Problems erfasst und aus diesem Grunde ein Gesetz gegen den Menschenhandel erlassen.16 Tatsächlich ist die Lage des Menschenhandels in Taiwan sehr problematisch. Nach der Statistik17 des Migrationsbüros im Exekutiv-Yuan konzentriert sich der 13 China Times: Einwerben von Prostituierten nach Taiwan durch konkrete Aufgabenverteilung von Organisationen des Menschenhandels (攬失足女入台 人蛇集團分工細密), http://www. chinatimes.com/newspapers/20150922000944-260301, (zuletzt aufgerufen am 20. 07. 2017). 14 So zwang zB der Täter Yang in einem Call-Shop in Taichung (Taiwan) Minderjährige mit Ketaminen zur Prostitution. Dabei verdienten die minderjährigen Frauen selbst jedes Mal nur 200 NTD (ca. 6 €) pro Klient. Zwei seiner Mittäter mit Namen Wu und Lin wollten ursprünglich aus der Organisation austreten, wurden deshalb geprügelt und im Anschluss dazu gezwungen, einen Schuldwechsel über 300,000 NTD zu unterschrieben. Siehe: Kontrolle von Mädchen durch Drogen im Sexgewerbe – Loddel zu Schulderklärungen gezwungen (應召站 毒控少女 揍馬伕逼簽本票), Liberty Times, http://news.ltn.com.tw/news/local/paper/885 076 (zuletzt aufgerufen am 20. 07. 2017). 15 Siddharth Kara, Sex Trafficking: Inside the Business of Modern Slavery, Columbia University Press, 2009, S. 5–6. 16 LIN Yung-sheng (林雍昇), Das Rechtssystem des Menschenhandels in Taiwan aus internationaler strafrechtlicher Sicht (從國際刑法觀點檢視我國人口販運法制), Taiwanische Vierteljahreszeitschrift für internationales Recht (台灣國際法季刊8卷3期), Sept. 2011, S. 91ff. 17 Nach dem Aktionsprogramm gegen den Menschenhandel, das der Exekutiv-Yuan im November 2006 beschlossen hat, ist Menschenhandel ein Verbrechen, das durch die Mittel der Vergewaltigung, des Zwangs, der Androhung, der Überwachung, von Drogen, Hypnose, Betrug, ungerechte Verbindlichkeiten oder andere Formen von Zwang den Kauf und Verkauf oder das Pfand von Menschen durchführt, wobei die sexuelle Ausbeutung, die Ausbeutung von Arbeit oder die Transplantation menschlicher Organe bezweckt wird; hierzu führt der Menschenhandel die Organisation, die Anwerbung, den Transport, die Überstellung, das Verbergen, die Vermittlung und die Unterbringung von In- und Ausländern durch.
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Menschenhandel in Taiwan zumeist auf die Bereiche Zwangsarbeit und sexuelle Ausbeutung.18 Unter den Fällen, die in den vergangenen Jahren aufgedeckt wurden, befanden sich im Jahr 2012 bei insgesamt 148 Fällen von Menschenhandel 62 Fälle von sexueller Ausbeutung; im Jahr 2013 gab es unter 166 Fällen von Menschenhandel 82 Fälle von sexueller Ausbeutung; 2014 sind 87 Fälle von sexueller Ausbeutung ermittelt worden; 2015 stieg die Zahl der Fälle sexueller Ausbeutung auf 97 von 141 Fällen von Menschenhandel. Für das Jahr 2016 weisen die Statistiken 94 Fälle sexueller Ausbeutung bei insgesamt 134 Fällen von Menschenhandel aus. Dies zeigt, dass die Problematik der modernen Sklaverei extrem ist. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer wesentlich höher ist. Das Problem der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen findet sich auch im Menschenhandel wieder. Tatsächlich ist die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen oft ein Teil des Verbrechens des Menschenhandels. Die sexuelle Ausbeutung und der Handel von Kindern und Jugendlichen werden üblicherweise von kriminellen Organisationen über Callgirl-Stationen und Chatplattformen betrieben. Sie locken die Kinder und Jugendlichen mittels Werbung in Medien, finanziellen Forderungen, Ketamin usw. und beschränken dann deren Freiheit mit Gewalt und Drohungen, um sie dadurch in die Prostitution zu drängen. Befinden sie sich einmal in der Prostitution, dann werden die Opfer von Mitgliedern der kriminellen Organisationen beaufsichtigt, damit sie nicht fliehen können.19 Zusammenfassend ist die Problematik der sexuellen Ausbeutung wegen der Involviertheit von kriminellen Organisationen extrem kompliziert geworden. Dabei werden Kinder und Jugendliche nicht nur durch internationale und interregionale Kooperation dieser kriminellen Organisationen zur Prostitution etc. gezwungen, sondern auch durch direkte oder angedrohte Gewalt oder durch eine gezielt gewollte Drogenabhängigkeit, sodass das Problem einer modernen Sklaverei entstanden hat.
18 Siehe Bericht über den Menschenhandel des Migrationsbüros, R.O.C. (台灣內政部移民署), http://www.immigration.gov.tw/lp.asp?ctNode=29699&CtUnit=16434&BaseDSD=7&mp=1 (zuletzt aufgerufen am 20. 07. 2017). 19 Verführung einer 14-jährigen zum Sexgewerbe – Totale Gewinnabschöpfung (狼誘14歲女賣 淫 獨吞皮肉錢), China Times: http://www.chinatimes.com/newspapers/20131121000891260106 (zuletzt aufgerufen am 20. 07. 2017).
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III.
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Strafrechtliche Repression der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen
Wie oben bereits erwähnt, hat Taiwan 1995 die Bestimmungen gegen den Sexhandel von Kindern und Jugendlichen verabschiedet. Man hatte sich davon erhofft, das Problem der Kinderprostitution und des Menschenhandels zu lösen. In dem Versuch auf seither stattfindende gesellschaftliche Änderungen einzugehen, wurden diese Bestimmungen insgesamt sechs Mal geändert. Bei der Änderung im Jahr 2015 wurden dazu die UN Konvention über die Rechte von Kindern und die Interpretation der Verfassung Nr. 623 durch den Justiz-Yuan (also das taiwanische Verfassungsgericht) berücksichtigt, denn beide gehen davon aus, dass der Begriff des Sexhandels impliziert, dass beide Beteiligten sich gleichberechtigt und selbstbestimmt einen Handel eingehen. Das ignoriert aber die Tatsache, dass es sich bei einer Seite um Kinder und Jugendliche handelt, die sich aufgrund ihres Alters, ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung, ihrer ökonomischen und sozialen Stellung, sowie ihrer Rechte in einer ungleichen Situation befinden. Darum wurde die Bezeichnung im Titel der Bestimmungen und im Tatbestand in sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen geändert. Dadurch hat sich nicht nur der Schutzbereich für die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen vergrößert, sondern auch eine Erweiterung der Amtspflichten mit sich gebracht. Darüber hinaus hat sich geändert, dass die Unterbringung des Opfers professionell bewertet werden muss. Auch die Tatbestände wurden erweitert und das Strafmaß hat sich verschärft. Obwohl die Bestimmungen gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen sich an internationalen Beispielen orientieren, sind sie inhaltlich gesehen nicht vollkommen lückenlos und bedürfen weiterer Beachtung. Die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen wird aus Sicht des Strafrechtsystems in drei Gruppen konkretisiert: (1) »die Veranlassung von Kindern und Jugendlichen, sexuelle Handlungen durchzuführen«; (2) »das Verbreiten von Kinder- und Jugendpornografie«; (3) die Verpfändung und der Handel mit Kindern und Jugendlichen. Beachtenswert ist, das die Ausnutzung von Kindern oder Jugendlichen im Bar-Service oder in erotischen Escort-Services wie Reise-, Gesang- und Tanzbegleitung wird nicht strafrechtlich sanktioniert, sondern unterliegt nur Verwaltungsbußen. Darum werden sie nicht in die vorliegende Diskussion einbezogen. Wie bereits erwähnt ist die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen mit dem Phänomen der organisierten Kriminalität eng verbunden. Will man die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen verhindern, darf man der Frage nach dem Einfluss krimineller Organisationen nicht ausweichen.
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Im Folgenden wird untersucht, welche Tatbestände ein Mitglied einer kriminellen Organisation erfüllt, wenn es Kinder und Jugendliche sexuell ausbeutet.
1.
Das Veranlassen von Kindern und Jugendlichen zu sexuellen Handlungen
Veranlassen die Mitglieder einer kriminellen Organisation gegen den Willen von Kindern und Jugendlichen, dass diese Geschlechtsverkehr oder obszöne Handlungen ausführen, werden sie nach § 33 Bestimmungen gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen bestraft. Nach dieser Vorschrift wird ein Täter bestraft, wenn er Kinder und Jugendliche durch Gewalt, Drohung, Einschüchterung, Überwachung, Arzneimittel, Hypnose oder sonstigen Methoden gegen deren Willen dazu veranlasst, gegen Entgelt Geschlechtsverkehr oder obszöne Handlungen vorzunehmen. Dieser Beschreibung der Tathandlung könnte auch den Tatbestand der Vergewaltigung nach § 221 taiwanisches Strafgesetzbuch (im Folgenden: tStGB) erfüllen. Ist das Opfer unter 14 Jahre alt, muss der Täter nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 tStGB mit Strafschärfung rechnen. Weil aber die Bestimmungen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen ein Sondergesetz sind, wird § 33 BSAK vorrangig angewandt (lex specialis). Ist die kriminelle Organisation gewinnorientiert, macht sich der Täter nach § 33 Abs. 2 BSAK strafbar. Wenn der Täter Kinder oder Jugendliche vermittelt, übergibt, annimmt, transportiert oder versteckt, oder wenn er sie dazu anhält, sich zu verbergen, wird er nach § 33 Nr. 3 BSAK bestraft. Handeln Mitglieder als Vermittler bei Übergabe, Aufnahme, Transport oder Verbergen, werden sie nach § 33 Nr. 4 BSAK bestraft. Haben Organisationsmitglieder Geschlechtsverkehr mit einem Kind oder einem Jugendlichen, können sie nach § 31 Abs. 1 dieser Bestimmungen bestraft werden. Hat das Organisationsmitglied einen entgeltlichen Geschlechtsverkehr mit einem Kind oder einem Jugendlichen, der unter 16 Jahre ist, wird in § 31 Abs. 1 BSAK auf den Tatbestand des § 227 tStGB »einvernehmliche Durchführung von Geschlechtsverkehr oder von obszönen Handlungen« verwiesen. Zu beachten ist allerdings, dass der Strafrechtssenat des taiwanischen Obersten Gerichtshofs in seinem 7. Beschluss aus dem Jahr 2010 entschieden hat,20 dass ein Kind unter 7 Jahren keine Einwilligungsfähigkeit besitzt,21 dass es also auch nicht in einen rechtsgeschäftlichen Geschlechtsverkehr einwilligen kann. Daher würde 20 Über die Kritik zum 7. Beschluss des Strafsenates 2010 siehe KAO Chin-kuei (高金桂), Ausübung des Zwangs bei der Vergewaltigung (強制性交罪的強制力行使), Taiwan Law Review, Nr. 189, Februar 2011, S. 251ff. 21 Diese Einigungsunfähigkeit ist eine gesetzliche Vermutung, vgl.: KAO Chin-kuei (高金桂), Ausübung einer Zwangshandlung bei der Vergewaltigung (強制性交罪的強制力行使), Taiwan Law Review, Nr. 189, Februar 2011, S. 253.
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in einem solchen Fall eine Bestrafung direkt nach § 222 tStGB »Vergewaltigung in einem besonders schweren Fall« erfolgen. Daneben ist es nach § 31 Abs. 2 auch strafbar, wenn ein Erwachsener mit einer Person zwischen 16 und 18 Jahre entgeltlichen Geschlechtsverkehr oder eine Obszönität verübt. Nach § 31 Abs. 3 BSAK gilt für die hier aufgeführten relevanten Tatbestände eine internationale Zuständigkeit. Auch wenn eine Person diese Straftaten außerhalb Taiwans begeht, kann sie in Taiwan angeklagt werden – selbst wenn die Handlung nach dem Gesetz des Tatorts nicht strafbar ist.22 Weil der Körper von Kindern und Jugendlichen noch unreif ist, können diese sexuelle Handlungen nicht in ihrer vollen Tragweite verstehen. Darum ist es nach § 32 dieser Bestimmungen verboten, Kinder und Jugendlichen durch die Mittel der Verlockung, der Unterbringung, der Anwerbung, der Vermittlung, der Mitwirkung oder durch andere Methoden zum Geschlechtsverkehr oder zu obszönen Handlungen gegen Entgelt zu veranlassen. Begeht der Täter die oben genannten Taten in betrügerischer Weise, wird er ebenso bestraft. Begeht er die Taten in der Absicht, daraus einen Gewinn zu erzielen, dann soll er schwerer betraft werden. Obwohl auch § 233 tStGB vorsieht, dass Verlockung, Unterbringung und Vermittlung von Minderjährigen unter 16 Jahren zum Zweck des Geschlechtsverkehrs oder obszöner Handlungen bestraft werden, findet § 32 BSAK vorrangig Anwendung, denn es handelt sich um strafrechtliche Sondernormen, die als lex specialis vorgehen. Hieraus wird deutlich, dass ein Mitglied einer kriminellen Organisation bestraft wird, wenn es Opfer vermittelt, übergibt, annimmt, transportiert, versteckt oder verstecken lässt.
2.
Verbreitung von Kinderpornographie
Neben erzwungenem Geschlechtsverkehr oder erzwungenen obszönen Handlungen gibt es die Möglichkeit, dass Mitglieder einer kriminellen Organisation ihrem Profitinteresse durch die Herstellung von Kinderpornographie nachgehen. Um Kinder und Jugendlichen hiervor zu schützen, sind die Herstellung und Verbreitung von kinderpornographischen Audio- und Videoprodukten gesetzlich verboten. Die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen kann sich also auch in der Weise abspielen, dass diese zu sexuellen Handlungen gezwungen werden, damit andere diese Handlungen ansehen können, zB. durch LiveÜbertragungen vermittels Camchat-Technik. Nach § 35 BSAK wird bestraft, wer 22 CHANG Li-ching (張麗卿), Theorie und Praxis des Strafrecht AT (刑法總則理論與運用), Wunan Books, September 2016, S. 73ff.; WANG Huang-yu (王皇玉), Regelungen und Strafe von Sexhandel in Taiwan (臺灣對於性交易行為的管制與處罰), Sonderausgabe für öffentliches Recht, Taiwan Law Journal, August 2010, S. 7ff.
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Kinder und Jugendliche unter Anwendung von Gewalt, Zwang, Arzneimitteln, Betrug, Hypnose oder anderen gegen den freien Willen verstoßende Methoden dazu bringt, Geschlechtsverkehr zu haben oder obszöne Handlungen auszuführen und wenn der Täter anderen das Ansehen dieser Handlungen ermöglicht. Bezweckt der Täter Gewinn zu erzielen, wird die Freiheitsstrafe um die Hälfte verschärft. Im Übrigen ist es auch strafbar, wenn der Täter durch Anwerbung, Verführung, Unterbringung, Vermittlung, Mitwirkung, Ausnutzung oder andere Methoden Kinder und Jugendliche dazu veranlasst, Geschlechtsverkehr oder obszöne Handlungen durchzuführen, um diese wiederum Dritten zur Ansicht anzubieten. Erfolgt die Herstellung kinderpornographischer Erzeugnisse nicht aus dem eigenen Willen der Kinder und Jugendlichen heraus, soll dies nach § 36 Abs. 3 BSAK bestraft werden. Zugleich wird hierdurch nach taiwanischem Recht das Persönlichkeitsrecht der Kinder und Jugendlichen dergestalt verletzt, dass gegen das Recht auf Geheimhaltung des eigenen Körpers verstoßen wird.23 Nach § 315-1 Abs. 2 tStGB ist es strafbar, wenn nicht-öffentliche Handlungen, Reden, Gespräche oder private Körperteile in geheimer Weise durch Audio, Foto, Video oder durch elektromagnetische Verfahren aufgezeichnet werden. Weil das Rechtsgut, das diesen beiden Tatbeständen zu Grunde liegt, unterschiedlich ist, kommt es zu einer Idealkonkurrenz, bei welcher nur das schwerere Verbrechen bestraft wird. Wenn die Herstellung kinderpornographischer Erzeugnisse mit Einwilligung der Kinder und Jugendlichen geschieht, wird diese Handlung dagegen nach § 36 Abs. 1 BSAK bestraft. Wenn ein Täter andere dazu bringt, eine Tat nach § 36 Abs. 1 zu begehen, dann wird er nach Abs. 2 genauso wie in Abs. 1 bestraft. Nach Abs. 3 desselben Paragraphen wird die nach den jeweiligen Bestimmungen zu verhängende Strafe um die Hälfte erhöht, wenn die Tat in der Absicht begangen wurde, Gewinn zu erzielen. Eine unvollendete Tat kann nach § 36 Abs. 4 BSAK bestraft werden. Die Handlung der Verbreitung von Kinderpornographie ist nach § 38 BSAK strafbar. Dabei ist es unerheblich, ob das pornographische Material der Person gehört, bei der es sichergestellt wurde. Parallel hierzu verbietet § 235 tStGB, dass Mitglieder einer kriminellen Organisation obszöne Schriften, Bilder, Tonaufzeichnungen, Bildaufzeichnungen oder andere obszöne Darstellungen verteilen, ausstrahlen oder verkaufen, oder dass sie diese öffentlich zur Schau stellen oder diese in einer anderen Weise dem Publikum zum Anschauen oder zum Anhören anbieten. Da § 38 BSAK im Verhältnis zum vorstehenden Tatbestand in Idealkonkurrenz steht, wird er vorrangig angewandt. Nach § 40 BSAK ist es verboten, dass Mitglieder einer kriminellen Organisation durch Werbematerial, Druck23 LIN Shan-tien (林山田), Strafrecht BT, Bd. 1 (刑法各論(上)), Taipei: Angle (元照), Oktober 2006, S. 278.
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erzeugnisse, Radio, Fernsehen, Telefon, Internet oder andere Medien Informationen über die sexuelle Ausbeutung von Kindern verbreiten, ausstrahlen, abdrucken oder plakatieren und diese Handlungen die Gefahr erzeugen, dass Kinder und Jugendliche durch Werbung, Vermittlung, Implikation oder anderes zu Opfern einer sexuellen Ausbeutung nach § 2 II (1) bis § 3 BSAK werden. Ein Täter, der mit Gewinnabsicht handelt, wird erhöht bestraft.
3.
Verpfändung von und Handel mit Kindern und Jugendlichen
Bei der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in Form von Verpfändung und Handel korrelieren das organisierte Verbrechen und der Menschenhandel. Menschenhandel ist ein Geschäft, dessen Anforderungen diejenigen normaler Personen deutlich übersteigen, sodass im Hintergrund unabdingbar eine starke kriminelle Organisation agieren muss, die dazu mit einer kriminellen Organisation im Ausland interagiert. In Taiwan wurden war die Verpfändung von oder der Handel mit Kindern und Jugendlichen früher ein Zeichen von Armut gesellschaftlicher Randgruppen. Weil Eltern auf der einen Seite unter großem ökonomischen Druck standen, sodass sie ihre Kinder tw. nicht einmal ernähren konnten, weil sie aber auf der anderen Seite durch die Verpfändung oder den Verkauf von Kindern sowohl ihren Lebensunterhalt als auch Ersparnisse erhalten konnten, entschieden sie sich für die Verpfändung bzw. der Verkauf der Betroffenen. Die taiwanische Gesetzgebung war ursprünglich auf diese gesellschaftliche Problemsituation ausgerichtet. Um eine ungehemmte Ausbreitung von Schlepperbanden zu verhindern und um menschliche Grundwerte zu gewährleisten, ist es wichtig zu verhindern, dass Menschenhandel einen Gewinn erwirtschaften kann. In der Erkenntnis, dass das Problem des Kinderhandels in Taiwan nicht gelöst ist, wurde § 34 BSAK eingeführt, um dadurch die Verpfändung oder den Verkauf von Kindern und Jugendlichen unter Strafe zu stellen. Auch § 296-1 I tStGB bestraft den Menschenhandel bzw. die Verpfändung von Menschen.24 Weil aber Verpfändung von und Handel mit Kindern und Jugendlichen nach § 34 BSAK die speziellere Regelung ist, findet eben diese Regelung vorrangig Anwendung. Der Menschenhandel ist nach § 296 Abs. 1 Nr. 1 strafbar. Im Verhältnis zu diesem ist § 34 BSAK gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen eine Sondernorm, die Vorrang hat. Viele Kinder und Jugendliche sind geistig noch nicht reif, so dass sie oft von Anderen betrogen werden. Aus diesem Grund bestimmt der Nachsatz von § 34 I 24 Über die Verpfändung des Menschen, vgl.: KAN Tien-Kuei (甘添貴), Strafrecht BT (Teil 1) (刑法各論(上)), Taipei: Sanmin (三民), November 2010, S. 113ff.
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BSAK, dass Täter, welche den vorherstehenden Tatbestand mit Hilfe von Betrug verwirklichen, ebenfalls dieser Bestimmung unterliegen und ebenso bestraft werden. Wird der Tatbestand durch die Anwendung von Gewalt, Zwang, Drohung, Kontrolle, Drogen, Hypnose oder anderen Methoden verwirklicht, dann soll die Strafe um die Hälfte angehoben werden. Es gibt in Taiwan internationale Schlepperbanden, die entweder die Schulden von Kindern und Jugendlichen ausnutzen, oder die Kinder und Jugendliche in eine Zwangslage bringen, in der sie nur sehr schwer um Hilfe ersuchen können, sodass sie in Geschlechtsverkehr einwilligen. Dieses Handlungsmuster verwirklicht u. U. den Tatbestand des § 31 BSAK, wonach ein Täter, der im Streben nach Gewinnen eine ungerechtfertigte Schuld dazu ausnutzt, Kinder und Jugendliche einzuschränken, oder der eine Situation schafft, in der Kinder und Jugendliche nicht können, nicht wissen, oder nicht wagen, um Hilfe zu bitten, sodass sie einer sexuellen Ausbeutung zustimmen.
IV.
Gegenmaßnahmen gegen die Zunahme der organisierten Kriminalität bei der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen
In der Gesellschaft hat der Schwarzmarkt des Sex mit Kindern einen großen Raum, um Profite zu erzielen. Dies ist für kriminelle Organisationen der größte Anreiz für entsprechende Aktivitäten. Für diese sind die Profitmöglichkeiten der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen eine Verdienstader und bewirken sowohl direkt als auch indirekt eine Ausweitung des Phänomens. Deshalb kann man dem der Problematik der Beteiligung der organisierten Kriminalität in diesem Zusammenhang nicht ausweichen.
1.
Schutz der körperlichen und seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen als Kern des Rechtsguts
Rechtsgüterschutz ist der zentrale Wert des modernen Strafrechts. Egal ob es sich um die Strafrechtsdogmatik handelt, oder um strafrechtspolitische Überlegungen, es gibt niemanden, der nicht vom Rechtsgüterschutz ausgehen würde. Es finden sich aus Perspektive des Rechtsgüterschutzes einige Straftatbestände im taiwanischen Strafgesetzbuch und in den Bestimmungen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, welche die Vermittlung Minderjähriger zum Geschlechtsverkehr oder zu obszönen Handlungen adressieren. Wenn wir gleichzeitig den Versuch des Strafrechts, die sexuelle Selbst-
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bestimmung zu schützen, betrachten, dann wissen wir, dass der Gesetzgeber zwar auf der einen Seite die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen schützen will, dass er aber auf der anderen Seite das Bewusstsein der sexuellen Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen berücksichtigen muss, denn es stellt sich die Frage, inwiefern dieses ebenfalls geschützt werden muss. Anders ausgedrückt muss der Gesetzgeber aufarbeiten, welche Art von Gefährdung er berücksichtigt, ob er also durch eine paternalistische Gesetzgebung das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Minderjährigen negiert. Es lohnt sich, dieser Frage nachzugehen. Bedauerlicherweise werden der Bedeutungsinhalt der betroffenen Rechtsgüter und deren Rechtfertigung innerhalb der Normen der BSAK und in der Literatur meist unbestimmt gelassen. Im Vergleich dazu wird im allgemeinen Strafrecht meist nur von dem Rechtsgut und damit dem Schutz der körperlichen und seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gesprochen.25 Die gesetzlichen Normen des Sexualstrafrechts können grob in die zwei Bereiche Schutz der sexuellen Selbstbestimmung und Schutz der guten Sexualsitten unterteilt werden. Ersterer besteht aus Tatbeständen wie unfreiwilliger Geschlechtsverkehr und unfreiwillige obszöne Handlungen; sie sind in Kapitel 16 »Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung« geregelt. Letztere sind in Kapitel 16-1 »Störung der guten Sitten« geregelt und bestehen im Wesentlichen aus dem Verbot, für sexuelle Handlungen zu locken oder diese gewerblich zu vermitteln, (in der Umgangssprache handelt es sich also um das Verbot von Call-Centern für Sex und um das Verbot der pornografischen Industrie).26 Beispielsweise ist »einvernehmlicher Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen« nach § 227 tStGB in Kapitel 16 »Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung« eingegliedert. Demnach wird der Täter bestraft, wenn er mit Minderjährigen, die unter 14 oder unter 16 Jahre alt sind, Geschlechtsverkehr hat oder mit diesen obszöne Handlungen vollführt. Diese Norm führte direkt nach ihrer Einführung deshalb zu einer Kontroverse, weil in ihr nicht ausdrücklich erwähnt wurde, ob es zur Ausübung von Zwang kommt oder ob in anderer Weise gegen die Freiwilligkeit verstoßen wird. Es war also strittig, ob dadurch gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Minderjährigen verstoßen wird. Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Zum einen gibt es die Meinung, dass es keinen Sinn
25 Vgl. HUANG Hui-ting (黃惠婷), Eine Untersuchung über Sexualkriminalität von Kindern und Jugendlichen im Sexualstrafrecht (性刑法防制兒童及少年性侵害之修法研究), Central Police University Law Review, Nr. 24, April 2013, S. 113ff. 26 Vgl. HSU Heng-da (許恒達), Gute Sitten, Volksgesundheit und die Haftung für Beihilfe zum Sexhandel – Kommentar zur Interpretation Nr. 666 (善良風俗、國民健康與促成性交易的 刑事責任--以釋字第六六六號解釋為反思契機), Taiwan Law Review, Nr. 186, November 2010, S. 20–21.
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macht, wenn man hier nach dem Handlungswillen frägt27; dieser Standpunkt geht also davon aus, dass es hier ausschließlich um eine Schutznorm für die körperliche und seelische Gesundheit von Minderjährigen handelt. Des Weiteren gibt es eine vermittelnde Position, nach der es hier zwei geschützte Rechtsgüter gibt: das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und den Schutz der körperlichen und seelischen Gesundheit.28 Meiner Meinung nach kann man aus dem Tatbestand dieses Verbrechens ersehen, dass es für eine Bestrafung ausreichend ist, wenn der Täter Geschlechtsverkehr mit einem Minderjährigen vornimmt. Die Frage, ob es zu einem Verstoß gegen die Freiwilligkeit kam, ist unerheblich, denn der Gesetzgeber hat das 16. Lebensjahr als Altersgrenze festgelegt und somit ausschließlich nach dem Merkmal des Alters die gesetzliche Vermutung bestimmt, dass Minderjährige, welche unter 16 Jahre sind, generell mangels Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung als gefährdete Objekte betrachtet werden. Aus den Vorschriften des Strafrechts über sexbezogene Verbrechen können wir also ersehen, dass das jetzige Strafrechtssystem Einschränkungen hat, auch wenn es die körperliche und seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Schutz nimmt. Der § 227 tStGB ist lediglich auf Minderjährige unter 16 anwendbar. Allerdings wird eine Person laut Strafrecht erst nach Vollendung des 18. Lebensjahrs als Erwachsener angesehen. Deshalb ist diese Vorschrift auf einen Teil der Minderjährigen nicht anwendbar. Erfreulicherweise wird diese Rechtslücke von § 31 Abs. 2 BSAK geschlossen, denn nach dieser Bestimmung ist der Täter strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, wenn er mit Minderjährigen über 16 und unter 18 Jahren Geschlechtsverkehr oder obszöne Handlungen gegen Entgelt begeht. Aus dieser Bestimmung können wir darüber hinaus ersehen, dass der Gesetzgeber sich letzten Endes doch dafür entschieden hat, den Sachverhalt durch ein Sondergesetz zu regeln und dadurch vornehmlich die körperliche und seelische Gesundheit der Minderjährigen zu schützen. Weiterhin wurden entgeltliche sexuelle Handlungen von Kindern und Jugendlichen früher als »freiwillige sexuelle Handlungen« betrachtet, die gegen die gesellschaftliche Sexualmoral verstoßen. Deswegen wurden Kinder und Jugendliche zu Objekten, die man ergriff und ermahnte, denen man Unterricht in Lebensführung erteilte, die an Maßnahmen zur Besserung teilnehmen sollten und die in Erziehungsanstalten eingewiesen wurden. Dadurch wurde diese Art 27 LU Ying-chieh (盧映潔), Ist es wirklich wichtig: Sind »Wollen oder nicht Wollen« wirklich wichtig? – Kommentar zur Entscheidung des Landgericht Kaohsiung 99/420 und zum Beschluss der Strafkammer des Obersten Gerichts 99/Sitzung 7 (「意不意願」很重要嗎?- 評高雄地方法院九十九年訴字第四二二號判決暨最高法院九十九年第七次刑庭決議), Taiwan Law Review, Nr. 186, November 2010, S. 165ff. 28 LI Chia-wen (李佳玟), Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip (違反罪刑法定的正義), Taiwan Law Review, Nr. 186, Januar 2010, S. 1ff.
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von Kindern und Jugendlichen mit dem Label des »Missverhaltens« gebrandmarkt. Diese Politik hat aber die Asymmetrie zwischen Kindern und Jugendlichen auf der einen Seite und Erwachsenen auf der anderen Seite ignoriert. Z.B wurden Kinder und Jugendliche wegen Armut und Entfremdung von ihren eigenen Eltern in den Höllenschlund der Prostitution gedrängt. Gewalt in Schulen und Familien hat Kinder und Jugendliche dazu gezwungen, ihre Familien zu verlassen und sich freiwillig in den Pornomarkt zu begeben, um sich ernähren zu können. Diese Situation der strukturellen Benachteiligung im Hintergrund beruht meistens auf der Dysfunktionalität von Gesellschaft, Regierung und Familien.29 Auf Grund der Aufklärung durch Jugendhilfegruppen und internationale Organisationen zum Schutz von Kindern hat sich die Perspektive im Taiwan der letzten Jahre geändert, sodass der Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in den relevanten Normen neu unter dem »Schutz«aspekt durchdacht und reformuliert wurde.30 Insbesondere nach dem normativen Regelwerk der BASK wird die Frage, ob es sich um freiwillige oder erzwungene Sexualhandlungen mit Kindern und Jugendlichen handelt, überhaupt nicht mehr gestellt. Einzig der Schutz der körperlichen und seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wird als strafrechtliches Rechtsgut betrachtet. Die Interpretation Nr. 623 des Justiz-Yuan (also des taiwanischen Verfassungsgerichts) hat darüber hinaus festgelegt, dass »derjenige, der mit Kindern und Jugendlichen Geschlechtsverkehr hat, diese Kinder und Jugendlichen deshalb sexuell ausbeutet, weil diese seelisch hierfür noch nicht reif genug sind. Die Erfahrung der sexuellen Ausbeutung bewirkt, dass die kindlichen und jugendlichen Opfer eine lebenslange und unheilbare Gefährdung der körperlichen und seelischen Gesundheit erfahren, von denen zugleich eine negative Wirkung auf die Gesellschaft ausgeht. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor jeglicher Beteiligung an rechtswidrigen Sexualhandlungen ist ein Menschenrecht, das als universaler Wert anerkannt wird31, und das ein wichtiges öffentliches Rechtsgut darstellt. Daher ist der Staat verpflichtet, notwendige Kontrollmaßnahmen vorzunehmen, um Kinder und Jugendliche zu schützen.«
Weiter hat das Verfassungsgericht bei der Erläuterung zum Normzweck des § 1 BSAK ausgeführt: »die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in jeder Form muss vermieden werden, die gesunde Entwicklung von Körper und Seele muss bewahrt werden.« Deshalb ist der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor jedweder rechtswidrigen Sexualhandlung, die in ihrer Folge eine se29 Siehe oben Fn. 5, S. 57. 30 LI Li-fen (李麗芬), Warum wird »Sexhandel von Kindern und Jugendlichen« in »sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen« umbenannt? (論「兒少性交易」為何應正名 為「兒少性剝削」), Community Development Journal, Nr. 139, September 2012, S. 282ff. 31 Vgl. »UN Convention on the Right of the Child« vom 20. 11. 1989, insbesondere Art. 19 und Art. 34.
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xuelle Ausbeutung bewirken kann, ein wichtiges Rechtsgut, das vom Staat gewährleistet werden soll. Mit anderen Worten ausgedrückt heißt das, dass der tatsächliche Inhalt des Rechtsguts bezüglich des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Ausbeutung bestimmt werden sollte. Dies wird auch von der Interpretation Nr. 623 des Justiz-Yuan bestätigt, denn laut dieser hat der Staat eine objektive Schutzpflicht, die körperliche und seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu bewahren. Die Machtstrukturen hinter der sexuellen Ausbeutung bestehen möglicherweise aus Eltern und Familien, der Pornoindustrie, gesellschaftlichen Umgangsformen sowie dem Machtsystem einer patriarchalischen Gesellschaft, die alle gemeinsam ihre Wirkung ausüben.32 In der Praxis sind viele Kinder und Jugendliche, die aus einem armen wirtschaftlichen Umfeld kommen, dazu gezwungen, sich »freiwillig« zu prostituieren. Wenn man diese Fälle lediglich aus der Perspektive des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung überprüft, dann sind die Justizbehörden kaum in der Lage, die schwache Stellung dieser Kinder und Jugendlichen wahrzunehmen. Wenn es hingegen keine Rolle spielt, ob Kinder und Jugendliche freiwillig oder unfreiwillig sexuelle Handlungen vornehmen, weil das relevante Rechtsgut die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen ist, dann wird jede unangemessene Form der Ausbeutung, welche deren körperliche und seelische Entwicklung gefährdet, zum Objekt strafrechtlicher Regulierung. Daher muss sich die Strafrechtspolitik gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen an der gesunden Entwicklung von Körper und Seelen der Kinder und Jugendlichen orientieren, gleichzeitig muss sie versuchen, eine Verletzung der Kinder und Jugendlichen an Körper und Seele durch eine entsprechende Gesetzgebung zu vermeiden.
2.
Strafrechtliche Gesetzgebung zur Repression sexueller Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen
Einhergehend mit dem Wandel der Gesellschaft sollte diskutiert werden, ob das in § 1 BASK bestimmte Rechtsgut für die gesunde Entwicklung von Körper und Seele der Kinder und Jugendlichen die strafrechtssystematische Politik aus Sicht der Risikogesellschaft bestimmen kann und ob unter diesem Gesichtspunkt eine Überprüfung und Restrukturierung notwendig ist. Welcher Natur am Ende das Rechtsgut der Gesundheit von Körper und Seele der Kinder und Jugendlichen ist, wird bestimmend für die Notwendigkeit der Errichtung eines Systems zur strafrechtlichen Risikovorsorge. Aufgrund der 32 »UN Convention on the Right of the Child«, Art. 19, Art. 34.
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Strafrechtspolitik in der Risikogesellschaft muss es einen Mechanismus geben, um den Schutz der Rechtsgüter im Angesicht des Risikos zu stärken und zu vervollkommnen. Darum muss überdacht werden, wie ein sicheres Umfeld für die körperliche und seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen strukturiert sein soll. 1)
Strafe für Menschenhandel von Kindern und Jugendlichen
Menschenhandel ist ein aufwändiges Projekt, das normalerweise nur von kriminellen Organisationen durchgeführt werden kann. In Taiwan steht der Menschenhandel mit der Pornoindustrie in engster Beziehung; letztere umfasst auch die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen. Auf der Ebene des Gesetzes besagt § 2 »Bestimmungen gegen Menschenhandel« (人口販運防制條 例, im Folgenden kurz BGM), dass »Menschenhandel« jede Tätigkeit ist, welche eine Person unter 18 Jahren anwirbt, kauft oder verkauft, verpfändet, transportiert, übergibt, versteckt, verbirgt, vermittelt oder beherbergt, und dabei beabsichtigt, dass diese Person der Prostitution nachgeht, eine Arbeit verrichtet, deren Entlohnung offensichtlich unangemessen ist, oder von dieser Person Organe entnimmt; wenn er eine Person unter 18 Jahren dazu veranlasst, der Prostitution nachzugehen, eine Arbeit zu verrichten, deren Entlohnung offensichtlich unangemessen ist, oder wenn er diese Person dazu veranlasst Organe entnehmen zu lassen, dann gilt dasselbe. Wir müssen dabei beachten, dass die Bestimmungen gegen den Menschenhandel sehr viel später erlassen wurden, als diejenigen gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen. Trotzdem sind beides Sondergesetze, welche zur Regulierung bestimmter gesellschaftlicher Problemfelder erlassen wurden. Das setzt voraus, dass andere Sondergesetze hierdurch ergänzt werden, um eine Dopplung strafgesetzlicher Normen zu vermeiden.33 Gleichzeitig mit der Verhinderung doppelter Normierung wird dadurch eine Aufblähung des Strafrechts vermieden und gleichzeitig Schwachstellen insbesondere im Nebenstrafrecht auszugleichen. Daher ist die Straftat des Menschenhandels, der auf eine sexuelle Ausbeutung abzielt, lediglich in § 31 BGM geregelt: »Wer mit der Absicht dadurch einen Gewinn zu erzielen eine andere Person unter Ausnutzung einer wirtschaftlichen Zwangslage oder unter Ausnutzung ihrer Unfähigkeit, Unwissenheit oder Hilflosigkeit zur Prostitution zwingt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis 33 So sprach man früher etwa von »Sexualverkehr und sexueller Nötigung, die gegen Entgelt durchgeführt werden«, oder davon, dass Kinder und Jugendliche »dem Sexgewerbe nachgehen« (兒少從事性交易). Der Effekt dieses Labelings bewirkte nicht nur eine Verwischung der Tatsache, dass Kinder und Jugendliche die Opfer sexueller Ausbeutung sind, sondern ging auch nicht der Frage nach, welche gesellschaftlichen Ursachen dazu führen, dass Kinder und Jugendliche sexuell ausgebeutet werden; vgl. hierzu SHIH Hui-ling (施慧玲), Fn. 5, S. 58ff.
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zu fünf Jahren bestraft; er kann zusätzlich mit einer Geldstrafe von bis zu 3 Millionen NT$ bestraft werden.« Abgesehen davon, dass dieser Tatbestand nicht berücksichtigt, ob das Opfer minderjährig ist, werden innerhalb des Tatbestands auch keine Vorkehrungen getroffen, um das Risiko, dass es zu einer solchen Handlung kommt, im Vorfeld zu verringern. Dazu legt das Gesetz sein Hauptaugenmerk auf die Ausnutzung der psychologischen Belastung der Opfer, welche sich als Folge einer sich zunehmend verschlimmernden Schuldknechtschaft bildet und die dazu instrumentalisiert wird, diese unangemessene Schuld durch sexuelle Handlungen abzutragen, dass sie also Mittel zur sexuellen Ausbeutung eingesetzt wird. Wenn also Minderjährige in eine solche Zwangslage geraten, dann können die Täter erst dann nach dieser Bestimmung bestraft werden, wenn die sexuelle Ausbeutung bereits durchgeführt wird. Wenn man vom Gedanken des Schutzes der körperlichen und seelischen Gesundheit von Minderjährigen ausgeht, dann sollte man für den Fall, dass Schlepperbanden sich mit lokalen Anbietern der Sexindustrie zusammentun, um Formen der illegalen »Schuldhaft« mit dem Schein der Legalität zu bemänteln und dadurch Kinder und Jugendliche in die sexuelle Ausbeutung zu zwingen, dann stellt sich die Frage, wie man das effektiv durch Normen einschränken kann. Dazu sollte man sich zuerst überlegen, ob das Problem in den BSAK bereits normiert ist. In § 34 BSAK wird bestimmt, dass »wer ein Kind oder einen Jugendlichen kauft oder verkauft, verpfändet oder auf andere Weise an Dritte übergibt oder von Dritten aufnimmt, um diese zur Ausübung der Prostitution oder zur Ausführung obszöner Handlungen gegen Entgelt zu veranlassen«, sich eines Verbrechens schuldig macht. Diese Bestimmung dürfte sich als strafrechtliche Grundlage für die Bestrafung dieser Täter eignen. Es gilt allerdings zu beachten, dass beim An- und Verkauf von Kindern und Jugendlichen sowohl der Käufer, als auch der Verkäufer das Kind oder den Jugendlichen als ein Handelsobjekt betrachten, aus dem sie einen Profit ziehen wollen. Trotzdem wird nach diesen Bestimmungen nur der bestraft, der in der Folge dieses Handels Kinder oder Jugendliche unter die Verfügungsgewalt Dritter stellt. Im Vergleich zu § 31 BSAK sind es in dieser Bestimmung die Kinder und Jugendlichen selber, welche auf Grund mangelnder Erfahrung einen Vertrag unterschreiben, der zu einer ungerechtfertigten Schuldforderung führt, so dass diese sich unter die Verfügungsgewalt Dritter begeben. Anders ausgedrückt liegt die Grauzone der gesetzlichen Bestimmungen darin, dass die relevanten Tatbestände nur eine unvollständige Subsumtion erlauben. Obwohl sich die Situation durch den psychischen Druck und die damit verbundenen Einschränkungen einer Einigung gegen den Willen der Betroffenen annähert, haben die Kinder und Jugendlichen doch eine »Interessenabwägung« in eigener Sache vorgenommen, sodass sich beide Seiten auf eine gemeinsame Vereinbarung einigen. Daher sind weder der oben zitierte § 34 BSAK »Ver-
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pfändung von Menschen und Menschenhandel« noch § 33 BASK »Zwang von Kindern und Jugendlichen zur Ausübung der Prostitution oder zur Vornahme obszöner Handlungen wider Willen« anwendbar. Der Menschenhandel mittels Schuldknechtschaft erfreut sich bei kriminellen Organisationen großer Beliebtheit. Besonders in der Sexindustrie wird dieses Mittel oft sehr effektiv eingesetzt. Wenn sie zu Beginn der Vereinbarung einen großen Kapitaleinsatz tätigen, dann werden sie dadurch sehr wahrscheinlich zum hauptsächlichen Verursacher der sich daran anschließenden sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen. Um also eine Prävention im Vorfeld zu ermöglichen und dadurch den organisierten Menschenhandel anzugreifen, sollte § 31 BGM meiner Meinung nach in den Regelungszusammenhang der BSAK überführt werden. Zusätzlich sollte nach Meinung der Autorin auf der Grundlage des Rechtsguts der körperlichen und seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und in Anbetracht des strafrechtspolitischen Risikomanagements innerhalb der BSAK nach § 34 »Kauf, Verkauf und Verpfändung von Menschen« ein neuer § 34-1 BSAK eingeführt werden, der die »ungerechtfertigte Ausübung einer Schuldbeziehung im Rahmen der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen« (Schuldknechtschaft) tatbestandlich normiert. Das dient gleichzeitig einem vorverlagerten Schutz des Rechtsguts und dem Gedanken des Risikomanagements. Eine konkrete Formulierung des Tatbestands könnte wie folgt lauten: »Wer in Gewinnabsicht ein Kind oder einen Jugendlichen unter Ausnutzung einer wirtschaftlichen Zwangslage in Abhängigkeit bringt, oder wer sie in eine Situation bringt, in der sie sich aus Unfähigkeit, Unwissenheit oder Hilflosigkeit nicht um Hilfe bemühen, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, dazu kann auf eine Geldstrafe von bis zu NTD $ 3 Millionen erkannt werden«. Dadurch könnte die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in vielen Fällen verhindert werden. 2)
Bestrafung juristischer Personen bei sexueller Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen
Die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen zeigt eine Tendenz zur organisierten Arbeitsteilung. Abgesehen davon, dass mafiaartige Organisationen sich daran beteiligen und das sie durch Ausübung von Gewalt versuchen, Verbrechen durchzuführen und zu kontrollieren, versuchen diese kriminellen Organisationen sich dadurch den Ermittlungen zu entziehen, dass sie sich hinter dem Betreiben von Unternehmen verstecken. Zum Beispiel verstrecken sie sich hinter einer juristischen Person um ihre illegalen Geschäfte durchzuführen und dabei den Anschein der Legalität zu erwecken, sodass sich eine Verbindung aus Kriminalität und Unternehmen bildet. Sie nutzen dieses Geflecht auch dazu, Kapital aufzunehmen oder einzusammeln, um dieses durch noch mehr illegale
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Profite zu generieren. Es fehlt jedoch in den BSAK an entsprechenden Vorschriften zur Unternehmenskriminalität. Folglich können Unternehmen nach wie vor in diesem Sektor widerrechtliche Profite machen; ja schlimmer noch, es ist möglich, dass nur ein Mitgesellschafter als Frontmann bestraft wird, während alle anderen Gesellschafter weiter in den Genuss illegaler Profite und Vorteile weiter kommen. Daher sollte die Strafrechtspolitik nach Wegen suchen, wie innerhalb der BASK die strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen ausgestaltet werden kann. Nur so kann den Problemen des zunehmenden Organisationsgrads und der zunehmenden Beteiligung juristischer Personen an der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen effektiv begegnet werden. Die Rechtfertigung und Notwendigkeit eines Unternehmensstrafrechts ist in Taiwan immer noch umstritten. Daher folgt ein kurzer Überblick über den Stand des Unternehmensstrafrechts in Taiwan. Im Anschluss daran wird die Notwendigkeit einer Kriminalstrafe aus der Perspektive des Rechtsstaats diskutiert. In der Tat gibt es in der Gesetzgebung zwei unterschiedliche Typen, um die strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen durchzusetzen, es sind das »Doppelstrafsystem« und das »Schuldübertragungssystem«. Interpretation Nr. 687 des Justiz-Yuan hinterfragt ganz bewusst, ob die Geschäftsführung nach dem Schuldübertragungssystem bestraft wird. Die aktuelle Vorgehensweise ist durch das Doppelstrafsystem charakterisiert, wobei es allerdings keine Bestimmungen über Verbrechen oder über strafrechtliche Verantwortung juristischer Personen im allgemeinen Strafrecht gibt, sondern nur im Sonderstrafrecht, z. B. § 49 Abs. 5 Gesetz für Hygieneverwaltung von Lebensmitteln; § 47 Gesetz über die Beseitigung von Abfallstoffen, § 40 Gesetz über die berufliche Sicherheit und Hygiene. Die Anerkennung einer strafrechtlichen Verantwortung juristischer Personen ist – wie bereits gesagt – auch in Taiwan sehr strittig. Die Kontroverse fokussiert sich vor allem darauf, dass eine etwaige Anerkennung nicht mit dem allgemeinen Strafrechtssystem im Einklang stehen könnte. Das Schuldprinzip im Strafrecht erkenne nur einen persönlichen Haftungsgrundsatz an, denn nur das handelnde Individuum selber kann gegenüber der Verbrechenshandlung einen Vorsatz aufweisen oder eine Fahrlässigkeit begehen. Ohne diese kann es aber keinen Schuldspruch geben. Die Persönlichkeit einer juristischen Person beruht dagegen auf einer rechtlichen Fiktion, weswegen sie keine Willensfähigkeit habe, aus der heraus sich Vorsatz und Fahrlässigkeit bilden ließen. Als Konsequenz dessen sei eine strafrechtliche Sanktionierung der juristischen Person nicht möglich.34 Allerdings ist die Problematik der Kriminalität juristischer Personen in jüngster Zeit immer drängender geworden, insbesondere bei Großunternehmen. 34 Vgl. CHANG Ming-wei (張明偉), Kritik an den Normen zum Menschenhandel (人口販運犯 罪之規範檢討), Fu Jen Law Review, Nr. 42, Dezember 2011, S. 1ff.
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Beispiele hierfür sind Skandale wie die Umweltverschmutzung durch Abwässer der Firma Advanced Semiconductor Engineering Inc. oder das »recycelte« Speiseöl bei Wei Chuan Foods Corporation und bei Chang Chi Foodstuff Factory Co. Ltd. All dies sind gravierende Fälle.35 Wenn der Angriff auf so wichtige Rechtsgüter nur mit Verwaltungsbußen geahndet wird, dann reicht dies für eine effektive Prävention nicht aus. Überdies ist es Unternehmern möglich, jederzeit ein neues Unternehmen zu gründen, sobald das alte geschlossen wurde, um ihre illegalen Geschäfte unter neuem Namen weiterzuführen. Nach Meinung der Autorin muss sich das Strafrecht ändern, wenn es mit so vielseitigen neuen Problemen konfrontiert wird. Früher wurde das Strafrecht überwiegend als Mittel der rechtlich-moralische Vergeltung betrachtet, das mit der menschlichen Seele korrespondiert, doch heutzutage erfahren wir das Strafrecht als Mittel und Werkzeug zur Prävention gesellschaftlicher Schäden.36 Daher müssen wir uns überlegen, wie eine spezielle Prävention in Bezug auf juristische Personen aussehen kann. Wenn Verbrechen durch juristische Personen nicht auf ein unitäres Kollektiv, sondern auf eine Unternehmenskultur zurückgeführt werden, dann sollten wir die strafrechtliche Verantwortung juristischer Personen akzeptieren. Bei der Repression sexueller Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen besteht ein Problem darin, dass widerrechtliche Einkünfte nicht vollkommen eingezogen werden können. Wenn eine kriminelle Organisation gegen die BGM verstößt, kann in diesem Zusammenhang auch eine juristische Person nach § 39 BGM bestraft werden. Sollten der Geschäftsführer der juristischen Person, die Vertreter der juristischen oder natürlichen Person, die Angestellten oder andere abhängig Beschäftigten im Rahmen der Ausübung ihrer beruflichen Aufgaben gegen das BGM verstoßen, dann sollen die betreffenden juristischen und natürlichen Personen mit der in den einschlägigen Normen des BGM vorgesehenen Geldstrafe belegt werden. Versuchen die betreffenden Geschäftsführer oder natürlichen Personen nach ihren besten Kräften zu verhindern, dass es zu Menschenhandel kommt, dann kann die Strafe erlassen werden. Diese Bestrafung ist nach dem System der doppelten Sanktionierung vorgeschrieben; sie ermöglicht es, juristische Personen, die von Schlepperbanden eingerichtet wurden, zu sanktionieren und dadurch eine effektive Repression in Gang zu setzen. Ebenso kann dies zur effektiven Verhinderung einer abermaligen Neugründung der juristischen Person führen. In den BSAK findet sich jedoch keine den oben genannten Vorschriften ähnliche Regelung, sodass es schon von der rein normativen Seite her nicht 35 CHANG Li-ching (張麗卿), Theorien und Praxis des Strafrecht AT (刑法總則理論與運用), Wunan (五南), September 2015, S. 86. 36 CHANG Li-ching (張麗卿), Über die Gefährdungshaftung im Bereich der Lebensmittelsicherheit (妨害食品安全刑事責任之探討), Tunghai University Law Review, Nr. 42, April 2014, S. 94ff.
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gelingen kann, die in sexuelle Ausbeutung involvierten Unternehmen effektiv abzuschrecken. Um zu verhindern, dass die Normen zu diesem Problem zu kompliziert und unübersichtlich werden, schlage ich vor, § 39 BGM als Vorbild heranzuziehen und in Anlehnung an diese Regelung die Prävention der sexuellen Ausbeutung zu regeln. Eine zukünftige Regelung könnte wie folgt aussehen: »Verstoßen die Geschäftsleitung einer juristischen Person, Vertreter einer juristischen oder natürlichen Person, Mitarbeiter oder andere abhängig Beschäftigte in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gegen §§ 31–34 BSAK, dann wird die juristische bzw. die natürliche Person nach den einschlägigen Bestimmungen des BSAK mit Geldstrafe belegt. Hat der Geschäftsführer oder die natürliche Person redlich versucht, das Verbrechen nach besten Kräften zu verhindern, dann kann von Strafe abgesehen werden.« Es sei denn, das Gesetz würde in der eben geschilderten Weise geändert, ansonsten einzig wenn eine solche Änderung erfolgt, kann eine Repression der sexuellen Ausbeutung in den hier geschilderten Fällen erfolgreich sein.
3.
Intensivierung der Repression von kriminellen Organisationen, welche Kinder und Jugendliche sexuell ausbeuten
Der Gewinn, den die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen unter Umständen generiert, ist ein begehrter Weg zum Reichtum krimineller Organisationen. Das bewirkt, dass sich solche Organisationen an der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen beteiligen oder das sie von der Kinderpornoindustrie etc. Schutzgelder kassieren, was ebenfalls die Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in direkter und indirekter Weise verschlimmert. Wie sollten dabei gemeinsam darüber nachdenken, wie man den Einfluss krimineller Organisationen auf die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen einschränken und minimieren kann. Aus der Perspektive der taiwanischen »Bestimmungen gegen die organisierte Kriminalität« (組織犯罪防制條例) betrachtet ergeben sich in diesem Zusammenhang insbesondere zwei Vorschläge: 1)
Neudefinition des Begriffs der organisierten Kriminalität
Die strafrechtlichen Vorschriften der BSAK sind auf konkrete Straftaten fokussiert. Beispielsweise werden Kinder und Jugendliche dadurch dazu gebracht, sexuelle Dienste auszuüben, dass sie verführt, untergebracht, unterstützt oder vermittelt werden. Wenn das Ziel der Strafrechtspolitik aber darin besteht, das Risiko der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen zu verringern, dann ist das wichtigste Phänomen, das eine unbillige sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen bewirkt, der Trend zur Internationalisierung des Erotik- und
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Pornomarkts, der in immer größerem Maße von internationalen Banden in organisierter Weise und mit dem Streben nach Gewinnmaximierung dominiert wird.37 Im heutigen Taiwan arbeitet die einheimische Mafia in Netzwerken mit internationalen Schlepperorganisationen zusammen. Konkret nutzen sie wirtschaftliche Abhängigkeit aus, kontrollieren ihre Opfer mit Drogen und verbreiten ihre Informationen und Angebote über das Internet. Sie erreichen ihr Ziel der Ausbeutung dadurch, dass sie die geistige Unreife der Minderjährigen ebenso ausnutzen, wie deren wirtschaftliche Benachteiligung. Hinter diesen widerrechtlichen Handlungen gibt es üblicherweise eine organisierte Kooperation. Der typische Fall ist, dass eine Mafiagruppe minderjährige Schüler aufnimmt, diese mit Unterbringung und Gaming ködert, um dann insbesondere von zu Hause geflüchtete Schülerinnen durch Vermittlung und Verlockung im erotischen Barservice unterzubringen und zu sexuellen Services zu veranlassen, um dadurch als Organisation selber Profit zu machen. Innerhalb der jeweiligen Mafiagruppe gibt es eine genaue arbeitsteilige Kooperation, wobei nach außen vor allem der Transporteur (der volkstümlich meist »Reitknecht« genannt wird) und Mitglieder, die für Überwachung der Mädchen zuständig sind, in Erscheinung treten.38 Durch arbeitsteilige Kooperation können nicht nur die Opfer effizient kontrolliert werden, sondern es reduziert sich dadurch zugleich auch das Risiko der Aufdeckung durch die Justiz. Bei der Verabschiedung der BSAK hatte man nicht darüber nachgedacht, wie man dem Problem der organisierten Kriminalität von daher beikommt, dass man seine finanziellen Quellen austrocknet. Der traditionelle Begriff der organisierten Kriminalität ist relativ eng gefasst. Die taiwanische Kriminologie sprach nur dann von kriminellen Organisationen, wenn diese erstens gewaltbereit waren und zweitens durch die Anwendung von Gewalt bzw. von Drohungen versuchten, eine Gewinnmaximierung zu erzielen. In der Theorie dominierte also die Vorstellung von der »gewalttätigen Organisation«. Deshalb konzentrierten sich die normativen Regelungen, die gegen die organisierte Kriminalität erlassen wurden, auf Straftaten von traditionellen Mafiaorganisationen.39 Der Begriff der »kriminellen Organisation« wie er in § 2 Bestimmungen gegen das organisierte Verbrechen geregelt ist, bezeichnet ein 37 WANG Huang-yu (王皇玉), Regelungen und Strafe von Sexhandel in Taiwan (臺灣對性交易 行為的管制與處罰), Taiwan Law Journal: Public Law Special Issue, August 2010, S. 7–8. 38 TY News: Polizei Taitung deckt kriminelle Organisation der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen auf (臺東縣警察局破獲兒少性交易、組織犯罪集團案), http://www.ty news.com.tw/news.phpaction=show&nid=20652, (zuletzt aufgerufen am 20. 07. 2017). 39 Über die Entwicklung der Forschung des organisierten Verbrechens, vgl. CHEN Tzu-hsing (陳慈幸), Strafrechtspolitik: Herausbildung der Begrifflichkeiten (刑事政策:概念的形塑), Angle (元照), 12/2013, S. 248ff.
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Unternehmen, an dem mindestens drei oder mehr Personen beteiligt sind, das eine interne Verwaltungsstruktur aufweist, und dessen Mitglieder das gemeinsame Ziel haben, Straftaten zu begehen oder seine Mitglieder zu Straftaten zu veranlassen. Anders ausgedrückt zeichnet sich eine kriminelle Organisation dadurch aus, dass sie kollektiv (drei oder mehr Mitglieder), permanent (gewohnheitsmäßig) und gewaltsam ist. Mit Änderung der Zeit ist die Gestaltung von Verbrechen viel vielfältig geworden. Kriminelle Organisationen haben daher bewusst versucht, sich aus Gründen des Eigeninteresses vom gewaltbereiten Modell zu distanzieren; es ist dies der Versuch, sich international, technisch und arbeitsteilig zu entwickeln, um dadurch juristische Ermittlungen zu umgehen. Illegale Organisationen mildern in ihrer Außendarstellung auch im Treiben um die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen den Eindruck der Gewalt. Aus diesem Grund wurden die Bestimmungen gegen den Menschenhandel dahingehend geändert, dass das Ausnutzen einer ökonomischen Abhängigkeit zur Realisierung der sexuellen Ausbeutung unter Sanktionsdrohung steht, obwohl es sich von außen gesehen lediglich um zivilrechtliche Verbindlichkeiten handelt. Dennoch kann es eine Lücke im Rechtsschutz sein, wenn der Gesetzgeber die Ausnutzung solcher Abhängigkeiten und solcher Verbindlichkeiten nur als Ordnungswidrigkeit und nicht als Straftat bestimmt. Nach den BSAK sind auch die Handlungsalternativen der Vermittlung und der Verführung ein Verbrechen, bei dem der Täter die Unwissenheit und die ökonomische Schwäche Minderjähriger ausnutzt, um mit dem Mittel des »Zuckerbrots« seinen widerrechtlichen Zweck zu erreichen. Die Situation des Verbrechens der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen zeigt eine langfristige Tendenz zur Verschlechterung. Die Autorin sieht daher die Notwendigkeit, die Bestimmungen gegen das organisierte Verbrechen zu novellieren, um die Umgehung bestehender rechtlicher Bestimmungen durch Mitglieder krimineller Organisationen durch Ausnutzen nichtgewalttätiger Maßnahmen einzuschränken. Das Businessmodell, das in traditionellen kriminellen Organisationen auf der Ausübung von Gewalt beruht, befindet sich in einem langsamen Niedergang. Im Zuge der organisierten Arbeitsteilung werden alle Tricks und Techniken an der Grenze des Rechts verwendet, um das Interesse der Opfer zu wecken und den eigenen Gewinn zu maximieren. Um den entsprechenden Risiken zu begegnen, sie zu steuern und dadurch die betroffenen Rechtsgüter zu schützen, sollte der Begriff der »kriminellen Organisation« in § 2 BSAK wie folgt geändert werden: »eine kriminelle Organisation im Sinne dieses Gesetzes ist eine Organisation, an der wenigstens drei Personen beteiligt sind, die eine interne Verwaltungsstruktur aufweist, deren Ziel im Verüben von Verbrechen besteht und deren Mitglieder verbrecherische Handlungen ausüben; sie ist eine kollektive, permanente Organisation, die Gewalt oder Zwang ausübt, oder deren Ziel in der Ausbeutung anderer besteht.«
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Diese Gesetzesänderung korrespondiert auch mit den aktuellen Bestrebungen Taiwans, den Handel mit Kindern und Jugendlichen zu unterbinden. 2)
Verbesserung der Ermittlungsmethoden in Fällen von organisiertem Verbrechen
Die organisierte Kriminalität verübt zweckgerichtete kollektive Verbrechenshandlungen. Im Interesse der Gewinnmaximierung ist es möglich, dass sie Methoden einsetzt, die den Geschäftsmethoden eines herkömmlichen Unternehmens ähnlich sind. Hierzu setzen sie Gewalt ein, um andere Personen zu kontrollieren und gefügig zu machen, oder sie bewirken durch den Umweg der Einmischung der Politik eine Maximierung ihrer illegalen Einkünfte und Vorteile. Die Zusammenarbeit der organisierten Kriminalität reduziert nicht nur das Risiko einer zukünftigen Strafverfolgung, sondern dient auch einer Beschleunigung und Vergrößerung der Profite. Anders ausgedrückt haben die meisten Mitglieder innerhalb der Organisation einen gestimmten professionellen Status und eine klar bestimmte Aufgabe. Dazu ist es durchaus möglich, dass sich die organisierte Kriminalität einem rechtmäßig gegründeten Unternehmen bedient oder dass sie selbst im Rahmen der Gesetze ein Unternehmen gründet, durch das sie ihren illegalen Handlungen einen legalen Anschein verschafft. Überdies besteht die organisierte Kriminalität auf dem strengen Einhalten von Disziplin durch ihre Mitglieder, insbesondere sind diese zur Verschwiegenheit nach außen verpflichtet. Daher sind die Ziele der kriminellen Organisation obskur und von außen nicht einsehbar. Dies erweist sich für die Strafjustiz als Problem, das Ermittlungen wesentlich erschwert. Durch den technischen Wandel der letzten Jahre ist es für kriminelle Organisationen zunehmend einfacher geworden, sich den Ermittlungen der Justiz in mehrfacher Weise zu entziehen. Wenn Mitglieder einer kriminellen Organisation während der Ausführung ihrer Taten mit einem möglichen Abhören durch die Polizei oder die Staatsanwaltschaft rechnen müssen, werden und können sie ihre Kommunikation verschlüsseln. In einer Zeit, in der die Schutzregeln für Zeugen nicht ausreichend sind, riskieren Opfer, Zeugen oder Informanten ihr Leben, wenn sie in Strafverfahren Informationen anbieten. Darum ist es relativ schwer, sie zu einer Aussage gegen Verbrecher zu bewegen und auf diesem Wege entscheidende Beweise zu erlangen. Bei der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen gibt es üblicherweise einen großen Markt, auf dem sich Organisationen bewegen, die sich durch strenge Disziplin auszeichnen. Wenn daher kriminelle Organisationen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen mit Profitinteresse betreibt, dann ist es hochwahrscheinlich, dass sie sich eines Unternehmens bedient, das nach Recht und Gesetz gegründet wurde. Dieses Merkmal der Verstecktheit und Verschwiegenheit der kriminellen Orga-
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nisation, das sich in dem Bewusstsein der einzelnen Akteure, sich selbst schützen zu müssen, spiegelt, bewirken alle, dass sich die Ermittlungsorgane ernsthaften Schwierigkeiten gegenübersehen. Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten ist es aus Sicht der Autorin ratsam, sich des Problems aus der Sicht der Opfer zu nähern und darauf Präventionsmodelle und in Folge dessen Möglichkeiten einer erfolgreichen Repression zu schaffen. Zuerst sollte die Polizei mit den Schulen zusammenarbeiten, um dort ein stärkeres Bewusstsein für rechtsstaatliche Zusammenhänge zu erzeugen. In einem weiteren Schritt muss die Kommunikation zwischen Schulen und Familien gestärkt werden, damit Kinder und Jugendliche weniger Chancen haben, unbemerkt illegalen Organisationen beizutreten und durch diese zu rechtswidrigen Handlungen veranlasst zu werden. Wenn Kinder und Jugendliche bereits zu Opfern sexueller Ausbeutung geworden sind, dann sollten die pädagogischen Angebote für sie verbessert werden. Diejenigen, die straffällig wurden, sollten eine intensivere Betreuung durch die Bewährungshilfe erfahren und in diesem Rahmen auch überwacht werden, um auf diese Weise Erkenntnisse über Handlungsmuster krimineller Organisationen zu erlangen. Außerdem sollte es der Internetpolizei erlaubt sein, sich als Täter auszugeben, um durch die beabsichtigte Anwerbung und Vermittlung von Kindern und Jugendlichen zum Zweck der sexuellen Ausbeutung aufzudecken. All das sind effiziente Methoden gegen die organisierte sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen. Schließlich sollten bestimmte Sektoren regelmäßig nach Sexgewerbe bzw. dem Zustand des Sexgewerbes durchsucht werden. Auf diese Weise kann man sich dem Ziel einer vollkommenen Unterbindung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen annähern. Im Übrigen kann die im Juni 2017 in Deutschland verabschiedete OnlineDurchsuchung40 als Vorbild genommen werden. Mittels geheimer Methoden können die Computer krimineller Organisationen infiltriert werden, um auf diese Weise Informationen – wie etwa Inhalte von Apps, E-Mail, Skype usw. – über die jeweiligen kriminellen Organisationen zu erhalten.41 Das deutsche Verfassungsgericht hat die vorsorgliche Online-Durchsuchung gegen Terrororganisationen nicht abgelehnt, auch wenn die Rechtmäßigkeit der OnlineDurchsuchung sehr stark hinterfragt wird.42 In der Zukunft sollte ernsthaft diskutiert werden, ob Ermittlungsorganen nach § 100b StPO eine Berechtigung erteilt werden sollte, eine Online-Durchsuchung durchzuführen.43 40 Werner Beulke, Strafprozessrecht, 13. Aufl., 2016, Rn. 253c. 41 Constantin Eikel, »Online-Durchsuchungen« durch Polizei- und Sicherheitsbehörden im Spiegel des Verfassungsrechts, 2011, S. 1ff. 42 Vgl. BVerfGE 120, 274. 43 Vgl., Arndt Sinn, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs, des Jugendgerichtsgesetzes, der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze BT-
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Bezüglich der internationalen Eigenschaften krimineller Organisationen sollte Taiwan versuchen, die gegenseitige Amtshilfe mit Ermittlungs- und Justizbehörden anderer Staaten zu verstärken. § 15 Bestimmungen gegen das organisierte Verbrechen stellt in diesem Zusammenhang explizit fest: »Um international organisierte kriminelle Aktivitäten zu verhindern, kann die Regierung oder ihr Vertreter Kooperationsverträge oder Vereinbarungen mit ausländischen Regierungen, Institutionen oder internationalen Organisationen nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit abschließen.« Adressiert sind hierdurch z. B Auslieferungsabkommen nach internationalem Recht.44 In den letzten Jahren gibt es eine enge Zusammenarbeit bei Ermittlung und Prävention zwischen Taiwan und der VR China. Diese Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Verbrechen ist unaufschiebbar. Organisationen, die Kinder und Jugendliche sexuell ausbeuten, erstrecken sich normalerweise über das chinesische Festland und Taiwan. Für eine entsprechende Zusammenarbeit45 zwischen China und Taiwan kann das Beispiel des »Europäischen Haftbefehls« als Muster herangezogen werden. Es wäre wichtig, auf diese Weise einen regelmäßigen Austausch von Informationen und Beweisen zwischen Taiwan und Festlands-China zu organisieren. Dies wiederum könnte als Vorbild für die Zusammenarbeit von Taiwan mit den Staaten der Asien-Pazifik-Region im Kampf gegen die organisierte Kriminalität dienen.
V.
Fazit
Die Einmischung krimineller Organisationen in Phänomene der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen ist ein weitverbreitetes Problem, mit dem auch Taiwan konfrontiert ist. Die ausgebeuteten Kinder und Jugendlichen haben oft Familienprobleme oder andere Schwierigkeiten, so dass die kriminellen Organisationen die Chance haben, sie zunächst mit anderen Mitteln, beispielsweise Drogen oder Gewalt, anzulocken und dann in der Folge zu lenken. Die Kinder und Jugendlichen selber haben kaum eine Chance, sich von der kriminellen Organisation zu befreien, selbst wenn sie sich der Zusammenhänge bewusstwerden. Die kriminellen Organisationen sind durch genaue Arbeitsverteilung funktional und hierarchisch strukturiert. Es ist nicht leicht, sie zu beseitigen, selbst wenn sie aufgedeckt werden, weil möglicherweise unwichtige Drucksache 18/11272 sowie zur Formulierungshilfe der Bundesregierung für einen Änderungsantrag zum o.g. Gesetzentwurf (Ausschussdrucksache 18(6)334). (Vgl. https://www.bun destag.de/blob/509050/6f 72dd42df 72be6f2da6a024475b3f8a/sinn-data.pdf). 44 Vgl. Rohloff, Europäischer Haftbefehl, 2003, S. 41. 45 Vgl. CHEN Wen-chi (陳文琪), Der Rechtsrahmen zur Auslieferung Betroffener in China und Taiwan (兩岸刑事司法互助有關人員遣返的法制架構), Taiwan Law Review, Oktober 2012, S. 219ff.
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Mitglieder bestraft werden. Daher ist die Grundmaßnahme gegen diese Form der Kriminalität der Versuch, Übergriffe die zu sexueller Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen führen, von vornherein zu vermeiden. In dem hier vorliegenden Beitrag ging es zuerst um die Darstellung der Phänomene der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in Taiwan, insbesondere um die Umstände, unter denen sich die Einmischung krimineller Organisationen vollzieht. Im Anschluss daran wurden die Normen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in Taiwan vorgestellt. Die Namensänderung der »Bestimmungen gegen den Sexhandel von Kindern und Jugendlichen« in »Bestimmungen gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen« und inhaltliche Änderungen, die gleichzeitig vorgenommen wurden, hatten das Ziel, die taiwanische Gesetzeslage an die Vorschriften der UN-Kinderrechtskonvention und an die relevanten Interpretationen des taiwanischen Verfassungsgerichtes anzupassen. Die Gesetzesnovelle machte sich dazu spezifisch taiwanische Erkenntnisse über die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen zu Nutze. Wenn in hier weiter über sexuelle Ausbeutung durch kriminelle Organisationen nachgedacht wird, dann geschieht dies mit der Hoffnung, konkrete Ratschläge für weitere Gesetzänderungen vorzubringen. Ich hoffe, dass ich hierdurch einen Beitrag zur Lösung des Problems der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen erbringen kann. In diesem Zusammenhang fällt insbesondere auf, dass die gegenwärtigen Bestimmungen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend sind, um gegen die organisierte Kriminalität effektiv vorgehen zu können. Obwohl das Sondergesetz der »Bestimmungen gegen den Menschenhandel« verabschiedet wurde, um Schlepperbanden, die sich um die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen herum gebildet haben, auf dem Boden des Strafrechts zu begegnen, bedarf es zusätzlicher verbesserter Bestimmungen gegen die organisierte Kriminalität, um dadurch den organisierten Menschenhandel auf breiter Front zu unterbinden. Nach der Legaldefinition in den BSAK ist eine kriminelle Organisation insbesondere durch Gewaltbereitschaft und Arbeitsteilung gekennzeichnet. In der Realität der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen wird aber nicht unbedingt Gewalt durch kriminelle Organisationen ausgeübt; es kann auch sein, dass sie Kinder und Jugendliche nur geschickt auszunutzen und lenken. Folglich sind die Bestimmungen gegen die organisierte Kriminalität im Kampf gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend, um kriminellen Organisationen wirklich das Handwerk zu legen, denn es gibt Lücken in der Rechtsgrundlage. Ohne eine Änderung und Anpassung der Definition der kriminellen Organisation ist daher eine effektive Verfolgung im bestehenden Rechtsrahmen sehr schwierig.
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Sven Peterke*
Terroristen als Kriegsverbrecher vor dem IStGH – Anmerkungen zum Fall al-Mahdi
Am 27. September 2016 hat der Internationale Strafgerichtshof (kurz: IStGH) Ahmed al-Faqi al-Mahdi wegen der Begehung von Kriegsverbrechen zu neun Jahren Haft verurteilt.1 Der malische Staatsangehörige wurde schuldig befunden, eine führende Rolle bei der Zerstörung bedeutender Kulturgüter in Timbuktu im Juni/Juli 2012 gespielt zu haben, als sich die Stadt unter der Kontrolle islamistischer Glaubenskrieger befand. Damals waren neun Mausoleen sowie die SidaYachia-Moschee – allesamt UNESCO-Weltkulturerbe und religiöse Heiligtümer der ansässigen Bevölkerung – mit Spitzhacken, Schaufeln und Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Haager Richter befanden, dass al-Mahdi den Straftatbestand des Artikels 8 Abs. 2 (e) (iv) des Römischen Statuts erfüllt habe. Hiernach stellen vorsätzliche Angriffe auf geschichtliche Denkmäler sowie auf Gebäude, die dem Gottesdienst gewidmet sind, Kriegsverbrechen dar, sofern es sich nicht um militärische Ziele handelt. Andere Taten wurden ihm nicht zur Last gelegt. Das Urteil ist weltweit als bedeutender Fortschritt und wichtiges Signal im Kampf gegen kulturterroristische Untaten begrüßt worden.2 Es ist das erste Beispiel für die Anwendung dieses spezifischen Tatbestands, welcher das traditionelle Konzept des Kriegsverbrechens erheblich fortentwickelt. Es provozierte
* Dr. iur. Sven Peterke M.A. ist Professor für Völkerrecht an der Universidade Federal da Paraíba. Er vertritt die Föderative Republik Brasilien im Sachverständigenausschuss, der von der südafrikanischen Regierung im April 2016 zur Umsetzung der Empfehlungen der Marikana-Untersuchungskommission eingesetzt wurde. 1 IStGH, Prosecutor v. Ahmad Al Faqi Al Madi, ICC-01/12–01/15, Judgment & Sentence, 27. September 2016. 2 Statt vieler: S. Hon, International Criminal Court Trial of Ahmad al-Faqi al-Mahdi, Columbia Journal of Transnational Law Bulletin, abrufbar unter: http://jtl.columbia.edu/internationalcriminal-court-trial-of-ahmad-al-faqi-al-mahdi (28/05/2017); Amnesty International, Landmark ICC verdict against Al-Mahdi must be first step against broader justice in Mali conflict, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2016/09/landmark-icc-verdict-againstalmahdi-must-be-first-step-to-broader-justice-in-mali-conflict (29/05/2017).
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jedoch auch eine Reihe kritischer Stimmen.3 So wurde im Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« auf das vermeintliche Paradox hingewiesen, dass »je stärker Kultur als schutzwürdig empfunden wird, je mehr sie nun auch dem Schutz des Völkerrechts und internationaler Gerichtshöfe unterstellt wird, umso attraktiver wird sie als Ziele für Angriffe, die all diese Werte auslöschen«.4 Empirisch wird sich diese pessimistische Annahme weder be- noch entkräften lassen. Sie soll vorliegend dennoch als Anlass genommen werden, ein wenig näher zu beleuchten, inwieweit kulturterroristische Straftaten als Kriegsverbrechen der Jurisdiktion des IStGH unterfallen – und ob er im Falle al-Mahdis zu einem Urteil kam, das jedenfalls aus spezialpräventiver Sicht zu überzeugen vermag.
I.
Kriegsverbrechen durch »Kulturterrroristen« vor dem IStGH
In der Öffentlichkeit dürften mit Kriegsverbrechen nach wie vor Straftaten assoziiert werden, welche hauptsächlich von uniformierten Soldaten unter schwerwiegender Verletzung der in bewaffneten Konflikten geltenden Vorschriften begangen wurden – Soldaten, die willkürlich Hinrichtungen durchführen, vergewaltigen, foltern, etc. Über solch klassische Kriegsverbrechen ist das moderne Völkerstrafrecht längst hinaus. Täter kann grundsätzlich jedermann sein, selbst der nicht unmittelbar in die Feindseligkeiten involvierte Zivilist.5 Zu letzterer Kategorie gehören auch Terroristen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn sich der Personenverband, dem sie angehören, als eine »organisierte bewaffnete Gruppe« i. S. d. humanitären Völkerrechts darstellt und eine Kampffunktion übernommen wurde.6 Es reicht zudem aus, dass die jeweilige Einzeltat in einem funktionalen Zusammenhang zu einem Kriegsgeschehen steht.7 Dies bedeutet 3 S. nur R. Goldman/M. Simons, Why the Terrorist Who Destroyed Palmyra Won’t Face Justice, New York Times, 29. September 2016; C. van Lijnden, Symbolische Verbrechen, symbolistsche Strafen, Die Zeit v. 27. August 2016. 4 M. Vec, Frankfurt Allgemeine Zeitung v. 28. September 2016, abrufbar unter: http://www.faz. net/aktuell/feuilleton/al-mahdi-als-kriegsverbrecher-wegen-kulturgutzerstoerung-verurteilt14455866.html (22/05/2017). 5 Vgl. Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 6 Rz. 144 (mit kritischem Hinweis zur hM); E. de la Haye, War Crimes in Internal Armed Conflicts, 2008, S. 115. 6 Die Details des Kriteriums der »unmittelbaren Teilnahme an Feindseligkeiten« sind sehr umstritten. Vgl. N. Melzer, Interpretative Guidance in the Notion of Direct Participation in Hostilities Under International Humanitarian Law, 2009; M.N. Schmitt, Deconstructing Direct Participation in Hostilities: The Constitutive Elements, 42 International Law and Politics (2010), S. 697–739. 7 Vgl. W. Schabas, The International Criminal Court: A Commentary on the Rome Statute, 2010, S. 207.
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u. a., dass sie an einem Ort verübt werden kann, an dem keinerlei militärische Konfrontationen stattfinden.8 Im Übrigen ist der Begriff des Kriegsverbrechens juristisch missverständlich bzw. unpräzise. Er verdankt seinem Namen der Tatsache, dass ursprünglich lediglich Verbrechen in Kriegen kriminalisiert waren.9 Als Kriege gelten traditionell aber nur Waffengänge zwischen Staaten.10 Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das humanitäre Völkerrecht von diesem klassischen Kriegsbegriff losgelöst und unterscheidet nunmehr – wie das auf ihm aufbauende Völkerstrafrecht – zwischen internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten.11 Es umschließt somit grundsätzlich auch innerstaatliche bzw. transnationale kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren, zu denen heute auch so genannte Terrormilizen zählen können. Ein solcher Konflikt lag in Mali zum Zeitpunkt der Begehung der Tat durch al-Mahdi vor.12 Er gehörte namentlich der salafistisch-dschidhadistischen Gruppe Ansar Dine an. Die Ausdehnung des Konzepts des Kriegsverbrechens auf diese oftmals höchst diffusen Konfliktlagen gelang erst nach dem Ende des Kalten Krieges. Jedoch ist die bislang erreichte Kriminalisierung keineswegs mit derjenigen gleichwertig wie sie für zwischenstaatliche bewaffnete Konflikte gilt.13 Hintergrund ist nicht allein, dass das Recht der nicht-internationalen bewaffneten Konflikte nach wie vor eine niedrigere Regelungsdichte aufweist. Vielmehr bröckelt der internationale Konsens, wenn es um die Reichweite der Kriminalisierung der eigenen Sicherheitskräfte vor dem IStGH geht.14 Nach wie vor verfügen diese zumindest de facto über eine privilegierte Stellung bei der Unterdrückung gewaltsamer Aufstände. Diese Vorzugsbehandlung resultiert nicht 8 G. Werle/F. Jeßberger, Völkerstrafrecht, 4. Aufl. 2016, Rz. 1165. 9 Soweit ersichtlich, wurde der Begriff des Kriegsverbrechens erstmals verwendet von L. Oppenheim International Law, Vol. 2 – War and Neutrality, 1906, S. 310. 10 Y. Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 5. Aufl. 2012, S. 6; I. Shearer, Starke’s International Law, 11. Aufl. 1994, S. 478. 11 P. Gaeta, War Crimes and Other International »Core« Crimes, in: A. Clapham/P. Gaeta (Hrsg.), The Oxford Handbook of International Law in Armed Conflict, 2014, S. 737 (746). 12 IStGH (Fn. 1), Decision on the confirmation of charges against Ahmad al Faqi al Mahiv. 24. März 2016, para. 32; S. Casey-Maslen, The War Report 2012, 2013. Vgl. aber die separate opinion von Richter Péter Kovács zur Beweiserhebung durch die Vorverfahrenskammer, in der ihr auch eine mangelhafte Überprüfung des Vorliegens eines solchen Konflikts attestiert, IStGH (Fn. 1) ICC-01/12-01/15-84-Anx v. 9. Mai 2016, para. 5. 13 Vgl. nur D. Willmott, Removing the Distinction between International and Non-International Armed Conflict in the Rome Statute of the International Criminal Court, 5 Melbourne Journal of International Law (2004); K. Dörmann, War Crimes Under the Rome Statute of the International Criminal Court, with a Special Focus on the Negotiations on the Elements of Crime, 7 Max Planck Yearbook of United Nations Law (2003), S.341 (347). 14 Gleichwohl sei an die richtungsweisende Tadic´-Entscheidung erinnert, JStGH, Prosecutor v Dusko Tadic´, Berufungskammer, Entscheidung v. 2. Oktober 1995, paras. 134–141.
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zuletzt aus dem ihnen entgegengebrachten Wohlwollen der nationalen Justiz, das oft auch durch die Inhaber der Staatsmacht erzeugt oder verstärkt wird. Demgegenüber werden Aufständische nicht selten kategorisch als Kriminelle eingestuft.15 Wird der Aufstand erfolgreich niedergeschlagen – mit welchen Mitteln und Methoden auch immer – wird gegen diese »Hochverräter« oder »Terroristen« gewöhnlich mit der vollen Härte des Strafrechts vorgegangen. Einige Regierungen hätten es wohl lieber gesehen, wenn ausschließlich ihre eigenen Gerichte für diese Personen zuständig geblieben wären; andere verweigerten gar aus diesem Grund ihre Unterwerfung unter die Jurisdiktion des IStGH.16 Wäre ihren Forderungen gefolgt worden, hätte dies nicht zuletzt die Sorge eines einseitigen und auch unfairen Vorgehens, d. h. staatlicher Siegerjustiz, gegen Mitglieder und Sympathisanten nicht-staatlicher Konfliktparteien gemehrt – insbesondere auf der Grundlage oftmals dubioser Anti-Terrorismus-Gesetze. Im Falle Malis lagen die Dinge aber anders. Der VN-Sicherheitsrat hatte in der Resolution 2056 vom 5. Juli 2012 die Zerstörung des Weltkulturerbes in Timbuktu nachdrücklich verurteilt. Dabei betonte er, »dass Angriffe auf Gebäude, die der Religion gewidmet sind, oder auf historische Monumente (…) Verstöße gegen das Völkerrecht darstellen können, die möglicherweise unter (…) das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, dessen Vertragsstaat Mali ist, fallen«.17 Eine Woche später überwies Mali die Situation an den IStGH.18 Seine Anklagebehörde würdigte die Tat in ihrem Situationsbericht vom Januar 2013 und klassifizierte sie gemäß den verfahrensrechtlich geltenden Kriterien als ausreichend schwer.19 Aufgrund umfangreichen Videomaterials konnte alMahdi sodann als einer der Haupttäter identifiziert werden. Schließlich wurde bekannt, dass ihn die französischen Streitkräfte im Oktober 2014 in der Grenzregion zum Niger gefangen genommen und den Behörden dieses Staates übergeben hatten. Daraufhin erließ der IStGH Haftbefehl auf der Grundlage des
15 Hierzu: S. Peterke/J. Wolf, International Humanitarian Law and Transnational Organised Crime, in: P. Hauck/S. Peterke (Hrsg.), International Law and Transnational Organised Crime, 2016, S. 381 (384–385). 16 Vgl. R. Cryer/H. Friman/D.Robinson/R. Wilmshurst, Introduction to International Criminal Law and Procedure, 2. Aufl. 2010, S. 275; J. Guan, The ICC’s Jurisdiction over War Crimes in Internal Armed Conflicts: An Insurmountable Obstacle for China’s Accession?, 28: 4 Penn State International Law Review (2010), S. 703 (704–705). 17 U.N. Doc. S/RES/2056 v. 5. Juli 2012, para 16. Die deutsche Übersetzung ist abrufbar unter: http://www.un.org/depts/german/sr/sr_11-12/sr2056.pdf (24/05/2017). 18 Das Dokument v. 13. Juli 2012 ist abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/NR/rdonlyres/ A245A47F-BFD1-45B6-891C-3BCB5B173F57/0/ReferralLetterMali130712.pdf (22/05/2017). Mali wurde am 16. August 2000 Vertragspartei des Römischen Statuts: https://asp.icc-cpi.int/ en_menus/asp/statesparties/africanstates/Pages/mali.aspx (26/05/2017). 19 IStGH-Anklagebehörde, Situation in Mali. Article 53 (1) Report v. 16. Januar 2013, paras. 154– 160.
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eingangs zitieren Straftatbestands.20 Mit der Überstellung al-Mahdis im September 2015 konkretisierte sich dann die Möglichkeit, seine Taten abzuurteilen und hierdurch die Geschichte des Völkerstrafrechts fortzuschreiben. Was nun Artikel 8 Abs. 2 (e) (iv) IStGH-Statut völkerrechtshistorisch herausragen lässt, ist, dass er geschichtlichen Denkmälern und Religionsstätten als besonders wertvollen Kulturgütern eine eigenständige Schutzwürdigkeit in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten zuerkennt. Zum Vergleich: Das Londoner Statut des Internationalen Militärgerichtshofs vom 8. August 1945, das ohnehin nur Kriegsverbrechen in zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikten kannte, sah lediglich einen indirekten Kulturgüterschutz vor, indem es die »Plünderung öffentlichen oder privaten Eigentums, die mutwillige Zerstörung von Städten, Märkten oder Dörfern oder jede durch militärische Notwendigkeit nicht gerechtfertigte Verwüstung« kriminalisierte.21 Die Statuten der Straftribunale für Ruanda und Sierra Leone, welche die Begehbarkeit von Kriegsverbrechen in nicht-internationalen Konflikten anerkannten, stellten sodann maßgeblich auf das Plünderungserfordernis ab.22 Hierdurch blieb der Kulturgüterschutz aber noch mit dem Schutz zivilen Eigentums verbunden. Trotz dieses ersichtlichen Fortschritts wird in der Literatur kritisiert, dass Artikel 8 Abs. 2 e) iv) einerseits nicht umfassend genug sei, andererseits durch den Einschluss von Krankenhäusern und Sammelplätzen für Verwundete verwässert werde.23 Was letzteren Einwand betrifft, ist Artikel 3 d) des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien tatsächlich kohärenter. Er kriminalisiert die »Inbesitznahme, Zerstörung oder vorsätzliche Beschädigung von Einrichtungen, die der Religion, der Wohltätigkeit und der Erziehung, den Künsten und den Wissenschaften gewidmet sind, von geschichtlichen Denkmälern und von Werken der Kunst und der Wissenschaft«.24 Dennoch stellten die Haager Richter etwas unglücklich fest, dass al-Madhi eines Verbrechens gegen Eigentum beschuldigt würde – und fügten noch hinzu, dass diese Delikte, selbst wenn sie sich von Natur aus als schwerwiegend dar20 IStGH (Fn. 1), Haftbefehl v. 18. September 2015. 21 Art. 6 b) Statut für den Internationalen Militärgerichtshof v. 8. August 1945, abrufbar unter: https://www.uni-marburg.de/icwc/dateien/imtcdeutsch.pdf (25/05/2017). 22 Art. 4 f) Statut für den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda v. 8. November 1995 (konsolidierte Fassung v. 28. August 2003), abrufbar unter: http://www.un.org/depts/german/ internatrecht/ruandastat 2000.pdf (25/05/2017); Art. 3 f) Statut des Sondergerichtshofs für Sierra Leone, abrufbar unter: https://www.uni-marburg.de/icwc/dateien/scsl1.pdf (25/05/ 2017). 23 M. Frulli, The Criminalization of Offences against Cultural Heritage in Times of Armed Conflict: The Quest for Consistency, 22:1 European Journal of International Law (2011), S. 203 (215–216). 24 Art. 3 d) Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien v. 25. Mai 1993 (Konsolidierte Fassung v. 19. Mai 2003), abrufbar unter: http://www.un.org/depts/ger man/internatrecht/jugostat2000.pdf (26/05/2017).
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stellten, dennoch generell weniger schwerwiegend seien als Verbrechen gegen Personen. Im Originalzitat: »Mr Al Mahdi is not charged with crimes against persons but with a crime against property. In the view of the Chamber, even if inherently grave, crimes against property are generally of lesser gravity than crimes against persons.«25
Hierzu ist zum einen neuerlich zu unterstreichen, dass die Frage des Eigentums grundsätzlich im Rahmen der geprüften Begehungsalternative eben keine Rolle mehr spielt und gerade dies den Kulturgüterschutz aufwertet. Die Richter meinten wohl »cultural property«, hätten aber besser von »cultural heritage« sprechen sollen.26 Zum anderen ist zu fragen, ob der Vergleich zu Kriegsverbrechen gegen Personen Sinn macht oder in ihm das eingangs skizzierte volkstümliche Verständnis dieser Straftaten auflebt. Zugegebenermaßen handelt es sich um eine Vorschrift, mit deren Anwendung völkerstrafrechtliches Neuland betreten27 und der auch im Schrifttum bislang kaum Beachtung geschenkt wurde.28 Erkennbar knüpft sie an den Schutz kultureller Menschenrechte an, welche regelmäßig Individualrechte darstellen, aber stets eine kollektive Dimension aufweisen. Bei diesen Rechten handelt sich um eine wissenschaftlich weithin vernachlässigte Kategorie, deren besondere Bedeutung für das Völkerstrafrecht ebenfalls noch klärungsbedürftig ist. Dies betrifft insbesondere Fragen, die den Rechtsgüterschutz betreffen. Der Gedanke der Unteilbarkeit der Menschenrechte29 widerspricht dabei grundsätzlich einer »abwertenden Behandlung« von strafrechtlich relevanten Verletzungen dieser Fundamentalgarantien im Vergleich zu Verbrechen, welche sich gegen klassische Freiheitsrechte richten. Indes ist umstritten, ob dieses Postulat auch die qualitative Gleichwertigkeit aller Menschenrechte impliziert.30 Dennoch sollte nicht vorschnell das physische Leiden von Kriegsopfern mit Verbrechen an Gütern 25 IStGH (Fn. 1), para. 77. 26 Vgl. aber z. B. ibid., para. 17. 27 Vgl. A. Zimmermann/R. Geiß, In: in: O. Triffterer/K. Ambos (Hrsg.), Rome Statute of the International Criminal Court. A Commentary, 3. Aufl. 2016, Article 8 Rz. 932. 28 S. aber M. Frigo, Cultural property v cultural heritage: A »battle of concepts« in international law?, 86 International Review of the Red Cross (2004), S. 367–37;. M. Frulli (Fn. 23) S. 203–217; R. Arnold/S. Wehrenberg, in: O. Triffterer/K. Ambos (Fn. 24), Article 8 Rz. 418. 29 Hierzu statt vieler: C. Mahler/N. Weiß, Zur Unteilbarkeit der Menschenrechte – Anmerkungen aus juristischer, insbesondere völkerrechtlicher Sicht, in: G. Lohmann et al. (Hrsg.), Die Menschenrechte: unteilbar und gleichwertig?, 2005, S. 39–46; T. van Boven, Categories of Rights, in: D. Moeckli/S. Sah/S. Sivakumaran (Hrsg.), International Human Rights Law, 2. Aufl. 2014, S. 143 (147–150); B. Kretschmer, Transnational Organised Crime and Cultural Property in: P. Hauck/S. Peterke (Hrsg.), International Law and Transnational Organised Crime, 2016, S. 308 (329). 30 Vgl. nur: G. Lohmann et al., Die Menschenrechte: unteilbar und gleichgewichtig?, Studien zu Grund- und Menschenrechten 11 (2005).
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abgewogen werden, welche auf die Auslöschung kollektiver Identitäten und wichtiger kultureller Bedürfnisse gerichtet sind.31 Denn was Verbrechen an kulturellen Menschenrechten in bewaffneten Konflikten auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie Bestandteil psychologischer – nicht zuletzt terroristischer – Kriegsführung gegenüber der jeweiligen Zivilbevölkerung sind, sei es durch Staaten oder durch nicht-staatliche Akteure. Das Beispiel al-Mahdis, der universell anerkannte Religionsstätten unwiederbringlich zerstören ließ, scheint hierfür exemplarisch. Insoweit wollte der IStGH ein Zeichen gegen diese keineswegs neuartige Praxis setzen und aufzeigen, dass das moderne Völkerstrafrecht auch für diese Herausforderung ausreichend gewappnet ist.32 Gleichzeitig reagierte er mit dem Urteil auf den seit geraumer Zeit bestehenden Handlungsdruck. Es war wohlgemerkt erst sein viertes Urteil nach fast 15jährigem Wirken.
II.
Al-Mahdi als kriegsverbrecherischer Terrorist
Wurde aber al-Madhi eine Strafe zuteil, die unter spezialpräventiven Gesichtspunkten erwarten lässt, dass er sich zukünftig von dschihadistischen Terrormilizen mit ihrem menschrechtsverachtenden Zerstörungseifer fernhält? War er überhaupt jener ruchlose »Kulturterrorist«,33 als der er in der Presse dargestellt wurde? Die drei Richter der 8. Kammer – unter ihnen der Deutsche Bertram Schmitt – taten gut daran, an keiner Stelle des Urteils al-Mahdi ausdrücklich das Etikett eines Terroristen aufzudrücken. Dies brauchten sie auch nicht, da sie nicht seine Ideologie zu bewerten hatten, sondern seine Taten. Wie gesehen, kriminalisiert das IStGH-Statut nur mittelbar terroristische Handlungen.34 Die Kammer setzte sich aber mit der Persönlichkeit des Täters auseinander, um das Strafmaß fest31 Ähnlich: L. Lixinski/S. Williams, The ICC’s Al-Mahdi Ruling Protects Cultural Property, But Didn’ Go Far Enough, Mail & Guardian Africa v. 19. Oktober 2016, abrufbar unter: http:// mgafrica.com/article/2016-10-19-the-iccs-al-mahdi-ruling-protects-cultural-heritage-butdidnt-go-far-enough (27/05/2017). 32 Nicht weiter nachgegangen werden soll vorliegend der völkerstrafrechtlichen Bedeutung der (Roten) Welterbeliste der UNESCO, welche ihre Grundlage in der von 193 Staaten ratifizierten Welterbekonvention vom 16. November 1972 findet. 33 S. nur W.Weimer, Der Kulturterrorist gesteht (ein bisschen), Pro – Christliches Medienmagazin 5/2016, S. 23; N.N., Cultural terrorism – Mali islamist will plead guilty in ICC to culturaldestruction war crime, Homeland Security News Wire v. 25. Mai 2016, abrufbar unter: http:// www.homelandsecuritynewswire.com/dr20160525-mali-islamist-will-plead-guilty-in-icc-toculturaldestruction-war-crime (24/05/2017). 34 Die Problematik vertiefend: J. Möttö, International Terrorism: What are the current legal challenges in bringing Terrrorist to Justice?, 4:1 Groningen Journal of International Law (2016), S. 42 (46–49).
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zulegen. Die Frage ist, ob sie dabei einem Trugschluss erlag, indem sie ihm zu leichtfertig seine Reuebekundungen abnahm. Nach seiner Überstellung an den IStGH hatte al-Mahdi, der irgendwann Mitte der 1970er Jahre in der Region von Timbuktu geboren wurde, ein Schuldgeständnis abgelegt, das die Beweiserhebung erheblich verkürzte und seine Verurteilung nach nur drei Prozesstagen ermöglichte.35 Der Koranlehrer räumte freimütig ein, sich im April 2012 Ansar Dine angeschlossen zu haben.36 Der AlQaida-Ableger hatte die Wüstenstadt erst am 2. April 2012 der säkular ausgerichteten Rebellengruppe MNLA37 entreißen können.38 Ihre Vertreibung versetzte Ansar Dine in die Lage, auch dort mit der Umsetzung des Ziels der Errichtung eines salafistischen Gottesstaates unter der Herrschaft der Scharia zu beginnen. Aus dem Situationsbericht der Anklagebehörde geht hervor, dass sich Ansar Dine auf rund 300 ausgebildete Kämpfer stützte und lokale Kontrolle über eine Art Rätesystem auszuüben vermochte.39 Im Falle Timbuktus wurde mit der Hisbah-Brigade eine Sittenpolizei eingesetzt.40 Von ihr ist u. a. berichtet worden, sie habe öffentliche Auspeitschungen von Liebespaaren inszeniert und auch nicht vor der Vergewaltigung und Versklavung von Frauen zurückgeschreckt.41 Dieser Moralpolizei stand al-Mahdi bis September 2012 vor.42 Er bekleidete insoweit trotz seines vermeintlichen Einsteigerstatus eine Führungsposition. In der Presse wurde er daher als »oberster Tugendterrorist« bezeichnet.43 Das Urteil enthält jedoch einige diesen Befund relativierende Feststellungen. Zum einen heißt es, dass er direkten Kontakt zu den Anführern von Ansar Dine und von Al-Qaida im islamischen Maghreb unterhalten habe.44 Dies deutet auf ein Unterordnungsverhältnis innerhalb der Organisation hin, was ja auch schlüssig erscheint, da er sich ja erst unlängst der Gruppe angeschlossen hatte.45 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45
IStGH (Fn. 1), para. 7. Ibid., para. 9. Mouvement national de liberátion de l’Azawad. IStGH-Anklagebehörde (Fn. 19), para. 67. Ibid., para. 81–82. IStGH, (Fn. 1), para. 31. M. Simons, Estremist Pleads Guilty in Hague Court to Destroying Cultural Sites in Timbuktu, New York Times v. 22. August 2016, abrufbar unter: https://www.nytimes.com/2016/08/23/ world/europe/ahmed-al-mahdi-hague-trial.html?_r=0 (29/05/2017); C. van Lijnden (Fn.3). IStGH (Fn. 1), para. 33. W. Weimer (Fn. 31), S. 23. IStGH (Fn. 1), para. 32. A. Haneke/T. Scheen, Timbuktus offene Wunde, FAZ v. 22. Mai 2017, abrufbar unter: http:// www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afrika/malischer-kulturschaender-in-den-haag-verur teilt-14455909.html (29/05/2017) berichten, dass ihm »für seine Gefolgschaft ein Salär von 150.000 Franc CFA (230 Euro) versprochen worden war. Gemäß T. Thornhill, Malian jihadist apologises and faces 30 years in jail for destroying Timbuktu’s sacred Muslim mausoleums in
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Zum anderen wird anerkannt, dass er – in der Region groß geworden und mit den Menschen vertraut – just diesen Führungsfiguren davon abriet, die Mausoleen abzureißen.46 Offenkundig wollte er verhindern, dass das Verhältnis zur mehrheitlich sufistischen Bevölkerung und somit auch sein salafistisches Missionsprojekt irreparabel geschädigt würden. Al-Mahdi hatte folglich Einfluss und den Mut, divergierende Vorstellungen zu äußern. Warum er sich dem Befehl beugte, ist indes unklar. Im Urteil wird darauf verwiesen, dass al-Mahdi den entsprechenden Befehl ohne Zögern und mit ersichtlichem Eifer ausgeführt habe.47 Hierzu habe er u. a. eine die Zerstörung rechtfertigende Predigt abgefasst und höchstpersönlich die Reihenfolge festgelegt, in welcher die Gebäude und Monumente angegriffen würden. Die Umsetzung dieses Plans habe er dann überwacht. Aufgrund dieser wesentlichen Tatbeiträge ist er schließlich als Mittäter verurteilt worden. Sein anfängliches Zögern wurde jedoch als strafmildernder Umstand gewertet – so wie sein Schuldbekenntnis, das für glaubhaft befunden wurde.48 Nur bezog sich letzteres ausschließlich auf die Zerstörung der Kulturstätten. Es besteht jedoch der Verdacht, dass al-Mahdi noch weitere Schreckenstaten zu verantworten hat. Hierauf deuten zunächst die Umstände seiner Gefangennahme im Oktober 2014 durch die französischen Streitkräfte hin: Sie geschah bei der Kontrolle eines Autokonvois, die zur Sicherstellung von rund einer Tonne Waffen führte.49 Er wurde daher wegen Waffenschmuggels und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung inhaftiert. Offenkundig blieb er also auch nach der Befreiung Timbuktus (im Januar 2013) der Terrororganisation treu und übernahm dort nunmehr logistische Aufgaben. Im Urteil wird al-Mahdi indes mit den Worten zitiert, dass die Zerstörung der Kulturgüter seine einzige und auch letzte Straftat gewesen sei.50 Dies hätte den Richtern möglicherweise zu denken geben sollen, zumal ihnen die Anklagebehörde mitgeteilt hatte, dass seit März 2015 in Mali eine Zivilklage gegen al-Mahdi rechtshängig wäre, mittels der Opfer mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit wegen Vergewaltigung, Folter
46 47 48 49
50
groundbreaking war crimes case, MailOnline v. 22. August 2016, unterhielt er aber bereits seit Längerem Kontakte zur dschihadistischen Szene, abrufbar unter: http://www.dailymail.co. uk/news/article-3752399/Trial-open-Malian-jihadist-accused-Timbuktu-attacks.html (29/ 05/2017). IStGH (Fn. 1)., para. 36. Ibid., para. 37. Ibid., para. 89, 100. Haftbefehl (Fn. 20), para. 14; Open Society Justice Initiative, The Trial of Ahmad Al Faqi Al Mahdi at the International Criminal Court, Briefing Paper v. August 2016, S. 3, abrufbar unter: https://www.opensocietyfoundations.org/briefing-papers/ahmad-al-faqi-al-mahdi-icc (29/ 05/2017). IStGH (Fn. 1), para. 103: »Mr Al Mahdi categorically express his remorse, he made the solemn promise that ›this was the first and the last wrongful act [he] will ever commit‹.«
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und Verfolgung Entschädigung einforderten.51 Im Gegensatz zu den Delikten, für die al-Mahdi im Niger einsaß, verfügt der IStGH Jurisdiktion über solche Taten. Offenkundig hatte man es in den Haag eilig und ließ daher prozessökonomische Erwägungen zum Tragen kommen. Im 49 Seiten umfassenden Urteil wird sich jedenfalls nicht mit Hypothese auseinandergesetzt, dass die von al-Mahdi gezeigte Reue aufgrund der erdrückenden Beweise lediglich prozesstaktisch bedingt war, um mit einer verhältnismäßig geringen Strafe davon zu kommen. Hierzu hätte er wohl sein Verhältnis zu Ansar Dine als einer Gruppe weiter ausleuchten müssen, die sogar seit März 2013 vom Sanktionsausschuss des UNSicherheitsrats als Terrororganisationen gelistet ist.52 Hätten die Richter dies getan, wäre aber das Verfahren in eine Befassung mit terroristischen Gruppen und Motiven gemündet. Ob dafür der IStGH der richtige Ort ist, erscheint aber fraglich. Zudem gilt es, den Eindrücken und der Erfahrung der Haager Richter Vertrauen zu schenken.
III.
Schlussbemerkung
Einen faden Beigeschmack bekommt das Urteil somit hauptsächlich aufgrund der Vermutung, dass al-Mahdi aus opportunistischen Gründen Reue vorgaukelte und ein unvollständiges Schuldbekenntnis ablegte. Diese Facette lässt eine kriminologische Auswertung und Aufbereitung des Falles besonders reizvoll erscheinen. Zu erkennen ist freilich die schwierige Lage, in der sich der IStGH befindet und die ihn dazu veranlasst, in eine Richtung zu gehen, die ursprünglich so nicht geplant war: Grundsätzlich können zwar Mitglieder terroristischer Vereinigungen wie jede andere Person Kriegsverbrechen begehen. Doch sollte über den Filter des Komplementaritätsgrundsatzes gewährleistet werden, dass sie ihm nur ausnahmsweise überantwortet würden53 – nämlich bei besonderer Schwere der in Rede stehenden Tat.54 Das war bei al-Mahdi der Fall, zumal der Einschränkung der Gerichtsbarkeit auch keine justizökonomischen Überlegungen entgegenstanden – im Gegenteil: er bot dem IStGH Gelegenheit, endlich zu seinem vierten 51 So berichtet die Open Society Justice Initiative (Fn. 47), S.4: »In its pre-trial brief, the prosecution noted that there is a civil case filed against Al Mahdi in Mali. The prosecution said the case was filed March 6, 2015 and involves a range of crimes against humanity, such as rape, torture, and persecution.« Soweit ersichtlich, steht dieses IStGH-Dokument nicht online zur Verfügung. Vgl. ferner C. van Lijnden (Fn. 3). 52 U.N. Doc. SC/10749 v. 20. März 2013. 53 O. Solera, Complementarity jurisdiction and international criminal justice, 84 International Review of the Red Cross (2002), S. 145 (158); G. Werle/F. Jeßberger (Fn. 8), Rz. 318. 54 S. insbesondere Art. 17 Abs. 1 d) IStGH-Statut.
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Schuldspruch zu gelangen. Dennoch entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass im Laufe der Verhandlungen zum IStGH-Statut die Forderung nach der Schaffung eines eigenständigen Terrorismustatbestands aufgegeben wurde.55 Hintergrund war übrigens nicht nur das Problem der Definition solcher Praktiken, sondern insbesondere die Gefahr einer übermäßigen Politisierung des Gerichtshofs.56 Glücklicherweise realisierte sie sich nicht im Falle des überaus kooperativen al-Mahdi, der nichts dagegen hatte, dass an ihm ein Exempel statuiert wurde.57 Sein Beispiel gibt nicht zuletzt Anlass, die zu so genannter Makrokriminalität58 entwickelten Annahmen auf den Prüfstand zu stellen. Der klassische Anwendungsfall »staatsverstärkter Kriminalität«59 scheint entgegen ursprünglicher Projektionen – die wohl zu optimistisch waren – zukünftig eher eine Randerscheinung zu bleiben. Stattdessen dürfte sich der IStGH überwiegend Tätern, die gegen die Staatsmacht kämpfen, annehmen. Dies birgt bislang kaum gewürdigte Chancen als auch Risiken für die internationale Strafjustiz, deren weiterer Weg noch holperig sein wird.
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ZHANG Jie*
Die internationale Zusammenarbeit Chinas im Anti-Terrorismus im Rahmen der Shanghai Cooperation Organization
I.
Fragen der Grundbegriffe in der internationalen Zusammenarbeit gegen den Terrorismus durch die Polizei
Grundbegriffe im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit der Polizei beim Anti-Terrorismus sind: 1. Das Verständnis von Terrorismus und von Anti-Terrorismus umfasst einen weiteren und einen engeren Begriff, die sich je nach Blickweise unterscheiden. So sind die Vorstellungen von Terrorismus, terroristischen Verbrechen, Maßnahmen des Anti-Terrorismus, und gesetzliche Grundlagen des Anti-Terrorismus jeweils unterschiedlich. 2. Die Begriffe der Zusammenarbeit beim Anti-Terrorismus und der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit haben Überschneidungen, sind aber dennoch relativ unabhängig zueinander, denn die Zusammenarbeit beim Anti-Terrorismus kann sich sowohl als internationale Zusammenarbeit der Polizei als auch durch militärische Mittel oder durch Mittel der Zivilgesellschaft vollziehen. Obwohl die Ergebnisse sich in ihren Effekten jeweils unterscheiden, sind sie dennoch alle objektiv vorhanden.
1.
Der Begriff des Terrorismus
China hat in der Praxis der polizeilichen Zusammenarbeit bereits organisatorische Früchte geerntet, so etwa die polizeiliche Zusammenarbeit mit der SCO oder mit den ASEAN-Staaten, welche sich in einem Organisationsrahmen vollzieht. Dabei muss eine Zusammenarbeit natürlich ständig verbessert werden. So sind seit dem Beginn der Zusammenarbeit im Anti-Terrorismus innerhalb des Rahmens der SCO Hoffnungen nach einer erweiterten Zusammenarbeit im Kampf * Prof. Dr. ZHANG Jie, Chinese People’s Public Security University, Forschungsschwerpunkte sind internationale Zusammenarbeit der Polizei, Fragen des Anti-Terrorismus, Schutz in Übersee; Kontakt: [email protected]
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ZHANG Jie
gegen Drogen oder gegen die organisierte Kriminalität entstanden. Auf der Grundlage ähnlicher Interessen der Mitgliedstaaten dieser regionalen Organisation wurden diese Interessen wiederholt geäußert und in zunehmend reifere Institutionen integriert, sodass kein Gebiet in dieser Ära der stetig fortschreitenden Globalisierung von Problemen – einschließlich den Problemen der Kriminalität – überflutet wird und untergeht. Darüber hinaus kann der Staat über die regionale Zusammenarbeit an der Stelle von Staaten handeln, welche evtl. von dem Risiko der Schwächung des Begriffs und der Funktion von Staat und Souveränität betroffen sind. Daher haben regionale Organisationen in der Gegenwart aktiven Anteil an einer ›Verbesserung des Zusammenhalts zwischen den Staaten‹, sie sind in manchen Regionen Module, über die manche Prozesse abgewickelt werden können; auf der aktiven Seite bewirken sie eine Transformation, während sie auf der passiven Seite eine stabilisierende Funktion ausüben. Der Begriff des Terrorismus wurde unermüdlich in unterschiedlichen Staaten dieser Welt, in diversen Untersuchungen nach unterschiedlichen Phänomenen und mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen und aus divergierenden staatlichen Perspektiven untersucht und beschrieben. Auch aus der Perspektive unterschiedlicher staatlicher Normsysteme wurde eine Vielzahl von Erklärungen vorgebracht. Wie schon Chris Hartley bemerkt hat, unterscheiden sich die politischen Ziele des Terrorismus sehr stark und zeigen Einflüsse von religiöser Freiheit, ökonomischer Gleichberechtigung, Einkommensumverteilung, Nationalismus, Sezessionismus, Ideologie, Anarchismus und anderen spezifischen Motivationen;1 der Sezessionismus und extremistische ethnische Nationalismus, mit denen sich China konfrontiert sieht, sind daher einige der Äußerungsformen des Terrorismus. In Bezug auf das Problem des »Terrorismus« und den Kernbereich bzw. die Erweiterung der »drei Bedrohungen« gibt es insbesondere beim letzteren normative Dokumente in denen sich eine Antwort darauf findet, was dieser Begriff im Sprachgebrauch des SCO-Raumes zu bedeuten hat. Am 15. Juni 2001 unterzeichnete die SCO die »Shanghai Declaration for the Fight against Terrorism, Secessionism, and Extremism« (打击恐怖主义、分裂 主义和极端主义上海公约)2 (im Folgenden kurz ›Shanghai Deklaration‹), in welcher erstmalig die ›drei Bedrohungen‹ (三股势力) wie folgt beschrieben wurden: »Alle Seiten bekämpfen im Rahmen dieser Deklaration den Terrorismus, den Sezessionismus und den Extremismus« (各方在本公约框架内共同努 1 Keith Hartley (基斯·哈特利), Todd Sandler (德·桑德勒), Handbuch der Verteidigungsökonomie (国防经济学手册), Bd. 1, Economic Science Publ. (经济科学出版社), 2001, S. 212. 2 Dieser Vertrag wurde am 15. 6. 2001 vom damaligen chinesischen Staatspräsidenten JIANG Zemin, dem russischen Staatspräsidenten Putin, dem kasachischen Staatspräsidenten Nasarbajev, dem kirgisischen Staatspräsidenten Akajev, dem tadschikischen Staatspräsidenten Rachmonov und dem usbekischen Staatspräsidenten Kalimov unterzeichnet.
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力打击恐怖主义、分裂主义和极端主义«. Innerhalb der Erklärung zum Begriff des Terrorismus weist die Shanghai Deklaration darauf hin, dass es sich dabei um Handlungen dreht, bei denen eine große Anzahl von Menschen in einem bewaffneten Konflikt getötet werden oder bei denen es zu massiven Schäden der Gesundheit oder des Vermögens kommt. Weiter betrifft dies Handlungen, welche gemeinsam organisiert, verabredet, oder geplant waren. Auch die Anstiftung zu terroristischen Handlungen zählt mit in diesen Bereich. Diese Handlungen zielen auf eine Einschüchterung der Bevölkerung ab, auf die Zerstörung der öffentlichen Sicherheit, oder auf die Ausführung oder das Unterlassen einer spezifischen Handlung durch staatliche Machtorgane oder durch internationale Organisationen.3 Der »Sezessionismus« bezeichnet den Versuch, die Vollständigkeit des Staatsgebiets durch gewalttätige Handlungen, deren Vorbereitung, Verabredung, Planung oder der Anstiftung zur selben zu zerstören. Dabei ist strafrechtliche Verfolgung dieser Handlungen gesetzlich bestimmt. Der ›Extremismus‹ bezeichnet Handlungen, welche staatliche Macht durch die Ausübung von Gewalt erringen und ausüben möchte oder welche die verfassungsmäßige Ordnung eines Staates durch solche Handlungen ändern möchte. Hierdurch wird die öffentliche Sicherheit gefährdet. Zur Erreichung dieser Ziele kommt es zur Organisation und Teilnahme an widerrechtlichen bewaffneten Einheiten. Auch diese Handlungen können nach Gesetz strafrechtlich verfolgt werden.4 Die Ausdrucksformen der drei ›Bedrohungen‹ sind jeweils unterschiedlich. Die Bedrohung durch den religiösen Extremismus bedient sich üblicherweise der politischen Forderungen des ethnischen Sezessionismus und wählt die Mittel terroristischer Aktivitäten. Extremismus, Sezessionismus und Terrorismus sind daher drei Seiten ein und desselben Phänomens. Daher werden sie auch als ›drei Bedrohungen‹ zusammengefasst. Die Shanghai Konvention subsumiert daher den Begriff des Terrorismus in dem Begriff der ›drei Bedrohungen‹. In der internationalen Gemeinschaft gibt es aber Typisierungen des Terrorismus, in welchen dieser in drei Gruppen (oder Typen) unterteilt wird: religiöser Terrorismus, extremistischer Terrorismus und sezessionistischer Terrorismus. Das ist insofern interessant, als hier der Sezessionismus und der Extremismus unter den Terrorismus subsumiert werden. Innerhalb dieses Artikels werden Fragen, welche regional als zu den ›drei Bedrohungen‹ zugehörig betrachtet werden, mit dem generell verwendeten Begriff des Terrorismus bezeichnet. Wenn es sich um konkrete Probleme des Se3 Außenministerium, Eurasienabteilung (外交部欧亚司) (Red.), Ausgewählte Dokumente der Shanghai Cooperation Organization (1) (上海合作组织文献选编(一)), World Knowledge Publ. (世界知识出版社), 2006–03, S. 155. 4 Außenministerium, Eurasienabteilung (外交部欧亚司) (Red.), ibid., S. 155.
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zessionismus oder des Extremismus in der Region handelt, dann werden diese mit den entsprechenden Begriffen bezeichnet. Der Begriff Terrorismus wird daher in diesem Artikel im ›weiteren Sinne‹ gebraucht.
2.
Über den Begriff terroristischer Verbrechen
Alle Arbeiten, die sich mit dem Terrorismus beschäftigen, gehen mehr oder weniger auf das Problem terroristischer Verbrechen ein. Dabei ist die Interpretation dessen, was unter Religion in Rechtsnormen zu verstehen ist, je nach Gruppe verschieden. Aus Sicht des Tatsubjekts ergeben sich einige Hinweise, wenn man dem Gedanken extremistischer religiöser Vorstellungen nachgeht. So finden sich z. B. im Koran sehr strikte Moralvorstellungen, so dass Extremisten, die sich diese Sichtweise zu eigen machen, die moderne Welt als so dreckig und ungeordnet empfinden, dass sie zerstört und neu aufgebaut werden muss. Daher verkünden dann extremistische Djihadisten, dass das Töten von Ungläubigen eine gute Tat sei, für die man sich nicht vor einem moralischen Tribunal verantworten muss. In den Rechtsnormen der einzelnen Staaten und regionalen Organisationen finden sich vollkommen unterschiedliche Ansichten über terroristische Verbrechen. Zunächst wurde in China, im Einklang mit der UN-Resolution 1373 über die Identifikation von Terroristen und terroristischen Organisationen (联合国关于 认定恐怖分子和组织的反恐决议) vom 15. Dezember 2003 vom Ministerium für öffentliche Sicherheit eine erste Liste von Terroristen und terroristischen Organisationen veröffentlicht.5 Zudem wurde der Maßstab, nach welchem China die Beurteilung von Terroristen und terroristischen Organisationen vornimmt, veröffentlicht.6 Aus diesen Maßstäben lässt sich ablesen, was für eine Auffassung von terroristischen Verbrechen beim chinesischen Staat zur Geltung kommen. So wird in diesen Maßstäben etwa bestimmt, inwiefern gewalttätige Mittel angewandt werden dürfen, die eine Gefährdung für die staatliche Sicherheit, die gesellschaftliche Ordnung, die Produktion, das Vermögen oder die Sicherheit der 5 Die Liste chinesischer Terrororganisationen umfasst: ›Islamische Bewegung Ost-Turkestan‹ (东 突厥斯坦伊斯兰运动) (im Folgenden OTB), ›Ost-Turkestan Befreiungsorganisation‹ (东突厥 斯坦解放组织), ›Uighurischer Weltjugendkongress‹ (世界维吾尔青年代表大会) (im Folgenden WUK) und ›Nachrichten- und Informationszentrum Ost-Turkestan‹ (东突厥斯坦新闻信 息中心), siehe http://baike.baidu.com/view/8316051.htm, zuletzt aufgerufen am 28. 11. 2018. 6 Siehe hierzu ZHAO Lei (赵磊), QUAN Xiao (全晓), Standard des chinesischen Polizeiministeriums zur Feststellung terroristischer Organisationen und Personen (中国公安部宣布 认定恐怖组织和恐怖分子的标准), http://news.xinhuanet.com/legal/2003-12/15/content_ 1232510.htm.
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Bevölkerung darstellen. Dabei stellt sich die Frage ob ein gewisser Grad von Organisation und Arbeitsteilung vorhanden sein muss, sowie ob vormals oder aktuell die Organisation, Planung oder Anstachelung zu terroristischen Aktivitäten vorliegt (oder ob terroristische Aktivitäten finanziert werden, ob ein Stützpunkt aufgebaut wird, ob Mitglieder angeworben werden, oder ob eine Vernetzung mit internationalen terroristischen Organisationen stattfindet). Auch für die Frage, was für Handlungsformen terroristischen Handlungen zuzurechnen sind, hat China einen Maßstab vorgebracht: zunächst handelt es sich auf der Handlungsebene um jeglichen Kontakt mit einer terroristischen Vereinigung, sowie um Handlungen, welche die staatliche Sicherheit, sowie Leib, Leben und Sicherheit der Bevölkerung im In- und Ausland gefährden (unabhängig von der Frage, ob jemand eine ausländische Staatsangehörigkeit angenommen hat); sobald diese Handlungen gleichzeitig folgende Qualitäten aufweisen, erfüllen sie die Merkmale einer terroristischen Handlung, namentlich Organisation, Führung, Teilnahme, Aufstachelung, Planung, Werbung, oder Anstiftung, Finanzierung terroristischer Aktivitäten, sowie die Annahme der Finanzierung von Training, Ausbildung oder Teilnahme an diesen Handlungen durch eine terroristische Organisation. Die hauptsächlichen Rechtsquellen für diese Einteilung auf Seiten Chinas und die wesentlichen Gesetze, mit denen China die Repression terroristischer Verbrechen durchführt, bestimmen sich wie folgt: Zum einen sind dies die ›Shanghai Convention‹ und die internationalen Verträge, die zur Ratifizierung bzw. zu deren Beitritt mit dem Ziel der Verhinderung und der Repression des Terrorismus abgeschlossen wurden. Insbesondere ist dies die von China unterschriebene ›International Convention for the Suppressing of Terrorist Bombings‹ (制止恐怖主义爆炸的公约), ›Convention for the Suppressing of Unlawful Seizure of Aircraft‹ (关于制止非法劫持航空器 的公约)› ›International Convention for the Suppressing of the Financing of Terrorism‹ (制止向恐怖主义提供资助的国际公约), ›Convention for the Suppression of Unlawful Acts Against the Safety of Civil Aviation‹ (关于制止危害民 用航空安全的非法行为的公约). Es handelt sich dabei insgesamt um 11 Konventionen und um die vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen Resolutionen Nr. 1267, 1373, 1333 und 1456. Des Weiteren handelt es sich um das chinesische Strafgesetzbuch (刑法典) von 1997 und um das dritte Strafrechtsänderungsgesetz (刑法修正案三) vom 29. Dezember 2001. Letzteres hat neue Tatbestände zu terroristischen Verbrechen eingeführt. Außerdem finden sich auch in den gesetzlichen Bestimmungen des Staatlichen Sicherheitsgesetz (国家安全法) vor allem in seinen Anwendungsbestim-
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mungen (国家安全法实施细则) von 2006, im Geldwäschegesetz (反洗钱法) von 2006 und im ›Notstandsgesetz‹ (突发事件应对法) von 2007, Aussagen hierzu.7 Viertens finden sich auch im Verwaltungsrecht Bestimmungen, welche der Repression terroristischer Handlungen dienen. So hat etwa der Staatsrat am 19. April auf seiner 108. Ordentlichen Sitzung den § 7 der ›Ausführungsbestimmungen zur Ein- und Ausreise von Ausländern‹ (外国人入境出境管理法实 施细则) am 19. April 2010 bestimmt, dass Ausländer, die nach ihrer Einreise terroristische, gewalttätige und umstürzlerische Aktivitäten begehen, nicht einreisen dürfen. Ein noch umfassenderes Gesetz in dieser Richtung ist selbstverständlich das ›Anti-Terrorismus Gesetz‹ (反恐法). Andere Staaten bemühen sich darum, terroristische Verbrechen aus dem Mantel des Politischen herauszulösen und erhoffen sich dadurch eine Annäherung an ›normale‹ Straftatbestände. Wiederum andere Staaten bemühen sich darum, in ihren Gesetzen einen strafrechtlichen Rahmen vorzuhalten, um durch das Mittel der Strafe die Unterdrückung terroristischer Handlungen als gesetzliche Antwort des Staats zu realisieren. In der Wirklichkeit gibt es noch weitere Straftatbestände, welche die Merkmale des Terrorismus erfüllen.
3.
Inhalte und Erweiterungen der polizeilichen Zusammenarbeit gegen den Terrorismus im Raum der Shanghai Cooperation Organization
Die Inhalte der polizeilichen Zusammenarbeit und deren Erweiterung lassen sich aus den Überlegungen zum regionalen Anti-Terrorismus im Rahmen der SCO ersehen. Die polizeiliche Zusammenarbeit innerhalb dieser Organisation verfügt über eine internationale Zuständigkeit in Strafsachen. Terroristische Verbrechen sind internationale Verbrechen, die auf Grund des Grundsatzes der allgemeinen Zuständigkeit in die internationale Zuständigkeit fallen. Eines der Ziele der polizeilichen Zusammenarbeit im Rahmen der SCO ist die Stärkung der Zustimmung zu dieser allgemeinen Zuständigkeit, die sich über die regionale Organisation vollzieht. Sie ist in der Region so ›allgemein‹, dass sie zu einer Verbesserung der Abstimmung und der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten führt. Die Zusammenarbeit umfasst die Verfolgung, Rückführung und Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden bei verdächtigen Personen, denen terroristische Verbrechen vorgeworfen werden. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet führt die regionale Zusammenarbeit zu einer Stärkung der Zuständigkeit derjenigen Staaten, deren Staatsbürgerschaft die Terroristen, 7 CHEN Hongwei (陈虹伟), Die Anti-Terrorismus-Architektur hinter der chinesischen Gesetzgebung gegen den Terrorismus (反恐立法背后的中国反恐格局) Legal Daily (法制日报), 24. 7. 2009.
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oder den tatsächlichen Zugriff auf Terroristen besitzen. Dadurch wird verhindert, dass der Anti-Terrorismus von der internationalen Politik instrumentalisiert wird, um die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zu schwächen. Die ›Shanghai Convention‹ (上海公约) verdeutlicht, dass bei einem Schuldausschluss aus Gründen der Politik, des Gedankenguts, der Ideologie, der Rasse, der Ethnie, der Religion oder aus anderen ähnlichen Gründen Gegenmaßnahmen ergriffen werden können. Insbesondere können im Inland gesetzliche Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um zu verhindern, dass terroristische Handlungen und die in der Shanghai Convention aufgeführten weiteren Handlungen der gesetzlichen Verantwortung entzogen werden.8 Daraus wird ersichtlich, wie der Geist der Shanghai Kooperation die kriminelle Natur der drei Bedrohungen explizit hervorhebt und diese angreift, und dass er dabei nicht in ein politisches Kräftemessen abgleitet. Es ist wichtig, dass man bei der Repression dieser Art von Verbrechen aufmerksam bleibt, um nicht in den Strudel politischer Auseinandersetzungen gezogen zu werden, sondern dem Geist der Shanghai Declaration treu bleibt, dass man das ursprüngliche Ziel der regionalen Terrorismusbekämpfung in der SCO nicht aus den Augen verliert. Weiter beinhaltet die polizeiliche Zusammenarbeit innerhalb der SCO auch die erweiterte Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden in der Vollstreckung (执法合作). Die polizeiliche Zusammenarbeit des Anti-Terrorismus beschränkt sich nicht auf eine transnationale Verfolgung und Auslieferung von Terroristen. Üblicherweise verbindet man mit dem Begriff der Verfolgung die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen und die Auslieferung. Dennoch ist die moderne, internationale Zusammenarbeit der Polizei reichhaltiger. Das Subjekt der Zusammenarbeit der Vollstreckung im Anti-Terrorismus und das8 Die im Anhang aufgeführten Verträge und Konventionen beinhalten ua: 1. Convention for the Suppression of Unlawful Seizure of Aircraft, Den Haag, 16. 12. 1970; 2. Montreal Convention for the Suppression of Unlawful Acts against the Safety of Civil Aviation, 23. 9. 1971; 3. Convention on the Prevention and Punishment of Crimes against Diplomatic Agents and Other Internationally Protected Persons, UN, 14. 12. 1973. 4. International Convention on against the Taking of Hostages, UN, 17. 12. 1979. 5. Convention on the Physical Protection of Nuclear Material, Wien, 3. 3. 1980. 6. Protocol on the Suppression of Unlawful Acts of Violence at Airports Serving International Civil Aviation, supplementary to the Convention for the Suppression of Unlawful Acts against the Safety of Civil Aviation, Montreal, 24. 2. 1988. 7. Convention for the Suppression on Unlawful Acts against the Safety of Maritime Navigation, Rom, 10. 3. 1988. 8. Protocol for the Suppression of Unlawful Acts Against the Safety of Fixed Platforms Located on the Continental Shelf, Rom, 10. 3. 1988. 9. International Convention for the Suppression of Terrorist Bombings, UN, 15. 12. 1997. 10. International Convention for the Suppression of the Financing of Terrorism, UN, 9. 12. 1999.
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jenige der Zusammenarbeit in Strafsachen ist insofern unterschiedlich, als die Mittel der Zusammenarbeit in der Vollstreckung des Anti-Terrorismus nicht nur die verfahrensrechtlich streng geregelte Zusammenarbeit in Strafsachen und Auslieferung umfassen, sondern auch flexible Mittel wie das der ›Quasi-Auslieferung‹ (变相引渡). Dadurch können auch Behörden an der Zusammenarbeit im Anti-Terrorismus teilnehmen, die in ihrem eigenen Land über keine Polizeibefugnisse verfügen.9 Inhalt und Umfang der Zusammenarbeit im Anti-Terrorismus sind nicht ein für alle Mal in Stein gemeißelt, sondern entwickeln sich im Einklang mit Veränderungen in der Praxis. Die Entstehung hybrider Strukturen, die neben eigentlichen terroristischen Organisationen aus der Koexistenz von terroristischen und anderen kriminellen Organisationen entstehen, die gegenseitigen Wechsel und gegenseitige Unterstützung verstärken, haben die Reichweite terroristischer Organisationen oder die Reichweite des terroristischen ›up stream‹ in der Realität vergrößert. Die komplizierte, nicht traditionelle Situation der regionalen Sicherheit mit Koalitionen und gegenseitiger Hilfe von weit verbreitetem Drogenhandel und Waffenschmuggel bewirkt, dass der Anti-Terrorismus sich nicht auf seine reinen Aufgaben beschränken kann. Eine Erhöhung der Effizienz im Anti-Terrorismus muss notwendigerweise mit der Repression anderer Verbrechensformen einhergehen. Deshalb muss der Anti-Terrorismus in Verbindung und in gemeinsamen Aktionen mit dem Kampf gegen Drogen, der Unterbindung von Waffenschmuggel, der Kontrolle von Fällen, in denen Sprengstoffe verwendet werden, der Kontrolle von Fällen extremistischer Religiosität, der Kontrolle von Geldwäsche usw. durchgeführt werden. Wenn etwa Terroristen mit Drogen handeln, um sich finanzielle Mittel für ihre Aktivitäten zu verschaffen, dann muss die regionale Zusammenarbeit der Polizei zwei starke Abteilungen verbinden, um gegen diese ›Vereinigung von Terrorismus und Drogen‹ vorzugehen. Dadurch erweitert sich das Aufgabenfeld des Anti-Terrorismus. Auch inhaltlich gibt es Zusätze. Beispielsweise hat sich das Planungsbewusstsein der Terroristen und deren Fähigkeit zur Aufstachelung verbessert, weil sie internationale Ressourcen und die Kraft der öffentlichen Meinung verstärkt einsetzen. Dabei ist dies nicht auf internationale politische Ressourcen eingeschränkt, sondern beinhaltet auch das Internet und Satelliten gestützte Kommunikation. Daher ist auch hier der Inhalt des nationalen Anti-Terrorismus erweitert worden.
9 So sind zB die illegale Einreise oder der illegale Aufenthalt von Verbrechern ein ausreichender Verfolgungsgrund für die Polizeibehörden.
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II.
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Die Rolle der polizeilichen Zusammenarbeit gegen den Terrorismus in der Shanghai Cooperation Organization
Die internationale Zusammenarbeit der Polizei bezeichnet jegliche Form der Zusammenarbeit unterschiedlicher nationaler Polizeibehörden, die sich auf Grund nationaler Gesetze, bilateraler Abkommen oder internationaler Verträge vollzieht und die im Kampf gegen internationale Kriminalität und gegen crossboarder Kriminalität und im Versuch, die internationale sowie die nationale Ordnung zu schützen, sich gegenseitig unterstützen und ihre Handlungen untereinander abstimmen. Es ist ein Austausch polizeilicher Angelegenheiten, der sich über nationale Grenzen hinweg vollzieht. Dabei beinhaltet die polizeiliche Zusammenarbeit nicht nur gemeinsame Aktionen in einem konkreten Fall, sondern auch den gegenseitigen Austausch über Fragen der Anwendung bewaffneter Einheiten, Überwachungstechnik, Strategie und Einsatztechniken. Die Realisierung der Ziele der polizeilichen Zusammenarbeit der einzelnen Länder beim Anti-Terrorismus erfreut sich zunehmender Anerkennung durch Individualstaaten, regionale Organisationen und die UN und beginnt in großem Maße in der Praxis angewandt zu werden. Die Konflikte in der internationalen Politik haben weder historisch noch aktuell an Permanenz eingebüßt. Unter diesen Vorzeichen ist es nicht schwer zu verstehen, dass sich Trends, wie das an einem Strang ziehen der Justiz oder die internationale Angleichung des Strafrechts, während politischer Konflikte und unter der Voraussetzung unterschiedlicher Ansichten vollziehen. Daraus wird deutlich, dass die Verfolgung des internationalen Verbrechens einfacher durchzusetzen ist, als Forderungen nach politischer Akzeptanz oder der Vereinigung militärischer Aktionen. Die polizeiliche Zusammenarbeit ist dabei die erste Station einer Justitialisierung der internationalen Zusammenarbeit. Amtshandlungen, wie das Verhaften und die Auslieferung von Verdächtigen, das Suchen und Weiterleiten von Beweismitteln und Dokumenten, sind alle auf die Zusammenarbeit beim Kampf gegen das Verbrechen fokussiert und helfen dabei, die sich täglich verkomplizierenden Probleme des Anti-Terrorismus zu vereinfachen. Das Phänomen der sich täglich verstärkenden Justizialisierung der internationalen Zusammenarbeit verdeutlicht dies und zeigt dadurch, dass sie für die polizeiliche Zusammenarbeit wichtiger ist, als eine internationale Politisierung. Die Wichtigkeit transnationaler Rechtsdurchsetzung und internationaler Zusammenarbeit der Justiz wird auch aus den Unterschieden in den nationalen Strafrechtssystemen deutlich, denn die nationale Strafjustiz überschreitet auf der einen Seite den Umfang ihrer souveränen Zuständigkeit, gleichzeitig aber ist die Zeit, in der die Justiz in anderen Ländern Handlungsfreiheit bei der Strafver-
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folgung genießt, noch nicht angebrochen. Gleichzeitig weist die Polizei als Organ und Teil des Staates, dem sie angehört, in den jeweiligen Ländern Unterschiede in Rechtsdurchsetzung und Grad der Normierung auf. Die sich täglich verschlimmernde Lage des internationalen Verbrechens ist dadurch bedingt, dass ein einzelnes Land so nur schwerlich aus eigener Kraft eine rechtliche Durchsetzung bewirken kann, um dadurch präventiv und repressiv gegen solche Verbrechen zu arbeiten. Wenn Fälle des Terrorismus transnationale Bezüge oder auch nur direkte Bezüge zum Ausland haben, dann wird der Arbeitskreis der Polizei eines Staates auf Grund der Voraussetzungen der Durchsetzungskompetenz und der Zuständigkeit eingegrenzt. Dies soll an einem Beispiel der chinesischen Polizei zu verdeutlicht werden: die Kompetenz, Fälle mit internationalen Bezügen zu erledigen, erstreckt sich insbesondere auf die Vorermittlungen. Ist aber ein Verdächtiger ins Ausland geflüchtet, dann kann sie nicht direkt ins Ausland um den Verdächtigen dort festzunehmen, denn sie hat kein Recht zur Durchsetzung im Ausland. Daher ist die chinesische Polizei innerhalb der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit bis zu einem bestimmten Grad auf dasjenige Land angewiesen, mit dem China zusammenarbeitet. Der Bewegungsspielraum der Terroristen weitet sich somit unglaublich stark aus. In dem Dilemma, dass die Durchsetzungsfähigkeit der Polizei begrenzt ist, während der Bewegungsspielraum des Verbrechens sich in der Realität unablässig ausweitet, lässt den Rechtsdurchsetzungsbehörden nur den Ausweg, die polizeiliche Zusammenarbeit zu verstärken. Die polizeiliche Zusammenarbeit gegen den Terrorismus ermöglicht es den Polizeibehörden innerhalb der SCO über Grenzen hinweg Beweismittel anzufordern, Verdächtige festzunehmen und diese auszuliefern. China spielt dabei meistens die Rolle des Bittstellers, kann aber natürlich auch von anderen um polizeiliche Durchsetzung gebeten werden.
1.
Positive Auswirkungen und Erfolge der polizeilichen Zusammenarbeit gegen den Terrorismus innerhalb der Shanghai Cooperation Organization
Die SCO ist die einzige internationale Organisation, in der China als zentrale Triebfeder agieren kann. Die Kraft zur Zusammenarbeit beruht auf dem Interesse der Teilnehmerstaaten an einer polizeilichen Zusammenarbeit, zur Erreichung regionaler Sicherheit. Ein wichtiges Vehikel der polizeilichen Zusammenarbeit ist die regionale Anti-Terrorismus Behörde. Im Gegensatz zur Zusammenarbeit im Energiesektor oder im Handel, hat die polizeiliche Zusammenarbeit als erstes zur Errichtung einer ständigen Behörde geführt. Abgesehen vom Sekretariat ist sie auch bis dato nach wie vor die einzige Form der Kooperation, die sich über eine ständige Behörde vollzieht. Daraus wird
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deutlich, dass die polizeiliche Zusammenarbeit das wichtigste Gebot der gegenseitigen Zusammenarbeit ist – und der Kampf gegen den Terrorismus den wichtigsten Inhalt dieser Kooperation darstellt. Einhergehend mit der zunehmenden Komplexität des Terrorismus und den hybriden Strukturen, die aus der Überlagerung anderer Verbrechensbereiche mit dem Terrorismus entstehen, entwickeln die Mitgliedstaaten der SCO die Zusammenarbeit im Kampf gegen Drogen und gegen andere Formen der organisierten Kriminalität. Es gibt daher eine polizeiliche Zusammenarbeit, die sich über das Vehikel des AntiTerrorismus innerhalb der SCO entwickelt, und es gibt eine polizeiliche Zusammenarbeit, die sich außerhalb dieses Vehikels in der SCO vollzieht. So können wir festhalten, dass die internationale polizeiliche Zusammenarbeit ein zentrales Anliegen der SCO ist, dass sich die hauptsächliche Zusammenarbeit auf den Bereich des Anti-Terrorismus konzentriert, und dass die wesentliche Kraft, welche im Anti-Terrorismus zum Tragen kommt, die Polizei ist. Dabei ist der Gedanke der Prävention von Verbrechen in der modernen Polizeiarbeit noch wichtiger als derjenige der Repression. Daher ist auch das Ziel der polizeilichen Zusammenarbeit in der Durchsetzung des Rechts nicht nur die Verfolgung bereits geschehener Verbrechen, sondern auch die Bemühung das Geschehen von Verbrechen bereits im Vorfeld zu verhindern. Innerhalb der gemeinsamen Arbeit sind es wiederum Informationen, welche den Auftakt zur polizeilichen Zusammenarbeit bieten. Seit Beginn der Zusammenarbeit innerhalb der SCO beim Anti-Terrorismus dreht sich die praktische Zusammenarbeit um die Frage des Austauschs von Information. Dabei liegt das Schwergewicht der Kooperation auf dem allgemeinen Informationsaustausch. Der Informationsfluss im Einzelfall muss jedoch noch verbessert werden. Meist vollzieht sich das in monatlichem oder quartalsmäßigem Tausch. Ein regelmäßiges tägliches Briefing wurde bislang nicht vereinbart oder praktiziert.
2.
Die Stellung der polizeilichen Zusammenarbeit gegen den Terrorismus innerhalb der Shanghai Cooperation Organization
Der größte Unterschied der SCO zur Collective Security Organization (CIS) der GUS Staaten ist, dass es sich nicht um eine regionale Organisation mit gemeinsamen kulturellen Wurzeln handelt, die sich nach dem Aufsplittern der früheren UdSSR aus dessen Teilen gebildet hat. Bei der SCO handelt es sich um ein Produkt, das die Interessen von China, Russland und Zentralasien gleichermaßen fördern möchte. Dabei ist sie von dem beiderseitigen Willen der zwei großen Staaten China und Russland getrieben, sich jeweils gegenseitig im Anti-Terrorismus zu unterstützen. Daraus entsteht dann wiederum die Unterstützung für
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die regionale Sicherheit und gegen den Sezessionismus. Wenn wir aber von organisiertem Anti-Terrorismus sprechen, dann müssen wir auch deutlich sehen, dass es sich um eine polizeiliche und nicht um eine militärische Zusammenarbeit gegen den Terrorismus handelt. Die Organisation der SCO ist eine Organisation zum Schutz der kollektiven Sicherheit, sie ist aber kein militärisches Bündnis, wie etwa die NATO mit ihrer kollektiven militärischen Struktur. Natürlich steht eine militärische Kooperation nicht unbedingt für das Ziel eines Militärbündnisses, jedoch besitzt eine militärische Operation in sehr viel stärkerem Maße den Charakter einer »reaktiven Dominanz« (后发制人). Das ist der wesentliche Grund, warum die polizeiliche Zusammenarbeit innerhalb des regionalen AntiTerrorismus in ihrer Wichtigkeit, ihrem Wert und ihrem Prestige so weit oben steht. Die SCO hat bereits mehrfach gemeinsame Manöver von paramilitärischen Einheiten der Polizei, der allgemeinen Polizei, und von Grenzpolizei abgehalten. Das Ziel dieser Manöver ist die gemeinsame Abstimmung der paramilitärischen und der anderen Einheiten, um dadurch gegenüber dem Terrorismus eine glaubhafte Abschreckung aufzubauen. Dadurch ist keine gemeinsame militärische Option intendiert, ebenso wird dadurch nicht das Bedürfnis von Mitgliedstaaten nach gemeinsamen militärischen Kapazitäten im Kampf gegen Terrororganisationen befriedigt. Die beiden größten Einzelnationen innerhalb der SCO haben bislang nicht zum Ausdruck gebracht, dass sie sich in einer militärischen Allianz engagieren wollen oder dass sie über eine solche nachdenken. In einer regionalen Organisation, die bislang auf die Idee einer militärischen Zusammenarbeit verzichtet, kann die Funktion des Schutzes der regionalen Sicherheit nur über gemeinsame Polizeikräfte einen optimalen Effekt der Zusammenarbeit erreichen.
III.
Chinas internationale Zusammenarbeit gegen den Terrorismus innerhalb der Shanghai Cooperation Organization
1.
Errichtung und Vervollkommnung der in China für die internationale Zusammenarbeit gegen Terrorismus zuständigen Behörde
Bei der Kompetenzverteilung der chinesischen Anti-Terrorismus-Behörden lässt sich eine relativ unabhängige, einheitliche Struktur feststellen. Die Aufsichtsbehörde für den Anti-Terrorismus ist das Ministerium für öffentliche Sicherheit. Die teilnehmenden Behörden umfassen die Polizei, die paramilitärische Polizei, die Umweltbehörden und die Behörden für öffentliche Hygiene. Weitere Betei-
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ligte sind die entsprechenden Abteilungen im Außenministerium. So waren bei der Gewährleistung der Sicherheit der olympischen Spiele in Peking im Jahr 2008 im Bereich Anti-Terrorismus das Militär, die paramilitärische Polizei, die Polizei und andere Sicherheitsbehörden involviert. Diese hatten eine gemeinsame Kommandozentrale eingerichtet und gemeinsame Übungen veranstaltet, um dadurch die Fähigkeiten einem terroristischen Angriff begegnen zu können, zu erhöhen.10 China hat die Aufgaben des internationalen Anti-Terrorismus in der gleichnamigen Abteilung (公安部反恐局) im Ministerium für öffentliche Sicherheit angesiedelt. In früheren Jahren hatte China auf dem Provinzniveau – nicht einmal in der in diesen Fragen hervorstechenden Provinz Xinjiang – auf allen Ebenen materielle Institutionen für Anti-Terrorismus aufgebaut. Ob die Behörden für Anti-Terrorismus in einem Land auf allen Ebenen voll entwickelt sind, entscheidet sich an dem tatsächlichen Bedarf an Anti-Terrorismus-Arbeit, der in diesem Land besteht. Die chinesischen Behörden für Anti-Terrorismus haben die Struktur eines ›großen Kopfes‹, denn das System des Anti-Terrorismus ist insbesondere ›nach außen‹ orientiert. Wenn wir den Umfang und die Realität der ›drei Bedrohungen‹ innerhalb Chinas betrachten, dann können wir keine landesweite Verbreitung wie etwa in Russland finden. Eine Voraussetzung, die sich dabei positiv für China auswirkt, ist die Tatsache, dass seine eigene Grenzsicherung besser und strenger normiert ist, als diejenige seiner Anrainerstaaten. Sie ist sogar besser als in den meisten anderen Staaten der Welt. Das strikte System und die strenge Kontrolle der chinesischen Außengrenzen, sowie das Niveau der sozialen Kontrolle bewirken, dass der Bewegungsraum der ›drei Bedrohungen‹ eingeschränkt ist. Daher sind diese dazu genötigt, im Ausland ihre Organisation zu entwickeln und gegebenenfalls zu gewalttätigen Attacken ins Inland einzureisen. Das bedingt, dass sich der chinesische Anti-Terrorismus notwendigerweise hauptsächlich nach außen orientiert und sich deshalb durch eine internationale Zusammenarbeit realisieren muss; insbesondere muss es einen intensiven Austausch mit einzelnen Ländern und Regionen geben. Aus diesem Grund muss der staatliche Input in die internationale Zusammenarbeit für eine bestimmte historische Periode sogar größer sein, als der in den nationalen Anti-Terrorismus. Als Resultat ist daher die Einrichtung der chinesischen Anti-Terrorismus-Behörde mit Orientierung ›nach außen‹ und mit ›großem Kopf‹ eine notwendige Konsequenz.
10 QI Bin (齐彬) (Reporter), Vizeminister des Polizeiministeriums: drei Bedrohungen durch terroristische Angriffe während der Pekinger Olympischen Spiele (公安部副部长:北京奥运 有三方面恐怖袭击威胁), http://news.xinhuanet.com/legal/2008-07/03/content_8483587.htm, zuletzt Aufgerufen am 3. 7. 2008.
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Die chinesische Anti-Terrorismus-Behörde entwickelt sich sukzessive von einer Außen- zu einer Binnenorientierung. Es gab eine relativ lange Zeit über keine tatsächliche Anti-Terrorismus-Behörde. Erst in den letzten Jahren wurden auf der Ebene der Städte materielle Anti-Terrorismus-Einheiten gegründet. Im Gegensatz dazu wurden die Behörden für die internationale Zusammenarbeit beim Anti-Terrorismus relativ früh als tatsächliche Organisation für Kooperation aufgebaut. Alle anderen Mitgliedstaaten der SCO hatten die Sicherheitsbehörden als Leitstelle des nationalen Anti-Terrorismus eingesetzt, einzig China hatte den Anti-Terrorismus in den Kompetenzbereich des Ministeriums für öffentliche Sicherheit eingebracht. Gründe für diese institutionelle Anordnung, die sich von derjenigen anderer Staaten unterscheidet, sind einerseits die Weite der Aufgaben und der Organisation der chinesischen Polizei, andererseits ist die Politik der Öffnung Chinas aus historischer Perspektive betrachtet erst relativ kurz, so dass die ursprüngliche Kenntnis der staatlichen Verwaltung und der staatlichen Entscheidungsträger vom nationalen Terrorismus dies subjektiv als naheliegend betrachtete. Erstens ging man davon aus, dass der Sezessionismus ein Gedanke ist, der extremistische und terroristische Handlungen hervorruft. Zweitens geht die Entscheidung, das Ministerium für öffentliche Sicherheit zur Aufsichtsbehörde zu machen und dies nicht den nationalen Sicherheitsbehörden zu unterstellen, von der Erkenntnis der politischen Zielsetzung des Terrorismus aus. Insbesondere betrachtet man dies als interne Faktoren, welche die Integrität und die Stabilität des Staates beeinflussen. Deshalb wird es als ein wichtiger Bestandteil der internen Verwaltung gesehen. Anders ausgedrückt geht man auf Seiten des Staates faktisch davon aus, dass der Terrorismus vom Sezessionismus hervorgerufen wird, sodass es sich um eine interne staatliche Angelegenheit handelt. Dennoch entwickelt sich der Terrorismus in seinem Streben nach Verstaatlichung beständig außerhalb der Landesgrenzen. Das führt dazu, dass die staatliche Front gegen den Terrorismus sich ebenfalls auf die Ebene des internationalen verlagert. Deshalb ist auch der Expertenpool des Exekutivkommittees der regionalen Anti-Terrorismus Behörde der SCO nicht auf Experten der staatlichen Sicherheitsbehörden beschränkt, sondern beinhaltet auch die Experten für Anti-Terrorismus des chinesischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit. Auch die Entscheidung für das russische Sicherheitsbüro als Aufsichtsbehörde des Anti-Terrorismus hat seine historischen Wurzeln: erstens lag die Zuständigkeit für den Anti-Terrorismus früher in den Händen der Anti-Terrorismus Behörde des KGB; zweitens sind die Ermittlungskompetenzen der Behörden für Inneres beschränkt. Die Zuständigkeit für und die Ermittlungskompetenz bei Fällen von Terrorismus sind in Russland auf Sicherheitsbehörden, Staatsanwaltschaft und Behörden für Inneres aufgeteilt. In China gehört der größte Teil
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der strafrechtlichen Ermittlungen und Zuständigkeiten für Fälle von Terrorismus, Geldwäsche und Waffenschmuggel in den Bereich der Polizeibehörden. Die in China für den Anti-Terrorismus zuständige Behörde ist das im März 2003 im Ministerium für öffentliche Sicherheit gegründete Anti-Terrorismusamt.11 Es ist die erste speziell für den Anti-Terrorismus zuständige Behörde Chinas. Das Anti-Terrorismusamt ist für Chinas interne Terrorismusabwehr zuständig und hat die Aufgaben der Leitung, der Koordination und der Forschung zu versehen. Es soll die Lage des und die Informationen zum AntiTerrorismus beurteilen und analysieren. Es soll die Basis der Abwehr und die Öffentlichkeitsarbeit gegen den Terrorismus anregen und verbessern. Dazu soll es in besonders schweren Fällen terroristischer Verbrechen die Ermittlungen durchführen, leiten, und koordinieren. Wenn wir die Gesetzgebung einzelner Staaten zum Anti-Terrorismus betrachten, dann steht üblicherweise eine speziell für den Anti-Terrorismus zuständige Behörde im Mittelpunkt. Diese versieht die Kompetenzen politischer Empfehlungen, der Gewinnung von Erkenntnissen und der internationalen Zusammenarbeit. Personell rekrutiert sich das ständige Komitee der SCO zumeist aus Mitgliedern der Sicherheitsorgane der Mitgliedstaaten bzw. aus Mitgliedern des chinesischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit. Die Mitarbeiter aus Russland und aus den zentralasiatischen Staaten stammen meist aus dem früheren sowjetischen KGB. Da dieser über ein ausgereiftes System der Informationsbeschaffung sowie über institutionelle und personelle Erfahrungen verfügt, wird hieraus deutlich, wie sehr auf Informationsbeschaffung Wert gelegt wird. Das fördert und ergänzt die Informationsbeschaffung durch die chinesischen Polizeibehörden. Aus diesem Grund nimmt das nationale Anti-Terrorismuszentrum Chinas an der Arbeit des Organisationsbüros des Anti-Terrorismusamts teil. Zusammenfassend können wir sagen, dass der tatsächliche Aufbau der polizeilichen Zusammenarbeit im Anti-Terrorismus zunächst im Inland erfolgt. Dabei entscheidet sich die Frage, wie vollständig und wie effektiv diese Behörden sind, an der Nachfrage des Marktes.
11 LIU Haiping (刘海平), Gedanken zur Vervollkommnung polizeilicher Strukturen zur Bekämpfung des Terrorismus in China (完善我国反恐警察体制的思考), Journal der Offiziersakademie der Polizei in Jiangsu (江苏警官学院学报), 2006, Vol. 3.
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2.
Analyse der Probleme und Hindernisse in der polizeilichen Zusammenarbeit gegen den Terrorismus innerhalb der Shanghai Cooperation Organization
1)
Ermittlungskompetenzen, juristische Verfahren sowie rechtliche Feststellung und Rechtsbewusstsein der Teilnehmerstaaten
Bei dem gesetzlichen Verfahren zur Beurteilung von Terrororganisationen gibt es einige Unterschiede zwischen China und Russland. Dass es solche Unterschiede gibt, ist ein in Kooperationen oft zu beobachtendes Phänomen. Art. 2 Shanghai Convention betont, dass alle Seiten im Rahmen der internationalen Verpflichtungen, die sie mit diesem Vertrag eingehen, sich nach ihrer jeweiligen Rechtsordnung richten können. Damit verbleiben die Unterschiede in ihrem ursprünglichen Zustand. In China wird die Liste der terroristischen Organisationen vom nationalen Anti-Terrorismus Sekretariat (国家反恐办) unter Einbeziehung anderer beteiligten Behörden bestimmt und im Namen des Ministeriums für öffentliche Sicherheit veröffentlicht, so dass es sich um eine administrative Entscheidung handelt. Als Grundlage dieser Entscheidung dienen: das ›Strafgesetzbuch‹ (刑法), das ›dritte Strafrechtsänderungsgesetz‹ (刑法修正案三), das ›Staatssicherheitsgesetz‹ (国家安全法) und die ›Durchführungsverordnung zum Staatssicherheitsgesetz‹ (国家安全法实施细则). Der angewandte Standard setzt sich zusammen aus: (1) dem Mittel des gewalttätigen Terrorismus; (2) einer organisierten Lenkung bzw. einem System der Arbeitsteilung (egal, ob dies im Inoder Ausland ist); (3) der Tatsache, dass die terroristische Handlung die staatliche Sicherheit gefährdet, die gesellschaftliche Stabilität zerbricht oder Leben, Vermögen und Sicherheit der Bevölkerung gefährdet. Wenn es sich dabei um die Bestimmung einer ausländischen terroristischen Organisation handelt, muss die Entscheidung noch vom chinesischen Justizministerium und dem Obersten Volksprokurat genehmigt werden. Jeder Staat ist bei der Beurteilung von ausländischen Terrororganisationen mit geringem Inlandsbezug vorsichtig. Dieses Verfahren unterscheidet sich von dem justiziellen Verfahren zur Bestimmung von terroristischen Organisationen, dass in Russland angewandt wird. In Russland müssen die zuständigen Behörden die Materialien bezüglich terroristischer Verbrechen an den Obersten Gerichtshof überstellen, der dann einen Beschluss fasst. Dies muss auch noch vom Parlament bestätigt werden, um rechtskräftig festzustellen, dass es sich um eine terroristische Organisation handelt. Die Rechtsgrundlagen dieser Entscheidung sind insbesondere das ›AntiTerrorismus-Gesetz‹ (反恐法) und das Strafgesetz (刑法) der russischen Föderation, im Verfahren muss die Entscheidung vom Obersten Gerichtshof getroffen werden.
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Bei diesem Bestimmungsprozess sind die rechtlichen Grundlagen von China und Kirgistan relativ ähnlich, so dass beide Länder gemeinsam einen Antrag an die UN mit der Forderung gestellt hatten, eine islamistische Bewegung innerhalb der »Ost-Turkestan« Organisation als Terrororganisation zu listen. Unter den vier von Kirgistan als widerrechtliche Terrororganisationen ausgewiesenen Gruppen haben drei Verbindungen zur terroristischen Ost-Turkestan Organisation.12 Es ist wichtig, dass Verfahrenshindernisse und Hemmnisse auf Grund fehlender nationaler Gesetzgebung zwischen den Mitgliedstaaten so schnell wie möglich auf der Grundlage eines gegenseitigen Konsens beseitigt werden. So übt etwa die chinesische Polizei innerhalb des Auslieferungsverfahrens Ermittlungsbefugnisse aus, weswegen sie gegenseitig bei der Suche nach Verdächtigen hilft und auch Anfragen aus Mitgliedstaaten nach Ermittlungen gegen Verdächtige bearbeitet, um daran anschließend in Kooperation in das justizielle Verfahren der Mitgliedstaaten zu gehen. Selbstverständlich kann und muss bei der Rückführung und Verhaftung von Verdächtigen keine gemeinsame offizielle Auslieferung stattfinden. Es findet zumeist eine Quasi-Rückführung auf dem Wege der flexiblen polizeilichen Zusammenarbeit statt. Wie allseits bekannt ist, sind die einzelnen Mitgliedstaaten selber die Subjekte der Zusammenarbeit im Anti-Terrorismus, wobei das ausführende Organ des jeweiligen Staates die von ihm autorisierten Polizeibehörden oder die in dem jeweiligen Staat mit Ermittlungsbefugnissen betrauten Justizorgane sind. Die Befugnis Ermittlungen auszuüben sind in den Staaten dieser Erde unterschiedlich verteilt. Insbesondere zwischen der kontinentaleuropäischen und der angloamerikanischen Rechtstradition bestehen signifikante Unterschiede. Die einzelnen Staaten ermächtigen Behörden wie etwa Staatsanwaltschaft, Gericht, Sicherheitsbüro, Justizministerium etc. mit der Ermittlungskompetenz. So werden die Ermittlungskompetenzen z. B. in dem kontinentaleuropäischen französischen Recht von Staatsanwaltschaft, Polizei und Ermittlungsrichter ausgeübt. Bei den anglo-amerikanischen Ländern wäre die Ermittlungsbehörde in England vor allem die Polizeibehörden. In den USA würde die Ermittlungskompetenz ebenfalls überwiegend der Polizeibehörde zukommen. China ermächtigt insbesondere die Polizeibehörden als Ermittlungsbehörde, Russland hat hingegen hat ein System, bei dem die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen leitet, und das deshalb vollkommen verschieden vom chinesischen System ist. Das russische Sicherheitsbüro hat bei Fällen von Terrorismus umfassende Ermittlungskompetenzen. Der leitende Staatsanwalt nimmt als staatlicher Ankläger am gerichtlichen Urteilsverfahren teil und bringt die öffentliche Anklage vor. Er trägt die 12 MA Yong (马勇), Erste Analyse des Kampfs gegen den Terrorismus in Zentralasien (初论中 亚的反恐怖主义斗争), Russland-, Mittelasien- und Osteuropastudien (俄罗斯中亚东欧研 究), 2003, Vol. 6.
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Beweislast, um nachzuweisen, dass der Angeklagte die durchgeführte Verbrechenshandlung begangen hat. Die endgültige Kompetenz zu Genehmigung von und Entscheidung über Festnahme, Untersuchungshaft und Durchsuchung wird dem Gericht übertragen. Der Großteil der Ermittlungskompetenzen liegt in China bei den Polizeibehörden, ein kleinerer Teil bei den Volksprokuraten. Obwohl China relativ nah an kontinentaleuropäischen Rechtssystemen steht, ergibt sich daraus eine globale Asymmetrie in der internationalen Zusammenarbeit: auf der einen Seite wird betont, dass die Behörden der Staatsanwaltschaft von den staatlichen Machtinstitutionen der gleichen Stufe kontrolliert und überwacht werden, gleichzeitig wird die Staatsanwaltschaft aber auch von der nächst höheren Staatsanwaltschaft angeführt. Diese doppelte Führung bedeutet, dass die unteren Staatsanwaltschaften gleichzeitig durch die regionale Volkskammer und die übergeordnete Staatsanwaltschaft angeführt und überwacht werden. Auf der anderen Seite betont China die Professionalität der Ermittlungskompetenz. Nach den chinesischen gesetzlichen Bestimmungen verfügen folgende Institutionen über Ermittlungsbefugnisse: Polizeibehörden, staatliche Sicherheitsbehörden, Volksprokurate, die Schutzabteilungen der Volksbefreiungsarmee und die Gefängnisse.13 Die Charakterisierung der Polizeibehörden als Verwaltungsinstitutionen ist in diesem Zusammenhang besonders offensichtlich, denn innerhalb des Trends zur justiziellen Zusammenarbeit mit den Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten hält China an der relativen Freiheit der administrativen Strukturen fest, so dass es in der bilateralen Zusammenarbeit sowohl strukturell als auch inhaltlich zu asymmetrischen Unterschieden kommt. Eine der wichtigsten staatlichen Motivationen, Konventionen und Verträge abzuschließen, liegt in dem Versuch, Konflikte, die sich aus den jeweils verschiedenen rechtlichen Grundlagen ergeben, abzubauen. Die Mitgliedstaaten der SCO haben in mehreren unterschiedlichen, unterzeichneten Verträgen über die polizeiliche und die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen die Probleme, welche sich aus strukturellen und inhaltlichen Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten ergeben, nicht beseitigt. Der Faktor zunehmender Verzögerungen, welcher sich aus bilateralen Unterschieden ergeben, konnte nicht rechtzeitig verändert werden und es wurde versäumt, anlässlich der Vertragsschließung die Differenzen zu minimieren und die Gemeinsamkeiten zu vergrößern. Die Unterschiede, die bei der transnationalen Verfolgung und Auslieferung Verdächtiger in der Konstruktion und Anwendung der Rechtsnormen zwischen den 13 Anmerkung des Übersetzers: seit der Verfassungsänderung am 11. 3. 2018 und der in der Folge erlassenen einfachen Gesetzgebung gehören in diese Reihe auch die neu gebildeten Kontroll-Kommittees (监察委员会); diese waren aber bei Abgabe des vorliegenden Beitrags noch nicht beschlossen, die Beratungen des Gesetzgebers erfolgten überwiegend unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
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Mitgliedstaaten der SCO überbrückt werden müssen, sind nach wie vor sehr groß. China selbst hat die wirren Zustände der Justizbehörden in der Zusammenarbeit mit dem Ausland bislang nicht aussortiert. Es gibt daher Verträge über die Auslieferung oder die Zusammenarbeit in Strafsachen, die zwar auf dem Papier stehen, denen aber keine Realität in der Praxis gegenübersteht. Insbesondere die Zerbrechlichkeit des Rechtstaats in Zentralasien hat zur Folge, dass die polizeiliche Zusammenarbeit in diesem Raum sich auf Flexibilität, den kleinen Dienstweg oder sogar willkürliche Handlungsmuster verlässt. Es kam in den Anfängen der internationalen Zusammenarbeit sogar vor, dass Polizeibehörden und Volksprokurat getrennt voneinander aufgetreten sind. Faktoren die in China intern die Zusammenarbeit behindern, ist einerseits der Mangel einer zentralen Behörde, welche die institutionelle Zusammenarbeit an der Grenze anleitet, andererseits sind die Probleme, die sich aus der Verschiebung der Arbeit der Justizorgane hin zu Exekutivaufgaben ergeben, unübersehbar. Externe Probleme ergeben sich daraus, dass die von Russland angeführten Systeme, bei denen die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen leitet chinesischen Behörden gegenüberstehen, bei denen die Polizei über größere Ermittlungsbefugnisse verfügt, als die Staatsanwaltschaft. Das führt in der gegenseitigen Zusammenarbeit der Justiz dazu, dass es zu Überschneidungen in der Fallbearbeitung kommt. Objektiv bewirkt das, dass die chinesischen Polizeibehörden und Volksprokurate jeweils für sich arbeiten und die ungeordneten Zustände perpetuiert werden. In der beiderseitigen regionalen Zusammenarbeit in der Rechtsdurchsetzung machte sich das wiederholt bemerkbar. Die leitende Behörde hat keine substantiellen Führungsqualitäten und tritt nach außen nicht einheitlich auf. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Beziehungen zwischen regionalen oder nationalen Behörden handelt, auf beiden Ebenen finden wir keine langfristige Entwicklung hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit und justizieller Kooperation. Aus momentaner Sicht betrachtet stellt sich natürlich auch das Problem, dass die Verhaftung und Rückführung von Terroristen auch durch die Unvollkommenheit der gesetzlichen Bestimmungen erschwert wird. Diese objektive Unzulänglichkeit bewirkt, dass die Durchführungsorgane bei der Praxis transnationaler Verhaftungen und Rückführungen nur durch eine erhöhte Flexibilität und flankierende Maßnahmen ihre Ziele erreichen können. Das ist wiederum ursächlich dafür, dass die weitere Institutionalisierung und Normierung der Zusammenarbeit tendenziell verlangsamt wird. Innerhalb der transnationalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bewirken die Unterschiede im institutionellen Aufbau weiter, dass die Rechtsdurchsetzung und die Kompetenzen sehr große Unterschiede aufweisen, was sich wiederum mehr oder minder stark auf die Effizienz der transnationalen Ermittlungen auswirkt. Also muss im Einzelfall der Zusammenarbeit vieles inoffiziell be-
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sprochen und kommuniziert werden, was die Reibungsflächen vergrößert. Gleichzeitig ist es für Personen, welche sich nicht vollkommen im Klaren darüber sind, wie die Kompetenzverteilung in anderen Mitgliedstaaten aussieht, innerhalb der internationalen Zusammenarbeit nur schwerlich das Timing der Ermittlungsmaßnahmen im Griff haben. Aus der Perspektive der praktischen Zusammenarbeit in Strafsachen betrachtet, sehen die meisten Bestimmungen vor, dass die Aufsichtsbehörde die Staatsanwaltschaft ist. Auch in China ist das der Fall. Dennoch haben die Polizeibehörden eine absolute Ermittlungskompetenz, ohne dass sie deswegen als Subjekt in den Vereinbarungen zur Zusammenarbeit in Strafsachen erwähnt würden. Ebenso ist in den Vereinbarungen zur Zusammenarbeit in Strafsachen nicht beschrieben, was die Verantwortung und die Pflichten der Polizeibehörden sind. Was die Effizienz der internationalen Zusammenarbeit tatsächlich beeinflusst, ist nicht so sehr die Frage, welche Behörde konkret einen Antrag stellt und welche Behörde diesen wieder konkret entgegennimmt, um ihn zu bearbeiten, sondern die Frage, ob innerhalb der Kompetenzen und institutionellen Unterschiede Voraussetzungen für eine reibungslose Zusammenarbeit bestehen. Aus diesem Grund ist die regionale Zusammenarbeit der Behörden des AntiTerrorismus innerhalb der SCO nach wie vor schwierig. Will man die praktische Arbeit wirklich entfalten, dann muss es den jeweiligen Staatsanwaltschaften, Sicherheitsorganen und Polizeibehörden möglich sein, sich schnell miteinander in Verbindung zu setzen. Anders gesagt muss die Zusammenarbeit der chinesischen Polizei mit den Sicherheits-, Innen-, Justizbehörden, ja sogar mit dem Militär verstärkt werden. Das ist bedingt durch die besondere Struktur des großen chinesischen Polizeiapparats. 2)
Strukturelle Ungleichgewichte als Problem für die Zusammenarbeit Chinas innerhalb des Rahmens der Shanghai Cooperation Organization
Das strukturelle Ungleichgewicht in der regionalen Zusammenarbeit beim AntiTerrorismus ist innerhalb der SCO objektiv vorhanden. Wenn allgemein von Struktur gesprochen wird, dann denkt man oft an den beweglichen Zustand einer Materie, also an eine Struktur in der materiellen Welt. Insbesondere wenn wir an die Architektur denken, dann finden wir Strukturen aus verbundenen Materialien wie etwa Backsteine und Holz oder Beton und Stahlarmierungen. Dabei macht es einen gewichtigen Unterschied, ob die Stahlarmierungen gleichmäßig in der Struktur verteilt sind, oder ob sich alle Armierungen auf einer Seite oder in einem Teil befinden, während die Backsteine und das Holz auf der anderen Seite befinden – die Verteilung wird unweigerlich die Festigkeit der Struktur beeinflussen. Wenn wir die SCO betrachten, dann sehen wir die beiden großen Staaten China und Russland, die in der Entwicklung des Rechtsstaats, der Wirtschaft und
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der Politik den Staaten Zentralasiens voraus sind. Um im Bild zu bleiben, gleichen die ersteren den Stahlarmierungen. Dennoch bedeutet Struktur bei der Organisation der Kräfte der Mitgliedsstaaten, dass es sich mehr um eine gedankliche Struktur handelt. Wenn also von Ungleichgewichten in der Struktur des Anti-Terrorismus gesprochen wird, dann handelt es sich um Sicherheitselemente und deren Abänderungen, welche zwischen zwei oder mehr Staaten relativ vereint werden oder welche relativ einheitliche Merkmale aufweisen. An dieser Stelle soll zunächst geklärt werden, wie es zu Problemen mit strukturellen Ungleichgewichten in der regionalen Zusammenarbeit beim Anti-Terrorismus kommt. Daneben ist es ebenso eine objektive Tatsache, dass es bei transnationalen Verbrechen im zentralasiatischen Raum ebenfalls zu Überschneidungen und zu strukturellen Ungleichgewichten kommt. Die Besonderheit des Verbrechens auf dem Gebiet der SCO liegt darin, dass es starke Verbindungen zwischen unterschiedlichen Formen des Verbrechens gibt. Terroristische Aktivitäten gehen oft einher mit den Verbrechen der Geldwäsche oder mit denen des Waffenschmuggels, so dass Geldwäsche, organisierte Kriminalität und Waffenschmuggel bereits als ›upstream Kriminalität‹ betrachtet werden. Wenn die Ermittlungen gegen diese ›upstream Kriminalität‹ keinen Erfolg in der Durchsetzung haben, dann kommt auch der Terrorismus zum Zuge. Diese Verstärkung von Inhalt und Ausstrahlung terroristischer Verbrechen ist dabei ein globales Phänomen des Terrorismus. Der Entwicklungstrend des Terrorismus fördert die Stärkung der Beziehungen zwischen den Subjekten des Anti-Terrorismus. Dabei haben auch die Anforderungen an die gegenseitige Verständigung und Amtshilfe der jeweiligen Aufsichtsbehörden und der einzelnen Mitgliedstaaten objektiv zugenommen. Betrachten wir die Situation innerhalb Chinas, dann bedarf es für den AntiTerrorismus nicht nur einer guten vertikalen Verknüpfung und Kommunikation von unten nach oben bzw. von oben nach unten innerhalb der Polizeibehörden, sondern es bedarf auch einer reibungslosen horizontalen Verknüpfung unterschiedlicher Polizeieinheiten, wie Sicherheitsvorsorge, Kriminalermittlungen, Verkehrspatrouillen, Staatsschutz, technische Ermittlungseinheiten, Internetkontrolle etc., sowie der horizontalen Verflechtung der Polizeibehörden mit anderen staatlichen Bereichen, anderen Kommunikationskanälen und anderen Ebenen. Aus Sicht der internationalen Zusammenarbeit muss sich das chinesische Ministerium für öffentliche Sicherheit mit der Polizei, der Justiz, den Sicherheitsorganen, den Außenbehörden und dem Militär anderer Staaten austauschen. Dieser Austausch und diese Zusammenarbeit bedingen die Effizienz mit welcher der Staat die internationale Zusammenarbeit entwickelt. Ein anderes strukturelles Ungleichgewicht zeigt sich in den Unterschieden der Fähigkeit und des Niveaus der Verwaltung der einzelnen Mitgliedstaaten. Die
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Mitgliedstaaten der SCO sind allesamt Nachbarstaaten Chinas. Im Vergleich mit diesen zeigt der chinesische Grenzschutz die stringenteste Verwaltung. Dagegen ist der Grenzschutz der zentralasiatischen Staaten eher locker. Wenn die Ordnung an der Grenze eines Staates mit den Ordnungsstrukturen des angrenzenden Staates einen zu großen Unterschied aufweist, wenn nur die eine Seite über starke Kontrollmechanismen verfügt und das Recht strenge durchsetzt, dann führt das objektiv zu Ungleichgewichten. Neben diesen Ungleichgewichten nutzen Terrororganisationen im Ausland auch noch andere Mittel, um sich zu entwickeln, wie etwa die Durchsetzung des Internet, Anwerbung neuer Mitglieder um dann wiederum ihren Einfluss nach China hinein auszuweiten. Deshalb sind diese strukturellen Ungleichgewichte mit die drängendsten Probleme der Zusammenarbeit der SCO beim Anti-Terrorismus. 3)
Rückschläge innerhalb der internationalen Zusammenarbeit Chinas gegen den Terrorismus
Das gemeinsame Vorgehen gegen Terrorismus und Drogenkriminalität war in der Frühzeit der SCO zu schwach. Dennoch haben die Führungsorgane der SCO mittlerweile den Wert des Schutzes nicht-traditioneller Sicherheitsbelange bei der Beziehung von Anti-Terrorismus und Verbot des Drogenhandels weitgehend erkannt. Bedauerlich ist die Tatsache, dass die konkreten Aktionen bislang nicht den erwarteten Erfolg hatten. Nicht alle Mitgliedstaaten der SCO haben erkannt, wie schwerwiegend lokale Drogenverbrechen den jeweiligen Staat beeinflussen. Das aber beeinflusst wiederum die Entscheidung, ob die normative Übereinkunft bezüglich des gemeinsamen Vorgehens gegen Terrorismus und Drogendelikte sowie die diesbezüglichen Amtskompetenzen auch wirklich in konkrete Handlungen umgesetzt werden. Zu Beginn des Drogenproblems in den Regionen nordwestlich der chinesischen Grenze hatten alle Seiten die Geschwindigkeit der Entwicklungstrends falsch eingeschätzt; die Staaten hatten nicht vorhergesehen, wie dramatisch sich die Vereinigung von Terrorismus und Drogen auswirkt. Die regionale Organisation der SCO hatte daher zu Beginn ihrer Tätigkeit auch nicht die Zusammenarbeit mit dem Kampf gegen Drogen in ihr Vorgehen gegen den Terrorismus einbezogen, ebenso wenig hatte sie in ihren Statuten nicht festgehalten, dass sie sowohl für den Kampf gegen den Terrorismus als auch für den gegen Drogen zuständig ist. Die Unfähigkeit zum vollen Gebrauch der politischen Ressourcen und der internationalen Plattform für die Zusammenarbeit innerhalb der SCO führte dazu, dass die Zusammenarbeit im Anti-Terrorismus und die Zusammenarbeit im Kampf gegen Drogen getrennt voneinander abliefen, was sich für die regionalen Fortschritte im Anti-Terrorismus als ein gewisses Hindernis herausstellte und was daher den hybriden Strukturen aus Terrorismus
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und Drogen eine gewisse Verschnaufpause gestattete. Das aber bewirkte, dass aus ersten Ansätzen eine Entwicklungsdynamik in Gang gesetzt hat. Man kommt nicht umhin diese Veränderungen hin zum ›Drogen genährten Terrorismus‹ als Konsequenz von Fehleinschätzungen der zukünftigen Entwicklungen zu bezeichnen. Das Vorgehen dagegen wird in der Zukunft sehr viel mehr Ressourcen erfordern. Selbstverständlich geht die Entwicklung der letzten Jahre dahin, dass die SCO in ihrer regionalen Zusammenarbeit beim Anti-Terrorismus nicht mehr nur gegen den Terrorismus allein vorgeht, sondern dass sie ihren Blickwinkel geweitet hat, so dass ihre Aufmerksamkeit ein sehr viel breiteres Problemfeld betrifft. Sie beachtet daher Bereiche, die nicht traditionell zu Verbrechen gegen die öffentliche Sicherheit gerechnet werden, wie etwa organisierte Kriminalität, Cyber-Crime, Drogenkriminalität und Schmuggel. Obwohl die relevanten Arbeiten erst gerade angelaufen sind, ist die Richtung dieser Entwicklung zu befürworten. Es ist nur bedauerlich, dass ein Einsteigen in die Problematik zu diesem Zeitpunkt sehr viel mehr Ressourcen benötigt. Die Autorin ist der Ansicht, dass dies eine Lehre sein sollte.
IV.
Vergleich der Faktoren Außenpolitik und Rechtsstaatlichkeit bei der Zusammenarbeit gegen den Terrorismus innerhalb der Shanghai Cooperation Organization
Obwohl der Terrorismus politisch motiviert ist, muss sich die Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus und bei der Prävention von Terrorismus auf der Grundlage rechtlicher Institutionen entwickeln und vollziehen. Dennoch ist es so, dass in Staaten, in denen das Rechtssystem nicht vollständig ist, die diplomatischen Beziehungen bei der Zusammenarbeit im Anti-Terrorismus eine wichtige Rolle spielen. Dabei gibt es zwei Faktoren, die zur Stärkung der Diplomatie in der Zusammenarbeit Chinas beim Anti-Terrorismus führen, zum einen gibt es innerhalb des Exekutivkommittes der regionalen Anti-TerrorismusBehörde einen diplomatischen Faktor, dazu gibt es innerhalb der bilateralen und der multilateralen Zusammenarbeit der Polizei bei der Rechtsdurchsetzung einen Faktor der polizeilichen Diplomatie. Die Mitgliedstaaten der SCO entsenden Repräsentanten in das Exekutivkomitee. Im Falle Chinas werden diese vom Außenministerium angeführt, obwohl sich unter den Repräsentanten Personen aus dem Außen-, dem Polizei- und dem Sicherheitsministerium befinden, gibt üblicherweise das Außenministerium den Ton an. Daher ist der Faktor der Außenpolitik einfach erkennbar. Die Repräsentanten der einzelnen Staaten im Exekutivkommittee sollten sich überwiegend aus den Aufsichtsbehörden des
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Anti-Terrorismus rekrutieren, auch wenn sie aus dem Außenministerium kommen, dennoch werden sie in den meisten Fällen durch diplomatisches Personal ersetzt. Die Charakteristika der chinesischen Außenpolitik spiegeln sich auch in den Beschlüssen des Vorstands wieder: sie sind neutral und friedfertig. Die anderen Mitgliedstaaten entsenden meist Mitglieder der Sicherheits- und Innenbehörden, so wie dies in den gesetzlichen Bestimmungen vorgesehen ist; auch die Repräsentanten im Aufsichtsrat sind professionelle Fachkräfte der Sicherheitsbehörden der jeweiligen Mitgliedstaaten. Es mag sein, dass die in China für den Anti-Terrorismus zuständigen Aufsichtsbehörden und deren Personal keine lange Erfahrung im Umgang mit dem Ausland haben und sich deshalb über Gebühr auf das Außenministerium verlassen, deshalb sollten aber die Methoden des Anti-Terrorismus nicht an den Methoden der Diplomatie orientiert sein. Die Außenpolitik ist nur eine Form und sollte nicht zum Mittel werden. Wenn man sich der Illusion hingibt, der Kampf gegen den Terrorismus könne mit Mitteln der Diplomatie gewonnen werden, dann wird sich das Ende dieses Kampfes noch lange hinauszögern. Die Antwort fällt so aus, wie die Lenins, als er über die Erfahrungen der frühen Sowjets sprach: die Verwaltung des Sozialismus darf sich nicht nur auf politische Verve und Verwaltungsverordnungen stützen, sie muss auch die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten berücksichtigen.14 Wenn wir also im Gefolge der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit nicht nur die Schatten eines Trends zu Verwaltung und Politisierung, sondern auch hin zur Diplomatie sehen, dann ist das weder ein Zufall, noch ist es alternativlos. Er ist das Ergebnis einer jahrhundertealten Feudalgesellschaft, die sich noch heute in den Präferenzen der nationalen Zentralisierung wiederspiegelt. Die Geschichte hat verschiedene Gebiete Chinas bis heute mit ihrem Stempel geprägt, wodurch Präzedenzfälle entstehen und sogar die ›Justizialisierung der internationalen Zusammenarbeit‹ teilweise verdeckt wird, so dass dem Staat daraus Probleme erstehen. Die Tendenzen zu einer Verstärkung der Verwaltung, einer Politisierung und zu einer Dominanz der Diplomatie sind Ausdrücke dieses Problems. Sie stehen gleichzeitig im Zeichen des Ausuferns und des Missbrauchs der Macht der modernen Exekutive. Die politische Macht konzentriert sich in der Macht der Exekutive, was dazu führt, dass die Exekutive als solche zu einer politischen Macht wird. Das resultiert wiederum darin, dass sich die Macht der Exekutive übermäßig aufbläht und zu einem Ungleichgewicht in der Wahrnehmung der Macht führt.15 Die Exekutive ist eigentlich diejenige Macht, die den 14 Lenin (russisch), Der vierte Jahrestag der Oktoberrevolution (十月革命四周年), Redaktionsamt der Parteizentrale für die Übersetzung der Werke von Marx, Engels, Lenin und Stalin (中共中央马克思恩格斯列宁斯大林著作编译局), Lenin Werke Bd. 4 (列宁选集第4卷), Renmin Publ. (人民出版社), 1965, S. 572. 15 XU Dong (徐东), Rechte der Staatsanwaltschaft: Wiederherstellung und Abbau von Belastungen – Interpretation und Reflexion von Charakter und Aufgaben der chinesischen Staatsanwalt-
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Willen des Volkes realisiert und umsetzt; die Judikative löst durch ihre Entscheidungen Konflikte und ist daher eine beurteilende Macht. Wenn die oben angeführten Prägungen innerhalb des Staates offensichtliche Faktoren sind, dann sehen wir von dem doppelten Maßstab aus, der bei der Beurteilung des Terrorismus angewandt wird, dass Großmächte immer in strategischer Weise reflektieren, ob externe Faktoren ihren Hegemonialstatus bedrohen. Sie versuchen das dann zu verhindern. Wenn im Zuge dessen dann versucht wird, die Entwicklung der Staatengruppe der SCO zu bedrohen, dann findet sich die polizeiliche Zusammenarbeit beim Anti-Terrorismus unversehens in einem noch größeren Strudel von Politik und Diplomatie. Tatsächlich haben die entwickelten Nationen seit 2004 bereits angefangen, die Zusammenarbeit im Anti-Terrorismus von der Ebene der Diplomatie auf die Ebene des Rechts, ja sogar auf die Ebene der technischen Zusammenarbeit zu bewegen. Die SCO hat sich bislang noch nicht in diese noch realitätsnähere Form der Zusammenarbeit eingebracht. Für China gilt dasselbe. Wenn eine Handlung internationalisiert wird, dann handelt es sich im Allgemeinen um eine Handlung, die von den Nationen dieser Erde gemeinsam bestimmt wird. Wenn wir z. B. von internationalen Verbrechen reden, dann können wir diese in internationale und transnationale Verbrechen unterteilen. Terroristische Verbrechen fallen dabei in die Klasse der internationalen Verbrechen, was auch von der UN so bestimmt wurde. Trotzdem wurden nicht alle Formen terroristischer Aktivitäten in die Liste der UN aufgenommen. Dies gilt insbesondere für Handlungen des ethnischen Sezessionismus; diese verfügen bislang nicht über die Voraussetzungen, in diese Liste aufgenommen zu werden, weisen aber transnationale Charakteristika auf. Gegenüber dieser Art von Fragen muss man nicht dringend eine schnelle politische Antwort finden, sondern kann aus der Perspektive der Repression von Verbrechen die internationale Zusammenarbeit beim Anti-Terrorismus stärken. So kann man auch bei der Frage des Sezessionismus versuchen die politischen Implikationen durch die Mittel des Strafrechts zu lösen. Die Justizialisierung und Verrechtlichung ist manchmal ein einfacherer Weg, als derjenige der Politisierung und der diplomatischen Zusammenarbeit. In der Tat sollte man bei der Frage, ob eine rechtliche Sanktionierung von Terroristen möglich ist und ob die Sanktionsschwere ausreicht, nicht übermäßig pessimistisch sein. Die Mittel der Politik und der Diplomatie können in immer geringerer Weise die Probleme der Verhaftung und Rückführung lösen. Das nationale Recht der Mitgliedstaaten ist vollkommen ausreichend, um Terroristen auf die Anklagebank zu zwingen. Abgesehen davon, dass die Terroschaft (检察权:归位与减负—对我国检察权性质与职能的解读与反思), Faxue Wengao (法 学文稿), 2000, Herbst.
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risten selbst darauf hoffen, dass der Terrorismus international politisiert wird, gibt es auch noch weitere Staaten, die selbiges unter anderen Vorzeichen ›erhoffen‹. Wenn die internationale Politisierung des Anti-Terrorismus global erfolgreich ist, dann können Staaten, die darauf vorbereitet sind, sich in aller Öffentlichkeit expansiv vergrößern. Daher sollte man nicht in pessimistischer Weise beklagen, wie langsam die Rechtsordnung vervollkommnet wird, immerhin ist sie ausreichend, um Terroristen zu verurteilen. Der Ständige Ausschuss der Nationalen Volkskammer hatte am 29. Dezember 2001 das ›dritte Strafrechtsänderungsgesetz‹ (刑法修正案三)16 beschlossen, worin es heißt: wer eine terroristische Vereinigung organisiert oder leitet, wird mit nicht unter zehn Jahren Freiheitsstrafe oder mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe belangt; wer das vorstehende Verbrechen begeht und dabei Menschen tötet, eine Explosion herbeiführt, oder Personen entführt, der wird für jedes Verbrechen einzeln mit einer Gesamtstrafe belegt. Abgesehen davon wurde das chinesische Strafrecht in den letzten Jahren mehrfach in dem Versuch geändert, terroristische Verbrechen zu ahnden; insbesondere die §§ 114, 115 I, 120 I, 120 wurde in diesem Sinne geändert. Das gilt nicht nur für China. Auch nach internationalen Verträgen und Konventionen können diese Verbrechen strafrechtlich verfolgt werden. Die ›Shanghai Konvention‹ (上海公约) und die ›Charter der Shanghai Kooperation‹ (上海合作 宪章) haben beide eindeutig festgehalten, dass terroristische Verbrechen einen Grund für die Auslieferung darstellen. Das Kooperationsabkommen zwischen China und Kirgistan über den Kampf gegen die »drei Bedrohungen«‹ (中国和吉 尔吉斯关于打击三股势力的合作协定) bestimmt ebenfalls: »Unter keinen Umständen darf die Schuld aus politischen, gedanklichen, ideologischen, rassischen, ethnischen, religiösen oder ähnlichen Gründen ausgeschlossen werden; so dass die Person eine angemessene Strafe erhält.«17 Die Staaten Mittel- und Südasiens haben aus Gründen des jeweiligen nationalen Rechts, sowie auf Grund bilateraler und multilateraler Verträge den Terrorismus aus der Klasse der politischen Verbrechen ausgeschlossen. Wenn terroristische Organisationen Morde, Vergiftungen, Explosionen, Brandlegen, kollektive Schlägereien aus ethnischen oder religiösen Gründen etc. begehen, dann hindert das Vorandensein dieser Gründe ihre Qualifizierung als terroristische Verbrechen mit Nichten. Gerade weil Terrororganisationen immer auch ein politisches Ziel verfolgen18, eben deshalb 16 Drittes chinesisches Strafrechtsänderungsgesetz (中华人民共和国刑法修正案(三)), http://www.law-lib.com/law/law_view.asp?id=16819. 17 LIU Jian (刘建), BAI Jie (白洁), Machbarkeitsstudie über ein multilaterales System der Auslieferung und Zusammenarbeit in Mittel- und Südasien (中南亚地区建立多边引渡合作 制度可行性分析), Journal der Polizeiakademie Sichuan (四川警察学院学报), 2010–04, 22. Folge, Vol. 2. 18 LIU Jian (刘建), BAI Jie (白洁), ibid.
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gefährden sie in schwerwiegender Weise Leib und Leben der Bevölkerung und den gesellschaftlichen Frieden. Daher haben z. B. das ›Übereinkommen über die regionale Zusammenarbeit beim Kampf gegen den Terrorismus in der Region Südasien‹ (南亚区域合作联盟打击恐怖主义地区协定) oder aber die ›Sozialcharta Südasien‹ (南亚社会宪章) ausdrücklich die Möglichkeit der Auslieferung im Fall terroristischer Verbrechen festgehalten.19 Abgesehen davon haben die Mitgliedstaaten der SCO in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die ›UN Convention against Transnational Organized Crime‹ (联合国打击跨国有组织犯罪公约) unterzeichnet; China, Russland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan unterzeichneten dazu bilaterale Verträge über die gegenseitige Amtshilfe in Strafsachen. Im Kapitel 3 dieser Verträge gibt es sechs Paragraphen, welche insbesondere die gegenseitige Amtshilfe in Strafsachen zum Inhalt haben. Einhergehend mit transnationalen, transregionalen, ja sogar transkontinentalen Aktivitäten des Terrorismus muss die SCO eine Zusammenarbeit in der Rechtsdurchsetzung und in der justiziellen Zusammenarbeit mit anderen regionalen Organisationen und Staaten entwickeln. Dadurch werden die flexiblen, informellen Methoden, welche die Mitgliedstaaten gegenwärtig bei Fragen der Verhaftung und Rückführung an den Tag legen, in ihrer Effizienz auf die Probe gestellt. Wenn man die Situation aus einer globalen Perspektive betrachtet, dann geht der Trend in der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit hin zur Justizialisierung und nicht hin zu Politisierung und einem mehr an Diplomatie. Wenn dem Ziel, die komplexen Probleme terroristischer Verbrechen zu vereinfachen, näherkommen will, dann ist dies innerhalb der Strategie des Anti-Terrorismus eine notwendige strategische Entscheidung. Ein Gegenüber, das auf diplomatische Mittel als grundlegendes Muster der internationalen Zusammenarbeit setzt, und ein gegenüber, das den Dialog von Beweismitteln zum Ausgangspunkt macht, sind miteinander unvereinbar. Sie sind keine Partner in einem gemeinsamen Diskursfeld, sondern können sich gegenseitig nur als Verhandlungsmasse für den eigenen Vorteil wahrnehmen. Das gilt insbesondere in den Eingrenzungen souveräner Staaten. Das heißt nicht, dass diplomatische Mittel aufgegeben werden sollen, aber die Diplomatie darf die Justizialisierung und Verrechtlichung der internationalen Zusammenarbeit nicht ersetzen. Sie dürfen den Weg des Staates hin zu Justizialisierung und Verrechtlichung nicht verdecken.
19 Antiterrorismuszentrum des Chinesischen Instituts für Moderne Internationale Beziehungen (中国现代国际关系研究所反恐怖研究中心), Policy und Maßnahmen gegen den Terrorismus in den wichtigsten Staaten und Regionen der Welt (世界主要国家和地区反恐怖政 策与措施), Shishi Publ., 2002, S. 308–322.
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Literatur Literatur chinesischer Sprache Antiterrorismuszentrum des Chinesischen Instituts für Moderne Internationale Beziehungen (中国现代国际关系研究所反恐怖研究中心), Policy und Maßnahmen gegen den Terrorismus in den wichtigsten Staaten und Regionen der Welt (世界主要国家和地区 反恐怖政策与措施), Shishi Publ., 2002. Außenministerium, Eurasienabteilung (外交部欧亚司) (Hrsg.), Ausgewählte Dokumente der Shanghai Cooperation Organization (1) (上海合作组织文献选编(一)), World Knowledge Publ. (世界知识出版社), 2006. Hartley, Keith (基斯·哈特利), Sandler, Todd (德·桑德勒), Handbook of Defense Economics (国防经济学手册), Bd. 1, Economic Science Publ. (经济科学出版社), 2001. MA, Yong (马勇), Erste Analyse des Kampfs gegen den Terrorismus in Zentralasien (初论 中亚的反恐怖主义斗争), Russland-, Mittelasien- und Osteuropastudien (俄罗斯中亚 东欧研究), 2003, Vol. 6, p. 74–78. LIU, Haiping (刘海平), Gedanken zur Vervollkommnung polizeilicher Strukturen zur Bekämpfung des Terrorismus in China (完善我国反恐警察体制的思考), Journal der Offiziersakademie der Polizei in Jiangsu (江苏警官学院学报), 2006, Vol. 3, p. 143–146. LIU, Jian (刘建), BAI, Jie (白洁), Machbarkeitsstudie über ein multilaterales System der Auslieferung und Zusammenarbeit in Mittel- und Südasien (中南亚地区建立多边引 渡合作制度可行性分析), Journal der Polizeiakademie Sichuan (四川警察学院学报), 2010 Vol. 2, p. 94–99. QI, Bin (齐彬), Vizeminister des Polizeiministeriums: drei Bedrohungen durch terroristische Angriffe während der Pekinger Olympischen Spiele (公安部副部长:北京奥运有三方面 恐怖袭击威胁), http://news.xinhuanet.com/legal/2008-07/03/content_8483587.htm, zuletzt aufgerufen am 3. 7. 2008. XU, Dong (徐东), Rechte der Staatsanwaltschaft: Wiederherstellung und Abbau von Belastungen – Interpretation und Reflexion von Charakter und Aufgaben der chinesischen Staatsanwaltschaft (检察权:归位与减负—对我国检察权性质与职能的解读 与反思), Faxue Wengao (法学文稿),2000 (2). ZHAO, Lei (赵磊), QUAN, Xiao (全晓), Standard des chinesischen Polizeiministeriums zur Feststellung terroristischer Organisationen und Personen (中国公安部宣布认定 恐怖组织和恐怖分子的标准), http://news.xinhuanet.com/legal/2003-12/15/content _1232510.htm, zuletzt aufgerufen am 14. 2. 2019.
Andere Quellen Liste chinesischer Terrororganisationen, http://baike.baidu.com/view/8316051.htm#5, zuletzt aufgerufen am 14. 2. 2019. Lenin (russisch), Der vierte Jahrestag der Oktoberrevolution (十月革命四周年), Redaktionsamt der Parteizentrale für die Übersetzung der Werke von Marx, Engels, Lenin und Stalin (中共中央马克思恩格斯列宁斯大林著作编译局), Lenin Werke Bd. 4 (列宁选 集第4卷), Renmin Publ. (人民出版社), 1965.
Georg Gesk*
Transnationale Strukturen im Strafprozessrecht – das Beispiel der gemeinsamen Ermittlungsgruppen
I.
Internationales Verbrechen und nationales Strafrecht
Das materielle sowie das prozessuale Strafrecht gelten gemeinhin als ein Kernbereich des souveränen Staats, so wie ihn die Moderne herausgebildet hat. Diese Einschränkung des Strafrechts hatte schon immer eine territoriale Ausweitung in dem Sinne zugelassen, als das materielle Strafrecht Erweiterungen der Anwendbarkeit nationalen Rechts auf Taten im Ausland zugelassen hat. Dabei wurden bestimmte Verbrechen für generell verfolgbar erklärt, sodass jegliches nationales Prozessrecht auf eng eingegrenzte Tatbestände angewandt werden konnte, ohne dass dabei die Eingrenzung von Handlung, Handlungsort oder Handlungserfolg auf einen nationalen Bezugsrahmen in irgend einer Weise wichtig gewesen wäre. Eine zweite Kategorie von Verbrechen wurde als so gravierend und als so stark mit der nationalen Rechtsordnung verbunden betrachtet, dass sie nach nationalem Recht behandelt werden konnte, ohne dass dabei eine territoriale Anbindung des Verbrechens im engeren Sinne notwendig war. Eine weitere Form der Ausweitung der Anwendung nationalen Rechts bezieht sich auf grenzüberschreitende Verbrechen, so dass wenigstens eines der Merkmale Handlungsort oder Handlungserfolg im Inland sein müssen. Abgesehen von diesen in der Vergangenheit eher seltenen und international akzeptierten Einzelfällen war die Rechtsanwendung im Strafrecht immer auf das nationale Recht ausgerichtet. Es war also meist nicht notwendig, sich in der Frage des anzuwendenden Strafprozessrechts mit mehr als nationalem Prozessrecht zu beschäftigen. Dennoch wurde spätestens seit der beginnenden europäischen Integration deutlich, dass eine Konzentration des Strafverfahrensrechts auf eine rein nationale Ebene nicht wirklich durchhaltbar war. Aus diesem Grund hatte der Europarat bereits in den 1950er Jahren zwei Verträge beschlossen, die zu den hiermit verbundenen Problemen ein Grundgerüst bieten sollten: das europäische * Prof. Dr. (NTU) Georg Gesk, Professur für chinesisches Recht (gefördert von der Sievert Stiftung für Wissenschaft und Kultur), Universität Osnabrück
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Auslieferungsabkommen vom 13. 12. 1957 und das europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. 4. 1959. Diese Veränderungen bewirkten denn auch, dass das Deutsche Auslieferungsgesetz (DAG), dessen erste Entwürfe bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, das am 4. 12. 1929 vom Reichstag endlich verabschiedet und am 1. 4. 1930 in Kraft trat, nicht nur einfach normativ existierte, sondern tatsächlich zunehmend Anwendung fand.1 Dennoch wird bereits aus dieser Struktur, in welcher ein Gesetz erst dann wirklich praxisrelevant wird, wenn es einen multilateralen Vertrag dazu gibt, deutlich, dass die internationale Relevanz strafrechtlicher Verfahrensbestimmungen sich nicht über Sondertatbestände in der StPO bestimmen, sondern dass auf Grund der Konkurrenz der jeweiligen Souveränitätsansprüche eine zwischenstaatliche Lösung gefunden werden muss, an welche sich dann innerstaatliche Normen anlehnen. Das Wissen, dass Auslieferung und die einer Auslieferung meist vorausgehende Notwendigkeit weiterer Ermittlungshandlungen in engem Zusammenhang stehen, hat auf deutscher Seite über die Jahrzehnte dazu geführt, dass das DAG seit dem 23. 12. 1982 durch das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) ersetzt wurde. Somit sind alle Regelungen für potentiell grenzüberschreitende relevante Verfahrensschritte der Ermittlungen und des Strafprozess (wie etwa Ermittlungen, Auslieferung, Zeugenvernehmung, Vollstreckung etc.) in einem Gesetz zusammengeführt. Dieses verzichtet seit der Änderung vom 2. 8. 1993 teilweise auf die ursprünglich enthaltene Verpflichtung, dass Rechtshilfe in Strafsachen nur dann gewährt werden kann, wenn dieser eine völkerrechtliche Vereinbarung zu Grunde liegt.2 Trotz dieser Entwicklung, die damit beginnt, das Strafverfahrensrecht im internationalen Verkehr aus der Klammer internationaler Vereinbarungen zu lösen, hat sowohl der Europarat die Bestimmungen aus den 1950er Jahren sukzessive angepasst3, als auch die EU eigene Bestimmungen zu Rechtshilfe und Auslieferung erlassen. Diese Normgebung auf mehreren Ebenen, die seit den 1990er Jahren sowohl nationales als auch internationales Strafverfahrensrecht umfasst, vollzieht sich auf der einen Seite aus der Zweckrationalität, die sich aus der zunehmenden Integration der EU ergibt, und auf der anderen Seite unter dem Eindruck der Ereignisse, die sich mit Schlagworten wie 9/11 oder Syrienheimkehrer verbinden. Die beständige Wechselwirkung unterschiedlicher Normebenen lädt dazu ein, in den unterschiedlichen Formen normativer Veränderungen nach strukturellen Merkmalen und strukturellen Veränderungen zu suchen. 1 Hierzu näher Wilkitzki, Entstehung des Gesetzes über Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Berlin/Boston: de Gruyter, 2010, S. 17ff. 2 Wilkitzki, S. 213. 3 Änderungen erfolgten jeweils am 15. Okt. 1975, 17. März 1978 und 20. Sept. 2012.
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II.
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Harmonisierung durch internationale Verträge
Wenn wir die diversen Regelungen die sich national und international zur Rechtshilfe in Strafsachen über die vergangenen 25 Jahre angesammelt haben auflisten, dann fällt zunächst auf, dass es mehrere Ebenen gibt, entlang derer Sachverhalte normiert werden. Die erste, grundsätzliche Unterscheidung ergibt sich aus der Frage, in wie weit sich die europäischen Institutionen so sehr gefestigt haben, dass sie als ein eigenes Rechtssubjekt auftreten, das über Interessen verfügt, die durch nationales Recht nicht ausreichend geschützt werden, so dass hierfür ein eigenes normatives und institutionelles Instrumentarium aufgebaut wird. An erster Stelle finden wir hier das Übereinkommen vom 26. 7. 1995, das den Schutz der finanziellen Interessen der europäischen Gemeinschaft zum Ziel hat, das aber auf Grund einer recht langsamen Ratifizierung erst am 17. 10. 2002 in Kraft trat. Dieses besondere Schutzinteresse findet sich auch in Art. 86 AEUV4 wieder und hat – wiederum zeitversetzt und nach wiederholten Bemühungen5 – am 12. 10. 2017 einen weiteren entscheidenden Schritt zur Gründung der bereits vor zehn Jahren vorgesehenen Europäischen Staatsanwaltschaft zurückgelegt.6 Symptomatisch für diese langsame aber stetige Entwicklung zu einer europäischen, von den Erfordernissen der nationalen Strafverfolgung losgelösten Institution ist die Tatsache, dass auch 2017 nicht alle Mitgliedstaaten der EU der Einrichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) zustimmten, sondern nur 20 der zu diesem Zeitpunkt 28 EU-Mitglieder. Wie diese in Zukunft mit dem am 28. 4. 1999 gegründeten Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) harmoniert, das in seiner Funktion als Ermittlungsorgan gezielt die finanziellen Interessen der Europäischen Union schützen soll, wird sich erst noch zeigen. Ein zweiter Ansatz geht davon aus, dass sich Staaten bei dem Ziel, ihre eigenen Interessen zu schützen, gegenseitig absprechen müssen, um dann auf vertraglicher Grundlage zu Anknüpfungspunkten im Strafverfahren zu kommen. In diesem Rahmen sind nicht nur die oben erwähnten Bereiche Auslieferung und internationale Rechtshilfe, welche sich entweder während des Ermittlungsverfahrens oder vor der Urteilsprechung in einem gerichtlichen Verfahren abspie4 Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) trat am 1. 12. 2009 in Kraft und wurde am 13. 12. 2007 als Vertrag von Lissabon ebenda unterzeichnet. 5 Siehe etwa den Expertenvorschlag zu einem Corpus Juris (2000) oder das green-paper on criminal-law protection of the financial interests of the community (2001), http://ec.europa. eu/justice/criminal/judicial-cooperation/public-prosecutor/index_en.htm, zuletzt besucht am 16. 6. 2017; im selben Zusammenhang weitere Hinweise auf relevante Protokolle und das AntiKorruptionsübereinkommen vom 26. 5. 1997 bei Kühne, Strafprozessrecht, I § 3 Rn 71. 6 Vgl. Verordnung (EU) 2017/1939 vom 12. 10. 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA).
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len, zu erwähnen, sondern auch die Vermögensrückgewinnung und die Vollstreckungshilfe, die sich meist erst nach Abschluss eines Verfahrens vollziehen können. Insbesondere im Rahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen sehen wir, wie die normativen Bestimmungen lange Zeit vor dem Grundproblem standen, dass Ermittlungen im Zweifelsfall schnelle Möglichkeiten zur Beweismittelsicherung oder zum Ergreifen anderer Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren benötigen, dass dies aber auf dem traditionellen Weg der internationalen Zusammenarbeit kaum erreichbar war. Wenn Ermittlungsorgane erst über den Weg des Justizministeriums und dem jeweiligen institutionellen Gegenüber die Genehmigung und den Kontakt zu einem Ermittlungsorgan im Ausland aufbauen müssen, wie dies in Art. 15 des Europäischen Rechtshilfeabkommens von 1959 festgehalten ist, damit das Ermittlungsorgan im ersuchten Staat dann einen notwendigen Ermittlungsschritt durchführt, dann ist dieser Weg unausweichlich langsam und führt insbesondere bei Verbrechenstypen wie der organisierten Kriminalität oder dem Terrorismus zu erheblichen Reaktionslücken.
III.
Harmonisierung durch neugeschaffene europäische Institutionen
Um diese ›langen Wege‹ zu verkürzen und um materielle Hindernisse der Zusammenarbeit zu veringern, hatten sich bereits Anfang der 1990er Jahre neue Formen der Zusammenarbeit herausgebildet, die jenseits der hierarchischen Zweigleisigkeit von Institutionen der Justizpraxis und politischen Behörden eine direkte justizielle Zusammenarbeit vorsahen. Bereits 1993 wurde innerhalb der italienisch-französischen Zusammenarbeit die Institution des Verbindungsrichters ( juge de liaison) bzw. des Verbindungsstaatsanwalts eingeführt.7 Dieser erste bilaterale Versuch, der sich ursprünglich gegen die Mafia richtete, war ganz offensichtlich so erfolgreich, dass er von der EU am 22. 4. 1996 als gemeinsame Maßnahme auf einem multilateralen Fundament angenommen wurde und somit ›den Rahmen für den Austausch von Verbindungsrichtern/-staatsanwälten zur Verbesserung der justiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union‹ einrichtete. Dennoch werden Richter und auch Staatsanwälte meist erst dann aktiv, wenn die Polizei bereits einen beträchtlichen Teil an Vorarbeit in den Ermittlungen geleistet hat. Ein Verbindungsstaatsanwalt hat zwar im Zweifelsfall Zugriff auf 7 Hinweise darauf finden sich zB auf http://www.justice.gouv.fr/europe-et-international-10045/ les-magistrats-de-liaison-28955.html, zuletzt besucht am 17. 6. 2017.
Transnationale Strukturen im Strafprozessrecht
241
Datensysteme seines Heimatlands, ein Verbindungsrichter kann parallel zum Richter vor Ort Durchsuchungsbefehle oder auch einen Haftbefehl ausstellen, der dann zeitgleich im anderen Land ausgeführt wird, aber beide haben nur einen bedingten Einfluss, wenn es um Dinge wie die Abgleichung von Bewegungsprofilen, den Vergleich von Erkenntnissen verdeckter Ermittler und andere ›Alltagsfragen‹ der Ermittlung geht. Aus diesem Grund ging der Europäische Rat (bestehend aus Staats- und Regierungschefs) bei seiner Sitzung in Tampere am 15./16. 10. 1999 über die bestehenden Organisationsmodelle hinaus und versuchte Weichen hin zu einer europäischen Strafverfolgung zu stellen, die nicht erst im Stadium des Zugriffs auf Beweismittel oder Verdächtige, oder sogar erst bei der Vorbereitung der Anklage einsetzt, sondern die bereits bei der genuinen Gewinnung von Erkenntnissen über kriminelle grenzüberschreitende Verbrechen ansetzt. Neben weiteren Maßnahmen, wie etwa dem Ziel der Harmonisierung und Angleichung von Bestimmungen im materiellen Strafrecht, wurden eine ganze Reihe von Maßnahmen in der Strafverfolgung vereinbart. Insbesondere beschloss man die Einrichtung folgender vier Institutionen: – gemeinsame Ermittlungsteams in grenznahen Gebieten – eine operative Task-Force der europäischen Polizeichefs – Eurojust, das Richter, Staatsanwälte und Polizei umfasst und das unterstützend zu Europol fungieren soll – europäische Polizeiakademie Wir sehen hier, dass die Justizorgane sich quasi aus den Fesseln der Bevormundung durch den Souveränitätsgedanken befreien und eine radikale institutionelle Vereinfachung praktizieren. Die Trias Polizei – Staatsanwaltschaft – Gericht wird auf eine grenzüberschreitende Arbeitsweise vorbereitet, ohne dass der Umweg über die Schiene der Politik auch nur noch erwähnt würde. Dabei haben alle europäischen institutionellen Neubildungen Vorbilder, welche auf kleinerem Rahmen bereits gezeigt haben, wie sich durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit ein Effizienzgewinn bei der Verbrechensbekämpfung erzielen läßt. Dazu bedeutet die Gründung einer europäischen Institution nicht, dass dadurch Vorläuferinstitutionen bedeutungslos würden. So hat die Gründung der europäischen Polizeiakademie (CEPOL)8 mit Sitz in Budapest im Jahr 2002 im
8 So wie Struktur und Aufgaben der CEPOL gewachsen sind, so haben sich ihre Statuten verändert; war die rechtliche Grundlage ursprünglich der Beschluss des Rats 2000/820/JHA (22. 12. 2000), so wurde dieser zunächst durch den Beschluß des Rats 2005/681/JHA (20. 9. 2005) ersetzt, nur um wiederum durch die Bestimmung (EU) 2015/2219 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 25. 11. 2015 ersetzt zu werden. Die Tatsache, dass die Bestimmungen von 2015 unter Mitarbeit des Europäischen Parlaments zustande kamen zeigt, dass der rechtliche Rahmen mittlerweile für alle teilnehmenden Staaten rechtlich verbindlich ist,
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Wesentlichen zu einer Koordination mit der bereits 1992 gemeinsam durch Österreich und Ungarn gegründete Mitteleuropäische Polizeiakademie (MEPA) in Wien geführt, hat diese aber auf keinen Fall verdrängt. In ähnlicher Weise hat Eurojust die bereits zuvor gegründete Europol nicht verdrängt, sondern ergänzt sich mit dieser. Während Europol 1999 überwiegend als polizeiliche Verbindungsinstitution gegründet wurde9, die insbesondere Informationen aus den jeweiligen nationalen Polizeisystemen poolt, analysiert und weiterleitet, ja gegebenenfalls die Mitgliedsländer auf Grund der eigenen Erkenntnisse auch zu eigenen Ermittlungen auffordert, hat Eurojust durch die Verbindung von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten Zugang zu anderen Informationskanälen und Entscheidungskompetenzen, was zwangsläufig zu anderen Möglichkeiten der Verbrechensbekämpfung und damit zu einem anderen Problembewusstsein führt. Diese Absicht, beide Institutionen institutionell unabhängig zu belassen, aber funktional zu verknüpfen, spricht sowohl aus den Art. 29 und 30 (2) EUV (in der Fassung des Vertrags von Amsterdam vom 2. 10. 1997), als auch aus der diese Bestimmungen als Rechtsquelle zitierenden Übereinkunft zwischen Eurojust und Europol vom 1. 1. 2010. Wir sehen hier also ein zweites Charakteristikum des sich bildenden europäischen Strafprozessrechts: Trotz der Schaffung europäischer Institutionen werden keine zentralistischen Machtzentren geschaffen, welche andere Institutionen absorbieren, sondern entwickelt sich ein Geflecht aus mehreren Institutionen, die sich auf der europäischen Ebene und im Austausch mit nationalen Institutionen gegenseitig stützen.
IV.
Funktionale Harmonisierung – Verzicht auf doppelte juristische Kontrolle
1.
Europäischer Haftbefehl
Innerhalb des Strebens nach einheitlichen und einfach anzuwendenden Normen des Strafverfahrens gab es den Versuch, nicht nur die institutionellen Schranken der politischen Behörden zu umgehen, sondern auch die Hindernisse, die sich innerhalb der justiziellen Zusammenarbeit durch Kodifikationskonflikte ergaAusnahmen sind also nur insoweit zulässig, als UK, Irland und Dänemark bereits in Präambel (25), (26) festgestellt haben, dass sie nicht Teil dieser Bestimmungen sind. 9 Obwohl die Gründung von Europol bereits am 7. 2. 1992 in Titel VI Artikel K.1 (9) als Zielvereinbarung für die EU von allen Mitgliedern der EG vereinbart wurde, erfolgte die Unterzeichnung des Europol-Abkommens bis zum 26. 7. 1995. Bis dieses Abkommen von allen Mitgliedstaaten ratifiziert wurde und Europol in den Haag seine Arbeit aufnehmen konnte, dauerte es wiederum bis zum 1. 7. 1999.
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ben, zu lösen. Ein wichtiger Versuch in diese Richtung ist der europäische Haftbefehl. Dieser wurde zunächst auf europäischer Ebene als Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates am 13. 6. 2002 verabschiedet und musste als solcher durch den nationalen Gesetzgeber ratifiziert werden, um rechtliche Gültigkeit zu erlangen. Im Vorwort des Rahmenbeschlusses wird unter Punkt (6) ausdrücklich festgehalten, dass der europäische Haftbefehl erstmalig die gegenseitige Anerkennung konkret verwirkliche. Dies wird in Art. 1 (2) dahingehend ausgeführt, dass ›die Mitgliedstaaten […] jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses [vollstrecken]‹. Diese Bestimmung geht davon aus, dass jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union der europäischen Menschenrechtscharta genügt, dass er daher als solcher ein Rechtsstaat ist, und dass daher die Vollstreckung eines Haftbefehls ohne die traditionelle Prüfung einer doppelten Rechtswidrigkeit möglich ist. Damit war es also möglich, Personen auf das Betreiben eines Staates hin in einem anderen Mitgliedstaat selbst dann zu verhaften, wenn die fragliche Handlung in dem ausführenden Staat nicht unter Strafe steht und die zu verhaftende Person in dem Staat, der den Haftbefehl ausführt, Inländer ist. Die Konstruktion des europäischen Haftbefehls ging insofern neue Wege, als sie nicht versuchte, auf dem Umweg der Harmonisierung des materiellen und des prozessualen Rechts einen mehr oder weniger gleichförmigen normativen Zustand zu schaffen, der es erlaubt hätte, auf eine jeweilige konkrete Prüfung der rechtlichen Voraussetzungen sowohl in dem Staat, der den Hafbefehl ausstellt, als auch in dem Staat, der den Haftbefehl vollzieht, zu verzichten. Stattdessen wurde eine abstrakte Vereinbarkeit der unterschiedlichen Rechtssysteme vorausgesetzt, welche dann ebenfalls eine konkrete Überprüfung im ausführenden Staat als nicht notwendig erscheinen ließ. Dieser Grundgedanke des Rahmenbeschlusses wurde vom deutschen Gesetzgeber im EuHbG vom 21. 7. 2004 umgesetz und führte nicht nur zu Kritik in der Wissenschaft10, sondern auch zu einer Verfassungswidrigkeitsprüfung, im Zuge derer BVerfGE 113, 273 ff das ganze Gesetz für verfassungswidrig erklärte. Dennoch legte das BVerfG den Fall weder dem EuGH vor, noch hatte es in seiner Begründung den Verzicht auf eine doppelte Rechtswidrigkeitsprüfung als solches kritisiert. Auf Grund dessen wurde der Rahmenbeschluss mit Verzögerung in einem 2. EuHbG am 20. 7. 2006 in das deutsche Recht eingeführt, wobei eine Person ohne doppelte Rechtmäßigkeitsprüfung verhaftet werden kann, dass aber nur diejenigen Personen ausgeliefert werden, die auch nach deutschem Recht verurteilt werden könnten. Letzteres ist – man sehe den Fall Puigdemont – eine 10 Siehe etwa Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl., München: Beck, Rn 21 mit weiteren Hinweisen.
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gerichtliche Prüfung. Mit diesen Veränderungen wurde das Gesetz seither nicht wieder von der Verfassungsgerichtsbarkeit bemängelt.
2.
Europäische Ermittlungsanordnung
In jedem Strafverfahren gilt es nicht nur, Verdächtige dingfest zu machen, um diese vor Gericht einem ordentlichen Verfahren zu stellen, sondern auch Beweise zu sichern, denn ohne diese gilt zwangsläufig die Unschuldsvermutung. In einer Zeit zunehmender europäischer Integration gilt es daher für bei der Beweismittelerhebung das gleiche Problem zu überwinden, das auch beim Europäischen Haftbefehl maßgeblich war: Sowohl ein Umweg über die Ministerien als auch eine zusätzliche Prüfung auf Rechtmäßigkeit bedeutet Zeitverzögerung, die insbesondere in Fällen, in denen organisierte Kriminalität grenzüberschreitend agiert, die Möglichkeit zur Beweismittelvernichtung (und damit der Straflosigkeit krimineller Täter) wesentlich erhöht. Es verwundert daher nicht, dass die Gründe für die Richtlinie 2014/41/EU vom 3. 4. 2014 betonen, dass die bisher geltenden zweistufigen Verfahren zu langsam waren und dass daher die Durchsetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung einen wesentlichen Effizienzgewinn darstellt. Deshalb werden die vorgehenden Bestimmungen aufgehoben11 und durch die neue Richtlinie zur europäischen Ermittlungsanordnung ersetzt. Diese wurde vom europäischen Parlament und vom Europäischen Rat gemeinsam verabschiedet und kann daher eine direkte demokratische Legitimation für sich in Anspruch nehmen, weswegen im Fall der nicht fristgerechten Umsetzung durch einen Mitgliedstaaten der EU eben diesem Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren droht.
V.
Gemeinsame Ermittlungsgruppen als Bindeglied zwischen institutioneller und funktionaler Harmonisierung
Nachdem das Tampere-Programm wie oben erwähnt gemeinsame Ermittlungsgruppen (in der Abkürzung entweder Detusch GEG oder auch Englisch JIT) nur für einen lokal begrenzten Rahmen vorsah und daher davon ausging, dass diese ›in grenznahen Gebieten‹ eine wichtige Aufgabe erfüllen sollten, hatte der 11 Rahmenbeschluss 2003/577/JI des Rates vom 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen zur Sicherstellung von Vermögensgegenständen und Beweismitteln in der Europäischen Union Rahmenbeschluss 2008/978/JI des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen.
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245
Aufgrund Art. 34 EU Vertrag erlassene Rechtsakt des Rates 2000/C197/01 über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 29. 5. 2000 in seinem Art. 13 keine solche Einschränkung mehr. Eine Ermittlungsgruppe sollte danach insbesondere dann eingerichtet werden, wenn Ermittlungen schwierig und aufwendig mit Bezügen zu anderen Mitgliedstaaten sind bzw wenn mehrere Mitgliedstaaten parallel Ermittlungen durchführen, weswegen ein koordiniertes und abgestimmtes Verhalten erforderlich ist. Ob dies dann grenznah ist, oder ob es sich um internationales Verbrechen handelt, das über tausende von Kilometern miteinander vernetzt ist, so dass die Frage der Grenznähe komplett verschwindet, wurde in keiner Weise erwähnt. Die Begründung für JIT wechselte also innerhalb eines Jahres von einer situativ verfassten zu einer funktional betonten. Dennoch war damit der rechtliche Rahmen nicht so weit gediehen, dass JITs wirklich in der Praxis eine bedeutende Stellung einnehmen konnten. Der Rechtsakt 2000/C197/01 wurde nur schleppend umgesetzt, so dass es in vielen Mitgliedstaaten der EU an einer rechtlichen Grundlage für die Einrichtung von JITs auf europäischer Grundlage fehlte. Um dem abzuhelfen traf der EU-Rat am 13. 6. 2002 den Rahmenbeschluss (2002/465/JHA) zu gemeinsamen Ermittlungsgruppen, der in Art. 4 eindeutig festlegte, dass eine Umsetzung des Rahmenbeschlusses noch innerhalb des Jahres 2002 zu erfolgen hatte. Dies führte in der Folge dazu, dass einige EU-Staaten tatsächlich JITs bildeten und hierbei Erfahrungen sammelten, auf welche die ebenfalls im Jahr 2002 gegründete Eurojust im Jahr 2005 zurückgreifen konnte. Auf den so allseits akzeptierten Normen und den diesbezüglich gewonnenen Erfahrungen konnte der Gedanke der JITs auf europäischer Ebene endlich Fuß fassen, so dass die Einrichtung von JITs unter der Beteiligung von Eurojust allein für das Jahr 2016 auf 148 angestiegen ist. Eine weitere Verbesserung der Rahmenbedingungen war das Übereinkommen zwischen Eurojust und Europol vom 1. 1. 2010, das in Art. 6 ausdrücklich auf die Zusammenarbeit in JITs eingeht. Danach ist Europol insbesondere für Aufklärung und Unterstützung der Ermittlungen zuständig, Eurojust hat den Kontakt zu den Justizorganen der teilnehmenden Staaten zum Schwerpunkt. Im deutschen Recht sind JITs doppelt abgesichert. Zum einen bestimmt § 93 IRG die Einrichtung von gemeinsamen Ermittlungsgruppen mit Mitgliedstaaten der EU, zum anderen regelt § 61b IRG die Einrichtung gemeinsamer Ermittlungsgruppen auf Grund völkerrechtlicher Verträge. Dabei wird als Grund für die über die EU hinausreichende Normierung des § 61b das 2. Zusatzprotokoll zum europäischen Rechtshilfeabkommen angegeben.12 Diese Öffnung der Institution der JITs hin zu einem die EU überschreitenden Rahmen ist in der Normierungsphase ganz eindeutig den Beziehungen zwischen EU und USA geschuldet, erwähnt doch zB der Rahmenbeschluss des Rats 2002/465/JHA in Punkt (9) der 12 Vgl. Güntge in Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2015, 4 Rn 76.
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legislativen Überlegungen im Vorspann explizit, dass die Teilnahme an JITs nicht auf Mitgliedstaaten beschränkt ist, sondern auch Vertretern von Organisationen wie Interpol oder OLAF und von Institutionen der Vereinigten Staaten offen stehen sollen. Der Vertrag zwischen Deutschland und den USA über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 14. 10. 2003 sieht zB in Art. 12 die Möglichkeit strafrechtlicher Ermittlungen … der anderen Vertragspartei in ihrem Hoheitsgebiet vor; in allgemeinerer Form garantiert Art. 1 (2) unter 9. ›jede andere Form der Rechtshilfe, die nicht nach dem Recht des ersuchten Staates verboten ist‹. Wie die statistischen Angaben von Eurojust zeigen, ist jedoch die Zusammenarbeit europäischer JITs mit den USA weit weniger wichtig als etwa mit den nicht EUMitgliedstaaten des Balkans. Unter den 14 JITs, die nicht EU-Mitglieder involvierten und die durch Eurojust in 2016 unterstützt wurden, war nur 1 JIT, in dem die USA partizipierte, es waren aber 2 mit Bosnien-Herzegovina und 3 mit Serbien.13 In der Praxis werden JITs immer nur auf Antrag eingerichtet, wobei immer derjenige Partner, für den das JIT im Inland stattfindet, die Leitung des JIT übernimmt. Dennoch können alle Mitglieder des JIT die Kompetenzen, die ihnen in ihrem Heimatstaat zukommen, jederzeit ausüben. Dasselbe gilt für Mitglieder europäischer Institutionen, also insbesondere für Mitglieder von Europol und Eurojust. Jedes Mitglied eines JIT kann unter der Führung der JIT-Leitung auch im Gaststaat Ermittlungshandlungen ausführen, so lange die Leitung jederzeit die Möglichkeit hat einzuschreiten. Das hat den zweifachen Vorteil, dass das JIT jederzeit und ohne formale Sonderwege auf die Informationen der teilnehmenden Institutionen und Staaten zugreifen kann, dass aber auf der anderen Seite die von dem JIT gewonnenen Erkenntnisse ohne weitere formale Hindernisse von allen partizipierenden Institutionen direkt verwendet werden können. Auf diese Weise war es etwa dem JIT, was von den Niederlanden, Belgien, der Ukraine, Australien und Malaysia wegen des Absturzes von MH 17 am 17. 7. 2014 über der Ostukraine gebildet wurde, möglich, dass niederländische und australische Polizeibeamte in der Ukraine Zeugenvernehmungen durchführen konnten, ohne dass hierzu die Überwindung langwieriger diplomatischer oder anderer Kanäle erforderlich gewesen wäre. Auch die Sicherstellung und Untersuchung anderer Beweismittel konnte so vor Ort durch Experten aus den teilnehmenden Ländern erfolgen. Das Verbringen eines Teils der Beweismittel in die Niederlande, welche andere forensische Möglichkeiten hat, als dies in der Ukraine der Fall gewesen wäre, hat für die Verwendbarkeit der Beweismittel keine verändernde Wirkung, denn sie vollzieht sich nach wie vor innerhalb einer JIT. Um diese Wirkung entfalten zu können, ist es normativ notwendig, dass die teilnehmenden Beamten auch jenseits der Hoheitsgrenzen des Staates, dem sie 13 Siehe Eurojust Annual Report 2016, S. 18.
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dienen, ihre Kompetenzen ausüben können, dass sie aber gleichzeitig an den Ergebnissen der teilnehmenden Kollegen voll partizipieren können, so dass die Informationslücke, die vom internationalen Verbrechen ausgenutzt wird, verschwindet. Gleichzeitig ist wichtig, dass neben der Polizei auch die Staatsanwaltschaft teilnimmt, um verfahrensrechtliche Weichenstellungen synchron und zeitnah vornehmen zu können. So umfasst etwa die JIT, die 2011 unter Beteiligung der Staatsanwalt Osnabrück in Hinblick auf Schiffsentführungen im indischen Ozean gegründet wurde, die niederländische Landesstaatsanwaltschaft, die Staatsanwaltschaft Osnabrück, die niederländische Militärpolizei (Koninklijke Marechaussee), das Landeskriminalamt Niedersachsen, das Bundeskriminalamt, Eurojust und Europol.14 Somit sind die Staatsanwaltschaften der Niederlande und Deutschlands, die Polizei der beiden Staaten und die beiden europäischen Institutionen, die mit Koordination, Informationsbeschaffung und Ermittlungen in Strafsachen betraut sind, involviert. Nicht in allen Fällen, in welchen Eurojust involviert ist, werden JITs gebildet (vgl. Tab 1). Relativ zu den Fallzahlen ist mit 34,4 % bei Menschenschmuggel (THB, trafficking in human beings) die höchste Quote an JITs zu verzeichnen, bei Korruption mit 2,7 % die niedrigste, der Durchschnitt innerhalb der Delikte, die als Schwerpunktkriminalität angegeben werden, liegt bei 8,8 %. Tabelle 1: Eurojust – Schwerpunktkriminalität und institutionelle Arbeit
Terrorism
2014 14
2015 2016 41 67
Coordination meetings 2014 2015 2016 4 15 18
2
3
4
Cybercrime IIS
42 32
62 60
60 65
15 10
19 20
13 12
6 9
11 9
8 11
THB Fraud
71 560
79 647
93 654
12 60
32 76
33 44
18 32
21 34
32 35
Corruption Drug trafficking
55 283
90 274
74 254
9 52
10 57
15 41
4 31
4 25
2 24
MOCG PIF crimes
128 70
201 69
199 41
13 7
21 11
19 11
13 2
13 5
12 5
Non-priority crime Money laundering
220
283
295
41
55
67
24
30
35
0
1
0
0
0
0
Priority crime
Cases
Environmental crime 5 5 6 Quelle: Eurojust Annual Report 2016, S. 27
JITs 2014
2015 2016
14 Siehe http://www.staatsanwaltschaften.niedersachsen.de/startseite/staatsanwaltschaften/osn abrueck/presseinformationen/100523.html, zuletzt besucht am 17. 6. 2017.
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Insgesamt ist bei Eurojust ein starkes Ansteigen der JITs zu verzeichnen, waren im Jahr 2005 lediglich Anhörungen zu berichten, wie man von Erfahrungen europäischer Mitgliedstaaten im Umgang mit JITs profitieren kann, deuten die entsprechenden Zahlen mittlerweile steil nach oben. Allein von 2015 auf 2016 war ein Zuwachs von 23 % (von 120 auf 148) zu verzeichnen, wobei 69 JITs in 2016 neu waren. Auf der organisatorischen Seite ist festzustellen, das JITs sowohl ihrem jeweiligen nationalen Recht genügen müssen, wie auch den Rechten der anderen teilnehmenden Staaten und Institutionen. Daher ist der europäische normative Rahmen und dessen Umsetzung in den Mitgliedstaaten von großer Wichtigkeit. Um eine Doppelbestrafung zu verhindern ist es empfehlenswert, das JIT in dem Staat anzusiedeln, in dem vermutlich das gerichtliche Verfahren stattfinden wird. Diese Fragen sind aber ohne das Wissen, welche europäischen Staaten (oder Drittstaaten) in einen Fall mit eingebunden werden sollten, nicht wirklich zu entscheiden. Das heißt in der Praxis, dass ein Staat, der feststellt, dass er einem Fall mit starkem Auslandsbezug gegenüber steht, zunächst einen offiziellen Antrag bei Eurojust einreicht, um sich dann auf dem Weg der sogenannten level 1 meetings (allgemein) und level 2 meetings (betroffene Staaten) klar darüber zu werden, welche Staaten tatsächlich in engem Kontakt mit der Materie sind. In weiteren level 3 meetings werden dann die betroffenen Institutionen festgelegt. Um sicherzustellen, dass die Arbeit der JITs vor Ort zeitgleich in unterschiedlichen Staaten vonstatten geht, wird parallel zu den JITs noch ein Koordinationszentrum eingerichtet, das die zeitliche Abstimmung von Ermittlungsmaßnahmen wie Verhaftung, Durchsuchung oder Beschlagnahme in die Wege leitet. Da sich die Ermittlungsbefugnisse der Mitglieder eines JIT aus den jeweiligen nationalen Strafverfahrensrechten bestimmen, führt der öffentlich-rechtliche Vertrag, durch welchen ein JIT ins Leben gerufen wird, nur Rahmeninformationen auf. Dies sind insbesondere die teilnehmenden Institutionen, der Zweck, der Zeitrahmen, die Staaten, in denen das JIT voraussichtlich tätig wird, Leiter, Mitglieder und Teilnehmer, sowie Erhebung, Zugang und Austausch von Beweismitteln.15 Obwohl also die Leitung des JIT vertraglich festgelegt ist, kann diese unter den Mitgliedern der JIT wechseln, je nachdem in welchem Staat Amtshandlungen durchzuführen sind. Das hat dann aber zur Konsequenz, dass ein JIT innerhalb der EU – und in Einzelfällen sogar darüber hinaus – ohne institutionelles Hindernis über Staatsgrenzen hinweg ermitteln kann und dabei keinerlei Zeitverlust auf Grund von Anträgen auf Rechtshilfe etc. erfährt. Gleichzeitig sind die zur Verfügung stehenden Informationen endlich nicht mehr nur auf einen Staat beschränkt, so dass ein umfassendes Bild der untersuchten 15 Vgl. Entschließung des Rates zu einem Modell für eine Vereinbarung über die Bildung einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe (GEG), (2017/C 18/01) vom 19. 1. 2017.
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Verbrechen entsteht und die Verdächtigen sich nicht im Nebel der Landesgrenze verstecken können.
VI.
Paradigmenwechsel im transnationalen Strafrecht
Waren die Paradigmen des Strafrechts in der Vergangenheit klar am Gedanken der Souveränität orientiert, so hat sich in Europa über die vergangenen zwei Jahrzehnte ein neues Paradigma gebildet, das eine sehr enge Verzahnung insbesondere der Strafprozessrechte erlaubt. Waren Dinge wie Auslieferung und Rechtshilfe noch in den 1950er Jahren Regelungsinhalte, die man glaubte auf Einzelfallbasis und mit aufwendigen institutionellen Verfahren lösen zu können, hat die Realität der europäischen Integration die Grenzen und die Unzulänglichkeit dieser Konstruktion nur zu deutlich vor Augen geführt. Im Versuch, die Probleme der grenzüberschreitenden Kriminalität zu überwinden, haben sich in der EU neue Strukturen gebildet, die zunächst in ihrer Priorisierung nicht eindeutig klar waren. Es gab Versuche, die nationalen Rechtsordnungen zu harmonisieren, was deren Kompatibilität erhöht, was aber das grundsätzliche Problem der institutionellen Unbeweglichkeit im Angesicht der Staatsgrenzen nicht lösen kann. Auch der Versuch eine zentrale europäische Behörde zu schaffen (OLAF, Europäische Staatsanwaltschaft), war und ist nur für den relativ unbedeutenden Fall anwendbar, in dem die EU direkt das Opfer von Verbrechen wird. Eine Dominanz der nationalen Rechtsordnungen durch eine europäische ›Superinstitution‹ stand nie zur Debatte und wäre politisch auch nie durchsetzbar gewesen. Dennoch hat die europäische Institutionenbildung (Europol, Eurojust)16 viel dazu beigetragen, nicht zu einer normativen oder hierarchischen Harmonisierung zu gelangen, sondern zu einer institutionellen Vernetzung, welche eine funktionale Harmonisierung erreicht. Der Grundstein, der dies ermöglicht hat, ist die gegenseitige Anerkennung der Rechtsstaatlichkeit der EU-Mitgliedstaaten, die auch bei unterschiedlichen normativen Ausformungen des Strafverfahrensrechts zunächst immer grundsätzlich die andere Rechtsordnung in ihrer Rechtsstaatlichkeit anerkennt. Auch wenn die Literatur in Teilen kritisiert, dass dadurch eine Schlechterstellung des Verdächtigen oder des Angeklagten drohe, weil die Ermittlungsbehörden nach dem Opportunitätsprinzip die für sie günstigste Rechtslage zur Einleitung von Ermittlungsschritten wählen könne, ist diese Kritik doch einseitig. JITs werden nur solche Staaten umfassen, die von einem Fall auch tatsächlich betroffen sind, denn es muss bereits bei der Einrichtung des jeweiligen JIT die 16 Es wären in diesem Rahmen noch mehr Institutionen zu erwähnen, so z. B. das EJN, das europäische justizielle Netzwerk, was aber aus Platzgründen unterbleiben musste.
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Frage entschieden werden, welche Staaten materiell betroffen sind und in welchem Staat auf Grund der überwiegenden Betroffenheit voraussichtlich ein Gerichtsverfahren eingeleitet werden wird. Dazu bewirkt die funktionale Harmonisierung, dass von Ermittlungen Betroffene im europäischen Rahmen darauf vertrauen können, dass das ne bis in idem Prinzip angewandt wird, dass sie also nicht auf Grund der gleichen Ermittlungsmaßnahmen in zwei unterschiedlichen Staaten wegen desselben Verbrechens parallel angeklagt werden. Weiter wirkt sich für die Betroffenen positiv aus, dass sie nicht im einen Staat als Zeugen und im anderen Staat als Verdächtige behandelt werden, dass also Dinge wie Aussagepflicht und Schweigerecht nicht über Ländergrenzen weg kollidieren (mit der Möglichkeit, die Aussage im einen Land auf dem Wege der Rechtshilfe im anderen Land gegen die jeweilige Person zu verwerten), sondern kohärent angewandt werden. Zusätzlich gelten für alle Mitgliedstaaten der EU gemeinsam die Charta der europäischen Grundrechte, welche eine gemeinsame Grenze für jede strafrechtliche Ermittlung darstellen. So ist die strukturelle Neuorientierung, die sich nicht mehr durch einen verabsolutierten Souveränitätsgedanken selbst behindert, sondern die im Geiste gegenseitiger rechtsstaatlicher Anerkennung zu einer durch gemeinsame europäische Institutionen assistierten institutionellen Vernetzung geführt hat, der Grund für eine funktionale Harmonisierung, die in weiten Teilen auch und trotz weiter bestehender normativer Differenzen ihre Wirkung entfaltet und die im Rahmen der Verbrechensbekämpfung einen deutlichen Effizienzgewinn darstellt, der sich in seinem Wesen nicht zu Lasten der Rechte des Angeklagten auswirkt.
Literatur Ambos, Kai / König, Stefan / Rackow, Peter (Hrsg.), Rechtshilferecht in Strafsachen, BadenBaden, 2015. Eurojust, Eurojust Annual Report 2016. green-paper on criminal-law protection of the financial interests of the communnity (2001), http://ec.europa.eu/justice/criminal/judicial-cooperation/public-prosecutor/index_en. htm, (zuletzt besucht am 16. 6. 2017). Kühne, Hans-Heiner, Strafprozessrecht, 9. Aufl., München, 2015. Roxin, Claus / Schünemann, Bernd, Strafverfahrensrecht – ein Studienbuch, 29. Aufl., München, 2017. Wilkitzki, Nadeschda, Entstehung des Gesetzes über Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Berlin/Boston: de Gruyter, 2010. http://www.justice.gouv.fr/europe-et-international-10045/les-magistrats-de-liaison-28955. html, (zuletzt besucht am 17. 6. 2017). http://www.staatsanwaltschaften.niedersachsen.de/startseite/staatsanwaltschaften/osna brueck/presseinformationen/100523.html (zuletzt besucht am 17. 6. 2017).
JIANG Su*
Der Erziehungsarrest in der chinesischen Anti-Terrorismus-Gesetzgebung
Der Terrorismus, dem wir uns gegenübersehen, hat sich zu einem wichtigen Faktor in der globalen Bedrohung der staatlichen Sicherheit und des Allgemeinwohls entwickelt. Daher haben Staaten überall auf der Welt aktiv durch eine Änderung ihrer Strafrechtsgesetzgebung die Repression und die Prävention terroristischer Verbrechen intensiviert. Gleichzeitig mit der Durchführung strenger Strafsanktionen, welche eine gerechte Vergeltung und eine Unterdrückung des Verbrechens beabsichtigen, ist zu fragen, mit welchen adäquaten Mitteln man auf Verbrecher eingehen soll, die nach Verbüßung ihrer Strafe immer noch potentiell die Gefahr aufweisen, wiederum terroristische oder extremistische Verbrechen zu gehen. Es ist dies eine Frage, mit der sich China in seiner Arbeit des Anti-Terrorismus konfrontiert sieht und die es dringend zu lösen gilt. Im »Chinesischen Gesetz gegen den Terrorismus« (中华人民共和国反 恐怖主义法) (im Folgenden kurz Anti-Terrorismus Gesetz) vom 1. Januar 2016 findet sich erstmals die Institution der »Einweisung zur Erziehung« (安置教育), wodurch neben der Kriminalstrafe eine präventive Sanktionsform (预防性处遇 方式) eingeführt wurde, welche gegen Verbrecher eingesetzt wird, die sich im Strafvollzug befinden und von denen eine schwere Gefährdung der Gesellschaft ausgeht. Ziel dieser Maßnahme ist die Prävention von Verbrechen und die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Sicherheit.
* Assoc. Prof. Dr. iur. JIANG Su, Peking Universität
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JIANG Su
I.
Die theoretischen Grundlagen der Institution des Erziehungsarrests
1.
Die Eigenschaften des Erziehungsarrests
Der Erziehungarrest ist eine Institution, bei der das Gefängnis oder das Untersuchungsgefängnis bei Personen, welche wegen terroristischer oder extremistischer Verbrechen mindestens zu Freiheitsstrafe verurteilt sind, vor Ablauf der Strafe bzw. vor Entlassung aus der Strafe eine Einschätzung der Sozialgefährlichkeit durchführt und im Zuge dessen feststellt, dass es eine sehr hohe Gefahr einer Wiederholungstat gibt, welche die Sicherheit der Gesellschaft und der Allgemeinheit bedrohen kann, sodass das Volksgericht nach Gesetz beschließt, dass die betreffende Person nach Strafende in Sicherungsverwahrung verbleibt und dass ihr zwingend Erziehung teil wird. Die Institution des Erziehungsarrests ist verschieden von der traditionellen Strafe und den sich an die Strafe anschließenden erzieherischen Maßregeln, sie ist ebenfalls verschieden von der früher existierenden Institution der »Erziehungslager« (劳动教养). Dabei weist sie untenstehende Charakteristika auf. Erstens handelt es sich um eine Zwangsmaßnahme. Der Erziehungsarrest ist eine Maßnahme, die sich bei terroristischen bzw. extremistischen Straftätern an die verbüßte Strafe anschließt, wobei sie zwar als solche keinen Strafcharakter besitzt, aber dennoch den zwingenden Effekt der Strafe aufweist. Um die zukünftige etwaige Sozialgefährlichkeit von Straftätern im Strafvollzug zu verhindern, führt der Erziehungsarrest in seinem Ablauf notwendigerweise Zwangsmaßnahmen der Beschränkung von Rechten – wie etwa der persönlichen Freiheit oder der Kommunikationsfreiheit – durch. Dadurch soll die Möglichkeit des Täters, abermals Verbrechen begehen zu können, nicht nur kontrolliert werden, ja es soll ihm diese Möglichkeit überhaupt genommen werden. In diesem Punkt unterscheidet sich der Erziehungsarrest von traditionellen Erziehungsmaßnahmen, welche sich an eine Strafe anschließen. Letztere realisieren in stärkerem Maße eine soziale öffentliche Leistung. Zweitens besitzt sie präventiven Charakter. Das Schlüsselelement des Erziehungsarrests ist die Beurteilung der Sozialgefährlichkeit von terroristischen und extremistischen Straftätern. Wenn das Ergebnis dieser Beurteilung ergibt, dass die Gefahr der Sozialschädlichkeit weiterbesteht, dann werden beschränkende Maßnahmen gegen diese Person verhängt. Dabei besteht ein Unterschied zu Maßnahmen, die auf der »vergangenen« Schuld des Täters den Charakter der Bestrafung und der Vergeltung haben; der Erziehungsarrest beruht auf der Sozialgefährlichkeit des Täters, wobei das Ziel darin besteht, dass die Möglichkeit
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des Auftauchens »zukünftiger« terroristischer und sozialgefährlicher Handlungen verhindert werden soll. Drittens verfügt sie über einen prozessualen Charakter. Der Erziehungsarrest ist eine Zwangsmaßnahme, welche persönliche Freiheit und Rechte in bestimmtem Maße einschränkt. Um eine genaue, rechtmäßige Anwendung dieser Maßnahme zu gewährleisten, die auf der einen Seite terroristische und extremistische Verbrechen mit einem Negativurteil belegt, die aber gleichzeitig die Werte von Gleichheit und Gerechtigkeit realisiert, hat das »Anti-TerrorismusGesetz« detaillierte Bestimmungen zum anzuwendenden Verfahren und zur Rechtshilfe getroffen. Viertens handelt es sich um eine justizielle Maßnahme. Im Unterschied zu der früher üblichen Institution der Umerziehungslager, welche auf dem Modell der administrativen Anordnung beruhten, ist das Entscheidungsverfahren des Erziehungsarrests ein gerichtliches Beschlussverfahren. Es wird also zunächst von der Vollstreckungsinstitution gegenüber dem Täter, der sich im Strafvollzug befindet, eine Beurteilung von dessen Gefährlichkeit vorgenommen. Wenn festgestellt wird, dass der Täter trotz der Umerziehung durch die Strafe eine Sozialgefährlichkeit aufweist, wird ein Antrag auf Erziehungarrest an das zuständige mittlere Volksgericht gestellt, sodass am Ende ein Gericht im Zuge eines justiziellen Verfahrens die Entscheidung über die Durchführung des Erziehungsarrests in Form eines Beschlusses fällt. Aus obiger Charakterisierung ist ersichtlich, dass der Erziehungsarrest auf dem Motiv der Sozialverteidigung aufbaut und den Schutz des öffentlichen Interesses der Gesellschaft vor terroristischen und extremistischen Verbrechen als Legitimationsbasis hat. Der Fokus liegt auf der Verhinderung zukünftiger Gefahren. Er ist eine justizielle Maßnahme, die sich gegen terroristische und extremistische Straftäter im Strafvollzug richtet, bei denen ein hohes Maß an Wiederholungsgefahr besteht.1 Ihrem Charakter nach ist es eine Maßnahme der Besserung und Sicherung, die der Beseitigung von Gefahren, der Verhinderung von Straftaten und dem Schutz der gesellschaftlichen Sicherheit dient. Obwohl das chinesische Recht derzeit keinen klaren Begriff von Maßnahmen der Besserung und Sicherung hat, verfügt es über Maßnahmen, welche die Charakteristika von solchen aufweisen, wie etwa die Zwangseinweisung psychisch kranker Täter in medizinische Behandlung, welche das Strafprozessgesetz (刑事诉讼法) 2012 als Folge justizieller Verfahren bei schweren Gewaltverbrechen mit Wiederholungsgefahr eingeführt hat.2 1 XU Chi (徐持), Analyse des Charakters und institutioneller Aufbau des Erziehungsarrests im »Anti-Terrorismus-Gesetz« (《反恐怖法》中安置教育的性质辨析与制度建构), Law Journal (法学杂志), 2017, Nr. 2, S. 20–22. 2 Su Jiang, »Massregeln der Besserung und Sicherung im chinesischen Recht aus der Sicht des
254 2.
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Die Funktion der Institution des Erziehungsarrests
Sicherheit und Freiheit sind wichtige Wertmaximen der menschlichen Gesellschaft. Die Särke der Sicherheit und die Grenze der Freiheit entscheiden sich am Bedürfnissystem eben dieser menschlichen Gesellschaft. Wenn terroristische Verbrechen zur größten und schwersten Bedrohung der Sicherheit des Staates, der Gesellschaft und des Individuums werden, dann entwickelt sich die Sicherheit zum dominierenden Wert der menschlichen Gesellschaft, sodass der Wert der Sicherheit zum Dreh- und Angelpunkt der Gesetzgebung gegen den Terrorismus wird. Dieses Werturteil realisiert sich im Erziehungarrest, dessen wichtigstes Ziel die Prävention von Verbrechen und die Verteidigung der Gesellschaft ist. Bei den aller meisten terroristischen und extremistischen Straftätern sitzt das Gedankengut des religiösen Extremismus und des ethnischen Separatismus so fest im Bewußtsein, dass es selbst nach erfolgter Strafe und nach abgeschlossenem Vollzug schwierig ist, die gedanklichen Irrwege in einer bestimmten Zeit aus den Köpfen der Täter zu bekommen. Um die »Sicherheitslücke« im bestehenden System der strafrechtlichen Sanktionen zu schließen und die Durchführung von zukünftigen Straftaten effektiv zu verhindern, verlagert der Erziehungsarrest die Front der Prävention von Verbrechen und der Verteidigung der Gesellschaft nach vorne. Es wird eine Korrektur des Ursprungs der Verbrechen vorgenommen: Täter, die auch nach Ableisten ihrer Strafe über eine Persönlichkeit verfügen, welche eine latente Gefahr terroristischer Straftaten aufweist, werden durch freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie Separierung und Kontrolle an der Möglichkeit einer abermaligen Durchführung von Verbrechen gehindert. Dadurch erfolgt eine erfolgreiche Repression der Wiederholung von gesellschaftsgefährdenden Verbrechen, sodass in der Konsequenz das Ziel der Verteidigung der gesellschaftlichen Sicherheit erreicht wird. Eine weitere Funktion des Erziehungsarrests ist die Besserung durch Erziehung. Die Separierung und Kontrolle ist für die von diesen Maßnahmen Betroffenen kein Selbstzweck. Das Endziel des Erziehungsarrests ist vielmehr die tiefgreifende Veränderung und Korrektur von Bewußtsein und Handlungsmustern der Betroffenen, sodass das extremistische Bewußtsein nach Möglichkeit verringert oder sogar abgelegt wird, um eine Entlassung in der Weise zu ermöglichen, dass Wiederholungstaten ausgeschlossen sind und eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft ermöglicht wird. Um dieses Ziel zu erreichen ist es notwendig, dass gegenüber Personen, welche in den Erziehungsarrest eingewiesen werden, im Verlauf desselben von der durchführenden Institution konkrete und effektive Maßnahmen ergriffen werden, welche die Gefährlichkeit mindern und welche erneute VerbreRechtsstaates«,in: Johannes Kaspar (Hrsg.), Sicherungsverwahrung 2.0?, Nomos Verlag, 2017, S. 250–270.
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chen in der Zukunft verhindern. Es sind also Maßnahmen notwendig, welche Bewußtsein und Psyche ändern, welche religiöse Führung geben und welche berufliche Fähigkeiten entwickeln. Die Besserungsfunktionen der Strafvollstreckungsbehörden werden also verlängert, Erziehung und Bewußtseinsförderung der Personen in Erziehungsarrest werden fortgesetzt, die antisoziale Haltung der Betroffenen wird abgebaut, die falschen Vorstellungen des religiösen Extremismus werden umgehend berichtigt. Diese Maßnahmen sollen der Aufgabe fanatisch-religiösen Gedankenguts dienen, so dass Gedankengut und Handlungsmuster sich allmählich in den gesellschaftlichen Mainstream einordnen.
II.
Der internationale gesetzgeberische Hintergrund des Erziehungsarrests
Bei den oftmals vorkommenden gewalttätigen und terroristischen Verbrechen zeigen die Täter terroristischer und extremistischer Verbrechen meist starke Merkmale einer antisozialen, inhumanen Persönlichkeit, wobei eben diese Eigenschaften der antisozialen und inhumanen Persönlichkeit wiederum ein wichtiger Faktor sind, der zu Wiederholungstaten führt. Unter der Voraussetzung, dass sich Gedanken und Handlungsmuster noch nicht vollständig gebessert haben, eine Entlassung zu verfügen wäre gleichbedeutend mit einer Gefährdung der gesellschaftlichen Sicherheit. Wie man diese Gefahr verhindern und diese Verbrecher kontrollieren soll, wie man diesen zukünftig stattfindenden Verbrechen präventiv begegnen soll, ist ein Problem, das dringend einer Lösung bedarf. In der momentan prekären Situation des chinesischen AntiTerrorismus ist die Verhängung eines weitergehenden Erziehungsarrests bei Tätern, welche nach Verbüßung ihrer Strafe weiterhin über die Merkmale einer antisozialen und inhumanen Persönlichkeit verfügen, eine Entscheidung, die auf Grund des Wertstrebens nach Sicherheit notwendig ist. Diese Wertentscheidung wird auch von diversen Gesetzen und Urteilen im Ausland geteilt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gab es verschiedene Staaten, die dem Problem, dass Täter aus dem Gefängnis oder aus der psychiatrischen Klinik entlassen werden, nur um als Wiederholungstäter abermals schwere Gewaltverbrechen zu begehen, versuchsweise mit einer Sondergesetzgebung begegneten. Das deutsche Strafrechtssystem entschied sich in der Gesetzgebung für ein zweigleisiges System aus Strafe und Maßnahmen der Sicherung und Besserung. Dabei wird die Sicherungsverwahrung bei bestimmten Tätern, welche nach einer längeren Haftstrafe immernoch einen Hang zu schweren Verbrechen aufweisen und bei denen die akute Gefahr einer Wiederholungstat besteht, nach Verbüßen der Freiheitsstrafe angeordnet, um auf diese Weise die gesellschaftliche Sicher-
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heit zu schützen. Die Person wird also von der Gesellschaft getrent. Das Ziel der deutschen Sicherungsverwahrung ist demnach ebenso die Prävention von Verbrechen, die möglicherweise in Zukunft Rechtsgüter verletzen. Das Mittel, mit dem dieses Ziel erreicht wird, ist die Trennung des vormaligen Täters von der Gesellschaft und damit eine Beschränkung der persönlichen Freiheit. In Frankreich bestimmt das Gesetz zum Sicherungsarrest und zur Sicherungsüberwachung (保安拘留和保安监控法)3, dass Täter, die bestimmte schwere Straftaten begangen haben, die deswegen zu mindestens 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurden, und bei denen weiterhin eine hohe Gefahr besteht, dass sie Wiederholungstaten ausführen, nach Verbüßung ihrer Strafe weiter mit der Maßnahme des Sicherheitsarrests belegt werden können. Sie werden daraufhin in »sozio-medizinisch-forensischen Zentren« (社会医疗司法保安中心)4 festgehalten, wo sie medizinische und psycho-soziale Betreuung erhalten.5 Einige der Staaten, die sich für ein eingleisiges Sanktionensystem entschieden haben, integrieren das Potential des Täters zu Wiederholungstaten in die Beurteilung des strafrechtlichen Sanktionensystems. Üblicherweise greifen sie zum Mittel der Verlängerung des Freiheitsentzugs bei Tätern, welche hochgefährlich sind und lösen auf diese Weise das Problem von Gewohnheitsverbrechern. In den USA bestimmt das »Three Strikes Law« (三振出局法)6, dass Täter bei mehrfachen schweren Verbrechen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, um dadurch die Sicherheit der Gesellschaft zu wahren. Im konkreten Fall heißt das, dass die Justizbehörden bei Tätern, die mehr als zwei Mal wegen schweren Verbrechen verurteilt wurden und die immer noch ein hohes Gefährdungspotential besitzen, die Dauer der Freiheitsstrafe verlängern, um sie dadurch von der Gesellschaft zu isolieren. Bei besonders schwerwiegenden Verbrechen kann eine lebenslange Festsetzung verhängt werden, um dadurch ein maximales Maß an Prävention und Kontrolle von Verbrechen zu errreichen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich im zweigleisigen System um eine Isolation mit erzieherischen Maßnahmen handelt, oder ob es sich im eingleisigen System um eine Verlängerung der Freiheitsstrafe handelt; beide Systeme haben zumeist einen gemeinsamen Nenner darin, dass das hauptsächliche Ziel in der Besserung des Täters liegt, sodass sich die Verhinderung einer zukünftigen Möglichkeit zur Verübung von schwe3 Décret n° 2008-361 du 16 avril 2008 relatif notamment aux décisions d’irresponsabilité pénale pour cause de trouble mental, NOR: JUSD0806359D, Version consolidée au 29 janvier 2019. 4 Centre socio-médico-judiciaire de sûreté. 5 ZHANG Yaping (张亚平), Die Überwachung von Straftätern außerhalb des Gefängnisses in Frankreich (法国犯罪人狱外监控), in: Chinese Criminal Law Journal (中国刑事法杂志), 2011, Nr. 4, S. 126. 6 Vgl. 1032. Sentencing Enhancement – »Three Strikes« Law, www.justice.gov/jm/criminalresource-manual-1032-sentencing-enhancement-three-strikes-law, zuletzt aufgerufen am 29. 01. 2019.
Der Erziehungsarrest in der chinesischen Anti-Terrorismus-Gesetzgebung
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ren Verbrechen bei Tätern, die keine oder nur sehr schwer eine Besserung versprechen und die bereits schwerste Verbrechen verübt haben, im Rahmen der sanktionierten Schuld abspielt. Hierdurch wird dann der Effekt der Prävention und Repression zukünftiger Verbrechen erreicht. Hierdurch wird auch der Schutz der Gesellschaft vor einer Verletzung durch gefährliche Täter erreicht. Die oben angeführte Gesetzgebung hat sich in ihren Sanktionen üblicherweise gegen Verbrecher und psychisch Kranke gerichtet, deren Taten im Bereich des Sexualstrafrechts, des gewohnheitsmäßigen Verbrechens und schwerer Gewaltverbrechen liegen und die nur schwer zu bessern sind. Terroristische und extremistische Verbrechen waren nicht in der Zielvorstellung dieser Gesetzgebung. Seit den 1990er Jahren haben viele Staaten unter dem Eindruck eines global zunehmenden Terrorismus ihre entsprechenden Gesetze sukzessive verstärkt, um dadurch terroristischen Verbrechen repressiv zu begegnen. Großbritannien hat im Jahr 2001 das Sicherheitsgesetz gegen Terrorismus und terroristische Verbrechen (反恐怖主义、犯罪和安全法) verabschiedet, in welchem bestimmt ist, dass des Terrorismus verdächtige Personen unbegrenzt in Untersuchungshaft gehalten werden können. Dieses Gesetz wurde später wieder außer Kraft gesetzt, weil es gegen die europäische Menschenrechtscharta verstößt. In der Folge schuf das Gesetz zur Prävention von Terrorismus (预防恐怖主义 法) von 20057 die Institution eines Kontrollbefehls (控制令)8 mit dem Täter, die im Verdacht terroristischer Aktivitäten sind, eine ganze Reihe von einschränkenden Pflichten auferlegt werden können, um dadurch die persönliche Freiheit einzuschränken. Dies beinhaltet Mittel zur Einschränkung der Kommunikations- und der Bewegungsfreiheit, wobei das Ziel der Schutz der Bevölkerung vor terroristischer Gefährdung ist. In den USA wurde neben dem Three Strikes Law verfügt, dass Personen, welche wiederholt schwere terroristische Verbrechen verüben, mit lebenslänglichem Freiheitsentzug sanktioniert werden können. Dabei soll die exemplarische Sanktionierung weniger die Furcht der Bevölkerung vor gewalttätigen terroristischen Verbrechen verringern. »Amendment and empowerment to the patriot act« (爱国者法增补及再授权法) aus dem Jahr 2005 hat dem Richter zusätzlich erlaubt, dass er gegenüber Verbrechern, welche wegen terroristischer Verbrechen für schuldig befunden wurden, auf eine lebenslängliche oder beliebig befristete Überwachung nach Verbüßung einer Haftstrafe erkennen kann. Im Rahmen dieser Entscheidung ist eine Prüfung, ob die entsprechende Person weiter schweren Schaden verübt, nicht notwendig.9 Im April 7 Prevention of Terrorism Act 2005 (repealed), https://www.legislation.gov.uk/ukpga/2005/2/ contents, zuletzt aufgerufen am 29. 01. 2019. 8 Control order. 9 LIU Tao (刘涛), Vorstellung und Kritik des Patriot Act (2005) und seiner Veränderungen in den USA (2005年美国爱国者法修改与再授权法介评), in: Chinese Procuratorate Academy Journal (国家检察官学院学报), 2008, Nr. 4, S. 30.
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2016 hat die australische Regierung ein neues Gesetz verabschiedet, wonach bei hochgradig gefährlichen Terroristen, bei denen nach Verbüßung der ursprünglichen Haftstrafe aufgrund psychologischer Gutachten festgestellt wird, dass sie nach wie vor eine Gefährdung der Gesellschaft darstellen, auch nach der Haftstrafe ein Arrest als rein präventive Maßnahme verhängt werden kann. In der Schweiz kann bei Personen, die nach Ableisten der Freiheitsstrafe ihre »Freiheit« wiedererlangt haben, eine elektronische Überwachung durch die Sicherheitsbehörden verhängt werden, wenn der begründete Verdacht besteht, dass von diesen eine Gefahr für die staatliche Sicherheit ausgeht. Aus den oben angeführten gesetzlichen Bestimmungen verschiedener Staaten ist ersichtlich, dass die Mittel eines präventiven Arrests oder eines nach der Entlassung zeitlich begrenzten oder sogar eines unbefristeten Systems der Überwachung in diesen Staaten dem Ziel dient, potentielle Wiederholungstaten von Verbrechern streng zu unterbinden. Bei all diesen Mitteln wird deutlich, wie der Wert der Freiheit unter dem Eindruck des Anti-Terrorismus gegenüber den Sicherheitsinteressen in angemessener Weise zurückgenommen wurde. Die Gesetzgebungsbeispiele dieser Staaten und die in ihnen zum Ausdruck kommenden Werte hatten gedanklichen Modellcharakter bei der Formulierung des Erziehungsarrests im Rahmen des chinesischen Anti-Terrorismus-Gesetzes.
III.
Die gesetzgeberische Vervollkommnung des chinesischen Erziehungsarrests
1.
Klärung der Anwendungsvoraussetzungen des Erziehungsarrests
Der Zwangscharakter, der dem Erziehungsarrest genuin innewohnt, wirkt sich für den von dieser Maßnahme Betroffenen als Übel aus, das dem der Strafe ähnlich ist, denn die persönliche Freiheit wird beschränkt, das Bewußtsein wird unter Druck gesetzt usw. Wenn also der Anwendungsbereich dieser Maßnahme nicht restriktiv gehandhabt wird, dann verstößt dies gegen den modernen Gedanken menschenrechtlicher Garantien. Der Staat darf nicht im Versuch, beim Kampf gegen terroristische Verbrechen rechtliche und gesellschaftliche Folgen zu erreichen, die staatliche Macht willkürlich einsetzen. Der Erziehungsarrest darf daher nur unter bestimmten Voraussetzungen verhängt werden.
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1)
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Voraussetzungen bei der strafrechtlichen Tathandlung (罪行条件)
Eine Voraussetzung für die Verhängung von Erziehungsarrest ist die tatsächliche Verwirklichung von terroristischen und extremistischen Verbrechen. Wenn es keine tatsächliche Verbrechenshandlung gibt, dann darf kein Erziehungsarrest verhängt werden. Wenn in diesem Zusammenhang von terroristischen und extremisitschen Verbrechen die Rede ist, dann handelt es sich um Straftatbestände, welche im Strafgesetzbuch (刑法) und im Anti-Terrorismus-Gesetz (反恐怖主义 法) als terroristische bzw. extremistische Verbrechen bestimmt sind, weiterhin gehören dazu laut Strafgesetzbuch Verbrechen, die aus politischen oder ideologischen Motiven heraus begangen werden, die terroristischen Charakter haben und die die Gesellschaft schwer gefährden. 2)
Voraussetzungen bei der strafrechtlichen Schuld (罪责条件)
Weiterhin muss der Täter wegen terroristischer Verbrechen mindestens zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sein; in der Freiheitsstrafe sind enthalten zeitige Freiheitsstrafe, unbefristete Freiheitsstrafe und Todesstrafe, deren Vollzug für zwei Jahre ausgesetzt wird und die danach im zeitige Freiheitsstrafe umgewandelt wird. Die schwere der Schuld drückt sich in der schwere der Strafe aus und reflektiert den tatsächlichen Grad der Gefährlichkeit terroristischer bzw. extremistischer Täter. Gleichzeitig ist die Strafe, die ein Verbrecher verbüßt, in Faktor, mit dem die Gefahr einer Wiederholungstat im Vorhinein mit beurteilt wird. Ein Unterschied zum Three Strikes Law in den USA oder zur Sicherungsverwahrung in Deutschland ist es beim Erziehungarrest nicht notwendig, dass der Täter die Voraussetzung eines »Gewohnheitsverbrechers« oder eines »Wiederholungstäters« erfüllt. 3)
Subjektive Voraussetzungen (主观条件)
Die Voraussetzung der Sozialgefährlichkeit bezeichnet die Möglichkeit und Valenz, dass ein Täter abermals ein Verbrechen begeht, das die Sicherheit von Staat, Gesellschaft und öffentlicher Ordnung gefährdet. Wenn hier von Sozialgefährlichkeit die Rede ist, dann ist damit nicht die Möglichkeit und Gefahr gemeint, dass der Täter in Zukunft ein Verbrechen allgemeiner Natur verübt, sondern dass es die reale Möglichkeit gibt, dass der Täter erneut ein terroristisches oder extremistisches Verbrechen begeht.10 Gleichzeitig bezieht sich die Sozialgefähr10 Diese Abgrenzung der Sozialgefährlichkeit entspricht der Einordnung, welche das achte Strafrechtsänderungsgesetz (刑法修正案八) in Bezug auf terroristische Wiederholungstäter getroffen hat; demnach müssen das vorausgehende und das nachfolgende Verbrechen des Wiederholungstäters zum selben Verbrechenstyp gehören.
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lichkeit nicht lediglich auf eine potentielle Gefährdung oder auf die Gefährdung in Form einer allgemeinen Möglichkeit, sondern muss auf einer qualifizierten Prognose beruhen, welche zu dem Schluss kommt, dass die Möglichkeit aktuell und realistisch ist, sodass einzig die Einweisung in den Erziehungsarrest als Möglichkeit bleibt, die Gefährdung der Gesellschaft zu verhindern. Nur unter diesen Voraussetzungen kann gegenüber den Betroffenen die Maßnahme des Erziehungsarrests ergriffen werden. Wenn nur die Tatsache einer bestimmten Straftat existiert, es jedoch keine geselleschaftliche Gefährdung gibt, dann ist die Verhängung des Erziehungsarrests unzulässig. Man kann daher sagen, dass das Vorhandensein der Sozialgefährlichkeit die Schlüsselvoraussetzung für die Anwendung des Erziehungsarrests darstellt.
2.
Strenges prozessuales Verfahren beim Erziehungarrest
In der Gesetzgebung gegen den Terrorismus sind gesetzlich bestimmte Verfahren sowohl der Grund als auch die Grenze der Machtausübung staatlicher Behörden und von deren Vertretern; gleichzeitig ist es eine wichtige Schutzmaßnahme dagegen, dass im Rahmen des Anti-Terrorismus gegen Menschenrechte verstoßen wird. Daraus ergibt sich die Forderung, dass bereits bei der Gesetzgebung das Verfahren der Anwendung des Erziehungsarrests in eindeutiger und konkreter Weise bestimmt werden muss, um dadurch Legalität und Legitimität dieser Institution zu garantieren.
1)
Antrag auf Erziehungsarrest
Nach den Bestimmungen des Anti-Terrorismus-Gesetzes sind das Gefängnis bzw. das Untersuchungsgefängnis diejenige Institution, welche die Sozialgefährlichkeit von Verbrechern feststellt; sie sind auch das Subjekt, das die Kompetenz zum Antrag auf Erziehungsarrest innehat. Weil das Gefängnis und das Untersuchungsgefängnis getrennt jeweils gegenüber Tätern, welche zu Freitheitsstrafe verurteilt sind bzw. welche eine Reststrafe von unter drei Monaten zu verbüßen haben, eine etwaige Sozialgefährlichkeit festzustellen haben, vereinigen sie die Meinungen der Institutionen, welche aktuell mit dem jeweiligen Fall direkt befasst sind und welche ursprünglich mit den Ermittlungen im jeweiligen Fall befasst waren. Sie können daher aufgrund ihres tiefgreifenden Verständnisses über die Einbettung in Familie, Gesellschaft und direktes Lebensumfeld eine Gesamtanalyse erstellen. Wenn nach Gefährlichkeitsanalyse und -prognose auch nach verbüßter Strafe, die wegen terroristischer oder extremistischer Verbrechen abzuleisten war, eine sehr hohe Wiederholungsgefahr droht, sollen Gefängnis
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und Untersuchungsgefängnis rechtzeitig vor endgültiger Ableistung der Strafe einen Antrag auf Verhängung von Erziehungsarrest stellen.
2)
Entscheidung über den Erziehungsarrest
Das Anti-Terrorismus-Gesetz bestimmt, dass die Entscheidung über Verhängung und Aufhebung von Erziehungsarrest von dem für den Durchführungsort desselben zuständigen mittleren Volksgericht nach vorheriger Prüfung in Form eines Beschlusses gefällt wird. Das Gericht soll auf Grundlage des Verbrechens und der Strafe, welche der im Vollzug befindliche Täter begangen hat bzw. welche gegen ihn erkannt wurde, und im Einklag mit dem Ergebnis der Prognose über die Sozialgefährlichkeit den Einzelfall untersuchen, um dadurch insbesondere zu einer Einschätzung der Frage zu kommen, wie wahrscheinlich es ist, dass der sich im Vollzug befindliche Straftäter in Zukunft rückfällig wird. Sollte es notwendig sein, können die Gutachter als Experten vor Gericht eine Zeugenaussage hinsichtlich der Grundlagen, des Vorgehens und der Prognose der Beurteilung machen. Nachdem diese Aussage Gegenstand einer gerichtlichen Auseinandersetzung mit der Verteidigung war, trifft das Gericht im anhängigen Fall des sich im Strafvollzug befindenden Verbrechers eine passende Entscheidung über die konkrete Verhängung des Erziehungsarrests bzw. über dessen Aufhebung.
3)
Ausführung (实施) des Erziehungsarrests
Nach den Bestimmungen des Anti-Terrorismus-Gesetzes sind Regierungen in Provinzrang für Organisation und Ausführung des Erziehungsarrests zuständig. Dadurch, dass Organisation und Ausführung durch die Provinzregierungen erfolgt, kann eine bessere Aufsicht und Kontrolle ausgeübt werden und es wird garantiert, dass die öffentliche Macht effektiv ausgeübt wird. Gleichzeitig wird garantiert, dass die gesetzlichen Rechte und Interessen der Personen, die sich in Erziehungsarrest befinden, nicht verletzt werden. Dazu ist es dadurch möglich, alle relvanten Behörden in die Arbeit einzubeziehen, um dadurch zu einem koordinierten Ansatz in der Erziehungsarbeit zu gelangen und so eine optimale Wirkung von Erziehung und Resozialisierung zu erreichen. Die konkrete Arbeit des Erziehungsarrests wird von der entsprechenden Behörde für Erziehungsarrest durchgeführt. So wird etwa in § 42 der Ausführungsbestimmungen der Autonomen Provinz Xinjiang zum Anti-Terrorismus-Gesetz der VR China (新疆 维吾尔自治区实施〈中华人民共和国反恐怖主义法〉办法) bestimmt, dass die Justizverwaltungsbehörde des Autonomen Gebiets für den Erziehungsarrest von Personen zuständig ist, die nach Verbüßung von Haftstrafe für terroristische oder extremistische Tätigkeiten aus dem Gefängnis entlassen werden, sie versieht
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auch die Arbeiten der Planung, der Errichtung und des täglichen Mangements der entsprechenden Einrichtungen.11 4)
Durchführung (执行) des Erziehungsarrests
Der Erziehungsarrest ist eine sinnvolle Ergänzung der Strafe. Weil der Grad der Sozialgefährlichkeit der Straftäter, welche sich im Strafvollzug befinden, unterschiedlich ist, sind auch die konkreten Maßnahmen im Erziehungsarrest unterschiedlich. Dabei wird je nach durchzuführenden Maßnahmen ein anderer Ort und andere Mittel bestimmt, was der unterschiedlichen Behandlung der Personen, welche sich im Erziehungsarrest befinden, dienlich ist. Dazu kann dadurch eher ein guter Erfolg der entsprechenden Maßnahmen garantiert werden. Im konkreten Einzelfall sind Gefängnisse, Unteruchungsgefängnisse und die Bewährungshilfe, in Einzelfällen sogar die Polizeibehörden, in die Durchführung des Erziehungsarrests involviert.12 Anders ausgedrückt befindet sich die Durchführung des Erziehungsarrests in der Überschneidung von Strafrecht, Strafvollzugsrecht und Polizeirecht. 5)
Fristen (期限) des Erziehungsarrests
Obwohl terroristische und extremistische Verbrecher typischerweise eine antisoziale und inhumane Persönlichkeitsstörung aufweisen, so ist der Erzieungsarrest doch auf einer Prognose der zukünftigen Gefährlichkeit und dem gesellschaftlichen Schutzbedürfnis gegründet. Man kann also nicht mit der Ausrede einer Persönlichkeitsstörung die betroffenen Personen einfach unbegrenzt wegschließen, sondern muss die Garantie ihrer Rechte ernst nehmen. Wenn in einer erneuten Gefährlichkeitsprüfung deutlich wird, dass es zu einer Umkehr im Denken gekommen ist und keine weitere Sozialgefährlichkeit besteht, dann muss das Gericht den Erziehungsarrest umgehend auflösen. Wie dabei die Durchführungsfristen bemessen sein sollen, das muss nach dem Prinzip der Angemessenheit ermittelt werden; die Dauer des Erziehungsarrests muss also der Sozialgefährlichkeit der terroristischen bzw. der extremistischen Täter angemessen sein. Das System der deutschen Sicherungsverwahrung war lange Zeit 11 Die Ausführung zum »Gesetz gegen Terrorismus der VR China« tritt in dem Autonomen Gebiet Xinjiang in Kraft (新疆维吾尔自治区实施《中华人民共和国反恐怖主义法》办 法), Xinjiang Zeitung (chin.) (新疆日报 (汉)), 1. 8. 2016. 12 Nach den »Bestimmungen zur Verwaltung wichtiger Personengruppen« (重点人口管理规 定) des chinesischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit (中国公安部) von 2007 werden Personen, welche terroristische oder extremistische Verbrechen begangen haben, unter der Rubrik wichtige Personengruppen geführt, um dadurch zu verhindern, dass diese Individuen, welche ein extremes Rückfallrisiko aufweisen, erneut Straftaten begehen.
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wegen seiner Beschränkung der persönlichen Freiheit und seiner relativ unbestimmten Fristen in der Kritik, ja es war sogar vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als ein Verstoß gegen die europäische Grundrechtecharta gewertet worden.13 Um eine ähnliche Kritik des chinesischen Erziehungsarrests für die Zukunft zu vermeiden, sollte der Gesetzgeber eindeutige Fristen für den Erziehungsarrest festsetzen.
3.
Verstärkung der Überwachung des Erziehungsarrests und des Rechtswegs
1)
Verstärkung der Überwachungskompetenzen des Volksprokurats
Das Volksprokurat14 beaufsichtigt die Durchführung des Erziehungsarrests. Ziel dabei ist es, durch das Entdecken von Problemen in der Entscheidung über und der Durchführung von Erziehungsarrest diese zu korrigieren, um dadurch die gesetzliche, regelkonforme, effiziente Durchführung des Erziehungsarrests zu befördern. Nach den einschlägigen Bestimmungen des Anti-Terrorismus-Gesetzes zeigt sich die Überwachung durch das Volksprokurat insbesondere auf zwei Ebenen: zum einen werden Antrag und Entscheidungsverfahren des Erziehungsarrests kontrolliert. Das umfasst auch das Verfahren, das dem Antrag auf Erziehungsarrest innerhalb des Gefängnisses bzw. des Untersuchungsgefängnisses vorausgeht. Ebenso umfasst es den Entscheidungsprozess des Gerichts, an dessen Ende die Entscheidung für oder gegen Erziehungsarrest steht. Die Methode der synchronen Kontrolle durch das Volksprokurat bewirkt, dass die Kontrolle des Erziehungsarrests auf die Abschnitte des Antrags- und Entscheidungsverfahren vorverlagert wird. Das frühzeitige Einsetzen der Kontrolle soll garantieren, dass diese umfassend und tiefgreifend ist. Zum anderen findet eine Kontrolle der Durchführung des Erziehungsarrests statt. Dabei wird auch kontrolliert, ob die für den Erziehungsarrest zuständige Behörde ihrem Auftrag zur Unterbringung und Erziehung auch gerecht wird, ob sie nach Gesetz umgehend beurteilt, wie sich die Untergebrachten Personen verändern, ob die gesetzlichen Rechte und Interessen der Personen, die sich in Erziehungsarrest befinden, widerrechtlich verletzt werden. Das Volksprokurat erfüllt also seine 13 Siehe JIANG Su (江溯), Vom formalen zum materiellen Begriff der Strafe: eine Kritik des Falls M vs Deutschland (2009) im europäischen Menschenrecht (从形式主义的刑罚概念到实质 主义的刑罚概念:评欧洲人权法院2009年M诉德国案), Juristische Epoche (时代法学), 2012, Nr. 4, S. 97. 14 Auch wenn die Behörde, die von chinesischen Quellen meist als Volksprokurat übersetzt wird, in vielen Dingen der deutschen Staatsanwaltschaft ähnlich ist, hat sie dennoch Aufgaben, die weit über das Strafrecht hinausreichen und die daher den Unterschied in der Bezeichnung rechtfertigen, um unnötige Missverständnisse zu vermeiden (Anmerkung des Übersetzers).
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gesetzliche Pflicht zur Überwachung des Erziehungsarrests dadurch, dass es den Verlauf der Durchführung des Erziehungsarrests kontrolliert, was eine effiziente und zeitnahe Kontrolle befördert. 2)
Rechtliche Garantie der Rechtshilfe für Personen, welche von Erziehungsarrest betroffen sind
Da es sich beim Erziehungsarrest um eine Zwangsmaßnahme handelt, werden dadurch sowohl Menschenrechte als auch andere Rechte beschränkt oder sogar ganz unterbunden. Eine übermäßige Ausweitung der öffentlichen Macht soll eingegrenzt werden, um Willkür im Rahmen des Erziehungsarrests zu verhindern und auf diese Weise auszuschliessen, dass gesetzlich verbürgte Rechte von Bürgern verletzt werden. Hierzu bestimmt das Anti-Terrorismus-Gesetz, dass Personen, die der Verhängung von Erziehungsarrest nicht zustimmen, einen Widerspruch beim Volksgericht der nächst höheren Instanz einlegen können. Es gibt also einen Rechtsweg, der sich auf Basis einer eindeutigen Zuordnung von Rechten abspielt. Der Rechtsweg, durch welchen Personen, gegen welche auf Erziehungsarrest erkannt wird, ihre Rechte einklagen können, ist also vom Gesetzgeber als rechtliches Verfahren bestimmt, bei dem auch die endgültige Entscheidung von den Gerichten gefällt wird. Das wirkt sich positiv für die Garantie der Rechte der von Erziehungsarrest Betroffenen aus, gleichzeitig garantiert es, dass die Entscheidung über den Erziehungsarrest den gesetzlichen Bestimmungen genügt.
4.
Klärung von Fragen bezüglich der Rückwirkung von Erziehungsarrest
Bei der Frage, ob Maßnahmen der Besserung und Sicherung rückwirkend angewandt werden können, gibt es in den meisten Staaten sowohl anerkennende wie auch ablehnende Stimmen. So ist z. B. im italienischen Strafrecht bestimmt, dass »Maßnahmen der Besserung und Sicherung im Moment ihrer Durchführung Gesetzesänderungen anwenden«. Die chinesische Institution des Erziehungsarrests ist von der Strafe verschieden, sie ist daher eine zusätzliche Maßnahme, die erst nach Verbüßung der Strafe zur Anwendung kommt und die sich nicht an der Schuld des Verbrechers für vergangene Taten orientiert. Was entscheidend ist, ist die Tatsache, dass der Täter zum Zeitpunkt, an dem er seine Strafe verbüßt hat, nach wie vor eine schwere Sozialgefährlichkeit aufweist. Trotzdem erfüllt der Erziehungsarrest genauso das Merkmal, dass er dem Täter seine persönliche Freiheit nimmt, wie dies die Freiheitsstrafe tut. Bei der Entscheidung, ob Erziehungsarrest verhängt wird, sollte daher das Recht des Handlungszeitpunkts gelten, um auf diese Weise die Menschenrechte effektiv zu
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schützen. In der Frage des Erziehungsarrests, wie er im Anti-Terrorimus-Gesetz bestimmt ist, sollte es daher keine Rückwirkung geben. Konkret heißt das, dass eine Person, die vor in Kraft treten des Anti-Terrorismus-Gesetzes im Jahr 2016 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde und die nach 2016 ihre Gefängnisstrafe, die wegen terroristischer oder extremistischer Verbrechen verhängt wurde, verbüßt hat, nicht nach dem gesetzgeberischen Geist des Anti-Terrorismus-Gesetzes in Erziehungsarrest eingewiesen werden kann.
IV.
Konkrete Ausgestaltung der Institution des Erziehungsarrests in China
1.
Erstellung eines Beurteilungssystems, welches die Sozialgefährlichkeit bei Erziehungsarrest feststellt
Die terroristischen und extremistischen Verbrechen, mit denen sich China zurzeit konfrontiert sieht, gründen sich auf Gewalt und einer antisozialen Persönlichkeit, darüber hinaus sind sie gekennzeichnet von einem extremen Sezessionismus, von ethnischem Nationalismus und religiösem Fanatismus. Sind diese extremistischen Gedanken erst einmal entstanden, dann sind sie meist sehr fest verankert und leben innerhalb des Vollzugs der Besserungsmaßnahmen immer wieder auf. Wenn daher bei terroristischen und extremistischen Verbrechern eine Beurteilung des Gefährdungspotentials erstellt wird, dann soll dadurch während des Strafvollzugs und während des Vollzugs von Maßnahmen der Besserung eine umfassende, bessere und wissenschaftliche Einschätzung über Veränderungen in der Sozialgefährlichkeit erreicht werden. Dazu soll auf Grund des Ergebnisses dieser Einschätzung ein gezielter Maßregelvollzug ermöglicht werden. 1)
Abgrenzung der Einschätzung der Sozialgefährlichkeit im chinesischen »Anti-Terrorismus-Gesetz«
Die wichtigste Voraussetzung für den Erziehungsarrest ist die »Sozialgefährlichkeit«, wobei das Strafrecht in jedem Land eine andere Meinung dazu hat, was denn nun Sozialgefährlichkeit eigentlich sei. In Kanada bezeichnet Sozialgefährlichkeit die Schwere der Gefährdung und die hohe Wahrschenlichkeit, dass diese Gefahr sich manifestiert. In Italien bezeichnet die Sozialgefährlichkeit die Möglichkeit, dass ein Verbrechen wiederholt ausgeführt wird. In Deutschland bezeichnet die Sozialgfährlichkeit die hohe Wahrscheinlichkeit, dass eine widerrechtliche Tat, welche die Allgemeinheit schwer schädigt, abermals ausgeführt
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wird. Auch der Kollege ZHANG Mingkai ist der Auffassung, dass Sozialgefährlichkeit die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit des Täters, eine widerrechtliche Handlung zu verüben, bezeichnet.15 Wenn man die vorstehenden Meinungen zusammenfasst, dann kommt man zu dem Schluss, dass es sich bei Sozialgefährlichkeit im Wesentlichen um die Möglichkeit einer Wiederholungstat handelt. Im Rahmen des Anti-Terrorismus-Gesetzes bezeichnet Sozialgefährlichkeit die Möglichkeit, dass nach verbüßen einer Freiheitsstrafe, die wegen terroristischer oder extremistischer Verbrechen verhängt wurde, wiederum eine Handlung ausgeführt wird, welche die Gesellschaft schädigt. Weil diejenigen Personen, die eine hohe Wahrscheinlichkeit zur Wiederholungstat aufweisen, am Ende meistens die sind, die tatsächlich eine Wiederholungstat begehen, kann man mit der Kontrolle dieser relativ geringen Zahl an Personen mit hohem Gefährungspotential eine signifikante Verringerung der Häufigkeit erreichen, mit der Verbrechen verübt werden. Deswegen wurde die Beurteilung der Sozialgefährlichkeit sowie die Kontrolle und Verhinderung von Wiederholungstätern zu einem wichtigen Mittel der Prävention und Kontrolle von Wiederholungstaten. Dabei ist die sogenannte Beurteilung der Sozialgefährlichkeit sowohl eine Beurteilung des Erfolgs der Besserungsmaßnahmen, als auch eine Prognose über die Möglichkeit einer abermaligen Verbrechenshandlung bzw. über die Wahrscheinlichkeit, dass solch eine abermals stattfindet, diese Beurteilung vollzieht sich nach bestimmten technischen Verfahren und erfolgt vor Ende einer Freiheitsstrafe, die wegen terroristischer oder extremistischer Straftaten verhängt wurde. Es handelt sich also um eine wissenschaftliche Beurteilung, die eine Entscheidungsgrundlage für die in Zukunft zu ergreifenden Maßnahmen darstellt. Sie ist daher von der Strafe, welche auf einer vorausliegenden Schuld des Täters beruht, verschieden. Der Erziehungsarrest beruht auf der Beurteilung der für die Zukunft zu erwartenden Sozialgefährlichkeit und auf einer zukünftigen Prognose. Der Zustand der Gefährlichkeit eines Verbrechers kann nur durch eine wissenschaftliche Beurteilung und Prognose festgestellt werden. Erst auf Grund dessen kann eine angemessene Unterteilung stattfinden und können korrespondierende Maßnahmen eingeleitet werden, um die Risiken in der Resozialisierung während der Maßnahmen, die im Gefängnis bzw. im Untersuchungsgefängnis mit dem Ziel der Wiedereingliederung durchgeführt werden, zu verringern. Somit ist die Beurteilung der Sozialgefährlichkeit ein wichtiger Schritt, der für die Entscheidung über die zentrale Frage mitbestimmend ist, ob ein Täter, der sich im Strafvollzug befindet, entlassen werden kann und ob er wieder in die Gesellschaft eingegliedert wird.
15 ZHANG Mingkai (张明楷), Grundzüge des ausländischen Strafrechts (外国刑法纲要), Qinghua University Press (清华大学出版社), 1999, S. 449.
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2)
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Klärung der Faktoren, die in die Beurteilung der Sozialgefährlichkeit eingehen, und die Methode zu deren Beurteilung
Obwohl das Anti-Terrorismus-Gesetz Verfahrensbestimmungen zur Klärung der Sozialgefährlichkeit von Verbrechern enthält, trifft es dennoch zu Inhalten und Bewertungsmethoden dieser Beurteilung keine Aussage. Zunächst müssen Prognosefaktoren innerhalb der Gefährlichkeitsbeurteilung ausgewählt werden, sodass diejenigen Kennzeichen, die mit einer möglichen zukünftigen Gefährdung zusammenhängen in den Bereich der Analyse eingeschlossen werden. Konkret beinhaltet dies: (1) die Verbrechenssituation des Täters. Dabei ist zum einen der Ablauf des zurückliegenden Verbrechens zu berücksichtigen, insbesondere muss analysiert werden, ob der Täter in der Vergangenheit an einer terroristischen Vereinigung teilgenommen hat, oder ob er Ausbildung oder Finanzierungvon einer terroristischen Organisation oder von terroristischen Personen erhalten hat. Dazu ist zu berücksichtigen, ob der Täter in der Vergangenheit wegen teroristischer oder wegen extremistischer Verbrechen von den Behörden der Verwaltung oder der Strafjustiz verfolgt wurde. Zum anderen muss betrachtet werden, was für eine Art von Verbrechen dem Täter diesmal zur Last gelegt wird und was für einen Gefährlichkeitsgrad dies besitzt; dies schließt ein: die Art des Verbrechens, die verhängte Strafe, die Frage, ob es sich dabei um eine organisierte terroristische Tat handelt, für den Fall, dass es sich um eine organisierte terroristische oder extermistische Tat handelt, was für eine Stellung und was für eine Funktion der Täter innerhalb der Organisation eingenommen hat. (2) Die Führung, die der Täter im Gefängnis bzw. im Untersuchungsgefängnis zeigt, einschließlich der Situation der Besserung, der Lebenshaltung während der Durchführung der Besserungsmaßnahmen und seine Handlungsmuster, ob er z. B. suizidale Tendenzen zeigt, ob er verdeckt für extremistisches oder terroristisches Gedankengut wirbt etc. (3) Welchen Einfluss wird der Verbrecher nach seiner Entlassung vermutlich auf sein Lebensumfeld ausüben, insbesondere ist zu analysieren, welche Führungsrolle er in seinem Wohnumfeld, seiner Failiensituation, seinem Lebenszusammenhang, seiner Arbeitsfähigkeit, seinen sozialen Kontakte und seinen religiösen Umfeld nach seiner Entlassung ausüben wird und welche Gefährdung hiervon für sein Umfeld ausgeht. Auf dieser Grundlage und durch diese Untersuchung von Risikofaktoren und von deren Einfluß auf eine etwaige Wiederholungstat wird innerhalb des Bewertungssystems eine Risikotabelle erstellt, welche sicherstellen soll, dass die Bewertung der Gefährlichkeit verlässlich und effektiv ist. Weiter muss die Wissenschaftlichkeit der Methode bei der Risikobewertung festgestellt werden. Es gibt viele Methoden der Risikobewertung, so etwa eine stationäre neuromedizinische oder psychologische Untersuchung, eine statistische Bewertung vermittels statistischer Daten und Verfahren, sowie eine orga-
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nische Verbindung aus psychologischer und statistischer Methode. In regionalen chinesischen Gefängnissen wird oftmals eine Gefahrentabelle zur Beurteilung eingesetzt, die auf mehreren Analyseebenen getrennt die einzelnen Gefährlichkeitsfaktoren der sich im Vollzug befindlichen Person bewertet, wie etwa einer Gefährlichkeitsbewertungstabelle, einer Risikobewertungstabelle und einer Tabelle zur psychologischen Prognose. Dabei steht am Ende eine entweder selbst oder durch andere ausgefüllte Tabelle, in der dem sich im Vollzug Befindlichen Noten für eine Gesamtbewertung der Faktoren der Spzialgefährlichkeit vergeben werden. Beispiele hierfür sind etwa die vom Gefängnisamt Shanghai (上海监狱 局) entwickelte »Prognosetabelle zur Verbrechensvalenz« (犯罪可能性预测量 表), die »Tabelle zur Beurteilung der Sozialgefährlichkeit von Verbrechern« (罪 犯人身危险性简评表) und die »vereinfachte Tabelle zur Beurteilung der Wahrscheinlichkeit von Wiederholungstaten von kurz vor der Entlassung aus dem Strafvollzug Stehenden« (对即将出狱者重新犯罪可能的简评表) des Gefängnisamts von Jiangsu (江苏省监狱管理局). Diese Tabellen bedienen sich der Analyse von Zahlen und Tabellen um dadurch das Problem der schwer durchführbaren Bewertung der Sozialgefährlichkeit zu lösen. Trotzdem zeigt sich in diesen Tabellen eine verallgemeinerte statische Bewertung, während die Sozialgefährlichkeit des Verbrechers immer individuelle und dynamische Merkmale aufweist. Deshalb sollten in der Praxis immer die Protokolle derjenigen, welche Aufsicht führen und welche Maßnahmen durchführen, individuelle Gesprächsprotokolle, ja sogar die Vernehmungsprotokolle während der ursprünglichen Ermittlungen herangezogen werden, um mit den Bewertungstabellen gemeinsam zu einer Beurteilung zu führen und um dadurch die Objektivität und die Wissenschaftlichkeit des Bewertungsergebnisses zu erhöhen. Dazu muss die Zeit, in der eine Beurteilung der Sozialgefährlichkeit stattfindet, auf den Erziehungsarrest ausgedehnt werden, um durch eine dynamische und fortgesetzte Untersuchung des ursprünglichen Bewertungsinhalts ein objektives Bewertungsergebnis zu erhalten, das die Veränderung der Sozialgefährlichkeit des Täters reflektiert.
2.
Erstellung eines Instrumentariums zur Gefährlichkeitskontrolle innerhalb des Erziehungsarrests
Der elementare Wert der Gefährlichkeitsanalyse ist die »Markierung der Gefährlichkeit« (标定危险) – also eine Einordnung des Gefährlichkeitsgrades des Verbrechers. Das bildet wiederum die tatsächliche, logische und wissenschaftliche Grundlage für die Gefahrenkontrolle. Hiedurch entsteht eine Garantie für die gesellschaftliche Sicherheit, für die Durchführung der Resozialisierungspo-
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litik und für die Einleitung von Maßnahmen der Besserung.16 Aufgrund der Feststellung relevanter objektiver Beurteilungsfaktoren und der Anwendung wissenschaftlicher Beurteilungsmethoden kann der Grad der Sozialgefährlichkeit des Verbrechers ermittelt werden und somit einen Rahmen für die Entscheidung liefern, wie im weiteren Erziehungsarrest für Verbrecher mit hoher Sozialgefährlichkeit verhängt werden soll. Je nach Risikograd, den die Sozialgefährlichkeit des Täters aufweist, können die Justizbehörden differenzierte Maßnahmen durchführen, die sich je nach schwere der Sozialgefährlichkeit und nach den für die soziale Sicherheit notwendigen konkreten Kontrollmaßnahmen unterscheiden. All das dient der Prävention potentieller Gefahren und errichtet ein »System der Gefahrenkontrolle« (危险管控机制). 1)
Kontrolle bei Personen mittlerer und hoher Gefährdungsstufe
Ergibt die Risikobewertung eine mittlere oder hohe Gefährdungsstufe, sollte eine Einweisung in Gefängnisse oder Gefängnisteile mit unterschiedlichen Sicherheitsstandard erfolgen und eine präventive Verwahrung stattfinden, um dadurch die Möglichkeit zu Wiederholungstaten auszuschließen und die Sicherheit von Gesellschaft und Öffentlichkeit zu gewährleisten. Aufgrund des Unterschiedes im Gefährdungsgrad sollten auch die Sicherungsvorkehrungen unterschiedlich sein. Ebenso sollten sich die eingeleiteten Kontrollmaßnahmen in ihrer Strenge unterscheiden. Diese Art der Sicherungsverwahrung knüpft nicht an die Schuld des Täters an, sondern schränkt die persönliche Freiheit ein, um Verbrechen, »die sich jetzt noch nicht ereignet haben, die sich aber in Zukunft wahrscheinlich ereignen werden« zu verhindern. Deshalb muss sich eine präventive Verwahrung von einer Freiheitsstrafe unterscheiden. Personen, die sich im Erziehungsarrest befinden, sollen mehr »Freiheit« und sollen mehr »Vorteile« zukommen; das beinhaltet besondere Einrichtungen der Verwahrungsanstalt, erweiterte Möglichkeiten freizügige Besuche zu empfangen oder Freizeit zu genießen und Kommunikationsmittel zu verwenden. Dadurch sollen die negativen Folgen der Freiheitsbeschränkung ausgeglichen werden. Auch die Mittel, die zur Besserung eingesetzt werden, sollen sich in ihren Phasen von denen des Vollzugs der Freihehitsstrafe unterscheiden, um dadurch den Betroffenen bei ihrer Resozialisierung zu helfen.17 Trotzdem muss vermieden werden, dass diejenigen, die sich im Erziehungsarrest befinden, ihre extremistischen Gedanken während des Erziehungsarrests weiterverbreiten. Deswegen muss die Kommunikation der Betrof16 ZHAI Zhongdong (翟中东), Strategien zur Vermeidung erneuter Straftaten unter internationalem Blickwinkel (国际视域下的重新犯罪防治政策), Peking University Press (北京大 学出版社), 2010, S. 122. 17 CHEN Zexian (陈泽宪), Erziehungsarrest muss vollständig an rechtsstaatlichen Prinzipien fest halten (安置教育需要全面坚持法治原则), Procurator Daily (检察日报), 27. 10. 2016.
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fenen mit der Außenwelt durch die Vollstreckungsbehörden vollkommen überwacht, kontrolliert und abgehört werden.18 2)
Kontrolle bei Personen geringer Gefährdungsstufe
Ergibt die Risikobewertung eine geringe Gefährlichkeitsstufe, dann bedeutet dies, dass die Sozialgefährlichkeit des Verbrechers nach verbüßter Strafe und den diese begleitenden Maßnahmen zur Besserung bereits stark abgeschwächt ist, sodass der gesetzgeberische Gedanke des »Hausarrest« (监视居住) zur Anwendung kommen kann. Die Person kann also an ihrem Wohnort oder in ihrem sozialen Umfeld untergebracht werden, muss aber Auflagen erfüllen, die bis zu einem gewissen Grade nach wie vor die persönliche Freiheit einschränken. Unter diesen Umständen können Institutionen der Bewährungshilfe, die lokalen Justizund Polizeibehörden, sowie lokale Freiwillige oder Mitbewohner die Verantwortung für die Aufgaben der Kontrolle und Besserung der Personen übernehmen, die in Erziehungsarrest überwiesen werden. Um den präventiven Effekt des Erziehungsarrests und die Sicherheit der Gesellschaft zu garantieren, muss klar bestimmt sein, welche Pflichten die Person, die sich nach wie vor im Erziehungsarrest befindet, während der Zeit desselben in welcher Weise zu erfüllen hat. So etwa die Pflicht, sich zu bestimmten Zeiten bei bestimmten Personen zu melden; das Verbot bestimmte Gegenstände zu besitzen oder zu verwenden; das Verbot, bestimmte Orte aufzusuchen; das Verbot sich bestimmten Personen zu nähern; die Einhaltung von Kontrollbestimmungen usw. In dem Maße, in dem der Erziehungsarrest eine Maßnahme ist, welche die persönliche Freiheit des Täters einschränkt, kann eine elektronische Überwachung (einschließlich eines elektronischen Trackings) oder eine Kommunikationsüberwachung angeordnet werden. Dadurch wird eine effektive Überwachung und Kontrolle derjenigen erreicht, die sich in Erziehungsarrest befinden, um dadurch eine Gefährdung der Gesellschaft zu verhindern. Die Ausweisung des Grades der Sozialgefährlichkeit, der von Personen in Erziehungsarrest ausgeht, erfolgt in der Absicht, angemessene Kontrollmaßnahmen zu ergreifen und durch graduell angepasste Maßnahmen und typisierte Kontrollmechanismen die Gefährlichkeit abzubauen. Dadurch wird verhindert, dass Personen im Erziehungsarrest ausnahmslos gleichbehandelt werden, was wiederum die juristische Effizienz des Erziehungsarrests erhöht. Was hier aber nochmals erklärt werden muss ist die Tatsache, dass sich die Gefahrenkontrolle eines jeden Gefährdungsgrads auf der Basis der Sozialgefährlichkeit des sich im Strafvollzug befindlichen Verbrechers vollzieht. Einhergehend mit der Verän18 LÜ Meichen (吕美琛), Studien zur Besserung terroristischer Straftäter (恐怖主义罪犯矫正 心理学研究), in: Kriminologische Forschung (犯罪研究), 2015, Nr. 6, S. 32.
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derung der Sozialgefährlichkeit werden auch die Maßnahmen zur Kontrolle dieser Gefährlichkeit angepasst.
3.
Errichtung einer Institution zur Besserung innerhalb des Erziehungsarrests
Der Erziehungsarrest sollte mehr sein als nur ein passives Wegsperren, er soll die Menschen, die sich im Erziehungsarrest befinden, durch entsprechende Maßnahmen aktiv bessern und erziehen, um deren Sozialgefährlichkeit von Grund auf zu lösen und das Ziel der Resozialisierung zu verwirklichen. All dies mit dem Ziel, die Prävention von Verbrechen zu erreichen. Aus diesem Grund sollte nach einer aktiven Behandlungsmöglichkeit im Erziehungsarrest gesucht werden, um die »gefährliche Persönlichkeit« des sich in Maßnahmen zur Besserung befindlichen Verbrechers in wissenschaftlicher und vernünftiger Weise zu verändern und zu bessern. Die Institution der Besserung durch Erziehungsarrest realisiert ihr Ziel auf drei unterschiedlichen Ebenen. Die erste Ebene besteht in der gedanklichen Veränderung des sich im Erziehungsarrest befindlichen. Die Reformung der Persönlichkeit ist der Grund einer jeden Veränderung des Individuums. Dazu gehört zunächst das Moment des »Einreißens«, dass der im Erziehungsarrest Befindliche tatsächlich den Fehler des Terrorismus und des Extremismus erkennt, dass er also aus seinem eigenen Inneren den Gedanken der Gewalt und und des Extremismus ablehnt.19 Im Weiteren muss dem im Erziehungsarrest Befindlichen bei einem erneuten »Aufbau« geholfen werden, damit er ein richtiges gedankliches System und eine positive Einstellung zur Gesellschaft entwickeln kann, die von der Verinnerlichung ausgehend sich zunehmend auch auf der äußeren Handlungsebene zeigt. Der Radikalisierungsprozess der meisten terroristischen und extremistischen Täter vollzieht sich zumeist parallel zu einem Missverständnis und einer Fehlinterpretation religiöser Texte. Will man also die Frage der gedanklichen Ideologisierung lösen, muss man in einen religiösen Dialog eintreten und eine religiöse Führung ausüben. Auf einer zweiten Ebene muss eine emotionale und gedankliche Veränderung der sich in Erziehungsarrest Befindlichen erreicht werden. Die Verringerung von Wiederholungstaten ist dabei die Grundlage für eine Neuausrichtung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft. Die emotionale Erziehung ist ein notwendiges Mittel zur Besserung der antisozialen und einseitigen Persönlichkeit derer, die sich in Erziehungsarrest befinden. 19 ZHANG Jinping (张金平), Analyse der »Entradikalisierung« in der Anti-Terrorismus-Strategie von Shard (沙特»去极端化«反恐策略评析), in: Zeitschrift der Polizeiakademie Shandong (山东警察学院学报), 2015 Nr. 3, S. 7.
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Erzieherische Maßnahmen zur Besserung sind untrennbar mit dem Engagement, der Hilfe und dem Konfliktmanagement von Kontrollinstitutionen, Bewährungshilfe, Familien, Wohnvierteln, Psychologen und religiösen Institutionen verbunden. Nur wenn Personen, die sich im Erziehungsarrest befinden spüren, dass ihnen Anerkennung und Anteilnahme zuteilwird, kann die Veränderung von Terroristen und Extremisten gelingen, sodass sie sich aus terroristischen und extremistischen Organisationen lösen und ihr fanatisches Gedankengut ablegen, dass sie sich also erneut in den Mainstream der Gesellschaft eingliedern. Die dritte Ebene konzentriert sich daher auf das Beibringen von beruflichen Fertigkeiten und auf kulturelle Erziehung. Dies hilft den Menschen, die sich im Erziehungsarrest befinden, erneut ein Gefühl für ihre Existenz und für ihre persönliche Wertschätzung zu entwickeln. Sie realisiert also die Umwandlung vom »Verbrecher« in einen »sozialen Menschen«. Nur wenn der Mensch, der sich in einem Maßnahmenprogramm zur Bessserung befindet, seine gefährliche Persönlichkeit ablegt, kann die Gefahr, die von der Person des Verbrechers ausgeht, verringert und das Ziel der Sozialverteidigung realisiert werden.20 Die Gesetzgebung gegen den Terrorismus hat in vielen Ländern dazu geführt, dass ein Preis in Form der Beschneidung von Rechten gezahlt wird. Aber dieser Preis hat eine Grenze, denn der Kampf gegen den Terrorismus darf nicht darin enden, dass »Terror« mit »Terror« bekämpft wird. Obwohl die chinesische Gesetzgebung gegen den Terrorismus momentan eindeutig unter der Tendenz der Dringlichkeit erfolgt, hält sie dennoch am Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit fest; die Förderung und Garantie der Menschenrechte aller Bürger ist nach wie vor das Herzstück des Kampfs gegen den Terrorismus. Nur wenn die Gesetzgebung zum Erziehungsarrest und die Institution zu seiner Durchführung in wissenschaftlicher und normierter Weise erfolgen, kann dadurch garantiert werden, dass die ausführenden Behörden die Macht zur Bekämpfung des Terrorismus in rechtsmäßiger Weise ausüben und auf diese Weise den Terrorismus effektiv aufhalten und abwehren.
Literatur CHEN, Zexian (陈泽宪), Erziehungsarrest muss vollständig an rechtsstaatlichen Prinzipien fest halten (安置教育需要全面坚持法治原则), Procurator Daily (检察日报), 27. 10. 2016.
20 HAN Xiao (韩啸), Einführung in die Theorie der Maßregeln der italienischen positivistischen Schule (意大利实证学派保安处分理论初探), in: Zeitschrift der Polizeiakademie Shandong (山东警察学院学报), 2015 Nr. 4, S. 82.
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HAN, Xiao (韩啸), Einführung in die Theorie der Maßregeln der italienischen positivistischen Schule (意大利实证学派保安处分理论初探), in: Zeitschrift der Polizeiakademie Shandong (山东警察学院学报), 2015 Nr. 4, S. 81–87. JIANG, Su (江溯), Vom formalen zum materiellen Begriff der Strafe: eine Kritik des Falls M vs Deutschland (2009) im europäischen Menschenrecht (从形式主义的刑罚概念到实 质主义的刑罚概念:评欧洲人权法院2009年M诉德国案), Juristische Epoche (时代 法学), 2012, Nr. 4, S. 96–103. JIANG, Su, »Massregeln der Besserung und Sicherung im chinesischen Recht aus der Sicht des Rechtsstaates«,in: Johannes Kaspar (Hrsg.), Sicherungsverwahrung 2.0?, Nomos Verlag, 2017, S. 250–270. LIU, Tao (刘涛), Vorstellung und Kritik des Patriot Act (2005) und seiner Veränderungen in den USA (2005年美国爱国者法修改与再授权法介评), in: Chinese Procuratorate Academy Journal (国家检察官学院学报), 2008, Nr. 4, S. 28–33. LÜ, Meichen (吕美琛), Studien zur Besserung terroristischer Straftäter (恐怖主义罪犯矫 正心理学研究), in: Kriminologische Forschung (犯罪研究), 2015, Nr. 6, S. 27–34. XU, Chi (徐持), Analyse des Charakters und institutioneller Aufbau des Erziehungsarrests im »Anti-Terrorismus-Gesetz« (《反恐怖法》中安置教育的性质辨析与制度建构), Law Journal (法学杂志), 2017, Nr. 2, S. 20–22. ZHAI, Zhongdong (翟中东), Strategien zur Vermeidung erneuter Straftaten unter internationalem Blickwinkel (国际视域下的重新犯罪防治政策), Peking University Press (北京大学出版社), 2010. ZHANG, Jinping (张金平), Analyse der »Entradikalisierung« in der Anti-TerrorismusStrategie von Shard (沙特»去极端化«反恐策略评析), in: Zeitschrift der Polizeiakademie Shandong (山东警察学院学报), 2015 Nr. 3, S. 5–11. ZHANG, Mingkai (张明楷), Grundzüge des ausländischen Strafrechts (外国刑法纲要), Qinghua University Press (清华大学出版社), 1999. ZHANG, Yaping (张亚平), Die Überwachung von Straftätern außerhalb des Gefängnisses in Frankreich (法国犯罪人狱外监控), in: Chinese Criminal Law Journal (中国刑事法 杂志), 2011, Nr. 4, S. 121–127.
Autorenverzeichnis
CHANG Liching (張麗卿), Prof. Dr. iur., National University of Kaohsiung, Juristische Fakultät, Vorstandsvorsitzende der taiwanischen Gesellschaft für Strafrecht, Taiwan GESK, Georg, Prof. Dr. iur., Professur für chinesisches Recht, Universität Osnabrück, Deutschland HAUCK, Pierre, Prof. Dr. iur., LL.M. (Sussex), Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität Gießen, Deutschland JIANG Su (江溯), Assoc. Prof. Dr. iur., Peking University, Juristische Fakultät, China KRETSCHMER, Bernhard, Prof. Dr. iur., Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht, Justus-Liebig-Universität Gießen, Deutschland LIU, Mei (刘玫), Prof. Dr. iur., China University of Political Science and Law (中 国政法大学), Fakultät für Strafjustiz, China PETERKE, Sven, Dr. iur., M.A., Professor für Völkerrecht, Universidade Federal da Paraíba, Juristische Fakultät, Brasilien SINN, Arndt, Prof. Dr. Prof. h.c., Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Straf- und Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht sowie Strafrechtsvergleichung, Universität Osnabrück, Deutschland XIONG, Qi (熊琦), ao. Prof. Dr. iur., LL.M., Wuhan University, Juristische Fakultät, China
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Autorenverzeichnis
YU, Liang (余亮), Peking University of Technology and Business, Juristische Fakultät, China ZHANG, Jie (张杰), Prof. Dr. iur., Chinese People’s Public Security University, China ZHENG, Xi (郑曦), Assoc. Prof. Dr. iur., Beijing Foreign Studies University (北京 外国语大学), Juristische Fakultät, China