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German Pages 288 [289] Year 2010
Norbert Schäfer
Organisationspsychologie 3., überarb. u. erw. Auflage
für die Praxis
Verlag Wissenschaft & Praxis
Norbert Schäfer
Organisationspsychologie für die Praxis Mit Erläuterungen zur Personalauswahl nach DIN 33430
3., überarbeitete und erweiterte Auflage
Verlag Wissenschaft & Praxis
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-89673-546-1 © Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2010 D-75447 Sternenfels, Nussbaumweg 6 Tel. +49 7045 930093 Fax +49 7045 930094 [email protected] www.verlagwp.de © Einbandfoto: Bertold Werkmann - Fotolia.com Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany
Vorwort Dieser Band "Organisationspsychologie für die Praxis" wendet sich ausdrücklich nicht in erster Linie an Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologen (ABO-Psychologen). Es sollen vielmehr Praktiker angesprochen werden, die in ihrer Funktion als Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Personalbereich Kontakt zu den behandelten Themen bekommen. Besonders im Bereich der Ausbildung, Fort- und Weiterbildung und der Personalentwicklung kann das Buch gute Dienste leisten. Es wird aufgezeigt, zu welchen Themenkomplexen ABO-Psychologen Beiträge liefern können. Der Praxis soll damit deutlich gemacht werden, dass die Organisationspsychologie anwendungsbezogene, für die Praxis relevante Forschungsergebnisse vorzeigen kann und es deshalb sinnvoll ist, sich bei bestimmten Fragestellungen der praktischen Personalarbeit der Unterstützung von ABO-Psychologen zu bedienen. Ein weiterer Leserkreis sind die Studierenden von Universitäten und Fachhochschulen, für die psychologische Kenntnisse für ihre spätere Berufsausübung von großer Bedeutung sein können, z. B. Dipl.-Betriebswirte, Dipl.Verwaltungswirte, aber auch Absolventen technischer Fachrichtungen, die sich auf mögliche Aufgaben als Führungskräfte vorbereiten wollen. Für Leser, die sich intensiver mit den angesprochenen Themen befassen wollen, sei auf die umfangreichen Literaturhinweise am Ende des Buches verwiesen. Auch stehen als weitere Informationsquellen, insbesondere zur Erläuterung von Theorien und Modellen, verschiedene Lehrbücher der Organisationspsychologie zur Verfügung. Ludwigsburg, im Frühjahr 1997
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Vorwort zur 3. Auflage Die nun vorliegende 3. Auflage von "Organisationspsychologie für die Praxis" hat sich gegenüber den ersten beiden Auflagen in vielen Teilen verändert. In vielen Kapiteln werden neuere Forschungsergebnisse berücksichtigt und für Praktiker aufbereitet. Im Rahmen der Globalisierung werden notwendige Informationen zur ‚Interkulturellen Kommunikation’ und zum Begriff ‚Kultur’ gegeben. Der enge Bezug zur DIN 33430 im Kapitel "Personalauswahl" bleibt natürlich erhalten. Diese DIN beschäftigt sich mit "Anforderungen an Verfahren und deren Einsatz bei berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen" und stellt damit einen Rahmen zur Durchführung von Personalauswahlverfahren dar. Es wurde versucht, die theoretischen Überlegungen der DIN 33430 für Praktiker handhabbar zu machen. Das Kapitel mit praxiserprobten und bewährten Lösungsvorschlägen für Probleme der Organisationspsychologie wurde stark erweitert und beinhaltet aktuelle Problemstellungen. Ludwigsburg, im Frühjahr 2010
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Inhalt 1 Das Lernen.......................................................................................... 15 1.1 Der eigene Lernstil ..................................................................... 15 1.2 Lernprinzipien ............................................................................ 15 1.2.1 Das klassische Konditionieren......................................... 16 1.2.2 Das operante Konditionieren .......................................... 16 1.2.3 Das Modelllernen ........................................................... 16 1.2.4 Das kognitive Lernen ...................................................... 18 1.2.4.1 Das rezeptive Lernen........................................ 18 1.2.4.2 Das entdeckende Lernen .................................. 19 1.2.5 Lernen durch das Prinzip der Mediation ......................... 20 1.3 Förderliche Lernhaltung.............................................................. 20 1.4 Vorteile des Lernens in der Gruppe ............................................ 21 1.4.1 Voraussetzungen für die Zusammenarbeit....................... 21 1.4.2 Schwierigkeiten beim kooperativen Lernen..................... 21 1.4.3 Phänomene bei kooperativen Lernen .............................. 22 1.4.4 Ursachen für Probleme beim Lernen in der Gruppe ........ 22 1.5 Methoden kooperativen Lernens ................................................ 23 1.5.1 Das Vygotsky-Prinzip ...................................................... 23 1.5.2 Das Gruppenpuzzle ("Jigsaw-Methode") ......................... 23 1.5.3 Das reziproke Paarlernen (wechselseitiges Lernen) ......... 24 1.6 Prozesse beim Vergessen............................................................ 24 1.6.1 Die Vergessenskurve....................................................... 25 1.6.2 Überlegungen dem Vergessen entgegen zu wirken ......... 27 1.6.3 Verhinderung des Vergessensverlustes ............................ 27 1.6.4 Moderne Vorstellungen dem Vergessensverlust entgegen zu wirken......................................................... 27 1.6.4.1 Das selbstständige Durchdringen des Stoffes .... 28 1.6.4.2 Lernphasen und Lernpausen............................. 29 1.7 Das Erinnern............................................................................... 30 1.7.1 Die Bedeutung der Gedächtnisinhalte und ihre Encodierung.................................................................... 30 1.7.2 Gedächtnis und Emotionen............................................. 30 1.7.3 Bildhafte Vorstellungen und Gedächtnis ......................... 30 1.7.4 Encodierspezifität und Gedächtnis .................................. 31 1.7.5 Kontextabhängigkeit des Erinnerns.................................. 31 1.7.6 Erinnern als konstruktiver Prozess ................................... 32 1.8 Tipps zum effektiven Lernen....................................................... 33
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2 Kommunikation .................................................................................. 35 2.1 Grundbegriffe der Kommunikation ............................................. 35 2.1.1 Kommunikationsformen.................................................. 35 2.1.2 Die wichtigsten Kommunikationssysteme ....................... 35 2.2 Kommunikationsmodelle (Erklärungsansätze) ............................. 36 2.2.1 Das Modell von SHANNON und WEAVER (1949) ......... 36 2.2.2 Axiome der Kommunikation von P. WATZLAWICK (1969) ......................................... 36 2.2.3 Das 4-Seiten-Modell der Kommunikation (SCHULZ VON THUN 1981).......................................... 37 2.2.3.1 Die Kommunikation aus Sicht des Senders....... 37 2.2.3.2 Die 4 Ohren des Empfängers............................ 39 2.2.3.3 Expliziten und impliziten Botschaften .............. 41 2.2.3.4 Kongruente und inkongruente Nachrichten...... 42 2.2.3.5 Störungen......................................................... 42 2.3 Kommunikation in Mehrpersonengruppen ................................. 45 2.4 Kommunikation in großen Organisationen ................................. 46 2.5 Interkulturelle Kommunikation ................................................... 47 2.5.1 Kulturunterschiede in der verbalen Kommunikation........ 47 2.5.2 Kulturunterschiede in der paraverbalen Kommunikation ......................................... 48 2.5.3 Kulturunterschiede in der nonverbalen Kommunikation.......................................... 49 2.5.4 Kulturunterschiede in der extraverbalen Kommunikation .............................................................. 50 2.5.5 Kulturunterschiede in der Wahl des Kommunikationsstils................................................. 51 2.5.6 Kulturunterschiede in den Zielen der Kommunikation .... 52 2.5.7 Interkulturelle Kommunikationskompetenz..................... 53 3 Psychologie der Gruppe, das Arbeitsteam .......................................... 55 3.1 Die Gruppe ................................................................................ 55 3.1.1 Charakteristika von Gruppen........................................... 55 3.1.2 Gründe sich einer Gruppe anzuschließen oder sie zu gründen ................................................................ 56 3.1.3 Prozess der Gruppenbildung........................................... 56 3.1.4 Gruppenbildende Faktoren ............................................. 57 3.1.5 Normen und Rollen ........................................................ 57 3.1.5.1 Normen............................................................ 57 3.1.5.2 Rollen .............................................................. 58
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3.2
3.3
3.4
Teamarbeit ................................................................................. 60 3.2.1 Teamarbeit in verschiedenen Kulturen ............................ 61 3.2.2 Die Teamzusammensetzung ........................................... 61 3.2.3 Typologie von Arbeitsteams ............................................ 62 3.2.3.1 Gruppenmitglieder ........................................... 62 3.2.3.1.1 Aspekte der Heterogenität ............... 62 3.2.3.2 Projektarbeit als Beispiel für Teamtätigkeiten.... 62 3.2.3.3 Technologie ..................................................... 63 Ein Modell für heterogene Gruppen – Der Integrativ-Multikulturelle Ansatz .......................................... 63 3.3.1 Die Dynamik der Heterogenität ...................................... 65 3.3.2 Typen von Arbeitsgruppen .............................................. 66 3.3.2.1 Crew (Mannschaft, Besatzung) ......................... 66 3.3.2.2 Task Force (Sondereinheit, Projektgruppe)........ 66 3.3.2.3 Team (Arbeitsgruppe im engeren Sinn)............. 66 Kultur ......................................................................................... 69 3.4.1 Überlegungen von NORBERT ELIAS zu den Begriffen „Zivilisation“ und „Kultur“ ............................................. 69 3.4.2 Der Kulturbegriff von GEERT HOFSTEDE........................ 71 3.4.2.1 Dimensionen nationaler Kulturen..................... 74 3.4.2.1.1 Der Begriff der "Machtdistanz" ........ 75 3.4.2.1.2 Individualismus vs Kollektivismus.... 76 3.4.2.1.3 Maskulinität vs Femininität .............. 81 3.4.2.1.4 Weitere Dimensionen nach HOFSTEDE ............................. 84 3.4.2.2 Vom Umgang mit anderen Kulturen................. 88 3.4.2.3 Methodische Probleme bei HOFSTEDE............ 90 3.4.2.4 Der Zusammenhang zwischen den Kulturdimensionen nach HOFSTEDE und den Ergebnissen der PISA-Studie 2001 ............. 91 3.4.3 Die Überlegungen von EDWARD T. HALL ..................... 92 3.4.3.1 Verhältnis zur Zeit............................................ 93 3.4.3.2 Kontext............................................................. 94 3.4.3.3 Einstellung zum Raum...................................... 95 3.4.4 Die GLOBE Studie .......................................................... 96 3.4.4.1 Die 9 Kulturdimensionen der GLOBE Studie.... 97
4 Stress – Bedeutung und Folgen ......................................................... 113 4.1 Stress – wichtig zum Überleben ............................................... 113 4.2 Die Stressreaktion nach SELYE (1950)....................................... 113 4.3 Die Bedeutung der Stressreaktion oder: Warum reagiert der Körper mit der Stressreaktion auf die Stressoren? ................ 115 9
4.4 4.5 4.6
Die positive Seite des Stress: Der Eustress................................. 116 Life-Event Forschung................................................................. 116 Weitere Modellvorstellungen zum Thema Stress ...................... 118 4.6.1 Stress aufgrund eines operanten Konditionierungsvorgangs............................................. 118 4.6.2 Der Coping-Ansatz (LAZARUS et al) ............................. 118 4.7 Besondere Stresssituationen...................................................... 119 4.7.1 Arbeitslosigkeit ............................................................. 119 4.7.2 P-E-Fit............................................................................ 121 4.7.3 Stress bei Managern ...................................................... 121 4.8 Das Burnout-Syndrom .............................................................. 122 4.8.1 Theoretischer Hintergrund des Burnouts ....................... 122 4.9 Stressmanagement .................................................................... 126 4.10 Das Posttraumatische Stresssyndrom ........................................ 128 4.11 Die Zunahme der Stressbelastung durch die Arbeitstätigkeit.... 129 4.12 Stressprävention als Aufgabe für Führungskräfte ....................... 130 5 Arbeitszufriedenheit, Arbeitsmotivation und Commitment ............. 131 5.1 Arbeitszufriedenheit ................................................................. 131 5.1.1 Die ZWEI-FAKTOREN-THEORIE von HERZBERG (1959) ................................................. 132 5.1.2 Die Hierarchie der Bedürfnisse nach MASLOW (1943) .......................................................... 139 5.1.3 Die Gleichheits-Theorie (Equity-Theory) von ADAMS (1965)....................................................... 139 5.2 Arbeitsmotivation ..................................................................... 142 5.2.1 Überlegungen zur Motivation ....................................... 142 5.3 Commitment ............................................................................ 147 5.3.1 Das Modell von DUNHAM et al. (1994)....................... 147 5.3.2 Möglichkeiten der stärkeren Berücksichtigung des Commitments in Organisationen ............................ 149 6 Führung ............................................................................................ 151 6.1 Historische Überlegungen ........................................................ 151 6.2 Führung – Meilensteine der empirischen Forschung................. 154 6.2.1 Hawthorne-Untersuchungen (20er/30er Jahre) .............. 154 6.2.2 Die Ohio-Untersuchungen (Fleishman, 50er Jahre) ....... 154 6.3 Das Führungs-Tandem (BALES)................................................. 155 6.4 Eine lerntheoretisch begründete Theorie zur Führung (BASS 1985) ............................................................................. 156 6.4.1 Forschungsergebnisse zur Theorie von BASS ................ 157
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6.5 6.6 6.7 6.8
360°-Beurteilungs- und Entwicklungssystem für Führungskräfte..................................................................... 158 Der aktivierende Führungsstil nach KLAGES (2002).................. 159 Möglichkeiten zur Verbesserung des Führungsverhaltens ......... 161 Das Konzept des Super-Leaderships ......................................... 161
7 Schlüsselqualifikationen ................................................................... 163 8 Personalauswahl gemäß DIN 33430................................................. 169 8.1 Anwendungsbereich der DIN-Norm ......................................... 169 8.1.1 Begriffe ......................................................................... 169 8.1.2 Eignungsmerkmale ........................................................ 171 8.1.3 Eignungsbeurteilung...................................................... 172 8.2 Eignungsdiagnostische Verfahren.............................................. 174 8.2.1 Das Interview................................................................ 174 8.2.1.1 Ursachen für Schwächen des Einstellungsinterviews (in Anlehnung an SCHULER 1992).. 175 8.2.1.2 Verbesserungsmöglichkeiten des Einstellungsinterviews (in Anlehnung an SCHULER 1992).. 175 8.2.1.3 Fazit zum traditionellen Einstellungsinterview .. 176 8.2.1.4 Das Multimodale Interview (nach SCHULER 1992) ................................... 176 8.2.1.5 Das Multiphasen-Interview (SCHÄFER, 2003) ........................................... 177 8.2.2 Assessment Center ........................................................ 180 8.2.3 Psychologische Tests..................................................... 190 8.2.4 Arbeitsproben und ähnliche Verfahren.......................... 194 8.2.5 Biografische Fragebögen ............................................... 195 8.2.6 Berufsbezogene Persönlichkeitsfragebögen ................... 198 8.3 Planung, Durchführung und Auswertung.................................. 200 8.3.1 Informationen über den Arbeitsplatz ............................. 201 8.3.2 Vorauswahl................................................................... 201 8.3.3 Untersuchungssituation................................................. 201 8.3.4 Gesetzliche Vorgaben ................................................... 202 8.4 Planung, Durchführung und Dokumentation............................ 203 8.5 Auswertung, Interpretation, Urteilsbildung ............................... 204 8.6 Qualitätskriterien und -standards .............................................. 204 8.6.1 Verantwortlichkeiten beim Vorgehen............................ 204 8.6.2 Qualitätskriterien der eingesetzten Verfahren................ 205 8.6.3 Qualifikationsanforderungen an die Durchführenden ... 205 8.7 Outplacement .......................................................................... 209 8.8 Perspektiven der Personalauswahl in den nächsten Jahren........ 210 11
9 Personalentwicklung......................................................................... 213 9.1 Zum Begriff Personalentwicklung ............................................. 214 9.2 Gründe für Personalentwicklung .............................................. 215 9.3 Methoden der Personalentwicklung ......................................... 216 9.4 Talent Management.................................................................. 217 9.4.1 Grundprinzipien des Talent Managements.................... 218 9.4.2 Instrumente des Talent Managements ........................... 218 9.4.3 Rahmenbedingungen des Talent Managements............. 218 10 Methodische Grundlagen der Organisationspsychologie.................. 221 10.1 Grundlagen der psychologischen Methodik ............................. 221 10.1.1 Verteilung von Messwerten........................................... 221 10.1.2 Elementare Auswertungen Deskriptive Statistik ............. 222 10.1.3 Schlussfolgernde Auswertungen = Inferenzstatistik ...... 223 10.2 Fragebogenerhebungen ............................................................ 224 10.3 Planung und Durchführung einer Befragung............................. 225 10.4 Fragebogengestaltung ............................................................... 229 10.4.1 Die Konstruktion von Fragebogenitems......................... 231 10.5 Die Auswertung von Fragebogenergebnissen ........................... 233 10.6 Die Akzeptanz der Fragebogenerhebung.................................. 234 10.6.1 Die Akzeptanz von Bürger-/Kundenbefragungen........... 234 10.6.2 Die Akzeptanz von Mitarbeiterbefragungen .................. 234 10.7 Die Darstellung der Ergebnisse................................................. 235 10.7.1 Struktur-Vergleich ......................................................... 235 10.7.2 Rangfolge-Vergleich ...................................................... 236 10.7.3 Zeitreihen-Vergleich ..................................................... 236 10.7.4 Häufigkeits-Vergleich .................................................... 237 10.7.5 Korrelationsvergleich .................................................... 238 10.7.6 Tabellendarstellung....................................................... 238 10.7.7 Textdarstellung.............................................................. 238 10.8 Statistik..................................................................................... 239 10.8.1 Deskriptive Statistik....................................................... 239 10.8.1.1 Parametrische Verfahren ................................ 240 10.8.1.2 Nonparametrische Verfahren.......................... 242 10.8.2 Inferenzstatistik ............................................................. 243 10.8.2.1 Mittelwertvergleiche....................................... 243 10.8.2.2 Varianzanalyse ............................................... 243 10.8.2.3 Multivariate Verfahren.................................... 244 10.8.2.4 Faktorenanalyse ............................................. 244 10.8.2.5 Multiple Regressionsanalyse........................... 244 10.8.2.6 Clusteranalyse ................................................ 245 10.8.2.7 Nonparametrische Verfahren.......................... 245 12
10.9 Hypothesenbildung .................................................................. 246 10.9.1 Hypothesenformulierung .............................................. 246 10.9.2 Fehlermöglichkeiten ..................................................... 246 11 Praxislösungen .................................................................................. 247 11.1 Durchführung von strukturierten Interviews.............................. 247 11.2 Durchführung von Mitarbeitergesprächen ................................ 250 11.2.1 Ziel des Mitarbeitergesprächs........................................ 250 11.2.2 Feedback ...................................................................... 250 11.2.3 Gesprächsnotiz ............................................................. 251 11.2.4 Struktur des MA-Gesprächs: .......................................... 251 11.2.5 Ablaufschema ............................................................... 252 11.2.6 Dokumentation des MA-Gesprächs............................... 252 11.3 Konfliktmanagement................................................................. 252 11.3.1 Konflikte zwischen Gruppen......................................... 253 11.3.2 Konfliktmanagement ..................................................... 254 11.3.3 Mediation ..................................................................... 255 11.3.4 Konfliktlösungen am Arbeitsplatz.................................. 256 11.4 Strukturierte Personalauswahl................................................... 258 11.4.1 Anforderungen an Stellenbewerber ............................... 258 11.4.2 Die Umsetzung des Anforderungsprofils in den Auswahlprozess ................................................. 259 11.5 Training und Durchführung von Mitarbeitergesprächen zu verschiedenen Zwecken – Ablauf und Umgebungsbedingungen .. 262 11.6 Bewertungen für eine Zulagenbemessung in der Praxis durchführen.............................................................................. 266 11.6.1 Vorbemerkungen .......................................................... 266 11.6.2 Übliche Leistungskriterien für die Zulage ...................... 266 11.6.3 Die Rolle der Bewerter/innen und Anforderungen an Bewerter/innen......................................................... 267 11.6.4 Erkennen von Problemfeldern bei der Leistungsdifferenzierung ............................................... 268 11.6.5 Von der Beobachtung zur Bewertung............................ 268 11.6.6 Vorgehensweise............................................................ 269 11.6.7 Die Unterschiede zwischen wahrnehmen, beobachten, beschreiben und bewerten........................ 270 11.6.8 Typische Wahrnehmungs-, Beobachtungs- und Bewertungsfehler .......................................................... 270 11.6.9 Sammeln von Informationen für die Bewertung ............ 273
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11.7 Verantwortlichkeiten von Führungskräften ............................... 273 11.7.1 MA-Leistung verbessern ................................................ 274 11.7.2 Arbeitszufriedenheit/Commitment................................. 274 11.7.3 Entwicklung der MA ..................................................... 274 11.7.4 Elementare Kommunikationsfähigkeiten........................ 275 11.7.5 Kooperatives Führungsverhalten – aktivierendes Führungsverhalten ................................... 277 11.7.6 Instrumente ................................................................... 279 11.7.7 Spezialgebiete............................................................... 280 11.7.8 Superleadership ............................................................ 282 11.7.9 Psychologische Analyseverfahren.................................. 283 Literatur ................................................................................................. 285
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Das Lernen
Grundlegende Gesetzmäßigkeiten des Lernens sollen am Beispiel des Lernens an Hochschulen aufgezeigt werden. Selbstverständlich gelten die gleichen Grundlagen auch für Seminare und Trainings, die im Rahmen von Fort- und Weiterbildungen im betrieblichen Umfeld durchgeführt werden. Auch sind Überlegungen zum sogenannten „Lebenslangen Lernen“ ohne die Kenntnis zugrundeliegender Lerngesetzmäßigkeiten nicht möglich. Selbstständig und systematisch zu lernen ist eine grundlegende Anforderung des Studiums und der Arbeitswelt. Dies gilt für die Entwicklung wissenschaftlicher Arbeitstechniken und die Organisation des Lernens.
1.1 Der eigene Lernstil Es geht darum, einen eigenen Arbeits- und Lernstil zu finden. Viele Menschen kennen ihren eigenen Arbeits- und Lernstil nicht. Dies ist also kein individuelles Problem, und – es lässt sich etwas dagegen tun.
Für eine bestimmte Problemstellung ist der Lernzugang optimal, bei dem die Relation von Aufwand zu Nutzen am günstigsten ist.
1.2 Lernprinzipien Die klassische Lernpsychologie unterschied im Wesentlichen zwei elementare Formen des Lernens: das klassische Konditionieren und das operante Konditionieren (Lernen am Erfolg). Die neuere Lernpsychologie versuchte darüber hinaus, komplexeres menschliches Lernen durch das Modelllernen und kognitive Lerntheorien zu erklären.
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1.2.1 Das klassische Konditionieren Das klassische Konditionieren kann man sich praktisch zunutze machen, indem man sich bestimmte Gewohnheiten und Lernrituale aneignet, um so die Kontinuität im Lernen zu erleichtern und häufige neue Entscheidungen im Lernprozess zu ersparen. Hierzu gehören: • Lernen zu festen Zeiten • Lernen an einem festen Arbeitsplatz 1.2.2 Das operante Konditionieren Zwar ist gewohnheitsmäßiges Verhalten im Leben wichtig, aber viele Lernvorgänge bedürfen einer anderen Erklärung. Beim operanten Konditionieren geht man davon aus, dass Belohnung und Erfolg den Lernprozess fördern. Dies führt auch zu einer stärkeren Motivation. Beim selbstorganisierten und selbständigen Lernen erfährt man von außen eher wenige Belohnungen, sondern man bekräftigt (belohnt) sich immer wieder selbst. Die Erkenntnisse der operanten Konditionierung lassen sich z. B. folgendermaßen umsetzen: • Zerteilen großer Lernblöcke in sinnvolle kleine Lernschritte • Belohnen nach jedem Lernschritt Hierbei handelt es sich um die Prinzipien des sogenannten Programmierten Lernens. Die Belohnung soll unmittelbar auf das gewünschte Verhalten folgen! 1.2.3 Das Modelllernen Modelllernen bedeutet Lernen durch Nachahmung sensu BANDURA (1963). Durch die Beobachtung des Verhaltens anderer Menschen und der daraus für diese resultierenden Konsequenzen werden neue Verhaltensmuster erworben oder bereits vorhandene Verhaltensmuster geändert. Das Vorbild (Modell) kann dabei real sein (persönlicher Kontakt) oder symbolisch in Textform beschrieben oder bildlich dargestellt.
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Lernen durch Beobachtung verknüpft Prinzipien des klassischen Konditionierens (Lernen durch Kontinuität) mit Prinzipien des operanten Konditionierens (Lernen durch Verstärkung) und kognitiver Vermittlungsprozesse, die den Erfolg dieser Lernstrategie ausmachen. Die gleichen kognitiven Vermittlungsprozesse finden auch bei der RSA (Rationale-Selbst-Analyse) und der RSVM (Rationale-Selbst-Verhaltens-Modifikation) Anwendung. Der Prozess des Lernens am Modell • Die relevanten Modellreize werden aufmerksam beobachtet. • Sie werden durch Verschlüsselungsprozesse (kognitive Vermittlungsprozesse) sowie symbolische (Sprache) oder motorische Wiederholung gespeichert. • Die Reize werden in Abhängigkeit von ihrer Reproduzierbarkeit und zurückgemeldeten Korrektheit und den jeweiligen Verstärkerbedingungen in offenes Verhalten umgesetzt. Folgende Faktoren beeinflussen die Nachahmung • Merkmale des Modells (Alter, Geschlecht, sozialer Status, Prestige, besondere Fähigkeiten), deshalb sollte man Ausschau nach erfolgreichen Personen halten! • Merkmale des Modellverhaltens (Konsistenz, Komplexität, Neuheit) • Merkmale des Beobachters (Aufmerksamkeit, Motivation, Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung, zur Verarbeitung, zum Behalten und zum Nachvollzug des Beobachteten) • Die Art des Verhältnisses von Beobachter und Modell (Grad der Abhängigkeit, der Sympathie, der wahrgenommenen Ähnlichkeit) Modelle mit sozialer Macht, hohem Prestige und besonderen Fähigkeiten werden stärker nachgeahmt, insbesondere wenn der Beobachter ein positives emotionales Verhältnis zum Modell hat oder sich diesem ähnlich fühlt. Ob ein beobachtetes Verhalten nachgeahmt wird, hängt entscheidend davon ab, ob dieses Verhalten belohnt wurde. Unter Umständen wird durch Beobachtung kein neues Verhalten erlernt, sondern ein bereits im Repertoire befindliches Verhalten quasi „hervorgelockt“. Man spricht dann von Sozialer Erleichterung (social facilitation).
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1.2.4 Das kognitive Lernen Die Lernpsychologie versucht typisch menschliche Fähigkeiten wie Sinnverständnis, Einsicht, logisches Denken, planvolles Handeln und problemlösendes Verhalten über die klassische und/oder operante Konditionierung hinaus durch kognitives Lernen zu erklären. Darunter ist im Gegensatz zum Lernen durch Gewöhnung, Versuch und Irrtum sinnhaftes Lernen zu verstehen, d. h. Lernen durch Einsicht. Folgende Aspekte sind hierbei zu beachten: • Zusammenhänge im Lernstoff herausarbeiten (Einsicht in die Zusammenhänge erleichtert das Lernen von Details.) • Transfer (Durch Einsicht gewonnenes Wissen und Verhalten lässt sich auf ähnlich strukturierte Situationen übertragen.) • Strukturieren (Sinnvoll strukturierter Lernstoff lässt sich besser lernen und behalten als Zusammenhangloses.) 1.2.4.1 Das rezeptive Lernen Dem rezeptiven Lernen entsprechen alle darbietenden Lehrverfahren, zum Beispiel Vorträge oder Vorlesungen. Beim rezeptiven Lernen in Vorträgen oder Vorlesungen sollten die Beteiligten (Vortragende und Zuhörer) folgende Punkte beachten: • Vorinformation beachten • Erfahrungsgemäß sind viele Studenten während dieses Schrittes leider sehr unaufmerksam, was sich in der Regel durch einen höheren Geräuschpegel im Hörsaal bemerkbar macht. Beim Vortragenden erweckt das den Eindruck von Desinteresse, und er bricht die Vorinformation ab. Aufmerksames Zuhören bei der Vorinformation bietet die Möglichkeit, die ersten Komponenten für die Strukturierung des Stoffes zu erhalten. • Auf neue Begriffe achten • Vorlesungen vermitteln den notwendigen Vorstellungsrahmen und die Ankerbegriffe, auf die man sein selbständiges Lernen beziehen sollte. • Fehlende Schritte ergänzen • Sollte in einer Vorlesung einer der angegebenen Schritte fehlen, so kann man ihn unter Umständen zusammen mit Kommilitonen ergänzen. 18
• Rezeptives Lernen ist aktives Lernen – das Lernen in einer Vorlesung ist nicht passives Lernen, sondern man sollte mit einer grundsätzlich aktiven und insbesondere fragenden Grundhaltung in eine Vorlesung gehen. Sonst ist der Besuch einer Vorlesung schlicht vergeudete Zeit. 1.2.4.2 Das entdeckende Lernen Unter entdeckendem Lernen versteht man die selbstständige Erarbeitung von Problemlösungen auf der Grundlage vorhandener Kenntnisse, also eher seminaristische Lehrveranstaltungen. Dabei geht es darum, allein oder in der Gruppe sich selbst Kenntnisse, Fähigkeiten und Einsichten anzueignen oder zu vertiefen und diese zur Lösung neuer Probleme einzusetzen. Dadurch entwickelt man die Fähigkeit, Thesen zu bilden, zu prüfen, zu bewerten und als Problemlösungsstrategien einzusetzen. Hierzu ein paar Anregungen: • Selbstständiges Arbeiten bringt Erfolgserlebnisse und erhöht dadurch die für erfolgreiches Lernen notwendige Motivation. • Frühzeitig Aufgaben übernehmen, die selbständiges Arbeiten fördern und auf größere Arbeiten vorbereiten! • Im Grundstudium verzeiht man Fehler in der Regel noch, im Hauptstudium dann nicht mehr so leicht. Man sollte den Mut haben, Fehler zu machen. Nur wenn man weiß, was man falsch macht, kann man besser werden – z. B. sich nicht um Protokolle oder andere Aufgaben drücken, sich freiwillig bei Gruppenarbeiten melden usw. • Problemlösendes Verhalten fördert eine positive Grundeinstellung zum entdeckenden Lernen. Das bei Problemlösungen angewandte Methodenwissen und Denken ist übertragbar. • Die Beteiligung an Arbeitsgruppen schult die Fähigkeit, gemeinsam mit anderen Arbeit zu planen, zu organisieren und zielgerichtet durchzuführen. Alleine läuft man stets Gefahr, sich in einem Wust aus Informationen zu verzetteln. In der Gruppe macht die Entdeckungsfahrt durch ein Fach auch mehr Spaß – soziale Beziehungen sind während eines Studiums wichtig und deren Pflege ist keine verlorene Zeit!
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1.2.5 Lernen durch das Prinzip der Mediation Neben dem Lernen am Modell stellt für die erfolgreiche Durchführung einer RSA (Rationale-Selbst-Analyse) und anschließender RSVM (RationaleSelbst-Verhaltens-Modifikation) das Prinzip der Mediation die wichtigste Grundlage dar. Es wird davon ausgegangen, dass innere Verarbeitungsprozesse (Gedanken, Einstellungen, Gefühle) für das Verhalten, das eine Person zeigt, am wichtigsten sind. Kasten 1.1
Das Prinzip der Mediation lässt sich folgendermaßen darstellen: Se── rj
si ───Re
S, s = Stimulus R, r = Reaktion e= externe Prozesse (von außen wirkende Einflüsse, beobachtbares Verhalten) i = interne Prozesse (Gedanken, Einstellungen, Gefühle)
1.3 Förderliche Lernhaltung Die einfachsten aber gleichwohl relativ wirksamen Maßnahmen zum Aufbau einer förderlichen Lernhaltung bestehen in operanten (shaping) Prozeduren, die das aufgaben- und unterrichtsbezogene Verhalten positiv verstärken. Innerhalb komplexerer Interventionsprogramme aus dem Bereich der kognitiven Verhaltensmodifikation liegen Trainingsprogramme zur Beeinflussung von Motivationsstrukturen vor. Diese Programme versuchen: ¾ ein positives (Begabungs)-Selbstkonzept aufzubauen ¾ förderliche Kausalattribuierungen auszubilden ¾ realistische Zielsetzungen zu ermöglichen ¾ positive Selbstbekräftigung (Stolz, Zufriedenheit, Freude über die eigene Leistung) auszubilden ¾ Misserfolgserwartungen zu vermindern. Die Durchführung einer Stärke/Schwäche-Analyse kann hierbei sehr hilfreich sein, da es damit gelingt, ein realistisches Selbstbild aufzubauen. Realistische Selbstbilder verringern Enttäuschungen aufgrund irrationaler Erwartungen und es werden realistische Zielsetzungen ermöglicht. 20
1.4 Vorteile des Lernens in der Gruppe Die Gruppensituation bietet die Möglichkeit, neue Sichtweisen und Perspektiven kennen zu lernen und vom Wissen anderer zu profitieren. Wenn sich die Gruppenmitglieder gegenseitig unterstützen, kann jedes seine Kenntnisse und Fähigkeiten erweitern. 1.4.1 Voraussetzungen für die Zusammenarbeit • Da jedes Gruppenmitglied andere Vorkenntnisse, Ideen oder Ansichten hat, entsteht ein Gruppenvorteil hinsichtlich Qualität und Kreativität von Problemlösungen; man selbst wird auf neue Gedanken gebracht. Dies gilt insbesondere in sogenannten heterogenen Gruppen. (Vergl. Kap. 3.2 und 3.3) • Wer sich aktiv am Gruppengeschehen beteiligt, lernt, zu argumentieren, zu diskutieren und sein Wissen verständlich und strukturiert vorzutragen. Dabei werden dann oft Wissenslücken oder Verständnisprobleme aufgedeckt oder man lernt andere Interpretationen und Einschätzungen kennen. Das eigene Wissen wird also überprüft, ergänzt oder verändert und dabei stabilisiert. • Gruppen bieten auch die Möglichkeit zum sozialen Lernen: In Gruppendiskussionen lernt man zu erkennen, dass es nicht nur eine "richtige", sondern mehrere mögliche Wahrheiten gibt. Dies führt zu einer toleranteren Haltung gegenüber den Standpunkten anderer und zur Klärung von Missverständnissen und Konflikten. • Eine Gruppe kann die Lern- und Durchhaltemotivation durch die, von einer guten Lerngruppe ausgehende soziale Unterstützung steigern. • Das Arbeitsprogramm der Gruppe sollte hinsichtlich der Ziele, des Umfangs und des Anspruchsniveaus möglichst klar und konkret festgelegt werden. • Weiterhin ist es wichtig, dass die Aufgaben in der Gruppe von Sitzung zu Sitzung klar verteilt werden (wer macht was bis wann und wie?). 1.4.2 Schwierigkeiten beim kooperativen Lernen Da beim kooperativen Lernen mehrere Individuen mit eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen zusammenarbeiten, kann es natürlich zu Schwierigkeiten kommen: 21
• Kooperatives Lernen ist, wenn es sinnvoll gestaltet wird, relativ zeitintensiv. • Koordinationsschwierigkeiten und eventuell ein "information overload" durch zu vielfältige Ressourcen (besonders bei großen Gruppen). • Die Sach- und die Beziehungsebene stehen in einer engen Wechselbeziehung, die die Gruppe in Konflikte und Spannungen bringen kann. 1.4.3 Phänomene bei kooperativen Lernen RENKL, GRUBER & MANDL (1995) beschreiben folgende Phänomene: • Free-rider-Effect: Die Arbeit wird denjenigen Gruppenmitgliedern überlassen, denen es wichtig ist, ein gutes Ergebnis zu erzielen. • Succer-Effect: Es kann als Folge des free-rider-Effects gesehen werden. Diejenigen, die die Hauptlast der Arbeit tragen, werden zunehmend verärgert und verlieren die Motivation für das Projekt. • Scheren-Effekt: Studenten/-innen mit höherer Motivation und besseren Eingangsvoraussetzungen übernehmen oft die Hauptarbeit, da ihnen die Beiträge der anderen Gruppenmitglieder nicht gut genug sind oder es ihnen zu langsam vorangeht. Die besseren Studenten arbeiten also mehr und lernen daher mehr als ihre Kommilitonen/-innen. • Intrapersonaler Scheren-Effekt: Die Arbeit wird oft so aufgeteilt, dass diejenigen, die etwas Bestimmtes können auch diese Arbeit ausführen. In dem Gebiet, das sie bereits können, vertiefen sie ihre Kenntnisse, was sie nicht können, lernen sie auch nicht. • Ich-habe-meinen-Teil-erledigt-Phänomen: Manche Gruppenmitglieder weigern sich, weitere Beiträge zu leisten, da sie der Meinung sind, ihren Teil bereits geleistet zu haben. • Gruppenarbeit Nein-Danke-Phänomen: Aufgrund der Schwierigkeiten der Kooperation in einer Lerngruppe sinkt die Kooperationsbereitschaft für weitere Gruppensituationen. 1.4.4 Ursachen für Probleme beim Lernen in der Gruppe Auftretende Probleme lassen sich verschiedenen Ursachen zuordnen: Zum einen gibt es organisatorische Probleme, welche die Bildung kooperativer Lerngruppen behindern. Das Haupthindernis für eine effektive kooperative Zusammenarbeit ist eine negative Einstellung zur Gruppenarbeit und Kooperation, die aufgrund der Vernachlässigung kooperativer Lernformen in 22
den Bildungssystemen existiert, wobei Defizite in sozialen Fertigkeiten auch nicht durch Bildung kooperativer Gruppen allein erworben werden (Cohen, 1993, zit. n. RENKL et al., 1995). Somit sind Vorteile von Gruppenarbeit schwer zu erkennen. Ebenfalls zum organisatorischen Rahmen gehören die vorhandenen Prüfungsanforderungen. Es wird Faktenwissen abgefragt und auf diese Lerninhalte richtet sich die Aufmerksamkeit der Lernenden.
1.5 Methoden kooperativen Lernens Im Rahmen des kooperativen Lernens bieten sich verschiedene Methoden an, die in der Pädagogik zum Teil bereits lange bekannt sind und auch angewandt werden. 1.5.1 Das Vygotsky-Prinzip In dieser Technik gestaltet der Lehrer die Verständnisfähigkeit der Studierenden. Er formuliert Fragen in der Art, die ein Leser fragen könnte, wenn er einen bestimmten Text liest. Dabei fasst er den Text zusammen, trifft Vorhersagen und streicht schwer zu verstehende Textstellen heraus. Die Studierenden erlangen nach und nach mehr Kontrolle über den Erkennungsprozess. Der fähigere Student kann nun bei der kooperativen Bearbeitung des Textes als Vorbild für den schwächeren Student dienen. Der leistungsstärkere Student erhält die Möglichkeit, Lerninhalte zu elaborieren. 1.5.2 Das Gruppenpuzzle ("Jigsaw-Methode") Das Gruppenpuzzle ("Jigsaw-Methode") ist eine Unterrichtstechnik, die kooperatives Gruppenlernen in die Form des traditionellen Unterrichts einfügt. Es werden Kleingruppen von je fünf bis sechs Studenten gebildet. Jeder Teilnehmer erhält ein Segment des aktuellen Unterrichtsstoffes, den er seiner Gruppe vermitteln muss. Interdependenz wird geschaffen, da die Gruppenmitglieder keinen Zugang zu den Informationen der anderen haben. Studenten, die die gleichen Subaufgaben bearbeiten, treffen sich in Expertengruppen, um sich gegenseitig auszutauschen, wie sie ihre Informationen den anderen Jigsaw-Gruppenmitgliedern vermitteln können.
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1.5.3 Das reziproke Paarlernen (wechselseitiges Lernen) Das reziproke Paarlernen (wechselseitiges Lernen) stellt eine Anwendung des Vygotsky-Prinzips dar und ist für 2-er Gruppen gedacht, kann aber auch in größeren Gruppen durchgeführt werden. Beide Studierende lesen zunächst (jede für sich) den gleichen Textabschnitt. Eine der beiden fasst nun den Textabschnitt zusammen und erklärt ihn dem Partner. Dieser gibt nun Rückmeldung, zu dem was er hört, z. B. weist er auf Unklarheiten, andere Auffassungen oder Interpretationen etc. hin. Die Verstehensprobleme werden gemeinsam gelöst, Erklärungen für schwierige Textstellen gesucht, Verbindungen zum Vorwissen hergestellt, Vergleiche zu anderen Problemen gezogen etc. Jede/r Student/in liest den nächsten Abschnitt für sich durch. Anschließend werden die Sprecher/Hörer-Rollen getauscht: Wer vorher zugehört hat, fasst jetzt den Text zusammen und erklärt ihn. Das wechselseitige Erklären wird so lange fortgesetzt, bis der Text durchgearbeitet ist. Wichtig dabei ist, dass die Rollen getauscht werden, da dieser als aktive Person erfahrungsgemäß mehr profitiert.
1.6 Prozesse beim Vergessen Neben der Aneignung von Wissen, dem Lernen, spielen das Vergessen und das Gedächtnis eine wichtige Rolle bei der Sicherstellung des Gelernten. Aus diesem Grund sollen diese beiden Begriffe ebenfalls erläutert werden. Über das Vergessen und dem, was im Gehirn passiert gibt es im Wesentlichen zwei Theorien. • Die eine besagt, dass die Gedächtnisspur einfach mit der Zeit verblasst und verschwindet (Theorie des Spurenverfalls). Wie dies genau erfolgt, ist jedoch noch nicht geklärt. • Die zweite Theorie geht davon aus, dass man vergisst, indem neue oder aktuelle Eindrücke die alten Gedächtnisspuren überlagern und so den Zugriff auf die alten Erinnerungen erschweren (Interferenztheorie). Dabei werden verschiedene Perspektiven auf das zu Erinnernde unterschieden: ̶ Die retroaktive Interferenz ist rückwärtsgerichtet, d. h., später Erlerntes stört früher Erlerntes. Je größer die Ähnlichkeit zwischen zwei Arten von Gedächtnismaterial ist, umso größer ist die Interferenz zwischen ihnen beim Lernen bzw. der Erinnerung. ̶ Die proaktive Interferenz ist vorwärtsgerichtet, früher Gelerntes stört später zu Lernendes. 24
̶
̶
Misslingen des Abrufs: Die Information ist nicht mehr zu finden, wenn man den Kontext der Speicherung vergessen hat. "Etwas auf der Zunge haben" bedeutet, den Abrufreiz zumindest momentan nicht zur Verfügung haben. Motiviertes Vergessen: Die Information wird aus irgendeinem Grund vor dem Bewusstsein verborgen (z. B. Angst, Schuldgefühl, Abneigung oder Ablehnung einer Person bzw. Sache). Diesen Prozess kann man mit dem Verdrängen (sensu FREUD) vergleichen. Kasten 1.2
Stress ist der größte Risikofaktor für Vergesslichkeit. Wer andauernd zu viele Eindrücke aufnehmen und speichern muss, der ist anfälliger dafür, einiges davon zu vergessen. Neben dieser eher psychologischen Ursache gibt es eine weitere Erklärung für den Erinnerungsverlust. Zu hohe Konzentrationen des Stresshormons Cortisol schädigen wahrscheinlich die Nervenzellen im Gehirn. Kasten 1.3
Trainierbarkeit des Gedächtnisses Der Verlust der Merkfähigkeit im Alter lässt sich durch Training ausgleichen. Dies wurde im Rahmen einer Studie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin gezeigt. Die Versuchspersonen mussten sich 30 Begriffe merken, zum Beispiel Hahn, Salami, Kellner oder Hund. Diese Worte wurden ihnen in Zwei-Sekunden Abständen genannt. Ungeübte ältere Teilnehmer konnten meist nicht mehr als drei Begriffe in der richtigen Reihenfolge nennen. Doch mit wenigen Trainingsstunden konnten sie fast ein Dutzend Begriffe richtig wiedergeben. Was in jungen Jahren ohne Übung geht, bedarf jedoch im Alter einiger Tricks. Den älteren Versuchsteilnehmern wurde in den Trainingsstunden die Methode der Orte beigebracht. Mit solchen Gedächtnishilfen können ältere Menschen zwar mit jungen untrainierten Menschen mithalten. Aber: Wenn die jungen Menschen ebenfalls mit Tricks arbeiten, haben ältere Menschen keine Chance.
Deshalb gilt: Die Gedächtnisleistung ist trainierbar!
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1.6.1 Die Vergessenskurve Seit mehr als hundert Jahren gibt es eine Erkenntnis der Lernforschung, die trotz ihres Alters erstaunlich wenig beachtet wird: Die Vergessenskurve. Hat man sich endlich etwas mühsam eingeprägt und so lange wiederholt bis man es wirklich kann, dann ist dieser Inhalt leider noch nicht endgültig gespeichert. Ganz im Gegenteil: Überlässt man ihn nun seinem Schicksal und prüft ihn nach ca. einer halben Stunde, wird im Durchschnitt etwa die Hälfte wieder verschwunden sein: Jeder neue, frisch eingeprägte Inhalt versickert mit der beachtlichen Halbwertszeit von etwa 20 - 30 Minuten.
Die Vergessenskurve nach EBBINGHAUS
% 100
Vergessenskurve nach EBBINGHAUS, 1885
80
60 Ersparnis an Lern-
40
zeit
0
Zeit
Diese schon von H. EBBINGHAUS, beschriebene Vergessenskurve wird dann glücklicherweise bald etwas flacher, doch bleibt im Durchschnitt tatsächlich nicht mehr als etwa 20 % im Gedächtnis. Da man leider nicht weiß, welches Fünftel des gesamten Stoffes es ist, bleibt nur ein Ausweg, diesen beachtlichen Gedächtnisverlust durch geeignete Strategien wettzumachen und sich endgültig damit abzufinden, dass ein erstmals und neu gelernter Inhalt – so gut man ihn auch zunächst beherrscht – nach einiger Zeit unweigerlich zum größten Teil verschollen sein wird.
26
1.6.2 Überlegungen dem Vergessen entgegen zu wirken Das "Verdunstungsbestreben" frisch gelernter Inhalte war wohl schon vor der wissenschaftlichen Beschreibung aus Beobachtungen alltäglicher Lernsituationen bekannt. Und so hat man eine Reihe von Strategien entwickelt, die ein Versickern neu gelernter Inhalte verhindern sollten. Man lernt eben nicht nur so lange, bis man einen neuen Inhalt "gerade eben" beherrscht, sondern „büffelt“ darüber hinaus weiter. Dieses "Überlernen" kann den Gedächtnisverlust vermindern. 1.6.3 Verhinderung des Vergessensverlustes Den neu gelernten Inhalt „überlässt man zunächst seinem Schicksal“. Das führt dazu, dass ein Teil des Gelernten zunächst verloren geht. Nach einiger Zeit führt man aber eine erste Wiederholung durch. Der gesamte Lernstoff ist wieder präsent. Zwar vergisst man auch dann wieder einen Teil des Gelernten – dieser Teil ist jedoch kleiner als zuvor. Die Halbwertszeit ist wesentlich länger geworden. So kann man in immer längeren Zeitabschnitten kurze Wiederholungsphasen einblenden und den auf jede andere Weise unvermeidbaren Gedächtnisschwund verhindern. % 100 80 60
2. Wiederholung 1. Wiederholung
40
0
Zeit
1.6.4 Moderne Vorstellungen dem Vergessensverlust entgegen zu wirken Im Folgenden werden zwei Möglichkeiten dargestellt, dem Vergessen entgegen zu wirken.
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1.6.4.1 Das selbstständige Durchdringen des Stoffes Das Wissensgedächtnis hat sehr viele Module oder "Schubladen", die im Prinzip zwar unabhängig voneinander arbeiten können, aber miteinander verbunden sind. Dabei werden unterschiedliche Aspekte des Lerninhalts (Personen, Geschehnisse, Objekte, Orte, Namen, Farben, der emotionale Zustand, die Neuigkeit usw.) in unterschiedlichen Schubladen abgelegt. Entsprechend gilt: in je mehr Gedächtnis-Schubladen ein Inhalt parallel abgelegt ist, desto besser ist die Erinnerbarkeit, denn das Abrufen eines bestimmten Aspektes befördert die Erinnerung anderer Aspekte und schließlich des gesamten Wissensinhalts. Wissensinhalte sind über Bedeutungsfelder miteinander vernetzt. Je mehr Wissensinhalte einer bestimmten Kategorie bereits vorhanden sind, desto besser ist die Anschlussfähigkeit. Deshalb ist es ratsam, Dinge im ersten Schritt anschaulich und alltagsnah darzustellen. Damit wird die Anschlussfähigkeit dieser Inhalte an die bereits vorhandenen Inhalte erhöht. Dinge, die für den Lernenden neu, d. h. nicht vernetzt sind, werden nur sehr schlecht im Gedächtnis abgespeichert. Zu diesen Inhalten konnten noch keine Verbindungen hergestellt werden. Erst im Laufe der Zeit werden solche Vernetzungen realisiert. Sind hingegen bereits Verknüpfungspunkte vorhanden, wird der neue Inhalt schnell und leicht erinnerbar ins Gedächtnis übertragen. Die schlechteste Lernmethode ist das Pauken, d. h. das simple Auswendiglernen. Hierbei werden Gedächtnisnetzwerke lediglich durch das Wiederholen von Inhalten ausgebildet. Dies klappt immer, und zwar auch dann, wenn weder Lerninteresse noch Vorwissen vorhanden sind. Pauken und Auswendiglernen haben aber einen entscheidenden Nachteil: Sie sind eine Variante des motorischen Lernens und nicht des semantischen Lernens, d. h. inhaltlich bedeutsamen Lernens. Man beherrscht eine bestimmte motorische Fertigkeit (Fertigkeitslernen, z. B. Fahrrad fahren, Klavier spielen, Maschinen bedienen), aber man versteht nicht, wie es funktioniert, und diese Fähigkeit ist – anders als inhaltliches Wissen – nicht auf andere Gebiete übertragbar. Es findet kein Transfer statt. So kann man Wissen mechanisch erwerben und anwenden, Lehrbuchinhalte auswendig lernen, aber man hat sie dann nicht semantisch, d. h. in ihrer Bedeutung erfasst und kann nicht mit ihnen weiterarbeiten. Am wichtigsten ist also das Gegenteil von Pauken, nämlich das selbständige Durchdringen des Stoffes. Dies bedeutet im Gedächtnis, dass bei der Konsolidierung der entsprechenden Gedächtnisinhalte Verbindungen zu 28
anderem Wissen hergestellt und sogar neue Vernetzungen von Wissensbestandteilen angelegt werden, in denen das Wissen abstrahiert, systematisiert und damit viel leichter auf andere Fälle übertragbar wird. 1.6.4.2 Lernphasen und Lernpausen Genau genommen sind die optimalen Zeitintervalle von Art und Inhalt des neu Gelernten abhängig. Doch als grobe und leicht zu merkende Faustregel kann man sagen: Im Anschluss an einen Lernblock sollte die erste Pause 5 Minuten betragen, die zweite 10 und die dritte 20 Minuten. Mit diesem Schema kann man eine ganz erhebliche Verbesserung der Behaltensleistung erzielen und mit geringstem Aufwand ein optimales Behalten erzielen. Generell gilt für alles Einprägen, dass man die Lernzeit über einen längeren Zeitraum aufteilt. Einen Monat hindurch jeden Tag 10 Minuten lernen (= 300 Minuten) bringt unvergleichlich mehr als einmal im Monat 5 Stunden (= 300 Minuten) büffeln. Das Vergessen ist ein normaler Vorgang. Es hängt eng mit der Funktionsweise unseres Gehirns zusammen. Unter einer langfristigen Perspektive betrachtet spricht man dann oft von Gedächtnisverlust. Es gibt viele verschiedene Ursachen dafür: • Der Häufigste, aber auch vermeidbare Grund ist Stress (vergl. Kasten 1.1). • Eine andere Ursache für das Vergessen kann man hingegen nicht beeinflussen. Es ist das Alter. Ein Teil des Gedächtnisses wird im Alter schlechter. • Neben diesen Hauptverursachern der Vergesslichkeit können auch Drogen, Medikamente und Alkohol die Speicher- und Erinnerungsfähigkeiten angreifen. Wenn die Drogen keine Schäden im Gehirn angerichtet haben, etwa durch jahrelangen Missbrauch, dann kann sich das Gedächtnis allerdings nach dem Absetzen der Drogen wieder verbessern. Alkohol „löscht“ aber unmittelbar vorher Gelerntes. • Wissenschaftler nehmen an, dass auch die Ernährungsgewohnheiten das Gedächtnis beeinflussen. Vor allem eine Mangelernährung kann das Gedächtnis (und auch die Intelligenz) verschlechtern. • Sicher ist, dass sich Depressionen ebenfalls auf unser Gedächtnis auswirken. Man nimmt an, dass sie die Gedächtnisleistungen auf ähnliche Weise mindern wie Stress. • Auch Nervosität und die Sorge um ein schlechtes Gedächtnis scheinen zum Vergessen zu führen. 29
1.7 Das Erinnern Im Folgenden werden Faktoren genannt, die einen positiven Einfluss auf das Gedächtnis und/oder das Erinnern ausüben. 1.7.1 Die Bedeutung der Gedächtnisinhalte und ihre Encodierung Die Encodierung der Gedächtnisinhalte erfolgt nach ihrer Bedeutung, d. h., je vertrauter das Material und je besser die Organisation, umso besser ist das Behalten und Erinnern. Man erinnert sich häufig eher an den Inhalt oder den Sinn eines gehörten Satzes als an den tatsächlichen Wortlaut – ein bei Prüflingen oft feststellbares Phänomen, wenn sie nicht den Sinn des gelernten Stoffes verstanden haben, sondern diesen repetitiv auswendig gelernt haben. Sie versuchen dann verzweifelt, den vollständigen Satz wiederzugeben, was unter der Prüfungssituation meist vergebliche Mühe bedeutet. Mit größerer Wahrscheinlichkeit wird demnach eher die Bedeutung oder der Inhalt von Sätzen gespeichert als deren genaue Struktur. Ein Satz, dessen Inhalt und Bedeutung wir nicht verstanden haben, lässt sich kaum zu einer erinnerbaren Informationseinheit organisieren und daher nur sehr schwer merken. Eine Reihe von Worten lässt sich leichter speichern, wenn diese zuerst in eine sinnvolle Struktur gebracht werden. 1.7.2 Gedächtnis und Emotionen Gedächtnisinhalte werden auch dann am Besten gespeichert, wenn sie inhaltlich hoch emotional sind. Verkettung und elaborierendes Wiederholen helfen bei der Vorbereitung von Material für das langfristige Speichern, weil sie es organisieren und mit mehr Bedeutung versehen. 1.7.3 Bildhafte Vorstellungen und Gedächtnis Bildhafte Vorstellung ist eine der effektivsten Formen der Encodierung, vielleicht deshalb, weil sie sowohl für verbale als auch für visuelle Erinnerungen gleichzeitig Codes bereitstellt. Man erinnert sich an Wörter, indem man sie mit Vorstellungsbildern assoziiert – je lebhafter und deutlicher, desto besser.
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1.7.4 Encodierspezifität und Gedächtnis Encodierspezifität bezeichnet den Umstand, dass Erinnerungen aus dem episodischen Gedächtnis dann am leichtesten abgerufen werden können, wenn die Umstände des Abrufs denen des Erwerbs ähneln. Das Prinzip der Encodierspezifität berücksichtigt den engen Zusammenhang von Encodierung, Speicherung und Abruf. Je besser die Abstimmung zwischen der Organisation der Encodierung und den Hinweisen, die später beim Abrufen gegeben werden, umso besser wird die Erinnerungsleistung sein. Die Speicherung ist abhängig von Kontext und Zustand beim Speichern. Wird man z. B. von einer Person geprüft, die gleichzeitig auch Lehrende war, wird man bessere Leistungen erzielen, da man mit den Gedankengängen dieser Person besser vertraut ist. 1.7.5 Kontextabhängigkeit des Erinnerns Neues Material wird leichter gelernt, wenn man auch die Einzelheiten der Begleitumstände der Lernsituation (den Kontext der Encodierung) einspeichert. Wenn man etwas verloren hat, geht man den Weg nochmals ab und findet plötzlich das Gesuchte. Taucher erinnerten Material, das sie unter Wasser gelernt hatten, besser, wenn sie unter Wasser getestet wurden, selbst dann, wenn das Material selbst nichts mit Tauchen oder Wasser zu tun hatte. Die Kontextabhängigkeit ist ein Grund dafür, dass es nicht sinnvoll ist, in lauter Umgebung zu lernen (z. B. mit Radio), wenn man in einem stillen Raum geprüft werden wird. Der Abruf wird besser sein, wenn es keine großen Unterschiede im physischen oder psychischen Zustand beim Lernen und beim Abruf gibt. Wenn man im glücklichen Zustand etwas gelernt hat, wird es einem im traurigen Zustand schwerer fallen, sich daran zu erinnern, als wenn es einem gelingt, die glückliche Stimmung wieder herzustellen. Alkoholiker etwa können Verhaltensweisen, die sie unter Alkohol gelernt haben (z. B. selbstbewusstes Verhalten, bestimmte sexuelle Aktivitäten, ein Gedicht usw.) besser wieder unter Alkohol aktivieren als nüchtern. Depressive können in ihrer traurigen Phase kaum die glücklichen Zeiten ihrer Ehe lebhaft erinnern, auch wenn diese nachweisbar gegeben waren. Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung (Vergewaltigung, Körperverletzung) erleben ihre traumatischen Erinnerungen deshalb so belastend, weil sie im Zustand großer Angst und Erregung gespeichert wurden und in diesem Zustand auch wieder in Erinnerung treten. 31
1.7.6 Erinnern als konstruktiver Prozess Das Finden von Erinnerungen im episodischen Gedächtnis ist häufig eine Rekonstruktion, also ein konstruktiver Prozess und nicht einfach ein Prozess des mechanischen Aufzeichnens. Beim Erinnern ergänzen wir das Erinnerungsmaterial oft durch das Ausfüllen von Lücken nach dem Prinzip der größten Wahrscheinlichkeit, Hinzufügen von Einzelheiten zur Vervollständigung, Abrunden zu einem stimmigen Gesamtbild gemäß einer bestimmten Hypothese oder Theorie, Formung des Erinnerungsmaterials nach dem Prinzip der "guten Gestalt", Veränderungen des Gedächtnisinhalts nach den jeweiligen Gefühlen und Motiven. Erinnern ist die Fortsetzung des aktiven konstruktiven Prozesses der Wahrnehmung. Die Vorstellung, dass unsere Erinnerung das Erlebte wie ein Foto oder Videofilm speichert und wiedergibt, ist somit grundfalsch. Konstruktive Prozesse treten entweder auf der Stufe der Enkodierung auf, wenn das Material zum ersten Mal verarbeitet wird oder später, wenn es wieder abgerufen wird. Bei konstruktiven Gedächtnisprozessen spielen Schemata eine wichtige Rolle, also kognitive Strukturen, die aus vergangenen Erfahrungen aufgebaut wurden und Erwartungen und einen Interpretationskontext für neue Erfahrungen bereitstellen. Folglich beeinflussen sie, woran man sich erinnert. Es besteht eine ausgesprochene Neigung, neue Informationen in das bereits Bekannte einzuordnen. Viele der Konstruktionen und Verzerrungen beim Erinnern resultieren daraus, dass neue Informationen im Licht der Erwartungen aufgrund bereits existierender Schemata interpretiert werden (z. B. Erinnern des Gesichts einer schwarzen Person gemäß den Stereotypien, die wir von Schwarzen haben). Weitere Informationen oder falsche Informationen, die während des Abrufs dargeboten werden, können die Erinnerung beeinflussen, ohne dass der Erinnernde dies bemerkt. Aus dem Gesagten ergibt sich auch die Problematik von Augenzeugenberichten bei Gericht (z. B. anlässlich eines Autounfalls, wo verschiedene Zeugen dasselbe völlig unterschiedlich wahrgenommen und/oder erinnert haben).
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1.8 Tipps zum effektiven Lernen 1. Das Gedächtnis verbessern! Die Verbesserung der Gedächtnisleistung trägt sehr viel zu einer Steigerung der Lernleistung bei. Besonders wertvoll ist hierbei „verteiltes Lernen“ und „strukturiertes Lernen“. 2. Immer weiter lernen – niemals mit dem Lernen aufhören! Lernen ist Übungssache. Deshalb ist es wichtig, niemals den Lernprozess zu unterbrechen. Das Gelernte muss darüber hinaus auch benutzt werden – sonst wird es wieder vergessen. „Gehirntraining“ lässt sich mittels eines MRT (MagnetResonanz-Tomographie) als „anwachsen“ des Gehirns nachweisen. Beendet man das lernen, nimmt auch die Gehirnmasse wieder ab. 3. Verschiedene Kanäle beim Lernen benutzen! Je mehr Sinneskanäle beim Lernen genutzt werden, desto größer ist der Lernerfolg: In einer Vorlesung ist der Lernkanal der akustische Kanal (man lernt, was man hört), beim Lesen eines Buches ist es der visuelle Kanal (man lernt was man sieht), beim Lernen in der Gruppe ist es der soziale Kanal (man lernt durch die Interaktion mit anderen). Beim Lernen wird der neue Lernstoff mit bereits bekannten Inhalten verknüpft – dieser Verknüpfungsprozess ist der eigentliche Lernprozess. 4. Das, was man selbst gelernt hat, andere lehren! Eine der besten Möglichkeiten sich Lernstoff anzueignen, ist den Lernstoff anderen beizubringen. Zunächst sollte man versuchen, den Lernstoff mit eigenen Worten zusammenzufassen. Dies führt bereits zu einer signifikanten Verbesserung der Lernleistung. Anschließend sollte man das gelernte anderen beibringen. Dies führt zu einer besseren Behaltensleistung des Stoffes. 5. Früher Gelerntes dazu nutzen, sich Neues anzueignen! Den neuen Stoff in bekannte Sachverhalte einsortieren und damit unmittelbar nutzbar machen. Querverbindungen zwischen dem neuen Stoff und bereits bekannten Lerninhalten herstellen. Den neuen Lerninhalt auf andere Sachverhalte übertragen (Transfer).
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6. Das Gelernte praktisch umsetzen! Nicht nur die Theorie beherrschen. Neue Lerninhalte sollten schnell praktisch umgesetzt werden. Das Lösen von Übungsaufgaben ist hierbei hilfreich; auch Projekte, die die neuen Lerninhalte in die Praxis umsetzen, sind empfehlenswert. (Beispiel: Eine Fremdsprache lernt man am besten durch aktives Sprechen dieser Sprache.) 7.
Nicht zu lange nach einer Antwort suchen – besser die Lösung nochmals nachschlagen!
Wenn es während des Lernprozesses nicht möglich ist die korrekte Antwort zu geben ist es effektiver, sofort die richtige Lösung nachzulesen, statt lange im Gedächtnis nach der Lösung zu suchen. Ansonsten würde auch bei späteren Lerndurchgängen die richtige Antwort nicht gegeben werden können. Man hat den „Fehler“ gelernt. 8. Den eigenen optimalen Lernstil kennenlernen! Es ist wichtig, die eigenen Lernstile und/oder Lerngewohnheiten zu kennen: lernt man besser mittels des akustischen oder des optischen Kanals, zu welcher Tageszeit lernt man am effektivsten, welches Fach fällt am leichtesten/schwersten, wie ist die individuelle Intelligenzstruktur angelegt, wo hat man Stärken und Schwächen? 9. Sich einem Selbsttest zum Lernstoff unterziehen! Um den Lernstoff optimal zu lernen empfiehlt es sich, Selbsttests zu unterziehen. Kleine, selbstgestellte Aufgaben müssen beantwortet werden. Dies ist effektiver, als dieselbe Zeit mit Lernwiederholungen zu verbringen. Dies gilt sogar für den Lernstoff, der nicht explizit im Test abgefragt wurde. 10. Sich immer auf einen Lerngegenstand konzentrieren! – Multitasking beenden Multitasking verringert die Effektivität des Lernens! Die verschiedenen Lernkanäle sollten zwar beim Lernprozess beteiligt sein, allerdings nacheinander und nicht gleichzeitig. Der immer wieder dargestellte Vorteil von Multitasking muss nach neuesten Forschungsergebnissen zum Lernerfolg als Legende bezeichnet werden.
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2
Kommunikation
Man kann nicht nicht kommunizieren ... (WATZLAWICK 1969) Die Kommunikation ist eine wichtige Grundlage menschlichen Verhaltens. Gleichzeitig bildet dieses Kapitel eine notwendige Grundlage für nachfolgende Kapitel (insb. Kapitel 2). Somit wird durch die Überlegungen zur Kommunikation der Grundstein für das Verständnis der Themen "Gruppe" und "Arbeitsteam" gelegt. Kasten 2.1
Definition: Was ist Kommunikation? Kommunikation ist eine wechselseitige, aufeinander abgestimmte Informationsübertragung zwischen zwei oder mehreren Interaktionspartnern.
2.1 Grundbegriffe der Kommunikation 2.1.1 Kommunikationsformen • Direkte Kommunikation (z. B. Vortrag) • Interaktionale Kommunikation (z. B. Gespräch) • Massenkommunikation (z. B. Fernsehen) • Metakommunikation (z. B. Ironie) Diese verschiedenen Kommunikationsformen können wiederum in verschiedenen Kommunikationssystemen stattfinden. 2.1.2 Die wichtigsten Kommunikationssysteme • Akustische Kommunikation (z. B. Gespräch) • Chemische/olfaktorische Kommunikation (z. B. Gerüche, Wirkung des Parfüms) • Optische Kommunikation • Multikanalkommunikation (alle Systeme werden gleichzeitig genutzt) Menschliche Kommunikation wird überwiegend über den akustischen Kommunikationskanal aufrechterhalten. Deshalb ist jede Störung der akustischen Kommunikation besonders problematisch für die Betroffenen (vgl. 35
hierzu die besonderen Schwierigkeiten von gehörlosen bzw. schwerhörigen Personen). Auch die besonderen psychischen Probleme von älteren Personen sind zu beachten.
2.2 Kommunikationsmodelle (Erklärungsansätze) Das bekannteste und am häufigsten diskutierte Kommunikationsmodell von SHANNON und WEAVER (1949) stammt aus der Technik, wurde jedoch in Ermangelung besserer psychologischer Modelle lange Zeit überwiegend diskutiert. In den letzten Jahren sind jedoch eine Reihe von interessanten psychologischen Modellen hinzugetreten, die die Besonderheiten menschlicher Kommunikation besser beschreiben können. Es sollen an dieser Stelle folgende Modelle dargestellt werden: 2.2.1 Das Modell von SHANNON und WEAVER (1949) Dieses Modell stammt ursprünglich aus der Nachrichtentechnik, fand aber sehr schnell Einzug in die Psychologie. Hierbei steht die Darstellung des Kommunikationsprozesses im Vordergrund. Der Grundaufbau sieht folgendermaßen aus: Quelle
Sender
Kanal
Empfänger
Ziel
Person A
Sprechapp.
Rauschen
Gehör
Person B
Dieses Grundsystem kann mannigfaltig ausgebaut werden und an die jeweiligen Kommunikationssysteme angepasst werden.
2.2.2 Axiome der Kommunikation von P. WATZLAWICK (1969) • Man kann nicht nicht kommunizieren. • Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungs-Aspekt, derart, dass letzterer den ersteren bestimmt.
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• Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Interaktionsabläufe seitens der Partner bedingt. • Menschlicher Kommunikation bedient sich digitaler und analoger Modalitäten. Digitale Kommunikationen haben eine komplexe und vielseitige logische Syntax, aber eine auf dem Gebiet der Beziehungen unzulängliche Semantik. Analoge Kommunikationen hingegen besitzen dieses semantische Potential, ermangeln aber die für eindeutige Kommunikation erforderliche Syntax. • Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht. 2.2.3 Das 4-Seiten-Modell der Kommunikation (SCHULZ VON THUN 1981) Das Modell der zwischenmenschlichen Kommunikation dient dazu, sich persönlich und sachlich besser zu verstehen. Dieses Modell wurde von Schulz von Thun, Bernd Fittkau und Inghard Langer entwickelt. Grundlage waren die Beiträge und Ansätze von Carl Rogers, Ruth Cohn und Paul Watzlawick. Das 4-Seiten-Modell ist ein Strukturmodell und basiert auf der Feststellung, dass eine Verständigung zwischen Personen nur dann erfolgt, wenn die vom Empfänger empfangene Nachricht mit der vom Sender gesendeten Nachricht übereinstimmt. Bei jeder Kommunikation sind ein Sender und ein Empfänger beteiligt.
2.2.3.1 Die Kommunikation aus Sicht des Senders Der Sender teilt dem Empfänger sein Anliegen verschlüsselt in Form einer Nachricht mit. Der Empfänger entschlüsselt die Nachricht. In der Regel stimmt die gesendete und empfangene Nachricht überein. In nicht seltenen Fällen wird die Nachricht vom Empfänger anders interpretiert als sie ursprünglich gesendet wurde. Die Ursache dafür ist, dass eine Nachricht eine Vielzahl von Botschaften enthält. Es werden 4 Botschaften der Nachricht unterschieden: der Sachinhalt, die Selbstkundgabe, die Beziehung und der Appell. Der Sender sendet gleichzeitig auf allen 4 Seiten: 1. Sachinhalt Die Botschaft besteht aus Informationen, Fakten und Argumenten, frei von menschlichen Gefühlen. 37
2. Selbstkundgabe Eine Nachricht enthält neben den gesendeten Sachinhalten auch Informationen über die Person des Senders. Wenn ich etwas von mir gebe, gebe ich etwas von mir. Die Selbstkundgabe enthält vom Sender aus betrachtet eine Ich-Botschaft. 3. Beziehung Eine Nachricht zeigt auf der Beziehungsseite 2 Botschaften auf: was der Sender von ihm hält, wie er ihn sieht (Du-Botschaften) und wie der Sender die Beziehung zwischen sich und dem Empfänger sieht (Wir-Botschaften). 4. Appell Der Zweck einer Nachricht besteht in den meisten Fällen darin, dass der Sender Einfluss nehmen will, dass er etwas bewirken will. Kasten 2.2
Beispiel: Die Ehefrau (Sender) sagt zu ihrem Ehemann (Empfänger): Klaus du hast kein Brot gekauft! Es stellt sich die Frage was für bewusste oder unbewusste Botschaften diese Nachricht enthält. Sachinhalt: Wir erfahren in diesem Beispiel, dass Klaus kein Brot gekauft hat. Das Ehepaar befindet sich in einem „brotlosen“ Zustand.
Die Selbstkundgabe: Hier ist die Information enthalten, dass die Ehefrau deutschsprachig ist, und dass sie Hunger hat und gerne Brot essen würde, dass sie aufmerksam ist und deshalb bemerkt hat, dass kein Brot da ist. Die Beziehung: Wie steht die Ehefrau zum Ehemann? Die Ehefrau gibt zu verstehen, dass Klaus vergesslich ist und nicht von sich aus Brot kaufen kann. Wie sieht die Ehefrau die Beziehung zu ihrem Ehemann?: Die Nachricht enthält die Botschaft, wir sind miteinander vertraut, so dass ich von dir erwarten kann, dass du Brot kaufst. Sicherlich kann sein, dass Klaus mit dieser Definition nicht einverstanden ist. Der Appell: Du sollt Brot kaufen! 3 Dinge sind hierbei zu beachten: Auf allen 4 Seiten der Kommunikation muss Klarheit herrschen.
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In einer Nachricht sind viele Botschaften gleichzeitig enthalten. Dies führt dazu, dass der Empfänger sehr schnell in Verwirrung geraten kann (Gleichzeitigkeit). Die 4 Aspekte sind gleichrangig. Sicherlich kann in der einen oder anderen Situation eine der 4 Seiten überwiegen. Im Geschäftsleben und in der Schule überwiegt zwar die Sachseite, jedoch unterschwellig spielt die Beziehungsseite und die Selbstkundgabeseite eine große Rolle (Gleichrangigkeit).
2.2.3.2 Die 4 Ohren des Empfängers Bisher wurde die Nachricht aus der Sicht des Senders geschildert. Der Empfänger hat zwar nur 2 Ohren, bräuchte aber 4. Er kann auswählen, ob das Sach-, Selbstkundgabe-, Beziehungs- oder Appellohr auf Empfang schaltet. Die Probleme beginnen dann, wenn dem Empfänger nicht bewusst ist, dass er einige seiner Ohren abgeschaltet hat. Bei vielen Empfängern ist unabhängig von den Situationserfordernissen ein Ohr auf Kosten der anderen besonders gut ausgebildet. Kasten 2.3
An dieser Stelle zurück zu unserem Beispiel mit dem Brot: Je nachdem welcher Aspekt für dem Empfänger im Vordergrund steht wird er auf das dementsprechende Ohr reagieren. Wenn er auf dem ...ohr hört: Sachohr: Ja, ich habe auch gesehen, dass Brot fehlt. Selbstkundgabeohr: Hast du etwa Hunger? Beziehungsohr: Machst du mir Vorwürfe? Appellohr: Er geht Brot kaufen. Wie aus dem Beispiel ersichtlich führt die freie Auswahl des Empfängers zu Störungen und zwar dann, wenn der Sender auf einer der Seiten sendet und der Empfänger die Nachricht auf einer Seite empfängt (decodiert), auf welche der Sender das Gewicht nicht legen wollte. Das Sach-Ohr
Viele Empfänger beziehen sich auf das Sachohr. Dies führt dann zu Problemen, wenn der Sender nicht auf der Sachseite sendet, sondern z. B. auf der Beziehungsseite.
39
Kasten 2.4
Beispiel: Die Frau sagt: Heute Nacht leuchten die Sterne besonders schön. Der Mann antwortet: Ja, Sterne sind selbstständig leuchtende Gaskugeln im Weltall, die streng von gleichfalls als helle Lichtpunkte am Himmel erscheinende Planeten zu unterscheiden sind. In diesem Beispiel reden die beiden aneinander vorbei. Das Beziehungs-Ohr
Bei manchen Empfängern ist das Beziehungs-Ohr überproportional entwickelt. Es ist sehr groß und überempfindlich. Kasten 2.5
Beispiel: Sie tragen heute ein sehr schönes Kleid! Ja, hat Ihnen etwa das Kleid von vorgestern mit dem Elefantenmuster nicht gefallen? Diese Personen nehmen alles persönlich, fühlen sich leicht angegriffen und beleidigt. Sie liegen ständig auf Beziehungslauer. Das Selbstkundgabe-Ohr
Es kann gesünder sein ein gut entwickeltes Selbstkundgabe-Ohr als ein überempfindliches Beziehungs-Ohr zu haben. Hier wird die Nachricht vom Empfänger unter dem Aspekt empfangen: Was sagt sie mir über sich? Kasten 2.6
Beispiel: Warum hast du das Fleisch aufgetaut? Ich wollte doch heute Spagetti mit Tomatensoße und nicht Spagetti Bolognese zubereiten. Der Ehemann statt, dass er sich angegriffen und schuldig fühlt, denkt: Ich kann nie etwas Recht machen, ständig hat meine Frau etwas an mir auszusetzen, denkt sich: Wahrscheinlich hat sie sich im Geschäft mal wieder genervt, sie hat einen schlechter Tag gehabt. Beziehungen wären viel weniger von Konflikten geplagt, wenn die Nachrichten auf diesem Ohr empfangen würden.
Das Appell-Ohr
Der Empfänger ist auf dem Appellsprung. Er liest die Wünsche des Senders von den Lippen ab.
40
Kasten 2.7
Beispiel: Ehemann: Es ist kein Bier da! Ehefrau: Liebling, ich hole dir sofort eins! Der Empfänger verhält sich wie ein Automat. Die Nachricht besteht aus vielen Botschaften.
2.2.3.3 Expliziten und impliziten Botschaften Explizit bedeutet, dass sie ausdrücklich formuliert werden, und implizit, dass sie nicht direkt gesagt werden, sozusagen zwischen den Zeilen zu lesen sind. Implizite Botschaften werden im Tonfall oder in der Formulierung oder durch Gestik und Mimik übertragen. Kasten 2.8
Beispiel:
- explizit:
Ich sage: „Ich komme aus Rumänien.“
- implizit: an meinem Akzent hören Sie, dass ich aus Rumänien komme. Die Nachrichtenanteile können auch nonverbal sein. Dieser Kanal wird überwiegend für die impliziten Botschaften angewandt. Dabei wird über die Stimme, über die Aussprache und Betonung, über die begleitende Mimik und Gestik teils eigenständige und teils qualifizierende Botschaften gesandt. Qualifizierend bedeutet: die Botschaft zeigt auf, wie der sprachliche Anteil zu verstehen ist. Kasten 2.9
Beispiel: Sofort räumt ihr euere Spielzeuge auf! Hier sind die begleitenden nonverbalen Signale sehr wichtig. Beispiel für nonverbale Kommunikation: Morgens komme ich an der Pforte vorbei. Ich begrüße die Pförtnerin mit der Bemerkung das Wochenende war viel zu kurz. Sie sagt nichts und liest weiter vertieft die Zeitung. Damit will sie sagen: Selbstkundgabe
Ich will meine Ruhe haben.
Beziehungsseite
In Moment interessiert mich nicht was sie sagen.
Appell
Fangen Sie bloß kein Gespräch mit mir an! 41
2.2.3.4 Kongruente und inkongruente Nachrichten Die Nachricht enthält sprachliche und nichtsprachliche Anteile. Es trägt zur Verwirrung bei wenn sich die sprachlichen und nichtsprachlichen Anteile widersprechen. Eine Nachricht heißt dann kongruent, wenn die genannten Anteile miteinander übereinstimmen. Kasten 2.10
Beispiel: Zu „du Schelm!“ passt ein nettes Lächeln. Problematisch sind die inkongruenten Nachrichten. In dieser Konstellation passen die sprachlichen und nichtsprachlichen Signale nicht zueinander. Kasten 2.11
Beispiel: Wie geht es dir? Prima! Aber der Tonfall und die Mimik drückt aus, dass doch etwas nicht stimmt.
2.2.3.5 Störungen Die Sachseite 2 Probleme sind hier herauszugreifen:
• die Gespräche laufen nicht sachlich ab. • die Sachinformation kommt beim Empfänger nicht an, weil sie nicht verständlich genug dargestellt wird. Sachlichkeit bedeutet, dass beim Abwägen von Entscheidungen rein auf Informationen und Argumente einzugehen ist. Die Kommunikation ist frei von Gefühlen und Feindseligkeiten. Häufig ist dies aber nicht der Fall. Die Sachkontroverse rutscht des Öfteren in die Beziehungsebene hinein. Um dies zu verhindern bieten sich 2 Strategien: 1. Strategie: Das gehört nicht hierher!
Es handelt sich hierbei nur um eine zeitsparende Notlösung. Für eine langfristige Kooperation ist sie nicht empfehlenswert. Eine positive Sachlichkeit kann nur auf die menschlichen Beziehungen aufgebaut werden. Außerdem kann es eine absolute Sachlichkeit nicht geben, da die unsachlichen Impulse Teil der Realität sind und zu den Menschen gehört.
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2. Strategie: Die Metakommunikation
Es handelt ich um die Auseinandersetzung über die Art wie wir miteinander umgehen und über die Art wie wir die gesendeten Nachrichten gemeint und die empfangenen Nachrichten entschlüsselt und darauf reagiert haben. Dies bedeutet, dass wir von uns Abstand nehmen und bewusst analysieren was sich in einem selbst und zwischen uns abspielt bzw. abgespielt hat. Dabei ist wichtig, dass die eigene Innenwelt bekannt ist, und dass der Mut zur Selbstkundgabe vorhanden ist. Als Hilfe dienen die 4 Seiten der Nachrichten. Verständlichkeit
Bei der Verständlichkeit sind 4 Dimensionen zu unterscheiden: Kasten 2.12
Einfachheit
Kompliziertheit
Gliederung – Ordnung Unübersichtlichkeit – Zusammenhanglosigkeit Kürze – Prägnanz
Weitschweifigkeit
Zusätzliche Stimulanz keine zus. Stimulanz (Beispiele, Auflockerung) Die Selbstkundgabeseite
Der Sender stellt sich die Frage: Wie stehe ich in den Augen des anderen da? Er ist von einer Selbstkundgabeangst befallen. Deshalb trauen sich Schüler oft nicht den Mund aufzumachen. Es könnte sein, dass ich die Antwort nicht weiß und in den Augen des Anderen versage. Dabei wird aber nicht beachtet, dass der Empfänger (Lehrer) meist andere Sorgen hat. Um gut da zu stehen verwendet der Sender verschiedene Selbstdarstellungund Selbstverbergungstechniken. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Imponier- und Fassadentechniken (der Sender ist bemüht die Schokoladenseite zu zeigen), und der demonstrativen Selbstverkleinerung (er stellt sein Licht unter den Scheffel). Alle diesen Techniken stellen eine seelische Energieverschwendung dar. Da der Sender mit sich selbst so beschäftigt ist, kann er sich nicht auf den eigentlichen Sachinhalt konzentrieren. Als Wegweiser dient der antike Satz „Erkenne dich selbst“. Also, wieder die Fähigkeit zu entwickeln, zu erkennen: „was ist mit mir“. Als nächstes ist die selektive Authentizität von Ruth Cohn anzuwenden. Dies bedeutet, dass nicht alles herauszulassen ist, sondern nur ausgewählte Dinge. Schließlich darf der andere nicht als seelischer Mülleimer benutzt werden. 43
Die Beziehungsseite
Enthält 2 unterschiedliche Aspekte: So einer bist du (Du-Botschaft) und so stehen wir zueinander (Wir-Botschaft). 2 Instrumente eignen sich dafür, die zwischenmenschliche Beziehung zu untersuchen: das Verhaltenskreuz und die Transaktionale Analyse (in jedem von uns stecken 3 Persönlichkeitsinstanzen: das Eltern-Ich, das KindheitsIch, und das Erwachsene-Ich). An dieser Stelle wird lediglich auf das Verhaltenskreuz eingegangen: Es wurden Vorgesetzten- und Erzieherverhalten untersucht und das Ergebnis waren 2 Techniken mit Hilfe deren die Mitarbeiter oder die Schüler misshandelt wurden: Herabsetzung und Bevormundung. Die Vorgesetzten/Erzieher haben sich in der Art wie sie ihre Mitarbeiter/Schüler behandelt haben in 2 Hauptmerkmale unterschieden: Herabsetzung/Geringschätzung Lenkung/Bevormundung
vs.
Wertschätzung
vs.
Einräumen von Entscheidungsfreiheit.
Die Kombination dieser beiden Merkmale ergibt das Verhaltenskreuz. So sind 4 Stile zu unterscheiden: Kasten 2.13
der autoritäre Stil
Herabsetzung & Bevormundung
der patriarchalische Stil
Wertschätzung & Bevormundung
der laisse-faire-Stil
Herabsetzung & Entscheidungsfreiheit
der partnerschaftlichsozialintegrative Stil
Wertschätzung & Entscheidungsfreiheit
Bei dieser Darstellung ergeben sich enge Beziehungen zu den Führungsstilen (Sensu Lewin). Die Appellseite
Kommunikation heißt auch, etwas zu bewirken, Einfluss zu nehmen. Dabei sind 2 Grundausrichtungen zu unterscheiden: Der Ausdruck und die Wirkung. Sowohl der Sender als auch der Empfänger stehen vor der Wahl: für welchen Aspekt sich schwerpunktmäßig entscheiden. Eine Balance zwischen Ausdruck und Wirkung kennzeichnet eine ausgewogene Kommunikation. Der ausdrucksorientierte Sender drückt aus was in ihm los ist. 44
Der wirkungsorientierte Sender hat bewusst oder unbewusst ein Ziel: Was will ich erreichen bzw. verhindern? Ziel einer guten Kommunikation ist es: zu sagen was mich ärgert (Ausdruck) ohne den anderen zu verletzen (Wirkung). Jetzt sind wir wieder bei der selektiven Authentizität von Ruth Cohn. Kasten 2.14
Es sind 3 Arten von Appelle zu unterscheiden: (angelehnt an das Beispiel mit dem Brot) Heimliche Appelle:
Ich habe Hunger (mit Blick auf den Brotkorb)
Paradoxe Appelle:
Nein, nein, du brauchst überhaupt kein Brot holen
Offene Appelle:
Würdest du bitte Brot holen
2.3 Kommunikation in Mehrpersonengruppen Kasten 2.15
Kommunikation in Mehrpersonengruppen, insb. 5er-Gruppen In Mehrpersonengruppen haben u. U. nicht alle Gruppenmitglieder die gleiche Chance in die Kommunikation einzugreifen. Insbesondere kann nicht jeder ungehindert/ungefiltert mit jedem anderen Gruppenmitglied kommunizieren. BEVELAS und BARRETT (1951) haben die unterschiedlichen Möglichkeiten bei 5-Personen-Gruppen experimentell variiert, d. h. sie manipulierten, wer mit wem kommunizieren konnte. Die verschiedenen Gruppen mussten jeweils 15 Aufgaben lösen, die so gestellt wurden, dass jedes Gruppenmitglied eine Teillösung besaß. Untersuchungsvariablen: • Lösungsgeschwindigkeit • Genauigkeit • Organisation • Führerrolle • Zufriedenheit (sensu Arbeitszufriedenheit)
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Untersuchte Kommunikationsformen: • Kreis • Kette • Stern
Kreis
Kette
Stern
A
A
A
B
E C
B
D
E C
Untersuchungsvariablen Lösungsgeschwindigkeit Genauigkeit Organisation Führerrolle Zufriedenheit
D
Kreis gering gering instabil unbestimmt sehr groß
B
E C
D
Kette groß groß langsam stabil deutlich gering
Stern groß groß schnell stabil sehr deutlich sehr gering
Bei sehr komplexen Problemen ist der "Kreis" leistungsfähiger als der/die "Stern/ Kette". An dem Zufriedenheitsmaß ändert sich dabei nichts!
2.4 Kommunikation in großen Organisationen Die Kommunikation kann schriftlich oder mündlich erfolgen, formell oder informell, individuell oder gruppenbezogen, sachlich oder durch Einstellungen beeinflusst sein. Man unterscheidet Informationsfluss nach oben, nach unten oder in der Horizontalen. Die Forschung hat sich mit Problemen des relativen Vorteils verschiedener Kommunikationsmedien beschäftigt, außerdem mit dem Inhalt und der Lesbarkeit schriftlicher Mitteilungen, der Entwicklung von besonderen Kommunikationstechniken, mit Faktoren, die die Überzeugungskraft von Mitteilungen beeinflussen und mit den Ursachen von Kommunikationshindernissen und Kommunikationsversagen.
Einige Forschungsergebnisse • Sehr wirkungsvoll ist das direkte Gespräch auf allen Ebenen. • Eine Beförderung kann als Kommunikation wirksam werden (Zeichen setzen). 46
• Wo Probleme mit den Vorgesetzten diskutiert werden können, gibt es weniger Fehlzeiten. • Die Kombination von schriftlicher und mündlicher Informationsweitergabe ist am wirkungsvollsten. • Schriftliches Material ist für die große Mehrheit von Mitarbeitern oft nicht les- bzw. verstehbar. Eine Anpassung an das Bildungsniveau der Mitarbeiter muss erfolgen. • Für die Akzeptanz von Mitteilungen sind das Ansehen des Mitteilenden, die Reihenfolge der Information und Merkmale des Empfängers (z. B. Alter, Geschlecht, Bildungsstand) wichtig. • Kommunikationsversagen resultiert oft aus Voreingenommenheit, Vorurteilen, Stereotypen und starken emotionalen Assoziationen bestimmter Worte. • Je mehr Druck von oben erfolgt, desto ineffektiver ist die Kommunikation von unten, d. h. die Mitarbeiter sagen nur noch das, von dem sie annehmen, dass es der Vorgesetzte hören will. • Oft besteht eine Unfähigkeit über den eigenen Tellerrand zu blicken: Mitarbeiter sagen nur das, was für sie unmittelbar wichtig ist.
2.5 Interkulturelle Kommunikation 2.5.1 Kulturunterschiede in der verbalen Kommunikation Sprache hilft dem Menschen, die Welt und damit die Wirklichkeit "zu konstruieren". Dies geschieht in unterschiedlichen Kulturen auf unterschiedliche Art und Weise. SAPIR und WHORF haben hierzu ein theoretisches Konzept entwickelt (Sapir-Whorf-Hypothese). Demnach wird die reale Welt durch die Sprachgewohnheiten einer Menschengruppe konstituiert. (vergl. kritischer Konstruktivismus). Objektive Gegebenheiten werden damit in kulturspezifische Handlung., Bedeutungs- und Bewertungsschemata eingebettet. Deshalb haben gleiche Wörter in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Bedeutungen. Eine Übersetzung wird damit nur selten äquivalent sein. Zum Problem kann dieses Phänomen dann werden, wenn Begriffe wie Demokratie, Produktivität, Profit, Gewerkschaft in interkulturellen Diskussionen verschieden gebraucht werden.
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Kulturbedingte Unterschiede sind auch in Sprechakten zu beobachten. So folgt in Japan auf eine Gefälligkeit eine Entschuldigung, in Deutschland bedankt man sich. Auch gibt es Unterschiede in der Argumentation. In manchen Kulturen wird induktiv argumentiert, in anderen Kulturen eher deduktiv. Aspekte kultureller Unterschiedlichkeiten hinsichtlich verschiedener Kriterien können sein: Kasten 2.16
Kriterium
Unterkriterium
Aspekte kultureller Unterschiedlichkeit
Anrede
direkte Anrede
Herr, Frau, Titel, Vor- oder Nachname,
Situationsbezug
am Arbeitsplatz, im Verein
Pronomen
Sie, Du
Persönliche Beziehung Themenwahl
Diskussion
Inhalt und Dauer pers. Themen zur Auflockerung
Machtverhältnis
immer die Wahrheit sagen, Delegation von Aufgaben
Ausführlichkeit
Abkürzungen benutzen, Knappheit von Sätzen
Stil
Fachsprache, Alltagssprache, Formalitäten
Argumentation
direkt/indirekt, deduktiv/induktiv
Zuhören
Zwischenfragen, Feedback
2.5.2 Kulturunterschiede in der paraverbalen Kommunikation Wichtige Aspekte der paraverbalen Kommunikation sind beispielsweise die Intonation, Lautstärke, Sprechrhythmus, Pausen, Sprechgeschwindigkeit, Tonhöhe. Diese Unterschiede sind zwar schwer zu erforschen, haben aber einen unmittelbaren Einfluss auf die Emotionen, die man dem Sprecher entgegenbringt. Diesen Sachverhalt wird jeder Musiker bestätigen.
48
Kasten 2.17
Was lösen folgende Merkmale bei Ihnen aus? – – – – HASENSTAB (1998)
Hohe Stimme Schnelles Sprechtempo Fallende Intonation bei einer Frage Wiederholung ihrer eigenen letzten Halbsatzes durch ihren Gesprächspartner – Sehr lange Pausen zwischen den Sätzen
2.5.3 Kulturunterschiede in der nonverbalen Kommunikation Dass es kulturelle Unterschiede in der nonverbalen Kommunikation gibt, ist offenkundig. Gleichwohl entzieht sich dieser Gegenstand einer systematischen Erforschung. Vielfach muss man sich mit dem common sense begnügen bzw. besonders eingängige Aspekte/Beispiele zur Erläuterung heranziehen. Leider lässt es sich hierbei nicht vermeiden, besonders bekannte Beispiele an dieser Stelle zu zitieren. Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass folgende Aspekte zur nonverbalen Kommunikation zu zählen sind:
• Mimik • Gestik • Blickkontakt Die Mimik wird in starkem Maße genetisch kontrolliert. Insbesondere bei Kindern aus verschiedenen Kulturen lässt sich dies belegen. Mit wachsendem Lebensalter werden die Unterschiede größer, was den Einfluss der Kultur deutlich macht. Das bekannteste Beispiel hierfür ist "das Lächeln der Asiaten", das nicht nur Freundlichkeit, Freude und Zustimmung signalisieren kann, sondern auch dazu dient, negative Empfindungen zu verbergen. Die Gestik hingegen hängt sehr viel stärker von kulturellen Einflüssen ab.
49
Kasten 2.18
Die Geste "Daumen und Zeigefinger bilden einen Kreis, die übrigen Finger sind gestreckt" bedeutet entweder: Alles O.K.
(angelsächsische Länder)
Es handelt sich um eine Beleidigung
(romanische Länder)
Symbol für Geld
(Japan)
Auch der Blickkontakt ist kulturell geprägt. In Europa wird man regelrecht dazu aufgefordert, Blickkontakt mit einem Gesprächspartner herzustellen, während in Japan das Vermeiden von Blickkontakt Erziehungsziel ist. In Westafrika wird direkter Blickkontakt gar als Bedrohung interpretiert.
2.5.4 Kulturunterschiede in der extraverbalen Kommunikation Unter der extraverbalen Kommunikation versteht man das Verhältnis der Interaktionspartner zu Raum und Zeit. Hierbei sind enge Berührungspunkte zu den HALLschen Kulturdimensionen offenkundig. Die westlichen Kulturen (Europa, Nordamerika) verfügen über einen linearen Zeitbegriff, dem das Frühere die Ursache für das Nachfolgende gehalten wird. Damit bilden sich unumkehrbare Kausalketten. Für Asien und Afrika lassen sich wesentliche Unterschiede zu einem solchen Zeitbegriff erkennen. Diese betreffen die Form, Modalität und Inhalt der Zeit. Nach asiatischen Verständnis verläuft die Zeit nicht linear, sondern zyklisch (Form). Sie besteht aus einem Diskontinuum aus günstigen und ungünstigen Momenten, die man nutzen oder vermeiden sollte und ist nicht metronomisch getaktet (Modalität). Die Zeit ist keine abstrakte Rechengröße, sondern ein erlebbarer Prozess, der durch Ereignisse (Jahresfeste, Erntezeit, usw.) strukturiert wird (Inhalt). Darüber hinaus kann die Richtung eine wichtige Rolle spielen. Dies gilt insbesondere für Argumentationsweisen in Diskussionen. Diese können an der Vergangenheit orientiert sein (Tradition), an der Gegenwart orientiert sein (Pragmatismus) oder in die Zukunft gerichtet sein. Auch der Umgang mit der Zeit unterliegt kulturellen Einflüssen. Der Grad der Industrialisierung einer Gesellschaft ist korreliert mit der Genauigkeit 50
der Zeitbestimmung (Fließbandtätigkeiten oder andere arbeitsteilige Tätigkeitsformen sind ohne exakte Zeitmessungen nicht denkbar). Daraus resultieren auch Erwartungen an die Pünktlichkeit der Interaktionspartner. Die Übernahme eines Zeitbegriffs aus einer anderen Kultur kann durchaus zu Kommunikationsproblemen führen. So fehlen in Asien noch immer Vokabeln für die Begriffe "Fortschritt" oder "Zukunft" (zit. nach HASENSTAB, 1998) Das Raumerleben lässt ebenfalls Unterschiede erkennen. Insbesondere die Frage, wo die Privatsphäre beginnt und der öffentliche Raum endet, unterliegt gewaltigen kulturellen Unterschieden. Diese Unterschiede zeigen sich u. a. im Gebrauch der Anrede "Du" bzw. "Sie". Auch innerhalb Europas sind bereits große Unterschiede feststellbar. TING-TOOMEY (1988) unterscheidet hierbei zwischen individualistischen Kulturen und kollektivistischen Kulturen, die mehr oder weniger Nähe zulassen.
2.5.5 Kulturunterschiede in der Wahl des Kommunikationsstils Maßgeblich für die Diskussion ist die Unterscheidung zwischen einem sehr knappen Kommunikationsstils, wie er in westlichen Kulturen gepflegt wird und einem elaborierten, wortreichen Kommunikationsstils, wie er z. B. in arabischen Kulturen praktiziert wird. Eine Extremform des knappen Kommunikationsstils ist z. B. in asiatischen Kulturen anzutreffen. Komplimente werden im arabischen Raum in der Regel wortreich, mit Metaphern angereichert und paraphrasierend gemacht, während dies in westlichen Kulturen sehr stark ritualisiert und durch eine kurze Betonung des zu Lobenden abläuft. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal liegt in der Zahl der verwendeten Wörter, die mit der Präferenz zur Unsicherheitsvermeidung einer Kultur verknüpft sind, begründet. Man kann sensu GUDYKUNST, TOOMEY und CHUA (1988) zwischen persönlichen und kontextuellen Stilen unterscheiden. Ein persönlicher Stil hat ein Individuum zum Mittelpunkt, während ein kontextueller Stil eine Rolle zum Mittelpunkt hat. Bedeutungen konstituieren sich beim persönlichen Stil an einer Person, während die soziale Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern beim kontextuellen Kommunikationsstil überwiegt.
51
Kasten 2.19
Nach COHEN (1987) scheiterten die Verhandlungen zwischen den USA und Ägypten in den 80er Jahren an den unterschiedlichen Kommunikationsstilen. Während die USA einen sehr knappen Stil bevorzugten, wählten die ägyptischen Vertreter einen elaborierten Kommunikationsstil.
2.5.6 Kulturunterschiede in den Zielen der Kommunikation Kommunikative Ziele sind entweder instrumentell oder verständigungsorientiert. Darüber hinaus gilt die Unterscheidung von HOFSTEDE (1990) zwischen individualistischen und kollektiven Kulturen. In individualistischen Kulturen überwiegt die instrumentelle Kommunikation (Schwerpunkt Sachlichkeit). Ein kommunikatives Ziel kann entweder direkt (explizit) oder indirekt umschrieben werden. Direkte und indirekte Sprachverwendung unterscheiden sich darin, inwieweit die Intensionen eines Kommunikationsaktes im Inhalt direkt vorhanden sind, oder inwieweit der Inhalt aus dem Kontext erschlossen werden muss. Die Unterschiede zeigen sich bereits in der Syntax und Grammatik von Sprachen. Im englischen besteht eine direkte SubjektPrädikat-Zuordnung, die es in dieser Weise beispielsweise im japanischen nicht gibt. Damit ist der Gebrauch der direkten Rede im englischen häufiger als im japanischen. Die hat auch Auswirkungen auf das soziokulturelle System. Während in den USA Kinder ermutigt werden, sich selbstbewusst zu zeigen (Subjektbetonung), sollen japanische Kinder gerade dies vermeiden. Die Spracherziehung zielt darauf ab, sich zugunsten der Gruppe zurückzunehmen. In den USA und Europa (individualistische Kulturen) wird hingegen sehr viel Wert auf die Tugend der Ehrlichkeit gelegt. Deshalb wird Ablehnung in diesen Ländern direkt (und für Angehörige dieser Kultur unmissverständlich) ausgedrückt. In Japan und den übrigen asiatischen Ländern hingegen wird Ablehnung lediglich indirekt durch rhetorische Fragen und/oder nur verhaltener Zustimmung kommuniziert. Dies hat zur Folge, dass sich Angehörige dieser beiden Kulturen sich wechselseitig der Unhöflichkeit oder der Unehrlichkeit bezichtigen. Intrakulturell sind beide Vorgehensweisen weitgehend frei von Missverständnissen. Der Gebrauch direkter Kommunikation repräsentiert demzufolge in individualistischen Kulturen (Europa, Nordamerika) die Ansprüche des Individuum, während die indirekte Kommunikation in kollektivistischen Kulturen (Asien) die Wichtigkeit der Aufrechterhaltung der Gruppenharmonie zentrieren (nach HASENSTAB, 1998). 52
2.5.7 Interkulturelle Kommunikationskompetenz Interkulturelle Kompetenz ist nicht gleichzusetzen mit Sprachkompetenz! Gute Sprachkenntnisse führen nicht zu einem tiefgreifenden kulturellen Verständnis. Dies ist insofern problematisch, da kulturelle Missverständnisse in der Regel zu schwerwiegenderen Folgen als nur sprachliche Missverständnisse führen. Kasten 2.20
Interkulturelle Trainingsmaßnahmen sollten sein: • Offenheit neuen Erfahrungen und Vorstellungen gegenüber • Scharfe Beobachtung von Unterschieden und Ähnlichkeiten zwischen
der eigenen und fremden Kultur • Fähigkeit zum Beschreiben unverständlichen Verhaltens • Distanz zum eigenen Verhalten • Kommunikationsbewusstsein entwickeln • Lernen, die Fremdperspektive einzunehmen • Reflektieren, welche Erwartungen man hat und die Erwartungen des
Kommunikationspartners antizipieren • Nur das eigene Verhalten steuern wollen, nicht das nach unbekannten
Regeln des Partners gesteuerte Verhalten steuern wollen • Der Versuch, eine Interkulturbildung gemeinsam mit dem Kommunika-
tionspartner zu wagen
53
3
Psychologie der Gruppe, das Arbeitsteam
3.1 Die Gruppe 3.1.1 Charakteristika von Gruppen Obgleich der Begriff der Gruppe in der Alltagssprache häufig verwendet wird, erscheint es doch notwendig, ihn genau zu kennzeichnen. Damit sollen Missverständnisse vermieden werden.
Kennzeichen einer Gruppe • zwei oder mehr Personen, • die Gruppenmitglieder sind aufeinander bezogen und beeinflussen sich gegenseitig, d. h. die Gruppenmitglieder stehen in Interaktion, • die Gruppenmitglieder haben mindestens ein gemeinsames Ziel oder Interesse, • die Gruppenmitglieder haben gemeinsame Normen (Richtlinien für das Verhalten in der Gruppe), • es besteht eine innere Organisation der Gruppe, d. h. unterschiedliche Rollen, • es besteht ein Wir-Gefühl (es bildet die emotionale Basis für die Existenz der Gruppe und bildet die Basis für die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen). Daneben ist es ebenso wichtig, den Begriff der Gruppe von anderen Pluralbegriffen abzugrenzen, die mindestens eins der o. g. Kennzeichen der Gruppe nicht erfüllen, z. B.:
• Menge (Personen, die zusammenkommen, ohne etwas miteinander zu tun zu haben, z. B. Warteschlange), • Masse (aktivierte, gefühlsmäßig engagierte Menge, z. B. Zuschauer bei einem Fußballspiel), • Klasse (abstrakte Einordnung von Menschen aufgrund gemeinsamer Merkmale, z. B. Arbeiterklasse), • Verband (Klasse, die gemeinsame Ziele verfolgt, aufgabenorientiert und hierarchisiert ist, z. B. Gewerkschaft), • Gesellschaft (organisierte Gesamtheit von Personen, bestehend aus einem Netzwerk von untereinander verbundenen Gruppen),
55
• Kultur (historisch gewachsenes System von Werken und Normen, das Einstellungen und Verhaltensweisen hervorbringt). 3.1.2 Gründe sich einer Gruppe anzuschließen oder sie zu gründen Vielfach wird die Meinung vertreten, dass Menschen darauf angewiesen sind, Gruppen anzugehören. Da es sich in der Tat um ein tiefverwurzeltes Bedürfnis handelt, haben sich Sozialpsychologen schon seit längerer Zeit mit den Gründen beschäftigt, die Menschen dazu bewegen, sich einer Gruppe anzuschließen. Hierzu gehören u. a. folgende Beweggründe:
• Befriedigung primärer Bedürfnisse (sensu MASLOW, vgl. Kap. 5), • Befriedigung sozialer Bedürfnisse (sensu MASLOW), • Gefühl der Zugehörigkeit und gegenseitigen Unterstützung (sensu MASLOW), • Entwicklung des persönlichen Eigenwertgefühls (sensu MASLOW), • Bedürfnis nach Selbsteinschätzung (die eigene Stellung in der Gruppe kennen), • gemeinsame Ziele erreichen. 3.1.3 Prozess der Gruppenbildung Bei der Gruppenbildung lässt sich in der Regel eine regelmäßige Abfolge verschiedener Schritte feststellen:
1. Forming Entstehungsphase: Klärung von Erwartungen, Rollen und Normen. 2. Storming Konfliktphase: Rivalitäten, Positionskämpfe, Kämpfe um Macht und Einfluss. 3. Norming Stabilisierungsphase: Normen und Rollen werden akzeptiert und es wird danach gehandelt. 4. Performing Produktivitätsphase: Leistungen werden möglich durch Kooperation und Kreativität. 56
3.1.4 Gruppenbildende Faktoren Die 4 oben beschriebenen Gruppenprozessgrößen lassen sich beim Gruppenbildungsprozess regelmäßig feststellen. Zusätzlich muss geklärt werden, welche Faktoren zur Gruppenbildung beitragen, d. h. wie es zum Zusammenschluss von verschiedenen Personen zur Gruppenbildung kommt. Gruppenbildende Faktoren sind: • Räumlich Nähe
• Gleichartigkeit der Einstellungen • Gegensatzprinzip (sensu "Gegensätze ziehen sich an") • Gruppenbildung nach der Exchange-Theory (rewards – costs = outcome, d. h. ich werde Mitglied in der Gruppe, die mir die meisten Vorteile zukommen lässt). 3.1.5 Normen und Rollen 3.1.5.1 Normen Gruppen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Mitglieder auf bestimmte Normen verpflichten. Jedes Gruppenmitglied unterwirft sich diesen Normen, damit es in der Gruppe verbleiben kann. Von Gruppe zu Gruppe können sich diese Normen deutlich unterscheiden. Kasten 3.1
Definition: Normen Normen sind gemeinsame Richtlinien (ausgesprochene oder unausgesprochene) einer Gruppe darüber, welche Meinungen, Einstellungen, Verhaltensweisen richtig oder falsch sind (z. B. Vereinssatzung, Gesetze, Moralvorstellungen).
Norm-Funktionen Für die Gruppenmitglieder erfüllen Normen eine Reihe wichtiger Funktionen: • Normen geben einzelnen Mitgliedern Orientierung und der Gruppe Struktur und sind damit für die Zielerreichung von größter Bedeutung, • Normen beeinflussen die Einstellung gegenüber der eigenen Gruppe und gegenüber fremden Gruppen und ihren Mitgliedern, 57
• Normen machen das Verhalten anderer Gruppenmitglieder vorhersagbar, • Normen geben dem Einzelnen Sicherheit bezüglich seiner Einstellungen und Verhaltensweisen. • Darüber hinaus sind noch eine Reihe weiterer wichtiger Funktionen der Gruppennormen zu beachten: • Das Normgefüge wird stark von dem/n Gruppenziel/en beeinflusst. • Man unterscheidet zwischen formellen und informellen Normen. Formelle Normen sind explizit formuliert und werden von einem Sender an den Adressaten übermittelt (z. B. Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz). Informelle Normen entwickeln sich aus den Gruppenaktivitäten heraus, ohne dass ein Sender eindeutig zu ermitteln wäre (z. B. gemeinsamer Spaziergang am Ende der Mittagspause). Zu dem Begriff der "Normen" gehört auch der Begriff der "Sanktionen". Sanktionen sind Mittel, um Mitglieder einer Gruppe zu erwartungsgemäßem, normkonformem Verhalten zu bringen. Hierbei unterscheidet man zwischen positiven und negativen Sanktionen (analog den Verstärkern in der Lernpsychologie).
3.1.5.2 Rollen Jede Gruppe entwickelt ein charakteristisches Rollensystem. Rolle und Position in einer Gruppe sind zwei Begriffe, die miteinander zu tun haben: Die Position ist der Ort, den jemand in einem sozialen System einnimmt. Eine "Rolle spielen" meint, Erwartungen, die an eine bestimmte Position gestellt werden, zu erfüllen. Die Erwartung umfasst dabei 2 wesentliche Aspekte:
• einen antizipatorischen Aspekt • einen normativen Aspekt. Die Antizipation einer Erwartung ist insofern wichtig, da sie hilft, sich z. B. bei einer neuen Stelle rollenkonform zu verhalten. Die Erwartung ist normativ, da sie in bestimmten Rollen ein bestimmtes Verhalten voraussetzt. Jemand der sich nicht an die Rollenerwartung hält, kann von der Gruppe bestraft werden (Verlust des Status), er kann die Gruppe aber auch verunsichern (Hausmann).
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Rollen sind in einer Gruppe interdependent, d. h. aufeinander bezogen und voneinander abhängig: Keine Mutterrolle ohne Kind, keine Führerrolle ohne Untergebene. Da die Menschen im allgemeinen mehreren Gruppen angehören, spielen sie auch sehr viele verschiedene Rollen. Hierbei kann es zu Rollenkonflikten kommen, wenn z. B. die Rolle des "guten Mitarbeiters" mit der Rolle des "guten Familienvaters" nicht in Einklang zu bringen ist. Kasten 3.2
Weitere Überlegungen und Forschungsergebnisse zur Gruppe Das Experiment von ASCH (1952) zur Konformität Versuchspersonen (Vpn) mussten die Größe einer vorgegebenen Linie mit weiteren Linien vergleichen. Hierbei wurden sie zusammen mit jeweils mehreren Verbündeten des Versuchsleiters (VI) befragt. Die Verbündeten gaben dabei absichtlich falsche Antworten ab. Bei den Vpn bestand eine z. T. recht große Neigung, sich dem Gruppendruck zu beugen und sich der falschen Antwort anzuschließen: Bis zu 37 % der Antworten bei Gruppengrößen von 7 - 15. Je schwieriger die Vergleichsaufgabe war, desto größer war die Neigung, sich der Gruppe anzuschließen. Das MILGRAM-Experiment (1965) zum Gehorsam (Reaktion auf Autoritäten) Die Probanden (Pbn) wurden vom VI aufgefordert, Vpn für falsche Antworten bei einer Lernaufgabe mittels E-Schock zu bestrafen. Bei den Vpn handelte es sich ebenfalls um Verbündete des VI. Dabei musste von Mal zu Mal die Stromstärke erhöht werden. Sie reagierten mit Schmerzensschreien. Ergebnisse: 62 % der Pbn folgten bis zur höchsten Stufe der Stromstärke den Anweisungen des VI; 40 % taten dies, wenn die Vpn nur einen halben Meter entfernt saßen, d. h. bei großer räumlicher Nähe; 30 % gehorchten sogar dann, wenn sie die Hand der Vpn auf eine Platte legen mussten, d. h. bei maximaler Nähe.
Die Ferienlager-Untersuchungen von SHERIF (1966) SHERIF untersuchte in diesen Untersuchungen insb. das Verhalten zwischen zwei Gruppen. Die 3 Untersuchungsreihen umfassten jeweils 4 Phasen, die pro Phase ca. 3 - 4 Tage dauerten. An jeder Untersuchungsreihe waren ca. 2 Dutzend 12jährige Jungen beteiligt:
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1. Phase Die Jungen lernten sich kennen und hatten Gelegenheit spontan Freundschaften zu schließen. 2. Phase Entgegen der spontanen Freundschaften wurden 2 Gruppen gebildet. Dies wurde zunächst von den Jungen als sehr negativ erlebt. Nach sehr wenigen Tagen bildeten sich jedoch 2 neue Gruppen, die "alten Freundschaften" spielten keine Rolle mehr. 3. Phase Es kam zu Wettbewerbssituationen zwischen der "Wir-Gruppe" (zu der man selbst gehört) und der "Die-Gruppe" (die anderen). Die "Wir-Gruppe" wurde mit einem positiven Autostereotyp belegt, die "Die-Gruppe" mit einem negativen Heterostereotyp. Im Rahmen des Wettbewerbs zwischen den Gruppen kam es zu Raufereien, sich bewerfen mit Früchten und dem Verbrennen der "gegnerischen" Flagge. 4. Phase Die Konflikte wurden von SHERIF beseitigt, indem ein gemeinsamer Gegner bekämpft werden musste, ein Vorteil nur durch gemeinsame Aktion erlangt werden konnte, eine gemeinsame Notsituation bewältigt werden musste (Wasserversorgung), ein Ausflug nur gemeinsam organisiert werden konnte. Nach diesen Aktionen verschwanden die Unterschiede zwischen "Wir- und Die-Gruppe". Die Schüler erlebten sich einer Gruppe zugehörig. Diese Ergebnisse sind generell bei Konfliktsituationen zwischen Gruppen zu beachten.
3.2 Teamarbeit Neben dem Begriff der Gruppe gibt es den Begriff des Teams. Im ersten Teil dieses Kapitels wurden die wesentlichen Merkmale der Gruppe dargestellt. Insbesondere die Kommunikationsstruktur in Gruppen ist bedeutsam (Vergleiche Kap. 1 "Kommunikation"). In der betrieblichen Praxis verwendet man häufiger den Begriff "Team" als den Begriff der "Gruppe". Von den Merkmalen der Gruppe im allgemeinen wird beim Team besonders der Aspekt der Leistungsorientierung betont. Die Befriedigung sozial-emotionaler Bedürfnisse der Teammitglieder bleibt im Hintergrund.
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3.2.1 Teamarbeit in verschiedenen Kulturen In verschiedenen Kulturen wird Teamarbeit unterschiedlich bewertet. Aus Japan stammt die Aussage, dass ein Japaner einem Chinesen immer unterlegen sei, drei Japaner sind drei Chinesen aber immer überlegen, da sie sich in einem Team organisieren. Die modernen Ansätze zur Teamarbeit stammen nicht selten aus Japan. Diese wollte man im Zuge der Erfolge der japanischen Wirtschaft auch in den USA und Europa einführen. Dabei blieb jedoch oft unbeachtet, dass die kulturellen Hintergründe in den drei Regionen sehr unterschiedlich sind. So kann durchaus bezweifelt werden, dass die Hierarchie der Motive nach MASLOW, mit der Selbstverwirklichung an oberster Stelle, in der japanischen Gesellschaft in gleicher Weise anzutreffen ist.
3.2.2 Die Teamzusammensetzung Ein erfolgreiches Team hängt entscheidend von der durch die Arbeitsaufgabe vorstrukturierten Teamzusammensetzung ab. Eine wesentliche Unterscheidung ist hierbei der Unterschied zwischen homogenen und heterogenen Teams. Bei der Zusammensetzung von heterogenen Teams geht man so vor, dass sich die Fähigkeiten und Fertigkeiten der einzelnen Teammitglieder optimal ergänzen. Um welche Fertigkeiten und Fähigkeiten es sich hierbei handelt, kann dabei aus den sog. Schlüsselqualifikationen abgeleitet werden. Allerdings ist zu beachten, dass bei aller Heterogenität die Kohärenz (Zusammenhalt) des Teams (der Gruppe) erhalten bleiben muss, d. h. die Unterschiede zwischen den Teammitgliedern dürfen nicht so groß werden, dass das Team auseinander fällt. Wie unter diesen Prämissen ein heterogenes Team zusammengestellt werden kann, soll kurz dargestellt werden: Es ist zu beachten, dass die Zusammenstellung eines heterogenen Teams dazu führen kann, dass bei der Personalauswahl nicht die leistungsstärkste Person ausgewählt wird, sondern die Person, die das Team in idealer Weise ergänzt. Diese Person kann z. B. über eine Fähigkeit oder Fertigkeit verfügen, die bislang in dem bestehenden Team nicht oder nur unzureichend repräsentiert ist. Stärken und Schwächen der einzelnen Teammitglieder gleichen sich aus.
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3.2.3 Typologie von Arbeitsteams Arbeitsteams lassen sich nach verschiedenen Merkmalen beschreiben. Hierbei kann man verschiedene Komponenten in den Fokus der Betrachtung stellen.
3.2.3.1 Gruppenmitglieder Das wichtigste Unterscheidungskriterium stellt die Tatsache dar, ob es sich um eine homogene oder heterogene Gruppe handelt. Homogenität bzw. Heterogenität kann sich hierbei auf die unterschiedlichsten Attribute beziehen (Geschlecht, Alter, Bildung, etc.). Es kann sich um eine stabile und instabile (hohe Fluktuation der Mitglieder) Gruppe handeln. 3.2.3.1.1 Aspekte der Heterogenität 1. Demographische Attribute (Alter, Rasse, Ethnische Gruppe, Geschlecht, Sexuelle Orientierung, Physis, Religion, Bildung); 2. Aufgabenorientiertes Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten; 3. Werte, Einstellungen, Überzeugungen; 4. Persönlichkeiten, sowie kognitive Stile und Verhaltensstile; 5. Status in der Organisation, der die Arbeitsgruppe angehört (Rang in der Organisation, Dauer der Zugehörigkeit, Einbindung in die Abteilung).
3.2.3.2 Projektarbeit als Beispiel für Teamtätigkeiten Der Zweck einer Arbeitsgruppe ist u. a. die Erledigung von Aufgaben/Bearbeitung von Projekten. Jedes Projekt lässt sich durch die speziellen Anforderungen, die es an die Gruppenmitglieder stellt, beschreiben. Hierbei ist eine große Bandbreite verschiedener Möglichkeiten denkbar. Die wichtigste Unterscheidung besteht in der Differenzierung der Gruppenaufgabe gemäß • Zielauswahl • Technisches Problemlösen • Konfliktlösungen • Ausführen von Aufgaben
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3.2.3.3 Technologie Unter der Gruppentechnologie versteht man die spezifischen Techniken oder Werkzeuge, die der Gruppe zur Verfügung stehen, die Regeln der Gruppe (innere Struktur der Gruppe), sowie die spezifischen Verhaltensweisen, die zur Erledigung von gestellten Aufgaben führen.
3.3 Ein Modell für heterogene Gruppen – Der Integrativ-Multikulturelle Ansatz Unterscheiden sich Mitglieder heterogener Gruppen in demographischen Variablen, haben sie in der Regel auch unterschiedliche kulturelle Identitäten. Die unterschiedlichen kulturellen Identitäten haben wiederum unterschiedliche soziokulturelle Erfahrungen und diese sind wiederum mit Unterschieden in Erfahrungen, Werten und Verhaltensweisen verknüpft. Darüber hinaus registrieren die Gruppenmitglieder diese Unterschiede und leiten aus diesen unterschiedliche Erwartungen über Verhalten und verschiedene Merkmale (Attribute) der Gruppenmitglieder ab. Weiterhin sind die verschiedenen kulturellen Identitäten auch Träger unterschiedlicher Macht in einer Gruppe, d. h. Gruppenmitglieder, die aus eher starken Kulturen stammen, haben mehr Möglichkeiten sich durchzusetzen, als andere Gruppenmitglieder. Damit spielen diese Personen eine größere und bedeutsamere Rolle als andere. Die Gruppenmitglieder aus weniger dominanten Kulturen müssen sich deshalb oft an die dominierenden Gruppenmitglieder anpassen. Der Anpassungsprozess kann dabei auf verschiedene Art und Weise ablaufen: 1. Akkomodation (ein Anpassungsprozess in Richtung der dominanten Kultur); 2. Überanpassung (die Gruppenmitglieder verhalten sich überangepasst); 3. Kulturelle Betonung (die Gruppenmitglieder betonen die eigenen kulturellen Eigenarten). Diese Prozesse sind beobachtbar bei Arbeitsgruppen aus verschiedenen Ländern, bei Arbeitsgruppen aus einem Land, in dem jedoch ein deutliches Gefälle zwischen verschiedenen sozialen Gruppen besteht, oder bei Arbeitsgruppen, die aus Männern und Frauen zusammengesetzt sind.
63
Kasten 3.3
Die Prozesse der Konvergenz im Überblick Akkomodation P1 P2
P1 P2
P3
P3 P4
P4
P5 P6
P5 P6
Überanpassung P1 P2
P1 P2
P3
P3, P6 P4
P4 P5 P6
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P5
Kulturelle Betonung P1 P2
P1 P2
P3
P3 P4
P4
P5
P5 P6 P6
(Erläuterungen im Text)
3.3.1 Die Dynamik der Heterogenität Es gibt Aspekte der Heterogenität, die unveränderbar sind, wie z. B. Geschlecht, Alter, Dauer der Zugehörigkeit zu der Organisation. Andere Aspekte sind hingegen durchaus veränderlich, insbesondere Verhaltensweisen, Einstellungen, Werte und Überzeugungen. Im Allgemeinen kommt es zu einer Konvergenz der zuletzt genannten Variablen. Je intensiver die Zusammenarbeit in einer Arbeitsgruppe ist, desto schneller und intensiver kommt es zur Konvergenz. Dies führt zu einem größeren Zusammenhalt der Gruppenmitglieder (Konvergenz). Daneben sind noch die Begriffe Differenzierung und Akkulturation (Hineinwachsen in eine Kultur) bedeutsam. Differenzierung bedeutet, dass sich im Laufe der Zeit die verschiedenen Rollen in einer Arbeitsgruppe immer stärker voneinander unterscheiden. Die innere Struktur der Arbeitsgruppe wird immer komplizierter. Das sich Aneignen der vorherrschenden Struktur ist ebenfalls in Arbeitsgruppen zu beobachten: Ein Ingenieur, der sich zusammen mit vielen Verwaltungsbeamten in einer Arbeitsgruppe befindet, z. B. in einer Baubehörde, wird im Laufe der Zeit immer stärker Überzeugungen und Verhaltensweisen der übrigen Gruppenmitglieder übernehmen.
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3.3.2
Typen von Arbeitsgruppen
3.3.2.1 Crew (Mannschaft, Besatzung) Bei einer Crew ist das Projekt/die Aufgabe exakt definiert. Es ist allgemein bekannt, welche spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Aufgabenerledigung benötigt werden. Jedes Mitglied einer Crew hat einen genau definierten Aufgabenbereich. Die Aufgabenerledigung steht hierbei im Vordergrund. Die Mitglieder einer Crew sind deswegen leicht austauschbar.
3.3.2.2 Task Force (Sondereinheit, Projektgruppe) Man spricht von einer Task Force, wenn ein spezifisches Projekt durchgeführt werden soll. Die Gruppenmitglieder werden so ausgewählt, dass sie in der Lage sind mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten die Aufgabe zu bewältigen. Anschließend wird die Arbeitsgruppe wieder aufgelöst. Die Anforderungen des Projekts stehen hierbei im Vordergrund. 3.3.2.3 Team (Arbeitsgruppe im engeren Sinn) Von einem Team spricht man, wenn in einer Organisation eine Arbeitsgruppe in der Weise zusammengestellt wird, dass die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Teammitglieder sich in idealer Weise ergänzen. Eine möglichst breite Spanne verschiedener Fähigkeiten und Fertigkeiten soll hierbei berücksichtigt werden. Das Team bleibt nicht nur für die Bearbeitung eines einzigen Projekts bestehen, sondern (mindestens) für die Bearbeitung einer Vielzahl von unterschiedlichen Projekten. Die Teammitglieder stehen hierbei im Vordergrund. In letzter Zeit gehen immer mehr Arbeitgeber dazu über, neue Mitglieder so auszuwählen, dass deutliche Unterschiede bzgl. deren Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten zu den bereits vorhandenen Mitarbeitern bestehen. Hierbei sind jedoch eine Reihe von Anpassungsschwierigkeiten zu überwinden. In SPIEGEL-ONLINE war am 30.03.2009 folgender Beitrag zum Team zu finden.
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Kasten 3.4 30. März 2009, 14:06 Uhr
Teamgeist Lehren aus dem Ruderrennen Von Mark de Rond Einmal im Jahr treten die beiden Universitäten Oxford und Cambridge zum Ruderwettbewerb an. Bevor die Crews der Boote feststehen, müssen die Athleten durch ein hartes Auswahlverfahren – ein Lehrstück auch für Unternehmen, die gute Teams bilden wollen. Was können Hochleistungsteams von einem 180 Jahre alten Ruderrennen zwischen zwei der ältesten Universitäten der Welt lernen? Ich habe den Cambridge University Boat Club sieben Monate lang als eine Art Ethnograf für Organisation begleitet – vom ersten Trainingstag bis zum Rennen – und beobachtete dabei, dass die Coaches ihre Crew mit Hilfe einer speziellen Technik auswählen. Diese Technik ist auch für Führungskräfte in Unternehmen geeignet und lässt sich erfolgreich im Teamaufbau umsetzen. In kaum einem Umfeld werden Gruppenmitglieder so intensiv getestet, ob sie Konkurrenzdenken und Teamgeist in Balance bringen können, wie vor dem Oxford-Cambridge-Ruderduell. Zwar zieht das Event heute weltweit rund 120 Millionen Fernsehzuschauer in seinen Bann; doch im Grunde ist es weiterhin das, als was es 1829 begann: eine sehr private Angelegenheit. Trotz des öffentlichen Spektakels, trotz des Prominentenauflaufs und des Medienzirkus bleibt das Rennen ein tiefgreifender, archaischer Charaktertest. Denn die begehrten Plätze in Cambridges "Blue Boat" erobern nur jene Eliteruderer, die ihre Ellbogen jenseits des Scheinwerferlichts schonungslos gegen ihre Konkurrenten einsetzen, um sich einen Platz zu sichern – nur um anschließend übergangslos mit jenen Kameraden zusammenzuarbeiten, die es bis ins Blue Boat schaffen. Wie gelingt es Teamleitern, diese raren Individuen aus der Masse herauszufiltern? Die acht Schnellsten aus 40 Athleten auszuwählen ist eine schwierige Aufgabe – auch deshalb, weil die acht Stärksten zusammen vermutlich nicht die Schnellsten sein werden. Viel wichtiger als pure Stärke ist das Talent, sich mit den anderen Crewmitgliedern abzustimmen. Daher gehört in Cambridge zu den Auswahlmethoden auch das sogenannte Seat Racing: Zwei Vier-Mann-Crews von ähnlicher Stärke und Qualifikation treten unter gleichen Bedingungen auf einer 1500-Meter-Strecke gegeneinander an. Nach dem ersten Rennen tauschen zwei Ruderer – einer aus 67
jedem Boot – die Plätze; dann gehen die Boote wieder gegeneinander ins Rennen, um den Einfluss einzelner Ruderer auf das gesamte Team zu ermitteln. Diese Übung gibt dem Coach einen guten Anhaltspunkt, wie gut sich Ruderer in unterschiedlichen Crews zurechtfinden – und wie sehr die Geschwindigkeit steigt oder fällt, sobald sich die Zusammensetzung der Teams ändert. Und so schreitet der Auswahlprozess voran, indem in jedem Durchgang zwei andere Ruderer die Plätze tauschen. Die Besonderheit des Seat Racing besteht also darin, dass die Ruderer dazu gezwungen sind, ihre Kameraden abwechselnd als Gegner und Mitstreiter zu sehen. So müssen sie problemlos mit jemandem zusammenarbeiten können, der ein paar Augenblicke zuvor noch ihr Rivale war. Natürlich sind Teams in Unternehmen keine Rudercrews, doch die Prinzipien von Wettbewerb und Zusammenarbeit gelten auch für sie. Wenn Sie das nächste Mal ein Team zusammenstellen, warum lassen Sie dann nicht mal zwei Gruppen gegeneinander antreten? Diese bekommen diverse Aufgaben zur Problemlösung und müssen immer wieder Mitglieder untereinander austauschen – so lange, bis sich die ideale Gruppenkombination ergibt. Das ist auf den ersten Blick eine mühsame Übung, doch sie könnte helfen, das stärkste und kollegialste Team zusammenzustellen.
Mark De Rond ist Lektor für Strategie und Organisation an der Judge Business School der Cambridge University in England URL: http://www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/0,1518,615295,00.html
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3.4 Kultur Der Begriff der Kultur oder Zivilisation wird in diesem Kapitel behandelt, da die Angehörigen einer Kultur als Mitglieder einer, wenn auch sehr gro0en, Gruppe angesehen werden.
3.4.1 Überlegungen von NORBERT ELIAS zu den Begriffen „Zivilisation“ und „Kultur“ NORBERT ELIAS beginnt seine Untersuchungen über den Prozess der Zivilisation mit folgenden Ausführungen: „Der Begriff „Zivilisation“ bezieht sich auf sehr verschiedene Fakten: auf den Stand der Technik, auf die Art der Manieren, auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis, auf religiöse Ideen und Gebräuche. Er kann sich auf die Art des Wohnens oder des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau, auf die Form der gerichtlichen Bestrafung oder die Zubereitung des Essens beziehen, genau besehen gibt es beinahe nichts, was sich nicht in einer „zivilisierten“ Form tun ließe; und es erscheint deshalb immer etwas schwierig, mit wenigen Worten alles, was als „Zivilisation“ bezeichnet werden kann, zusammenzufassen.“ (ELIAS, 1969, p.1) Im Folgenden beschreibt ELIAS die allgemeine Funktion des Begriffs der „Zivilisation“ und kommt zu dem Schluss, dass als zivilisiert gilt, was den verschiedenen Haltungen und Leistungen des Abendlandes entspricht. Damit wird in dem Begriff das Selbstbewusstsein des Abendlandes zum Ausdruck gebracht; oder auch das „Nationalbewusstsein“ (ELIAS, 1969, p. 1). „Aber „Zivilisation“ bedeutet verschiedenen Nationen des Abendlandes nicht das gleiche. Vor allem zwischen dem englischen und französischen Gebrauch dieses Wortes auf der einen, dem deutschen Gebrauch auf der anderen Seite besteht ein großer Unterschied: Dort fasst der Begriff den Stolz auf die Bedeutung der eigenen Nation auf den Fortschritt des Abendlandes und der Menschheit in einem Ausdruck zusammen. Hier, im deutschen Sprachgebrauch bedeutet „Zivilisation“ wohl etwas ganz Nützliches, aber doch nur einen Wert zweiten Ranges, nämlich etwas, das nur die Außenseite des Menschen, nur die Oberfläche des menschlichen Daseins umfasst. Und das Wort, durch das man im Deutschen sich selbst interpretiert, durch das man den Stolz auf die eigene Leistung und das eigene Wesen in erster Linie zum Ausdruck bringt, heißt „Kultur“.“ (ELIAS, 1969, p. 2).
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Nach ELIAS bezeichnet „Zivilisation“ einen Prozess oder mindestens das Resultat eines Prozesses. Es bezeichnet etwas, was ständig in Bewegung ist, das ständig vorwärts geht. Der deutsche Begriff „Kultur“ hat eine andere Bewegungsrichtung: er bezieht sich auf Produkte von Menschen, die da sind (Kunstwerke, Bücher, philosophische Systeme, religiöse Systeme, in denen die Eigenart eines Volkes zum Ausdruck kommt. Der Begriff Kultur grenzt ab. (ELIAS, 1969, p. 2ff, Hervorhebung durch SCHÄFER) „Der französische oder englische Begriff „Zivilisation“ kann sich auf Leistungen beziehen, aber er bezieht sich ebenso auf die Haltung (...) von Menschen, gleichgültig, ob sie etwas geleistet haben oder nicht. In dem deutschen Begriff „Kultur“ dagegen ist die Beziehung (...) auf Werte, die ein Mensch ohne jede Leistung, durch sein bloßes Sein und Verhalten hat, sehr zurückgetreten, und der spezifisch deutsche Sinn des Begriffs „Kultur“ kommt am reinsten in seinem Derivat, dem Eigenschaftswort „kulturell“ zum Ausdruck, das nicht Seins-Werte eines Menschen, sondern Wert und Charakter bestimmter menschlicher Produkte bezeichnet. Dieses Wort aber, der Begriff „kulturell“ ist ins Französische und Englische unmittelbar nicht übertragbar. Das Wort „kultiviert“ steht dem westlichen Zivilisationsbegriff ganz nah. Es repräsentiert gewissermaßen die höchste Form des „Zivilisiertseins“. „Kultiviert“ können auch Menschen oder Familien sein, die „kulturell“ nichts „geleistet“ haben. Genau wie „zivilisiert“ bezieht sich „kultiviert“ in erster Linie auf die Form des Verhaltens oder Gebarens von Menschen. Es bezeichnet eine gesellschaftliche Qualität von Menschen, ihrer Wohnung, ihrer Umgangsformen, ihrer Sprache, ihrer Kleidung, zum Unterschied von „kulturell“, das sich nicht unmittelbar auf Menschen selbst, sondern ausschließlich auf bestimmte Leistungen der Menschen bezieht.“ (ELIAS, 1969, p. 3) Letztendlich kommt ELIAS zu dem Schluss, dass die Begriffe „Zivilisation“ und „Kultur“ von dem sie verwendenden Kollektiv nicht herausgelöst werden können (ELIAS, 1969, p. 6), damit im Kern unübersetzbar bleiben (kein Franzose kann einem Außenstehenden erklären, was französisch ist, aber jeder Franzose weiß es). „Der deutsche Kulturbegriff dagegen hebt die nationalen Unterschiede, die Eigenart der Gruppen, besonders hervor; und vor allem Kraft dieser Funktion hat er, z. B. im Forschungsbereich der Ethnologie und Anthropologie, weit über das deutsche Sprachgebiet und weit über seine Ursprungssituation hinaus Bedeutung erlangt.“ (ELIAS, 1969, p. 4)
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Nach ELIAS hat der Begriff „Zivilisation“ einen expansiven Charakter, der Begriff „Kultur“ einen eher abwehrenden Charakter. Dies ist mit der deutschen und europäischen Geschichte der letzten Jahrhunderte zu begründen.
3.4.2 Der Kulturbegriff von GEERT HOFSTEDE GEERT HOFSTEDE ist Niederländer und war an der Universität Maastricht Professor für Organiationsanthropologie und Internationales Management. Für HOFSTEDE ist Kultur mentale Programmierung, die überwiegend in der frühen Kindheit im Zuge der Sozialisation erworben wurde. Die DenkFühl- und Handlungsmuster eines Menschen werden von HOFSTEDE als mentale Programmierung bezeichnet. Im Prozess der Sozialisation werden diese mentalen Programmierungen immer mehr verfestigt, in der Sprache der Psychologie würde man von überlernt sprechen. Überlernte Muster sind jedoch in der Regel schwerer abzulegen als neu zu erlernen. Deshalb fällt es schwer, sich in einer anderen Kultur zurechtzufinden. HOFSTEDE trennt zwischen „Kultur eins“, der Kultur im engeren Sinn und „Kultur zwei“. „Kultur eins“ entspricht hierbei recht gut den Überlegungen von ELIAS zum Begriff „Kultur“ in Abgrenzung zum Begriff „Zivilisation“. „Kultur zwei“ hingegen ist sehr viel vielschichtiger und geht über die Inhalte von „Kultur eins“ hinaus. Sie umfasst alle Denk- Fühl- und Handlungsmuster von Menschen, nicht nur Tätigkeiten, „die den Geist verfeinern sollen“, sondern auch:
• Grußrituale • Zeigen/Nicht-Zeigen von Gefühlen • Essrituale • Höflichkeitsrituale • Körperpflege • Geschlechtsverkehr • ... „Kultur zwei“ ist immer ein kollektives Phänomen, das man mit anderen teilt, die im selben sozialen Umfeld leben (oder lebten), d. h. dort, wo diese Kultur erlernt wurde.
Kultur ist erlernt und nicht ererbt!
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Sie steht quasi zwischen der ererbten menschlichen Natur (alles was angeboren ist und bei allen Menschen gleichermaßen vorhanden ist) und der Persönlichkeit eines Menschen (den einzigartigen Komponenten eines Menschen, die aufgrund individuellen Erlebens in der Kombination mit ererbten Verhaltensmustern und erlernten mentalen Programmen die Individualität ausmachen). Den Aufbau kann man sich folgendermaßen vorstellen: erlernt + erlebt
Persönlichkeit
individuell
erlernt
Kultur
gruppenspezifisch
ererbt
Menschliche Natur
alle
Manifestierung kultureller Unterschiede Eine sinnvolle Beschäftigung mit unterschiedlichen Kulturen setzt voraus, dass man den kulturellen Relativismus akzeptiert. Man findet zwar mannigfache Unterschiede zwischen Gruppen und Kategorien von Menschen, jedoch gibt es kein wissenschaftliches Kriterium, dass Aussagen über die Unterlegenheit oder Überlegenheit von Kulturen zulässt. Kulturrelativismus fordert den Verzicht auf vorschnelle Urteile über Gruppen oder Kulturen als der eigenen. Kulturelle Unterschiede zeigen sich auf unterschiedliche Weise. Nach HOFSTEDE sind die Begriffe "Werte", "Rituale", "Helden" und "Symbole" gut geeignet, kulturelle Unterschiede zu beschreiben. Auf HOFSTEDE geht das "Zwiebeldiagramm“ zurück, das die verschiedenen Ebenen dieser Begriffe verdeutlicht:
Werte
Rituale
Helden
Symbole
(Kern)
1. Haut
2. Haut
3. Haut
P r a k t i k e n Den Kern der Kultur bilden die Werte. Werte sind Attitüden (attitudes) mit einer Orientierung zum Plus- oder zum Minuspol. 72
Nach HOFSTEDE (2001) betreffen sie Kategorien wie: böse
– gut
schmutzig
– sauber
hässlich
– schön
unnatürlich
– natürlich
anormal
– normal
paradox
– logisch
irrational
– rational
Attitüden (Einstellungen) haben immer drei Komponenten: Die Gefühlskomponente, die kognitive Komponente, die Verhaltenskomponente. Diese müssen im Einklang miteinander stehen, sonst kommt es zur sog. Kognitiven Dissonanz (FESTINGER, 1957). Von kognitiver Dissonanz spricht man, wenn man sich entgegen seiner Einstellung verhält. Dieser Vorgang kann auch im Umgang mit verschiedenen Kulturen eintreten. Rituale, Helden und Werte werden mit dem Begriff "Praktiken" zusammengefasst. Sie können von einem außen stehenden Beobachter wahrgenommen werden, bedürfen jedoch der Interpretation durch "Insider", denn ihre kulturelle Bedeutung ist nicht unmittelbar erkennbar.
Symbole sind Worte, Bilder, Objekte, Gesten, die nur für die Angehörigen einer bestimmten Kultur Bedeutung erlangen. Symbole können Fachtermini sein, oder Flaggen oder die Kleidung, usw. Helden sind Figuren (fiktiv, lebendig, tot, etc.) die Eigenschaften besitzen, die in der jeweiligen Kultur hoch angesehen sind. Rituale sind Verhaltensweisen, die zum Erreichen eines Ziels eigentlich überflüssig sind, in einer gegebenen Kultur aber als sozial notwendig gelten. Sie werden um ihrer selbst Willen ausgeübt (das muss man einfach machen, das gehört sich so). Werte sind gleichsam das Verbindende einer Kultur. Kinder lernen bereits recht früh das Wertsystem ihrer Gruppe. Das vermitteln des Wertsystems ist Hauptbestandteil des Prozesses der Sozialisation. In der Psychoanalyse spielt das verinnerlichte Wertsystem die Rolle des sogenannten Über-Ichs ("Gewissen"). Der Tradition der Psychoanalyse folgend, gehen einige Autoren davon aus, dass das Grundwertsystem bereits sehr frühzeitig (etwa mit dem 10. Lebensjahr) manifestiert ist und sich anschließend nur mühsam verändern lässt. (HOFSTEDE, 2001). Andere Autoren, die sich u. a. mit der Moralentwicklung beschäftigt haben (KOHLBERG, 1980) setzen hierfür 73
eher einen späteren Zeitpunkt an. Die Tatsache, dass es immer wieder Beschreibungen von Personen gibt, "die ihr Leben von Grund auf änderten" (vom Saulus zum Paulus) lassen den Schluss zu, dass Veränderungen während des gesamten Lebens eintreten können. Gleich welcher These man beipflichtet, die Übereinstimmung in den Wertvorstellungen sind eine notwendige Voraussetzung für die Stabilität von Gruppen.
Kulturelle Ebenen Kulturelle Unterschiede lassen sich auf verschiedenen kulturellen Ebenen beschreiben. Man kann folgende Ebenen unterscheiden:
• Nationale Ebene • Regionale Ebene • Ethnische Ebene • Religiöse Ebene • Sprachliche Ebene • Geschlechtsebene • Kohortenebene (Generationenebene) • Ebene der sozialen Klasse • Ebene, die durch die Arbeitstätigkeit definiert wird Diese verschiedenen Ebenen stehen allerdings in einer Kultur nicht immer im Gleichklang. So können beispielsweise die Religiöse Ebene und die Kohortenebene im Widerspruch zueinander stehen. Jeder Mensch bewegt sich gleichzeitig in diesen verschiedenen Ebenen. Da jede Ebene über eigene mentale Programme verfügt, ist es in der Regel nicht möglich, das Verhalten von Menschen konkret vorherzusagen. Man weiß nie, auf welcher Ebene sie sich gerade bewegen.
3.4.2.1 Dimensionen nationaler Kulturen Der Umgang mit Ungleichheit (Steilheit/Flachheit der Hierarchie in einer Gesellschaft) Nationale Gesellschaften unterscheiden sich sehr stark darin, inwieweit Gleichheit angestrebt wird bzw. in welchem Ausmaß Ungleichheit akzeptiert wird. Die aktuelle Situation in Deutschland (2002) wird geprägt von der Forderung, Ungleichheit in einem größeren Umfang zu akzeptieren, um dadurch 74
die Wettbewerbssituation des Landes in einer globalisierten Wirtschaft zu verbessern. In der Philosophie oder Religion hingegen wird der Gleichheitsgrundsatz nachdrücklich eingefordert. Im Rechtssystem ist der Gleichheitsgrundsatz (zumindest in den meisten Demokratien) verwirklicht, auch wenn es in der realen Umsetzung immer wieder zu Problemen kommt.
3.4.2.1.1 Der Begriff der "Machtdistanz" Der Begriff der Machtdistanz stammt von dem niederländischen Sozialpsychologen MAUK MULTER. Machtdistanz drückt die emotionale Distanz aus, die zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten herrscht. Durch eine Befragungsmethode und anschließender faktorenanalytischer Auswertung wurde eine Tabelle erstellt, die die Machtdistanz in verschiedenen Ländern und Regionen verdeutlicht. Untersucht wurden in den Ländern Mitarbeiter der Firma IBM, die mit Einrichtungen in diesen Ländern vertreten ist. Der sogenannte Machtdistanzindex wurde folgendermaßen bestimmt:
• Nichtleitende Angestellte wurde befragt, wie häufig deren Erfahrung nach folgendes Problem auftritt: Die Mitarbeiter haben Angst, dem Vorgesetzten zu zeigen, dass sie nicht seiner Meinung sind (LIKERTSkala: 1-5). • Die Mitarbeiter wurden befragt, wie der Vorgesetzte tatsächlich Entscheidungen trifft (4 Stile wurden angeboten; es wurde der Prozentsatz festgestellt, wie häufig der autokratische oder patriarchalische Stil bevorzugt wurde; die 5. Alternative war "keiner der genannten Stile"). • Die Mitarbeiter wurden befragt, wie aus deren Sicht der Vorgesetze Entscheidungen fällen sollte. Der Wunsch steht hierbei im Vordergrund (Prozentsatz der Mitarbeiter, die einen autokratischen oder patriarchalischen Stil bevorzugen vs. dem Prozentsatz der Mitarbeiter, die einen Stil, der sich auf Mehrheitsentscheidungen begründet (bei dem die Mitarbeiter aber nicht mitberaten), bevorzugen). Generell wurde eine hohe Machtdistanz bei den lateinischen Ländern (Mittel-, Südamerika, aber auch Frankreich festgestellt, wohingegen bei den USA, Großbritannien und dessen früheren Kolonien eher niedrige Machtdistanzwerte festgestellt wurden. Auch in Deutschland und dem überwiegenden Rest Europas wurden eher niedrige Werte festgestellt. 75
HOFSTEDE definiert Machtdistanz als das Ausmaß, bis zu welchem die weniger mächtigen Mitglieder von Institutionen bzw. Organisationen eines Landes erwarten und akzeptieren, dass Macht ungleich verteilt ist. Insgesamt gesehen lassen sich die Überlegungen HOFSTEDEs in folgender Übersicht darstellen:
Merkmale von geringer bzw. großer Machtdistanz: geringe Machtdistanz
große Machtdistanz
Ungleichheit zwischen Menschen sollte so gering wie möglich sein
Ungleichheit zwischen Menschen wird erwartet und ist erwünscht
Eltern behandeln ihre Kinder wie ihresgleichen und umgekehrt
Eltern erziehen ihre Kinder zu Gehorsam, Kinder behandeln ihre Eltern mit Respekt
Tendenz zur Dezentralisation
Tendenz zur Zentralisation
Fähigkeiten, Wohlstand und Macht gehören nicht unbedingt zusammen
Fähigkeiten, Wohlstand und Macht lassen sich nicht voneinander trennen
Alle haben die gleichen Rechte
Die Mächtigen genießen Privilegien
Die Mächtigen treten weniger mächtig auf als sie sind
Die Mächtigen unterstreichen ihre Macht durch ihr Auftreten
HOFSTEDE, 1997, S. 46, 54
Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass es offenbar innerhalb einer Gesellschaft Unterschiede in der Wahrnehmung der Machtdistanz gibt. So erziehen beispielsweise Eltern aus der Unterschicht ihre Kinder eher zu Gehorsam und fordern Respekt.
3.4.2.1.2 Individualismus vs Kollektivismus Eine Kernfrage hierbei lautet: „Welche Rolle spielt die persönliche Beziehung innerhalb geschäftlicher Beziehungen?“ In Europa ist man es eher gewohnt, Geschäfte mit Firmen abzuschließen. In anderen Kulturkreisen ist dies nicht der Fall. Dort werden Geschäfte mit Personen abgeschlossen (die eine Firma repräsentieren). Geht dieser persönliche Kontakt verloren, kann das Geschäft plötzlich gefährdet sein. Obgleich in Europa der Individualismus mindestens seit der Französischen Revolution ein wesentliches
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Merkmal europäischer Kulturen darstellt, ist festzustellen, dass die Mehrzahl aller Kulturen kollektivistisch geprägt sind:
• Die Gruppe ist wichtiger als das Individuum • Es wird ein „Wir-Gefühl“ herausgebildet und weniger ein „Ich-Gefühl“ Damit wird zudem unmittelbar klar, dass die Bedürfnishierarchie nach MASLOW (1943) für den europäisch geprägten Kulturraum zutreffend ist. Weitere Unterschiede zwischen individualistischen und kollektiven Kulturen sind in der folgenden Tabelle wiedergegeben:
Merkmale individualistischer und kollektivistischer Kulturen: Individualismus
Kollektivismus
Die Identität ist im Individuum begründet
Die Identität ist im sozialen Netzwerk begründet dem man angehört
Low-context-Kommunikation (sensu Hall)
High-context- Kommunikation
Seine Meinung zu äußern ist Kennzeichen eines aufrichtigen Menschen
Man sollte immer Harmonie bewahren und direkte Auseinandersetzungen vermeiden
Übertretungen führen zu Schuldgefühlen und Verlust an Selbstachtung
Übertretungen führen zu Beschämung und Gesichtsverlust der ganzen Gruppe
Aufgabe hat Vorrang vor Beziehung
Beziehung hat Vorrang vor Aufgabe
Individuelle Interessen haben Vorrang
Kollektive Interessen haben Vorrang
HOFSTEDE, 1997, S. 90, 99.
Kasten 3.5
HOFSTEDE definiert die Dimension Individualismus/Kollektivismus folgendermaßen: Individualismus beschreibt Gesellschaften, in denen die Bindungen zwischen den Individuen locker sind: man erwartet von jedem, dass er für sich selbst und seine unmittelbare Familie sorgt. Sein Gegenstück, der Kollektivismus, beschreibt Gesellschaften, in denen der Mensch von Geburt an in starke, geschlossene Wir-Gruppen integriert ist, die ihn ein Leben lang schützen und dafür bedingungslose Loyalität verlangen. HOFSTEDE, 2001, S. 66-67
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Die Messung des Individualismus vs Kollektivismus erfolgt in ähnlicher Weise wie bei der Dimension “Machtdistanz”. Als Untersuchungsgruppe dient die bereits angesprochene Stichprobe von Beschäftigten bei der IBM. Zu insgesamt 14 Kriterien sollten die Befragten sich mittels einer 6-stufigen Skala äußern, inwieweit die Kriterien ihren Arbeitszielen entsprechen. Anschließend wurde ermittelt, ob die Antworten eher dem „Individualismus-Pol“ der Skalen oder dem „Kollektivismus-Pol“ zuzuordnen sind. Folgende Kriterien wurden in die Untersuchung einbezogen (Angaben für den individualistischen Pol (in Auszügen)):
• Persönliche Ziele: eine Arbeit zu haben, die genügend Zeit für Privatund Familienleben lässt • Freiheit: große Freiheit zu haben, um die Arbeit nach eigenen Vorstellungen anzugehen • Fortbildung: Fortbildungsmöglichkeiten zu haben • Anwendung von Fertigkeiten: ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten bei der Arbeit voll einsetzen zu können Ein wesentliches Ergebnis ist die Tatsache, dass es eine hohe positive Korrelation zwischen dem Reichtum eines Landes und dem Ausmaß des Individualismus in diesem Land gibt. Daneben scheint es eine negative Korrelation zwischen dem Faktor „Machtdistanz“ und dem Faktor „Individualismus“ zu geben. Länder mit hoher Machtdistanz sind häufiger „kollektivistisch“. Diesen Zusammenhang sollte man jedoch nicht vorschnell interpretieren, da beide Faktoren durch den Faktor „wirtschaftliche Entwicklung“ moderiert werden. Sobald man die wirtschaftliche Entwicklung konstant hält, verschwindet der soeben beschriebene Zusammenhang. Neben den bereits dargestellten Unterschieden sind folgende Aspekte für kollektivistische Kulturen bedeutsam:
• Das Bewahren von Harmonie ist eine wichtige Fertigkeit. • Persönliche Meinungen gibt es nicht; sie werden durch die Gruppe bestimmt. • Die Loyalität zur Gruppe ist wichtig. • Anders als in individualistischen Kulturen erfüllt es die Eltern nicht mit Stolz, wenn die Kinder sich einen Geldbetrag selbstständig erwirtschaften, über den sie verfügen können.
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• Während der Kontakt in sozialen Situationen in individualistischen Kulturen überwiegend verbal hergestellt und aufrechterhalten wird, ist in kollektivistischen Kulturen der Kontakt an sich ein bedeutsamer Wert – Unterhaltungen sind nicht notwendig. • In kollektivistischen Kulturen ist „das Gesicht verlieren“ für die Gruppenmitglieder von größter negativer Bedeutung; dies ist in individualistischen Kulturen ein unbekanntes Phänomen. Dort ist die „Selbstachtung“ eine vergleichbare moralische Kategorie, jedoch ohne den Bezug zur Gruppe. • In kollektivistischen Kulturen wird die Bildung neuer Gruppen dadurch erschwert, dass gemeinsame Aufgaben seltener zugeteilt werden. Man bleibt eher seiner Ingroup verhaftet. Insgesamt erfolgen Gruppenneubildungen weniger spontan. • Stellenbesetzungen verlaufen in kollektivistischen Kulturen entgegengesetzt zu individualistischen Kulturen. So werden Familienangehörigen beispielsweise gerne zusätzlich eingestellt. • Der Arbeitsplatz selbst kann in einer kollektivistischen Gesellschaft zu einer wichtigen Wir-Gruppe für die Beschäftigten werden. • In kollektivistischen Kulturen haben die Beziehungen Vorrang vor der Aufgabe (in individualistischen Kulturen ist es genau anders herum). Innerhalb von Kulturen mit ausgeprägter kollektivistischer bzw. individualistischer Kultur können sich Subkulturen bilden, die diesem Muster nicht entsprechen oder sogar widersprechen. Die Folgen können zu Problemen zwischen den Personen führen. Dies gilt u. a. auch für den Arbeitsplatz, wenn ein Manager mit ausgeprägter individualistischer Kultur auf Mitarbeiter mit eher kollektivistischer Kultur stößt. Auch gegenüber sog. Fremdarbeitern kann es zu Problemen kommen. Kasten 3.6
Beispiel: Ein offenes Beurteilungsgespräch kann für einen Arbeitnehmer aus einer kollektivistischen Kultur zu einem Gesichtsverlust führen. Eine Führungskraft die dies nicht beachtet, würde in der Zukunft in der Organisation einen schweren Stand haben. Die Unterschiede zwischen kollektivistischen und indiviualistischen Kulturen spiegeln sich auch in Unterschieden zwischen kollektivistischen und individualistischen Staaten bzw. Volkswirtschaften wider.
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Der Erfolg, den die UdSSR früher und die VR China heute bei sogenannten Dritte Welt Ländern hatten bzw. haben, lässt sich auch auf die größere Ähnlichkeit dieser Länder mit den Dritte Welt Ländern hinsichtlich ihrer Kultur erklären. Alle Länder sind in stärkerem Maße kollektivistisch, als dies beispielsweise die USA oder andere westliche Länder sind. Andererseits ist aber auch zu bemerken, dass die wirtschaftlich am höchsten entwickelten Länder (die Länder mit dem höchsten BSP) überwiegend individualistische Kulturen repräsentieren. Auch die maßgeblichen Wirtschaftstheorien fußen auf der individualistischen Kultur. (Es gibt bis zum heutigen Tag keine gleichrangige Wirtschaftstheorie, die auf der kollektivistischen Kultur beruht). Länder mit kollektivistischen Hintergrund, die aber wirtschaftlich erfolgreich sind, erleben hingegen oftmals eine Veränderung ihrer Kultur und ihres Wertesystems (Beispiel: Japan). Letztendlich kumuliert die Frage nach Individualismus vs Kollektivismus in der Frage: was ist wichtiger?
Freiheit oder Gleichheit? In der Literatur wird der Zusammenhang zwischen Individualismus und Wohlstand beschrieben. Obgleich es sich hierbei lediglich um korrelative Zusammenhänge handelt, werden bisweilen daraus Kausalschlüsse gezogen (so u. a. HOFSTEDE, 2001, p. 104). Er geht davon aus, dass nationaler Wohlstand die Ursache für Individualismus darstellt. Dies belegt er durch den Hinweis, dass in Schwellenländern (Korea, usw.) in den Städten stärkere individualistische Tendenzen vorhanden sind, als auf dem Lande. Gleichzeitig weisen individualistisch geprägte Länder geringere Geburtenraten auf, als kollektivistisch geprägte Länder, was auch wieder einen Einfluss auf den individuellen Wohlstand haben kann. Kasten 3.7
Eine wichtige Frage stellt die künftige Entwicklung der Nationen hinsichtlich der Dimension "Individualistisch – Kollektivistisch“ dar. Bleiben aktuelle Unterschiede bestehen, verkleinern sie sich, oder werden sie größer. Die Kenntnis der Ausprägung der Dimensionen Individualität vs Kollektivismus stellt nach wie vor eine wichtige Grundlage bei internationalen Verhandlungen dar.
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3.4.2.1.3 Maskulinität vs Femininität Neben den bereits beschriebenen Dimensionen wird von HOFSTEDE eine weitere Dimension eingeführt, die er Maskulinität vs Femininität (diese Dimensionen sind nicht mit männlich/weiblich gleichzusetzen) nennt. Hierbei thematisiert HOFSTEDE, ob Bestimmtheit oder Bescheidenheit im Verhalten in der jeweiligen Kultur wünschenswert ist. Kasten 3.8
Beispiel nach HOFSTEDE: HOFSTEDE (2001) beschreibt die Vorgehensweise von us-amerikanischen und holländischen Stellenbewerbern. Während die us-amerikanischen Bewerber ihre Fähigkeiten betont positiv darstellen, üben sich die holländischen Bewerber in Bescheidenheit. Dies führt dazu, dass us-amerikanische Personalleiter dazu neigen, Angaben in Bewerbungen eher unterzubewerten, während holländsiche Personalleiter die Angaben eher als "wahr" annehmen. Dies führt unvermeidlich zu falschen Entscheidungen, wenn Holländer US-Amerikaner bewerten und umgekehrt. Die bipolare Dimension Maskulinität vs Femininität wurde mittels des gleichen Fragebogens untersucht, der bereits bei den vorangegangenen Dimensionen beschrieben wurden. Maskulinität vs Femininität ist von bereits beschriebenen Dimensionen unabhängig. Folgende Merkmale aus dem Fragebogen repräsentieren „Maskulin“ bzw. „Feminin“: Kasten 3.9
Maskulin Einkommen: die Möglichkeit viel zu verdienen Anerkennung: die Anerkennung zu bekommen, die man verdient, wenn man gute Arbeit geleistet hat Beförderung: die Möglichkeit zu haben, in höhere Positionen aufzusteigen Herausforderung: bei der Arbeit gefordert zu werden – eine Arbeit zu haben, die einen zufrieden stellt Feminin Vorgesetzter: zum direkten Vorgesetzten ein gutes Arbeitsverhältnis zu haben Zusammenarbeiten: mit Kollegen gut zusammenzuarbeiten Umgebung: in einer für sich selbst und die Familie angenehmen und freundlichen Umgebung zu leben Sicherheit des Arbeitsplatzes: das sichere Gefühl zu haben, solange beim Arbeitgeber bleiben zu können, wie man will HOFSTEDE, 2001, p. 113f
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Bei der Dimension Maskulinität vs Femininität ergaben sich in den von HOFSTEDE durchgeführten Untersuchungen bei der IBM durchgängig Unterschiede in der Beantwortung zwischen Männer und Frauen. Dies war bei keiner anderen Dimension der Fall. Kasten 3.10
Zusammenfassend kommt HOFSTEDE zu folgenden Beschreibungen:
Maskulinität kennzeichnet eine Gesellschaft, in der die Rollen der Geschlechter klar gegeneinander abgegrenzt sind: Männer haben bestimmt, hart und materiell orientiert zu sein, Frauen müssen bescheidener, sensibler sein und Wert auf Lebensqualität legen. Femininität kennzeichnet eine Gesellschaft, in der sich die Rollen der Geschlechter überschneiden: sowohl Frauen als auch Männer sollten bescheiden und feinfühlig sein und Wert auf Lebensqualität legen. HOFSTEDE, 2001, p.115
Bei dem von HOFSTEDE gewählten Auswertungsverfahren (Faktorenanalyse) konnten Nationen identifiziert werden, die insgesamt hohe Werte bezüglich der Maskulinität bzw. Femininität aufweisen. Gleichzeitig waren bei allen Nationen Unterschiede bezüglich dieser Ausprägung bei Männer und Frauen zu beobachten. Damit ergaben sich beträchtliche Überlappungen zwischen den Nationen hinsichtlich eines eher maskulinen bzw. femininen Verhaltens, d. h. in einem „maskulinen Land“ sind sowohl Männer als auch Frauen maskuliner als in einem eher „femininen Land“. Allerdings ist zu bemerken, dass die Werte der Männer eine größere Varianz aufweisen, als die Werte der Frauen. Auswirkungen der Dimension Maskulinität vs Femininität zeigen sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten:
Schule: • In der Schule orientieren sich Schüler in maskulinen Kulturen an den „Besten“, in femininen Kulturen eher am Durchschnitt. • Schulversagen ist in maskulinen Kulturen eine Katastrophe. • Die Berufswahl richtet sich in femininen Kulturen nach dem Interesse, in maskulinen Kulturen an den Karrieremöglichkeiten. • In maskulinen Kulturen sind Intelligenz und akademische Leistungen Hauptkriterien für den Erfolg, in femininen Ländern spielen soziale Fähigkeiten, soziale Anpassung und ein freundliches Wesen die Hauptrolle.
82
• In maskulinen Kulturen unterrichten die Frauen eher jüngere Schüler, während in femininen Ländern dies deutlich durchmischt ist. Arbeitsplatz: • In maskulinen Kulturen löst man Konflikte dadurch, dass der „Bessere“ gewinnt. Der Betriebsrat spielt bestenfalls eine untergeordnete Rolle. In femininen Kulturen löst man Konflikte durch einen Kompromiss. Der Betriebsrat spielt eine wichtige Rolle. • Die Entlohnung folgt in maskulinen Kulturen dem Prinzip der Gerechtigkeit, in femininen Kulturen dem Prinzip der Gleichheit. • Die Humanisierung der Arbeit bedeutet in maskulinen Kulturen zusätzliche Möglichkeiten für Anerkennung, Beförderung und Herausforderung, während die Humanisierung der Arbeit in feminisierten Kulturen die Möglichkeit zur Steigerung sozialer Kontakte und gegenseitige Hilfe bedeutet. • Maskuline Kulturen sind führend im Bereich der industriellen Produktion, während feminine Länder führend in Dienstleistungsbereichen sind. Somit besteht eine internationale Arbeitsteilung. • In maskulinen und femininen Kulturen ist der Anteil arbeitstätiger Frauen – auch in Führungspositionen – etwa gleich hoch. Weitere Merkmale maskuliner bzw. femininer Kulturen: Maskulinität
Femininität
Vorherrschende Werte sind materieller Erfolg und Fortkommen
Vorherrschende Werte sind das Kümmern um Mitmenschen und das Bewahren der Werte
Geld und Dinge sind wichtig
Menschen und intakte zwischenmenschliche Beziehungen sind wichtig
Von Männern wird Ehrgeiz und Von jedem wird erwartet, beHärte erwartet scheiden zu sein Von Frauen wird erwartet, sensibel zu sein und sich um zwischenmenschliche Beziehungen zu bemühen
Männer und Frauen wird zugestanden, sensibel zu sein und sich um zwischenmenschliche Beziehungen zu bemühen
Sympathie mit den Starken
Sympathie mit den Schwachen
HOFSTEDE, 2001, S. 137
83
Die Dimensionen Maskulinität vs Femininität manifestieren sich auch in politischen, religiösen und gesellschaftlichen und sogenannten gedanklichen Zusammenhängen. Von HOFSTEDE werden hierzu eine große Anzahl von einzelnen Hinweisen präsentiert. An dieser Stelle sollen einige dieser Aspekte aufgegriffen und kurz dargestellt werden. Auch werden Vermutungen über die zukünftige Entwicklung dieser Dimensionen dargelegt. Kasten 3.11
Maskulinität vs Femininität und ihre Auswirkungen auf politische Prioritäten • Belohnung der Starken gegenüber Solidarität mit den Schwachen • Wirtschaftswachstum gegenüber Umweltschutz • Rüstungsausgaben gegenüber Hilfen für die armen Länder HOFSTEDE, 2001, p.138
Kasten 3.12
Maskulinität vs Femininität und ihre Auswirkungen auf religiöse, gesellschaftliche und gedankliche Zusammenhänge • Maskuline Kulturen sind weniger tolerant als feminine • Der Wunsch in einer großen Organisation zu arbeiten korreliert mit Fe-
mininität
• Maskuline Nationen neigen dazu, Konflikte durch Kampfhandlungen zu lösen • In maskulinen Nationen hat Gott eine größere Bedeutung • Die Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums hat allergrößte Priorität • Globale Veränderungsprozesse werden feminine Werte in den Vorder-
grund stellen
3.4.2.1.4 Weitere Dimensionen nach HOFSTEDE Neben den bereits beschriebenen Dimensionen werden von HOFSTEDE noch weitere Dimensionen diskutiert: • Unsicherheitsvermeidung • Langfristige Orientierung vs Kurzfristige Orientierung Unsicherheitsvermeidung (uncertainty avoidance) beschreibt das Ausmaß, mit dem die Mitglieder einer Kultur sich durch ungewisse oder unbekannte Situationen bedroht fühlen. Je höher die wahrgenommene Bedrohung ist, desto größer ist das Bedürfnis nach Regeln in der Gesellschaft, die den Mit84
gliedern der Gesellschaft gleichsam sagen, "was sie zu tun und zu lassen haben". Darüber hinaus schafft extreme Unsicherheit extreme Angst, die bekämpft werden muss. Hierfür stehen die Mittel der Technik, des Rechts und der Religion zur Verfügung. Die Messung der Unsicherheitsvermeidung beruht ebenfalls auf der Befragung der Mitarbeiter bei der IBM. Drei Items aus dem Fragebogen von HOFSTEDE sind hoch miteinander korreliert und bilden die Dimension Unsicherheitsvermeidung. Diese Items thematisieren folgende Sachverhalte:
• Stress am Arbeitsplatz • Regeln am Arbeitsplatz und deren Befolgung • Kontinuität bei einem Arbeitgeber Kasten 3.13
Diese Dimension erscheint insofern problematisch, da sich ähnliche Dimensionen im Bereich der klinischen Psychologie wiederfinden lassen. (Das Konstrukt der „Angst“.) Werden Kulturen mit Dimensionen beschrieben, die als klinisch zu bezeichnen sind, fällt es schwer, die jeweiligen Kulturen tatsächlich wertfrei zu beurteilen. Trotzdem soll an dieser Stelle eine Gegenüberstellung von Kulturen mit hoher bzw. niedriger Unsicherheitsvermeidung erfolgen. HOFSTEDE bringt die Dimension Unsicherheitsvermeidung mit einer Reihe von psychologischen oder medizinischen Befunden in Zusammenhang. So bemerkt er, dass in Kulturen mit starker Unsicherheitsvermeidung Alkoholismus und Selbstmord stärker verbreitet sei als in Ländern mit geringer Unsicherheitsvermeidung. Dafür sind in letzteren Herz- Kreislauferkrankungen häufiger. Darüber hinaus zitiert HOFSTEDE eine negative Korrelation zwischen dem Ausmaß der Unsicherheitsvermeidung und dem subjektiven Wohlbefinden. Diese Befunde sollten jedoch nicht überinterpretiert werden, da sie auf einer relativ geringen Datenbasis von Untersuchungen aus den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts beruhen. HOFSTEDE kommt zu einer bemerkenswerten Erläuterung der Xenophobie unter dem Blickwinkel der Unsicherheitsvermeidung: In einer Kultur mit hoher Unsicherheitsvermeidung würden die Menschen sagen: „Was anders ist, ist gefährlich(!)“, während in einer Kultur mit nied85
riger Unsicherheitsvermeidung die Menschen sagen würden: “was anders ist, ist seltsam!“ (HOFSTEDE, 2001, p. 168 f.) Obgleich das Konstrukt der Unsicherheitsvermeidung lediglich auf den Ergebnissen von drei Items eines Fragbogens beruht, kommt ihm doch in vielen gesellschaftlichen Bezügen eine wichtige Rolle zu. HOFSTEDE beschreibt eine Vielzahl gesellschaftlicher Phänomene, die durch das Konstrukt der Unsicherheitsvermeidung zumindest verdeutlicht werden können. Erklärungen sind eher selten, da die Befunde zum überwiegenden Teil auf korrelativen Zusammenhängen beruhen. Hier eine Auswahl:
• Eine Organisationsstruktur, in der bestimmte Mitarbeiter zwei direkte Vorgesetzte haben, ist für Angehörige einer Kultur mit starker Unsicherheitsvermeidung unvorstellbar. • In Ländern mit starker Unsicherheitsvermeidung fragen Lehrer selten die Eltern der Schüler nach deren Meinung. • In Ländern mit starker Unsicherheitsvermeidung gibt es tendenziell mehr Gesetze. • Alle drei Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs (Deutschland, Italien, Japan) sind durch starke Unsicherheitsvermeidung und hoher Maskulinität gekennzeichnet. • Die monotheistischen Religionen neigen dazu anzunehmen, dass es nur „eine Wahrheit“ gibt (Indiz für starke Unsicherheitsvermeidung) • In Philosophie und Wissenschaft werden Theorien eher in Kulturen mit hoher Unsicherheitsvermeidung hervorgebracht. Die Zukunft des Konstrukts der Unsicherheitsvermeidung hängt sicherlich in starkem Maße von der weltpolitischen Entwicklung ab. So ließen sich in früheren Jahren regelmäßig ein Anstieg der Unsicherheitsvermeidung im Zusammenhang mit Kriegen beobachten. Terroristische Bedrohungen in unserer Zeit können den gleichen Effekt auslösen.
86
Merkmale von Kulturen mit schwacher bzw. starker Unsicherheitsvermeidung: Schwache Unsicherheitsvermeidung Unsicherheit im Leben wird hingenommen
Starke Unsicherheitsvermeidung Die dem Leben innewohnende Unsicherheit wird als ständige Bedrohung empfunden, die bekämpft werden muss Geringer Stress, subjektives Ge- Großer Stress, subjektives Gefühl des Wohlbefindens fühl der Angst Aggression und Emotionen darf Aggression und Emotionen dürman nicht zeigen fen bei geeigneten Gelegenheiten gezeigt werden Wenige, allgemeine Gesetze Viele, exakte Gesetze und und Regeln Regeln Wenn Regeln nicht eingehalten Wer die Regeln nicht einhalten werden können, müssen die kann ist sündig und muss Regeln geändert werden büßen Die Wahrheit einer Gruppe darf Es gibt nur eine Wahrheit und anderen nicht aufgezwungen wir haben sie werden HOFSTEDE, 1997, S. 176, 189
Langfristige Orientierung vs kurzfristige Orientierung zeigt sich in den unterschiedlichen Wertsystemen der Kulturen. HOFSTEDE (2001) bezieht sich bei seinen Überlegungen auf eine Studie von BOND, der die Chinese Value Survey (chinesische Wertestudie) entwickelte. Hierbei wurde die Dimension langfristige vs kurzfristige Orientierung entwickelt. Die Lehren des Konfuzius spielen hierbei eine wichtige Rolle. In asiatischen Wertsystemen ersetzt diese Dimension die Dimension der Unsicherheitsvermeidung. Letztere erscheint dort irrelevant. In Kulturen mit langfristiger Orientierung herrschen die Werte Ausdauer, Ordnung der Beziehungen nach dem Status und die Einhaltung dieser Ordnung sowie Sparsamkeit und Schamgefühl vor. Bei Kulturen mit kurzfristiger Orientierung werden Werte wie persönliche Standhaftigkeit und Festigkeit, Wahrung des „Gesichts“, Respekt vor der Tradition, Erwiderung von Gruß, Gefälligkeiten und Geschenken geschätzt (HOFSTEDE, 1997, S. 233). Die Gegenüberstellung zeigt folgendes Bild: 87
Merkmale von Kulturen mit langfristiger bzw. kurzfristiger Orientierung: langfristige Orientierung
kurzfristige Orientierung
Anpassung von Traditionen an moderne Gegebenheiten
Respekt vor Traditionen
soziale Verpflichtungen und Statusverpflichtungen werden innerhalb bestimmter Grenzen respektiert
soziale Verpflichtungen und Statusverpflichtungen werden ungeachtet ihrer Kosten respektiert
Ressourcen werden sparsam verwendet
sozialer Druck, mit den Nachbarn mitzuhalten, auch um den Preis der Verschuldung
Beharrlichkeit, wenn Ergebnisse Erwartung rascher Ergebnisse langsam erreicht werden Sparsamkeit
Bereitschaft, sich für einen Zweck unterzuordnen
Beachtung der Gebote der Tugend
Besitz der Wahrheit ist wichtig
HOFSTEDE, 1997, S. 243
Bemerkenswert erscheint hierbei eine festgestellte Korrelation zwischen Wirtschaftswachstum und der Langfristigkeit der Orientierung dergestalt, dass das Wirtschaftswachstum umso höher ist, je stärker die jeweilige Kultur langfristig orientiert ist. Dies trifft insbesondere auf die asiatischen „TigerStaaten“ zu.
3.4.2.2 Vom Umgang mit anderen Kulturen In Organisationen scheint das Zusammenspiel zwischen Machtdistanz und Unsicherheitsvermeidung die größte Rolle zu spielen. Im folgenden Abschnitt sollen in Anlehnung an HOFSTEDE (2001) einige spezielle Themen angesprochen werden, die das individuelle Verhalten von Menschen im Umgang mit anderen Kulturen oder Angehörigen anderer Kulturen erklären können.
88
Kasten 3.14
Kulturschock und kulturelle Anpassung Begibt sich ein Fremder in eine für ihn neue Kultur, sind mehrere Phasen eines Verarbeitungsprozesses zu beobachten:
Euphorie – Kulturschock – Akkulturation – Stabilität Diese Phasen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Phasen, die bei Gruppenbildungen zu beobachten sind. Es scheint sich demzufolge um einen allgemein sozialpsychologischen Mechanismus zu handeln. Die Dauer der einzelnen Phasen kann sehr unterschiedlich sein. Auch kann der Verarbeitungsprozess scheitern und es kommt niemals zu einem vollständigen Verarbeitungsprozess; der Kulturschock kann zu groß sein und in psychischen Problemen bis hin zu depressiven Erkrankungen oder Selbstmord enden. Stabilität kann auf drei Niveaus erreicht werden: Die Stabilität kann mit negativen Gefühlen verbunden sein, sie kann mit neutralen Gefühlen verbunden sein, oder sie kann mit positiven Gefühlen verbunden sein. Im letzten Fall ist die Anpassung vollständig gelungen. Kasten 3.15
Ethnozentrismus und Xenophilie Weder Ethnozentrismus noch Xenophilie führen zu guter interkultureller Zusammenarbeit. Ethnozentristen idealisieren ihre eigene Kultur und vergleichen diese mit anderen Kulturen. Diese schneiden in dem Vergleich regelmäßig schlecht ab. Die eigene Kultur wird als überlegen eingestuft. Findet aber weiterhin vielfältige, regelmäßige Kontakte mit Vertretern anderer Kulturen statt, kann der Ethnozentrismus durch den Polyzentrismus ersetzt werden. Die Andersartigkeit wird akzeptiert und respektiert und die Vertreter der verschiedenen Kulturen werden vor dem Hintergrund der jeweiligen Kultur bewertet. Aber auch Xenophilie (man idealisiert die fremde Kultur gegenüber der eigenen Kultur) führt nicht zu einer Verbesserung der interkulturellen Zusammenarbeit! Kulturen mit hoher Unsicherheitsvermeidung neigen dem Ethnozentrismus nach HOFSTEDE stärker zu als Kulturen mit schwacher Unsicherheitsvermeidung.
89
Kasten 3.16
Stereotypen Interkulturelle Begegnungen führen nicht automatisch zu einer Abnahme des gegenseitigen Nichtverstehens bzw. einer Abnahme von Heterostereotypen. Statt dessen kann es passieren, dass die Heterostereotypen sogar verstärkt werden: „Die x sind alle y!“ Insbesondere in kollektivistischen Kulturen mit ihrem starken Wir-Gefühl ist das Durchbrechen der Heterostereotypen nicht immer möglich. Am Leichtesten ist das Durchbrechen der Heterostereotypen möglich, wenn man die Angehörigen einer Kultur mit starken Stereotypen einer kognitiven Dissonanz (FESTINGER, 1957) aussetzt. Sich entgegen des eigenen Stereotyps zu verhalten, ist auf Dauer nicht möglich. Kasten 3.17
Sprache In der Kommunikation mit anderen Kulturen ist es eher ein Nachteil, wenn man Englisch als Muttersprache spricht. In englisch sprechenden Nationen ist das Erlernen einer Fremdsprache eher eine Ausnahme. Dies führt auf dem Feld der interkulturellen Kommunikation zweifellos zu Nachteilen. Eine besondere Rolle nimmt der Humor in der interkulturellen Kommunikation ein. Selbst wenn man die Landessprache fließend spricht und versteht; die Kultur eines Landes hat man erst dann verstanden, wenn man den Humor des betreffenden Landes versteht. Witze sollte man in einem anderen Land erst dann erzählen, wenn man sich sehr sicher ist, zumindest die Grundzüge der Kultur verstanden zu haben.
3.4.2.3 Methodische Probleme bei HOFSTEDE Wie bereits an verschiedenen Stellen dargelegt, arbeitet HOFSTEDE in vielen Fällen mit Befragungsmethoden und anschließenden Faktorenanalysen bzw. einfachen Korrelationsberechnungen. Bei diesen verfahren sollte man jedoch generell vorsichtig mit der Herleitung kausaler Zusammenhänge sein. Leider stellt HOFSTEDE dies nicht eindeutig klar. Vielfach verleiten die textlichen Ausführungen HOFSTEDEs zu Kausalaussagen. Korrelative Methoden lassen dies aber in der Regel nicht zu. Alle Ergebnisse HOFSTEDEs sind demzufolge mit einer gewissen Zurückhaltung zu interpretieren.
90
Darüber hinaus ist fest zu halten, dass lediglich die Dimensionen:
• Machtdistanz • Individualismus vs Kollektivismus • Maskulinität vs Femininität universell bei allen Untersuchungen nachgewiesen werden können. Die Dimensionen:
• Unsicherheitsvermeidung • Langfristige Orientierung scheinen hingegen nicht universell zu sein. „Unsicherheitsvermeidung“ spielt offenbar insbesondere in westlichen Kulturen eine Rolle, während die Dimension „langfristige Orientierung“ in östlichen (asiatischen) Kulturen (aufgrund des Einflusses von Konfuzius) eine Rolle spielt.
3.4.2.4 Der Zusammenhang zwischen den Kulturdimensionen nach HOFSTEDE und den Ergebnissen der PISA-Studie 2001 Die nachfolgenden Übersichten geben einige interessante Einblicke in die Zusammenhänge zwischen den Kulturdimensionen nach HOFSTEDE und den Leistungen 15-jähriger Schüler/innen im Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften. Die Befunde sollten jedoch nur sehr vorsichtig interpretiert werden. Es zeigen sich allerdings interpretationswürdige Befunde. Insbesondere ist auffallend, dass lediglich die Dimension „Individualismus“ positiv mit der Leseleistung, und damit mit allen untersuchten Schulleistungen korreliert ist. Alle anderen Kulturdimensionen sind mit der Schulleistung negativ oder gar nicht korreliert. Zur Dimension „Machtdistanz“ ergeben sich signifikante negative Korrelation, d. h. je größer die Machtdistanz, desto geringer die Schulleistungen.
91
Tabelle 1: Die Tabelle zeigt die Interkorrelationen zwischen verschiedenen Leistungs- und Kulturvariablen NaturMachtLesen Mathematik wissendistanz schaften Lesen
1
0,915**
Mathematik Naturwissenschaften Machtdistanz Individualismus
1
langUnsicherfristige Individualismus Maskulinität heitsOrientievermeidung rung
0,891** -0,576** 0,508*
-0,061
-0,395
-0,261
0,847** -0,54**
0,444
0,009
-0,323
-0,121
-0,425*
0,325
0,133
-0,304
-0,069
1
0,325
0,091
0,75**
0,826**
1
0,026
-0,692**
-0,901**
0,254
0,189
1
1
Maskulinität Unsicherheitsvermeidung
1
langfristige Orientierung
* = 5%-Signifikanzniveau
0,888** 1
** = 1%-Signifikanzniveau
3.4.3 Die Überlegungen von EDWARD T. HALL Der amerikanische Anthropologe Edward Twitchell HALL untersuchte mit seiner Frau gemeinsam den Einfluss der Kultur auf das menschliche Verhalten. Von besonderem Interesse war für ihn der Einfluss, den die Einstellung der Menschen zum Raum und zur Zeit haben. Hieraus entwickelten sich vielfältige weitere Forschungsvorhaben, auch anderer Autoren. Die Hauptarbeiten HALLs stammen aus den Jahren 1936 bis 1977, teilweise wurden sie erst später in Deutschland veröffentlicht. Kulturelle Probleme entstehen nach Ansicht Halls oft dadurch, dass die Angehörigen verschiedener Kulturen unterschiedliche Wahrnehmungen haben (vergl. Kritischer Konstruktivismus). Um dies zu verdeutlichen, benutzt er das Modell eines kulturspezifischen Filters: Ein Mensch wird bei der Wahrnehmung seiner Umwelt neben seiner jeweiligen Tätigkeit, der Situation, dem Status und früheren Erfahrungen vor allem durch die Kultur, in der er lebt, beeinflusst. Nimmt ein Mensch ein Ereignis wahr, geschieht das zunächst über alle Sinnesorgane. Er ist jedoch von den Normen seiner Kultur umgeben, die wie ein Filter auf die ge92
sammelten Sinneseindrücke wirken (kulturspezifischer Filter). Anhand dieser Normen wird ausgesondert, was an Informationen in dieser Kultur nicht von Bedeutung ist. Nur Informationen und Sinneseindrücke, die in der jeweiligen Kultur als bedeutungsvoll angesehen werden, werden durch diesen Filter durchgelassen. Das Nervensystem kann sich so auf die Verarbeitung relevanter Informationen beschränken (Hall/Hall 1984, S. 22). Dies hat jedoch zur Folge, dass ein Ereignis von verschiedenen Personen völlig unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Den meisten Menschen ist das jedoch nicht bewusst. Zudem neigen sie dazu, ihre eigenen Verhaltensweisen und Empfindungen auf andere zu projizieren. Dadurch kommt es oft zu Missverständnissen. Um dies zu vermeiden, ist es wichtig, sich der kulturellen Unterschiede bewusst zu sein und zu versuchen, die andere Kultur zu verstehen. Schlüsselelemente dazu sind für Hall zum einen das Verhältnis zur Zeit und die Einstellung zum Raum (Hall/Hall, 1984).
3.4.3.1 Verhältnis zur Zeit Monochronie vs Polychronie Nach Hall gibt es zwei Arten, wie Menschen die Zeit wahrnehmen und mit ihr umgehen. Er unterscheidet dabei zwischen monochronen und polychronen Menschen. Monochrone Menschen sehen Zeit als lineares System. Sie kann in greifbare Abschnitte eingeteilt werden, mit denen das Leben organisiert werden kann. Pro Zeiteinheit kann immer nur eine Handlung stattfinden. Dieses Zeitverständnis findet sich oft in westlichen Ländern. Deutschland wird als stark monochrones Land eingestuft. (Hall/Hall, 1984, S. 30 f). Polychrone Menschen dagegen zerteilen die Zeit und sind daher in der Lage, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. In einem Raum werden oft verschiedene Aktivitäten wahrgenommen, in vielen Fällen auch von mehreren Menschen (Hall/Hall, 1984, S. 31).
93
Weitere Merkmale monochroner bzw. polychroner Kulturen: Monochronie
Polychronie
Menschen machen eines nach dem anderen
Menschen machen mehrere Dinge gleichzeitig
zeitliche Verpflichtungen wie Termine und Zeitpläne werden ernst genommen
zeitlichen Verpflichtungen wird keine große Bedeutung beigemessen
auf Pünktlichkeit wird großer Wert gelegt
Zuspätkommen ist üblich
Identifikation mit der Arbeit
Identifikation mit Familie, Freunden, Geschäftspartnern.
Neigung zu kurzlebigen Beziehungen
Neigung zu lebenslangen Beziehungen
QUELLE: HALL/HALL, 1984, S. 31,35.
3.4.3.2 Kontext Eng verbunden mit dem Zeitverständnis ist auch das Konzept des Kontexts. Mit Kontext bezeichnet Hall die informellen Informationsnetze, in denen Informationen gespeichert sind und über die der Einzelne verfügen kann. Diese Informationen sind zum Verständnis einer Botschaft erforderlich, müssen jedoch nicht explizit weitergegeben werden. Von der Dichte dieser Informationsnetze hängt es ab, über welche Informationen der Einzelne bereits verfügt, um eine Botschaft zu verstehen und wie viel er an zusätzlicher Information benötigt (Hall/Hall, 1984, S. 36). Dies wirkt sich auf den Kommunikationsstil aus. Hall unterscheidet zwischen Kulturen mit hohem Kontext (high-context) und niedrigem Kontext (low-context). In low-context Kulturen sind zum Verständnis einer Information zusätzliche Detailinformationen erforderlich, da wenig informelle Informationsnetze vorhanden sind. Diese Kulturen sind zumeist auch monochron orientiert. In high-context Kulturen besteht ein geringer Bedarf an zusätzlichen Informationen, da aufgrund der großen Dichte der informellen Informationsnetze bereits eine umfassende Information besteht. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um polychrone Kulturen (Hall/Hall, 1984, S. 36 ff).
94
Deutschland ist nach Halls Untersuchungen eine low-context Kultur (Hall/Hall, 1984, S. 39).
3.4.3.3 Einstellung zum Raum Hall geht davon aus, dass das Raumempfinden und damit auch die Verwendung von Raum aufgrund der unterschiedlichen Wahrnehmungen in verschiedenen Kulturen unterschiedlich ist (Hall/Hall, 1984, S. 16). Aus dieser Erkenntnis entwickelte Hall in den sechziger Jahren die Proxemik, die sich mit den Theorien und Beobachtungen über den Raumgebrauch der Menschen beschäftigt (Hall, 1976, S. 107). Im Folgenden wird nur auf die sozialen Distanzen eingegangen, die übrigen Aspekte der Proxemik bleiben unberücksichtigt. Jeder Mensch beansprucht als Erweiterung seiner Persönlichkeit einen persönlichen Raum um sich, den Hall in vier Distanzzonen unterteilt. Hall unterscheidet zwischen intimer, persönlicher, sozialer und öffentlicher Distanz (Hall, 1976, S. 131 f).
• Die intime Distanz stellt den engsten Raum dar, der eine Person umgibt. Ein Eindringen in diese Distanz wird nur bei engsten Freunden und Vertrauten akzeptiert (Brown, 2001 Proxemic Theory). • Die persönliche Distanz bezeichnet Hall als „kleine, beschützende Sphäre oder Blase, die ein Organismus zwischen sich und anderen behauptet“ (Hall, 1976, S. 124). Diese Distanz wird gewöhnlich immer gewahrt. • In der sozialen Distanz werden gewöhnlich soziale Interaktionen mit Bekannten und Fremden wahrgenommen. • Die öffentliche Distanz ist die weiteste Distanz. In ihr werden Interaktionen als unpersönlich und anonym empfunden (Brown, 2001, Proxemic Theory). Diese Distanz besteht beispielsweise zwischen den Schauspielen und den Zuschauern eines Theaters (Hall, 1976, S. 130). Der Wechsel zwischen den Distanzen ist jeweils durch einen Wechsel in der Stimmstärke gekennzeichnet. Beispielsweise wird in der intimen Distanz allenfalls geflüstert, während in der öffentlichen Distanz sehr laut gesprochen wird (Hall, 1976, S. 124,130). Die Größe der Distanzen ist je nach Kultur unterschiedlich. Auch die jeweilige Situation, die Einstellung gegenüber dem anderen und die jeweilige Tätigkeit sind bei der Wahl der Distanzzone und der Bemessung von Bedeutung (Hall/Hall, 1984, S. 46).
95
Ein ungestattetes Eindringen in die jeweilige Distanzzone wird in allen Kulturen als unangenehm empfunden (Hall/Hall, 1984, S. 46). Die Menschen versuchen, z. B. durch Zurückweichen oder Näherkommen instinktiv, die für sie angemessene Distanz wieder herzustellen.
3.4.4 Die GLOBE Studie Die zunehmende Globalisierung führt dazu, dass es in der internationalen Zusammenarbeit immer wichtiger wird, verlässliche Informationen über die kulturbedingten Unterschiede von Organisation und Gesellschaften zu haben. Grundlage zur Beschreibung kultureller Unterschiede zwischen Nationen sind bis heute die von HOFSTEDE (1980) festgestellten Kulturdimensionen. Um die kulturbedingten Unterschiede von Führungsstilen und Organisationen genauer und aktueller beschreiben zu können, wurde die so genannte Globe-Studie 1993 initiiert. Ziel dieser groß angelegten und methodischen Studie war die Entwicklung einer empirisch begründeten Theorie zur Beschreibung und „Vorhersage“ kultureller Einflüsse und Besonderheiten auf Führung und Prozesse und der daraus resultierenden Effektivität. Die Leitung des Projektes unterlag JAVIDAN von der Fakultät für Management der University of Calgary in Kanada. Betreut wurde das Projekt von insgesamt 150 wissenschaftlichen Mitarbeitern. Daneben leitend beteiligt waren HOUSE von der Wharton School of Management der University of Pennsylvania, sowie DORFMAN von der New Mexico State University (beide in den USA). Finanziert wurde Projekt durch die US Science Foundation. Das Ergebnis der Globestudie resultiert aus ca. 17.000 ausgewertet Fragebögen. Diese stammen von mittleren Führungskräften von 825 verschiedenen Organisationen aus 61 Ländern. Der Forschungsablauf bestand aus vier Phasen: 1. Phase: Entwicklung der Forschungsinstrumente (Fragebögen) 2. Phase: Feststellung der neuen Kulturdimensionen und Hypothesentests bezüglich der Wirkung dieser auf die Führungstheorien 3. Phase: Auseinandersetzung mit der Wirkung und Effektivität von Führungsverhalten auf die Einstellungen und Job Performance der Mitarbeiter. 4. Phase: Feld- und Laboruntersuchungen zur Verifizierung der Ergebnisse 96
3.4.4.1 Die 9 Kulturdimensionen der GLOBE Studie Unsicherheitsvermeidung (Uncertainty Avoidance) Ö Dimension, in der die Mitglieder einer Organisation oder Gesellschaft danach streben, Unsicherheit durch den Verlass auf soziale Normen, Rituale und bürokratische Verfahren zu vermeiden. Machtdistanz (Power Distance) Ö Dimension, inwieweit die Mitglieder einer Organisation oder Gesellschaft übereinstimmen oder erwarten, dass Macht ungleich geteilt wird. Gesellschaftlicher Kollektivismus (Societal Collectivism) Ö Dimension, inwieweit organisatorische und gesellschaftliche Methoden die gemeinschaftliche Ressourcenverteilung und das gemeinsame Handeln belohnen oder dazu bestärken. Gruppeninterner Kollektivismus (In-Group Collectivism) Ö Dimension, inwieweit Individuen Stolz, Loyalität und Zusammenhalt in Organisationen oder in der eigenen Familien zeigen. Geschlechtergleichheit (Gender Egalitarianism) Ö Dimension, inwieweit eine Organisation oder Gesellschaft die Unterschiede in den Rollen der Geschlechter und Geschlechterdiskriminierung verringert. Selbstbewusstsein (Assertiveness) Ö Dimension, inwieweit Individuen in Organisationen oder Gesellschaften in sozialen Beziehungen selbstbewusst, aggressiv oder konfliktorientiert auftreten. Zukunftsorientierung (Future Orientation) Ö Dimension, inwieweit sich Individuen in Organisationen oder Gesellschaften in zukunftsorientiertem Verhalten wie Planung und Zukunftsinvestition engagieren. Leistungsorientierung (Performance Orientation) Ö Dimension, inwieweit eine Organisation oder Gesellschaft Gruppenmitglieder für gute Leistung oder Leistungsverbesserung belohnt oder dazu ermutigt. Humane Orientierung (Humane Orientation) Ö Dimension, inwieweit Individuen in Organisationen oder Gesellschaften andere Individuen für gerechtes, altruistisches, freundliches, großzügiges und sorgsames Verhalten belohnen.
97
Mit Ausnahme der Leistungsorientierung, Zukunftsorientierung und Humanen Orientierung haben die Dimensionen ihren Ursprung in den von HOFSTEDE festgestellten Kulturdimensionen.
Unsicherheitsvermeidung Gesellschaften mit einem höheren Grad Gesellschaften mit einem niedrigeren an Unsicherheitsvermeidung tendieren zu: Grad an Unsicherheitsvermeidung tendieren zu: • Haben eine Tendenz in Richtung Formalisierung ihrer Interaktionen mit anderen
• Haben eine Tendenz zu mehr Informalität bei ihren Interaktionen mit anderen
• Schriftliche Vereinbarung in Form von juristischen Verträgen
• Vertrauen auf das Wort des Anderen eher als vertragliche Vereinbarungen
• Sind ordentlich, bewahren sorgfältig Unterlagen, Aufzeichnung der Beschlüsse in Meetings
• Weniger befasst mit Ordentlichkeit und Verwaltung von Unterlagen, oft werden Beschlüsse der Meetings nicht aufgezeichnet
• Bezug auf formalisierte Taktiken und Verfahren, Erstellung und Befolgen von Regeln, schriftliches Prüfen von Nachrichten
• Bezug auf informelle Interaktionen und informelle Regeln eher als formalisierte Taktiken, Verfahren und Rollen
• Angemessene Kalkulation eines Risikos
• Weniger kalkulierte Übernahme von Risiken
• Sperrung neuer Entwicklung, aber Förderung der Durchführung von Schritten der Risikoabsenkung und engen Kontrolle
• Unterstützung neuer Entwicklungen hauptsächlich in der Einführungsphase, durch höhere Risikoübernahme und minimaler Planung oder Kontrolle
• Zeigen stärkere Beständigkeit im Wechsel
• Zeigen geringere Beständigkeit im Wechsel
• Zeigen stärkeres Verlangen zur Aufstellung von Regeln, dies erlaubt die Vorhersagbarkeit des Verhaltens
• Zeigen weniger Verlangen zur Aufstellung von Regeln als Vorschrift des Verhaltens
• Zeigen wenig Toleranz bei gebrochenen • Zeigen mehr Toleranz bei gebrochenen Regeln Regeln
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Kollektivismus I – Gesellschaftlicher Kollektivismus Organisationen mit einem hohen Grad an Kollektivismus
Organisationen mit einem hohen Grad an Individualismus
• Mitglieder nehmen an, dass sie von der Organisation abhängig sind, und glauben, dass es wichtig ist, persönlichen Opfer zu erbringen um ihre Verpflichtungen gegenüber der Organisation zu erfüllen • Arbeitnehmer neigen zur Entwicklung langfristiger Beziehung mit dem Arbeitgeber (von der Einstellung bis in den Ruhestand) • Organisationen übernehmen Verantwortung für das Wohlergehen der Angestellten
• Mitglieder nehmen an, dass sie von der Organisation unabhängig sind, und glauben, dass es wichtige ist, ihre einmaligen Fertigkeiten und Fähigkeiten in die Organisation einzubringen
• • • • •
•
• • • •
• Arbeitnehmer entwickeln kurzfristige Beziehungen und wechseln Gesellschaften nach eigenem Ermessen
• Organisationen interessieren sich primär für die Arbeit der Angestellten und nicht für deren persönliches oder familiäres Wohlergehen • Wichtige Entscheidungen werden Wichtige Entscheidungen werden tendenziell durch Individuen getroffen tendenziell durch die Gruppen getroffen • Auswahl konzentriert primär auf das Auswahl konzentriert sich auf rationale Wissen, Fertigkeit und Fähigkeiten der Eigenschaften der Arbeitnehmer Arbeitnehmer Arbeitsplätze sind, zur Maximierung der • Arbeitsplatze werden, zur Maximierung der Autonomie, für gesellschaftlichen und technischen Einzelne bestimmt Aspekte der Arbeit, in Gruppen gestaltet • Auswahl wird mehr hervorgehoben als Ausbildung wird mehr hervorgehoben Ausbildung als Auswahl • Bezahlungen und Beförderungen Bezahlungen und Beförderungen basieren auf einem Marktmodell, nach basieren auf den Erwägungen, der Gewelchem der Einzelne in direkter Berechtigkeit gegenüber der Gruppe, sowie ziehung zum Arbeitserfolg belohnt der Beschäftigungsdauer und persönwird lichen Bedürfnissen • Motivation ist individuell orientiert und Motivation ist gesellschaftlich orientiert und basiert auf dem Bedürfnis, die basiert auf individuellen Interessen, Pflichten und Verpflichtungen zu erfüllen Bedürfnissen und Kapazitäten und einen Beitrag zur Gruppe zu leisten Organisatorische Verpflichtung basiert • Organisatorische Verpflichtung basiert auf der Erwartung von Loyalität und Inder rationalen Kosten-Nutzen Gruppen Einstellung Kalkulation Soziales Verhalten oder Gesellschaft• Soziales Verhalten oder Gesellschaftliches Engagement von Unternehmen liches Engagement von Unternehmen sind häufiger ist geringer Ausweichende, zuvorkommende, ent• Direkte und lösungsorientierte gegenkommende und angepasste KonKonfliktlösung wird bevorzugt flikt-Lösungs-Taktiken werden bevorzugt Verantwortung für den Erfolg der • Verantwortung für den Erfolg der Organisationen und das Versagen liegen Organisationen und das Versagen bei der Gruppe liegen bei den Einzelnen
99
Kollektivismus II – Gruppeninterner Kollektivismus Merkmale von Kulturen mit einem hohen Grad an Kollektivismus
Merkmale von Kulturen mit einem hohen Grad an Individualismus
• Menschen sind in stark zusammenhaltende Gruppen integriert
• Individuen kümmern sich selbst um sich oder ihre engsten Angehörigen
• Das Ich wird als von der Gruppe abhängig angesehen
• Das Ich wird als autonom und unabhängig von Gruppen angesehen
• Gruppenziele haben Vorrang vor individuellen Zielen
• Individuelle Ziele haben Vorrang vor Gruppenzielen
• Pflichten und Aufgaben sind wichtige Entscheidungskriterien des sozialen Verhaltensweisen
• Einstellungen und persönliche Bedürfnisse sind wichtige Entscheidungskriterien für Verhaltensweisen
• Menschen betonen Verwandtheit mit Gruppen
• Menschen betonen Vernünftigkeit
• Ökologien sind landwirtschaftlich und Länder oft Entwicklungsländer
• Ökologien „jagen“ und „sammeln“, oder sind industriell und wohlhabend
• Es gibt ein langsameres Lebenstempo
• Es gibt ein schnelleres Lebenstempo
• Es gibt niedrige Herzinfarktraten
• Es gibt höhere Herzinfarktraten
• Es gibt niedrigeres subjektives Wohlergehen
• Es gibt höheres subjektives Wohlergehen
• Es gibt ausgedehnte familiäre Strukturen • Es gibt Kernfamilienstrukturen • Liebe hat keine große Bedeutung für Heiratsentscheidungen
• Liebe hat eine größere Bedeutung für Heiratsentscheidungen
• Es gibt niedrige Scheidungsraten
• Es gibt höhere Scheidungsraten
• Kommunikation ist indirekt
• Kommunikation ist direkt
• Individuen ergreifen wahrscheinlicher Gruppenaktivitäten
• Individuen ergreifen wahrscheinlicher Eigenaktivitäten
• Individuen haben weniger soziale Interaktionen, diese dauern tendenziell aber länger und sind vertrauter
• Individuen haben mehr soziale Interaktionen, diese sind aber tendenziell kürzer und weniger vertraut
• Individuen machen größere Unterschiede zwischen innerhalb und außerhalb der Gruppe
• Individuen machen weniger Unterschiede zwischen innerhalb und außerhalb der Gruppe
Beachte: Obwohl diese Tabelle zwei Extreme darstellt, ist es wichtig zu erkennen, dass diese Konstruktion ein Kontinuum darstellt. Weiterhin gibt es auch Schwankungen innerhalb der Kulturen.
100
Machtdistanz Parameter
Hohe Machtdistanz
Geringe Machtdistanz
Gesellschaftliche Ungerechtigkeiten
Gesellschaft hat Klassen nach mehreren Kriterien unterschieden
Gesellschaft hat einen großen Mittelstand
Machtbasis
Machtbasis ist stabil und erschreckend (z. B. LandBesitzer)
Machtbasis ist vorübergehend und teilbar (z. B. Fertigkeiten, Wissen)
Rolle der Macht
Macht wird als Quelle von gesellschaftlicher Ordnung, rationaler Harmonie und Rollenstabilität gesehen
Macht wird als Quelle von Korruption, Zwang und Herrschaft gesehen
Soziale Mobilität
Begrenzte soziale Aufwärtsmobilität
Hohe soziale Aufwärtsmobilität
Informationskontrolle
Informationen sind lokalisiert
Informationen sind geteilt
Governance
Verschiedene Gruppen (z. B., Frauen) sind unterschiedlich berechtigt und die Demokratie gewährt keine Chancengleichheit
Alle Gruppen genießen Gleichberechtigung und die Demokratie stelle die Chancen- und Entwicklungsgleichheit sicher
Einheimische Orientierung und Unabhängigkeit
Starke fremde historische Einflüsse und kurz bestehende Unabhängigkeit der Gesellschaft
Starke heimische historische Einflüsse und lang bestehende Unabhängigkeit der Gesellschaft
Bürgerliche Freiheiten
Die Rechte der Bürger sind schwach und die öffentliche Korruption ist hoch
Die Rechte der Bürger sind hoch und die öffentliche Korruption ist niedrig
Ressourcen und Kapital
Lediglich wenige Menschen haben Zugang zu Einnahmen, Fertigkeiten, Fähigkeiten, dies unterstützt geringe Lebenserwartung und geringe menschliche Entwicklungen
Massenhafte Erhältlichkeit von Werkzeugen, Ressourcen und Kapital für unabhängige und unternehmerische Initiativen, was sich an den Immatrikulationen der breit angelegenen Bildung widerspiegelt
Konsum
Hohe Wachstumsraten und die hohe Notwenigkeit für die Einkommensverteilung
Stetige Wachstumsraten und hohes Pro-Kopf-Einkommen
Technologie
Massennutzung der Technologie, was allgemein die Reduktion der Machtdistanz unterstützt
Bedürfnis nach spezialisierten Technologien, die für jeden Nutzer angepasst sind
101
Humane Orientierung Hoch human orientierte Gesellschaften
Gering humane orientierte Gesellschaften
• Andere sind wichtig z. B. Familie, Bekannte, Gemeinschaft, Fremde. • Wenigere psychologische und pathologische Probleme. • Werte wie Altruismus, Wohlwollen, Freundlichkeit, Liebe und Großzügigkeit haben hohe Priorität. • Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Aufnahme motiviert Menschen. • Persönliche und familiäre Beziehungen bewirken den Schutz der Einzelnen. • Geschlossener Kreis bekommt materielle, finanzielle und soziale Unterstützung; Beziehungserweiterung zu Menschen und Natur. • Mitglieder der Gesellschaft sind für die Unterstützung des Wohlergehens der anderen verantwortlich: Der Staat ist nicht aktiv beteiligt. • Der Staat unterstützt den privaten Sektor und wahrt ein Gleichgewicht zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich. • Die öffentliche Politik schafft Sanktionen gegen die Praxis von Kinderarbeit. • Mitglieder der Gesellschaft werden gedrängt für alle Formen der Rassendiskriminierung empfindsam zu sein. • Menschen erwarten die Vorantreibung patriarchalischer Maßstäbe und „gönnerhaften“ Beziehungen • Menschen werden gedrängt einander sozial zu unterstützten. • Von Kindern der weniger entwickelten Gesellschaften, wird mit erwartet, dass Sie ihre Eltern im Alter materiell unterstützen. • Die Kinder der weniger entwickelten Gesellschaften können eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, um ihren Familien auszuhelfen. • Kinder sollten gehorsam sein. • Eltern sollten ihre Kinder genau kontrollieren.
• Eigennutzen ist wichtig.
102
• Mehr psychologische und pathologische Probleme • Werte wie Vergnügen, Bequemlichkeit und Selbstfreude haben hohe Priorität. • Macht und materielles Eigentum motivieren Menschen. • Wahlfahrtsstaat garantiert sozialen und wirtschaftlichen Schutz der Einzelnen. • Mangel an Unterstützung für andere; Dominanz der Selbsterhöhung. • Staat sorgt für das Wohlergehen des Einzelnen durch soziale und wirtschaftliche Unterstützung. • Der Staat finanziert öffentliche Vorsorgemaßnahmen und Sektoren. • Die öffentliche Politik sieht die Praxis der Kinderarbeit als eine weniger wichtige Angelegenheit an. • Mitglieder von Gesellschaft sind nicht für alle Formen der Rassendiskriminierung empfindsam. • Formelle Wohlfahrtseinrichtungen ersetzen fürsorgliche Normen und Förderungsverbindungen. • Von Menschen wird erwartet, private Probleme selbst zu lösen • Von Kindern der höher entwickelten Gesellschaften, wird nicht erwartet, dass Sie ihre Eltern im Alter materiell unterstützen. • Von Kindern der höher entwickelten Gesellschaften wird nicht erwartet eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, um ihren Familien auszuhelfen. • Kinder sollten eigenständig sein. • Familienmitglieder sind selbstständig.
Leistungsorientierung Gesellschaften, die bei der Leistungsorientierung höhere Werte erreichen, tendieren zu:
Gesellschaften, die bei der Leistungsorientierung niedrigere Werte erreichen, tendieren zu:
• Legen Wert auf Training und Entwicklung • Legen mehr Wert auf Ergebnisse als auf Menschen • Belohnen Leistung • Schätzen Selbstbewusstsein, Konkurrenzdenken und Materialismus • Erwarten anspruchsvolle Ziele
• Legen Wert auf gesellschaftliche und familiäre Beziehungen • Legen Wert auf Loyalität und Zugehörigkeit • Haben großen Respekt vor Lebensqualität • Legen Wert auf Alter und Erfahrung
• • • • • • • • • • •
• •
• Wertschätzen Harmonie mit der Natur lieber als Kontrolle • Haben Systeme zur Leistungsbewertung, Glauben, dass Individuen unter die auf Anstand, Loyalität und einen Kontrolle sind Sinn für Kooperation Wert legen • Betrachten Rückmeldung und BeurteiHaben eine „ist-machbar“ Einstellung lung als beurteilend und unbehaglich • Sehen Selbstbewusstsein als gesellschaftWertschätzen und honorieren individuelle Erfolge lich nicht akzeptabel Haben Systeme zur Leistungsbewertung, • Sehen Motivation durch Geld als undie auf das Erreichen der Ziele Wert geeignet an legen Betrachten Rückmeldung als notwendig • Sehen Bezahlung nach Leistung als für Verbesserungen potenziell schädlich für die Harmonie Wertschätzen Initiative-Ergreifen • Bewerten „die richtige Schule besuchen“ als ein wichtiges Erfolgskriterium Wertschätzen Boni und finanzielle Be• Legen Wert auf Tradition lohnung Glauben, dass jeder Erfolg haben kann, • Legen großen Wert auf Mitgefühl wenn er oder sie sich genügend bemüht Glauben, dass schulische Ausbildung • Verbinden Wettbewerb mit Niederlage und Bildung entscheidend für Erfolg sind und Bestrafung Wertschätzen mehr was du tust als was • Wertschätzen mehr wer du bist als was du bist du tust Messen dem Alter bei Beförderungen • Messen dem Alter bei Beförderungen wenig Bedeutung bei besondere Bedeutung bei Wertschätzen, wenn man bei Ge• Schätzen Mehrdeutigkeit und Feinsprächen direkt und deutlich ist und auf sinnigkeit in der Sprache und der Unterden Punkt kommt haltung Haben einen monochronen Zeitansatz • Haben einen polychronen Zeitansatz („Eins nach dem Anderen“) („Mehrere Dinge zur gleichen Zeit“) Haben ein Gefühl von Dringlichkeit • Haben ein geringes Gefühl von Dringlichkeit
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Zukunftsorientierung Gesellschaften, die bei der Zukunftsorientierung höhere Werte erreichen, tendieren zu:
Gesellschaften, die bei der Zukunftsorientierung niedrigere Werte erreichen, tendieren zu:
• Erreichen wirtschaftlichen Erfolg
• Haben ein niedrigeres Level wirtschaftlichen Erfolgs
• Haben Wohlstand, um für die Zukunft zu sparen
• Haben Wohlstand eher, um ihn jetzt auszugeben als für die Zukunft zu sparen
• Haben Individuen, die psychisch gesund • Haben Individuen, die psychisch unund gesellschaftlich angepasst sind gesund und gesellschaftlich schlecht angepasst sind • Haben Individuen, die mehr intrinsisch motiviert sind
• Haben Individuen, die weniger intrinsisch motiviert sind
• Haben Organisationen mit einer langfristigeren strategischen Orientierung
• Haben Organisationen mit einer kürzeren strategischen Orientierung
• Haben flexible und anpassungsfähige Organisationen und Manager
• Haben unflexible und nicht anpassungsfähige Organisationen und Manager
• Sehen materiellen Erfolg und geistige Er- • Sehen materiellen Erfolg und geistige Erfüllung als ein integriertes Ganzes füllung als zwei Dinge, die einen Kompromiss erfordern • Wertschätzen den Aufschub von • Begrüßen sofortige Prämien und Prämien, da dem langfristigen Erfolg ein schreiben den umgehenden höherer Stellenwert zugeschrieben wird Honorierungen einen höheren Stellenwert zu • Schätzen eine visionäre Führung, die in der Lage ist, Muster angesichts von Chaos und Unsicherheit zu erkennen
104
• Schätzen eine Führung, die sich auf die Wiederholung von reproduzierbaren und regelmäßigen Abläufen konzentriert
Gleichheit der Geschlechter Gesellschaften, die bei der Gleichheit der Geschlechter höhere Werte erreichen, tendieren zu:
Gesellschaften, die bei der Gleichheit der Geschlechter niedrigere Werte erreichen, tendieren zu:
• Haben mehr Frauen in Führungspositionen
• Haben weniger Frauen in Führungspositionen
• Lassen Frauen in der Gesellschaft einen höheren Status zukommen
• Lassen den Frauen in der Gesellschaft einen geringeren Status zukommen
• Gewähren den Frauen eine stärkere Rolle in der gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung
• Gewähren den Frauen keine oder eine kleinere Rolle in der gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung
• Haben einen höheren Prozentsatz von Frauen, die sich am Erwerbsleben beteiligen
• Haben einen geringeren Prozentsatz von Frauen, die sich am Erwerbsleben beteiligen
• Haben geringere berufsbezogene Geschlechtertrennung
• Haben eine höhere berufsbezogene Geschlechtertrennung
• Haben höhere Bildungsraten bei den Frauen
• Haben niedrigere Bildungsraten bei den Frauen
• Haben ein ähnliches Bildungsniveau bei • Haben ein niedrigeres weibliches Frauen und Männern Bildungsniveau im Vergleich zum männlichen
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Selbstbewusstsein Gesellschaften, die beim Selbstbewusstsein Gesellschaften, die beim Selbstbewusstsein höhere Werte erreichen, tendieren zu: niedrigere Werte erreichen, tendieren zu: • Schätzen durchsetzungsfähiges, dominantes und hartnäckiges Verhalten bei jedem in der Gesellschaft • Haben Sympathie für die Starken • Schätzen Wettbewerb • Glauben, dass jeder Erfolg haben kann, wenn er oder sie sich genügend bemüht • Wertschätzen Erfolg und Fortschritt • Schätzen direkte und unmissverständliche Kommunikation • Wertschätzen, wenn man bei Gesprächen direkt ist und auf den Punkt kommt • Schätzen Ausdrucksfähigkeit und einen Einblick in Gedanken und Gefühle geben lassen • Haben relativ positive Assoziationen zum Ausdruck Aggression (d. h. Aggression hilft um zu gewinnen) • Haben einen „gerechte-Welt Glauben“ • Versuchen Kontrolle über die Umwelt zu haben • Heben Gleichheit, Wettbewerb und Leistung hervor • Haben eine „ist-machbar“ Einstellung • Heben Ergebnisse über Beziehungen • Schätzen Ergreifen der Initiative • Belohnen Leistung • Erwarten anspruchsvolle und herausfordernde Ziele • Glauben, dass Individuen unter Kontrolle sind • Wertschätzen mehr was du tust als was du bist • Bauen Vertrauen auf der Basis von Fähigkeiten und Berechnungen auf • Handeln opportunistisch und halten andere für opportunistisch
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• Sehen Selbstbewusstsein als gesellschaftlich inakzeptabel and schätzen Bescheidenheit und Zartheit • Haben Sympathie für die Schwachen • Schätzen Zusammenarbeit • Verbinden Wettbewerb mit Niederlage und Bestrafung • Schätzen Menschen und herzliche Beziehungen • Sprechen indirekt und betont, aber „gesichtsbewahrend“ • Schätzen Mehrdeutigkeit und Feinsinnigkeit in der Sprache und der Unterhaltung • Schätzen unparteiisches und selbstbeherrschtes Verhalten • Haben viel negativere Assoziationen zum Begriff Aggression (d. h. Aggression führt nur zu negativen Ergebnissen) • Haben einen „ungerechte-Welt Glauben“ • Schätzen die Harmonie mit der Umwelt mehr als die Kontrolle • Heben Gleichheit, Solidarität und Lebensqualität hervor • Betonen Anstand, Loyalität und eine kooperative Stimmung • Sehen Bezahlung nach Leistung als potenziell schädlich für die Harmonie • Wertschätzen mehr wer du bist als was du tust • Bauen Vertrauen auf der Basis von Vorhersehbarkeit auf • Sehen Andere als von Natur aus vertrauenswürdig an
In SPIEGEL-ONLINE war am 31.10.2009 folgender Beitrag zur Globalisierung zu finden. Kasten 3.18 31. Oktober 2009, 20:06 Uhr
Globalisierung "Ich warne vor Kultur-Rassismus" Das globale Dorf ist Wunschdenken, sagt der Ethnologe Christoph Antweiler. Unterschiede zwischen den Kulturen müssen respektiert werden. Zugleich unterschätzen wir die Gemeinsamkeiten wie sexuelle Tabus, Vetternwirtschaft, und Gastfreundschaft.
Frage: Professor Antweiler ... was ist das denn? Christoph Antweiler: Barbiepuppen. Frage: Sind Sie dafür nicht schon zu alt? Antweiler: Im Gegenteil, für mich werden sie erst jetzt interessant. Diese hier ist die klassische Barbie. Kopf mit Kindchenschema, extrem schmale Taille, große Oberweite, blonde Haare. Und das hier ist eine Gegen-Barbie aus dem Iran, wo 1991 die amerikanische Puppe verboten wurde. Sie ist etwas plumper, und man kann sie nicht ausziehen, weil die Kleidung mit dem Körper vernäht ist. Frage: Und was schließt der Ethnologe daraus? Antweiler: Das Interessante ist, dass die Puppen kulturell angepasst sind, aber bestimmte Grundmerkmale gemeinsam haben: Symmetrische Gesichter, glatte Haut, schmale Taillen und glänzendes Haar gelten quer durch die Kulturen als Zeichen von Schönheit. Frage: Das ist ein Klischee. Antweiler: Das ist Wissenschaft. Wir sprechen von Universalien. Frage: Es gibt doch auch Kulturen, in denen Männer vollschlanke Frauen begehren. Antweiler: Das sind ganz wenige Fälle angesichts der 6.000 bis 7.000 Kulturen, die man weltweit unterscheiden kann. Um die zu finden, muss man schon in die Zentralsahara oder ins Amazonas-Tiefland gehen. Mich interessieren weltweite Ähnlichkeiten, auch wenn sie nicht hundertprozentig universal sind. Frage: Die Unterschiede zwischen den Kulturen sind doch viel spannender. 107
Antweiler: Mir geht auf die Nerven, dass Ethnologie immer nur dann fasziniert, wenn es um irgendwelche kulturellen Besonderheiten geht. Es stimmt, dass Ethnologen vor allem Einzelkulturen erforschen, auch ich fahre seit mehr als 20 Jahren jedes Jahr nach Makassar in Indonesien, um dort eine städtische Kultur zu studieren. Aber unter der Oberfläche finden wir Gemeinsamkeiten. Ich sehe Ethnologie als vergleichende Wissenschaft des ganzen Menschen, und deshalb interessieren mich verallgemeinernde Aussagen. Gastfreundschaft und Inzestverbot als kulturelle Universalien Frage: In Ihrem Buch "Heimat Mensch" listen Sie 73 Gemeinsamkeiten der Kulturen auf, vom Abstillen über Begräbnisrituale, Hygiene, Kochen bis zu Zahlen. Da kann man doch gleich sagen: Der Mensch hat zwei Beine und kann sprechen. Antweiler: Es geht nicht um triviale Ähnlichkeiten! Es ist doch frappierend, wenn fast alle Kulturen etwas auf eine Art machen, obwohl es anders möglich ware. Dass Frauen Kinder kriegen, ist selbstverständlich. Dass Frauen die Kinder aufziehen, ist dagegen biologisch nicht notwendig und trotzdem in fast allen Kulturen der Welt der Fall. Das ist ein kulturübergreifendes Muster. Die Liste mit den 73 Universalien stammt übrigens von 1945, aus den Anfängen der Universalienforschung. Heute kennen wir je nach Definition 100 bis 200 Universalien. Frage: Können Sie noch ein paar Beispiele nennen? Antweiler: Gastfreundschaft. Vetternwirtschaft. Inzestverbot: Man darf nicht Menschen heiraten, die mit einem verwandt sind. Das ist universal, auch wenn Verwandtschaft unterschiedlich interpretiert wird. Oder sexuelle Beschränkungen: Wir kennen keine Kultur, die ohne sexuelle Normen auskommt, obwohl ein Leben in Freizügigkeit immer wieder erträumt wird. Schließlich Gesten: Verneinung beispielsweise wird auf der ganzen Welt durch ein Abwenden des Kopfes ausgedrückt. Frage: Die Eskimos haben 100 Wörter für Schnee, wir nur ein paar. Ist das nicht ein Gegenbeispiel? Antweiler: Das ist ein Mythos aus den zwanziger Jahren, der leider auch in vielen Schulbüchern wiedergekäut wird. Ein Ethnologe zählte mal bei den Inuit vier bis fünf Vokabeln für Schnee. Der nächste hat das abgeschrieben und die Zahl auf acht erhöht, dann war irgendwann von 20 die Rede. In einer amerikanischen Radiosendung wird jedes Jahr zum Winteranfang behauptet, die Inuit hätten 250 Wörter für Schnee. Faktisch haben sie etwa acht bis zehn, mehr nicht. Das ist nicht überraschend, Menschen in alpinen 108
Gebieten haben auch mehrere Wörter für Schnee, wie etwa Firn und Graupel.
Frage: Bitte sagen Sie jetzt nicht, dass auch die zeitvergessenen HopiIndianer und die zyklischen Zeitvorstellungen der Inder ein Mythos sind. Darauf fußen zahlreiche Ratgeber für gestresste Manager. Antweiler: Völliger Kokolores. Jede Kultur hat ein lineares Zeitkonzept. Es gibt zwar Wiedergeburtsvorstellungen in Indien, aber im Alltagsleben denkt jeder Inder linear, teilt also den Zeitpfeil in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und den Hopi-Mythos verdanken wir dem Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf, der behauptet hat, dass die Hopi nicht über Zukunft und Vergangenheit reden und daher auch nicht so denken. Viele Jahre später hat jemand in einer 600-seitigen Arbeit festgestellt, dass auch die Hopi Wörter für gestern und morgen kennen. Leider hat das niemand gelesen, und so blieben die Hopi-Indianer das Paradigma des extremen Kulturrelativismus. Macht die Globalisierung uns ähnlicher? Frage: Das heißt? Antweiler: Dass in anderen Kulturen völlig andere Konzepte herrschen als in unserer, die als westliche Kultur verallgemeinert wird. Auch ich bin als Relativist in der Ethnologie groß geworden. Da galt es als besondere wissenschaftliche Leistung, nachzuweisen, dass irgendetwas, das wir für selbstverständlich halten, nicht beim Volk der Bongo vorkommt. In Fachkreisen spricht man von Bongo-Bongoismus. Ein überzogener Relativismus ist heute leider der Mainstream in den Kulturwissenschaften. Frage: Was ist daran so falsch? Antweiler: Ich bin ein ziemlich unpolitischer Mensch, und daher finde ich auch die Grundmaxime des Kulturrelativismus richtig: Wir sollten nicht werten, denn alle Kulturen sind grundsätzlich gleichwertig und in sich stimmig. Ich warne aber vor übertriebenem Kulturrelativismus, der schnell in Kulturrassismus umschlagt. Der alte Rassismus hat gesagt: Wir leben in einer Welt, aber wir sind verschiedene Menschen, die gelben, die schwarzen, die roten und so weiter. Der Ultrarelativismus sagt: Wir sind alle Menschen, aber leben in völlig verschiedenen Welten, sprich Kulturen. Im Extremfall wird dann behauptet, die Kulturen seien inkompatibel und könnten sich nicht verständigen. Das ist wissenschaftlich nicht fundiert und politisch gefährlich. Frage: Die kulturelle Vielfalt ist doch eine Tatsache. 109
Antweiler: Ich möchte die Vielfalt ja gerade nicht gegen die Universalien ausspielen. Aber die Vielfalt ist begrenzt, und es gibt Muster in der Vielfalt, und diese Strukturen haben mit dem zu tun, was wir gemein haben. Frage: Wir sitzen alle in einem Boot. Antweiler: Das ist eine Floskel. Natürlich wachsen wir in unterschiedlichen Kulturen auf, manche Grenzen werden sogar neu gezogen: Als ethnische Gruppe im modernen Sinne könnte man etwa eine Untergruppe von Londoner Börsenbrokern nehmen, die in dieselben Bars gehen, deren Kinder untereinander heiraten und die eine ähnliche Weltorientierung haben. Trotzdem haben die Kulturen eine gemeinsame Heimat. Gleich und ungleich zugleich Frage: Wenn wir Menschen so viel gemeinsam haben, warum gibt es dann ethnische Konflikte? Antweiler: Die meisten sogenannten ethnischen Konflikte haben andere Ursachen, etwa Benachteiligung oder Ressourcenknappheit. Typisch sind die Bürgerkriege in Ruanda oder Exjugoslawien. Sie hatten sozioökonomische Ursachen, die nachträglich kulturell eingefärbt wurden, oft von den Beteiligten selber. Man spielt die ethnische Karte. Statt zu sagen: Wir sind einfach nur arm oder überfordert, sagt man: Wir sind die Kultur X und haben eine lange Geschichte, und deshalb steht uns das und das zu. Das ist Strategie. Frage: Welche Erklärung haben Sie für die kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten? Antweiler: Mehrere! Unsere evolutionär gewachsene Psyche ist die Ursache für etliche Universalien, etwa für Vetternwirtschaft, die man überall findet. Homo sapiens hat die meiste Zeit in kleinen Gemeinschaften gelebt, daraus erklärt sich die Tendenz zur Aufwertung der eigenen Gruppe. Aber Biologie und Evolution sind nicht alles, es gibt noch eine zweite Erklärung: Bestimmte Dinge sind irgendwo entdeckt worden und haben sich dann über die Welt ausgebreitet, zum Beispiel der Feuergebrauch oder die Haustiere. Eine dritte Ursache sind einfach die Umstände, die nur bestimmte Lösungen zulassen. Zum Beispiel Bürokratie: Wenn Gesellschaften größer sind als die 150 Menschen umfassende Kleingruppe der Frühgeschichte, werden sie bürokratisch. Sie brauchen Spezialisten, die koordinieren. Auch der kulturübergreifende Gebrauch von Geld lasst sich so erklären, er ist eine Folge von Globalisierung und Systemerfordernissen. Frage: Macht die Globalisierung uns ähnlicher? 110
Antweiler: Sie macht uns gleich und ungleich zugleich. Ich habe erlebt, wie in Jakarta das erste indonesische McDonald's eröffnet wurde, übrigens die weltweit umsatzstärkste Filiale in jenem Jahr. Da erkennt man sofort Ähnlichkeiten wie die Farben und das Logo, aber auch Unterschiede: Die meisten essen dort keine Hamburger, sondern Reis mit Hühnchen. Und dann stellt man fest, dass viele dort gar nicht essen, sondern anderen zuschauen. Wir haben ein globales Phänomen, das aber lokal unterschiedlich interpretiert wird, so wie die Barbiepuppen. Ethnologen sprechen von Globalisierung. Die Globalisierung funktioniert jedenfalls nur, weil die Menschen sich ähneln. Die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner Frage: Macht das die Welt besser? Antweiler: Ich warne vor Wunschdenken nach dem Motto "Die Welt ist ein Dorf". Die Welt ist schon deshalb kein Dorf, weil es keinen Bürgermeister gibt. Die Welt ist fragmentiert. Es gibt aber Gemeinsamkeiten der Kulturen, und die können wir ausbauen. Frage: Was heißt das für das Zusammenleben in Deutschland? Antweiler: Es müssen nicht alle gleich sein, aber wir können auch nicht alle in ethnischen Enklaven leben. Wir sollten schauen, was Kulturen verbindet, ohne dass sie sich auflösen müssen. Inwiefern spielen Ehre, Respekt oder die Suche nach Anerkennung in allen Kulturen eine Rolle? Kulturen haben zum Teil auch die gleichen Probleme, etwa dass Alte und Junge oder Männer und Frauen verschiedene Interessen haben. Frage: Ganz konkret: In Köln gibt es Streit um den Neubau einer Moschee. Was raten Sie? Antweiler: Ich würde erst mal festhalten, dass religiöse Gemeinschaften bestimmte Symbole brauchen und dass es eine Funktion hat, wenn eine religiöse Gemeinschaft sich öffentlich zeigt. Daraus folgt dann noch nicht, wie hoch der Turm der Moschee gebaut werden sollte und wie laut der Muezzin rufen darf. Aber daraus folgt, dass Vorschläge wie "Die sollen ihren Glauben zu Hause ausleben" unsinnig sind. Wir sollten lieber nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Kulturen suchen. Das Interview führte Max Rauner URL: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,657602,00.html
111
4
Stress – Bedeutung und Folgen
4.1 Stress – wichtig zum Überleben Die Stressreaktion ist eine, nicht nur beim Menschen, weit verbreitete Reaktion. Im Laufe der Geschichte der Menschheit hat die Stressreaktion bisher mehr Menschenleben gerettet, als die Gesundheit von Menschen geschädigt. Erst in diesem Jahrhundert hat sich das Bild gewandelt: Eine Vielzahl sog. Zivilisationskrankheiten (Bluthochdruck, Magengeschwüre, Einschränkungen im Immunsystem, Herzinfarkt) werden durch Stress in ihrer Entstehung oder im Verlauf beeinflusst. Das bedeutet eine zunächst biologisch vernünftige Reaktion hat zunehmend negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden. Deshalb ist es notwendig, zunächst die Stressreaktion zu erläutern und erst in einem zweiten Schritt auf deren Probleme einzugehen.
4.2 Die Stressreaktion nach SELYE (1950) Das englische Wort "stress" bezeichnet zunächst einmal eine beliebige Kraft, die auf ein Objekt einwirkt (der Begriff stammt aus der Technik). Dieses Objekt kann dieser Kraft zunächst standhalten und leistet Widerstand (engl. strain). Wird die Kraft zu stark, reicht der Widerstand nicht mehr aus und das Objekt wird zerstört. Diese aus der Technik stammende Analogie wurde exakt ins menschliche Verhalten übertragen: Eine Person wird durch ein Problem belastet. Je nach der Persönlichkeit dieser Person werden Kräfte aufgeboten, das Problem zu lösen. Kommen weitere Probleme hinzu oder ist das Problem zu groß, wird der Widerstand des Menschen überwunden, er wird mit dem Stress nicht mehr fertig und wird krank. Den Ablauf dieser Reaktion kann man sich folgendermaßen vorstellen:
113
Die 3 Stadien des Allgemeinen Anpassungssyndroms (AAS) (n. SELYE)
normale Widerstandslage Alarmreaktion
Widerstandsreaktion
Erschöpfung
Abb. 4.1: Das Allgemeine Anpassungssyndrom nach SELYE (1950)
Während der Stressreaktion ist der Organismus höchst aktiv und es werden eine Reihe von Hormonen der Nebenniere ausgeschüttet, die den Organismus zum Kampf befähigen oder zur Flucht verhelfen sollen. Der Organismus (Mensch) reagiert entweder aktiv (Kampf, Flucht) oder passiv (Depression, gibt sich auf). Diese sog. Stressreaktion ist unspezifisch, d. h. es erfolgt unabhängig vom Auslöser immer die gleiche Reaktion. Auslöser der Stressreaktion werden Stressoren genannt. Es gibt Stressoren, die bei allen Menschen wirksam sind, andere sind nur bei manchen Menschen wirksam. Bei diesen individuellen Stressoren spielen Vorerfahrungen eine herausragende Rolle. Kasten 4.1
Stressoren • übermäßige Hitze oder Kälte • Sauerstoffmangel • giftige Chemikalien • Infektionen • schwere körperliche Anstrengungen • starke Aufregungen • Angst • Wut
(sehr wichtig) (sehr wichtig) (sehr wichtig)
• sehr große Freude • Gedanken
114
(besonders wichtig)
4.3 Die Bedeutung der Stressreaktion oder: Warum reagiert der Körper mit der Stressreaktion auf die Stressoren? Die Stressreaktion ist zunächst eine sinnvolle Antwort des Organismus auf eine u. U. lebensbedrohliche Situation, denn sie befähigt den Menschen auf eine Bedrohung hin zu flüchten, oder sich einem Kampf zu stellen. Die Stressreaktion macht den Körper bereit für diese Aufgaben, indem:
• die Blutgerinnungsfähigkeit verbessert wird, • das Blut verstärkt in die Extremitäten strömt, • Darm und Blase entleert werden, • das Cholesterin im Blut zunimmt, • die Schmerzempfindlichkeit herabgesetzt wird. Diese kurzfristigen physiologischen Veränderungen verschwinden, sobald der Stressor nicht mehr wirksam ist bzw. nicht mehr wahrgenommen werden kann. Dieses Bild ändert sich jedoch, wenn dem Stressor nicht durch Flucht ausgewichen werden kann oder dieser nicht erfolgreich bekämpft werden kann oder ständig weitere Stressoren hinzukommen. In diesen Fällen kann die Stressreaktion nicht beendet werden, es kommt zu Erschöpfung (vgl. Ablauf der Stressreaktion nach SELYE). Im Extremfall kann der Tod eintreten.
Besonders schädlich sind folgende physiologische Veränderungen: • Erhöhter Cholesterinspiegel • Bluthochdruck • Erkrankungen der Herzkranzgefäße • erhöhte Herzschlagrate • Infektionserkrankungen • Depressionen • Autoimmunerkrankungen • verminderte Libido • Impotenz
115
4.4 Die positive Seite des Stress: Der Eustress Stress hat aber auch eine "gute" Seite. So konnte man nachweisen, dass es neben dem schädlichen Stress (Disstress) auch eine Form des guten Stress (Eustress) gibt. Dies hat zur Folge, dass milde Formen der Anspannung und Nervosität, die mit den gleichen physiologischen Phänomenen einhergehen, die für die Stressreaktion typisch sind (s. o.) dazu führen, dass die meisten Personen in diesem Zustand zu höheren Leistungen fähig sind, als in einem von völliger Entspannung gekennzeichneten Zustand. Dies gilt allerdings nicht für Personen, bei denen die Emotionale Labilität besonders ausgeprägt ist (vgl. Persönlichkeitsmodelle zum Konstrukt "Emotionale Labilität"). Weiterhin ist zu bemerken, dass Frauen mit Stress sehr viel besser fertig werden als Männer; insbesondere leichtere Formen des Stress führen zunächst sogar zu einer Leistungssteigerung, während Männer, die dem Stress in gleichem Umfang ausgesetzt sind, bereits mit Leistungsversagen reagieren.
4.5 Life-Event Forschung Wie bereits früher dargelegt, kann Stress eine Reihe schwerwiegender gesundheitlicher Konsequenzen haben. Bereits 1967 fiel HOLMES und RAHE auf, dass sich im Vorfeld psychischer und physischer Erkrankungen bei vielen Menschen eine Reihe einschneidender Veränderungen im Leben der Betroffenen ereigneten. Sie stellten die Hypothese auf, dass eine Erkrankung wahrscheinlicher wird, wenn viele bedeutungsvolle Erlebnisse (life events) stattgefunden haben. Sie entwickelten eine Skala, bei der einer Vielzahl von Ereignissen ein bestimmter Belastungswert zugeordnet wurde. Je nach Höhe der Gesamtsumme der Einzelereignisse innerhalb eines bestimmten Zeitraums, konnten stressabhängige Erkrankungen bei den betroffenen Personen beobachtet werden. Die folgende Tabelle zeigt eine Auswahl der Lebensereignisse mit den entsprechenden Belastungswerten:
116
01. 02. 06. 08. 13. 18. 22. 23. 27. 30. 31. 32. 41. 42. 43.
Tod des Ehepartners Scheidung Schwere Krankheit oder Verletzung Kündigung durch Arbeitgeber Sexuelle Schwierigkeiten Wechsel zu anderer Arbeit Größere Veränderungen im Verantwortungsbereich bei der Arbeit Sohn oder Tochter zieht aus Beginn oder Ende der Ausbildungszeit Schwierigkeiten mit dem Vorgesetzten Größere Veränderung in Arbeitszeiten oder -bedingungen Wohnortwechsel Ferien Weihnachten Geringe gesetzliche Vergehen (z. B. im Straßenverkehr)
100 73 53 47 39 36 29 29 26 23 20 20 13 12 11
"Gefährlich" wird es bei 200 und mehr Punkten in einem Jahr oder mehr als 300 Punkten in 2 Jahren. Es ist erkennbar, dass die Arbeit/der Arbeitsplatz durchaus eine große Quelle für Stress darstellt. Zum Schluss dieser Darstellung soll noch der Hinweis gegeben werden, dass man sich das Vorgehen in der Life-Event Forschung nicht so vorstellen darf, dass einfach die entsprechenden Werte addiert werden. Darüber hinaus sind noch eine Reihe weiterer Daten zur Persönlichkeit, den Lebensumständen usw. in Betracht zu ziehen! Durch die Beachtung dieser Variablen konnte die Life-Event Forschung in den letzten Jahren bessere Erfolge in der Vorhersage stressbedingter Erkrankungen erzielen. (SARAFINO, 1999)
117
Kasten 4.2
Stressfolgen: "Zivilisationserkrankungen" Man kann folgende Unterscheidungen treffen: Typ A ("Ich packe es") (Angriffstyp) Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Bluthochdruck, Hirnschlag, Herzinfarkt Typ B ("Ich schlucke alles") (Fluchttyp) Magen-Darm-Erkrankungen: Magengeschwür, chronische Erkrankungen des Magen-Darm-Bereichs, Magen/Darmkrebs.
4.6 Weitere Modellvorstellungen zum Thema Stress Neben dem psychophysiologisch orientierten Ansatz von SELYE, können eine Reihe von psychologischen Stresstheorien oder Stressmodelle genannt werden. Hierzu gehört auch das weiter unten beschriebene Konzept des PE-Fit (4.7.2), das bei einigen Autoren auch P-E-Misfit genannt wird. Daneben sind noch folgende Modelle zu nennen:
4.6.1 Stress aufgrund eines operanten Konditionierungsvorgangs nach dem Modell des operanten Konditionierens, das auf B. F. Skinner zurückgeführt werden kann, lässt sich Stress mit dem Begriff des operanten Konditionierens erklären. Es wird eine Verhaltensanalyse mit den Variablen
• S (Stimli) • O (Organismus) • R (Reaktion) • K (Konsequenz) durchgeführt, wobei S die stressauslösende Situation (Stressor), O die körperliche Reaktion des Organismus (Angespanntheit, Angst, Nervosität, Aggressivität usw.), R die Reaktion auf den Stressor (Angriff, Flucht, Erstarrung) und K die Konsequenz auf das Stressverhalten (Verstärkung, Bestrafung, usw.) darstellt.
4.6.2 Der Coping-Ansatz (LAZARUS et al) Nach LAZARUS stellt die Stressreaktion ein Bewältigungsversuch einer Person in einer bedrohlichen Situation dar. 118
Das Konzept der Kontrolle spielt hierbei eine herausragende Rolle. Solange die Person meint, dass sie die Situation bewältigen kann und demzufolge Kontrolle ausüben kann, kann sie den Stressoren gewachsen sein. Das innere Gleichgewicht kann wieder hergestellt werden. Ist die betroffene Person hingegen der Meinung, dass sie keine Kontrolle in der Situation hat, reagiert sie mit Angst, Wut oder psychosomatischen Beschwerden. Die Reaktion richtet sich nach dem Ausmaß der erlebten Bedrohung. Kasten 4.3
Stress und Geschlecht Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen in deren Reaktion auf Stress: Frauen können Stress besser verarbeiten als Männer. Während bei Männern in Stresssituationen die Leistungsfähigkeit unmittelbar abnimmt, zeigt sich bei Frauen ein anderes Bild. Stress ist für Frauen zunächst leistungsfördernd. Das Leistungsversagen ist erst bei noch größerem Stress zu beobachten. Auch in anderen, nicht unmittelbar leistungsbezogenen Situationen zeigt sich immer wieder die Überlegenheit des weiblichen Geschlechts beim Umgang mit Stress.
4.7 Besondere Stresssituationen 4.7.1 Arbeitslosigkeit Es gibt eine Vielzahl von Untersuchungen die belegen, dass Arbeitslosigkeit in unserer Industriegesellschaft einen entscheidenden Stressfaktor darstellt. Bereits in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts konnte Marie JEHODA dies eindeutig belegen, als sie sich mit den "Arbeitslosen von Marienthal" in Österreich beschäftigte. Dort hatten im Laufe der Weltwirtschaftskrise alle Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. In kürzester Zeit erlitten viele Betroffene schwerwiegende Depressionen, die Selbstmordrate stieg dramatisch an. In späteren Untersuchungen in den 80er Jahren konnte M. JEHODA ihre Ergebnisse im Wesentlichen bestätigen. Eine andere Untersuchung aus den 80er Jahren, in deren Verlauf 500 schwedische Arbeiter untersucht wurden, deren Firma von Schließung bedroht war, zeigt folgende Ergebnisse: Als die Schließung des Werkes noch in der Schwebe war, zeigten alle Arbeiter eine erhöhte Nebennierenaktivität, d. h. es wurden sehr viele 119
Stresshormone (Cortisol) ausgeschüttet. Gleichzeitig klagten sie über Unlust und Lebensangst. Bei den Arbeitern, die rasch einen neuen Arbeitsplatz (nach der Schließung) fanden, normalisierten sich die Cortisolausscheidungen sehr rasch. Bei den übrigen Arbeitern hingegen stieg die Cortisolrate stetig an, ebenso die Depressionsrate. Weiterhin verschlechterte sich das Immunsystem kontinuierlich. In einer weiteren Untersuchung kam BRENNER (1983) zu dem Ergebnis, dass ein Anstieg der Arbeitslosigkeit um 1 % dazu führt, dass 2 % mehr Personen durch Herzinfarkt und Zirrhose, sowie 4 % mehr durch Selbstmord umkommen. Gleichzeitig stieg die Einweisungsrate in psychiatrische Kliniken um 4 % an. Eine Darstellung der BKK aus 2007 macht die besondere Stresssituation Arbeitsloser nochmals deutlich. Es wird aufgezeigt, dass es unter Arbeitslosen die meisten Tage der Erwerbsunfähigkeit pro Jahr zu beobachten sind. Kasten 4.4
Krank im Job Berufe mit den meisten psychischen Erkrankungen (Tage der Arbeitsunfähigkeit pro Jahr je gesetzlich Versicherten) Arbeitslose 4,6 Telefonisten 2,7 Krankenpflegehelfer 2,4 Sozialarbeiter, Sozialpfleger 2,4 Schienenfahrzeugführer 2,3 Krankenversicherungsfachleute 2,2 Eisenbahnbetriebsregler, Schaffner 2,0 Krankenschwestern, -pfleger, Hebammen 1,9 Heimleiter, Sozialpädagogen 1,9 Raum-, Hausreiniger 1,9 Kindergärtner, Kinderpfleger 1,8 Stenografen, Stenotypisten, Maschinenschreiber 1,7 Pförtner, Hauswarte 1,5 Durchschnitt aller Berufe 1,2 QUELLE: BKK 2007
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4.7.2 P-E-Fit P-E-Fit bedeutet Person-Umwelt-Übereinstimmung (i. S. v. CAPLAN et al. 1982). Das Konzept des P-E-Fit geht davon aus, dass der Stress am Arbeitsplatz umso geringer ist, je höher die Übereinstimmung von Fähigkeiten und Wünschen der Person mit den Anforderungen und Arbeitsumständen der jeweiligen Tätigkeit ist. Stress tritt dann auf, wenn Personen entweder überoder unterfordert sind. Auch ist die Arbeitszufriedenheit dann am größten, wenn weder Unter- noch Überforderung vorliegt. Deshalb ist es immer wichtig, die richtigen Personen für die Arbeitsplätze auszuwählen. Der Personenauswahl kommt deshalb eine entscheidende Bedeutung zur Abwehr von Stress am Arbeitsplatz zu.
4.7.3 Stress bei Managern War man früher überwiegend der Ansicht, dass insbesondere Spitzenmanager die höchste Stressbelastung aufweisen, zeigte sich beim näheren Hinsehen ein anderes Bild: Insbesondere das sog. Mittlere Management (in der Verwaltung überwiegend Sachgebietsleiterfunktionen) hat die höchsten Stressbelastungen. Dies liegt daran, dass dieser Personenkreis kaum eigene Entscheidungsbefugnisse hat und voll der Kontrolle des Spitzenmanagements unterliegt. Dieser Kontrollverlust, bei gleichzeitig hoher Belastung, stellt wahrscheinlich die Quelle für die hohe Stressbelastung dar. Hinzu kommt sicherlich die Unsicherheit über den weiteren Karriereverlauf: "Wird es weiter vorangehen oder ist die Karriere beendet". Weiterhin ist zu bedenken, dass sich diese Personen in einem Alter befinden, in dem sich auch viele andere Stressfaktoren zunehmend bemerkbar machen (vgl. Life-Events). Vor diesem Hintergrund ist der Abbau von Hierarchien sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings wird man beachten müssen, ob sich diese Stressbelastung dann nicht aller Mitarbeiter bemächtigt.
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4.8 Das Burnout-Syndrom Da das Burnout in den letzten Jahren sowohl in der Fachliteratur als auch in der Populärliteratur eine immer größere Bedeutung gewonnen hat, soll dieses Phänomen an dieser Stelle ausführlicher beschrieben werden. Unter Burnout versteht man eine spezielle Form des Stresses, wie er besonders häufig bei Menschen in sogenannten "Helfenden Berufen" vorkommt. Wörtlich übersetzt bedeutet das Wort "Ausbrennen". Es ist das Ergebnis ständiger emotionaler Belastung im Zusammenhang mit dem andauernden Einsatz für andere Menschen. Besonders betroffen hiervon sind u. a.:
• Krankenpfleger/innen • Erzieher/innen • Lehrer/innen • Sozialpädagogen/innen • Psychologen/innen • Mitarbeiter/innen von Sozialen Einrichtungen (auch Sozialämtern) 4.8.1 Theoretischer Hintergrund des Burnouts Burnout bzw. „to burn out“ (engl. ausbrennen) wird in der englischen Umgangssprache als Metapher für „man ist erschöpft“ oder „man kann nichts mehr tun oder geben“ verwendet (LITZCKE & SCHUH, 2007). Es entsteht ein Zustand der Erschöpfung. Dieser gehe dabei einher mit dem Erleben von Kraftlosigkeit, Ohnmacht, unverstanden und „am Ende“ zu sein (JÜPTNER, 1993). Das Burnout entsteht durch den Gedanken der Betroffenen, „dass sie ihrem Klientel nicht mehr helfen können, dass sie alles gegeben haben“. Alle Aspekte der Tätigkeit werden negativ gesehen. Hinzu kommen auch psychosomatische Beschwerden, wie z. B. Magen-Darm-Beschwerden, Kopfschmerzen und eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber Infektionen. Die Betroffenen fühlen sich hilflos und engagieren sich kaum noch für ihre Klientel. Die Erschöpfungskomponente ist eine zentrale Annahme des Burnouts. Eine Erschöpfungssymptomatik ist z. B. auch bei einer Depression vorherrschend. Deshalb postulieren SCHAUFELI et al (1998), dass das Burnout-
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Syndrom nur im arbeitsbezogenen Kontext zu sehen sei. Dies ermögliche eine Abgrenzung zur Depression. Bei EDELWICH & BRODSKY (1984) gilt Burnout als „zunehmender Verlust an Idealismus und Energie [...], den die in den helfenden Berufen Beschäftigten als Folge der Arbeitsbedingungen erfahren (EDELWICH & BRODSKY, 1984, S. 12). Im Entstehungsprozess des Burnout steht ein Prozess der „Enttäuschung“ von idealistischen Vorstellungen, der im Burnout endet (EDELWICH & BRODSKY, 1984). Sie sehen folgenden Ablauf bei der Entstehung des Burnouts:
1. Idealistische Begeisterung: Hier herrschen Hoffnung und unrealistische und idealistische Erwartungen gegenüber dritten Personen (Klienten). Das Risiko dieser Phase, in die nächste Phase zu kommen, steigt mit der „Überidentifikation mit Klienten“. 2. Stagnation: Dieser Punkt behandelt eine Art „Festgefahrenseins“ verbunden mit einer Unzufriedenheit über die Arbeitssituation (z. B. über Überstunden, niedrige Bezahlung, mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten, etc.) bei gleichzeitigem großem Bemühen der Helfer- Person die Vorstellungen dennoch zu erfüllen. 3. Frustration: Der entscheidende Punkt, der zum Burnout führt. Es entstehen hier Gefühle der Machtlosigkeit, die Situation verändern zu können, die eigene Effektivität wird in Frage gestellt. 4. Apathie: Das Endstadium, in dem der Burnout eingetreten ist. Kennzeichen sind Zynismus, emotionaler Rückzug und Vermeidung von Klientenkontakten. Wie der Prozess aufzeigt, stehen im Mittelpunkt idealistische Vorstellungen und ein Prozess der Enttäuschung, der dadurch entsteht, dass diese idealistischen Vorstellungen nicht erfüllt werden (können). Die Überidentifikation mit den Klienten ist das entscheidende Kettenglied, das die Phasen der Enttäuschung miteinander verbindet (ENZMANN, 1989). Aronson, Pines und Karfy (1983) vertreten einen prozessorientierten, interindividuellen Ansatz. Sie verstehen Burnout als seelischen Zustand, der vor allem häufig bei Personen erscheint, die in Interaktion mit anderen Menschen arbeiten (interindividuell) und dabei gegenüber diesen anderen Menschen (z. B. Vorgesetzte, Klienten, Kollegen) eine „Geber“-Rolle einnehmen. Das Syndrom des Burnout wird dabei als eine Art der Erschöpfung verstanden, die durch das ständige „Geben“ zu chronischen emotionalen 123
Stress führt. Dabei sind nicht einzelne traumatische Erlebnisse ausschlaggebend. Vielmehr findet durch den chronischen emotionalen Stress ein Prozess der „schleichenden Auszehrung“ statt, der in Burnout mündet. Als Ursachen werden vor allem Überbelastung, Autonomiemangel und Mangel an Belohnung aufgeführt. (Litzcke&Schuh, 2007). Wobei sich z. B. Belohnungen nicht insbesondere auf Bezahlung bezieht, sondern mehr auf soziale Anerkennung von Leistungen. Mangelnde Autonomie wird vor allem dann erlebt, wenn häufig Vorschriften geändert werden oder organisatorische Umstellungen schlecht geplant oder zu kurzfristig durchgeführt werden (Litzcke & Schuh, 2007). Bei MASLACH findet sich eine Begriffsbestimmung für Burnout bestehend aus drei Komponenten. Burnout stellt für MASLACH (2001) ein Syndrom dar, aus:
1. Erschöpfung Erschöpfung beschreibt das Gefühl der „Auslaugung“ und das Verlorengehen der Regenerationsfähigkeit (LITZKE & SCHUH, 2007). Fühlen sich Personen erschöpft, fühlen sie sich zumeist auch emotional und physisch überbeansprucht. Es stellen sich auch Empfindungen ein wie „ausgelaugt sein“, „verbraucht sein“ oder unfähig zur Erholung zu sein. Man hat das Gefühl, wenn man morgens aufwacht, genauso müde zu sein wie am Abend bevor man zu Bett gegangen ist. Es fehlt auch an Energie, um arbeiten zu erledigen (MASLACH & LEITER, 2001). Nach MASLACH & LEITER (2001) ist Erschöpfung die erste Reaktion auf Stress, der durch Arbeitsanforderungen oder eine große Veränderungen entsteht.
2. Zynismus/Depersonalisierung Zynismus beschreibt eine gewisse gleichgültige, gefühlslose oder auch zynische Reaktionsweise bei sozialen Kontakten bzw. auch eine totale Kontaktvermeidung (LITZKE & SCHUH, 2007). Zynismus drückt sich in einer kalten, distanzierten Haltung der betroffenen Person gegenüber der Arbeit und den Menschen am Arbeitsplatz aus. Die Anteilnahme an der Arbeit wird auf ein Minimum reduziert und selbst Ideale werden aufgegeben. Durch Zynismus versuchen die Betroffenen sich vor Erschöpfung und Enttäuschung zu schützen. Es gebe ihnen das Gefühl „auf der sicheren Seite zu sein“, besonders dann, wenn die Zukunft ungewiss oder gleich von vornherein anzunehmen ist, dass sich etwas nicht so wie geplant entwickeln wird. Anstatt sich Hoffnungen zu machen, die dann enttäuscht werden, tritt 124
die zynische Haltung. Allerdings könne diese Haltung die Gesundheit und die Fähigkeit effizient zu arbeiten, beeinträchtigen MASLACH & LEITER (2001).
3. Ineffizienz Ineffizienz oder auch reduzierte Leistungsfähigkeit bezieht sich auf die Neigung, sich in der Arbeit nicht als kompetent und erfolgreich zu erleben (LITZKE & SCHUH, 2007). Menschen fühlen sich der Situation nicht mehr gewachsen, jede Tätigkeit scheint zu erdrücken. Das Vertrauen, etwas durch die eigenen Fähigkeiten verändern zu können, geht verloren. Durch den Verlust des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten geht oft auch das Vertrauen der Anderen in die betroffene Person verloren. Dies führe dazu, dass der Betroffene sich durch das fehlende positive Feedback nicht mehr als kompetent und erfolgreich erlebt MASLACH & LEITER (2001). Diese drei Komponenten stehen in Abfolge zueinander. Erschöpfung wird als das erste Kernsymptom angesehen. Als sekundäre Reaktion dient der Zynismus bzw. die Depersonalisation. Dies nimmt eine Art Schutz- und Abwehrfunktion ein, um eine Distanzierung zu den belastenden Erfahrungen zu erreichen. Hat sich die distanzierte Beziehung z. B. zur Arbeit erst einmal im Verhalten niedergeschlagen, sinkt auch die Chance für Erfolgserlebnisse bei der Arbeit. Die Folge: das dritte Kernsymptom, Ineffizienz. Ihre Arbeitszufriedenheit (AZ) und ihr Commitment sind sehr gering. Die Betroffenen benötigen dringend soziale Unterstützung. Hierbei kann die Familie eine wichtige Rolle übernehmen. Die Supervision ist eine gute Möglichkeit mit dieser Stresssituation fertig zu werden.
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4.9 Stressmanagement Es lassen sich vier grundlegende Stressbewältigungsstrategien unterscheiden:
Stressverursacher vermeiden Eine effektive Form der Stressbewältigung, die allerdings noch immer zu wenig genutzt wird, stellt die Vermeidung oder zumindest eine Verminderung der Häufigkeit des Kontakts mit diesen Stressoren dar. – Man setzt sich diesen Stressoren nicht mehr als notwendig aus! Hierzu gehört z. B. auch der Verzicht auf exzessiven Kaffeegenuss.
Kognitive Neubewertung Kognitive Verhaltenstherapien sind erfolgreich bei der Behandlung von Depressionen, Angststörungen und Stress. (ELLIS, 1972). Kognitive Stressbewältigung (das sog. Reframing) basieren auf einer veränderten Sicht auf den Stressor. Man versucht, „das Gute“ im Stressor zu sehen. Die stressauslösende Situation wird umgedeutet.
Erregung vermindern Ein Hauptmerkmal des Stresses stellt eine gewissen Unruhe dar. Das Gegenteil dieser Unruhe wurde von BENSON (1983) als Entspannungsreaktion (Relaxation) bezeichnet. Verschiedene Untersuchungen belegen die gesundheitsfördernde Wirkung dieser Techniken. Man befindet sich in einem Zustand, der unvereinbar mit der Stressreaktion im Sinne von SELYE ist.
Stressreaktionen ausdrücken Das Verbalisieren von Stressreaktionen ist ebenfalls eine wirksame Bewältigungsstrategie. Als effizient haben sich Bewegungsübungen und das Ausdrücken von Gefühlen gezeigt. Beides ist hilfreich, Traumata zu überwinden. Generell kann man sagen, dass richtig ausgeführte Bewegungsübungen helfen, das Wohlbefinden zu erhöhen und Stress zu vermindern (de VRIES, 1981).
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Kasten 4.5
Stressbewältigung Es wird eine Reihe von Möglichkeiten angeboten, mit Stress besser fertig zu werden. Die bekanntesten sind hierbei: • Autogenes Training • Meditation • Progressive Muskelentspannung nach JAKOBSON • Supervision • Erlernen sinnvoller Coping-Strategien • Sport • Pausen einlegen • Nicht zu viel auf einmal verändern • Nein-sagen lernen, Grenzen setzen Bei der Auswahl einer persönlichen Strategie kann man nur den Rat geben, verschiedene Strategien auszuprobieren, um die für sich beste Strategie zu erlernen und kontinuierlich zu betreiben. Die beste Strategie am Arbeitsplatz würde jedoch darin bestehen, das Konzept des P-E-Fit verstärkt einzusetzen und damit Stress zu verhüten.
Inadäquate Formen der Stressbewältigung Manchmal versuchen Menschen, den Stress ‚auf eigene Faust’ zu bewältigen. (Hierbei sind die Ergebnisse jedoch häufig negativ):
• Alkohol- und Drogenkonsum • Gewaltexzesse • Jähzorn • Vollständiger Rückzug aus dem sozialen Leben Die Folgen dieser inadäquaten Formen der Stressbewältigung sind mitunter schwerwiegender als die unmittelbare Wirkung der Stressoren. Diese Probleme treten besonders häufig bei den Personen auf, die unter dem sogenannten Posttraumatischen Stresssyndrom (Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)) leiden.
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4.10 Das Posttraumatische Stresssyndrom Das Posttraumatische Stresssyndrom (Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)) stellt eine besondere Reaktion des Organismus auf ein belastendes Ereignis dar. Anders als vielfach vermutet, ist die PTBS eine weitverbreitete Störung. Viele Patienten, die wegen eines physischen Traumas in einem Krankenhaus behandelt werden, leiden darüber hinaus auch an einer PTBS. Kasten 4.6
Hier einige Zahlen: Etwa 50 % der Patienten, die wegen eines physischen Traumas behandelt werden, leiden zusätzlich an einer PTBS. Die Lebenszeitprävalenz (die Wahrscheinlichkeit, dass man in seinem Leben an einer PTBS erkrankt) beträgt bei Personen, die einer traumatischen Situation ausgesetzt waren, 23,6 %. Bei etwa 80 % aller Vergewaltigungsopfer und bei Opfern mit lebensbedrohlichen Verletzungen treten PTBS-Symptome auf. Etwa 16 % des Personals von Feuerwehren unterliegen dem Risiko, im Laufe ihrer Berufsausübung eine PTBS zu erleiden. Die Dunkelziffer ist bei dieser Erkrankung weiterhin sehr hoch. Unerlässlich für die Entwicklung einer PTBS ist das Vorhandensein einer Ursache für traumatischen Stress. Die APA (American Psychological Association) beschreibt 1994 ein traumatisches Erlebnis als „… unmittelbares Erleben oder Zeuge sein von Tod oder lebensbedrohlichen Situationen oder schweren Verletzungen sowie das Erleben einer Bedrohung der eigenen körperlichen Unversehrtheit oder der körperlichen Unversehrtheit eines anderen Menschen.“ Weiterhin beschreibt die APA, dass die Reaktion des Einzelnen als „Furcht, Hilflosigkeit oder Grauen“ charakterisiert sein muss.
Folgende Faktoren sind für das Entstehen einer psychischen Traumatisierung relevant: • Schwere Körperverletzung, Entstellung, Verstümmelung oder Behinderung • Angst vor schwerer Körperverletzung, Entstellung, Verstümmelung oder Behinderung • Todesangst • Folter • Angst vor Folter 128
• Sexueller Übergriff • Angst vor sexuellem Übergriff • Miterleben des plötzlichen Todes einer Person • Sorge, in der Verantwortung versagt zu haben, mit der Folge von Personenschaden • Tod oder Verletzung von Kindern • Überzeugung ungerechtfertigt überlebt zu haben • Verletzung von Grundüberzeugungen • Krieg • Umwelt- oder ökologische Katastrophen (eine Auswahl der Faktoren)
4.11 Die Zunahme der Stressbelastung durch die Arbeitstätigkeit Es muss die Frage diskutiert werden, ob die Stressbelastung durch die Arbeitstätigkeit in den letzten Jahren zugenommen hat. Es gibt einige Anzeichen dafür, dass diese frage mit "Ja" beantwortet werden muss. Zwar gehen die körperlichen Belastungen durch die Arbeitstätigkeit stetig zurück, jedoch sind eine Vielzahl von Variablen zu definieren, die zeigen, dass dieser Effekt aufgehoben wird. An dieser Stelle seien einige Aspekte genannt, die die Hypothese der Zunahme des Stresses belegen können: Wie bereits ausgeführt wurde, stellt drohende oder tatsächliche Arbeitslosigkeit eine extreme Stressbelastung dar. Die Arbeitslosenquote ist in den meisten Industrienationen in den letzten Jahren angestiegen. Durch Produktivitätssteigerungen ist die Arbeitsdichte für viele Beschäftigte stark angestiegen. Es wird seitens der Unternehmen gehandelt nach der Devise: "Fordere das Unmögliche – dann wird mehr möglich". Spannungen zwischen den Gewinnern und Verlierern dieser Entwicklung führen zunehmend zu Problemen. Dies gilt sowohl zwischen Staaten, innerhalb von Staaten und auf der persönlichen Ebene.
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Global agierende Unternehmen fühlen sich nicht mehr verantwortlich für regionale oder lokale Probleme, wie sie z. B. durch die Verlagerung von Produktionsstätten entstehen. Die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Arbeitsformen führt auf lange Sicht zu einem Anstieg der Burnout-Erkrankungen. Folgen dieser Veränderungen zeichnen sich bereits heute ab oder sind in Kürze zu erwarten: Das Commitment der Mitarbeiter sinkt ständig. Dies geht einher mit einem Absinken der Lebenszufriedenheit. Infolge der hohen Arbeitsdichte kommt es vermehrt zu Erschöpfungszuständen, was sich wiederum in erhöhten Krankenständen niederschlägt. In den USA ist die durchschnittliche Lebensdauer bereits wieder gesunken. Das Brechen von Fairnessregeln durch das Management führt zu einer mangelnden Identifikation der Beschäftigten mit ihrem Unternehmen. Die Beschäftigten sind bestrebt, Kosten und Nutzen wieder in ein ausgewogenen Verhältnis zu bringen (Austausch-Theorien) (vergl. FEUERSTEIN, 2003).
4.12 Stressprävention als Aufgabe für Führungskräfte Stressprävention stellt eine wichtige Führungsaufgabe dar. Insbesondere durch ein angemessenes Führungsverhalten lassen sich bestimmte Aspekte der Stressbelastung minimieren.
• "Es muss verstärkt mit stumpfen Bleistift gerechnet werden" • Soziale Unterstützungen am Arbeitsplatz schaffen (Coaching, Personalberatungsstellen, Supervision). • Realistische Zielvereinbarungen treffen, das Erreichen der Ziele würdigen. • Die Eigenverantwortlichkeit fördern, Hierarchien abflachen. Daneben ist eine Reihe individueller Bewältigungsmöglichkeiten gegeben, die auch bereits in Kasten 4.3 dargestellt sind.
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5
Arbeitszufriedenheit, Arbeitsmotivation und Commitment
5.1 Arbeitszufriedenheit Neben den psychologischen Theorien zur Arbeitszufriedenheit, von denen einige kurz dargestellt werden sollen, gibt es noch eine Reihe von Laientheorien, die immer wieder diskutiert werden:
• Eine hohe Arbeitszufriedenheit führt dazu, dass das Personal zu satt ist und keine Leistung mehr erbringen will. • Nur zufriedene Mitarbeiter bringen auch gute Leistungen. Beweise zu diesen Thesen werden in der Regel nicht vorgebracht. Dies ist der entscheidende Unterschied zu den psychologischen Theorien: Die Autoren sind bestrebt, ihre Vorstellungen durch geeignete Untersuchungen in der Praxis zu untermauern. Aus diesem Grund wird im folgenden Kapitel ausschließlich auf die psychologischen Theorien zur Arbeitszufriedenheit eingegangen. Die ersten psychologischen Erkenntnisse zur Bedeutung der Arbeitszufriedenheit für den Arbeitsprozess stammen aus den 20er Jahren (Beginn der Untersuchungen 1924). MAYO et al. (1933) untersuchte den Zusammenhang zwischen der Beleuchtungsstärke und der Arbeitsleistung in den Hawthorne-Fabriken. Dabei kamen sie zu einem überraschenden Ergebnis: Die Arbeitsleistung verbesserte sich nicht nur bei einer Verbesserung der Beleuchtungsverhältnisse am Arbeitsplatz (was zu erwarten war), sondern auch, wenn sich die Beleuchtungsverhältnisse absolut verschlechterten. Dieses widersprüchliche Ergebnis wurde später damit erklärt, dass allein die intensive Beschäftigung mit den Belangen der Mitarbeiter dazu führte, dass diese mehr leisteten. Sie fühlten sich wohler (zufriedener) bei ihrer Arbeit, da sie den Eindruck hatten, dass andere sich dafür interessierten, d. h. sie hatten insgesamt ihre Einstellung zur Arbeit verändert. MAYO und seine Mitarbeiter entwickelten aus diesen Ergebnissen noch keine Theorie zur Arbeitszufriedenheit. Dies erfolgte erst sehr viel später. Der Effekt, den sie beobachteten, wird heute als HAWTHORNE-EFFEKT bezeichnet.
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5.1.1 Die ZWEI-FAKTOREN-THEORIE von HERZBERG (1959) Von HERZBERG et al. stammt die Idee, Motivatoren in zwei Gruppen zu unterteilen. HERZBERG geht davon aus, dass nur bestimmte Faktoren im Arbeitsleben motivierend wirksam sind und zur Arbeitszufriedenheit führen, während andere Faktoren lediglich einer Demotivierung und damit Arbeitsunzufriedenheit entgegenwirken.
Motivatoren • Anerkennung • Verantwortung • eigenes Vorwärtskommen • die Arbeit selbst • Leistungserfolg • Entfaltungsmöglichkeiten Hygiene-Faktoren • Gehalt • Kollegen • Möglichkeit zu interpersonellen Kontakten mit anderem Status • Führungstechniken • Firmenpolitik und -leitung • physische Arbeitsbedingungen • Arbeitsplatzsicherheit • Persönliches Diese Teilung bedeutet inhaltlich, dass die Anwesenheit von HygieneFaktoren lediglich Arbeitsunzufriedenheit verhindert, nichts aber zur Arbeitszufriedenheit oder -motivation beiträgt. Nur die Motivatoren sind in der Lage, die Arbeitszufriedenheit bzw. die Arbeitsmotivation zu steigern. Diese Untersuchung verdient insbesondere bei der aktuellen Diskussion im öffentlichen Dienst große Beachtung. Zufriedenheit wird nicht durch die äußeren Arbeitsumstände, sondern durch die Arbeitsinhalte sichergestellt. Der Sinngehalt der Arbeit ist sensu HERZBERG wichtiger, als z. B. ein kooperativer Führungsstil.
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Allerdings muss eingeräumt werden, dass die Theorie eine Reihe von Mängeln aufweist:
• Es lassen sich aus der Theorie keine konkreten Maßnahmen ableiten • Das Konzept der Zufriedenheit ist unzureichend operationalisiert • Die empirischen Grundlagen sind widersprüchlich und nicht eindeutig. Trotz dieser Mängel hat HERZBERG wie kein anderer zu weiteren Forschungen Anlass gegeben. (Außerdem ist zu diskutieren, ob es tatsächlich ein Mangel ist, wenn konkrete Maßnahmen in die individuelle Verantwortung der Vorgesetzten gelegt werden.) In SPIEGEL-ONLINE war am 19.11.2009 folgender Beitrag zu Belohnungen (Hygiene-Faktor) zu finden. Kasten 5.1 19. November 2009, 17:05 Uhr
Psychologie Wenn Geld als Belohnung versagt Wenn Lohn, Gehalt und Prämien nicht alles sind – was dann? Sind Anerkennung, Selbstwert und Selbstachtung etwa wichtiger? Der Cottbuser Philosoph Klaus Kornwachs entwirft in einem Essay eine Gesellschaft ohne den Gedanken einer finanziellen Belohnung. Die Volksseele kocht: Da wird eine Mitarbeiterin wegen eines Mundraubs von Bouletten rechtswirksam gekündigt, während der Bankmanager erfolgreich seinen Bonus aus genau dem Jahr einklagt, als er die Bank in den Sand gesetzt hat. Dies erscheint himmelschreiend ungerecht und zeigt, dass eine Diskussion über einen gerechten Lohn notwendig ist. Jedoch ist Gerechtigkeit in den meisten Fällen viel schwerer auszumachen als in diesem plakativ konstruierten Szenario, zumal die Einkommen aus Unternehmen und Vermögen dem Arbeitnehmerentgelt seit langem davonlaufen. Wofür wird man denn entlohnt, für die Bemühung oder für das Ergebnis einer Arbeit? Wofür, wenn Löhne, wie Statistiker herausgefunden haben, zuweilen von der Körpergröße abhängen? Die Arbeitsverhältnisse beginnen sich überwiegend in Richtung Werkvertrag zu bewegen: Das Ergebnis, nicht die Bemühung zählt. Oberflächlich gesehen spielt ein gewisser Ausgleichsgedanke eine Rolle, wenn man Lohn als Tausch für das Produkt aus Arbeitszeit und Arbeitsintensität ansieht. Dann kann wohl etwas mit den Managergehältern nicht stimmen – oder die Idee der Äquivalenz von Arbeitsleistung und Lohn gilt nur bei niedrigen 133
Löhnen. Denn eine einfache Rechnung zeigt, dass dann bei den gängigen Vergütungen und Berücksichtigung einer längeren Arbeitszeit die Arbeitsintensität eines Managers um das fast 200-fache höher liegen müsste als die eines normalen Arbeitnehmers. Hier haben wir es wohl eher mit einer Apanage für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe als mit Entlohnung zu tun. Nun kann man sich ja ernsthaft fragen, wofür man morgens aufsteht und weshalb man nicht einfach liegen bleibt. Es hat sich schon herumgesprochen: Den homo oeconomicus als Idealvorstellung gibt es nicht. Die auf rein monetäre Aspekte reduzierte ökonomische Rationalität ist, zumindest auf der Ebene des individuellen Handelns, eine hartnäckige Illusion. Wo bleibt das nur auf Geld fixierte Wirtschaftssubjekt, wenn Geld nicht mehr wichtig ist? Wo liegen die Grenzen des eigenen Vorteils? Ab wann kann sich dieses Wirtschaftssubjekt morgens im Spiegel nicht mehr anschauen? Kann man Moralität mit wirtschaftlichen Vorteilen verrechnen? Wie steht es um Altruismus, ohne den eine Gesellschaft nicht stabil bleiben kann? Es ist eine alltägliche gesellschaftliche und ökonomische Erfahrung: Ohne Vorleistung an Vertrauen und Kooperation geht nichts. Wie steht es mit den Affekten und Gefühlen, die unser Handeln ebenso mitbestimmen wie angeblich rationale Entscheidungsprozesse? Es geht also nicht nur um Geld und Lohn, sondern um Anreiz- und Belohnungssysteme, die in den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft im Laufe der Zeit entwickelt worden sind und die im großen Ganzen nicht so richtig zu funktionieren scheinen. Ein Belohnungssystem bringt die Antworten auf die Frage: "Wer wird durch wen mit was wofür belohnt?" in eine Beziehung zueinander. Diese Beziehungen scheinen verschoben: Man denke an die Konflikte zwischen den unterschiedlichen Welten der öffentlichen Verwaltung und des Unternehmertums, an unser aller Streben nach Anerkennung, das oftmals durch die Gier nach Aufmerksamkeit ersetzt wird, oder an die Ausrichtung der Wissenschaft auf ein Business mit Umsatzbeteiligung. Hier kommen sich unterschiedliche Belohnungssysteme, die in ihren jeweiligen eigenen Bereichen vielleicht ganz gut funktionieren, gegenseitig ins Gehege. Wenn Politik die Wissenschaft zu usurpieren versucht, diese ihre zum Teil dann falsch verstandenen Maßstäbe in die Medien transportiert, Bildung zur Ausbildung herunterökonomisiert wird, Wissenschaft von Klasse auf Masse getrimmt wird, und die Wirtschaft nur noch von rechtlichen Vorgaben und die Technikentwicklung allein von der Laune finanzieller Investoren abhängig werden – dann haben wir das Gefühl, dass da etwas falsch läuft. 134
Boni sind Geschwindigkeitsanzeiger der Krise Belohnungen sind etwas anderes als Lohn, sie gehen über die Pflicht und Schuldigkeit der Entlohnung hinaus. Es geht, im Gegensatz zum Lohn, nicht um einen Tausch für eine Leistung oder mit Arbeit verbrachte Zeit, sondern um etwas, worauf man eigentlich keinen Anspruch hat. Belohnung wird gewährt oder verweigert, und ihre Funktion ist nicht die Kompensation für Mühen, Aufwendungen oder Leistungen. Ihre Gewährung wie ihr Ausbleiben und noch stärker ihre Erwartung fördern bestimmte – zuweilen riskante – Verhaltensweisen. Deshalb sind Boni auch nicht mit Arbeitslohn zu verwechseln. Die Diskussion um die Boni in der Finanzwirtschaft hat zwar schlagartig die seltsamen und undurchsichtigen Usancen dieser Branche zum öffentlichen Thema gemacht. Die Boni sind aber nicht die Ursache der Krise, sondern lediglich ihr Geschwindigkeitsanzeiger. Die Gehälter und Boni der Manager und Banker eignen sich zwar zum wohlfeilen neidischen Diskurs, aber sie stellen als monetäre Seite unserer Belohnungssysteme lediglich die sichtbare Materie der wirtschaftlichen Welt dar. Die nichtmonetären Belohnungen, wie die Erfüllung von Affekten, Selbstachtung oder Anerkennung, wären dann gleichsam wie die dunkle, nicht sichtbare Materie, eine noch nicht fassbare Größe im "Kosmos" der Wirtschaft. So wie man in der Physik mit dieser dunklen Materie noch nicht rechnen kann, haben die Wirtschaftswissenschaftler analog dazu mit der "dunklen Materie" der nichtmonetären Belohnungen bisher ebenfalls nicht gerechnet. Diese Art von Belohnung hat offensichtlich eine massive, steuernde Wirkung, die beobachtbar sein müsste. Wer belohnen kann, hat massiven Einfluss auf den Empfänger der Belohnung. Wenn aber Lohn, Gehalt und Prämien nicht alles sind – was dann? Ein kleiner Ausflug in die Psychologie der Belohnung lehrt, dass das Ich und seine Weisen der Belohnung anders strukturiert sind als die Idee des geldlichen Ausgleichs – Anerkennung, Selbstwert und Selbstachtung schlagen Geldangebote um Längen. Solche Belohnungen sind affektbeladen – das wusste schon Spinoza in seiner Ethik und benannte bereits 48 solcher Affekte.
Rache, Genuss und Schönheit Sind die Anreize falsch, läuft das Verhalten der Menschen in falsche Richtungen. Belohnungen wie Macht, Unabhängigkeit, Erkenntnis, Anerkennung, Ehre, Status usw. erhalten wir durch andere. Wir belohnen uns aber auch selbst: Dazu gehören Rache und viele andere Arten von Selbstgefühlen bis hin zum Genuss von Schönheit. Man stellt fest, dass sich beide 135
Belohnungsarten im konkreten Fall meistens überlagern. Mit der Erfüllung unserer Affekte belohnen wir uns selbst, Kooperation, Altruismus, Vertrauensvorschuss erweisen sich dabei nicht nur als gesellschaftlich stabilisierende Verhaltensweisen, sondern die so Handelnden belohnen sich dafür mit einem guten Selbstwert- und Sinngefühl. Nun leben wir nicht abstrakt, sondern in gesellschaftlich ausdifferenzierten Teilbereichen. Subsysteme wie Wirtschaft Politik, Recht, Wissenschaft, oder Technik haben jeweils ihre eigenen Belohnungssysteme entwickelt. Dies ist in empfindlicher Weise davon abhängig, welche Ziele ein solches Subsystem gesellschaftlich verfolgt und welche Werte und Maßstäbe für das Handeln und Bewerten beim Umgang miteinander darin vorherrschen. Man kann dies sehr allgemein einen Code nennen, den eine Gruppe hat. Zwei solche Subsysteme seien herausgegriffen. In der Wirtschaft könnte man knapp gefasst den in ihr herrschenden Code mit der Vorstellung von einem ökonomischen Gleichgewicht und der Maximierung der Verfügbarkeit knapper Leistungen und Güter durch die Leitidee der Rationalität des Menschen umreißen. Dieser Code führte in der gegenwärtigen Finanzkrise dazu, dass das System nicht erst die Herstellung und Stärkung von Gewinnbedingungen wirtschaftlichen Handelns belohnt, sondern bereits die halbwegs glaubwürdige Erzeugung von Gewinnerwartungen. Die Falschjustierung in diesem Subsystem liegt sowohl bei den Kriterien, für deren Erfüllung man belohnt wird, als auch in der Belohnung selbst. Problematisch wird dies dann, wenn es zum alleinigen Ziel von Individuen oder Gruppen wird, möglichst viele Belohnungen zu kassieren. Denn das bedeutet, dass schleichend aus gewohnten Belohnungen Entlohnungen ohne Bindung an den Belohnungssachverhalt werden.
Angeben mit High-Tech Im Subsystem der Technik finden wir als zentrales, aber knappes Gut die technischen Funktionalitäten und deren erfolgreiche Verwendung auf einem Markt, also Innovationen, das heißt aus Inventionen durch entsprechende Forschung und Entwicklung funktionierende verkaufbare Produkte und Verfahren zu gewinnen. Primärer Code dieses Subsystems ist die Effektivität und Funktionalität: Nur was wir bauen können, haben wir auch verstanden – davon sind die meisten Techniker und Konstrukteure überzeugt. Man sollte meinen, dass die durchsetzbare Invention und der zugrundeliegende Funktionserfolg belohnt werden. Das Problem liegt darin, was als Innovation und was als Funktionserfolg gelten soll. Neben dem Traum des Ingenieurs von einem genialen Produkt, weswegen er sich mit Stolz selbst belohnen könnte, steht die Handlungsweise des Investors, und dieser be136
lohnt eben nicht für technische Funktionalitäten, sondern ist an deren verwertbarerer Nützlichkeit in Form der Rendite seines Einsatzes interessiert. Technik für Gebrauchsgüter (beispielsweise für Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik) wird daher konsequenterweise für die Zielgruppe mit der größten Kaufkraft entwickelt. Das dabei zu beobachtende Overengineering findet sich analog in der Komplexität von neuen Finanzprodukten: Die Anerkennung hierfür kommt nicht vom Kunden, sondern vom Kollegen oder den anderen Banken, die in das Produkt investieren. Unterschiedliche Anerkennungs- und Belohnungssysteme haben mit unterschiedlichen Wertorientierungen zu tun. Werte spiegeln letztlich Menschenbilder wider. Welche Menschenbilder haben beispielsweise unsere Gestalter von Technik und Organisation? Neben der üblichen technikzentrierten Sicht des Menschen als unzuverlässigen Teilsystems scheint mit der modernen Technik ein naturalisiertes Menschenbild entstanden zu sein: der Mensch als evolutionär minderbemitteltes Wesen, das der Prothese bedarf – und diese soll dankbar angenommen werden.
Was treibt mich an? Versuchen wir den Gedanken ernst zu nehmen, dass man an den Belohnungssystemen etwas neu justieren könnte. Das beginnt am besten mit der Selbstbeobachtung und dem Abschied von der lieb gewonnenen Vorstellung, Belohnungen hätten etwas mit Kompensation oder Tausch zu tun. Wofür glaube ich, belohnt zu werden? Was treibt mich an? Was lässt mich Entscheidungen in die eine und nicht in die andere Richtung treffen? Nachdem man sein eigenes Belohnungssystem analysiert hat, könnte man in einem weiteren Schritt versuchen, die Belohnungssysteme der anderen zu verstehen, und sich klarmachen, wofür der andere mit was von wem belohnt wird. Dazu gehört allerdings eine gewisse Transparenz der Verhältnisse. Erst dann kann man gegenseitige "Übersetzungen" herstellen und die Motivationen für Handlungen vielleicht besser verstehen. Bei wirtschaftlichen und technischen Belohnungssystemen hilft zweierlei: das bewusste Kauf- und Nutzungsverhalten und die öffentliche Diskussion. Beides muss zusammengehen. Es ist sinnlos, lediglich Kaufboykotte zu veranstalten. Es ist sinnlos, bloß über hohe Boni, überkandidelte Technik und unfähige Politiker zu schimpfen. Sinkende Absatzzahlen und das öffentliche Gelächter wären zwar wirkungsvoll, sind aber selten. Erhöhte Nachfrage nach dem wirklich Gebrauchten, mehr Lob und Anerkennung in der öffentlichen Diskussion könnte nach allem, was wir über Belohnungssysteme in diesem Bereich nun herausgefunden haben, weitaus mehr bewirken. Es geht also nicht so sehr darum, dem Falschen die Belohnung zu 137
entziehen, sondern vielmehr darum, wünschenswerte Entwicklungen durch Belohnung voranzutreiben. Man wird nie ganz verhindern können, dass sich die Subsysteme gegenseitig in die Quere kommen. Wir müssten deshalb die Zeithorizonte unserer Belohnungssysteme zu verlängern versuchen. Damit verringert man deren gegenseitigen Konfliktmöglichkeiten, und jene haben eher die Chance, vernünftig zu konvergieren, als sich gegenseitig zu usurpieren.
Boni auf Treuhandkonten Wenn man zum Beispiel fordert, dass Boni an Führungskräfte nur noch bei nachgewiesenem nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens gezahlt werden sollen, dann ist es eben eine Frage, in welchem Zeithorizont man denn diesen wirtschaftlichen Erfolg als Belohnungssachverhalt feststellt. Die Finanzkrise ist eine Konsequenz auch dessen, dass die Bestimmung dieses Zeithorizonts in der Finanzwirtschaft in großem Stil falsch gehandhabt wurde. Man könnte aber auch im Zeithorizont der Leistungen selbst, die zur Belohnung ins Auge gefasst werden, an Verlängerungen denken. So könnte man die Legislaturperiode verlängern und generell nur eine zweimalige Amtszeit zulassen. Das brächte unter anderem den Vorteil mit sich, dass sich die Fluktuation erhöht und damit der Wissenstransfer in die Politik verbessert wird. Man könnte auch Boni auf Treuhandkonten überweisen und sie erst nach gewissen Zeiten freigeben. Das würde beispielsweise die Transparenz fördern. Wie man bei der Gestaltung solcher Zeithorizonte jedenfalls nicht vorgehen sollte, dafür gibt es ein anschauliches Beispiel. Belohnt man einen Marathonläufer dafür, dass er nach dem ersten Kilometer in Führung liegt, läuft er viel zu schnell los und teilt seine Kräfte falsch ein. Er übernimmt sich und wird sein eigentliches Ziel nach 42 km nicht mehr erreichen. Nennen wir es das Marathon-Prinzip: Wer erfolgreicher Langstreckenläufer sein will, sollte nicht wie ein Kurzstreckenläufer loslaufen. Mit dieser Einsicht könnte sich die eine oder andere Schieflage beheben lassen, unter denen unsere Belohnungssysteme leiden. URL: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,661742,00.html
138
5.1.2 Die Hierarchie der Bedürfnisse nach MASLOW (1943) MASLOW differenziert verschiedene Bedürfnisse des Menschen in einer Bedürfnishierarchie. Dabei geht er davon aus, dass übergeordnete Bedürfnisse (Wachstumsmotive) erst dann relevant werden können, wenn die untergeordneten Bedürfnisse/Motive erfüllt sind. Er postuliert folgende Hierarchie der Bedürfnisse: Bedürfnis nach Selbstverwirklichung
Wachstums-Motive Ich-Bedürfnisse Soziale Bedürfnisse Sicherheitsbedürfnisse Fundamentale Bedürfnisse Defizit-Motive
Diese Hierarchie der Bedürfnisse ließ sich in der Realität nicht nachweisen. Der Grund hierfür ist in erster Linie darin zu sehen, dass sich Fragestellungen, z. B. in Fragebögen nur in den seltensten Fällen eindeutig einer Stufe der Hierarchie zuordnen ließen. Auf der anderen Seite liegen Untersuchungen vor, die zeigen, dass in erster Linie Fragebogenitems, die die Selbstverwirklichung thematisieren, für die Arbeitsmotivation bzw. die Arbeitszufriedenheit von herausragender Bedeutung sind (SCHÄFER 1986). Dieses Resultat ist umso deutlicher, je besser Defizit-Motive gleichsam erfüllt sind.
5.1.3 Die Gleichheits-Theorie (Equity-Theory) von ADAMS (1965) Der Grundgedanke der Gleichheits-Theorie (sie geht zurück auf THIBBAUT und KELLEY 1965) lautet folgendermaßen: Jede Person ist darauf bedacht, in einer sozialen Beziehung für ihren "Einsatz" eine faire "Gegenleistung" zu bekommen. Es wird ein "sozialer Vergleich" vorgenommen: jede Person erwartet, im Vergleich mit anderen gerecht (fair, gleich) behandelt zu werden. 139
Erlebt eine Person ständig eine Ungleichheit am Arbeitsplatz (ich setzte mehr ein, als ich zurückbekomme), führt diese im Sinne FESTINGERs (1957) zu einer Kognitiven Dissonanz, die aufgelöst werden muss. Hierfür stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung:
• man verändert seine Inputs (arbeitet mehr oder weniger); • man verändert seine Einstellung zur Bedeutung des Entgelts und zieht Befriedigung aus der Tätigkeit selbst, d. h. man vermindert nicht seine Leistung; • man verzerrt den Wert seines Einsatzes ("mein Einsatz ist gar nicht so hoch"); • man wählt einen anderen Vergleichsmaßstab oder Vergleichsperson. Bei dieser Theorie handelt es sich um eine kognitive Theorie, bei der Bewertungen von Situationen eine herausragende Rolle spielen. Kasten 5.2
Kognitive Dissonanz Man spricht von einer kognitiven Dissonanz, wenn man sich nicht gemäß seiner Einstellung verhalten kann. Während normalerweise die drei Dimensionen einer Einstellung in Einklang stehen, • Verhaltensdimension • affektive Dimension • kognitive Dimension trifft dies im Falle einer kognitiven Dissonanz nicht zu. Die Verhaltensdimension stimmt nicht mit den übrigen Dimensionen überein. Dieser Zustand scheint für Menschen nur eine begrenzte Zeit erträglich zu sein und verlangt nach Auflösung, das heißt, Einstellung und Verhalten müssen sich wieder annähern. Der Zustand der kognitiven Dissonanz wird damit wieder aufgelöst, Verhalten und Einstellung stimmen überein.
Weitere Aspekte von Einstellungen Eine Einstellung ist eine Wahrnehmungs- oder Verhaltenstendenz zu einem besonderen Objekt oder einer Klasse von Objekten. Auch die hier besprochene Arbeitszufriedenheit hat demzufolge den Charakter einer Einstellung.
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Sozialpsychologische Bedeutung der Einstellung In der Sozialpsychologie/Psychologie der Gruppe spielen Einstellungen insbesondere im Rahmen der Vorurteilsforschung eine wichtige Rolle. Eine wichtige Variante der Einstellung gegenüber anderen Gruppen oder gegenüber Mitgliedern anderer Gruppen ist das Vorurteil.
Das Vorurteil ist ein vorgefasstes, meist negatives (manchmal auch positives) Urteil über Menschen oder Gruppen (aber auch gegenüber Tieren und Sachen), stimmt selten mit der Wirklichkeit überein, ist stark mit Gefühlen verbunden und nur schwer durch Informationen veränderbar.
Funktion des Vorurteils Feindbilder gegenüber der outgroup, die durch Vorurteile aufgebaut werden, stärken die Identifikation von Personen mit ihrer ingroup und erhöhen damit den Zusammenhalt (Kohäsion) und die Funktionstüchtigkeit der ingroup (vgl. Untersuchung von SHERIF). Mit dem Vorurteil eng verbunden sind die Begriffe Stereotyp und Diskriminierung.
Stereotypisierung Gruppen werden i. d. R. bestimmte Eigenschaften zugeschrieben: Franzosen = Feinschmecker, Brillenträger = gute Bildung, Beamte = faul • Besitzt jemand ein Merkmal, das ihn als Mitglied einer bestimmten Gruppe identifiziert, so werden ihm automatisch weitere Eigenschaften zugeschrieben, ohne dass Informationen vorliegen, die dies rechtfertigen würden (wenn jemand x ist, dann ist er auch y).
Diskriminierung Diskriminierung nennt man das Verhalten, dass aus negativen Vorurteilen entsteht. Bei den Überlegungen zur Arbeitszufriedenheit ist zu beachten, dass die Arbeitszufriedenheit oftmals von Faktoren abhängt, die wiederum u. a. von der jeweiligen wirtschaftlichen Situation abhängen. Hierzu einige Beispiele: Zu Zeiten geringer Arbeitslosigkeit spielt der Faktor "Geld" eine vielfach größere Rolle als zu Zeiten hoher Arbeitslosigkeit. Insgesamt sollte man jedoch den Faktor "Geld" nicht überbewerten. Auch ist es nicht richtig, dass Jugendlichen immer wieder erklärt wird, irgendeine Berufsausbildung sei besser als keine: Bei den Jugendlichen, die nicht ihren Wunschberuf er141
lernten, ist die Arbeitszufriedenheit sehr viel geringer als bei den anderen. Auch brechen diese Jugendlichen sehr viel häufiger ihre Ausbildung ab. Sie erleben gleichsam einen Fehlstart ins Arbeitsleben. Den wichtigsten Beitrag zur Arbeitszufriedenheit liefert aber der Faktor "Selbstverwirklichung" in der Bedürfnishierarchie von MASLOW (vgl. Kap. 5.1.2) (SCHÄFER 1986). Eine wesentliche Erweiterung des Konzeptes der Arbeitszufriedenheit stellt das sog. Commitment dar. Commitment zeigt hohe Zusammenhänge zu Arbeitszufriedenheit, insb. die sog. Affektive Dimension des Commitments.
5.2 Arbeitsmotivation Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit sind untrennbar miteinander verbunden. Maßnahmen, die die Arbeitsmotivation steigern, steigern in der Regel auch die Arbeitszufriedenheit. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Erkenntnissen, die insbesondere die Arbeitsmotivation betreffen. Bei der Schilderung dieser Ergebnisse werden insbesondere die Aspekte angesprochen, die über eine hohe praktische Relevanz verfügen.
5.2.1 Überlegungen zur Motivation Extrinsische vs intrinsische Motivation In der Psychologie hat sich die Unterscheidung hinsichtlich extrinsisch motivierten Personen und intrinsisch motivierten Personen seit langer Zeit bewährt (GRAUMANN, 1977).
Extrinsisch
Intrinsisch
Prestige
Selbstwertgefühl
Sicherheit
Verantwortungsübernahme
Gehalt Aufstieg
Möglichkeit zur eigenen Entwicklung
Anerkennung
Gefühl der Selbstverwirklichung
Autorität Gelegenheit zur Gewinnung von Freunden
Eigenständiges Handeln wird ermöglicht
142
Im Laufe von Einstellungsgesprächen wird auf die jeweilige Motivationslage der Bewerber eingegangen. Es wird erwartet, dass die intrinsische Motivation für eine Tätigkeit überwiegt.
Motivation aufgrund der Aufgabenschwierigkeit Die pädagogische Psychologie kennt schon lange das Phänomen, dass Personen bei der Wahl der Aufgabenschwierigkeit der von ihnen zu bearbeitenden Aufgaben, systematisch sehr einfache Aufgaben, mittelschwere Aufgaben oder sehr schwierige Aufgaben auswählen. Hierbei ist festzustellen, dass Personen, die eher sehr einfache oder sehr schwierige Aufgaben auswählen eher durch Furcht vor Misserfolg (Misserfolgsmotivierte) motiviert sind, während Personen, die mittelschwere Aufgaben auswählen durch die Hoffnung auf Erfolg (Erfolgsmotivierte) motiviert sind (McClelland et al, 1953). Hierbei muss man sich vor Augen halten, dass die Erfolgserlebnisse bei mittelschweren Aufgaben, d. h. bei Aufgaben, die von einer Person gerade noch gelöst werden können, am größten sind. Wählt man hingegen sehr einfache Aufgaben, stellt sich keine Befriedigung beim Lösen ein ("das schafft ja jeder"); bei der Wahl sehr schwieriger Aufgaben wird das Lösen der Aufgabe sehr unwahrscheinlich ("das schafft ja keiner"). In beiden Fällen findet keine Motivierung statt. Aus diesem Grund stellt ein gut geführtes Mitarbeitergespräch ein sehr gutes Mittel zur Motivierung dar. In der Zielvereinbarung sollen solche Ziele vereinbart werden, die von den Mitarbeitern erreicht werden können – aber nur mit Anstrengung. Wenn zudem während des Mitarbeitergesprächs deutlich gemacht wird, welche Bewertungsmaßstäbe in der Organisation gelten und welche Belohnungen für erbrachte Leistungen vorgesehen sind und wie diese bewertet werden, wird die Motivation weiter gesteigert.
143
Kasten 5.3
Motivierungsmöglichkeiten im Überblick • Die genaue Beschreibung dessen, was Inhalt einer zu bearbeitenden Auf-
gabe ist. Dies gilt sowohl für quantitative, als auch qualitative Tätigkeiten. Unklarheiten können zur Demotivierung führen. • Die genaue Definition von Arbeitszielen, die in einem realistischen Maß über den bisherigen Leistungsstand hinausgehen. Dabei muss das Ziel erreichbar bleiben. Die Wichtigkeit der Zielerreichung für die Organisation muss den Mitarbeitern deutlich gemacht werden. • Das Mitarbeitergespräch – um festzustellen, wie die Mitarbeiter die Arbeitssituation erleben, bewerten und wie sie die Organisation wahrnehmen. • Die Führungskräfte müssen Kenntnis der Bewertungen für angebotene Belohnungen für erbrachte Leistungen durch die Mitarbeiter haben. (Vergl. FEUERSTEIN, 2003) In SPIEGEL-ONLINE war am 08.06.2008 folgender Beitrag zur Mitarbeitermotivation zu finden. Kasten 5.4 09. Juni 2008, 10:34 Uhr
MITARBEITER-MOTIVATION Flexible Arbeitszeit ist wichtiger als Blackberrys
Dienstwagen, Sparbonus, Firmenhandy – für viele Arbeitnehmer Nebensache. Deutlich wichtiger ist ihnen die Chance, Arbeit und Privatleben sinnvoll zu vereinbaren. Eine neue Studie zeigt: Weiche Faktoren machen eine Firma attraktiver als geldwerte Benefits. Attraktives Gehalt, dazu ein schicker Firmenwagen sowie weitere Zusatzleistungen, die sich zu einem hübschen Sümmchen addieren: Ziehen Unternehmen die Spendierhosen an, können sie sich vor Bewerbern kaum retten. Davon scheinen zumindest die meisten Arbeitgeber überzeugt. Ihre Mitarbeiter und potenziellen Bewerber sehen das freilich anders, wie eine neue Studie dokumentiert. Statt auf fette Kohle sind sie auf bessere Entwicklungschancen aus und wollen unbedingt das immer anstrengender werdende Berufsleben mit ihren privaten Interessen in Einklang bringen.
144
DPA Prima Klima: Arbeitnehmer finden flexible Zeiten oft wichtiger als monetäre Benefits Im Frühjahr befragte die internationale Beratung Watson Wyatt Heissmann in Kooperation mit der Personalmarketingagentur Fiebes in Company rund 8500 Mitarbeiter deutscher Unternehmen, welche Zusatzleistungen oder sogenannte Benefits sie neben ihrem regulären Gehalt am attraktivsten finden. Überraschendes Ergebnis: Geldwerte Benefits, vom Vorsorgesparen über das Versicherungspaket bis zum Firmenwagen und dem Blackberry auf Firmenkosten, fallen in der Gunst der Beschäftigten weit zurück. Klar vorn rangiert hingegen der Wunsch, sich die Arbeit flexibler einzuteilen, sich weiterzuentwickeln und mehr Zeit zu haben für Freizeit und Familie. In der Umfrage sollten die befragten Personen, die quer über alle soziografischen Merkmale und Branchen hinweg ausgewählt wurden, eine Vielzahl von Benefits danach beurteilen, ob sie aus ihrer Sicht "uninteressant", "wenig attraktiv" oder "attraktiv" sind. Bei der Auswertung wurden dann vor allem jene Benefits gewichtet, die als "sehr attraktiv" angekreuzt worden waren.
Arbeitgeber punkten mit Wertschätzung statt Firmenwagen "Die Ergebnisse bestätigen unsere Vermutung, dass viele Firmen noch nicht gerüstet sind für den Krieg um Talente", sagt Agentur-Geschäftsführerin Heike Fiebes. "Denn ihre Gehaltspakete sind unverändert an monetären Benefits ausgerichtet, während Mitarbeiter und Bewerber sich aber eher die weichen Leistungen wünschen." Ein zweifellos spannendes Resultat, reicht doch das Einkommen angesichts hoher Energiepreise und steigender Lebenshaltungskosten bei vielen hinten und vorn nicht mehr aus. Zugleich ein klares Signal: Wollen Firmen attraktiv für Bewerber bleiben, müssen sie ihre Gehaltspakete wohl oder übel aufschnüren und ihre Überzeugung, wie sie am besten mit ihren Mitarbeitern umgehen, ernsthaft überdenken. Zu dieser Kehrtwende veranlassen die Ergebnisse mit Nachdruck: Unter den favorisierten Benefits rangiert mit dem Firmenwagen erst an sechster Stelle eine geldwerte Zusatzleistung, die 39 Prozent der Befragten als "attraktiv" einstuften. Ein Mobiltelefon auf Firmenkosten lobt nur jeder vierte, einen Blackberry lediglich jeder zehnte Studienteilnehmer.
Rackern, bis der Arzt kommt? Was einst als Zugnummer galt bei der Wahl des Arbeitsplatzes, steht heute eindeutig im Schatten der weichen Faktoren. Denn ein noch so attraktives Gehalt schützt nicht vor Frust und Burnout, wenn geschuftet wird, bis der Arzt kommt, weil Firmen ihre Talente verheizen wie billige Ressourcen. Die 145
Botschaft der Mitarbeiter und Bewerber an die Unternehmen könnte eindringlicher nicht sein: "Ich stelle lediglich dann meine gefragte Arbeitskraft zur Verfügung, wenn ich höhere Wertschätzung erfahre und wenn auf meine Bedürfnisse deutlich mehr Rücksicht genommen wird." Dieses Selbstbewusstsein lässt sich der Studie eindeutig entnehmen. Vergütungsbestandteile rangieren klar hinter Arbeitsbedingungen, in denen sich Mitarbeiter wohlfühlen und wo sie sich auch verstärkt einbringen wollen: Nummer eins der favorisierten Benefits ist die flexible Arbeitszeit, die immerhin von mehr als 75 Prozent der Studienteilnehmer als "attraktiv" eingestuft wurde. Dicht darauf folgt die Chance, auch von zu Hause aus arbeiten zu können – dafür sprach sich fast die Hälfte der Befragten aus. Platz drei bis fünf belegen eine fundierte Karriereplanung, regelmäßige Mitarbeitergespräche als Voraussetzung, um sich persönlich weiterzuentwickeln, sowie konkrete Weiterbildungsangebote, ohne die man einfach nicht mehr Schritt halten kann.
Weiterbildung und Karriereplanung lässt zu wünschen übrig Interessant ist, in welchem Umfang die von Mitarbeitern favorisierten Leistungen von ihren Arbeitgebern tatsächlich erbracht werden. Während für 73 Prozent derjenigen, die flexible Arbeitszeit oder Gleitzeit hoch ansehen, der Wunsch bereits Wirklichkeit ist, schauen etwa 60 Prozent von jenen, die sich für bessere Weiterbildungsangebote stark machen, in die Röhre. Noch eklatanter ist es für die Gruppe, die eine professionelle Karriereplanung "attraktiv" einstuft: Nur jeder fünfte Arbeitgeber hat dies bereits eingeführt. Die Zeit des Lamentierens ist wohl endgültig vorbei. Als Arbeitgeber müssen Firmen gegenüber Bewerbern Farbe bekennen. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels werden Personaler auf Kandidaten treffen, die selbstbewusst auftreten und Rahmenbedingungen kritisch in den Blick nehmen. Danach gefragt, ob sie mit den vom Arbeitgeber gewährten Benefits einverstanden sind, äußerte fast jeder zweite Studienteilnehmer eher Kritik. Lediglich sechs Prozent konnten sich zu einem klaren "Ja" durchringen. Die Frage, ob Benefits bei der nächsten Bewerbung den Ausschlag geben würden, bejahten knapp 90 Prozent. "Um High Potentials zu gewinnen und an sich zu binden, zahlen sich Benefits klar aus", resümiert Heike Fiebes. "Es müssen aber die richtigen sein." Von Winfried Gertz, Monster.de URL: http://www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/0,1518,558159,00.html 146
5.3 Commitment 5.3.1 Das Modell von DUNHAM et al. (1994) In der US-amerikanischen Forschung spielt das sog. "organizational commitment" – etwa sich der Organisation (Organisation im Sinne von Gesamtunternehmen) verpflichtet fühlen oder sich an die Organisation gebunden fühlen) – eine herausragende Rolle. So kann man mittlerweile davon ausgehen, dass z. B. deutsche Untersuchungen zur Arbeitsmotivation, zur Arbeitszufriedenheit usw. lediglich Facetten des organizational commitments sind. Gemäß einer Untersuchung von DUNHAM et al. (1994) liegt dem organizational commitment (oc) folgende Faktorenstruktur zugrunde:
• Affektiver Faktor (Gefühle und Gedanken zur Organisation) • Normativer Faktor (Gedanken, die sich mit der Verpflichtung für die Organisation zur Verfügung zu stehen, Loyalität zur Organisation usw. beschäftigen.) • Kontinuitäts-Faktor − Mangel an Alternativen − Bereitschaft ein persönliches Opfer zu bringen Geht man von der Prämisse aus, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Organisationen ihre Aufgaben zur allgemeinen Zufriedenheit erfüllen sollen, d. h. zur Zufriedenheit des Arbeitgebers, der Kunden und ihrer eigenen Zufriedenheit, lohnt es sich, die einzelnen Faktoren des organizational commitments (oc) im Sinne von DUNHAM et al. näher zu beleuchten. Folgenden Fragen ist hierbei nachzugehen:
• Wie lässt sich das oc messen? • Wie stark sind die einzelnen Faktoren beim Personal ausgeprägt? • Wo bestehen Defizite, die abzubauen sind? Um es nochmals deutlich zu machen: Es geht nun um die Einstellungen (insb. die Gefühlskomponente), die die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gegenüber ihrem Arbeitgeber haben, bevor, während und nach organisatorischen Veränderungen. Neben betriebswirtschaftlichen Verbesserungen der Organisation sollte zumindest angestrebt werden, dass sich das Personal "danach auch wohl fühlt". Ein
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Hinweis, wie dies zu erreichen ist, gibt ein näherer Blick auf die Faktorenstruktur des oc:
Affektiver Faktor Hierzu gehören folgende Gedanken, Einstellungen und Gefühle gegenüber der Organisation: • wahrgenommene Arbeitscharakteristika • Vielseitigkeit der Tätigkeit • wahrgenommene Autonomie der Tätigkeit • wahrgenommene Identität der Arbeit • Feedback seitens des Vorgesetzten • Möglichkeiten der Einflussnahme • am Gesamtgeschehen beteiligt und nicht nur "ein Rädchen im Getriebe" sein Dieser Faktor entspricht tatsächlich am ehesten Einflussgrößen auf Arbeitszufriedenheit und -motivation. Viele Maßnahmen, die z. Z. diskutiert werden (vgl. oben), beschäftigen sich mit diesem Faktor.
Normativer Faktor In diesem Faktor werden insbesondere folgende Gedanken und Gefühle repräsentiert: • Art der Beziehungen zur Institution • Größe der Abhängigkeit von der Institution • Ausmaß der Selbst- vs Fremdbestimmtheit • Einstellungen, wie: man wechselt nicht einfach seinen Arbeitgeber Kontinuitäts-Faktor Hier werden folgende Variablen thematisiert: • Alter der Mitarbeiter/innen • Dauer der Zugehörigkeit zur Organisation • Zufriedenheit mit der bisherigen Karriere • Intention, die Organisation zu verlassen • Größe der Investitionen, die nicht in eine andere Organisation mitgenommen werden können, wie: − soziale Kontakte zu anderen Mitarbeitern/-innen − Zusatzversorgung durch Unternehmen − Karriereinvestitionen (spezifische Aus- oder Fortbildungen) 148
Gerade diese Variablen erscheinen in der Diskussion schnell unterschätzt zu werden: So wird häufig die bloße Tatsache, dass niemand entlassen werden soll, bereits als hervorragende Leistung von den Arbeitgebern gefeiert. Es wird dabei leicht übersehen, dass u. U. lediglich der Mangel an Alternativen (unabhängig von den Gründen des Mangels) für ein Verbleiben in der Organisation verantwortlich ist. Ob die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen jedoch mit diesen Gedanken und Gefühlen den neuen Herausforderungen gewachsen sind, sei dahingestellt. Aus dem bisher Gesagten scheint deutlich zu werden, dass in der jetzigen Situation, in der Umstrukturierungen durchgeführt werden, nicht alle Veränderungen für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen berücksichtigt werden, die notwendig wären, damit die Arbeitszufriedenheit, -motivation und damit auch das Commitment erhalten bzw. sogar gesteigert wird.
5.3.2 Möglichkeiten der stärkeren Berücksichtigung des Commitments in Organisationen Es wurde deutlich, dass z. Z. nur ein Faktor (der Affektive Faktor), der für das oc, in die Überlegungen einbezogen wurde. Bei allen Umstrukturierungsmaßnahmen sollte jedoch auch versucht werden, die anderen Faktoren verstärkt zu berücksichtigen. Hierzu wäre zunächst festzustellen, was die Betroffenen wirklich denken und welche Einstellungen sie zu diskutierten Maßnahmen haben. Dies erfolgt in der Regel durch Befragung der betroffenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Aus dem Ergebnis der Befragung sind dann geeignete Schritte abzuleiten, damit das oc erhalten bzw. verstärkt wird. In der letzten Zeit wurden auch in Deutschland Untersuchungen zum Commitment durchgeführt. SCHÄFER (2000) verwendete hierzu eine Übersetzung des Organizational Commitment Questionnaire von ALLEN und MEYER (1990). Das Instrument wurde den deutschen Verhältnissen angepasst und ergänzt. Die Befunde wurden ausgewertet und führten zu intensiven Personalentwicklungsmaßnahmen in dem betreffenden Unternehmen.
149
Kasten 5.5
Die Erforschung der Arbeitszufriedenheit und des Commitments Beschäftigt man sich mit der Arbeitszufriedenheit bzw. dem Commitment von Beschäftigten, sind eine Reihe von Rahmenbedingungen zu beachten, die Auswirkungen auf die Ergebnisse oder deren Interpretation haben können: • Zeitpunkt der Befragung zum Commitment
(wirtschaftliche Gesamtsituation). • Wer gibt den Auftrag zur Untersuchung des Commitments? • Wie hoch ist das Commitment/die AZ in anderen Branchen zum gleichen Untersuchungszeitpunkt? • Wie hat sich das Commitment/die AZ gegenüber früheren Untersuchungen in der gleichen Branche verändert? • Wie hoch ist das Commitment/die AZ im internationalen Vergleich (vgl. Untersuchungen von ENGLAND et al. (1990) zur Arbeitsethik)? Gab es unmittelbar vor der Untersuchung punktuelle Ereignisse, die die Ergebnisse beeinflussen könnten?
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6
Führung
6.1 Historische Überlegungen Früher ging man davon aus, dass bestimmte Personen prädestiniert sind, Führungskraft zu werden. Einen Ursprung kann man im Kampfstil der Germanen erkennen. Mussten die Germanen einen Kampf austragen, marschierten sie in Keilformation auf den Gegner zu. Die Person, die an der Spitze des Keils marschierte, war der Größte und Kräftigste. Aus dieser Person entwickelte sich der Fürst (engl. the first = der Erste). Auch in unserem Wort Dachfirst ist diese Bedeutung noch erkennbar. Auch das Wort Herzog erinnert an die Kampfformation: Der Herzog ist die Person, die vor dem Heer zog. Obgleich die Funktion des Führens sich zunächst ausschließlich auf die Kampfsituation beschränkte, konnten die Fürsten und Herzöge mit der Zeit ihre Führungsfunktion auch auf Friedenszeiten ausdehnen und die Führungsfunktion auf ihre Nachkommen vererben. Damit war der Grundstein für die Überzeugung der "angeborenen Führungsfähigkeit" gelegt. Unterstützung fand dieser Glaube im 19. Jahrhundert, als im Zuge der Industrialisierung große Konzerne von einzelnen Personen gegründet wurden. Namen wie Bosch, Thyssen, Siemens, Rathenau seien nur stellvertretend genannt. Erst im 20. Jahrhundert begann man sich mit dem Phänomen "Führung" wissenschaftlich zu beschäftigen. In den Anfängen der Forschung orientierte man sich an den soeben geschilderten Alltagsüberlegungen zum Führen. Man ging davon aus, dass es "geborene Führungspersönlichkeiten" gibt. Es wurden bestimmte Dispositionen unterstellt und man war in der Forschung bemüht, diese Dispositionen empirisch zu erkennen, d. h. man war der Überzeugung, dass Führen nicht erlernbar sei. KURT LEWIN, ein noch heute bekannter Forscher, entwickelte einen anderen Ansatz zum Verständnis der Führung. Er prägte in den 30er Jahren den Begriff des Führungsstils. Die zugrunde liegenden Experimente wurden von LIPPIT, R. & WHITE, R. (1947) beschrieben.
151
Kasten 6.1
Was den Führungsstil beeinflusst: (Führung als abhängige Variable) • Art der Arbeit • Organisationsebene • Organisationsklima • Größe der Arbeitsgruppe • Positionsmacht in der Gruppe • Homogenität der Arbeitsgruppe • Arbeits- und Lebenswerte der Mitarbeiter/innen • Einfluss des Führers nach oben • Be- und Entlohnungssysteme • Persönlichkeit der Führungsperson
Diese Variablen beeinflussen den Führungsstil und das Führungsverhalten.
Was der Führungsstil beeinflusst: (Führung als unabhängige Variable) • Arbeitsleistung • Arbeitszufriedenheit • Motivation • Einstellungen (Attitüden) • Fehlzeiten • Fluktuation • Verantwortungsbewusstsein
LEWIN unterschied drei Führungsstile, die auch noch heute Beachtung finden:
• Autoritärer Führungsstil • Demokratischer oder kooperativer Führungsstil • Laissez-faire Führungsstil Er nahm an, dass der demokratische Führungsstil der erfolgreichste Führungsstil ist. Hierzu führte er eine Reihe von Untersuchungen durch, die in der Regel seine postulierten Überlegungen bestätigten.
152
Kasten 6.2
Forschungsergebnisse zu den Führungsstilen (nach LEWIN) • die Arbeitsqualität ist in kooperativ geführten Arbeitsgruppen am höchsten; • in autoritär geführten Arbeitsgruppen tritt häufiger aggressives Verhalten auf; • die Produktivität ist in laissez-faire geführten Gruppen am geringsten; • die Produktivität in autoritär geführten Gruppen hängt stark von der An-
wesenheit der Führungsperson ab.
Die Kennzeichen des demokratischen Stils lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Belange der Tätigkeit sollen mit den Belangen der Beschäftigten in Einklang gebracht werden. Ziele und Aufgaben der Arbeitsgruppe sollen unter aktiver Beteiligung der Mitarbeiter/innen an der Detailplanung und Detailorganisation realisiert werden. Sie bekommen hierbei Entscheidungskompetenzen. Erreichte Fortschritte werden diskutiert und der Vorgesetzte gibt Rückmeldungen über bereits erreichte Leistungen. Der autoritäre oder aufgabenorientierte Stil ist folgendermaßen zu charakterisieren: Der Vorgesetzte ist auf die Belange der Tätigkeit und der Aufgabe fixiert. Die Belange der Beschäftigten werden vernachlässigt. Er trifft alle Entscheidungen selbst und delegiert die Ausführung. Obgleich der kooperative Führungsstil immer wieder gefordert wird, sind doch Entscheidungssituationen vorstellbar, die andere Führungsstile eher erfolgreich sein lassen. Dies sind in erster Linie Situationen, in denen schnell entschieden werden muss. Ein gutes Beispiel hierfür stellt die Arbeit der Berufsfeuerwehr in einem Einsatz dar. Hier muss eindeutig festgelegt sein, wer Entscheidungen trifft. Außerhalb der Einsatzsituation ist hingegen der kooperative Führungsstil gefordert und wird in der Regel auch praktiziert. Auch die autoritär gefällten Entscheidungen werden in der Regel in anschließenden "Manöverkritiken" überprüft.
Die weitere Entwicklung Im Verlauf der weiteren Forschung entfernte man sich immer mehr von der Diskussion von "Stilen" und "Dispositionen". Für die Praxis relevanter erscheint die Einzeldarstellung verschiedener Untersuchungen mit ihren Ergebnissen. Hierbei wird deutlich, dass auch das Konstrukt "Führung" weniger von individuellen Dispositionen, denn von situativen Einflüssen abhängig ist. 153
6.2 Führung – Meilensteine der empirischen Forschung 6.2.1 Hawthorne-Untersuchungen (20er/30er Jahre) Im Rahmen der Diskussion zur Arbeitszufriedenheit wurden die HawthorneUntersuchungen bereits erwähnt. Auch zu Fragen der "Führung" sind die Ergebnisse von Bedeutung. (Zur Erläuterung: Die Arbeitsleistung war angestiegen, auch wenn z. B. sich die Arbeitsbedingungen objektiv verschlechtert haben.) Für die Diskussion um Führungsverhalten sind diese Ergebnisse insofern bedeutsam, da sie deutlich machen, dass das Interesse an den Bedürfnissen der Mitarbeiter/innen während der Experimente stärker beachtet wurde, als während des normalen Betriebsablaufs (dies könnte man auch als Hinweis auf einen kooperativen Führungsstil werten). Diese Untersuchungen waren nach heutigem Verständnis jedoch noch mit Problemen behaftet und beschäftigten sich nicht explizit mit dem Führungsverhalten. Die systematischen Untersuchungen begannen erst in den folgenden Jahrzehnten.
6.2.2 Die Ohio-Untersuchungen (Fleishman, 50er Jahre) Ausgangspunkt dieser Untersuchungen war die Überlegung, dass Einstellungen und Verhaltensweisen von Vorgesetzten den nachhaltigsten Einfluss auf Arbeitsmoral, AZ und Produktivität haben würden (man sollte die Vorgesetzten nicht überschätzen). Deshalb wurden in der InternationalHarvester-Co. alle Vorgesetzte Trainingsprogrammen unterzogen. Man ging von zwei Dimensionen der Führung aus:
• Strukturierung aufgabenorientierter Führungsstil, Planung, Organisation, Anweisung und Kritik stehen im Vordergrund. • Rücksichtnahme kooperativer Führungsstil, Toleranz, Personenorientiertheit und die Befriedigung soz.-emot. Bedürfnisse stehen im Vordergrund. Die Ergebnisse der Trainingsprogramme waren unbefriedigend. Es zeigte sich, dass die Arbeitssituation eine bedeutende Rolle spielt: Vorgesetzte, die in der Produktion tätig waren, hatten feste Termine einzuhalten und arbeiteten wiederum unter Vorgesetzten, die eine positive Ein-
154
stellung zur Strukturierung hatten, neigten eher zu Strukturierungen (wenig Rücksichtnahme). Vorgesetzte, die in nicht-produktiven Bereichen tätig waren (Lagerverwaltung, Inspektion, Reparatur) waren eher rücksichtsvoll und arbeiteten unter Vorgesetzten mit ähnlichen Einstellungen.
6.3 Das Führungs-Tandem (BALES) Aus diesen Überlegungen und aus Überlegungen zur Gruppenpsychologie kam BALES zu folgender Annahme: In funktionierenden Arbeitsgruppen sind zwei Szenarien vorstellbar:
• Der aufgabenorientierte Führer erfüllt auch die sozial-emotionalen Bedürfnisse; • Neben dem aufgabenorientierten Führer gibt es einen "sozialen Spezialisten", der die soz.-emot. Bedürfnisse befriedigt. Dieses "Führungs-Tandem" bezeichnet man als das Divergenz-Theorem von BALES. Dieses Theorem ist beim Militär vielfach verwirklicht: Der Kompaniechef ist der aufgabenorientierte Führer, der Kompaniefeldwebel (Spieß = Mutter der Kompanie) der sozial-emotionale Führer.
Kasten 6.3
Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen zur Führung aus der Beschäftigung mit verschiedenen Führungsstilen Nach TANNENBAUM (1968) wird die Arbeit des Führenden vor allem darin gesehen, Aufgaben-relevante Gruppenaktivitäten zu initiieren, zu kontrollieren, zu planen, zu leiten, zu koordinieren und sie auf das Erreichen des vorbestimmten Zieles (eines Arbeits- oder Organisationszieles) hin zu lenken. Die Führungsperson gibt den Mitarbeitern nicht nur Anleitung, sondern auch Hilfestellungen, damit diese die Arbeits- und Aufgabenziele erreichen können, damit sie im Erreichen dieser Ziele eine persönliche Befriedigung ihrer Bedürfnisse erfahren, und damit sie das Gefühl der Zufriedenheit aus diesem Arbeitsprozess und aus dem Erreichen des Zieles erhalten. Erfüllt ein Gruppenführer diese Aufgabe, so kann er als "erfolgreich" und "effizient" angesehen werden.
155
Im weiteren Verlauf der Beschäftigung mit dem Phänomen der Führung wurden einzelne Verhaltensweisen immer stärker in den Mittelpunkt gerückt. Auch wurde erkannt, welch hohe Bedeutung situative Faktoren für das Führungsverhalten haben. Man geht in den modernen Führungstheorien davon aus, dass Führungsverhalten ebenso erlernbar ist, wie jedes andere Verhalten auch. Die Beschäftigung mit den Führungsstilen hat sich insofern verändert, dass man heute erforscht, welche konkreten Verhaltensweisen die jeweiligen Führungsstile repräsentieren. Stellvertretend für diesen Ansatz sollten zwei Modelle kurz beschrieben werden.
6.4 Eine lerntheoretisch begründete Theorie zur Führung (BASS 1985) BASS (1985) entwickelte ein 5-faktorielles Modell zum Führungsverhalten mit folgenden Faktoren (engl. Faktorenbezeichnung, deutsche Übersetzung siehe Kasten 6.4): Contingent Reward
Transactional Leadership
Management-by-Exception Charismatic Leadership Individualized Consideration Intellectual Stimulation
Transformational Leadership
Auch in dieser Theorie sind wiederum die Konstrukte "Mitarbeiterbezogenheit" vs "Aufgabenorientierung" wieder zu erkennen, denn es gilt folgender Zusammenhang:
Transactional Leadership
–
Transformational Leadership
–
156
Aufgabenorientiertes Führungsverhalten Mitarbeiterorientiertes Führungsverhalten
Kasten 6.4
Übersetzung Contingent Reward Management-by-Exception Charismatic Leadership Individualized Consideration Intellectual Stimulation
Sachgerechtes Verhalten wird belohnt Die Führungsperson zeigt sich nur bei Problemen Die Führungsperson ruft Inspiration, Vertrauen hervor Angemessene Aufmerksamkeit wird gegeben Neue Denkweisen werden ermutigt
Bei diesem Modell stehen konkrete Verhaltensweisen der Führungskräfte im Mittelpunkt. Es geht nicht mehr länger darum "Führungsstile" zu ermitteln, sondern konkrete, für jeden erlernbare Verhaltensweisen der Führungskräfte werden thematisiert. Aufgrund von Befragungsergebnissen sollen Führungskräfte in die Lage versetzt werden, Führungsprobleme als falsches Verhalten zu erkennen, das verändert werden kann.
6.4.1 Forschungsergebnisse zur Theorie von BASS Es sollen einige Ergebnisse dargestellt werden, die die Zusammenhänge zwischen den Faktoren des Modells von BASS und wichtigen organisationspsychologischen Variablen aufzeigen. Folgende Variablen wurden untersucht:
• Führungseffektivität und Zufriedenheit • Wunsch das Unternehmen zu wechseln • Commitment • Geschlecht Ergebnisse: Führungseffektivität und Zufriedenheit: Positiver Zusammenhang der Führungseffektivität und Zufriedenheit zum "Mitarbeiterorientierten Führungsstil" und negativ zu "der Führer zeigt sich nur bei Problemen".
157
Wunsch, das Unternehmen zu wechseln: Der "Mitarbeiterorientierte Führungsstil" führt zu einer geringen Abnahme des Wunsches, das Unternehmen zu wechseln. Der Faktor "der Führer zeigt sich nur bei Problemen" beeinflusst diesen Wunsch hingegen nicht. Commitment (sich vollständig für das Unternehmen einsetzen): "Die Skalen zur Mitarbeiterorientierung" zeigen zum Commitment den höchsten Zusammenhang, insbesondere zum Aspekt des Emotionalen Commitments. Führungsverhalten und Geschlechtszugehörigkeit: Zur Zeit sind die Ergebnisse noch als uneinheitlich zu bezeichnen. Männliche Führungskräfte führen überwiegend "transactional". Dieses Verhalten entspricht recht gut den Hypothesen. Weibliche Führungskräfte hingegen verhalten sich aktuell noch uneinheitlich. Es muss eine Trennung vorgenommen werden zwischen jüngeren und älteren weiblichen Führungskräfte. Während ältere weibliche Führungskräfte sich ähnlich verhalten wie männliche Führungskräfte (sie führen ebenfalls eher "transactional"), verhalten sich jüngere weibliche Führungskräfte wie die Hypothesen erwarteten: Sie führen eher "transformational"!
6.5 360°-Beurteilungs- und Entwicklungssystem für Führungskräfte Seit einigen Jahren gibt es nun auch im deutschen Sprachraum Führungskräftebeurteilungs- und -entwicklungssysteme, die sich ausschließlich auf konkrete Verhaltensweisen begründen. Ziel der Verfahren ist das Erkennen von Führungsschwächen und die anschließende Beseitigung der Schwächen. Die Führungskräfte sollen sich hierbei neue, verbesserte Verhaltensweisen erarbeiten und in der Praxis anwenden. Hierbei wird folgendermaßen vorgegangen: Es werden Mitarbeiter, Kollegen und mindestens ein Vorgesetzter der Führungskraft und die Führungskraft selbst zum Führungsverhalten befragt. Man erhält auf diese Weise mannigfache Informationen über das Verhalten der zu untersuchenden Führungskraft und kann detailliert auf Schwächen und Stärken eingehen. Insgesamt werden Verhaltensweisen aus drei Bereichen berücksichtigt:
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• Arbeitserledigung als solche • Führen der Arbeitsgruppe • Selbstorganisation und Beziehung zu anderen Die Vorteile dieses Vorgehens liegen auf der Hand: Der Erfolg von Personalentwicklungsmaßnahmen wird kontrollierbar. Darüber hinaus wird der Vielfältigkeit der Menschen Rechnung getragen und akzeptiert, dass es viele individuelle Wege des Führens gibt, die zum Ziel führen können. Die 360°-Beurteilungs- und Entwicklungssysteme konnten in den letzten Jahren zeigen, dass sie Entwicklungspotenziale von Nachwuchskräften sehr gut identifizieren können. SCHÄFER (2004) konnte zeigen, dass diese Systeme u. a. auch in der öffentlichen Verwaltung ohne Probleme eingesetzt werden können. Selbstverständlich müssen die nachfolgenden Entwicklungsschritte auf der Grundlage dieser Diagnose durchgeführt werden. Damit haben sich die 360°-Beurteilungs- und Entwicklungssysteme zu einer ernsthaften und kostengünstigen Alternative zu Assessment Center-Verfahren (AC) entwickelt. Gleichwohl soll nicht unerwähnt bleiben, dass manche Autoren auch Gefahren beim Einsatz der Feedback-Verfahren sehen (NEUBERGER, 2000)
6.6 Der aktivierende Führungsstil nach KLAGES (2002) KLAGES (2002) hat insbesondere für die öffentliche Verwaltung Merkmale eines optimalen Führungsstils herausgearbeitet. Hierbei steht die motivierende Wirkung einer Führungskraft in der öffentlichen Verwaltung im Mittelpunkt des Interesses. KLAGES spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten Aktivierenden Führungsstil. Folgende Merkmale kennzeichnen den aktivierenden Führungsstil: Der Vorgesetzte:
• hat eine klare Linie • gibt Rückmeldungen an Mitarbeiter/innen • spricht Anerkennung und Lob aus bei guter Leistung • informiert Mitarbeiter/innen umfassend • ist selbst engagiert und Vorbild für Mitarbeiter/innen KLAGES sieht den aktivierenden Führungsstil als eine Erweiterung des demokratischen/kooperativen Führungsstils an. 159
Der Führungsstil beeinflusst direkt und indirekt die Leistungsmotivation der Mitarbeiter/innen. Indirekte Beeinflussungen sind hierbei u. a. Aspekte wie:
• Karriereorientierung • Arbeitsatmosphäre • Positive Tätigkeitswahrnehmung • Quantitative Belastung • Qualitative Belastung • Wertpräferenzen der Mitarbeiter/innen. Kasten 6.5
Forschungsergebnisse zur Wirkung von Führungsstilen in der öffentlichen Verwaltung • Die Verbesserung der Personalführung ist von zentraler Bedeutung für
•
• •
•
die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter/innen der öffentlichen Verwaltung – der Führungsstil ist wesentlich verantwortlich für die Mitarbeitermotivation. Der kooperative Führungsstil (demokratische Führungsstil) steigert die Mitarbeitermotivation am stärksten. Neuere Untersuchungen lassen den "aktivierenden Führungsstil" als optimalen Führungsstil erkennen. Der autoritäre Führungsstil ist im Hinblick auf die Motivation der Mitarbeiter kontraproduktiv. Die bloße Formulierung von Führungsleitlinien ändert nichts am tatsächlichen Führungsverhalten. Das angemessene Führungsverhalten muss nachhaltig eingeführt werden. Das Führungsverhalten muss in die Führungskultur eingebettet sein.
(VERGL. FEUERSTEIN, 2003)
160
6.7 Möglichkeiten zur Verbesserung des Führungsverhaltens In der Praxis haben folgende Maßnahmen ihre Eignung zur Verbesserung des Führungsverhaltens unter Beweis gestellt:
• Durchführung von 360°-Beurteilungs- und Entwicklungssystemen • Regelmäßige Schulungen von Führungskräften • Führungscontrolling • Entwicklung eines kooperativen Führungsklimas • Coaching für Führungskräfte • Supervision für Führungskräfte • Mitarbeitergespräche • Kooperativ geführte Besprechungen (Moderation) • Delegation von Führungsfunktionen an Mitarbeiter/innen • Erhöhung der Selbststeuerungsmöglichkeiten für Arbeitsgruppen/ Teams • Abflachen von Hierarchien • Führungskräfte auch kooperativ führen
6.8 Das Konzept des Super-Leaderships Der erste Schritt zum Super-Leader ist der Self-Leader (sich selbst führen). Dieser Begriff meint, inwieweit eine Führungskraft in der Lage ist, sich selbst zu führen. Zum Self-Leader sind folgende Fähigkeiten notwendig: Self-Set Goals
Sich selbst Ziele setzten
Management of Cues
Schlüsselreize auswählen
Rehearsal
Üben
Self-Observation
Selbstbeobachtung
Self-Rewards
Selbstbelohnung
Natural Rewards
Natürliche Belohnungen anstreben
Self-Leadership of the Mind
Das Denken selbst beeinflussen
Zum Super-Leader wird ein/e Vorgesetzte/r, wenn es ihm/ihr gelingt, die Elemente des Self-Leaderships auch bei den MA hervorzurufen. Das Ziel ist es, die Fähigkeit „sich selbst zu führen“ bei den MA zu wecken und zu stärken. 161
Die Autoren des ‚Super-Leaderships’ formulieren die oben dargestellten Zusammenhänge so: "To be effective, a leader must successfully influence the way people influence themselves" – Charles S. Mans & Henry P. Sims, Jr. (Um effektiv zu sein, muss ein Vorgesetzter seine Mitarbeiter in der Art beeinflussen, dass sie lernen, sich selbst zu beeinflussen.)
Die Vorteile des Super-Leaderships sind:
• Hohe Teamperformance und Flexibilität • Hohes Selbstvertrauen und gute Entwicklung bei den Mitarbeitern • Hohe Teamkreativität und Innovationskraft • Langfristig hohe Leistungen der Mitarbeiter • Hohe Fähigkeit des Teams auch in Abwesenheit des Teamleiters produktiv zu arbeiten Damit ist dieses Führungsverhalten besonders für wissensbasierte Unternehmen mit flachen Organisationsstrukturen und „Mitarbeiter-Empowerment“ geeignet. Ein Super-Leader ist einer, der andere so führt, dass sie in die Lage versetzt werden, sich selbst zu führen. RALPH NADER, der legendäre Konsumenten-Anwalt in Kalifornien, beschreibt das so: "Die Aufgabe der Führung ist es, mehr „Leader“ und nicht mehr Anhänger zu produzieren".
162
7
Schlüsselqualifikationen
Der Begriff der Schlüsselqualifikation (SQ) spielt etwa seit Mitte der 80er Jahre eine bedeutsame Rolle. Er wurde damals, auf Drängen der Industrie, in die Berufsausbildung der industriellen Metall- und Elektroberufe eingeführt. Im Rahmen der Neuordnung weiterer Berufsbilder wurde er sukzessive in fast alle Ausbildungsordnungen der Berufe nach Berufsbildungsgesetz (BBiG) übernommen. Im Bereich der Hochschulausbildung hingegen wird dieser Begriff erst seit relativ kurzer Zeit in der Lehre berücksichtigt. Und auch in diesem Fall kam der Anstoß von der Industrie: Von den Fachhochschul- und Hochschulabsolventen werden heute Fähigkeiten verlangt, die weit über die reine Fachkompetenz hinausgehen. So ist Fachkompetenz zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für eine erfolgreiche Karriere im erlernten Beruf.
Was versteht man unter Schlüsselqualifikationen? Es besteht aktuell noch eine gewisse Uneinigkeit, welche Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten zu den Schlüsselqualifikationen zu zählen sind. Einigkeit hingegen besteht darin, dass für die Bewältigung der Anforderungen, die die moderne Arbeitswelt an die Beschäftigten und die Unternehmen stellen, bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen:
"Will ein Unternehmen innovative Strukturen realisieren, muss es sich an den Belangen der Beschäftigten orientieren. Dafür gibt es 3 Ansätze: Selbstmanagement, was bedeutet, dass informierte Mitarbeiter die Unternehmensziele aktiv umsetzen. Coaching, das Motivieren und Unterstützen der Mitarbeiter als primäre Aufgabe der Führungskräfte; sowie systematische Förderung der Lernbereitschaft und der Lernfähigkeit, also die Entwicklung des Betriebes zum sogenannten Lernunternehmen!" (BULLINGER 1996, p. 42) Schlüsselqualifikationen spielen in der betrieblichen Praxis eine große Rolle. Auf den ersten Blick erscheint es eindeutig, was sich hinter dem Begriff Schlüsselqualifikationen verbirgt. Auch die Literatur hierzu ist vielfältig. So wird im 15-bändigen BROCKHAUS (1997) der Begriff erklärt und im Internet finden sich bei der Suchmaschine GOOGLE mehr als 69000 deutschsprachige Einträge (19.07.2004). Trotzdem muss man den Begriff als „schillernd“ bezeichnen, denn es finden sich kaum identische Definitionen. Insbesondere scheinen der sekundäre Bildungsbereich, der tertiäre Bildungsbereich und die Anforderungen des Arbeitsmarktes jeweils andere Schlüsselqualifikationen zu favorisieren. Es gibt keinen Konsens darüber, 163
welche Fähigkeiten und Fertigkeiten zu den Schlüsselqualifikationen zu zählen sind. Der Autor selbst hat an verschiedenen Fortbildungsveranstaltungen der Geschäftsstelle für Hochschuldidaktik in Baden-Württemberg teilgenommen und kommt zu dem Schluss, dass bis heute ein Dissens hinsichtlich des Begriffs Schlüsselqualifikationen besteht. Es soll an dieser Stelle keine neue Definition eingeführt werden. Stattdessen wird der Versuch unternommen, sich den Schlüsselqualifikationen von einer anderen Seite zu nähern. Neben der zweifellos notwendigen fachlichen Kompetenz werden soziale Kompetenzen immer wichtiger. In den letzten Jahren werden in der Literatur überwiegend vier Kompetenzbereiche gegeneinander abgesetzt:
• Fachkompetenz • Methodenkompetenz • Soziale Kompetenz • Selbstmanagement Um die Mitarbeiter in die Lage zu versetzen diesen Ansprüchen zu genügen, ist die Entwicklung der Schlüsselqualifikationen eine notwendige (aber keine hinreichende) Voraussetzung. Kasten 7.1
Schlüsselqualifikationen sind erlernbar! Ein Instrument zur Messung der individuellen Ausprägungen der Schlüsselqualifikationen mit Hilfe der Q-Sort-Technique (STEPHENSON, 1935) wurde in den letzten Jahren entwickelt und wird in diesem Jahr veröffentlicht. (SCHÄFER, unveröff.) In t-online business war am 27.10.2009 folgender Beitrag zur Schlüsselqualifikation „Kreativität“ zu finden:
164
Kasten 7.2
"Brainstorming bringt nichts" Wer neue Ideen entwickeln will, muss methodisch vorgehen, sagt Kreativitätsforscher Edward de Bono. Sein Credo im Interview mit ftd.de: Umdenken gelingt nur durch Provokation. ftd.de (financial time Deutschland): Wenn eine Firma neue Ideen braucht, sagt der Chef [6] : "Lasst uns doch mal brainstormen!" Ist das Ihrer Meinung nach ein guter Ansatz? Edward de Bono: Nein, das ist nutzlos. "Brainstorming" bedeutet nur, dass jeder ohne Einschränkung sagen kann, was ihm durch den Kopf geht. Aber das reicht nicht. Wenn man einem Gefangenen die Fesseln durchschneidet und eine Geige hinhält, ist er zwar frei – so wie die Teilnehmer eines Brainstormings -, aber er kann noch lange nicht Geige spielen. Das muss er erst lernen, genauso wie man Kreativität lernen muss.
ftd.de: Was ist für Sie Kreativität? Eine Eigenschaft oder eine Technik? Edward de Bono: Ich unterscheide zwischen künstlerischer Kreativität und denkerischer Kreativität. Wenn etwa Schulen sagen, sie fördern die Kreativität der Kinder, meinen sie meistens, dass die Kinder ein bisschen singen und tanzen. Das ist schön, aber so entstehen keine Ideen. Deshalb habe ich Techniken entwickelt, mit der jeder lernen kann, Ideen zu haben. Manche besser als andere, so wie manche besser Tennis spielen können als andere. Aber lernen kann es jeder. ftd.de: Brauchen wir einen anderen Kreativitätsunterricht in Schulen? Edward de Bono: Allerdings. Kreativität ist kein mysteriöses angeborenes Talent. Bei einem meiner Workshops in einer Stahlfirma in Südafrika entstanden innerhalb eines Nachmittags 21.000 Ideen. Wenn man 21.000-mal auf einen zufälligen Musenkuss warten muss, ist man lang beschäftigt. Daher ist es wichtig, schon Kindern beizubringen, wie man denkt. China führt mit meinen Methoden gerade ein Pilotprojekt in fünf Provinzen durch. Vielleicht werden meine Techniken bald in 680.000 chinesischen Schulen unterrichtet. Und wenn China erst mal anfängt, kreativ zu denken, dann packen wir besser alle unsere Trachtenkleidung aus. Denn dann wird der Rest der Welt nichts anderes mehr sein als ein Urlaubsort für Chinesen. ftd.de: Warum sind wir so schlecht im kreativen Denken? Edward de Bono: Unsere Kultur ist gut, wenn es darum geht, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden. Das ist geeignet für die Naturwissenschaften, für Ingenieure. Aber um neue Ideen zu haben ist unsere Art des Denkens zu logisch. ftd.de: Sie fordern in Ihrem Konzept des "Lateralen Denkens" indirekte Denkpfade statt Logik. Ist dieses "thinking outside the box" nicht längst ein Klischee der Management-Ratgeberliteratur? Edward de Bono: Ich halte nichts von diesem Begriff: Denn er tut ja so, als 165
sei das, was "in der Box" ist, schlecht und falsch. Das stimmt gar nicht. Vieles, was in der Box gedacht wird, ist vollkommen richtig und ausreichend, um Probleme zu lösen. Aber wenn wir nach vorne gehen und die Zukunft gestalten wollen, müssen wir das Flussbett verlassen, das nach und nach in unseren Köpfen entsteht. ftd.de: Das Flussbett? Edward de Bono: Unser Gehirn neigt dazu, an gewohntem festzuhalten. Wie Wasser, das sich einmal eine Bahn sucht und dann diese Bahn immer weiter zu einem Bach und einem Fluss ausspült. Das ist gut, das ist effizient, aber wenn man das Wasser in andere Bahnen lenken will, wird es immer schwieriger. In meiner Denkschule gelingt das durch gezielte Provokation. Diese Provokation erhält man, wenn man etwa scheinbar völlig unmögliche Dinge fordert. ftd.de: Wie zum Beispiel? Edward de Bono: Nehmen Sie die Wirtschaftskrise. Ein Problem waren die immer weiter fallenden Immobilienpreise. Niemand kaufte, da alle dachten, es würde noch billiger werden. Also wurde es das auch. Diesen selbstverstärkenden Kreislauf hätte man durchbrechen können, indem man einen Vertrag aufgesetzt hätte, den ich "de-Bono-Vertrag" nenne. Ich verkaufe Ihnen heute mein Haus zu einem festgelegten Preis. Gleichzeitig garantiere ich Ihnen, dass, falls die Immobilienpreise im nächsten Jahr um 20 Prozent fallen, ich Ihnen diese 20 Prozent erstatte. ftd.de: Ein ziemliches Risiko für den Verkäufer ... Edward de Bono: Ja, aber durch diese Garantie hätte niemand einen Grund, mit dem Kauf zu warten. Und wenn niemand mehr wartet, verfallen die Preise auch nicht weiter. Ein anderes Beispiel: Vor einigen Jahren war ich beim Umweltministerium von Kalifornien eingeladen, der Staat hatte Probleme mit verschmutzten Flüssen: Oben verschmutzt eine Fabrik das Wasser, flussabwärts leiden die Menschen. Meine Provokation war: "Jede Fabrik muss flussabwärts von sich selbst sein." ftd.de: Wie soll das gehen? Edward de Bono: Indem man gesetzlich vorschreibt, dass jede Fabrik ihr Abwasser flussaufwärts ihres eigenen Standorts einzuleiten hat. Auf diesem Weg leiden die Betreiber der Fabrik selbst, wenn sie das Wasser verschmutzen – und werden sich darum um bessere Filteranlagen bemühen. ftd.de: Wie verändert das Internet das kreative Denken? Edward de Bono: Momentan ist das Internet vor allem eine immer größer werdende Menge an Informationen. Diese Masse an Daten in neue Ideen umzuwandeln wird eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Jahre sein. Soziale Netzwerke wie Facebook sind da sehr wertvoll, vielleicht das wertvollste, was es im Internet derzeit gibt. Aber wir müssen noch viel weiter gehen. Ich will zum Beispiel auf meiner Website Debonosociety.com Menschen zusammenbringen, die Freude am Denken und am Lösen von 166
Problemen haben. Meine Kreativitätskonzepte wie die sechs Denkhüte lassen sich auch hervorragend auf Herausforderungen der Onlinewelt übertragen. ftd.de: Was hat es mit den sechs Denkhüten auf sich? Edward de Bono: Die sechs Hüte symbolisieren unterschiedliche Rollen, die jeder Diskussionsteilnehmer für eine Weile einnimmt. Wer den weißen Hut aufhat, kümmert sich zum Beispiel nur um die Fakten. Der rote Hut setzt voll auf Emotionen, der schwarze ist überkritisch, der gelbe sehr positiv und enthusiastisch. Der grüne Hut ist für Überraschungen und Provokationen zuständig. Und der blaue Hut leitet die Diskussion – nach einer Weile werden die Hüte reihum getauscht. So legt man die unterschiedlichen Facetten einer Situation offen, statt stundenlang ziellos zu diskutieren und auf seiner ursprünglichen Position zu verharren. Auf diese Weise entstehen neue Ideen. Inzwischen wird in zahlreichen Firmen mit dieser Methode gearbeitet, in Deutschland etwa bei Siemens, Bosch und OBI. ftd.de: Und wenn jemand diese Art von Rollenspielen albern findet? Edward de Bono: Das ist natürlich sein gutes Recht. Aber es ist nicht einfach, gute Ideen zu haben, wie viele Menschen denken. Denn das Kuriose an Ideen ist ja: Wenn man einmal drauf gekommen ist, erscheinen sie einem im Nachhinein ganz logisch. Und man versteht nicht, wie man es vorher nicht sehen konnte. Humor funktioniert oft ganz ähnlich. Soll ich es Ihnen mit einem Witz beweisen? ftd.de: Gern. Edward de Bono: Ein alter Mann kommt in die Hölle. Dort sieht er einen ebenfalls grauhaarigen Freund, der kürzlich gestorben ist, mit einer jungen attraktiven Frau auf dem Schoß sitzen. "Bist du sicher, dass das hier die Hölle ist?", fragt der Neuankömmling seinen Freund. "Du siehst eigentlich ganz zufrieden aus." Antwortet sein Freund: "Ganz sicher ist das hier die Hölle – ich bin nämlich ihre Strafe." URL: http://www.t-online-business.de/erfolgreichekreativitaetstechniken/id_16900774/si_0/index vom 27.10.2009
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Personalauswahl gemäß DIN 33430
DIN 33430
Anforderungen an Verfahren und deren Einsatz bei berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen
8.1 Anwendungsbereich der DIN-Norm Der Anwendungsbereich der DIN-Norm erstreckt sich auf alle berufsbezogenen Eignungsuntersuchungen, insbesondere auf Fragen der Personalauswahl und Personalplatzierung. Es gilt sowohl externe, als auch interne Personalauswahlverfahren an den Grundsätzen der Norm auszurichten. Die Norm enthält Festlegungen und Leitsätze für Verfahren und deren Einsatz bei berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen. Sie bezieht sich auf:
• die Planung von berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen • die Auswahl, Zusammenstellung, Durchführung und Auswertung von Verfahren • die Interpretation der Verfahrensergebnisse und die Urteilsbildung • die Anforderung an die Qualifikation der an der Eignungsbeurteilung beteiligten Personen Die Norm setzt sich nicht mit Fragen der Personalentscheidungen auseinander! Personalentscheidungen bleiben in der Hand der Personalverantwortlichen in den Organisationen.
8.1.1 Begriffe Die Grundlage jeder eignungsdiagnostischen Beurteilung bildet eine eingehende Anforderungsanalyse. Die folgende Aufstellung zeigt eine Vielzahl möglicher, relevanter Fähigkeiten. In der Praxis wird man eine Anzahl besonders wichtiger Fähigkeiten berücksichtigen.
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Kognitive Fähigkeiten Sprachverständnis Textverständnis Sprachproduktion Textproduktion Ideenflüssigkeit Originalität Gedächtnis Problembewusstsein Mathematisches Denken Leichtigkeit im Umgang mit Zahlen Deduktives Denken Psychomotorik Kontrollgenauigkeit Gliedmaßenkoordination Reaktionsauswahl Reaktionsanpassung Reaktionszeit Hand-Arm-Stetigkeit Handgeschicklichkeit Fingergeschicklichkeit Handgelenk- und Fingergeschwindigkeit
Induktives Denken Ordnen von Informationen Kategoriale Flexibilität Gestaltschließungsgeschwindigkeit Flexibilität der Gestaltschließung Räumliches Orientierungsvermögen Visualisierung Wahrnehmungsgeschwindigkeit Selektive Aufmerksamkeit Überwachung Geschwindigkeit der Bewegung von Arm und Bein Statische Kraft Explosive Kraft Dynamische Kraft Flexibilität der Reaktion Dynamische Flexibilität Körperkoordination Körpergleichgewicht Durchhaltevermögen
Wahrnehmungs- und Sinnesleistungen Nahsicht Fernsicht Farbunterscheidungsvermögen Nachtsicht Peripheres Sehen Hörempfindlichkeit
Konzentration auf relevante Geräuschquellen Geräuschlokalisation Spracherkennung Sprachklarheit
Interaktiver bzw. sozialer Bereich Überzeugungsfähigkeit Soziale Sensibilität Ermittlung von Fakten mündlich Vertretung des eigenen Standpunkts Widerstand gegen voreilige Urteile
Hartnäckigkeit Frustrationstoleranz Flexibilität des Verhaltens Verkaufsorientierung
Wissen und Fertigkeiten Kenntnisse in Elektrik oder Elektronik Mechanisches Wissen Kenntnisse über Werkzeuge und Einsatz Kartenlesen Anfertigen von Skizzen
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Lesen und Verstehen von Plänen Autofahren Schreibmaschine schreiben Steno Rechtschreiben Grammatik Eignung
Definition: Eine Person ist für einen Beruf, eine berufliche Tätigkeit oder eine berufliche Position geeignet, wenn sie über diejenigen Merkmale verfügt, die Voraussetzung für die jeweils geforderte berufliche Leistungshöhe sind. Zur Eignungsfeststellung werden im Wesentlichen drei Kategorien berücksichtigt:
• Bildungsbiografische Merkmale • Psychologische Merkmale • Medizinische Merkmale Die Merkmale der Anforderungsanalyse sollten sich als Eignungsmerkmale identifizieren lassen. Die Interpretation vorgefundener Eignungsmerkmale und deren Ausprägungen führen zu einer Wahrscheinlichkeitsaussage, inwieweit die zu beurteilende Person einerseits den gegenwärtigen und künftigen berufsbezogenen Anforderungen gerecht werden und andererseits in dem Beruf auch zufrieden sein wird. Nur wenn beide Aspekte gleichermaßen erfüllt werden, kann man von Eignung sprechen.
8.1.2 Eignungsmerkmale Bildungsbiografische Merkmale Folgende bildungsbiografische Merkmale sind vorstellbar:
• Art der besuchten Schule • Art der Ausbildung/Studium • Praxiserfahrungen • Stellenwechsel • Fort- und Weiterbildungen • Arbeitszeugnisse Bildungsbiografische Merkmale dienen häufig der Vorauswahl im Rahmen der Eignungsdiagnostik.
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Psychologische Merkmale Folgende Psychologische Merkmale sind u. a. zu benennen:
• Textverständnis • Mathematisches Denken • Räumliches Orientierungsvermögen • Selektive Aufmerksamkeit • Teamorientierung • Frustrationstoleranz • Führungsverhalten Medizinische Merkmale Die medizinischen Anforderungen sind in der Regel für unterschiedliche Laufbahnen und Berufe exakt definiert und werden von Arbeitsmedizinern nach diesen Regeln geprüft. Die Prüfung der medizinischen Eignung steht im Allgemeinen am Ende der eignungsdiagnostischen Prozedur.
8.1.3 Eignungsbeurteilung Methodologische Begriffe Zur Charakterisierung der Güte der eingesetzten Verfahren werden die nachfolgenden Begriffe verwendet:
• Objektivität • Zuverlässigkeit • Gültigkeit • Normwerte Gemeinsam geben sie Auskunft darüber, ob ein Verfahren den Anforderungen an Instrumente und Verfahren der Eignungsdiagnostik genügt.
Objektivität Die zur Eignungsbeurteilung eingesetzten Verfahren müssen eine größtmögliche Durchführungs-, Auswertungs- und Interpretationsobjektivität besitzen. Dies kann u. a. durch ein intensives Training mit den eingesetzten eignungsdiagnostischen Instrumenten erreicht werden. In der Regel verfügen Testverfahren über die höchste Objektivität. 172
Zuverlässigkeit = Reliabilität Ein eignungsdiagnostisches Instrument soll zuverlässig das messen, was es messen soll. Bei wiederholten Messungen sollten die Ergebnisse nicht in einem zu großen Ausmaß streuen. Falls sich Personenmerkmale auf die Grundlage von mündlich eingeholten Informationen (Interview) oder Verhaltensbeobachtungen (AC) stützen, ist sicherzustellen, dass verschiedene Interviewer oder Beurteiler bei gleicher Grundlage möglichst übereinstimmen.
Gültigkeit = Validität Die Gültigkeit ist die Genauigkeit mit der ein Verfahren das misst oder vorhersagt, was es messen oder vorhersagen soll (z. B. ein Merkmal oder eine Verhaltensweise einer Person). Die eingesetzten Verfahren müssen über eine möglichst hohe Gültigkeit verfügen. Die Gültigkeit kann nach verschiedenen Verfahren bestimmt werden. Sie wird aufgrund empirischer Untersuchungen zur Konstrukt-, Kriteriums- oder Inhaltsvalidität nachgewiesen.
Normwerte Falls zur Eignungsbeurteilung Verfahren eingesetzt werden, die den individuellen Vergleich mit einer Referenzgruppe beinhalten, ist sicherzustellen, das der/die jeweilige Kandidat/in auch der Referenzgruppe entspricht. Normwerte sind regelmäßig, spätestens alle 8 Jahre, zu überprüfen.
Soziale Validität/Testfairness Neben den bereits genannten Kriterien sollte außerdem die ‚Soziale Validität’ oder ‚Testfairness’ im Rahmen der Personalauswahl berücksichtigt werden: keine Person sollte durch die Verwendung des Auswahlverfahrens benachteiligt oder bevorzugt werden. Dies entspricht zudem Forderungen, die das AGG (Allgemeines-Gleichheits-Gesetz, 2006) an Personalauswahlverfahren stellt.
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8.2 Eignungsdiagnostische Verfahren 8.2.1 Das Interview Das Interview ist heute die häufigste Auswahlstrategie. Aber das Interview ist mit einer Reihe von Problemen behaftet. Die Qualität von Auswahlgesprächen ist deshalb sehr schlecht! Die spätere Leistung eines neuen Mitarbeiters lässt sich nicht vorhersagen, d. h. die Korrelation zwischen den beiden Maßen ist sehr gering (r ≈ .10).
Arten des Interviews • Standardisiertes Interview Beim standardisierten Interview sind Gesprächsablauf und -inhalt genau vorgegeben, das heißt, die Fragen werden vor dem Personalauswahlgespräch von den Interviewern festgelegt und allen Bewerbern in gleichem Wortlaut und gleicher Reihenfolge gestellt. Der Vorteil des standardisierten Interviews liegt darin, dass keine sachfremden Einflüsse auf das Gespräch einwirken. Außerdem ist die Auswertung relativ einfach und kostengünstig. Nachteilig sind die fehlende Spontanität, durch die das Gespräch eher unflexibel und starr wird, sowie die Tatsache, dass ein Nachhaken bei Auffälligkeiten nicht möglich ist. In Bezug auf die Antworten ist beim standardisierten Interview zu unterscheiden zwischen dem geschlossenen Interview, bei dem der Bewerber seine Antworten aus einem Antwortkatalog auswählt, und dem offenen Interview, bei dem der Bewerber frei antwortet.
• Nicht-standardisiertes Interview (= unstrukturiertes Interview) Beim nicht-standardisierten Interview orientiert sich der Interviewer an der jeweiligen Situation und am Verlauf des Gesprächs. Somit sind auch spontane Fragen und Nachhaken bei Unklarheiten und weiterem Interesse möglich. Es entsteht also eine offene Gesprächsatmosphäre. Nachteilig für den Interviewer sind die aufwendigere Auswertung sowie der schwerere Vergleich zwischen den Bewerbern.
• Halb-standardisiertes Interview Das halb-standardisierte Interview ist eine Mischung der beiden oben dargestellten Interview-Arten. Der Rahmen des Gesprächs ist gegeben, nicht aber ein vorgefertigter Gesprächsablauf oder -inhalt. Das halb174
standardisierte Interview besteht also zum Teil aus vorgefertigten Fragen, andererseits können aber auch Fragen gestellt werden, die sich aus der Situation ergeben. Des Weiteren sind auch Fragen zu Problem- bzw. Konfliktfällen möglich, um die Verhaltensweise des Bewerbers im konkreten Fall herauszufinden. Das halb-standardisierte Interview ist empfehlenswert, weil eine Vergleichbarkeit trotz der gewahrten Individualität gegeben ist. Das Gespräch bleibt lebendig und flexibel, so dass Zwischenfragen möglich sind. Trotzdem hat der Interviewer jederzeit gut formulierte Fragen zur Hand.
8.2.1.1 Ursachen für Schwächen des Einstellungsinterviews (in Anlehnung an SCHULER 1992) • mangelnder Bezug der Fragen zu den Tätigkeitsanforderungen • unzulängliche Verarbeitung der aufgenommenen Informationen • geringe Beurteilerübereinstimmung • dominierendes Gewicht früherer Gesprächseindrücke • Überbewertung negativer Informationen • emotionale Einflüsse (z. B. Sympathie) auf die Urteilsbildung • Beanspruchung des größten Teils der Gesprächszeiten durch den Interviewer • mangelhafte Vorbereitung auf das Interview • Interview insgesamt zu kurz • Belastung des Interviews mit Fragen, die besser von der Personalabteilung beantwortet werden (z. B. genaue Gehaltsabrechnung). 8.2.1.2 Verbesserungsmöglichkeiten des Einstellungsinterviews (in Anlehnung an SCHULER 1992) • Anforderungsbezogene Gestaltung des Interviews • Beschränkung auf das Registrieren von Aspekten/Anforderungen/Merkmalen, die nicht anderweitig zuverlässiger gesammelt werden können (z. B. mittels Zeugnissen) • Interviews möglichst in strukturierter oder teilstrukturierter Form durchführen, dabei den Bewerber/innen freie Rede ermöglichen • subjektive Eindrücke aus dem Interview empirisch überprüfen
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• Übernahme von standardisierten Fragen aus Testverfahren oder biografischen Fragebögen • Trennung von Informationssammlung und Entscheidung • Einsatz zusätzlicher Beurteiler, z. B. in weiteren, unabhängigen Gesprächen • Vorbereitung der Interviewer durch verfahrensspezifisch konzipiertes Training. 8.2.1.3 Fazit zum traditionellen Einstellungsinterview Vielfach wird die Meinung vertreten, dass mit dem Einstellungsinterview weniger die Leistungsfähigkeit von Bewerbern, denn deren soziale Kompetenz gemessen wird. Forschungen konnten dies jedoch nicht bestätigen! Auch die Meinung, dass Motivation, Selbstsicherheit, verbale Fähigkeiten, Dominanz oder Anpassungsfähigkeit gemessen werden, konnte nicht bestätigt werden. Damit muss man zu der Auffassung kommen, dass es das Einstellungsinterview nicht gibt. Der Interviewer sollte die "Hülle" des Interviews mit Fragen füllen, die eng an die jeweilig zu besetzende Stelle angelegt sind. Das bedeutet, dass für jede zu besetzende Stelle ein neues, strukturiertes Interview zu konzipieren ist. Trotzdem ist das Einstellungsinterview im Rahmen der Personalauswahl unverzichtbar. So besteht für die arbeitsplatzanbietende Organisation und die Bewerber die Möglichkeit, ihre jeweiligen Vorstellungen zur Tätigkeit abzugleichen und sich gegenseitig näher kennen zu lernen.
8.2.1.4 Das Multimodale Interview (nach SCHULER 1992) Das multimodale Einstellungsinterview gliedert sich in 8 Teile. Neben der Gültigkeit (psychologische Validität) sind den Aspekten Akzeptanz und Praktikabilität Rechnung zu tragen. • Gesprächsbeginn: Kurzes, informelles Gespräch, das zur Auflockerung der Atmosphäre beitragen soll. • Selbstvorstellung des Bewerbers: Der Bewerber berichtet in freier Form über seinen Werdegang. Der Interviewer kann hierbei Schwerpunkte vorgeben.
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• Berufsinteressen und Berufswahl: Mit wenigen, kurzen Fragen sollen die Interessen des Bewerbers erfasst werden (Die Antworten sind unmittelbar zu bewerten: zufriedenstellend – neutral – ungenügend). • Freier Gesprächsteil: Dieser Teil dient der Auflockerung des hochstrukturierten Ablaufs. Es werden Fragen gestellt, die sich aus dem bisher Gesagten oder aufgrund der Bewerbungsunterlagen ergeben haben. Die Antworten werden nicht unmittelbar bewertet. Der Eindruck aus der Beantwortung dieser Fragen wird in die Abschlussbeurteilung aufgenommen. • Biografiebezogene Fragen: Aus sogenannten Biografischen Fragebögen werden einige, wenige (ca. 10) Fragen stellenspezifisch ausgewählt und gestellt. Es erfolgt eine sofortige Bewertung mit einer 3-stufigen Skala (s. o.). • Realistische Tätigkeitsinformationen: Es wird über Ausbildung, Anforderungen und Dienststelle informiert. Dies gilt sowohl für positive Aspekte, als auch für Probleme der Organisation und des Arbeitsalltages. • Situative Fragen: Jedem Bewerber werden ca. 4 - 5 situative Fragen gestellt. In der Regel wird nach dem Verhalten des Bewerbers in sogenannten kritischen Situationen gefragt. Die Beurteilung der Antworten erfolgt auf einer 5stufigen Skala (gut – schlecht). • Fragen des Bewerbers und Gesprächsabschluss: Die Bewerber erhalten Gelegenheit, ihre Fragen zu stellen. Weiterhin gibt es Informationen zum weiteren Verfahren und zu organisatorischen Fragen. 8.2.1.5 Das Multiphasen-Interview (SCHÄFER, 2003) Ähnlich dem Multimodalen Interview (SCHULER, 1992) werden beim Multiphasen-Interview mehrere voneinander abgrenzbare Teile unterschieden. Phase 0: Gruppendiskussion Dem Interview wird eine Gruppendiskussion vorangestellt, wenn eine Position zu besetzen ist, bei der soziale Interaktionen ein sehr wichtiges Eignungsmerkmal darstellt. An der Gruppendiskussion nehmen alle Bewerber/innen teil. Sind soziale Interaktionen kein stark gewichtetes Eignungsmerkmal, kann auf die Gruppendiskussion verzichtet werden. 177
Phase 1: Begrüßung und Informationen zum Gesprächsablauf Zu Beginn des Gesprächs werden den Teilnehmern zunächst die Mitglieder der Prüfungskommission vorgestellt und es erfolgt eine kurze Beschreibung des Ablaufs des Gesprächs. Hierbei wird vermieden, zu sehr die Einzelheiten darzustellen, da dies bereits zu Hypothesenbildungen bei den Bewerbern führen könnte. Es wird lediglich dargestellt, dass sich das Gespräch aus verschiedenen Teilen zusammensetzt. Anschließende Verhaltensweisen nach Stärken und Schwächen sortieren. Den Bewerbern/-innen werden die Verhaltensbeschreibungen (60 Karten) in einem Stapel übergeben mit der Aufforderung, die Verhaltensweisen in 5 Stapel zu sortieren:
besondere Schwäche 3 – 12 – 30 – 12 – 3 besondere Stärke Hierfür stehen 5 Minuten zur Verfügung. (Diese Zeit kann stillschweigend auf max. 8 Minuten ausgedehnt werden.) Im anschließenden freien Bericht über den Werdegang wird auf das Ergebnis eingegangen.
Phase 2: Freier Bericht über Werdegang Der Bewerber wird aufgefordert, über sich einige Sätze sagen. Hierbei werden zunächst absichtlich keine Vorgaben gemacht. An interessanten/entscheidenden Stellen wird nachgefragt (warum fand nun eine berufliche Umorientierung statt?). Im Rahmen dieser Darstellung wird auf die Karten mit den Verhaltensbeschreibungen Bezug genommen und die Bewerber sollen begründen, wie sie zu ihrer Wahl gekommen sind. Hierbei werden Aspekte der Selbstreflexion verstärkt beachtet.
Phase 3: Motivation für die Tätigkeit Es wird der Frage nachgegangen, worin die Motivation für die angestrebte Tätigkeit besteht. Hierbei ist zu beachten: Die Sicherheit des Arbeitsplatzes ist eine Motivation, die nicht zu gering geschätzt werden sollte. Es sollten noch andere Gründe genannt werden!
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Phase 4: Grund für Wechsel vom bisherigen Arbeitsplatz Schlüsselfragen in diesem Bereich sind: Warum wollen sie Ihren Arbeitsplatz verlassen? Warum gerade jetzt? Wenn sie gute Chancen in Ihrer bisherigen Tätigkeit hätten, würden sie sich dann auch beworben haben? (Für Bewerber, die Ihren Wohnsitz verlegen müssen) Würden sie für Ihren erlernten Beruf auch in diese Stadt kommen? Warum ja/nein? Welche Vorerfahrungen aus ähnlichen Tätigkeiten haben sie?
Phase 5: Vorstellungen über die Tätigkeit Welche Vorstellungen haben sie über die Tätigkeit? Hierbei kommt es nicht so sehr darauf an, dass diese Vorstellungen in allen Einzelheiten korrekt sind, sie sollten aber auch nicht völlig falsch sein. Sehr wichtig ist die Tatsache, ob und inwieweit sich die Bewerber/innen überhaupt schon einmal mit der Tätigkeit auseinandergesetzt haben. Schließlich wollen sie ihr künftiges Arbeitsleben mit dieser Tätigkeit ausfüllen.
Phase 6: Critical Incidents Den Bewerbern/-innen werden, für die Tätigkeit typische Situationen (überwiegend soziale Situationen) geschildert. Die Bewerber/innen müssen erläutern, wie sie sich in diesen Situationen verhalten würden. Die Antwort muss sehr konkret erfolgen. Im Rahmen des Interviews werden mindestens drei Situationen geschildert; diese Zahl kann aber beliebig erhöht werden. Die Beurteilung erfolgt mittels einer 3-stufigen Skala: gute Antwort – akzeptable Antwort – schlechte Antwort.
Phase 7: Informationen über die Tätigkeit Es werden den Bewerbern realistische Tätigkeitsinformationen gegeben, d. h. auch Probleme und negative Begleiterscheinungen werden nicht verheimlicht. Dies führt in der Folge zu einem höheren Commitment, höherer Leistung und geringeren Fehlzeiten und Fluktuation bei den neu eingestellten Personen. Wenn negative Aspekte geschildert werden müssen, wird regelmäßig die Frage aufgeworfen:
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"Sind Sie in der Lage mit dieser Situation fertig zu werden – begründen Sie bitte Ihre Antwort." Phase 8: Zukunftsvorstellungen Hierbei wird der Frage nachgegangen, wie realistisch die Erwartungen der Bewerber/innen an die Entwicklungsmöglichkeiten sind. Tauchen hier zu große Diskrepanzen auf, ist dieser Abschnitt auch bei sonst gut geeigneten Personen nochmals vertiefend zu diskutieren. Sind die Wünsche und Vorstellungen zu unrealistisch, kann dies zur Nichteignung führen.
Phase 9: Abschluss Beim Gesprächsabschluss wird dem Bewerber nochmals die Möglichkeit gegeben, alle ihn interessierenden Fragen zu stellen. Ein PA-Verfahren ist ein zweiseitiger Prozess, bei dem auch die Bewerber feststellen können sollen, ob die angebotene Stelle für sie die richtige Position ist. Anschließend wird das weitere Prozedere erläutert.
8.2.2 Assessment Center Das Assessment-Center-Verfahren (AC) hat seinen Ursprung in einem in den 20er Jahren entwickelten Verfahren zur Auswahl von Offiziersanwärtern. Dieses Verfahren wurde mit weitgehend identischer methodischer und organisatorischer Grundkonzeption in den 40er Jahren über das britische Militär und den amerikanischen Geheimdienst bis hin zur amerikanischen Wirtschaft übernommen und weiterentwickelt. Die Methode bestand aus einem breiten Spektrum zum Teil heute noch in AC angewandter Untersuchungsverfahren (z. B. führerlose Gruppendiskussion). Das Verfahren gelangte in den 40er Jahren zur britischen Royal-Air-Force-Offiziersschule. In Großbritannien wurden zusätzlich intensivere Prüfungen der Gültigkeit und Zuverlässigkeit der eingesetzten Methoden vorgenommen. In den USA wurden die psychologischen Auswahlverfahren dann ab 1942 zur Rekrutierung geeigneter Geheimdienstagenten angewandt und erstmals mit dem Begriff Assessment-Center versehen. In der Wirtschaft wurde das Verfahren erstmals Ende der 50er Jahre bei der Fa. AT&T durchgeführt. Der richtige Durchbruch der AC-Anwendung folgte dann erst in den 70er Jahren.
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Merkmale und Ziele eines Assessment-Centers Vor Beginn eines AC muss ein Merkmalskatalog erarbeitet werden, in dem die für die jeweilige zu besetzende Stelle wichtigsten Anforderungen zusammengefasst sind. (Dies gilt analog auch für alle anderen Auswahlverfahren) Die im AC angewandten Übungen, Simulationen, Tests müssen gewährleisten, dass in ihrem Verlauf alle in der Anforderungsanalyse identifizierten Kriterien möglichst mehrfach in verschiedenen Situationen beobachtet werden können. Die Übungen, Simulationen und Tests sind zum Teil so aufgebaut, dass in ihnen zukünftige Arbeitssituationen bezogen auf die zu besetzende Stelle dargestellt werden. Im Rahmen eines AC werden mehrere Bewerber (max. 12) von mehreren Beobachtern beobachtet. Die Beobachter nehmen jeden Teilnehmer mindestens einmal im Verlauf des Programms unter die Lupe und beurteilen diesen. Am Ende eines AC-Verfahrens wird im Rahmen einer Beobachterkonferenz das Ergebnis aus den Beobachtungen und den messbaren Übungsleistungen ermittelt und festgestellt. Primäres Ziel eines AC ist es eine größere Sicherheit für eine sachgerechte Auswahl von Führungskräften zu erreichen. Daneben kann ein AC auch für Personalentwicklungsmaßnahmen eingesetzt werden. Das AC ist ein stark verhaltensorientiertes Verfahren dem die Fähigkeit zugeschrieben wird, die geeigneten Personen mit den für die jeweilige Stelle geforderten Eigenschaften zu finden.
Bestandteile eines Assessment-Centers Die hier aufgeführten Übungen sind typische Bestandteile eines AC’s. Hierbei handelt es sich nicht um eine abgeschlossene Aufzählung, da jedes AC in seinen Anforderungen auf die jeweils zu besetzende Stelle zugeschnitten wird/ist: • Vorstellungsrunde • Postkorb-Übung • Präsentation und/oder Kurzvortrag • Gruppendiskussion 181
• Rollenspiel • Einzelinterview • Psychologische Testverfahren • Feedback-Gespräch Die Bestandteile im Einzelnen: Vorstellungsrunde Ein Assessment-Center beginnt immer mit einer Vorstellungsrunde. Die Einzelvorstellung gehört zu den Standardübungen des Assessment-Centers. Sie wird entweder anhand eines Steckbriefs oder ganz frei durchgeführt. Jeder Kandidat hat etwa zehn Minuten Zeit, sich selbst darzustellen. Folgendes kann angesprochen werden: • Name, Alter, Wohnort • Lieblingsfächer in der Schule • Interessen und Hobbys • Erfahrungen in der Berufswelt (Praktika, Jobs, feste Arbeitsplätze) Auch über folgende Fragen sollte man sich im Vorfeld des AC bereits Gedanken gemacht haben:
• "Warum interessieren Sie sich für diese Tätigkeit?" • "Wie haben Sie sich über die Ausbildungsstelle/das Studium/den Job informiert?" • "Warum glauben Sie, dass Sie für diese Tätigkeit geeignet sind?" • "In Bezug auf meine Ausbildung/mein Studium/mein Job ist mir wichtig, dass ..., weil ..." • "Für die nächsten 5 Jahre stelle ich mir vor, dass.." • "Wie kamen Sie auf das Unternehmen/diese Universität?" Postkorb-Übung Bei der sogenannten Postkorb-Übung schlüpfen die Bewerber in die Rolle eines unter Zeitdruck stehenden Managers, der in kürzester Zeit seinen aufgelaufenen und aus diversen Notizzetteln und Kurzmitteilungen bestehenden Postkorbs abarbeiten muss. Bis zu 20 Schriftstücke sollen die Bewerber innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens bearbeiten. Gelegentlich werden während der Bearbeitungszeit auch noch Störungen wie z. B. ein klingelndes Telefon eingebaut. 182
Die Schwierigkeit besteht immer darin, dass man kaum Zeit dafür hat, alle Aufgaben selbst zu erledigen und daher einen Zeitplan nach Prioritäten erstellen muss. Für die Beurteilung ist wichtig: Kann jemand wichtiges von unwichtigem unterscheiden? Ist der zukünftige Mitarbeiter in der Lage zu delegieren, zu organisieren? Wie steht es mit seiner Flexibilität/Kreativität? Hat er gelernt, mit Belastungen und Zeitdruck zurecht zu kommen? Im Gegensatz zu anderen AC-Verfahren, wie z. B. die Gruppendiskussion, hängt die Leistung eines Teilnehmers nicht von den anderen Teilnehmern ab. Darüber hinaus eröffnet die Postkorbübung die Perspektive einer objektiven, beobachterunabhängigen Auswertung und Interpretation der Leistung von AC-Teilnehmern.
Präsentation und/oder Kurzvortrag Präsentationen und Kurzvorträge sind typische Testaufgaben des klassischen AC. Die Teilnehmer sollen einen Kurzvortrag vor Publikum zu einem vorgegebenen Thema halten. Zuhörer sind meistens die AC-Beobachter, manchmal auch die Mitbewerber. Das Thema wird entweder in Form einer Fallstudie mit ausführlichen Hintergrundinformationen oder durch ein einfaches Stichwort (z. B. Ökosteuer) vorgegeben. Die Aufgabe der Teilnehmer ist es nun, das Thema in der zur Verfügung stehenden Zeit inhaltlich zu erfassen und den Zuhörern in einem interessanten, rhetorisch gelungenen Vortrag zu präsentieren. Mögliche Präsentationsformen für einen Kurzvortrag sind:
• Vortrag beinahe aus dem Stegreif, der nur einige Minuten dauern soll (Vorbereitungszeit 5-15 Minuten) • Ausführlicher Vortrag (auf den man sich bereits am Vortag in stundenlanger Lese- und Aktenarbeit vorbereiten muss) Bei beiden Vortragsarten kommt es darauf an, wie der Kandidat die Inhalte präsentiert; gefragt sind sprachliches Ausdrucksvermögen, rhetorische Geschicklichkeit, selbstsicheres Auftreten, gekonnte Strukturierung des Vortrags, persönliche Ausstrahlung und Überzeugungskraft.
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Gruppendiskussion Gruppendiskussionen sind ein fester Bestandteil von Assessment-Centern, die in verschiedenen Formen auftreten können. Eine Möglichkeit ist die Vorgabe oder die Auswahl eines betrieblichen oder allgemein-gesellschaftlichen Themas, von dem man annimmt, dass die Bewerber kontroverse Standpunkte austragen werden. Eine weitere Form der Gruppendiskussion kann ein "Planspiel" sein. Hierunter versteht man eine konkrete Aufgabenstellung bei der z. B. die Gruppe einen Ausschuss darstellt, der eine gemeinsame Lösung für die Umsetzung eines bestimmten Projekts unter Berücksichtigung verschiedener Aspekte erarbeiten muss und diese dem Gemeinderat vorstellen soll. Es besteht darüber hinaus die Form der Gruppendiskussion, in der jedem/r Teilnehmer/in zu einem vorgegebenen Thema eine Position bzw. ein Standpunkt zugeordnet wird, der im Verlauf der Diskussion vertreten werden soll. Dies ist sicherlich keine abschließende Aufzählung von Gruppendiskussionsformen. Bei diesen Übungen kommt es weniger auf die sachlichen Inhalte der Beiträge an, als auf die Art und Weise wie sie vorgebracht werden. Also, wer setzt sich wie und mit welchen Argumenten durch; wer übernimmt eine Führungs- oder Moderatorenrolle; wer ist besonders konstruktiv im Hinblick auf eine gemeinsame Lösung.
Rollenspiel Bei der Übung des Rollenspiels handelt es sich in der Regel um ein simuliertes Gespräch zwischen einem Bewerber und einem Beobachter. Das Gespräch soll dabei ein typisches Mitarbeiter- oder Kundengespräch abbilden. Üblicherweise sind dies Konfliktgespräche, bei dem der Bewerber insbesondere daraufhin beobachtet wird, wie er die Gegensätze und Konflikte transparent macht und Ideen bzw. Initiativen zur ausgleichenden und konstruktiven Konfliktbewältigung entwickelt. Einzelinterview Auch innerhalb eines AC werden Einzelinterviews durchgeführt. Für diese gelten dann die gleichen Kriterien wie für die Interviewmethode im Allgemeinen.
Psychologische Testverfahren Häufiger Bestandteil von Assessment-Center sind auch verschiedene Persönlichkeits-, Intelligenz und Leistungstest. (S. Tests) 184
Feedback-Gespräch Beim Feedback-Gespräch erfahren die Bewerber im Einzelgespräch mit einem Beobachter wie sie bei dem Assessment-Center abgeschnitten haben, wo sie aus Sicht der Beobachter stehen und welche Entwicklungsmöglichkeiten sich nun ergeben. Jeder Bewerber muss ein Feedback-Gespräch angeboten bekommen.
Die typischen Eignungsmerkmale der Bestandteile eines AC Durch alle Übungen zieht sich wie ein roter Faden die Bewertung des einzelnen Bewerbers hinsichtlich des Erscheinungsbildes, der Selbstdarstellung sowie die Umgangsformen im Kontakt mit anderen. In den verschiedenen Übungen werden jeweils zwei bis drei der folgenden Kriterien zusätzlich beobachtet und bewertet: • Kooperationsbereitschaft • Konfliktfähigkeit • Flexibilität • Führungsverhalten • Kommunikationsfähigkeit • Rhetorikfähigkeit • Durchsetzungsvermögen • Ideenreichtum Es handelt sich bei diesen Kriterien im Wesentlichen um Dinge, die mit dem Begriff Schlüsselqualifikationen (SQ) beschrieben werden.
Einige Merkmale im Überblick: Die Kooperationsbereitschaft zählt zu den sozialen Kompetenzen. In einer Gruppensituation wird herausgefunden, ob der Bewerber ein Mensch ist, der sich auf Kosten anderer durchsetzt oder eher zurücksteckt oder den goldenen Mittelweg wählt. Als kooperationsbereit gilt, wer den gemeinsamen Erfolg mit anderen teilen kann. Hierbei verzichtet er auf Konkurrenzdenken, Machtinteresse und Rivalität. Die Konfliktfähigkeit (Streitkultur und Verhandlungsgeschick) zählt ebenfalls zu den sozialen Kompetenzen. Sie wird sowohl in den Gruppensituationen als auch im Einzelinterview getestet. Hierbei soll der Bewerber sich ausgewogen präsentieren. Zu wenig Konfliktfähigkeit lässt den Bewerber als Schwächling dastehen und zu viel Konfliktfähigkeit stuft ihn als Streithahn ein. 185
Die Flexibilität wird im Rahmen der Rollenspiele sowie den unternehmensbezogenen Aufgaben abgeprüft. Hierbei geht es um die Fähigkeit, alternative Lösungswege zu finden. Das Führungsverhalten des Bewerbers wird in den Gruppenarbeiten herausgefunden. Es wird darauf geachtet, ob er eine Führungsrolle übernehmen kann und wie er sie ausfüllt. Ergreift er die Initiative zur Durchführung eines Interessenausgleichs innerhalb der Gruppe, misst er den Arbeitsergebnissen mehr Bedeutung zu als dem Arbeitsprozess oder forciert er das zielorientierte Arbeiten in der Gruppe. Bei der Kommunikationsfähigkeit wird auf eine klare, verständliche Sprache geachtet, sowie auf eine flüssige Formulierung, auf eine akustisch gut verständliche Sprache und Stilsicherheit im Schriftlichen. Es geht hierbei also darum, wie ausgeprägt das mündliche und schriftliche Darstellungsvermögen des Bewerbers ist. Seine Rhetorikfähigkeit muss der Bewerber in der Gruppendiskussion, bei Rollenspielen und bei der Präsentation unter Beweis stellen. Hierbei wird auf die rhetorische Überzeugungskraft geachtet. Das Durchsetzungsvermögen wird insbesondere in den Gruppenaufgaben überprüft. Der Bewerber soll seine Ziele nicht aus den Augen verlieren, seinen Standpunkt auch gegen Widerstand durchsetzen, sich der Konkurrenzsituation stellen und sein Vorgehen stark zielorientiert ausrichten. Unter Ideenreichtum wird das Vermögen verstanden, kreativ und offen an Problemlösungen heranzugehen und die Fähigkeit zu konzeptionellem Denken zu besitzen. Unter konzeptionellem Denken wird die Fähigkeit verstanden, Problemstrategien zu entwickeln.
Ablauf eines Assessment-Centers In der Regel lässt sich ein AC in drei Abschnitte unterteilen:
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1. Vorbereitung
2. Durchführung
Festlegung der Ziele und der Zielgruppen Auswahl der Beobachter
Training der Beobachter
Definition des Anforderungsprofils ggf. mit Beobachter Zusammenstellen der Übungen mit Bezug auf Anforderungen Information der Teilnehmer, und organisatorische Vorbereitung
3. Abschluss und Feedback
Abstimmen der Auswertungen Empfang der Teilnehmer Anfertigen der Gutachten, Ziel und Ablauf des Empfehlung von FörderProgramms erläutern maßnahmen Bearbeiten der Übungen Endabstimmung / und Unterlagen durch Teil- Endauswahl nehmer Beobachten der Leistungen Teilnehmer über Ergebnisse durch Beobachter informieren Auswertungen der Beobachtungen
Vereinbaren von Förder-/ Entwicklungsmaßnahmen
Beurteilung der Assessment-Center-Technik Der Aufwand und die Kosten eines AC’s werden durch die subjektiven Fehleinschätzungen bei der Mitarbeiterauswahl durch herkömmliche Auswahlverfahren (z. B. Auswertung von Bewerbungsunterlagen, Vorstellungsgesprächen usw.) gerechtfertigt. Man muss sich jedoch vergegenwärtigen, dass diese Rechtfertigung wohl nur bei der Auswahl von geeigneten Führungskräften begründet ist, da Fehlentscheidung auf dieser Ebene mit hohen Kosten verbunden sein könnten. Das AC-Verfahren ist im Vergleich zu anderen Auswahlverfahren das wohl objektivste und zur Auswahl von Führungskräften geeignetste Mittel der Personalauswahl. Gleichwohl wird es in jüngster Zeit immer stärker durch die 360°-Feedback-Verfahren abgelöst, da diese Verfahren ökonomischer und mit einem größeren Praxisbezug ausgestattet sind. In SPIEGEL-ONLINE war am 08.11.2009 folgender Beitrag zum Assessment Center zu finden.
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Kasten 8.1
Assessment-Center Bewerbungsspiele für die Putzfrau Als Alternative zum reinen Vorstellungsgespräch stehen Assessment-Center hoch im Kurs. Personalchefs vertrauen oft darauf, es ist das Nadelöhr, durch das Bewerber für viele Stellen müssen. Doch das Verfahren hat seine Tücken – mit ein paar Rollenspielchen ist es nicht getan. Ein halbstündiges Gespräch mit einem Bewerber oder das eintägige Assessment-Center, kurz AC, mit mehreren Kandidaten – da entscheiden sich zahllose Unternehmen für den Intensivtest, weil sie ihn für deutlich aussagekräftiger halten. "Populär sind Assessment-Center in Deutschland seit den achtziger Jahren", sagt Alexander Böhne von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) in Berlin. Dabei werden Bewerber entweder in der Gruppe beobachtet oder einzeln getestet. "Das Gruppen-AC ist immer noch viel häufiger", sagt Böhne. Schließlich sei die Organisation mit einigem Aufwand verbunden. "Ein AC dauert in der Regel einen Tag, manchmal sogar zwei. Für einen Zehn-Mann-Betrieb kommt das eher nicht in Frage." Längst werden nicht mehr nur Führungskräfte auf diesem Weg ausgewählt. "Es gibt sogar Mini-ACs für Azubis, Putzfrauen und Zimmermädchen", sagt Jürgen Hesse, Karriereberater in Berlin. "In dem Fall dauert das Ganze dann vielleicht eine halbe Stunde." Die Pluspunkte eines guten Assessment-Centers sieht Alexander Böhne vor allem darin, dass die Aufgaben praxisnah sind – beispielsweise muss der Bewerber ein Kunden- oder ein Personalgespräch führen. Das sei aussagekräftiger, als wenn Bewerber nur Testbögen ausfüllen und sich in einem kurzen Bewerbungsgespräch präsentieren. Häufig beauftragen Unternehmen eine Personalberatung damit, das AC zu organisieren. "Zu den Beobachtern, die den Bewerber bewerten, gehört aber in der Regel auch jemand aus der eigenen Personalabteilung", erklärt Böhne. Bei der anschließenden "Beobachterkonferenz" tauschen sich die Teilnehmer über ihre Eindrücke aus und besprechen ihre Bewertungen. Das hat den Vorteil, dass nicht eine Einzelmeinung entscheidet – und nicht einfach Sympathie den Ausschlag gibt.
"Zu oft belang- und anspruchslose Tests" Damit ein AC aussagekräftige Ergebnisse liefert, müssten allerdings verschiedene Datenquellen genutzt und verknüpft werden, betont Heinz Schuler, Professor an der Universität Hohenheim. Und das sei oft nicht der Fall, kritisiert der Experte für Personalpsychologie. "Viele Einzelstudien zeigen, dass AC-Prognosen in den vergangenen 20 Jahren schlechter ge188
worden sind." Mit der Popularisierung des Verfahrens seien die dafür geltenden Regeln häufig verwässert worden: "Oft gibt es gar keine echten Arbeitsproben mehr, sondern nur noch arbeitsprobenartige Simulationen." Denn ein AC sei eine aufwendige Angelegenheit. Oft sparten die Auftraggeber daran. "Da kann sich dann jeder Praktikant ein Rollenspielchen ausdenken", sagt Schuler. Häufig gebe es belanglose Tests, die mit wissenschaftlichem Anspruch nichts zu tun haben. Und auch als Beobachter würden oft diagnostische Laien eingesetzt. "Ein gutes AC liefert eine gute Entscheidungsgrundlage", meint Schuler. "Aber gute Bewerberinterviews sind besser als durchschnittliche Assessment-Center." Schuler hat aber auch prinzipielle Bedenken: Beim AC werde die Entscheidung für oder gegen einen Bewerber stark von punktuellen Eindrücken beeinflusst, die Beobachter von ihm bekommen. "Menschen finden das, was sie selbst gesehen haben, wichtiger als objektive Daten. Einzelne Beobachtungen werden zu wichtig genommen", so der Psychologe. Das könne das Bild verzerren, das sich beim AC ergibt.
Die Prüfstand-Situation ist Bewerbern sehr bewusst Die anfängliche Begeisterung für das Assessment-Center als Allzweckwaffe der Personalauswahl gebe es heute deshalb so nicht mehr, bestätigt Alexander Böhne von der BDA. Hinzu kommt nach Beobachtung von Jürgen Hesse, dass viele Bewerber sich inzwischen intensiv vorbereiten – Schauspielerei inklusive. Sie haben möglicherweise die Bewerbungsratgeber von Hesse und anderen gelesen, ihnen ist die Prüfstand-Situation sehr bewusst, sie kennen die Erwartungen. Darauf haben die Psychologen wiederum längst reagiert. "Beide Seiten rüsten auf", sagt Hesse. "Manche Bewerber tauschen sich vorher über Twitter oder Facebook aus, was sie bei den Unternehmen erwartet", erzählt Alexander Böhne. Eine Vorbereitung aufs AC sei generell auch zu empfehlen. In jedem Fall lohne es sich zu fragen, was dabei geplant ist. "Einige Unternehmen halten sich da bedeckt, andere kommunizieren das ganz offen." Trotz allen ausgeklügelten psychologischen Methoden liefert das AC also nicht automatisch hieb- und stichfeste Entscheidungshilfen. "Manchmal entscheiden sich die Beobachter schlicht für den Falschen", räumt Jürgen Hesse ein. Kein Grund also für abgelehnte Bewerber, den Kopf hängen zu lassen: "Es kommt immer wieder vor, dass jemand beim ersten AC durchfällt, beim zweiten schon weit vorn landet und beim nächsten Mal die Stelle kriegt." Zudem ist das AC fast nie die erste Hürde, sondern der Test jener JobInteressenten, die für die Stelle wirklich in Frage kommen. "Nur der kleinste 189
Teil der Bewerber kommt so weit", sagt Alexander Böhne. Wer auf den letzten Metern scheitert, war also vorher schon ziemlich erfolgreich.
Von Andreas Heimann, dpa URL: http://www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/0,1518,659896,00.html
8.2.3 Psychologische Tests Was ist ein psychologischer Test ? Obgleich es noch keine allgemein verbindliche Definition des Begriffes "Psychologischer Test" gibt, kann man folgende Merkmale als charakteristisch für Tests anführen: Danach ist ein "Test" eine Methode, die menschliches Verhalten so misst, dass ein kleiner Ausschnitt genügt, um Rückschlüsse auf das Gesamtverhalten des Menschen zu erlauben. Ein "psychologischer Test" ist ein standardisiertes, routinemäßig anwendbares Verfahren zur Messung individueller Verhaltensmerkmale, aus denen Schlüsse auf Eigenschaften der betreffenden Person oder ihr Verhalten in anderen Situationen gezogen werden können. Psychologische Tests können als unvollständige Experimente angesehen werden und erfassen mittels unterschiedlicher Methoden unterschiedliche Eigenschaften, beispielsweise Persönlichkeitseigenschaften, Leistungsfähigkeit, Intelligenz, Alkoholismusneigung etc. In der wissenschaftlich kontrollierten Eignungsdiagnostik sind sie die am häufigsten verwendeten Instrumente. In der Arbeitspsychologie wird von einem Test vor allem erwartet, dass er Vergleiche mit anderen Bewerbern ermöglicht und den zukünftigen Berufserfolg vorhersagen lässt.
Einsatzgebiete psychologischer Testverfahren Psychologische Tests kommen heutzutage bei einer Vielzahl von Entscheidungs-, Auswahl- oder Beratungssituationen zur Anwendung, z. B.: • Berufsberatungstest • Ausbildungseignungstest • Personalauswahl.
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Vor- und Nachteile psychologischer Testverfahren Bei einer sachkundigen Anwendung haben psychologische Testverfahren folgende Vorteile: • Die Ergebnisse sind objektiver als mit anderen Verfahren. • Die Ergebnisse sind genauer als mit anderen Verfahren. • Die Ergebnisse liegen quantitativ vergleichbar vor und können somit leichter ausgewertet werden. • Die Durchführung solcher Tests kann sehr kostengünstig gestaltet werden. • Durch den Einsatz von Tests wird gegebenenfalls ein störender zwischenmenschlicher Einfluss wie bei Bewerbungsgesprächen weitgehend ausgeschaltet. Dagegen stehen die Nachteile:
• Testverfahren werden von Entscheidungsträgern manchmal als unseriös angesehen und deshalb nicht akzeptiert. • Andererseits legen Entscheidungsträger manchmal aber auch zuviel Wert auf solche Testverfahren, dass den Ergebnissen ein zu hoher Stellenwert zukommt. • Für viele wichtige Kriterien der jeweiligen Eignungstests liegen noch keine geeigneten Verfahren vor. • Auch bei Bewerbern stoßen diese Testverfahren gelegentlich auf wenig Akzeptanz. • Oft enthalten Tests Kriterien, die für den Zweck des Tests völlig unbedeutend sind. • Gelegentlich mangelt es an einer professionellen Ausarbeitung solcher Tests oder sie sind veraltet. • Es fehlt manchmal die klare Trennung zwischen Privatsphäre und berufsrelevanten Charaktereigenschaften. • Tests sind trainierbar. • Der Zustand einer Person wird mit dem Ergebnis des Tests festgeschrieben, dadurch werden die Veränderungsmöglichkeiten der Person vernachlässigt.
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Psychologische Instrumente als Hilfe bei der Personalauswahl Gerade in wirtschaftlich und arbeitsmarktpolitisch problematischen Zeiten sind gute Mitarbeiter besonders wertvoll. Unternehmen können und müssen aus einem Angebotsüberhang von Bewerbern auswählen. Dabei ist die bestmögliche Übereinstimmung zwischen den Anforderungen einer zu besetzenden Stelle und den Fähigkeiten und Eigenschaften der Bewerber das erste Ziel. Je besser eine Person für eine ausgeschriebene Position geeignet ist, desto besser wird sie den Aufgaben gewachsen sein, wodurch sich Arbeitsmotivation und Effizienz steigern. Unternehmen profitieren wiederum von motivierten und effizienten Mitarbeitern durch höhere Qualität und minimierten Fluktuationen. Anhand der Stellenbeschreibung lassen sich die Qualifikationsmerkmale formulieren, die ein Bewerber idealer Weise mitbringen soll. Daraus lässt sich ein Anforderungsprofil ableiten. Durch die Vielzahl verschiedener Verfahren der psychologischen Eignungsdiagnostik können die relevanten Eigenschaften eines Bewerbers geprüft werden. Psychologische Testverfahren zur Personalauswahl werden von den Unternehmen meist als "Einstellungstestphase" zwischen die Auswertung der Bewerbungsunterlagen und dem Vorstellungsgespräch geschaltet. Diese Verfahrensweise ist als sinnvoll zu erachten, da man sich lediglich durch die Sichtung der Bewerbungsunterlagen und der Durchführung eines Vorstellungsgespräches nicht immer ein umfassendes Bild über die Eignung der einzelnen Kandidaten machen kann. Das Personalauswahlverfahren kann aus einem Intelligenz-Leistungstest und einem Persönlichkeitstestverfahren oder nur aus einer dieser beiden Komponenten bestehen. Es dient der Messung individueller Fertigkeiten und Verhaltensmerkmale, aus denen Schlüsse auf Eigenschaften des Bewerbers und auf sein Verhalten in anderen Situationen gezogen werden können. Die Einstellungstests lassen sich in zwei Gruppen unterteilen:
Leistungstests: Allgemeine Leistungstests: Verhaltensanteile, die in jeder Leistung des Menschen enthalten sind und sein gesamtes Tun formen, z. B. Intelligenz, Konzentration, Gedächtnis, Aufmerksamkeit usw. werden mit diesen Tests geprüft. Die Konzentrationsfähigkeit wird z. B. durch Tests kontrolliert, in denen die Getesteten einfache oder schwierige Aufgaben unter Zeitdruck lösen müssen (z. B. INKA).
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Lern- und Gedächtnisleistungen in einer Prüfsituation werden mit Tests erfasst, in denen der Proband sich z. B. Vokabeln, einen Stadtplan oder Telefonnummern einprägen muss, die nach verschiedenen Zeiträumen in unterschiedlichen Formen abgefragt werden.
Spezielle Leistungstests: Hier werden Verhaltensanteile, die zur Ausführung besonderer Anforderungen benötigt werden, abgefragt. Motorische Fähigkeiten wie das Finger- und Handgeschick können beispielsweise mit Drahtbiegeproben beurteilt werden, bei denen der Bewerber ein Stück Draht so formen muss, dass es möglichst exakt der gezeichneten Vorlage entspricht. Andere Verfahren messen sensorische Fähigkeiten, mechanisch-technisches Verständnis oder organisatorische Fähigkeiten (wie z. B. Schreibmaschinentest, Sortieraufgaben usw. für Büroberufe). Die Ergebnisse ergeben sich aus der Zahl der richtigen Lösungen durch die Lösungszeit oder durch die Qualität der Arbeit. Da in Leistungstests gezielt auf bestimmte berufsrelevante Kriterien eingegangen werden kann, eignet sich diese Testart sehr gut zur Ermittlung der beruflichen Eignung. Der Nachteil besteht jedoch darin, dass er kein vollständiges Bild der Begabungen eines Menschen vermitteln kann, sondern nur einen Ausschnitt zeigt. So werden z. B. soziale Fertigkeiten überhaupt nicht dabei beachtet, obwohl auch diese zum beruflichen Erfolg beitragen. Die bekannteste Untergruppe der Leistungstests sind die
Intelligenztests: Hierbei werden zum einen die operativen Fähigkeiten wie Bearbeitungsgeschwindigkeit, Ideenreichtum, Verarbeitungskapazität und Gedächtnis, zum anderen die inhaltsgebundenen Fähigkeiten wie z. B. sprachliches, rechnerisches oder formallogisches Denken, Kombinations-, Abstraktionsund Vorstellungsfähigkeit anhand unterschiedlicher Aufgaben geprüft, deren Ergebnisse sich dann in Form eines Leistungsprofils mit den individuellen Begabungsstärken und -schwächen als Gesamtwert interpretieren lassen. Die Ergebnisse in Untertests und die Gesamtwerte können in den "Intelligenzquotienten" umgerechnet werden. Dieser dient als statistisches Maß für den Vergleich der Leistung einer Person mit einer Bezugsgruppe, z. B. der gleichen Altersgruppe oder mit gleicher Berufsausbildung. Ein Intelligenztest, der jedoch nur die inhaltsgebundenen Fähigkeiten prüft, hat meist keinen konkreten Arbeitsplatzbezug mehr.
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Beispiele für Intelligenztests: • IST 2000 • APM • IBF 8.2.4 Arbeitsproben und ähnliche Verfahren Arbeitsproben haben eine lange Tradition in der Personalauswahl. So gibt es bereits seit langer Zeit beispielsweise Schreibtests für Schreibkräfte. Hiermit wird unmittelbar die Leistung der Bewerberinnen gemessen. Damit steht unmittelbar ein objektives Einstellungskriterium zur Verfügung. Leider ist es nicht immer möglich eindeutige Arbeitsproben zu entwickeln. Insbesondere bei hochkomplexen Tätigkeiten kann es schwierig werden, objektive Arbeitsproben zu entwickeln. Bei Tätigkeiten, die ein hohes Maß sozialer Kompetenz verlangen, hat sich in der letzten Zeit die Methode der critical incidents (kritische Ereignisse) bestens bewährt. Diese Methode, die auch bei vielen strukturierten Interviews Verwendung findet, wird folgendermaßen angewandt: Critical incidents werden für jede zu besetzende Stelle bzw. Stellengruppe neu konstruiert. Experten (z. B. Vorgesetzte) aus dem Bereich, in dem die Stelle besetzt werden soll, werden befragt, welche wichtigen Ereignisse/Situationen an dem jeweiligen Arbeitsplatz bewältigt werden müssen. In einem zweiten Schritt werden dann Mitarbeiter, die die gleichen oder ähnliche Tätigkeiten verrichten danach befragt, wie sie sich in den geschilderten Situationen verhalten würden. Diese Antworten werden anschließend mittels einer 5-stufigen Skala (gut – schlecht) bewertet. Im Rahmen des Einstellungsprozesses, z. B. während eines Interviews, werden den Bewerbern/-innen dann einige dieser Situationen dargelegt und die Antworten der Bewerber/innen anschließend bewertet. Durch diese Vorgehensweise erhält man einen Eindruck von typischen Verhaltensweisen der Bewerber in kritischen Situationen.
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Beispiel für ein critical incident Critical incident für den gehobenen Verwaltungsdienst in einer Kommunalverwaltung: Stellen Sie sich vor, Sie sind Mitarbeiter/in in einem Amt mit Publikumsverkehr. Sprechzeiten sind von 08:00 - 12:00 Uhr. Anschließend machen Sie in der Regel Ihre Mittagspause. Nun ist es 11:45 Uhr und vor Ihrer Tür sitzen noch drei Bürger. Gleichzeitig erhalten Sie einen Anruf von Ihrem Vorgesetzten, der Sie um 12:10 Uhr sprechen möchte. Aufgrund Ihrer Erfahrung wissen Sie, dass Sie pro Gespräch mit einem Bürger ca. 20 Minuten einplanen müssen. Wie verhalten Sie sich? Während eines strukturierten Interviews können ca. 4 - 5 dieser Fragen an die Bewerber gerichtet werden. Dadurch erhält man guten Aufschluss über allgemeine Verhaltenstendenzen der Bewerber/innen. Auch innerhalb eines AC können critical incidents eingesetzt werden. Zusätzliche Informationen über die Bewerber/innen kann man dadurch erhalten, dass man sich die jeweiligen Antworten begründen lässt.
8.2.5 Biografische Fragebögen Der Biografische Fragebogen ist ein Instrument der Personalauswahl, der insb. in angelsächsischen Ländern (USA, GB) bereits in den 70er Jahren eine große Bedeutung erlangt hatte. In Deutschland sind biografische Fragebögen nach wie vor eher selten anzutreffen. Dies gilt allerdings nicht für eine spezielle Form des biografischen Fragebogens, die gerade im Öffentlichen Dienst angewandt wird: der Personalfragebogen. Leider muss man aber feststellen, dass der Personalfragebogen oft nicht mit dem notwendigen inhaltlichen Bezug zur Stelle konzipiert wird. Damit wird die Chance zur Generierung zusätzlicher Daten über die Bewerber oftmals ungenutzt gelassen. Insgesamt gesehen sind biografische Fragebögen eine ernst zu nehmende Alternative bei der Personalauswahl und werden auch bei der DIN 33430 ausdrücklich genannt. 195
Die Biografischen Fragebögen fußen auf der Idee des Vergleichs biografischer Merkmale von erfolgreichen Stelleninhabern und den biografischen Merkmalen von Bewerbern. Unter den Bewerbern werden im Sinne eines Analogieschlusses die Personen favorisiert, die über gleiche oder ähnliche Merkmale wie die erfolgreichen Stelleninhaber verfügen. Vorteile des biografischen Fragebogens sind dann anzutreffen, wenn die Leistungen der Bewerber sehr ähnlich oder gar identisch sind. In diesem Falle führt die Durchführung von psychologischen Tests in der Regel nicht zum Ziel.
Fragebereiche von biografischen Fragebögen Biografische Fragebögen umfassen in der Regel Fragen aus den Bereichen: • Schule (Leistung, Fachpräferenzen, Aktivitäten, Erleben)
a) niedriger Schulabschluss b) kein weiterer Schulbesuch c) kein Schuljahr wiederholt • Berufswahlverhalten und -motive
a) Ausbildungsinformation durch Arbeitsamt b) mit Eltern selten über Berufswahl gesprochen c) Ausbildungsinformationen durch Freunde • Freizeitverhalten
a) Freizeitbeschäftigung eher alleine b) in der Freizeit immer mit Freunden zusammen c) Vereinsmitgliedschaften • Interessen
a) wenige Bücher gelesen b) das meiste vom eigenen Geld wird gespart • Familie
a) Beruf der Mutter qualifiziert b) Eltern gewähren Freizügigkeit c) Eltern haben bei der Berufswahl beraten • Soziale Aktivitäten
a) gerne bei geselligen Veranstaltungen b) keine Ämter in der Schule c) Amt in Verein oder Jugendgruppe 196
• Selbstbild
a) Einschätzung der Schulzeit als nicht erfolgreich b) Überzeugungsversuche bei Diskussionen c) unzufrieden mit den Schulleistungen • Attributionsstil
a) Ärger mit Lehrern wegen schlechter persönlicher Beziehung b) Einschätzung der Schulzeit als nicht erfolgreich Aus dieser Aufzählung wird deutlich, dass biografische Fragebögen umfangreiche Instrumente darstellen, die mehr als 200 Fragen umfassen können.
Beispiele für Items aus biografischen Fragebögen Beispiel 1: Wie viele Reden, Vorträge etc. haben Sie in Ihrem Leben schon gehalten? 5 und weniger ca. 10 ca. 20 ca. 50 wesentlich mehr als 50
Beispiel 2: Haben Sie jemals eine Arbeitsstelle durch Kündigung seitens Ihres Arbeitgebers verloren? ja nein, allerdings selbst zuvorgekommen nein, nie nein, ... bestes Einvernehmen/ohne Probleme Diese Items sind überdies sehr gut geeignet, auch in Personalfragebögen oder Bewerbungsbögen Verwendung zu finden. Es werden international und im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von unterschiedlichen Instrumenten angeboten (z. B. "Personal History Index" von BAEHR et al, 1965), die für den spezifischen Einsatz aktualisiert und ergänzt werden müssen.
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8.2.6 Berufsbezogene Persönlichkeitsfragebögen Obgleich berufsbezogene Persönlichkeitsfragebögen auch in der DIN 33430 ausdrücklich angesprochen werden und es auch eine Reihe von Instrumenten auf dem Markt gibt (z. B. EPPS (Edwards Personal Preference Schedule) oder das deutschsprachige CPI (California Personality Inventory)) werden diese Verfahren zunehmend seltener eingesetzt. Oftmals mangelt es an dem klaren Bezug zu der jeweils zu besetzenden Stelle. Darüber hinaus trifft es zwar zu, dass beispielsweise ein/e extravertierte/r Bewerber/in für eine Stelle mit Publikumsverkehr besser geeignet sein kann als eine Person, die eher introvertiert ist; dies sollte jedoch nicht dazu führen, dass die Persönlichkeit der Personen einen zu hohen Einfluss auf die Auswahlentscheidung haben sollte. Auch introvertierte Personen können, bei entsprechendem Training hervorragend diesen Tätigkeiten nachgehen. Auf der anderen Seite werden allerdings im Bereich der Führungskräfteentwicklung zunehmend Verfahren eingesetzt, die nicht nur Leistungsaspekte erfassen, sondern darüber hinaus auch Aspekte der Teamorientierung oder anderer Schlüsselqualifikationen. Diese Verfahren haben aber einen stark verhaltensbezogenen Ansatz und sollen Hinweise liefern, welche Fortbildungen Führungspersonen benötigen, um sich weiterzuentwickeln. Bei diesen Verfahren handelt es sich um sogenannte
• 360°-Beurteilungs- und Entwicklungssysteme für Führungskräfte und die
• q-sort Technik. Beide Verfahren sollen kurz dargestellt werden.
360°-Beurteilungs- und Entwicklungssysteme für Führungskräfte 360°-Beurteilungssysteme gibt es im deutschsprachigen Raum seit etwa 1996. Seither haben sie sich in allen Bereichen der Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes bewährt. Diese Systeme begründen sich ausschließlich auf konkrete Verhaltensweisen. Gemeinsames Ziel dieser Verfahren ist das Erkennen von Führungsschwächen und die anschließende Beseitigung der Schwächen. Die Führungskräfte sollen sich hierbei neue, verbesserte Verhaltensweisen erarbeiten und in der Praxis anwenden. 198
Hierbei wird folgendermaßen vorgegangen: Es werden Mitarbeiter/innen, mindestens ein Vorgesetzter, andere relevante Personen aus dem Umfeld der Führungskraft (z. B. Kollegen, Kunden) und die Führungskraft selbst zum Führungsverhalten befragt (Fragebogenmethode). Man erhält auf diese Weise mannigfache Informationen über das Verhalten der zu untersuchenden Führungskraft und kann detailliert auf Schwächen und Stärken eingehen. Insgesamt werden Verhaltensweisen aus drei Bereichen berücksichtigt:
• Arbeitserledigung als solche • Führen einer Arbeitsgruppe • Selbstorganisation und Beziehung zu anderen Jeder dieser drei Bereiche wird mit mehreren Dimensionen erfasst. So besteht ein 360°-Beurteilungssystem in der Regel aus bis zu 150 einzelnen Verhaltensweisen, die sich in bis zu 24 Verhaltensdimensionen aufgliedern können. Die Ergebnisse der Befragungen werden mit den betroffenen Führungspersonen ausführlich besprochen. Die Vorteile dieses Vorgehens liegen auf der Hand: Der Erfolg von Personalentwicklungsmaßnahmen wird kontrollierbar. Darüber hinaus wird der Vielfältigkeit der Menschen Rechnung getragen und akzeptiert, dass es viele individuelle Wege des Führens gibt, die zum Ziel führen können.
q-sort Technik Die q-sort Technik geht von der Überlegung aus, dass Stärken und Schwächen von Personen "normalverteilt" sind. Das bedeutet, dass es jeweils nur wenige Verhaltensaspekte gibt, die eine Person besonders gut beherrscht und auch nur wenige Aspekte bei denen sie sehr große Schwierigkeiten hat, aber die überwiegende Zahl der Verhaltensaspekte durchschnittlich ausgeprägt sind. Die Vorgehensweise sieht so aus, dass eine große Anzahl von Verhaltensbeschreibungen in Kategorien verteilt werden müssen, wobei genau festgelegt ist, wie viele Verhaltensweisen in jeder Kategorie abgelegt werden dürfen. Damit kommt man zu einer individuellen Stärke-SchwächenAnalyse. Das Verfahren kann beispielsweise so aussehen: 199
60 Verhaltensweisen sollen in 9 Kategorien abgelegt werden, die Zahl der Verhaltensweisen pro Kategorie ist festgelegt: Kategorie:
1
2
3
4
5
6
7
Zahl d. Verh.weisen: 2 4 7 10 14 10 7 (Kategorie 1 bedeutet: Schwäche, Kategorie 9 bedeutet: Stärke
8
9
4
2
Damit erhält man ähnlich wie bei den 360°-Beurteilungssystemen eine individuelle Abschätzung von Stärken und Schwächen, hier allerdings mit dem Akzent der Selbstbeurteilung. Im Rahmen der Personalauswahl lässt sich die q-sort Technik beispielsweise so nutzen, indem man die Bewerber auffordert, sich dem Verfahren zu unterziehen und die individuellen Ergebnisse mit dem "q-sort" vergleicht, das optimal für die zu besetzende Stelle definiert wurde. Durch diese Vorgehensweise konnten bereits positive Erfahrungen in der Praxis gemacht werden.
8.3 Planung, Durchführung und Auswertung Anforderungsanalyse Die Anforderungsanalyse sollte die Merkmale eines Arbeitsplatzes oder einer Ausbildung, Fort- oder Weiterbildung ermitteln, die für den Erfolg und die Zufriedenheit bzw. das Commitment, besonders wichtig sind. Eine bereits vorhandene Stellenbeschreibung oder Ausbildungsordnung oder dergleichen kann hierbei bereits hilfreich sein. Übliche Aspekte, die bei einer Anforderungsanalyse berücksichtigt werden können, sind:
• Kognitive Fähigkeiten • Psychomotorik • Wahrnehmungs- und Sinnesleistungen • Interaktiver bzw. sozialer Bereich • Wissen und Fertigkeiten
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8.3.1 Informationen über den Arbeitsplatz Den Bewerbern/-innen sollten Informationen über den Arbeitsplatz gegeben werden. Teilweise geschieht dies bereits in manchen strukturierten Interviews. Je früher die Informationen gegeben werden, desto eher werden Bewerber/innen in die Lage versetzt zu erkennen, inwieweit eine angebotene Stelle ihren Neigungen und Wünschen entsprechen kann. Mit dieser Vorgehensweise wird darüber hinaus dem Gedanken Rechnung getragen, dass es sich bei Eignungsbeurteilungen um zweiseitige Prozesse handelt: Auch die Bewerber/innen sollten entscheiden können, ob eine angebotene Position die Richtige ist.
8.3.2 Vorauswahl Im eignungsdiagnostischen Prozess spielt die Vorauswahl eine wichtige Rolle. Durch die Vorauswahl sollen zu einem frühen Zeitpunkt die Personen identifiziert werden, die grundlegenden Anforderungen der Position nicht gewachsen sind. Deshalb soll die Vorauswahl von der Anforderungsanalyse abgeleitet sein. Darüber hinaus ist die Bedeutung der Vorauswahl abhängig von dem eingesetzten diagnostischen Verfahren, da mit der Festlegung der Auswahlmethode über die Zahl der Personen entschieden wird, die den eignungsdiagnostischen Prozess vollständig durchlaufen. So hat die Vorauswahl bei der Methode "Interview" eine größere Bedeutung, als beispielsweise bei den Methoden "Assessment Center" oder "Tests".
8.3.3 Untersuchungssituation Die Bewerber/innen sollten bereits bei der Einladung zu einem Auswahlverfahren darüber informiert werden, wie der Ablauf aussehen wird. Zu Beginn der Untersuchung sollten die Teilnehmer/innen eingehend über den Ablauf informiert werden. Hierbei sollten insbesondere die folgenden Punkte angesprochen werden:
• Ziele, Ablauf, Dauer und Funktion der Untersuchung • beteiligte Personen, deren Qualifikation und Funktion 201
• mögliche Folgen mangelnder Kooperation • Datenschutz Die Bewerber/innen sind über den Tagesablauf zu informieren, dabei sind Pausen einzuplanen, damit es nicht zu einer Überbeanspruchung der Teilnehmer kommt. Die Untersuchungsumgebung sollte angemessen räumlich und sächlich ausgestattet sein.
8.3.4 Gesetzliche Vorgaben Zulässige/unzulässige Fragen im Einstellungsgespräch
Zulässige Fragen • beruflicher Werdegang • vorheriges Gehalt • chronische Erkrankungen • Berufskrankheiten Unzulässige Fragen • Gewerkschaftszugehörigkeit • bevorstehende Heirat • Krankheiten allgemeiner Art • Religionszugehörigkeit • Parteizugehörigkeit • bestehende Schwangerschaft Darüber hinaus sind zu berücksichtigen: • Schweigepflicht • Datenschutzbestimmungen • Mitwirkungsrechte • Allgemeines Gleichstellungsgesetz (AGG) Der öffentliche Dienst hat zudem eine Reihe von zusätzlichen Rechtsgrundsätzen zu berücksichtigen.
202
8.4 Planung, Durchführung und Dokumentation In der Planung der Eignungsbeurteilung werden vorab alle Aspekte der Durchführung und Auswertung der zur Verwendung kommenden Verfahren festgelegt. Auch die Ergebnisvermittlung an die Bewerber/innen wird in diesem Stadium festgelegt. Im Einzelnen ist auf folgende Aspekte zu achten:
• Die Reihenfolge der Verfahren bzw. Verfahrensteile wird festgelegt. Von dieser Reihenfolge darf nur abgewichen werden, wenn den Bewerbern/ -innen daraus keine Vor- oder Nachteile erwachsen. • Es ist zu regeln, wie mit evtl. Nachfragen umgegangen wird. • Bei Verfahren, die auf Beobachtungen oder mündlich gewonnenen Daten beruhen, müssen den Beurteilungskategorien vorab Beispielverhaltensweisen bzw. Beispielaussagen zugeordnet werden. • Bei schriftlichen Aufgaben ist zu klären, wie mit nicht bearbeiteten Teilaufgaben umgegangen wird. • Die Objektivität der Durchführung der Verfahren muss gewährleistet sein. • Anweisungen bzw. Erläuterungen an die Bewerber/innen müssen verständlich, eindeutig und standardisiert erfolgen. • Wird von den vorab definierten Verfahrensweisen abgewichen, muss dies protokolliert werden. • Die Auswahl der Verfahren und das Vorgehen muss nachvollziehbar sein. Dokumentiert werden sollten in der Regel:
• die Instruktionen • Verfahrenselemente (z. B. Interviewleitfaden, Ratingskalen, Beurteilungsbögen) • Einstufungshilfen/Regeln für die Ableitung der Eignungsbeurteilung
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8.5 Auswertung, Interpretation, Urteilsbildung Die Auswertung richtet sich nach den zuvor festgelegten Vorschriften (Planung) bzw. nach den in den Testmanualen vorgeschriebenen Verfahrensregeln. Es dürfen nur Informationen zu anforderungsrelevanten Eignungsmerkmalen ausgewertet werden. Geben mehrere Beobachter ein Urteil ab, so sind das Gesamtergebnis und die Streubreite zu dokumentieren. Die Festlegung der Regeln zur Interpretation der Verfahrensergebnisse und zur abschließenden Beurteilung erfolgt durch den verantwortlichen Autor des eignungsdiagnostischen Verfahrens. Die individuellen Ausprägungen der interessierenden Merkmale sind im Blick auf die Referenzgruppe zu bewerten. Die Interpretation und die Eignungsbeurteilung müssen sich nach den Grundsätzen der Objektivität, sowie der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit in Bezug auf die Personen richten. Bei der Urteilsbildung ist darauf einzugehen, auf welche Verfahrensergebnisse sich die Eignungsbeurteilung stützt. In die Urteilsbildung gehen alle sachdienlichen Informationen, z. B. auch Informationen aus den Bewerbungsunterlagen, ein. Die Darstellung muss auch für Laien sprachlich verständlich sein. Werden Textbausteine bei der Befundinterpretation verwendet oder fußt der Befund auf ein computergestütztes Verfahren mit automatisierter Klassifikation ist dies gesondert mitzuteilen. Auch bei automatisierten Interpretationen trägt der Autor der eignungsdiagnostischen Prozedur die Verantwortung für die Richtigkeit des Befundes.
8.6 Qualitätskriterien und -standards 8.6.1 Verantwortlichkeiten beim Vorgehen Der Autor der eignungsdiagnostischen Prozedur ist in erster Linie der Verantwortliche für die Planung, Durchführung, Auswertung Interpretation und Dokumentation. Er hat die Fachaufsicht über andere, an der Auswahl beteiligte Personen. 204
Der Autor muss:
• die Verfahren zur Eignungsbeurteilung auswählen und zusammenstellen. • die Untersuchungssituation planen. • die Beurteilungsregeln festlegen. • die Interpretationsregeln festlegen. • aber: der Autor trifft nicht die Personalentscheidung! 8.6.2 Qualitätskriterien der eingesetzten Verfahren Es sollen nur die Verfahren eingesetzt werden, die nachweislich einen Bezug zu den Anforderungen haben. Dieser Bezug ist durch eine Anforderungsanalyse festzustellen. Bei der Auswahl der Verfahren sind nachfolgende Kriterien zu beachten. Darüber hinaus sind auch die Besonderheiten der jeweiligen Eignungsbeurteilung zu berücksichtigen (z. B. Zahl der offenen Stellen und die Art und Qualifikation der Bewerber/innen):
• Objektivität • Reliabilität (Zuverlässigkeit) • Validität (Gültigkeit) • Normwerte • Soziale Validität 8.6.3 Qualifikationsanforderungen an die Durchführenden Je nach eingesetzter Methode sollten die an den Personalentscheidungen beteiligten Personen über grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten bei der Durchführung von Instrumenten der Personalauswahl verfügen. Diese grundlegenden Kenntnisse sind vom Autor der eignungsdiagnostischen Prozedur in geeigneter Weise zu vermitteln. Darüber hinaus sollte der Autor einer eignungsdiagnostischen Prozedur Kenntnisse über folgende Aspekte nachweisen (in Auszügen):
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Zur Anforderungsanalyse • Kenntnisse der Arbeits- und Anforderungsanalyse
• Kenntnisse über Methoden zur Operationalisierung von Eignungsmerkmalen Zum Verfahren • Grundkenntnisse über Verfahren der Eignungsbeurteilung
• statistisch-methodische Grundlagen • Testtheorien • Evaluationsmethodik • Konstruktgrundlagen • Einsatzmöglichkeiten • Durchführungsbedingungen • Gütekriterien • Gutachtenerstellung Zur Eignungsbeurteilung
• Kenntnisse der Vorgehensweisen in der Eignungsbeurteilung • Kenntnisse über verschiedene Strategien der Eignungsbeurteilung • Abschätzung der Prognosegüte • Kenntnisse der Ergebnisse einschlägiger Evaluationsstudien
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Kasten 8.2
Das Arbeitszeugnis Das Arbeitszeugnis stellt im Rahmen der Personalauswahl eine wichtige Informationsquelle dar (Analyse der Bewerbungsunterlagen). Die Kenntnis der sog. Zeugnissprache kann damit von großer Wichtigkeit sein. Die nachfolgenden Hinweise zur Zeugnisgestaltung und Zeugnissprache sollen einige Beispiele für die Interpretation von Zeugnissen geben.
Die Positiv-Skala-Technik Eine Beurteilung muss wohlwollend sein! Es kommt deshalb darauf an, in welchem Maße ein Mitarbeiter gelobt wird. sehr gut stets zu unserer vollsten Zufriedenheit gut stets zu unserer vollen Zufriedenheit befriedigend zu unserer vollen Zufriedenheit ausreichend (stets) zu unserer Zufriedenheit mangelhaft insgesamt zu unserer Zufriedenheit Eine Stufung erfolgt durch Variation des Zufriedenheitsgrades (vollsten Zufriedenheit) sowie durch den Zeitfaktor (stets). Die Leerstellen-Technik Statt einer Negativ-Aussage macht man keine Aussage! Dabei ist die Pflicht zur Vollständigkeit zu beachten. Ein Grenzfall der Leerstellen-Technik stellt das Einfache Zeugnis dar. Folgende Zeugniskomponenten können fehlen: Sozialverhalten gut, Leistungsbeurteilung fehlt und vice versa, Schlussformel fehlt. Aussagen von zentraler Bedeutung fehlen (z. B. zur Kreativität bei Werbetextern, zur Zuverlässigkeit oder Diskretion insb. im Personalbereich, zur systematischen Arbeitsweise bei in der Forschung Tätigen, zur Führung von Mitarbeitern bei Führungskräften (wird aber oft vergessen, deshalb Vorsicht), die Schlussformel (besonders wichtiger Hinweis). Die Reihenfolge-Technik Unwichtiges wird vor Wichtigem geschildert! Zum Beispiel: "Er war für den Einkauf von Büromaterial, Werkzeugen und Investitionsgütern zuständig." Das Wort "insgesamt". Insgesamt waren wir mit den Leistungen zufrieden (= negativ). Die Ausweich-Technik Unwichtiges wird anstelle von Wichtigem hervorgehoben: "Er setzte sich für die Interessen/Belange der Firma ein." (Dies ist für einen Leitenden Angestellten eine Selbstverständlichkeit und muss nicht hervorgehoben werden.) Wenn bei einem Verkäufer die guten Verkaufsberichte hervor-
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gehoben werden, aber keine Aussagen zum Verkaufserfolg gemacht werden. Wenn einem Ingenieur gutes technisches Verständnis attestiert wird.
Die Einschränkungs-Technik Neben den vorgetragenen Beispielen: "Er engagierte sich auch in unserem Fachverband und galt dort (= nicht bei uns) als Fachmann." "Wir bescheinigen/bestätigen (= weil er es fordert) ihm (= niemandem sonst) ohne Bedenken (= aber nicht mit Überzeugung) ..." Negativ sind Anfangsverben: Aufgreifen, beginnen ... Positiv sind Abschlussverben: Erledigen, aufgebaut, entwickeln ... Die bereits beschriebenen Zeiteinschränkungen (stets) sind ebenfalls Bestandteil dieser Technik. Die Andeutungs-Technik Durch die Sprache nahe gelegte Mehrdeutigkeit werden in der Zeugnissprache fast immer negativ gemeint! "Sie hat sich im Rahmen ihrer Fähigkeiten (= geringe Fähigkeiten) eingesetzt." "Er hat seine Aufgaben in der heutzutage üblichen Art und Weise (= mit geringer Arbeitsmoral) erledigt. Das Wort "Gelegenheit" meint in der Regel ungenutzte Gelegenheit. Eine unklare Beendigungsinitiative des Arbeitsverhältnisses = arbeitgeberseitige Kündigung. "Wir wünschen Ihm für die Zukunft alles nur erdenklich Gute (= er hat es nötig)." "Gehäufte Passivierung" können darauf hindeuten, dass es sich um einen Mitarbeiter mit geringem Engagement handelt, der "geschehen lässt". Allerdings kann es auch ein altes Mitarbeiterverständnis (Mitarbeiter = Untergebener) widerspiegeln. Negativ besetzte Wörter der Alltagssprache (Tadel, Klage, ...) werden durch die Verneinung nicht aufgehoben/negiert. Ein Verhalten, das "nie zu Klagen Anlass gab", ist demzufolge auch kein lobenswertes Verhalten. Die Knappheits-Technik Sehr kurze Zeugnisse (unter ¾ Seite), die einzeilig geschrieben sind, signalisieren bei qualifizierten Mitarbeitern eine bewusste Abwertung. Problematisch ist ebenso zu sehen, wenn Aufgabenbeschreibung, Leistungsbeurteilung, ... nur aus einem Satz besteht. Eine Reduzierung der Aufgabenbeschreibung auf Hierarchieposition, Beruf, Ausbildung, Funktion, Abteilung muss der Arbeitnehmer nicht hinnehmen. Die Widerspruch-Technik Alarmierend ist die Tatsache, wenn z. B. eine sehr gute Leistungs- und Verhaltensbeurteilung ohne Dankes-Bedauern-Formel abschließt. Damit wird Kritik deutlich gemacht. Interessantes/Wichtiges und Uninteressantes/Unwichtiges über die Person/ Arbeiten werden in einem Satz erwähnt: "... Verzahnung und Optimierung von Produktion, Absatz und Bestand, 208
laufende Eingabe und Pflege der diversen Einzeldaten in verschiedene EDVSysteme (= umfangreiche Datentypisten-Arbeit)"
Fachsprache oder Geheimcode Eine Fachsprache ist notwendig, damit sich Sender und Empfänger (alter/ neuer Arbeitgeber) verstehen. Hoch normiert ist heute die allgemeine Leistungsbeurteilung mittels der beschriebenen Zufriedenheitsskala. Weniger normiert sind die Beurteilung des Sozialverhaltens und der Schlusssatz. Die Zeugnissprache ist kein Geheimcode! Sie ist allgemein zugänglich, aber den Betroffenen nicht ausreichend bekannt. Die Arbeitsgerichte haben viel zur Zeugnisgestaltung beigetragen im Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Wohlwollen.
8.7 Outplacement Sensu SEIWERT (1989) versteht man unter Outplacement, wie sich ein Unternehmen von einer Führungskraft trennt. Hierbei soll erreicht werden, dass die Trennung unter Einbeziehung eines Personalberaters einvernehmlich und ohne „Scherbenhaufen“ durchgeführt wird. Dem betroffenen Mitarbeiter soll dabei geholfen werden, einen neuen adäquaten Arbeitsplatz zu finden. Das kündigende Unternehmen soll damit einen sozial verantwortbaren Positionswechsel durchführen können. Damit soll eine ‚win-win’ Situation erreicht werden. Das Outplacement soll demnach beiden Parteien eine Trennung erleichtern. Das Outplacement wird aber nicht bei allen Positionsverlusten von Führungskräften eingesetzt. Wenn es sich um eine reguläre Kündigung handelt, z. B. bei einer Fusion zweier Unternehmen, wird auf das Outplacement oft verzichtet. Der Kündigungsgrund ist in diesem Fall nachvollziehbar. Ein Outplacement läuft in vier Phasen ab:
• Vorbereitung – der Berater verschafft sich einen Überblick über die Outplacement-Gründe und bereitet seine Maßnahmen vor. • Übermittlung der Nachricht – diese kann durch den Berater übermittelt werden; es ist aber auch möglich, dass der Berater Vertreter der Personalabteilung bei der Übermittlung unterstützt bzw. diese darauf vorbereitet. Das Überbringen der Nachricht kann eine ebenso große psychische Belastung darstellen, wie das Empfangen der Nachricht für den betroffenen MA.
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• Beratung – Während der Beratung wird der betroffene MA zunächst psychisch gestützt. Anschließend werden Maßnahmen ergriffen, die eine neue Position bei einem anderen Arbeitgeber möglich machen. Hierzu gehören Trainings zum Einstellungsinterview, die Durchführung von 360°-Feedbacks und weitere Trainingsprogramme. • Evaluation – Die Maßnahmen werden evaluiert indem der Erfolg der Maßnahmen aus der Beratungsphase kontrolliert und geprüft wird. Dies gelingt durch die Prüfung, ob und welche neue Position bei einem anderen Unternehmen besetzt werden konnte. Outplacement-Maßnahmen werden von den Betroffenen oft positiv bewertet und führen zu hohen Wiederbeschäftigungsquoten (45 % - 95 %). Für die Unternehmen besteht der Vorteil darin, dass die entlassenen MA nicht schlecht über ihr altes Unternehmen reden und damit dem Unternehmen Schaden zufügen. Aber es gibt auch gegenteilige Meinungen: Dass Outplacement-Maßnahmen nicht nur positiv gesehen werden, kann man an einer kontinuierlichen Befragung, die das Internet-Portal „Telenu.com“ in den USA durchführt, erkennen. Nach dem Stand vom 13.01.2010 bewerteten 88 % der entlassenen MA die Entlassungsmodalitäten als sehr negativ. 94 % haben zudem keine guten Erfahrungen mit Outplacement gemacht. 81 % der weiterhin Beschäftigten erschien ihre Arbeitsstelle nach der Entlassung vormaliger Kollegen als weniger sicher und die Arbeitsmoral von 74 % der noch Beschäftigten sank rapide. Allerdings beschrieben die 12 % der Entlassenen, die positive Erfahrungen mit der Entlassung machten, Outplacement-Maßnahmen als fair. Mittlerweile wird das Outplacement auch auf andere Beschäftigungsgruppen übertragen – damit wird die Wertschätzung für die Beschäftigten demonstriert. Ein Gruppenoutplacement ist bei homogenen Beschäftigungsgruppen möglich.
8.8 Perspektiven der Personalauswahl in den nächsten Jahren Aufgrund der demografischen Entwicklung in den kommenden Jahren ist damit zu rechnen, dass sich die Personalauswahl neuen Bedingungen stellen muss. Die Zahl der Bewerber für zu besetzende Stellen wird rückläufig sein. perfekt geeignete Bewerber – wenn es diese jemals gegeben haben sollte – werden nur noch äußerst selten zur Verfügung stehen. 210
Eine freie Stelle unter diesen Bedingungen nicht zu besetzen, kann keine vernünftige Alternative sein. Die folgenden Abbildungen vom Statistischen Bundesamt zeigen Aspekte dieser Entwicklung. Kasten 8.3 zeigt Schulabschlüsse von Absolventen allgemeinbildender Schulen im Jahr 2007. Es wird deutlich, dass Frauen und Mädchen im Durchschnitt über höher qualifizierte Abschlüsse verfügen als Männer und Jungen. Sollte sich an den Berufspräferenzen bei weiblichen Schulabgängern nichts ändern, wird es sehr bald zu strukturellen Problemen bei Besetzungen von Ausbildungsplätzen und Studienplätzen kommen. So wird bereits heute allgemein beklagt, dass zu wenige Schulabgänger ein Ingenieurstudium aufnehmen. Kasten 8.3
Allein diese Veränderung wird zu Konsequenzen bei der Personalauswahl – von bildungspolitischen Konsequenzen abgesehen – führen müssen. Darüber hinaus muss zudem ein deutlicher Bevölkerungsrückgang verkraftet werden. Für Stellenangebote stehen nicht genügend Stellensuchende zur Verfügung. Die Dramatik dieser Situation macht Kasten 8.4 deutlich. 211
Kasten 8.4
Der Kasten 8.4 zeigt, dass die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter in den kommenden Jahrzehnten stetig abnimmt. Diese Zahl sinkt sowohl absolut (aufgrund der sinkenden Bevölkerungszahl), als auch relativ (aufgrund des abnehmenden Anteils der Personen im erwerbsfähigen Alter. Es sei an dieser Stelle die Prognose gewagt, dass in den kommenden Jahren die Eignungsfeststellung in erster Linie dazu dienen wird zu erfassen, welche spezifischen Fertigkeiten Personen unmittelbar nach ihrer Einstellung vermittelt werden müssen, damit sie den Anforderungen einer Stelle ausreichend gerecht werden können. Intensive Einarbeitungsphasen werden in der Zukunft an der Tagesordnung sein.
212
9
Personalentwicklung
Eine mögliche Definition für den Begriff Organisationsentwicklung (OE) wird gemäß dem Handbuch für Führungstechnik und Organisation (Hrsg. von Franz, O., Stand v. 15.09.1994) folgendermaßen beschrieben:
"Im Ansatz der OE wird nicht versucht eine Struktur analytisch zu entwickeln und vorzugeben, sondern die Mitarbeiter in der Organisation selbst in die Lage zu versetzen, ihre Probleme zu erkennen und organisatorische Regelungen zu schaffen, die den Leistungserfordernissen der Unternehmung und den Bedürfnissen ihrer Mitarbeiter angemessen sind." Das bedeutet, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aufgefordert werden, diese Bedingungen selbst zu erkennen und zu entwickeln. Die Wege dorthin sind vielfältig und werden unterschiedlich diskutiert. Um nur einige Möglichkeiten zu nennen:
• Traditionell arbeiten sog. encounter groups (Begegnungsgruppen) der Mitarbeiter/innen auf dieses Ziel hin. • In Qualitätszirkeln sollen die Mitarbeiter/innen zusammenarbeiten um die OE voranzubringen. • Es können Zielvereinbarungen zwischen der Verwaltungsspitze und den Bediensteten getroffen werden, die dazu führen, dass gemeinschaftlich Verbesserungen erreicht werden. • Im Rahmen des Total Quality Managements (TQM) werden Ziele gemeinsam definiert, deren Erreichungsgrad messbar wird. Schwachstellen in der Organisation lassen sich somit leicht erkennen und ggf. beheben. Allen diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass dem einzelnen Mitarbeiter ein höheres Maß an Verantwortung für die Gesamtaufgabe zukommt, als dies bisher der Fall war. Dies führt jedoch zu Konsequenzen, die berücksichtigt werden müssen:
• Mehr Verantwortung bedeutet gleichzeitig höhere Anforderungen an Kenntnisse, Fertigkeiten und u. U. Fähigkeiten. • Es wird die Erwartung geäußert, dass mit zunehmender Verantwortung auch die Arbeitszufriedenheit und -motivation zunehmen werden, d. h. es wird implizit ein humanistischer Ansatz zur Arbeitsmotivation vertreten. Dabei wird zunächst unterstellt, dass die Mitarbeiter/innen
• mehr Verantwortung übernehmen wollen, 213
• fähig sind, mit diesem erhöhten Maß an Verantwortung umzugehen, • sich notwendige Zusatzqualifikationen durch übliche Fortbildungsveranstaltungen aneignen können. Zur Klärung dieser Sachverhalte ist es notwendig, neben der traditionellen Fortbildung weitere Möglichkeiten der Qualifizierung von Mitarbeitern/ innen vorzusehen. Ein Sammelbegriff für diese Möglichkeiten lässt sich in dem Begriff "Personalentwicklung" (PE) sehen.
9.1 Zum Begriff Personalentwicklung In einem weiten Sinne, der über eine enge Beschreibung der PE mit den Elementen
• Berufsausbildung • Umschulung • Führungsbildung • Fort- und Weiterbildung und der damit oftmals verbundenen mangelnden Systematik, der Angebotsorientierung und dem Auffüllen akut gewordener Qualifikationslücken hinausgeht, beinhaltet PE:
• Bildung • Förderung − − − − − −
Nachfolge- und Laufbahnpläne Einarbeitungspläne Leistungsbeurteilungen Mitarbeiter/innengespräche Coaching Förderung des Führungsnachwuchses
• Bedarfsanalyse von Bildung und Förderung • Erfolgskontrolle durchgeführter Maßnahmen
Personalentwicklung wird immer stärker systematisiert!
214
9.2 Gründe für Personalentwicklung Eine Zielbeschreibung sieht zunächst so aus, dass durch geeignete PEMaßnahmen die Leistungen der Mitarbeiter/innen und deren Zusammenarbeit verbessert werden sollen. In der sog. Privatwirtschaft werden mit PE-Maßnahmen folgende Ziele verknüpft:
• Das Unternehmen will effektiv und effizient bleiben; • Sehr gut qualifizierte Mitarbeiter/innen werden als "Investitionsgut" von großer Wichtigkeit gesehen; • PE dient der Motivation, Leistungserhaltung und -steigerung von Mitarbeiter/innen; • Fluktuation soll vermindert werden; • Innerbetrieblicher Aufstieg soll verbessert bzw. ermöglicht werden; • Imageverbesserungen des Unternehmens in der Öffentlichkeit und gegenüber dem Personal; • Im Rahmen der PE wird das Personal mit der Unternehmenskultur bekannt gemacht; darüber hinaus ist die Etablierung von PE ein Indikator für die Güte der Unternehmenskultur; • Bei der Förderung des Führungskräftenachwuchses durch PE-Maßnahmen wird dieser mit den betrieblich definierten Schlüsselqualifikationen bekannt gemacht und auf diese gleichsam eingeschworen. Für die öffentliche Verwaltung sind darüber hinaus folgende Gründe für PE zu nennen:
• Der Wandel der Verwaltung zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen erfordert besser gebildete und motivierte Mitarbeiter; • Schlechte Karrieremöglichkeiten und oftmals willkürlicher Einsatz von Mitarbeiter/innen führen zu mangelndem Engagement des Personals; • Bei den hoheitlichen Ordnungsaufgaben und gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen soll die Entwicklung in Richtung Bürgernähe gesteuert werden; • Das schlechte Image der öffentlichen Verwaltung lässt sich durch den Einsatz moderner Managementmethoden verbessern; • Das Schlagwort "Verwaltungsreform" ist in aller Munde: eine Verwaltungsreform ist ohne gleichzeitige OE und PE nicht vorstellbar. 215
Gründe für PE für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen • Für die individuelle Karriereplanung sind PE-Konzepte notwendige Voraussetzungen; • PE bietet Mitarbeitern/innen die Möglichkeit zur systematischen beruflichen und persönlichen Weiterentwicklung; • PE erfüllt den Anspruch von Mitarbeitern/innen demokratisch an dem Arbeitsprozess mitzuwirken und diesen gestalten zu können; • Der individuelle Arbeitsplatz wird sicherer; • Die Mitarbeiter/innen sehen eher einen Sinn in ihrer Tätigkeit, da sie die Verknüpfungen mit anderen Belangen besser kennen.
9.3 Methoden der Personalentwicklung Entwicklung der Karriere Entwicklung der Karriere hat Verbindungen zum Bereich "Entwicklung der MA". Deshalb gelten alle Aussagen aus diesem Bereich uneingeschränkt auch hier. Schlüsselbegriffe in diesem Bereich sind:
• Job rotation • Job enlargement • Job enrichment Job rotation bedeutet, dass jede/r MA verschiedene Aufgaben in der Organisation wahrnehmen sollte. Dies vergrößert die Kenntnisse und Fertigkeiten, erhöht die Arbeitszufriedenheit und stärkt das Commitment der MA. Job enlargement bedeutet, dass die MA mehr Elemente/Tätigkeiten bei einer Aufgabe durchführen. Sie handeln als ihre eigenen Vorgesetzten (Stichwort: Abflachung der Hierarchien) Job enrichment bedeutet den Wechsel einer Tätigkeit hin zu einer anspruchsvolleren/interessanten Tätigkeit.
Bewertung der Arbeitsleistung Eine wichtige Grundlage für individuelle Karriereschritte der Mitarbeiter (MA) stellen regelmäßige Leistungsbewertungen dar. Auch regelmäßige MA-Gespräche bilden hierzu eine wichtige Grundlage. 216
Ein wichtiger Grundsatz sollte hierbei sein, dass nur die MA, die um ihre Probleme wissen, diese langfristig beseitigen können. Wie diese Bewertungen aussehen, kann von Organisation zu Organisation verschieden sein. Wichtig ist, dass diese Bewertungen stattfinden. Die Bewertungen sind angemessen zu dokumentieren und zu besprechen.
Training Auf der Basis der Leistungsbewertungen sind individuelle Trainingsprogramme (im Sinne der Anpassungsfortbildung und Weiterbildung) zu entwickeln. Die Führungskraft hat Sorge zu tragen, dass diese Programme auch tatsächlich durchgeführt werden. Entsprechende Möglichkeiten für die MA sind zu eröffnen. Training „on the job“ ist die Basis für jede Art von Personal- und Karriereentwicklung. Personalauswahl, Training und Arbeitsplatzentwicklung gehen Hand in Hand.
9.4 Talent Management Zum ‚Talent Management’ zählen alle Instrumente der Personalarbeit die dazu dienen, alle Positionen in einer Organisation langfristig zu besetzen. Es ist entscheidend für Organisationen das Potenzial ihrer Mitarbeiter zu kennen um zu entscheiden, ob ausreichend Potenzial in der Organisation vorhanden ist oder ob neues Personal rekrutiert werden muss. Hierzu wurden verschieden Konzepte entwickelt, von denen ein Konzept (MICHAELS et al, 2001) ausführlicher dargestellt werden soll. Einer der Ausgangspunkte des Talent Managements stellt die demografische Situation dar, die zu einem größeren Wettbewerb um qualifizierte und talentierte Mitarbeiter führt (vergl. Kapitel 8.7). Darüber hinaus führt der Wandel der Anforderungen an Mitarbeiter dazu, dass handwerkliche Fertigkeiten eine immer geringere Bedeutung erfahren – stattdessen werden qualifizierte Mitarbeiter mit hohen sozialen Kompetenzen immer wichtiger.
217
9.4.1 Grundprinzipien des Talent Managements Ein Mangel an qualifiziertem Personal in der eigenen Organisation und auf dem Arbeitsmarkt zwingt dazu, Mitarbeiter verstärkt aktiv zu gewinnen. Eine passiv ausgerichtete Personalgewinnungsstrategie versagt zunehmend in der Zukunft. Stattdessen müssen vermehrt Ansätze aus dem Marketing und dem Vertrieb von der Personalgewinnung übernommen werden. Prinzipiell haben Organisationen zwei Möglichkeiten einen erkannten Mangel auszugleichen. Sie können versuchen vorhandenes Personal langfristig zu entwickeln oder aktiv neues Personal einzustellen und an die Organisation zu binden. Talent Management beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Zielgruppe der Fach- und Führungskräften und damit mit einer eher kleinen Gruppe von Mitarbeitern und Führungskräften.
9.4.2 Instrumente des Talent Managements Kernaufgabe des Talent Managements ist es, intern und/oder extern geeignete talentierte Kandidaten oder Mitarbeiter zu diagnostizieren. Extern erfolgt dies durch geeignetes aktives Personalmarketing. Intern erfolgt die Diagnose talentierter Mitarbeiter z. B. durch die Durchführung von 360°Feedback Systemen (vergl. Kapitel 6.5), die das Potenzial der Mitarbeiter untersuchen. Außerdem lassen sich aus den Ergebnissen konkrete Personalentwicklungsmaßnahmen ableiten, die zu einer Förderung dieser ‚High Potentials’ führen. Selbstverständlich müssen diese ‚High Potentials’ auch an anspruchsvolle Aufgaben herangeführt werden. Dies führt überdies zu einer verstärkten Bindung der Mitarbeiter. Als ‚High Potentials’ erkannte externe Personen werden durch eine zielgerichtete persönliche Ansprache langfristig an die Organisation herangeführt (Talent Relationship Management).
9.4.3 Rahmenbedingungen des Talent Managements Damit das ‚Talent Management’ erfolgreich sein kann, müssen seitens der Organisation eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein. Hierzu gehören:
• Die Führungskräfte sind die wichtigsten Träger des ‚Talent Managements’. Das Top-Management ist aufgefordert, die Ziele des ‚Talent Managements’ mit den „Unternehmenszielen“ zu verknüpfen. 218
• Beim ‚Talent Management’ müssen Führungskräfte und der Personalbereich eng zusammenarbeiten. Die Führungskräfte sind für die Umsetzung des ‚Talent Managements’ verantwortlich, während der Personalbereich Verantwortung dafür übernimmt, dass die Führungskräfte über die notwendigen Kompetenzen zur Übernahme ihrer Verantwortung verfügen. Außerdem koordiniert der Personalbereich das ‚Talent Management’. • Im Rahmen des Controllings lassen sich die Maßnahmen des ‚Talent Managements’ durch geeignete Indikatoren in ihrer Qualität messen. • ‚Talent Management’ muss um funktionieren zu können, fest in der Unternehmenskultur verankert sein: Talent wird in den Mittelpunkt des Handeln gestellt. Im BILDUNGSSPIEGEL war am 04.09.2009 folgender Beitrag zum Talent Management zu finden. Kasten 9.1
Studie: Talent Management ist strategisch bedeutend, aber noch lange nicht Chefsache Personal- und Nachfolgeplanung stark verbesserungswürdig. Talent Management ist ein aus Sicht der Unternehmensleitung strategisch bedeutender Wettbewerbsfaktor. Um das Potenzial jedoch optimal ausschöpfen zu können, müssen Geschäftsführung, Personal- und Linienmanagement sowohl bei der Planung als auch bei der Umsetzung von Talent-Management-Maßnahmen eingebunden sein. Hier existieren in der Praxis allerdings erhebliche Diskrepanzen. Das zeigt eine Studie des Beratungsunternehmens Mercer, in deren Rahmen 106 Unternehmen aus Deutschland, Österreich sowie der deutschsprachigen Schweiz zu ihren Talent-Management-Strategien und deren Umsetzung befragt wurden. Nach Meinung von 81 Prozent der Befragten schätzen die Unternehmensleitungen den Beitrag des Talent Management für die Erreichung der Unternehmensziele hoch ein. 60 Prozent der Studienteilnehmer planen trotz der aktuellen ökonomischen Krise keine Einschnitte in diesem Bereich. Dennoch obliegt die Entwicklung und Umsetzung der Talent-ManagementStrategie in etwa 40 Prozent der Unternehmen allein der Personalabteilung. Erst in Unternehmen ab 80.000 Mitarbeitern weltweit sind dafür Personalund Linienmanagement gemeinsam verantwortlich. »Diese Diskrepanz zwischen strategischer Bedeutung und mangelnder Unterstützung durch das Top-Management bei der Entwicklung und Umsetzung ist alarmierend. Entscheidend ist, dass im Talent Management Unternehmensführung, HR und Linienmanagement idealerweise als gleich219
wertige Partner – von der Idee bis zur Umsetzung – zusammenarbeiten«, kommentiert Dr. Stephan Weinert.
Verbesserungspotenzial bei der Bindung von Leistungs- und Potenzialträgern »Vor allem bei der Bindung von Leistungs- und Potenzialträgern besteht akuter Verbesserungsbedarf, ansonsten könnte auf Unternehmen eine Abwanderungswelle im Zuge des nächsten Aufschwungs zurollen«, ergänzt Sassan Yussefi. Die beiden Human Capital-Berater und Autoren der Studie stellten in diesem Zusammenhang fest, dass die große Mehrheit der befragten Unternehmen (94 Prozent) bei der Bindung auf kurzfristige monetäre Anreize setzen. Karrierebezogene Maßnahmen wie beispielsweise die individuelle Laufbahnplanung werden hingegen nur in knapp über der Hälfte der Unternehmen (55 Prozent) genutzt. Die Umsetzung dieser setzt allerdings eine starke Zusammenarbeit mit dem Linienmanagement voraus. Hier sehen die Teilnehmer der Studie wiederholt den größten Verbesserungsbedarf. Personal- und Nachfolgeplanung stark verbesserungswürdig Auch bei der qualitativen Personal- und Nachfolgeplanung liegen Wunsch und Wirklichkeit noch weit auseinander. Insbesondere die Analyse der zukünftig notwendigen Fähigkeiten der Mitarbeiter kommt in 51 Prozent der befragten Unternehmen zu kurz. Die Nachfolgeplanung empfindet die Mehrheit der Studienteilnehmer (95%) als verbesserungswürdig. Dabei erhoffen sich 41 Prozent vom Einsatz neuer Methoden und 25 Prozent von leistungsfähigeren HR-Prozessen signifikante Verbesserungen. URL: http://www.bildungsspiegel.de/index2.php?option=com_content&task=vie w&id=5808&Itemid=262&pop=1&page=0 vom 04.01.2010
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10
Methodische Grundlagen der Organisationspsychologie
10.1 Grundlagen der psychologischen Methodik Die Psychologie ist eine empirische, auf Erfahrungen beruhende Wissenschaft. Ihre Erkenntnisse beruhen in großem Maße auf Messungen, Experimenten und Befragungen. Die Psychologie operationalisiert Phänomene, um sie so der Forschung zugänglich zu machen, d. h. die Untersuchungsgegenstände werden quantifizierbar gemacht. Nur dann können sie sinnvoll untersucht werden. Kasten 10.1
Der psychologischen Forschung stehen verschiedene Methoden zur Verfügung: • Fallstudien • Feldstudien • Experimente • Fragebogenerhebungen (auch von angeleiteten Laien durchführbar) • psychologische Tests
Die gewonnenen Befunde werden anschließend mit anspruchsvollen mathematischen Methoden ausgewertet. Diese Auswertung muss ebenso wie die Durchführung in der Regel durch Fachkräfte (Organisationspsychologen) vorgenommen werden.
10.1.1 Verteilung von Messwerten Man kann davon ausgehen, dass fast alle psychischen Merkmale normalverteilt sind. Eine Normalverteilung zeichnet sich durch die charakteristische Glockenform (Gauß’sche Glockenkurve) aus. Hierbei befinden sich viele Messwerte in der Nähe des Mittelwertes und nur wenige Messwerte zeigen eine sehr hohe oder sehr niedrige Ausprägung des untersuchten Merkmals.
221
Abb. 10.1: Grafische Darstellung der Normalverteilung
10.1.2 Elementare Auswertungen Deskriptive Statistik • Mittelwertberechnung • Berechnung der Standardabweichung • Korrelationsberechnung Mit diesem Maßen lassen sich Messwertverteilungen angemessen genau beschreiben. Mit geeigneten Taschenrechnern lassen sich die Maße einfach ermitteln. Hierbei ist beim Kauf eines Taschenrechners zu beachten, dass die Tastatur folgende Symbole enthält:
x : Mittelwert der Verteilung s: Standardabweichung, zeigt die Form der Verteilung, d. h. ob es sich um eine schmalgipflige Verteilung (geringe Standardabweichung) handelt oder ob es sich um eine breitgipflige Verteilung (hohe Standardabweichung) handelt.
222
Abb. 10.2: Darstellung einer breit- und einer schmalgipfligen Normalverteilung bei identischen Mittelwerten
r: Korrelationskoeffizient, zeigt den Zusammenhang zwischen zwei Messreihen an. Dabei kann der Korrelationskoeffizient Werte zwischen -1.00 bis +1.00 annehmen. Eine Nullkorrelation (r = .00) bedeutet, dass zwischen beiden Messreihen kein Zusammenhang besteht. Merkmal A
r ≈ .70
r ≈ .30
r = .00
Merkmal B
Abb. 10.3: Darstellung einer hohen positiven Korrelation, einer niedrigen positiven Korrelation und einer Nullkorrelation
10.1.3 Schlussfolgernde Auswertungen = Inferenzstatistik • Faktorenanalysen • Varianzanalysen • Regressionsanalysen 223
Diese Auswertungen müssen von Organisationspsychologen durchgeführt und interpretiert werden. Es wird dringend davor gewarnt, die Berechnungen ohne das nötige Fachwissen durchzuführen. Mit der Faktorenanalyse wird ermittelt, welche Fragen/Stellungnahmen (z. B. bei einer Befragung) zu einem Merkmal gehören. Mit der Varianzanalyse werden Ursache-Wirkungsverhältnisse aufgeklärt. Die Regressionsanalyse beschreibt den Einfluss, den verschiedene Variablen auf ein Merkmal haben. In der Praxis werden zunehmend Fragebogenerhebungen durchgeführt. Zumindest bei der Konstruktion des Fragebogens wird oft darauf verzichtet, sich von einem Organisationspsychologen beraten zu lassen. Deshalb wird auf die Probleme bei Fragebogenerhebungen ausführlich eingegangen. Bei der Auswertung und Interpretation sollten Organisationspsychologen jedoch unbedingt beteiligt werden.
10.2 Fragebogenerhebungen Befragungen können in verschiedener Weise stattfinden, wobei ein Unterscheidungskriterium das Ausmaß der Systematisierung ist. Eine Befragung kann dabei mündlich (Interview) oder schriftlich (Fragebogen) durchgeführt werden. Die Darstellung stellt systematische schriftliche Befragungen in den Mittelpunkt.
Befragungsformen • Sozialwissenschaftliche Forschung (auch: Diplomarbeiten) • Demoskopie (Meinungsforschung, Wahlforschung, ...) • Marktforschung • Bürgerbefragungen (alle Bürger oder definierte Teilgruppen) • Kundenbefragungen (Besucher bzw. direkte Klienten ) • Mitarbeiterbefragungen (allgemein / zu speziellen Themen) • Aktionsforschung (Projekte der Beteiligten/Betroffenen selbst) • Evaluation (formative/summative)
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Anforderungen an Befragungen • Ergebnisse sollen gültig sein, sinnvoll interpretierbar im Hinblick auf die Ausgangsfragestellung/Hypothesen • Ergebnisse sollen überprüfbar sein, gegebenenfalls replizierbar in weiteren Erhebungen • Wiederholte Messung zur Feststellung von Veränderungen sollen möglich sein • Ergebnisse der Stichprobe sollen repräsentativ sein für die definierte Grundgesamtheit/ Population • Befragung soll Sinn machen für die Beteiligten/Befragten • Bei aktivierenden Befragungen: Befragte sollen zur Reflexion und weiteren Mitarbeit angeregt werden. In Organisationen des öffentlichen Dienstes werden zunehmend Befragungen durchgeführt. In die Ergebnisse von Befragungen werden große Erwartungen gesetzt, die sich aufgrund einer unzureichenden Kenntnis über die sachgerechte Gestaltung der Befragungsinstrumente, einer schlecht ausgewählten Stichprobe oder einer nicht angemessenen Auswertung, nicht immer erfüllt werden. Einige Aspekte, die zu einer sachgerechten Befragung zählen, sollen kurz angesprochen werden. • Die Planung einer Befragung
• Die Konstruktion eines Fragebogens • Die Auswertung eines Fragebogens • Die Darstellung der Ergebnisse der Befragung • Die Auswahl der Befragten
10.3 Planung und Durchführung einer Befragung Durchführungsschritte bei Befragungen: Phasen am Beispiel von Mitarbeiterbefragungen • Planung
• Vorbereitung • Durchführung • Auswertung • Darstellung der Ergebnisse 225
• Interpretation der Ergebnisse • Gegebenenfalls Konsequenzen, Initiierung von Veränderung • Literatur Planungsphase • Initiative zu einer MA-Befragung (Herausarbeitung von Zielen und Zwecken) – Typische Anlässe derzeit: à Reformen à geplante oder vollzogene Veränderungen – Frühzeitige Einbeziehung aller Beteiligten zur Vertrauensbildung und kooperativen Mitarbeit: à insbesondere Betriebsrat; Beauftragte à Regel: je mehr Beteiligung, desto höher die Rücklaufquote à Berücksichtigung, möglichst Einbeziehung der unterschiedlichen Interessen in die Gesamtkonzeption
• Erarbeitung eines konsensfähigen Gesamtkonzeptes • Kostenkalkulation für das gesamte Projekt (incl. Umsetzungsphase!) • Formale Entscheidung und Verabschiedung durch die verantwortlichen Personen und Gremien Vorbereitungsphase • Entscheidung über Verantwortlichkeiten und Beteiligung • Festlegung der Federführung • Bildung einer Steuerungsgruppe (beratend, entscheidend, ...?) • Entscheidung über die Einbeziehung externer Berater • Festlegung der Entscheidungskompetenzen (fachlich, formal) Differenzierung der Projektplanung: Überblick • Festlegung der Befragungsziele und Entwicklung der Erhebungsinstrumente (inhaltliche und methodische Gestaltung) • Z. B. Mitarbeiterbefragung und Vorgesetztenbeurteilung? • Vollerhebung oder Stichprobe (Vor- und Nachteile; methodische Aspekte) • Sicherung der Vertraulichkeit der Datenerhebung und Auswertung 226
• Festlegung der Auswertungsarten (z. B. kleinste Einheit) • Wer erhält wann welche Ergebnisse? • Wie werden Ergebnisse mitgeteilt? (Moderation; Coaching für Vorgesetzte) • Welche Konsequenzen sollen/können Ergebnisse haben? • Folgeprozesse zur Umsetzung? Wer darf/soll was tun? • Weitere Befragung zur Feststellung der Effekte? Wann? Vorbereitungsphase: Quellenstudium zu Befragungsthema und Methodik • Datenbankenrecherche durchführen • Relevante Literatur sichten. Vorbereitungsphase: Festlegung der Erhebungsart Ausgangsfrage: Soll eine qualitative oder quantitative Studie durchgeführt werden? • Qualitative Datenerhebung: Leitfadeninterviews (offen, halbstrukturiert) – Ziele: Erkundung; Gewinnung von Material, z. B. Fallstudien – Vorbereitung von quantitativen Erhebungen (Material für Fragebogenitems) – Überprüfung von Hypothesen. Qualitative Datenerhebungen sind zumeist nicht repräsentativ.
• Quantitative Datenerhebung: Die quantitative Datenerhebung ist die typische Befragungsform zur Gewinnung repräsentativer Ergebnisse. • Es werden Fragebögen (halbstrukturiert, geschlossen) verwendet. Das Vorgehen bei der Durchführung quantitativer Studien zeigen die folgenden Punkte.
Vorbereitung Es muss die Frage geklärt werden, wie groß die zu untersuchende Stichprobe sein muss. Hierbei spielt die jeweilige Fragestellung der Stichprobe eine wesentliche Rolle. Dabei gelten folgende Regeln:
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• Die Stichprobe (n = Anzahl der zu untersuchenden Personen) soll ein möglichst genaues Abbild der Population/Grundgesamtheit (N) ergeben. Damit werden die Stichprobenergebnisse repräsentativ. • Die Stichprobengröße ist abhängig von der: – Größe der Population – Fragestellung (z. B. Untersuchung von kleinen Untergruppen oder speziellen Merkmalskombinationen, die hinreichend große Teilstichproben umfassen müssen für statistische Analyse) – Erwartete Größe der Effekte im Verhältnis zum angestrebten Signifikanzniveau (z. B. Unterschiede von Untergruppen: Je größer die Stichprobe, desto eher werden auch kleine Unterschiede zwischen Gruppen oder niedrig ausgeprägte Korrelationen signifikant. Gefahr der Fehlinterpretation von Signifikanzwerten: "signifikanter" Wert bedeutet nur, dass dieser wahrscheinlich nicht zufällig ist – nicht aber, dass die Größe dieses Wertes auch bedeutsam ist im Sinne der Hypothesen.)
Verfahren zur Auswahl von Stichproben Nicht zufallsgesteuerte Auswahlverfahren • willkürliche Auswahl • bewusste Auswahl (gezielt, nach Gutdünken: z. B. Auswahl "typischer Fälle" nach vorher festgelegten Kriterien) • Quoten-Auswahlverfahren (geschichtete willkürliche Auswahl von Befragten nach festgelegtem Anteil von Merkmalskombinationen) Zufallsgesteuerte Auswahl • Vorteil: Merkmalsausprägungen in der Population müssen nicht bekannt sein: Zufallsauswahl sichert Repräsentativität • Jede Einheit (je nach Fragestellung: Person, Institution, ...) muss die gleiche Chance haben, in die Stichprobe aufgenommen zu werden. (Deshalb sind z. B. Straßenbefragungen meist problematisch) • Verfahren: Karteiauswahl nach Zufallsprinzip (Lostrommel, ersetzbar z. B. durch Zufallszahlen) • Gebietsauswahl: Zufallsauswahl räumlicher Einheiten (z. B. Stadtteile, Kommunen), in deren Flächenbereich Personen, Haushalte. Organisationen vorfindbar sind. Innerhalb der "gezogenen" Gebiete dann wieder Zufallsauswahl von Personen usw. (mehrstufige Auswahl) 228
Vorbereitende Maßnahmen Fragebogenkonstruktion: Phasen • Qualitative Vorstudie: • Exploration des Gegenstandes; • Gewinnung von Aussagen als Material für Fragebogen- Items • Erster Entwurf eines Befragungsinstrumentes; Überlegungen zum Skalenniveau (Nominal,- Ordinal,- IntervallskalenNiveau) • Pretest der ersten Fragebogenversion • Revision des Fragebogens aufgrund des Pretests • Durchführung der Befragung: Sicherung der Anonymität
10.4 Fragebogengestaltung Die Konstruktion sogenannter Fragebogenitems
• Die Items sollen möglichst konkret formuliert sein. • Die Items sollen quantifizierbar sein. • Insgesamt dürfen nicht zu viele Items formuliert werden, damit die Motivation zur Bearbeitung nicht nachlässt. • Ein Fragebogen muss hinreichend umfangreich sein, damit sinnvolle Aussagen möglich werden. • Um zusätzliche Informationen zu ermöglichen, sollten Items mit soziodemografischen Inhalten den Fragebogen ergänzen. Folgende Methoden der Itemkonstruktion sind möglich:
• Mehrfachwahl: Bei Fragen mit Mehrfachwahl dürfen mehrere Antworten angekreuzt werden. • Einfachwahl: Bei Fragen mit Einfachwahl darf nur eine Antwort angekreuzt werden. • Skala: Bei Skalenfragen besitzen die Antworten eine innere Ordnung, eine vorgegebene Reihenfolge. Man bezeichnet die Ordnung auch als Rangfolge. (Ordinalskala) Skalen können gerade oder ungerade sein, ungerade Skalen dürfen symmetrisch angelegt werden, etwa von –2 bis +2. 229
• Maßzahlen: Bei Fragen, die eine Antwort als Zahlenwert erfassen spricht man von Maßzahlen. Bei Maßzahlen müssen Sie Maßeinheit, Unter- und Obergrenze sowie die Anzahl der Nachkommastellen festlegen. • Freie Frage (offene Frage) • Rangordnungen: Vorgegebene Objekte müssen in eine Rangreihe gebracht werden (z. B. von wichtig – unwichtig). • Semantisches Differential: Beliebige Objekte werden durch die Berechnung eines Korrelationskoeffizienten miteinander bezüglich ihrer Ähnlichkeit verglichen. Die wichtigsten methodischen Überlegungen sind an die Durchführung von Befragungen geknüpft. In Organisationen werden zunehmend Bürgerbefragungen, auch zu Zwecken der Qualitätssicherung, sowie Mitarbeiterbefragungen (mit unterschiedlichen Zielsetzungen) durchgeführt. Will man hierbei sinnvoll vorgehen, sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: 1. Die Fragen/Statements (Sammelbegriff "Items") des Fragebogens müssen sachgerecht konstruiert sein. Bei der Konstruktion von Fragebogenitems sind einige wichtige Hinweise zu beachten:
• Die Items sollten möglichst konkret formuliert sein; • Sie sollten quantifizierbar sein; • Die Aussagen müssen widerspruchsfrei formuliert sein; • Insgesamt dürfen nicht zu viele Items formuliert werden, damit die Motivation zur Bearbeitung nicht nachlässt; • Ein Fragebogen muss hinreichend umfangreich sein, damit sinnvolle Aussagen möglich werden; • Um zusätzliche Informationen zu erlangen, sollten Items mit soziodemografischen Fragestellungen am Beginn des Fragebogens stehen. Um die anschließende Auswertung zu vereinfachen, sollten die Items mit einer vorgegebenen Antwortskala ausgestattet werden. Es empfiehlt sich eine 6-stufige Skalierung: max. positiv
o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o
max. negativ
Hierbei sollten zumindest die Skalenenden verbal beschrieben werden. Nachdem die Items konstruiert sind, sollte zunächst ein Probelauf stattfinden um zu überprüfen, ob die Items den Anforderungen entsprechen. 230
Man sollte durchaus damit rechnen, dass bis zu 80 % der Items den Ansprüchen auf Anhieb nicht genügen. Dies ist normal und kein Hinweis auf eine schlechte Konstruktionsphase. 2. Will man die Ergebnisse professionell auswerten, bedarf es Grundkenntnisse bezüglich statistischer Verfahren.
10.4.1 Die Konstruktion von Fragebogenitems Einige der dargestellten Itemformen sollen näher erläutert werden.
Mehrfachwahlaufgaben Bei einer Mehrfachwahlaufgabe dürfen aus einer vorgegebenen Menge von Antworten beliebig viele Antworten ausgewählt werden. Einfachwahlaufgaben Aus einer vorgegebenen Menge von Antworten darf nur eine Antwort ausgewählt werden. Skala Bei skalierten Aufgaben darf einer der vorgegebenen Skalenpunkte ausgewählt werden: +++ ++ + ---o -----o ------ o ------ o ----- o ----- o In der Regel empfiehlt es sich, geradzahlige Skalen zu verwenden. Die Befragten werden damit gezwungen, sich eindeutig positiv oder negativ zu äußern. Man bezeichnet solche Skalen auch als LIKERT-Skalen (nach dem "Erfinder" dieser Skalierung). Maßzahlen Bei Maßzahlen besteht die Antwort aus einer Zahl. Ober- und Untergrenzen sowie die Zahl der Stellen hinter dem Komma werden dabei festgelegt. Welche Note würden Sie dem Service geben? 3 Freie Fragen Frei beantwortbare Fragen werden durch einen frei formulierten Satz beantwortet. Sie entziehen sich üblichen Auswertungsprozeduren. Geben Sie Auskunft darüber, inwieweit Sie mit Ihrer Tätigkeit zufrieden sind. Antwort: ________________________________________________ 231
Semantisches Differential Beim Semantischen Differential (auch Polaritätenprofil genannt) werden Ähnlichkeiten im Erleben von Personen untersucht. Mittels einer Anzahl von Adjektivpaaren werden Begriffe beschrieben; je ähnlicher die Beschreibungen ausfallen, umso höher ist die Korrelation zwischen beiden Begriffen. In der Sozialforschung werden mit dieser Methode u. a. Einstellungen gegenüber bestimmter Personengruppen (soziale Randgruppen, Ausländer, etc.) mit der Eigengruppe verglichen. Auch der Vergleich des SOLL-/IST-Zustands ist mit dieser Methode möglich. In der Praxis stößt die Methode manchmal auf Probleme, da ihre facevalidity nicht ohne Weiteres gegeben ist. Beispiel: Eine mögliche Fragestellung könnte folgendermaßen lauten: Wie zufrieden sind Sie mit dem Ablauf Ihres Studiums? Wie sollte ein ideales Studium ablaufen? modern o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o rückständig klein o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o groß unbeweglich o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o dynamisch demokratisch o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o autoritär ungesund o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o gesund flexibel o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o starr kleinlich o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o großzügig gut o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o schlecht ungesichert o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o gesichert reich o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o arm unpraktisch o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o praktisch unfreundlich o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o freundlich zufrieden o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o unzufrieden unordentlich o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ordentlich persönlich o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o unpersönlich interessant o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o langweilig gereizt o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ----- o ruhig Die beiden Profile werden mittels einer Korrelation (Q-Wert) miteinander verglichen. Die Interpretation folgt den üblichen Regeln der Korrelationsrechnung.
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Rangordnungen Hierbei soll eine Anzahl von Aussagen zu einem Thema in eine Rangfolge gebracht werden, z. B. gemäß der individuellen Wichtigkeit. Aus den individuellen Rangreihen lässt sich dann noch eine Rangreihe über alle Befragten erstellen. Sortieren Sie nach Wichtigkeit, um welche Aspekte sich eine Verwaltung besonders kümmern sollte: ITEM RANGPLATZ Kundenorientierung 1 Dezentralisierung 5 Sparsamkeit 2 Personalabbau 4 rasche Bearbeitung 3 ... usw.
10.5 Die Auswertung von Fragebogenergebnissen Aufgrund mangelnder Kenntnis geeigneter Auswertungsmethoden, beschränkt sich die Auswertung von organisationsinternen, d. h. ohne externe, professionelle Hilfe durchgeführten Befragungen, auf die Feststellung und den Vergleich von Aufsummierungen und/oder der prozentualen Beschreibung der erhaltenen Befunde. Im professionellen Bereich bedient man sich bei der Auswertung von Umfragen geeigneter Statistikprogramme, z. B. SPSS (Statistisches Programmpaket für die Sozialwissenschaften). Hiermit sind sehr differenzierte Auswertungen möglich und relativ leicht durchführbar. Da diese Programme in der Regel in vielen Organisationen nicht zur Verfügung stehen, können in der Regel nur eingeschränkte Auswertungen durchgeführt werden. Eine wertvolle Hilfe hierbei leisten Tabellenkalkulationsprogramme, z. B. EXCEL. Diese Programme sind in der Lage, Aufsummierungen, Mittelwerte, Standardabweichungen und Korrelationen zu berechnen. Darüber hinaus bieten sie eine Reihe weiterer statistischer Methoden an, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll. Steht ein Tabellenkalkulationsprogramm ebenfalls nicht zur Verfügung, kann man noch auf Taschenrechner mit statistischen Grundfunktionen zurückgreifen. Die Interpretation der Ergebnisse muss anschließend mit großer Sorgfalt und vorsichtig (keine voreiligen Schlüsse ziehen) durchgeführt werden.
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10.6 Die Akzeptanz der Fragebogenerhebung Bei der Akzeptanz der Fragebogenerhebung muss man zwischen Bürgerbefragungen und Mitarbeiterbefragungen unterscheiden.
10.6.1 Die Akzeptanz von Bürger-/Kundenbefragungen Bei der Bürger-/Kundenbefragung ist oftmals mit Akzeptanzproblemen zu rechnen. Die Akzeptanzprobleme zeigen sich insbesondere in einer mangelnden Beteiligung an Befragungen. So ist eine Rücklaufquote bei schriftlichen Befragungen von lediglich 50 % sehr gering. Erschwerend ist der Umstand, dass eine Repräsentativität oftmals nicht erreicht werden kann.
10.6.2 Die Akzeptanz von Mitarbeiterbefragungen Mitarbeiter stehen Umfragen im Allgemeinen zunächst positiv gegenüber. Dies gilt besonders dann, wenn eine Befragung erstmalig durchgeführt wird, hat man doch nicht alle Tage Gelegenheit, seine Meinung zu äußern. Auch Vorgesetzte sind eher positiv gestimmt und neugierig auf das Umfrageergebnis. Dies ist umso bedeutsamer, da das Umfrageergebnis durchaus als Kontrolle der Vorgesetzten verstanden werden kann. Machen die Mitarbeiter die Erfahrung, dass die Ergebnisse ernst genommen werden und umgesetzt werden, wird die Motivation auch bei künftigen Befragungen hoch bleiben. Wird demzufolge eine Befragung im Zuge einer Organisationsentwicklung eingesetzt, ist dies nur positiv zu sehen. Probleme und Ängste seitens der Mitarbeiter sind am ehesten im Zusammenhang mit dem Datenschutz bzw. der Anonymität der Befragung zu sehen. Gleichwohl können insb. Vorgesetzte einiges dazu tun, die Motivation zu erhöhen: • das Ziel der Befragung den Mitarbeitern deutlich machen,
• die Ergebnisse veröffentlichen, • nach Abteilungen getrennte Auswertungen durchführen (bei ausreichender Größe der Organisation), • Veränderungen aufgrund der Befragung veranlassen und durchführen.
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10.7 Die Darstellung der Ergebnisse Neben einer qualitativ hochwertigen Planung und Durchführung einer Befragung ist die gute Darstellung der Ergebnisse notwendig und wichtig für deren Erfolg. Dabei spielt eine gute grafische Darstellung der Ergebnisse eine besonders wichtige Rolle. Werden die Ergebnisse den Auftraggebern zudem noch gut präsentiert, werden diese sicherlich dazu führen, dass Organisationsentwicklungsmaßnahmen umgehend begonnen werden. In der Praxis werden die Ergebnisse zumeist so dargestellt, dass sich unmittelbare Vergleiche (z. B. zwischen Personengruppen, Jahren, etc.) ergeben. Die wichtigsten Vergleiche sind:
• Struktur-Vergleich • Rangfolge-Vergleich • Zeitreihen-Vergleich • Häufigkeits-Vergleich • Korrelationsvergleich sowie
• Tabellendarstellung • Textdarstellung 10.7.1 Struktur-Vergleich Beim Struktur-Vergleich werden zumeist Anteile an einer Grundgesamtheit dargestellt. Typische Aussagen sind: ...x % der männlichen Mitarbeiter ... oder ... der Anteil der Abiturienten bei den Beschäftigten... Bei der grafischen Darstellung des Struktur-Vergleichs wird zumeist das Kreisdiagramm genutzt.
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Abiturienten
Hauptschüler
Realschüler
53% 28% 19% Abb. 10.4: Der Struktur-Vergleich
10.7.2 Rangfolge-Vergleich Rangfolge-Vergleiche sind erkennbar an folgenden Formulierungen: größer als, kleiner als, gleich. Bei der grafischen Darstellung des Rangfolge-Vergleichs wird zumeist das Balkendiagramm genutzt. Lebensqualität in verschiedenen Kreisen Landkreis A Landkreis B Landkreis C Landkreis M Abb. 10.5: Der Rangfolge-Vergleich
10.7.3 Zeitreihen-Vergleich Der Zeitreihen-Vergleich (nur möglich bei mehrmaligen Befragungen) ist erkennbar an folgenden Begriffen: wachsen, verändern, sinken, etc. Bei der grafischen Darstellung des Zeitreihen-Vergleichs wird zumeist das Säulenoder Kurvendiagramm genutzt.
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Entwicklung des Umsatzes im Telekommunikationsbereich
N (Anzahl)
Jahr 1985
2000
Abb. 10.6: Der Zeitreihen-Vergleich Arbeitszufriedenheit
10.7.4 Häufigkeits-Vergleich Hier wird verglichen, wie häufig ein bestimmtes Merkmal oder eine bestimmte Antwort in verschiedenen Kategorien auftritt: Vergleiche hinsichtlich Lebensalter, Geschlecht, Schulbildung, Amtszugehörigkeit usw. sind die häufigsten Vergleiche. Schlüsselworte sind: Verteilung, Bereich von x nach y, etc. Bei der grafischen Darstellung des Häufigkeits-Vergleichs wird zumeist das Säulen- oder Kurvendiagramm genutzt.
50 40 30 20 10 0