Ordnung in der Polis: Grundzüge der politischen Philosophie des Aristoteles 9783495817124, 9783495489611


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Die Beschaffenheit der politischen Ordnung
1.1 Worin besteht politische Ordnung für Aristoteles?
1.1.1 Die doppelte Bedeutung von polis und die Konsequenzen für den Begriff des Politischen
1.1.2 Die eudaimonia als Zweck der Polis: Zur »Natürlichkeit« der Polis
1.1.3 Einheit und Vielheit der Polis – eine Auseinandersetzung mit Platon
1.1.4 Meint das zôon politikon physei eine biologisch prästabilierte Harmonie? Die Bedeutung des logos für das koinon der koinônia politikê
1.1.5 Die Relevanz der politischen Freundschaft für die politische Ordnung
1.1.5.1 Ist die politische Freundschaft eine Tugendfreundschaft? Oder: Warum die Anthropologie des Aristoteles nicht naiv optimistisch ist
1.1.5.2 Inwiefern ist die politische Freundschaft eine Nutzenfreundschaft?
1.1.5.3 Zur Abgrenzung von politischer Freundschaft und homonoia
1.1.5.4 Kritik einer einseitigen Interpretation des Gerechten als Distributionsfrage
1.1.6 Die Einheit der Polis als Rechtsordnung
1.2 Die politeia als Rechtsordnung und höhere Ebene einer Gemeinschaftsordnung
1.2.1 Rechtstheoretische Grundcharakteristika der Verfassung
1.2.2 Der Gegensatz zur platonischen Verfassungslehre
1.3 Der nomos als Rechtsregel und niedere Ebene einer Gemeinschaftsordnung
1.3.1 Rechtstheoretische Grundcharakteristika des nomos
1.3.2 Herrschaft des vollkommenen Menschen oder »rule of law« bei Aristoteles? Zum aristotelischen Institutionalismus und platonischen Personalismus
II. Die Bewertung der politischen Ordnung
2.0 Wiederholung: Warum jedes Recht in bestimmtem Umfang gerecht ist
2.1 »Naturrecht« und positives Recht
2.1.1 Zur Veränderlichkeit des »Naturrechts«
2.1.2 Das »Naturrecht« als schlechthin gerechtes Recht; die Nützlichkeit des positiven Rechts und die Werte des Naturrechts
2.1.3 Erste Probe: Kennt Aristoteles überhaupt den Unterschied zwischen Legalität und Moralität?
2.1.4 Zweite Probe: Identifiziert Aristoteles den guten Menschen und den guten Bürger miteinander?
2.2. Die normative Bewertung der politischen Ordnung vor dem Hintergrund des Gerechten an sich, oder: Wie buchstabiert Aristoteles das Gemeinwohl aus?
2.2.1 Das Gerechte als normative Begründung für die Rechtsordnung
2.2.2 Die Gleichheit als normative Begründung für die Machtordnung, oder: Die Fundierung des Gerechten im Austeilen in der Gleichheit
2.2.2.1 Gleichheit oder Ungleichheit der Poliseinwohner?
2.2.2.2 Die Evaluation verschiedener Gleichheitsgedanken durch Aristoteles
2.3 Die normative Bewertung der politischen Ordnung durch die Bürger
2.4 Hängen Gerechtigkeit und Stabilität einer Verfassung zusammen?
III. Deskriptive Merkmale und normative Bewertung der verschiedenen Verfassungstypen als konkreten Rechtsordnungen
3.0 Ein Rückblick auf die Kriterien und ein Vorblick auf die Verfassungstypologie
3.1 Königliche Polisordnungen
3.1.1 Der Typus des Königtums
3.1.1.1 Das Königtum als suprapolitische absolute Herrschaft eines Tugendhaften
3.1.1.2 Der König als nomos empsychos oder: Warum die pambasileia der »rule of law« nicht widerspricht
3.1.1.3 Wieso die pambasileia Glückseligkeit und Gemeinwohl für die gesamte Bürgerschaft gewährleisten kann
3.1.1.4 Is there anybody out there? Oder: Zur Partizipation der Bürger in der pambasileia
3.2 Politische Polisordnungen
3.2.1 Der Typus der Aristokratie
3.2.1.1 Die Aristokratie als Regierung der Besten und Muster an eunomia
3.2.1.2 Wieso die Aristokratie Glückseligkeit und Gemeinwohl für die gesamte Bürgerschaft gewährleisten kann
3.2.1.3 Die oligarchische Gefahr von Pol. III, 10 oder: Die wahre Aristokratie in Pol. III, 11
3.2.1.4 Aristoteles als Totalitarist oder Paternalist?
3.2.2 Der Typus der Politie
3.2.2.1 Die Politie als Mischverfassung oder Regierung der Mittleren? Oder: Zur bedenklichen soziologischen Zusammensetzung Griechenlands
3.2.2.2 Die normative Mittelmäßigkeit der Politie
3.2.2.3 Warum Politie und heutige Demokratie nicht wesensgleich sind – eine Auseinandersetzung mit Sternberger
3.3 Despotische Polisordnungen
3.3.1 Der Typus der Demokratie
3.3.1.1 Die Demokratie als soziologisch disproportionierte Herrschaft der Armen
3.3.1.2 Die rechtstheoretische Kritik des Aristoteles an Radikal- und Extremdemokratien
3.3.1.3 Welcher Subtypus gibt den Grundtypus am besten wieder? Oder: Ändert Aristoteles seine Haltung gegenüber der Demokratie in Pol. IV-VI?
3.3.1.4 Die axiologische Minderwertigkeit der Demokratie
3.3.1.5 Zur Stabilität radikaler und extremer Demokratien
3.3.1.6 Ist die aristotelische Kritik an der Demokratie eine Polemik gegen Athen?
3.3.2 Der Typus der Oligarchie
3.3.2.1 Die Oligarchie als einseitige Herrschaft der Reichen
3.3.2.2 Die axiologische Minderwertigkeit der Oligarchie
3.3.3 Der Typus der Tyrannis
3.3.3.1 Die Tyrannis als »rule of the worst man«
3.3.3.2 Die axiologische Minderwertigkeit der Tyrannis
IV. Schlussbetrachtungen
Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
1.1. Werke des Aristoteles
1.2. Werke anderer Philosophen
2. Sekundärliteratur
3. Indizes
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Ordnung in der Polis: Grundzüge der politischen Philosophie des Aristoteles
 9783495817124, 9783495489611

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Bruno Langmeier

Ordnung in der Polis Grundzüge der politischen Philosophie des Aristoteles

ALBER SYMPOSION

https://doi.org/10.5771/9783495817124

.

B

ALBER SYMPOSION

A

https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

SYMPOSION PHILOSOPHISCHE SCHRIFTENREIHE BEGRÜNDET VON MAX MÜLLER, BERNHARD WELTE, ERIK WOLF HERAUSGEGEBEN VON CHRISTOPH HALBIG, JÖRN MÜLLER Band 137

https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

Bruno Langmeier

Ordnung in der Polis Grundzüge der politischen Philosophie des Aristoteles

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

Bruno Langmeier Order in the polis Outlines of Aristotle’s political philosophy In contrast to a widespread interpretation of his political philosophy, Aristotle considers a defective or fragile order the main problem of his time. This study highlights the importance of legal order and political friendship as fundamental concepts of Aristotelian political philosophy, while acknowledging both the normative dimension and Aristotle’s realism in the sphere of power politics. The Author: Bruno Langmeier is Assistant Professor at the University of Würzburg.

https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

Bruno Langmeier Ordnung in der Polis Grundzüge der politischen Philosophie des Aristoteles Im Gegensatz zu einer verbreiteten Sichtweise seiner politischen Philosophie sieht Aristoteles gerade in einer mangelhaften oder brüchigen Ordnung das Hauptproblem seiner Zeit. Diese Studie legt eine Deutung vor, die bei den aristotelischen Leitgedanken der Rechtsordnung und der politischen Freundschaft ansetzt und dabei sowohl die normative Dimension als auch den machtpolitischen Realismus dieser Überlegungen angemessen würdigt. Der Autor: Bruno Langmeier arbeitet seit 2014 als Assistent an der Professur für antike und mittelalterliche Philosophie an der Universität Würzburg.

https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48961-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81712-4

https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die Beschaffenheit der politischen Ordnung . . . . . . . . 1.1 Worin besteht politische Ordnung für Aristoteles? . . . . 1.1.1 Die doppelte Bedeutung von polis und die Konsequenzen für den Begriff des Politischen . . . . 1.1.2 Die eudaimonia als Zweck der Polis: Zur »Natürlichkeit« der Polis . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Einheit und Vielheit der Polis – eine Auseinandersetzung mit Platon . . . . . . . . 1.1.4 Meint das zôon politikon physei eine biologisch prästabilierte Harmonie? Die Bedeutung des logos für das koinon der koinônia politikê . . . . . . . . 1.1.5 Die Relevanz der politischen Freundschaft für die politische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5.1 Ist die politische Freundschaft eine Tugendfreundschaft? Oder: Warum die Anthropologie des Aristoteles nicht naiv optimistisch ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5.2 Inwiefern ist die politische Freundschaft eine Nutzenfreundschaft? . . . . . . . . . . . . 1.1.5.3 Zur Abgrenzung von politischer Freundschaft und homonoia . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5.4 Kritik einer einseitigen Interpretation des Gerechten als Distributionsfrage . . . . . . 1.1.6 Die Einheit der Polis als Rechtsordnung . . . . . .

35 35

Ordnung in der Polis

35 38 51

57 63

63 67 80 92 107

A https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

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Inhalt

1.2 Die politeia als Rechtsordnung und höhere Ebene einer Gemeinschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Rechtstheoretische Grundcharakteristika der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Der Gegensatz zur platonischen Verfassungslehre . 1.3 Der nomos als Rechtsregel und niedere Ebene einer Gemeinschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Rechtstheoretische Grundcharakteristika des nomos 1.3.2 Herrschaft des vollkommenen Menschen oder »rule of law« bei Aristoteles? Zum aristotelischen Institutionalismus und platonischen Personalismus . II. Die Bewertung der politischen Ordnung . . . . . . . . . . 2.0 Wiederholung: Warum jedes Recht in bestimmtem Umfang gerecht ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 »Naturrecht« und positives Recht . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Zur Veränderlichkeit des »Naturrechts« . . . . . . 2.1.2 Das »Naturrecht« als schlechthin gerechtes Recht; die Nützlichkeit des positiven Rechts und die Werte des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Erste Probe: Kennt Aristoteles überhaupt den Unterschied zwischen Legalität und Moralität? . . . 2.1.4 Zweite Probe: Identifiziert Aristoteles den guten Menschen und den guten Bürger miteinander? . . . 2.2 Die normative Bewertung der politischen Ordnung vor dem Hintergrund des Gerechten an sich, oder: Wie buchstabiert Aristoteles das Gemeinwohl aus? . . . . 2.2.1 Das Gerechte als normative Begründung für die Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Gleichheit als normative Begründung für die Machtordnung, oder: Die Fundierung des Gerechten im Austeilen in der Gleichheit . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Gleichheit oder Ungleichheit der Poliseinwohner? . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Die Evaluation verschiedener Gleichheitsgedanken durch Aristoteles . . . . . . . . . 2.3 Die normative Bewertung der politischen Ordnung durch die Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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SYMPOSION

124 124 130 140 140

141 177 177 181 181

188 196 208

226 226

233 233 241 250

Bruno Langmeier https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

Inhalt

2.4 Hängen Gerechtigkeit und Stabilität einer Verfassung zusammen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Deskriptive Merkmale und normative Bewertung der verschiedenen Verfassungstypen als konkreten Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.0 Ein Rückblick auf die Kriterien und ein Vorblick auf die Verfassungstypologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Königliche Polisordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Der Typus des Königtums . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.1 Das Königtum als suprapolitische absolute Herrschaft eines Tugendhaften . . . . . . . 3.1.1.2 Der König als nomos empsychos oder: Warum die pambasileia der »rule of law« nicht widerspricht . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.3 Wieso die pambasileia Glückseligkeit und Gemeinwohl für die gesamte Bürgerschaft gewährleisten kann . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.4 Is there anybody out there? Oder: Zur Partizipation der Bürger in der pambasileia . 3.2 Politische Polisordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Der Typus der Aristokratie . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1 Die Aristokratie als Regierung der Besten und Muster an eunomia . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.2 Wieso die Aristokratie Glückseligkeit und Gemeinwohl für die gesamte Bürgerschaft gewährleisten kann . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.3 Die oligarchische Gefahr von Pol. III, 10 oder: Die wahre Aristokratie in Pol. III, 11 . . . . 3.2.1.4 Aristoteles als Totalitarist oder Paternalist? . 3.2.2 Der Typus der Politie . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Die Politie als Mischverfassung oder Regierung der Mittleren? Oder: Zur bedenklichen soziologischen Zusammensetzung Griechenlands . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Die normative Mittelmäßigkeit der Politie . 3.2.2.3 Warum Politie und heutige Demokratie nicht wesensgleich sind – eine Auseinandersetzung mit Sternberger . . . . . . . . . . . . . . . Ordnung in der Polis

261

273 273 289 289 289

298

307 311 317 317 317

322 327 359 369

369 376

382 A

https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

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Inhalt

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3.3 Despotische Polisordnungen . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Der Typus der Demokratie . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.1 Die Demokratie als soziologisch disproportionierte Herrschaft der Armen . . . . . . . . 3.3.1.2 Die rechtstheoretische Kritik des Aristoteles an Radikal- und Extremdemokratien . . . . 3.3.1.3 Welcher Subtypus gibt den Grundtypus am besten wieder? Oder: Ändert Aristoteles seine Haltung gegenüber der Demokratie in Pol. IV–VI? . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.4 Die axiologische Minderwertigkeit der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.5 Zur Stabilität radikaler und extremer Demokratien . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.6 Ist die aristotelische Kritik an der Demokratie eine Polemik gegen Athen? . . . . . . . . . 3.3.2 Der Typus der Oligarchie . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.1 Die Oligarchie als einseitige Herrschaft der Reichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2 Die axiologische Minderwertigkeit der Oligarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Der Typus der Tyrannis . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.1 Die Tyrannis als »rule of the worst man« . . 3.3.3.2 Die axiologische Minderwertigkeit der Tyrannis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

387 387

IV. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

472

SYMPOSION

387 390

402 410 416 420 433 433 434 440 440 442

Bruno Langmeier https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

Vorwort

Diese Arbeit ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Wintersemester 2013/14 bei der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eingereicht habe. Besonders herzlich möchte ich mich bei meinem Doktorvater, Professor Christoph Horn, bedanken, der meine Arbeit stets äußerst wohlwollend begleitet und sie durch wertvolle Anregungen und Hinweise sehr wesentlich gefördert hat. Meinem Zweitgutachter, Professor Jörn Müller, möchte ich ebenfalls großen Dank aussprechen für sehr hilfreiche Kommentare und vielfältige Unterstützung. Weiterer Dank gilt Dr. Rolf Geiger und Dr. Simon Weber für manch anregende Diskussion über die aristotelische Politik, den Diskutantinnen und Diskutanten der verschiedenen Tagungen im Inund Ausland, an denen ich einzelne Thesen meiner Arbeit vorgestellt habe, und Professor Ludwig Nagl für seinen Hinweis, dass die Philosophiegeschichte als Gespräch der Philosophen untereinander häufig wichtige Anregungen bietet. Aufseiten des Alber-Verlages danke ich dem Verlagsleiter, Herrn Lukas Trabert, sowie Frau Julia Pirschl für die stets reibungslose und kompetente Zusammenarbeit; Professor Christoph Halbig und Professor Jörn Müller haben diese Studie in die Reihe »Symposion« aufgenommen, dafür sei ihnen an dieser Stelle ebenfalls herzlich gedankt. Ebenfalls großen Dank möchte ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für einen großzügigen Druckkostenzuschuss aussprechen. Auf mannigfache Weise persönlich unterstützt haben mich meine Eltern, mein Bruder, meine Schwiegereltern und Peter Schnyder, denen ich daher großen Dank schulde. Anna-Carina hat mir mit ihrer steten Hilfsbereitschaft während der Überarbeitungsphase wichtigen Rückhalt gegeben, wofür ich ihr gar nicht genug danken kann. Im wahrsten Sinne fehlen mir die Worte, um angemessen auszudrücken, wie viel mir die Liebe meiner Frau Julia und unserer beiden Kinder Julian und Sonja bedeutet und wie viel Kraft mir dies gibt. Ordnung in der Polis

A https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

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Vorwort

Daher bescheide ich mich an dieser Stelle damit, ihnen diese Arbeit in tiefer Liebe zu widmen. Würzburg, im Dezember 2017

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SYMPOSION

Bruno Langmeier

Bruno Langmeier https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

Einleitung*

Die griechischen Poleis befinden sich für Aristoteles in einem Zustand der Unordnung. Diese Diagnose mag erstaunen, denn häufig zeichnen etwa Philosophiegeschichten 1 Aristoteles als Denker, der den Menschen angeblich als konfliktloses zôon politikon ansehe und daher auch die politische Gemeinschaft als müheloses und harmonisches Unterfangen betrachte. Aber nicht nur Philosophiegeschichtsschreiber, sondern auch bekannte heutige Philosophen wie beispielsweise Alasdair MacIntyre schreiben ihm die Ansicht zu, er habe die bestehenden Verhältnisse in der Politik im wahrsten Sinne des Wortes für äußerst in Ordnung gehalten. Auch im deutschen Sprachraum gab es – etwa mit den Arbeiten von Joachim Ritter – ähnliche Lesarten, die Aristoteles im Sinne einer politisch konservativen Deutung als Vertreter eines bloßen Polisethos zeichneten, sodass Sittlichkeit als Befolgung der jeweiligen Sitten in bestimmten Gemeinschaften gelten solle. 2 Wenn Aristoteles jedoch tatsächlich für die Poliswelt seiner eigenen Zeit keine Ordnungsprobleme erkannt hätte, beginge er allerdings hinsichtlich zweier Aspekte einen fundamentalen Fehler, nämlich sowohl in normativer wie auch in deskriptiver Hinsicht: Deskriptiv bewiese er einen beachtlichen blinden Fleck, wenn er die chaotischen Machtverhältnisse im damaligen Griechenland mit ständigen »außenpolitischen« Kriegen zwischen verschiedenen Poleis einerseits und häufigem »innenpolitischen« Aufruhr in vielen Poleis andererseits komplett übersähe und im Rahmen einer naiven politischen Philosophie und Anthropologie überhaupt keine Stabilitätsprobleme in der Politik seiner Zeit wahrnähme. Insgesamt können wir * Übersetzungen stammen von mir (unter Benützung anderer Übersetzungen). Ausnahmen sind vermerkt. 1 Damit übernehmen sie bewusst oder unbewusst die Eigen- und Aristotelesbewertung von Thomas Hobbes. 2 Zu den verschiedenen Ausformungen von Neo-Aristotelismen in der modernen politischen Philosophie siehe Gutschker 2002. Ordnung in der Polis

A https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

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Einleitung

also eine solche Sichtweise dadurch zusammenfassen, dass Aristoteles angeblich Konflikte in der Polis unbekannt seien. 3 Ebenso leicht kritisierbar wäre er in normativer Hinsicht, wenn er konformistisch-kritiklos die politischen Ordnungen seiner Zeit gutgeheißen hätte: So bemängelt MacIntyre etwa, dass Aristoteles »tatsächlich mit den jeweils bestehenden Verhältnissen immer äußerst zufrieden ist« 4. Ebenso gibt unser Philosoph angeblich nur den Verhaltenskodex der zeitgenössischen Adligen 5 oder sonstige allgemeingriechischen Vorstellungen 6 wieder. Wenn solche Zuschreibungen tatsächlich zuträfen, wäre Aristoteles eine äußerst farblose Figur in der Geschichte der politischen Philosophie: Schließlich beschriebe er so weder die herrschenden Verhältnisse zutreffend, noch reflektierte er normativ überhaupt auf halbwegs anregende Weise über ihre mögliche Verbesserung. Abgesehen von der Frage, ob uns ein solcher Aristoteles für unsere heutige Zeit überhaupt verwertbare Anregungen liefern kann, dürfte er nicht einmal für seine eigene Epoche einen echten Erkenntnisgewinn erbringen. Somit brächte eine heutige Forschungsliteratur zur aristotelischen politischen Philosophie nicht bloß keine systematisch ergiebigen Antworten für drängende Fragen von heute; ebenso müssten wir auch nüchtern feststellen, dass ein derart verfahrender Aristoteles anscheinend selbst für seine eigene Zeit keinerlei diagnostischen Wert besäße. So würde Aristoteles in eigenen geistigen Sphären über den realen Problemen des damaligen antiken Griechenlands abgehoben schweben und hätte in einem einsamen Stüblein seines Elfenbeinturms weltfremde Schriften verfasst, die weder damals noch heute jemandem mit tiefen Interessen an politischen Fragen auch nur ansatzweise zur theoretischen oder praktischen Lösung drängender Probleme verholfen hätten. Lediglich problemvergessene moderne Interpreten erfreuten einander mit mehr oder weniger tiefschürfenden Analysen eines Textes, der unter dem Namen des Aristoteles überliefert ist und allein deswegen unsere Beachtung verdient, da eine solch prominente und in anderen Bereichen zweifelsfrei ver-

Solch eine Position vertritt MacIntyre 1988, 219. MacIntyre 1995, 62. 5 Vgl. MacIntyre 1995, 68 f. Ähnlich Wood/Wood, die in den aristotelischen Tugenden eine unkritische Übernahme der geltenden Gentlemanethik sehen (vgl. Wood/ Wood 1978, 224). 6 Vgl. MacIntyre 2003, 89. 3 4

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SYMPOSION

Bruno Langmeier https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

Einleitung

dienstvolle Figur der Geistesgeschichte sich eben auch über politische Philosophie geäußert hat. Insofern wäre heutige Forschungsliteratur zu aristotelischer politischer Philosophie weder von Relevanz für historisch Interessierte (da Aristoteles angeblich die politischen Zustände des antiken Griechenlands nicht zutreffend erfasst hat) noch für Philosophiehistoriker (da seine Thesen eine normativ wenig anspruchsvolle Verklärung einer faktisch überlebten und untergegangenen Welt wären), geschweige denn für systematisch denkende Philosophinnen und Philosophen von heute. Allein einige Forscherinnen und Forscher betrieben dann die Analyse der aristotelischen Politik, um entweder irgendwelche tiefschürfenden Gedanken hineinzugeheimnissen oder um sich mit einer sachlich eigentlich unergiebigen Forschungsnische schlicht die Brötchen zu verdienen. Sicherlich habe ich die naheliegenden Konsequenzen einer solchen Interpretation äußerst radikal formuliert, aber sachlich kämen tatsächlich solche Probleme auf uns zu: Wenn Aristoteles wirklich die Ordnungsprobleme seiner Zeit weder richtig erkannt und beschrieben, noch irgendwelche nützlichen Vorschläge zu ihrer Verbesserung gemacht hätte, sondern allein den Status quo gepriesen hätte, dann wäre er wirklich in mehrfacher Hinsicht philosophisch gescheitert: Nicht nur handelte es sich dann bei seinen Bemerkungen zur Politik nicht mehr um bedenkenswerte Philosophie, sondern lediglich um bedenkliche reaktionäre Ideologie. Ebenso wäre er an seinen eigenen Ansprüchen gescheitert, denn Erwägungen der praktischen Philosophie sollten ja bekanntlich gemäß Aristoteles nicht allein im bloß theoretisierenden Erkennen verbleiben, sondern auf die Praxis abzielen. 7 Wenn aristotelische politische Philosophie allerdings aus den erwähnten Gründen weder für die damalige noch für die heutige Zeit auch nur ansatzweise handlungsanleitend wäre, dann müssten nicht nur wir, sondern auch Aristoteles selbst ein völliges Scheitern seiner politischen Philosophie konstatieren. Schließlich könnte jemand, der eine machtpolitische Instabilität weder wahrnimmt, noch normative Verbesserungsvorschläge zur Behebung dieser Unordnung macht, keinesfalls als handlungsanleitend gelten und wäre vor allem vollständig von der damaligen Lebenswelt entkoppelt. Wie ein Blick in die althistorische Forschungsliteratur zeigt, muss das Problem der (fehlenden) Stabilität als eines der wesentlichs7

Vgl. EN I, 1: 1095a5 f.

Ordnung in der Polis

A https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

15

Einleitung

ten, wenn nicht sogar als das wichtigste Problem der damaligen griechischen Poliswelt identifiziert werden. 8 Daher stellt sich gleich zu Beginn unserer Untersuchung die drängende Frage, ob Aristoteles tatsächlich ein solcher Elfenbeinturmbewohner mit mangelnder Sensibilität für die Ordnungsfrage gewesen ist. Da einerseits althistorische Expertise bei einem solchen Thema sicherlich von Nutzen sein kann 9 und andererseits Vertreterinnen und Vertreter der philosophischen Zunft gewissermaßen als befangen eingeschätzt werden könnten, empfiehlt sich für einen solchen Abgleich zwischen altgriechischer Lebenswelt und aristotelischer Gedankenwelt das Zurateziehen eines Althistorikers: Tatsächlich vertritt etwa Josiah Ober die These, das zentrale Thema sowohl der aristotelischen Politik als auch in den griechischen Poleis selbst sei gewesen, »how to ›preserve‹ (sôzein) the polis in the face of the competing interests of society’s composite parts«. 10 Daher dürften wir seiner Expertise nach Aristoteles keineswegs als lebensfremden Elfenbeinturmphilosophen wahrnehmen: »Such an ›ivory-tower Aristotle‹ resembles many a modern scholar, but he is impossible to take seriously within the classical Greek context, and there is no longer any need to assume that he ever existed.« 11 Wenn die fehlende oder gefährdete Ordnung tatsächlich das Grundproblem der damaligen Poliswelt darstellt und Aristoteles gerade dieses Problem aufgreifen sollte, zeigte sich eindrucksvoll die Falschheit der häufig gehörten These, Aristoteles habe blind für die Wirklichkeit der damaligen politischen Verhältnisse eine vergangene heile Poliswelt liebevoll gedanklich konserviert. Daher muss nun erstens geprüft werden, ob Aristoteles das Stabilitätsproblem erkannt hat, also das Fehlen einer hinreichend stabiVgl. Gehrke 2011, 119. Reiches historisches Material zum politisch damals äußerst wichtigen Thema der stasis bietet Gehrke 1985. 9 Da philosophische Lehren in der praktischen Philosophie oft Antworten auf bestimmte Fragen und Probleme der jeweiligen Zeit sind, halte ich es gerade in der politischen Philosophie für wichtig, den historischen Kontext gut zu kennen. Daher nehme ich in meiner Arbeit auch immer wieder Bezug auf althistorische Forschungen, da dadurch der Problemkontext besser verstanden werden kann und so vielleicht das eine oder andere Fehlurteil vermieden wird. Schließlich sind die normativen Projekte des Aristoteles nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern reagieren auf die zeitgenössischen Probleme und Umstände. 10 Ober 1996, 173. Auch Piepenbrink 2001, 33 betrachtet als das zentrale Problem des Aristoteles die Instabilität der politischen Ordnung vieler Poleis. 11 Ober 1998, 350. 8

16

SYMPOSION

Bruno Langmeier https://doi.org/10.5771/9783495817124 .

Einleitung

len Ordnung angemessen beschrieben hat; zweitens stellt sich – unabhängig davon, ob er das erste Problem zufriedenstellend auflösen konnte – die normativ orientierte Frage, ob Aristoteles mit den herrschenden Verhältnissen stets äußerst zufrieden war oder ganz im Gegenteil die bestehenden Ordnungen für ziemlich defizitär gehalten hat. Zunächst zur ersten Frage nach den Konflikten in der Polis: Hier hat die Harmoniethese von MacIntyre scharfe Kritik etwa durch Bernard Yack erfahren: »But for Aristotle political community signifies a conflict-ridden reality rather than a vision of lost or future harmony.« 12 Tatsächlich lässt sich dafür argumentieren, dass Aristoteles die Polis keineswegs als harmonische Gemeinschaft ohne nennenswerte Konflikte aufgefasst hat: Bereits in Pol. I, 2 zeichnet er den Menschen als problematisches Lebewesen, das ohne Gesetz und Recht schlimmer als jedes Tier sei. 13 Im zweiten Buch der Politik verweist er des Weiteren auf die konkurrierenden Begierden der Menschen und ihr Streben nach den knappen Gütern von Ehre und Besitz. Überdies erfahren wir im dritten Buch, wie die Anhänger der verschiedenen Verfassungen jeweils einseitige Machtansprüche aufgrund ihrer speziellen Auffassungen des Gerechten stellen und dabei rivalisierende Ansprüche meist ignorieren oder gar unterdrücken. Ebenso informieren uns daher besonders die Bücher IV–VI über die steten Machtkämpfe, unter denen die Poleis zu Zeiten des Aristoteles bekanntlich heftig gelitten haben. Gerade das berühmte Buch V der Politik setzt einen Schwerpunkt auf die allerorten tobenden Aufstände (staseis) in den verschiedenen Poleis und schildert eindringlich, wie die vorherrschenden Verfassungstypen der Demokratie und Oligarchie häufig einseitig ihren eigenen Vorteil zu gewinnen suchen und mit einer extremen Politik daher den erbitterten Widerstand der anderen Gruppierungen hervorrufen. Somit zeigt bereits ein allererster Einblick in die Bücher der Politik, dass Aristoteles die politische Unordnung seiner Zeit sehr wohl zur Kenntnis genommen und die Konflikte sowie die damit einhergehenden Stabilitätsprobleme keineswegs übersehen hat. Deutlich zeigen etwa seine Auseinandersetzung mit Platon und die wichtige Rolle der stasis-Problematik, dass Aristoteles in Übereinstimmung Yack 1993, 2. Vgl. Pol. I, 2: 1253a31–37. Zur politischen Anthropologie des Aristoteles siehe Langmeier 2019.

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mit seinem Lehrer die damalige Poliswelt in Unordnung begriffen sieht und wie dieser – allerdings ziemlich anders lautende – Lösungsvorschläge zur Errichtung einer sinnvollen Ordnung geben möchte. Erst recht geht Aristoteles nämlich keineswegs davon aus, dass zu seiner Zeit normativ ordentliche Politik gemacht wird. Entgegen der Behauptung MacIntyres, dass Aristoteles stets äußerst zufrieden gewesen sei, 14 zeichnet dieser tatsächlich jedoch ein ziemlich düsteres Bild der Politik seiner Tage und kritisiert sie immer wieder harsch: Abgesehen vom – wie wir im Verlaufe der Arbeit sehen werden – äußerst kritischen Grundduktus der Politik rechtfertigt Aristoteles zu Beginn des zweiten Buches der Politik die kritische Analyse bisheriger Verfassungsentwürfe und -ordnungen ausdrücklich wie folgt: »[…] weil die Verfassungen, die jetzt vorliegen, nicht in einem guten Zustand sind«. 15 Deutlich spiegelt sich diese Einschätzung in seiner Kritik der herrschenden Verfassungstypen wider: Wie wir in den entsprechenden Kapiteln sehen werden, sieht Aristoteles alle drei guten Verfassungstypen (Königtum, Aristokratie und Politie) nur selten verwirklicht, während die angeblich verfehlten Verfassungstypen Demokratie und Oligarchie die politische Landkarte dominieren. 16 Leider ordnen diese letztgenannten Verfassungstypen die Verfassungen häufig in extremer Weise ganz in ihrem Sinne und achten nicht auf das Gemeinwohl, sondern nur auf ihren eigenen Nutzen. 17 Insofern muss Aristoteles resümieren, dass durch dieses Schielen allein auf den Eigennutzen gegenwärtig vor allem in despotischer Weise regiert 18 und die Polis nicht als Ort des gemeinsam verfolgten Gemeinwohls in der Gemeinschaft der Freien verstanden werde. Vehement kritisiert er die starke Tendenz seiner Zeitgenossen, Fragen nach dem Gerechten und Probleme der Gleichheit unter dem Vorzeichen der eigenen Macht aufzulösen 19 und etwa die Ämterverteilung nicht mehr nach vernünftigen Abwägungen der verschiedenen Ansprüche Siehe noch einmal MacIntyre 1995, 62. Pol. II, 1: 1260b34–36. Im völligen Gegensatz zur Gesamtsicht von MacIntyre steht wiederum Yack, der aus vorliegender Stelle sogar herausliest, dass Aristoteles keiner politischen Gemeinschaft zuspreche, dass sie wohlgeordnet sei. Vgl. Yack 1993, 88. 16 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–36 und Pol. V, 1: 1301b39–1302a4. 17 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–32 18 Vgl. Pol. III, 7: 1279a13–15. 19 Faktisch geschieht nämlich genau dies, denn die Starken kümmern sich nicht um das eigentlich Gerechte und Gleiche, sobald sie durch ihre Stärke einen Vorteil erringen können (vgl. Pol. VI, 3: 1318b4 f.). 14 15

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vorzunehmen: »[…] jetzt ist es bei den [Bürgern] in den Poleis Sitte geworden, das Gleiche nicht einmal zu wollen, sondern entweder das Herrschen zu erstreben oder das Beherrschtwerden zu ertragen.« 20 Anders formuliert: Aristoteles sieht seine Lebenswelt in einem ständigen Machtkampf begriffen, der hin und her wogt und sich meist wenig um gerechte Ansprüche kümmert. Entsprechend stellen die Themenkomplexe einer gefährdet-instabilen bzw. verfehlt-unbefriedigenden Ordnung gewissermaßen die Leitmotive der politischen Philosophie bei Aristoteles und damit auch der vorliegenden Arbeit dar. Welchen Beitrag möchte diese Arbeit damit nun zur aktuellen Forschungsdiskussion leisten, die in letzter Zeit einen beachtlichen Aufschwung mit verschiedensten Deutungen erlebt hat? Hier möchte ich zunächst das Augenmerk darauf lenken, dass im englischsprachigen Raum in den letzten fünfundzwanzig Jahren eine wahre Renaissance philosophischer Beschäftigung mit aristotelischer politischer Philosophie zu beobachten ist: Sicherlich kann in gewisser Weise der Sammelband Keyt/Miller 1991 als Initialzündung für diese erneute Zuwendung zur aristotelischen politischen Philosophie gelten. Seither sind in englischer Sprache unzählige Artikel sowie viele Sammelbände und Monographien erschienen, welche den Reichtum der aristotelischen Überlegungen zu erforschen suchen. Dazu zählen nicht nur unübersehbar viele Zeitschriftenartikel zu Spezialfragen, sondern allein seit Keyt/Miller 1991 sind – wie nachfolgende, freilich unvollständige Aufzählung belegt – auch viele Monographien erschienen, die eine Gesamtdeutung der aristotelischen Politik aus einer Hand gegeben haben: Kraut 2002, Miller 1997, 21 Yack 1993 werden hier sicherlich die bekanntesten sein, aber auch Nichols 1992 oder Pangle 2013 haben eigenständige Gesamtdeutungen vorgelegt. Hier könnte man natürlich auch einige andere Namen nennen, jedoch entscheidender als eine vollständige Liste ist das Faktum einer pluralen Forschungslandschaft, welche die gesamte aristotelische politische Philosophie in umfassenden Studien aus verschiedenen Blickwinkeln analysiert.

Pol. IV, 11: 1296a40–b2. Da die mir vorliegende Ausgabe ein Wiederabdruck aus dem Jahr 1997 ist, zitiere ich daher Miller 1997, auch wenn die ursprüngliche Erstausgabe von »Nature, Justice, and Rights in Aristotle’s Politics« aus dem Jahre 1995 stammt.

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Wesentlich fragmentierter präsentiert sich hingegen die deutschsprachige Forschung: Wenn wir wiederum nur monographische Gesamtdarstellungen der aristotelischen politischen Philosophie aus der Feder eines einzigen Autors untersuchen wollen, dann beanspruchen in den letzten fünfundzwanzig Jahren lediglich der umfangreiche Kommentar von Schütrumpf 1991–2005 (im Rahmen der Aristoteles-Gesamtausgabe des Akademieverlags) und die kürzlich erschienene Monographie Knoll 2009 22 eine Gesamtschau der aristotelischen politischen Philosophie zu bieten. Allein diese Darstellungen beschreiben einerseits überblicksartig deren Grundstruktur, gehen aber andererseits auch ins Detail und bieten etwa ausführliche Analysen sämtlicher Verfassungstypen, womit sie sich zu praktisch allen Fragen äußern, die in der aristotelischen Politik angesprochen werden. Auf der einen Seite soll also die vorliegende Arbeit speziell innerhalb der deutschsprachigen Forschung durch eine neue Gesamtdeutung innovative Aspekte einbringen und somit die Diskussion beleben. Auf der anderen Seite wäre die Intention, einen solchen Beitrag speziell in Hinsicht auf die deutsche Forschungslandschaft zu leisten angesichts der heutigen globalisierten Welt und einer weltumspannenden scientific community doch etwas provinziell gedacht. Inwiefern hoffe ich also, mit dieser Arbeit ein Scherflein zur allgemeinen Diskussion über aristotelische politische Philosophie beizutragen? Hier möchte ich methodische und inhaltliche Aspekte gesondert besprechen. Wenn ich zunächst auf methodische Erwägungen eingehen darf, dann fallen Fachleuten sicherlich gleich zwei besondere Problemfelder auf: Zum einen muss jede neuere Arbeit Rechenschaft abgeben und Stellung beziehen in der Forschungsdiskussion um Einheit oder Entwicklung in den uns vorliegenden methodoi, die wir als ein Werk namens Politik kennen und rezipieren. 23 Entweder vertritt jemand eine unitarische Deutung der Politik und entdeckt also keine grundsätzlichen Unterschiede in den vertretenen Lehren zwischen den einzelnen Büchern der Politik. Auch wenn vielleicht einzelne Kompositionsfragen genauerer Betrachtung bedürfen (etwa die Frage nach der Stellung der Bücher VII und VIII), so hat Rapp 2016 kritisiert die spezielle naturalistische Deutung wichtiger Theoreme in diesem Buch. 23 Ein älterer Überblick zu dieser Forschungsfrage ist Rowe 1991. Besonders ausführlich gehen in jüngerer Zeit Knoll 2011 sowie als Reaktion darauf Schütrumpf 2011a auf solche Erwägungen ein – ebenso findet sich überhaupt eine stete Methodenreflexion im Werk von Eckart Schütrumpf. 22

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dies nach Meinung einiger Unitarier eher nur philologische Bedeutung und zeitige wenige philosophische Konsequenzen. Wenn man etwas vereinfachen möchte, ist die anglophone Literatur deutlich unitarisch geprägt und schenkt die Mehrzahl solcher Interpretationen philologischeren Fragen nach dem Verhältnis der einzelnen Bücher untereinander vor dem Hintergrund ihrer Arbeitshypothese einer grundsätzlich einheitlichen politischen Lehre in allen Büchern der Politik relativ wenig Bedeutung. Beispielhaft sehen wir dies daran, dass die meisten Standardwerke der anglophonen Literatur keine intensivere Auseinandersetzung mit der so genannten genetisch-analytischen Deutung Eckart Schütrumpfs führen. Da dieser Forscher in den USA lebt, lehrt und forscht sowie durchaus einige namhafte anglophone Forscherinnen und Forscher andere deutschsprachige Untersuchungen in ihren Literaturverzeichnissen aufführen, liegt der Grund dafür wohl nicht in fehlender Sprachkompetenz. Stattdessen scheint es nicht verfehlt, diese beiden Interpretationsrichtungen als zwei grundsätzlich verschiedene Paradigmen anzusprechen. Daher werden Kommunikationsversuche entweder gar nicht unternommen 24 oder enden eher in Missverständnissen 25. Auf der anderen Seite des Exegesespektrums bestreitet die genetisch-analytische Interpretationsrichtung, dass es sich bei der Politik um ein doktrinal einheitliches Werk aus einem Guss handelt. Entsprechend warnt sie vehement davor, über bestimmte Spannungen dieses Werkes leichtfertig hinwegzugehen und in einer vereinheitlichenden Lesart fruchtbare Differenzen einzuebnen. 26 Daher betrachtet Schütrumpf unitarische Lesarten auch als Verarmung philosophischen Reichtums und glaubt, bei unitarischen Arbeiten einen nivellierenden Eklektizismus feststellen zu können, da nicht vereinbare Standpunkte aus verschiedenen Büchern zu einem großen Einheitsbrei verrührt würden. 27

Wie bereits angemerkt, führen die allermeisten unitarischen Interpretationen keine tiefere Auseinandersetzung mit dem genetisch-analytischen Ansatz: Entweder wird dieser überhaupt nicht erwähnt oder in einer kurzen Nebenbemerkung als rivalisierendes Modell notiert. 25 Vergleiche etwa die Kontroverse im Jahre 2011 zwischen Knoll und Schütrumpf in der Zeitschrift für Politik. 26 Schütrumpf 1991a, 55 beschreibt dies als Gegensatz zwischen (gewaltsamer) Systematisierung und (vorsichtigem) Problemdenken (ähnlich ebenda, 61, Fußnote 4). 27 Vgl. Schütrumpf 2011a. 24

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Da sich die methodischen Arbeitsweisen grundlegend unterscheiden, ist somit klarerweise kein Mischtypus genetisch-unitarisch möglich: Entweder arbeitet man grundsätzlich genetisch-analytisch oder unitarisch. Natürlich sollten damit nicht alle Vertreterinnen und Vertreter der einen oder anderen Richtung in dieselbe Schublade eingeordnet werden, denn manche unitarische Interpretinnen und Interpreten arbeiten beispielsweise philologisch vorsichtiger als andere. Sicherlich ist aufmerksamen Leserinnen und Lesern aufgefallen, dass der Verfasser mit Sätzen wie dem vorangehenden eine gewisse Kritik von Schütrumpf an einigen unitarischen Arbeiten durchaus teilt. Tatsächlich kann man manchmal eine gewisse Sorglosigkeit im Umgang mit dem Text beobachten, Passagen werden isoliert aus ihrem Kontext herausgerissen und die eigentliche Fragestellung nicht beachtet: So wenn etwa plötzlich die Politie als die für Aristoteles absolut beste Verfassungsform ausgegeben wird, obwohl sie textlich belegbar in einer äußerst strengen Betrachtung sogar als Abweichung gelten kann. 28 Dennoch führt meine mit Schütrumpf übereinstimmende Kritik an philologischen Sorgfaltsmängeln einiger unitarischer Arbeiten nicht zu einer philosophischen Übereinstimmung im Sinne einer Qualifizierung vorliegender Arbeit als genetisch-analytisch. Dies wäre auch deutlich zu vereinfacht gedacht, so als könnte man nur mit einem genetisch-analytischen Vorgehen philologisch sauber arbeiten. Unter anderem verschreibe ich mich nicht etwa einer der wichtigen schütrumpfschen Leitthesen, dass Buch III und die Bücher IV–VI verschiedenen Ansätzen folgen. Wie im Laufe meiner Arbeit deutlich werden dürfte, erklären sich die angeblichen Unterschiede durch verschiedene Fragestellungen: Während Buch III das Problem der besten Verfassung erörtert, widmen sich die Bücher IV–VI den übrigen Fragen, welche Verfassung welchen Menschen passt, welches die unter bestimmten Voraussetzungen beste Verfassung ist und welche Verfassung der größten Mehrzahl der Poleis passt. 29 Aristoteles selbst Vgl. Nichols 1992, 98 mit Pol. IV, 8: 1293b23–27. Wie unschwer zu erkennen ist, stellt diese Analyse ein direktes Zitat der aristotelischen Fragehinsichten aus Pol. IV, 1: 1288b21–35 dar. In dieser Hinsicht stimme ich also mit Knoll 2011, 137 überein, dass sich diese vier Aufgaben der Verfassungslehre auf die gesamte Politik und nicht bloß auf Pol. IV–VI beziehen; allerdings unterscheiden wir uns in der Interpretation der Ausführung dieses Programms (überdies beanspruche ich keine Kohärenz von Pol. IV, 1 und EN X, 10).

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weist uns in Pol. IV, 2 darauf hin, dass die Frage nach der besten Verfassung mit Pol. III bereits erledigt ist, denn Königtum und Aristokratie haben sich im Laufe dieses methodos als die gesuchten besten Verfassungstypen herausgestellt: »In der ersten Untersuchung über die Verfassungen haben wir drei richtige Verfassungen [i. S. von Verfassungstypen] unterschieden, das Königtum, die Aristokratie und die Politie, und drei Abweichungen, die Tyrannis vom Königtum, die Oligarchie von der Aristokratie und die Demokratie von der Politie. Über die Aristokratie und das Königtum ist schon gesprochen worden (denn über die beste Verfassung nachzudenken, ist dasselbe wie über diese [Verfassungen] zu sprechen, die diese Namen tragen.« 30 Daher bezieht sich die Frage nach der besten Verfassung von Pol. IV, 1 trotz des scheinbar auf Pol. VII verweisenden Ausdrucks kat’euchên nicht auf das letztgenannte Buch. Wenn ich dies auch anders begründen werde, so pflichte ich im Übrigen der Diagnose von Schütrumpf zu den Büchern VII/VIII bei: »Die Möglichkeit, dass diese beiden Bücher einmal selbständig existierten, sollte ernsthafter erwogen werden, als dies heute geschieht […]« 31 bzw. »Den besten Staat von P o l . VII/VIII und die in den anderen Büchern behandelten Verfassungen trennen Welten.« 32 Hier möchte ich einerseits auf die soziologisch völlig andere Basis von Pol. I–VI im Vergleich zu Pol. VII/VIII hinweisen, auf die ich zu Beginn des Kapitels 3.2.1.3 äußerst kurz eingehe. Ebenso vertreten Pol. VII/ VIII nicht derart deutlich eine institutionalistische Politikauffassung, wie sie sich für Pol. I–VI als typisch herausstellen wird; nicht einmal die berühmte Verfassungslehre spielt hier sichtbar eine größere Rolle. Stattdessen geht hier – und hierin ist sich die Forschung weitgehend einig – Aristoteles noch wesentlich stärker vom Programm der platonischen Nomoi aus. Allerdings würde eine notwendig ausführlichere Begründung den Rahmen sprengen. Daher möchte ich nach Veröffentlichung dieser Arbeit in einem eigenen Aufsatz begründen, warum Aristoteles die Konzeption der »Polis nach Wunsch« im Laufe der Zeit aufgegeben hat und das Buch VII mit den Büchern I–VI sogar inkompatibel ist. Davon abgesehen möchte ich global betrachtet – im Gegensatz zu Schütrumpfs genetisch-analytischen Ergebnissen – die innere Ein30 31 32

Pol. IV, 2: 1289a26–32. (Hervorhebung durch Unterstreichung; B. L.) Schütrumpf 2005, 159. Schütrumpf 2005, 167.

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heit der Bücher I–VI nachweisen und verorte mich insofern als gemäßigt unitarisch – allerdings eben unter Ausschluss von Pol. VII/ VIII. Als gemäßigt unitarisch dürfte meine Arbeit auch deswegen gelten, da sie eine einseitige Interpretation unter Zuhilfenahme bestimmter Textstellen und Ausblendung anderer Passagen, die gerade in der aristotelischen politischen Philosophie leichter möglich ist und manchmal praktiziert wird, vermeiden möchte – ebenso auch die Zusammenstellung oberflächlich ähnlich lautender Passagen zu einer kohärenten Aussage, obwohl die zugrunde liegenden Fragestellungen andere sind. Entsprechend vorsichtig sollte mit der Textbasis verfahren werden: Grundsätzlich liegt der Schwerpunkt naturgemäß in der Politik, jedoch sollen auch die Nikomachische Ethik und die Eudemische Ethik herangezogen werden. Überdies finden ebenso einzelne Passagen aus der Rhetorik, der Verfassung der Athener und aus verschiedenen anderen Schriften (namentlich aus den biologischen) Erwähnung. Besonders die ethischen Schriften liefern immer wieder wichtige Hinweise, teilweise allerdings vor dem Hintergrund anderer Fragestellungen und teilweise auch mit abweichenden Antworten. Sicherlich den größten Unterschied zum Mainstream unitarischer Arbeiten sehe ich indes darin, dass die Annahmen und Ergebnisse der genetisch-analytischen Forschung unbedingt berücksichtigt werden müssen. Während ich bestimmte Kritikansätze des genetischanalytischen Paradigmas nicht als Gefahr für das unitarische Modell ansehe (vgl. beispielhaft Kapitel 3.3.1.3), erschüttern andere Argumente seine Grundfesten: Vor allem denke ich dabei an die äußerst komplexe Problematik rund um die Frage, welche Menschen innerhalb der Bürgerschaft den Vorrang in der Polis beanspruchen dürfen: Ab Pol. III, 9 bis zum Ende des dritten Buches verhandelt Aristoteles diese Frage äußerst skrupulös und differenziert. Meist wird in der unitarischen Forschungsliteratur entweder der angeblich prodemokratische Zugang von Pol. III, 11 privilegiert oder auf die mehrfachen Festlegungen des Aristoteles hingewiesen, dass Königtum und Aristokratie die besten Verfassungstypen seien. Dabei setzen sich die meisten »demokratischen« Interpretinnen und Interpreten von Pol. III, 11 in der Regel weder mit der Vorgeschichte noch mit der Fortsetzung dieser Diskussion auseinander – ebenso wenig wie die Proponenten einer aristokratischen Deutung auf die in Pol. III, 10 und Pol. III, 11 auftretenden Schwierigkeiten erschöpfend eingehen: Während einerseits Pol. III, 9 und andererseits Pol. III, 13–18 sowie 24

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der gesamte Rest der Bücher IV–VI eindeutig die Aristokratie und das Königtum normativ auszeichnen, hinterfragt Pol. III, 10 in radikaler Weise scheinbar sämtliche Verfassungstypen und wirft Pol. III, 11 durch die Frage nach dem Kompetenzumfang der Volksmenge ganz eigene Probleme auf. Anders formuliert: Wer Pol. III, 11 zur aristotelischen Antwort auf die Frage nach der besten Verfassung erklärt und dieses Kapitel entweder demokratisch oder im Sinne einer Mischverfassung demokratisch-aristokratisch interpretiert, muss erklären können, warum Aristoteles nach Pol. III, 11 scheinbar unbekümmert Königtum und Aristokratie zu den besten Verfassungstypen erklärt und die angebliche Pol. III, 11-Lösung einer Demokratie oder eines demokratischaristokratischen Mischtypus nicht in Betracht kommt. Noch gravierender ist das Problem freilich für das Gros der unitarischen Deutungen angloamerikanischer Provenienz, denn diese bevorzugen in Übereinstimmung mit der aristotelischen Rangfolge meist eine aristokratische Lesart: Häufig bleibt hier nicht nur ungeklärt, wie Pol. III, 11 mit einer aristokratischen Lesart vereinbart werden kann, sondern vor allem wird die Gefährlichkeit der Kritik von Pol. III, 10 an der Aristokratie nicht zur Kenntnis genommen oder ihr irgendwie begegnet. Lediglich der genetisch-analytische Ansatz hat bisher ein kohärentes Modell geboten, indem hier verschiedene Fragestellungen unterschieden werden und die angeblich verschiedenen Antworten somit einleuchtend erklärt werden können. Daher konnte ausgerechnet für das immer wieder als Zentrum der Politik 33 bezeichnete Buch III unitarisch bisher noch keine befriedigende und kohärente Deutung gegeben werden. Anders formuliert: Solange die von mir beschriebenen, teilweise auf genetisch-analytische Einwände zurückgehenden Schwierigkeiten nicht behoben sind, ist das unitarische Modell nicht nur nicht imstande, für die Einheitlichkeit der gesamten aristotelischen Politik überzeugend zu argumentieren, sondern gerade das von ihr behauptete Zentrum zerfällt in verschiedene Teile. Insofern halte ich eine gründliche Auseinandersetzung mit dem genetischanalytischen Paradigma für äußerst wichtig und eine verbesserte Version des unitarischen Modells stellt daher ein dringliches Postulat dar. Daher möchte ich im Laufe der gesamten Arbeit die innere Kohärenz der Bücher I–VI nachweisen: Neben anderen einschlägigen 33

Vgl. Keyt 1991a, 247.

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Kapiteln sticht allein schon bei einem Blick ins Inhaltsverzeichnis sicherlich Kapitel 3.3.1.3 ins Auge und speziell für die angesprochene Problematik rund um Pol. III, 9–18 der Abschnitt 3.2.1.3. Abgesehen von den ausführlichen expliziten Hauptargumentationen dafür möchte ich bereits jetzt darauf aufmerksam machen, dass ich in den Fußnoten nicht aus philologischer Sammelfreude heraus viele Belegstellen aus verschiedenen Büchern kombiniere. Vielmehr soll dies unterstreichen, dass sich für die verhandelten Thesen nicht nur in einem einzigen Buch oder Kapitel Belege finden, sondern häufig in mehreren – gerade im Hinblick auf das umstrittene Verhältnis der Bücher IV–VI zu Buch III zeigen sich häufig interessante Konvergenzen dieser beiden Blöcke. Schon an der Nahtstelle zu den inhaltlichen Überlegungen möchte ich abschließend das zweite methodische Problemfeld kurz skizzieren und einige Bemerkungen zur Ausrichtung dieser Arbeit machen. Grundsätzlich könnte dieselbe Arbeit auf zwei verschiedene Weisen extrem unterschiedlich angelegt werden: Einerseits könnte von einem modernen Standpunkt aus ein Hauptgewicht auf eine destruktive Kritik der aristotelischen Positionen gelegt und so vorrangig eine Opposition gegenüber Aristoteles stark gemacht werden. Hier böten sich reiche Betätigungsfelder, da Aristoteles unserem heutigen Rechtsstaatsverständnis in mannigfacher Weise entgegensteht: Diskriminierung von Sklaven, Barbaren und Frauen sowie die bekannte Demokratiekritik, die allesamt unserem heutigen Verständnis von allgemeinen Menschenrechten im Sinne der Gleichheit der Menschen an Würde zuwiderlaufen. Auf der anderen Seite des Interpretationsspektrums stünde ein apologetischer Traditionalismus, der Aristoteles als Korrektiv zu unserer heutigen Moderne mit all ihren angeblichen und tatsächlichen Defiziten sieht. Tendenziell müssten hier die bekannten Schwächen der aristotelischen politischen Philosophie heruntergespielt werden, um eine positive Anknüpfung zu ermöglichen. Diese Arbeit beschreitet keinen dieser Wege, sondern möchte einen dritten Weg einschlagen, den man auch mit kritischer Hermeneutik umschreiben könnte. Grundsätzlich möchte ich den Grundsatz der hermeneutischen Billigkeit beherzigen, also die Position von Aristoteles in ihren starken Argumenten rekonstruieren. Auch im Sinne der Fairness sollte der Abstand von nun schon fast 2500 Jahren zu diesem Denker beachtet und damit der historische Kontext einbezogen sowie der philosophiegeschichtliche Abstand nicht nivelliert 26

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werden. Gerade eine problemgeschichtliche Darstellung des Aristoteles als Kritiker und Nachfolger Platons 34 sowie ein gelegentliches Heranziehen auch althistorischer Forschungsliteratur als Annäherung an die aristotelische Lebenswelt ermöglichen uns vielleicht eine gerechtere Würdigung dieses Denkers als ein ständiges Aufzeigen von – realen oder auch nur vermeintlichen – Defiziten im Vergleich zu modernen Positionen. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis dieser Arbeit lässt jedoch vielleicht vermuten, dass eine solche wohlwollende philosophiegeschichtliche 35 Betrachtung in eine traditionalistische Apologie münden könnte. Schließlich werden die üblichen Reizthemen der Sklaven-, Barbaren- und Frauendiskriminierung im Rahmen dieser Dissertation keiner kritischen Analyse unterzogen. Aber dies liegt nicht etwa in einem verirrten Bestreben begründet, das Licht des Aristoteles heller strahlen zu lassen. Vielmehr führten solche Analysen vom Hauptstrom meiner eigenen Überlegungen ab: Dass an diese aristotelischen Lehrstücke heute nicht mehr positiv angeknüpft werden kann, ist unbestritten und ebenso, worin sie sich verfehlen. Daher ist Aristoteles in seinem Philosophieren über die rechte Ordnung einer politischen Gemeinschaft für uns Heutige weniger anknüpfungsfähig in Angelegenheiten des substantiellen Rechtsstaates als vielmehr in der allgemeineren Problematik eines formellen Rechtsstaates. Entsprechend konzentriert sich diese Arbeit auf allgemeinere Aspekte der politischen Philosophie des Aristoteles, weil ich einige Einsichten, die den Grundriss der politischen Philosophie betreffen, für anschlussfähiger halte als die detaillierte Ausführung. Ebenso wie an der Nikomachischen Ethik heutzutage eher die all-

Verständlicherweise kann und will diese Arbeit nicht den Anspruch erheben, auch die platonische politische Philosophie in ihren Grundzügen darzustellen. Trotzdem möchte sie diese aber immerhin an geeigneter Stelle als Kontrastfolie zu den aristotelischen Positionen heranziehen. 35 Die Philosophiegeschichte selbst ist wiederum eine Quelle von Zugängen zur politischen Philosophie des Aristoteles: einerseits im bereits vorgestellten Sinne des Kontextes für diesen Denker selbst; andererseits ziehe ich spätere große Denker als Interpreten von Aristoteles heran. Allerdings ist damit keineswegs das Projekt einer Wirkungsgeschichte angestrebt, noch betreibe ich komparatistische Studien. In gewisser Weise gebrauche ich Autoren einer späteren Philosophiegeschichte nicht anders als moderne Forscherinnen und Forscher bemüht werden – nämlich als interpretierende Stimmen zu Aristoteles. 34

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gemeinen Umrissbestimmungen (typos) 36 von systematischem Interesse sind und weniger die speziell-konkreten Tugendausgestaltungen etwa einer Freigebigkeit oder einer Tapferkeit, ebenso dürften auch in der Politik – so zumindest die Arbeitshypothese dieses Werkes – weniger Detailfragen eines »angewandten Teils« wie Sklavereibejahung, Frauendiskriminierung und Barbarenverachtung unser positives systematisches Interesse wecken. Stattdessen sind es auch hier im Wesentlichen allgemeinere Einsichten. Wenn wir uns also nun den inhaltlichen Aspekten zuwenden wollen: Worin besteht der inhaltliche Beitrag, den diese Arbeit zur Forschungsdiskussion beitragen möchte? Bevor diese Frage im Laufe der Arbeit detailliert geklärt wird, zunächst eine allgemeinere Zielsetzung: Getreu der gerade gegebenen Auskunft legt diese Arbeit einen Schwerpunkt auf die allgemeinen Grundzüge der aristotelischen politischen Philosophie und stellt dabei die Ordnungsfrage in den Mittelpunkt. Leider werden in der ausufernden Forschungsliteratur diese Fragen nach der gefährdet-instabilen Ordnung als Problem einer (in-) stabilen Ordnung und nach der verfehlt-unbefriedigenden Ordnung als Problem einer normativ (un-)befriedigenden Ordnung nur selten explizit gestellt, sondern meist werden bestimmte Spezialfragen ungeachtet dieses Gesamtkontexts behandelt. Häufig wird gleich in medias res gegangen und es werden bestimmte Analysen von Teilaspekten der aristotelischen politischen Philosophie vorgenommen. Da meist keine Gesamtinterpretation der politischen Philosophie geleistet wird oder implizit im Hintergrund steht, verknüpfen manche Autorinnen und Autoren mehr oder weniger gekonnt verschiedene Themenfelder relativ lose miteinander (enden also in einer systematisch relativ unklaren additiven Aufzählung bestimmter Aspekte) und verzeichnen so das Gesamtbild. Glücklicherweise gibt es allerdings auch durchaus einige ambitioniertere Projekte. Grundsätzlich unterscheidet sich die vorliegende Arbeit jedoch auch von diesen darin, dass sie in der aristotelischen politischen Philosophie einen roten Faden in der bereits genannten Frage nach der Ordnung sieht, diesen dann kontinuierlich weiterverfolgt und dabei weder die Machtproblematik unterschätzen noch die normative Dimension unterbestimmen möchte. Anders formuliert:

36 Vgl. dazu die aristotelischen Überlegungen in EN I, 1 sowie die Forschungen Otfried Höffes (zusammengefasst in Höffe 2010b, 19–30).

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Wenn wir die Grundfrage nach der Ordnung in der Polis stellen, dann dürfen für Aristoteles weder die tatsächlich auftretenden Stabilitätsprobleme aufgrund einer normativ überstarken Zielsetzung unbeachtet bleiben, noch umgekehrt die Polis allein als bloßer Schauplatz von Machtkämpfen unter Abblendung sämtlicher normativer Ansprüche und Ziele betrachtet werden. Worin besteht nämlich laut Aristoteles der Sinn und Zweck der politischen Gemeinschaft? Hier entnehmen wir bereits den ersten beiden Kapiteln des ersten Buches der aristotelischen Politik (sowie ergänzend u. a. auch Pol. III, 9), dass die Polis eine Gemeinschaft sowohl um des bloßen Lebens als aber auch um des Letztziels des guten Lebens willen ist – Kapitel 1.1.2 beschäftigt sich daher ausführlich mit der eudaimonia als Ziel und Zweck der politischen Gemeinschaft. Gerade das Kapitel Pol. I, 2 zeigt deutlich die doppelte Problematik der politischen Ordnung: Ausgehend von einer Diskussion der in diesem Kapitel aufgeworfenen Probleme werden wir im Laufe des ersten Abschnitts (»I. Die Beschaffenheit der politischen Ordnung«) erarbeiten, dass der Mensch in der Polis das normative Ziel der eudaimonia, des guten Lebens, anstrebt, dies aber von Aristoteles realistisch und nicht normativ überzogen dargestellt wird. Auf der anderen Seite kann man nicht nur in der Nikomachischen Ethik, sondern auch in der Politik (namentlich in den Kapiteln Pol. III, 9, Pol. III, 12–13 sowie einigen Kapiteln in den Büchern IV–VI) beobachten, dass alle Gruppierungen normative Ziele anstreben, bestimmte Auffassungen des Guten, Gerechten und Nützlichen haben und – auf ihren Beitrag zum guten Leben der Gemeinschaft sich berufend – Ansprüche auf eine bestimmte Beteiligung an der Macht erheben. Aber aus der in der Nikomachischen Ethik beschriebenen Beobachtung, dass alle Menschen das gute Leben anstreben, und dem für die Politik besonders wichtigen Zusatz, dass Fragen des Gerechten und Nützlichen von allen Gruppierungen für wichtig erachtet werden, folgt natürlich keineswegs eine Tugendhaftigkeit dieser Bürger. Schließlich betrachtet Aristoteles die meisten Menschen nicht als tugendhaft im eigentlichen und wahren Sinne oder genügen ihre Thesen zum Gerechten und Nützlichen nicht dem Gerechten an sich, sondern sind häufig vor allem eigennutzgeleitet und insofern nicht gemeinwohlorientiert. Insofern widersprechen das normative Ziel eines guten Lebens und die in der politischen Wirklichkeit raue und häufig moralischen Ansprüchen nur wenig genügende Politik einander trotzdem nicht: Aristoteles verbindet also perfektionistische Ziele in seinen normatiOrdnung in der Polis

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ven Anforderungen mit einem realistischen Menschenbild in seiner deskriptiven Beschreibung. Schon in Pol. I, 2 bestätigt sich eine solche Einschätzung, denn einerseits beschreibt hier Aristoteles in berühmten Wendungen die Polis als eine um des vollkommenen Lebens willen existierende Gemeinschaft und schildert andererseits auch die Wildheit und Ruchlosigkeit des Menschen, wenn er getrennt von Gesetz und Recht sein Leben führt. Vertieft finden sich diese Analysen dann vor allem im dritten Buch sowie in den Büchern IV–VI: Einerseits charakterisiert er dort die verschiedenen Verfassungen und ihre Anhänger über ihre normativen Ziele, etwa in Fragen des Gerechten und Nützlichen oder über ihr Gesamtziel; andererseits verschweigt er nicht, dass die meisten und mächtigsten Gruppierungen keineswegs allgemeinwohlorientiert sind und in ihrem pleonektischen Streben nach Eigennutz häufig die berechtigten Ansprüche anderer Mitbürger mit Füßen treten, sodass nur allzu häufig gewalttätig-ungerechte Macht statt friedlich-gerechtem Recht dominiert. Häufig wird diese Spannung zwischen normativen Zielen und realistischer Beschreibung des Ist-Zustandes in der Forschungsliteratur einseitig aufgelöst: Entweder wird Aristoteles vorwiegend in seinen normativen Zielsetzungen beschrieben, was dann aber zur Vernachlässigung seiner realistischen Seiten führt. Beispielsweise analysiert Fred Miller in seinem Werk »Nature, Justice, and Rights in Aristotle’s Politics« die seither untrennbar mit ihm verknüpfte normative Frage nach Rechten bei Aristoteles. Jedoch unterschätzt Miller die Stabilitätsprobleme, die Aristoteles für jede Verfassung aus verschiedenen Gründen annimmt. So meint Miller etwa, dass die Stabilität einer Verfassung an dem Ausmaß des Gerechten hänge, sodass ungerechte Verfassungen aufgrund ihrer normativen Defizite stürzen und umgekehrt gerechte Verfassungen zuversichtlich auf das Wohlwollen ihrer Bürger hoffen können. 37 Da ich mich in Kapitel 2.4 dieser Arbeit ausführlich mit dieser Interpretation beschäftige, sei an dieser Stelle knapp darauf verwiesen, dass für Aristoteles ausgerechnet die ungerechten Verfassungstypen von Demokratie und Oligarchie vorherrschen, während die besten Verfassungsformen des Königtums oder der Aristokratie kaum in der politischen Wirklichkeit vorkommen. Anders ausgedrückt: Norm und Normalzustand klaffen weit auseinander. Aber auch viele andere Interpreten beschreiben in 37

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Vgl. etwa Miller 1997, 269 mit Miller 2007a, 31 Anmerkung 7.

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ihren Studien vor allem die aristotelischen Sollensvorstellungen und vernachlässigen darüber dessen nüchtern-realistische Charakterisierung der brutalen Wirklichkeit. Interpreten jäh aus ihren normativen Träumen zu reißen, dies ist das erklärte Ziel von Eckart Schütrumpfs Analysen: Unbarmherzig zerstört er dabei die Illusion, es handle sich bei aristotelischer politischer Philosophie um eine normative Idylle. Vielmehr durchstreifen wir mit Schütrumpf eine normative Landschaft, in der die Blumen des Guten nur selten blühen und realistische Schilderungen eher deprimierende Hoffnungslosigkeit aufkommen lassen. Schließlich werde hier in der reifen und nüchternen Sicht der Bücher IV–VI nur noch auf Stärke abgestellt und spielen normative Überlegungen auch für die Bürger keine Rolle mehr. 38 Zwar kann Schütrumpf damit den machtpolitischen Realismus des Aristoteles würdigen, aber unterschätzt er so nicht die normative Ausrichtung der Bürger und bestimmt so die aristotelische Polis als Ort normativer Zwecke unter, indem er sie zu einem bloßen Ort von Machtkämpfen degradiert? 39 Bereits im ersten Buch lässt Aristoteles die Polis aus gemeinsam geteilten normativen Überzeugungen in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen entstehen. 40 Während dies noch neutral gelesen werden kann, bestimmt das zweite Buch den normativen Zusammenhalt näherhin als politische Freundschaft und preist diese als höchstes Gut. 41 So könnte man meinen, Aristoteles gehe hier den platonischen Weg und sehe das Elend in den Poleis dadurch beendet, dass die Tugendhaften in einer familiär gedachten persönlichen TugendfreundVgl. Schütrumpf 2011a, 267. Bezeichnend etwa, dass Schütrumpf 1991b, 482 f. Anm. 63,40 Aristoteles für die Bücher IV–VI eine sophistische Rechtsauffassung zuschreibt (Recht ist wie bei Lykophron lediglich das Verhindern von Unrecht, aber nicht mit weitergehenden normativen Zielen wie Tugend befasst). Dies führt sogar in Aristokratien zu einer sehr weitgehenden normativen Entleerung: »Es muß betont werden, daß anders als in Ar. P o l . III 12 f. dieser gute Zustand des Staatslebens hier nicht die Verwirklichung des vollkommenen Lebens […], d. h. von Glück (III, 9, 1280 b 39 ff.; VII 1, 1323 b 30), ist, vielmehr spricht Ar. im besten Falle, d. h. in Aristokratien (1300 a 4), vom Wohlbetragen von Frauen und Kindern und der Einhaltung von Marktordnungen (1299 b 16).« (Hervorhebung durch Unterstreichung; B. L.) Von einer anderen Fragestellung her antwortet Schütrumpf 1996, 127: Der leitende Politiker und Gesetzgeber von IV–VI setzt sich nicht mehr das Ziel einer gerechten Ordnung, sondern wünscht eine Ordnung, die das Kräfteverhältnis angemessen widerspiegelt. 40 Vgl. Pol. I, 2: 1253a14–18. 41 Vgl. Pol. II, 4: 1262b7–9. 38 39

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schaft einander zugetan seien und die weniger Tugendhaften besonnen diese Herrschaft akzeptierten. Tatsächlich vertritt Aristoteles in EN IX, 6 mit der homonoia noch ein ähnliches Modell, weswegen etwa Miller die politische Freundschaft vor diesem Hintergrund versteht. Allerdings tritt hier dabei das Problem auf, dass Platon und Aristoteles eine solche homonoia im wahren Sinne nur den Tugendhaften zusprechen, womit also eine Stabilität ungerechter Verfassungstypen mit nicht-tugendhaften Bürgern nicht erklärt werden könnte. Entsprechend klären die Kapitel 1.1.4 und 1.1.5 den Begriff der politischen Freundschaft und weisen nach, dass Aristoteles in der Politik darunter relativ wertneutral die politische Übereinstimmung in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen versteht, die auch Tugendlose oder wenig Tugendhafte im Kontext einer Nutzenfreundschaft gemeinsam haben können. Somit vermag Aristoteles durch dieses ausgewogene Konzept der politischen Freundschaft die Polis zum einen immer noch als normatives Projekt zum Zwecke des guten Lebens anzusehen (contra Schütrumpfs normativ ausgedünnten Hyperrealismus ohne normatives Band); zum anderen vermeidet er es, die Bürger normativ zu überfordern, indem diese nur als Tugendhafte eine dauerhafte Verbindung eingehen könnten (contra Millers starken Normativismus ohne machtpolitischen Realismus). Überspitzt ausgedrückt muss Aristoteles bei Schütrumpf eine sehr weitgehende normative Entleerung der politischen Gemeinschaft in Kauf nehmen, um Ordnung in der Polis zu schaffen, während sich Aristoteles bei Miller zwar eine normativ befriedigende Ordnung in der Polis ausdenkt, aber dies angesichts von Egoismus und Tugendlosigkeit machtpolitisch ein Wolkenkuckucksheim ist. Da Aristoteles im Gegensatz zu Platon die Vielheit in der politischen Gemeinschaft anerkennt und nicht wie dieser in einem Organizismus aufzuheben versucht (vgl. Kapitel 1.1.3), sieht er sich – gerade vor dem Hintergrund seines realistisch-nüchternen Menschenbildes – vor das Problem gestellt, worin denn angesichts der widerstreitenden Eigeninteressen der verschiedenen Bürgergruppierungen die nötige Einheit der Polis überhaupt bestehen kann. Anders als Platon kann Aristoteles sein Heil nicht in einem Personalismus suchen, denn die Ansprüche der Freien, Reichen und Tugendhaften auf einen Anteil an der Polis haben alle eine gewisse Berechtigung, und daher kann die platonische politische Entrechtung der Nicht-Tugendhaften einerseits normativ nicht zulässig sein und stößt andererseits auch auf das 32

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Stabilitätsproblem, dass die verschiedenen Gruppierungen sich nicht gerne entrechten lassen wollen (vgl. für diese Problematik v. a. Kapitel 3.2.1.3). Argwöhnisch belauern die verschiedenen Gruppierungen einander und gönnen einander nichts, da sie eben nicht persönlich befreundet sind und – wie gesagt – auch nicht tugendhaft oder gerecht sind. Entsprechend kann Aristoteles nicht für eine Herrschaft von Menschen plädieren (abgesichert durch eine platonisch-persönliche Freundschaft der Bürger untereinander), sondern setzt sich für eine Herrschaft der Gesetze ein (abgesichert durch eine unpersönlichpolitische Freundschaft im Sinne einer Verfassungsfreundschaft als geteilten Auffassungen in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen). 42 Gerade in dieser Auflösung der Frage nach der Gewährleistung der Ordnung durch die Rechtsordnung liegt ein weiterer wichtiger Forschungsansatz dieser Arbeit. Ab Kapitel 1.1.6 wird dies ausgearbeitet und in den Kapiteln 1.2 und 1.3 vertieft. Damit wird auch die vorherrschende distributive Lesart der aristotelischen politischen Philosophie in Frage gestellt: Bereits Kapitel 1.1.5, aber auch die nachfolgenden Kapitel weisen nach, dass ein Schwerpunkt auf Fragen des distributiv Gerechten zum einen die normative Dimension der politischen Gemeinschaft unterbestimmt und letztlich die Polis nur in ihrem Aspekt als Machtordnung erklären kann; 43 zum zweiten beruht überdies für Aristoteles bekanntlich der Wert eines Bürgers auf einer Würdigung seiner Leistungen für das gute Leben der Gemeinschaft. Insofern weist das distributiv Gerechte schon seiner Anlage nach über sich hinaus und kann daher weder den architektonischen Schlussstein noch das Herzstück normativer Überlegungen bilden. Last but not least sei auch darauf aufmerksam gemacht, dass ein distributiver Schwerpunkt der »rule of law« widerspricht, da in der Polis das kyrion eben nicht irgendwelchen Menschen zugewiesen werden sollte, sondern den Gesetzen.

Vgl. dazu einerseits Kapitel 1.1.6 und andererseits Abschnitt 1.3.2. Vgl. etwa die Bestimmung der Verfassung bei Knoll 2011, 131: »Aristoteles begreift die Verfassung als die Ordnung, die festlegt, wer in der Polis herrschen, das heißt entscheiden und befehlen darf.« Auf der nächsten Seite bringt Knoll zwar auch die erweiterte Verfassungsdefinition von Pol. IV, 1, bestätigt aber ausdrücklich den Befund, dass Aristoteles die Verfassung einer Polis mit ihrer Herrschaftsordnung identifiziere und lässt sie durch zwei ethische Aspekte (distributive Gerechtigkeit und Endziel der Polis) fundiert werden.

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Damit ist nun zu den Problemen der allgemeinen Beschaffenheit der politischen Ordnung in ihrem Grundansatz bei Aristoteles hingeleitet worden. Abschnitt I wird diese Analyse ausführlich leisten, während Abschnitt II die aristotelischen Evaluationskriterien für eine Bewertung der Rechtsordnungen herausarbeitet und Abschnitt III für sämtliche Verfassungstypen die konkreten Evaluationsergebnisse nachweist. Sodann diskutiert der Schlussteil die philosophische Ergiebigkeit des aristotelischen Ansatzes sowohl für dessen eigenes Zeitalter als auch für unsere gegenwärtige Situation: Kann also Aristoteles mit seinen beiden Grundgedanken der Rechtsordnung sowie der politischen Freundschaft sowohl einerseits beanspruchen, normativ gehaltvolle und dennoch machtpolitisch realistische Vorschläge für das Ordnungsproblem seiner Zeit gemacht zu haben, als auch andererseits für die heutige politische Ordnung nicht nur als negative Kontrastfolie zu gelten?

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I. Die Beschaffenheit der politischen Ordnung

1.1 Worin besteht politische Ordnung für Aristoteles? 1.1.1 Die doppelte Bedeutung von polis und die Konsequenzen für den Begriff des Politischen Wenn wir uns den Titel dieser Arbeit ansehen (»Ordnung in der Polis. Grundzüge der politischen Philosophie des Aristoteles«), sind natürlich beide Hauptbegriffe des ersten Satzes klärungsbedürftig. Während die weiteren Kapitel den Ordnungsgedanken bei Aristoteles näher ausführen, möchte ich in diesem Unterkapitel den doch nicht so eindeutigen Begriff polis untersuchen. Schließlich scheinen auf den ersten Blick zwei Stellen aus dem III. und dem VII. Buch der Politik einander zu widersprechen. In Pol. III, 4: 1277a5 erklärt Aristoteles, dass die Polis aus Unähnlichen bestehe, während er sie in Pol. VII, 8: 1328a35 f. als Gemeinschaft von Ähnlichen zum Zwecke eines möglichst besten Lebens auffasst. Jedoch löst sich diese vermeintliche Inkonsistenz auf, sofern man den Kontext dieser Stellen beachtet und überdies auch mit der Doppeldeutigkeit des griechischen Wortes polis vertraut ist. Aristoteles merkt selbst an, dass polis mehrere Bedeutungen habe, und unterscheidet entsprechend dem üblichen griechischen Sprachgebrauch zwischen einem umfassenden und einem engeren Sinne von polis. 1 Einerseits sprechen wir von der polis im umfassenderen Sinne einer Stadt, andererseits bedeutet dieser Begriff in einem engeren Sinne die Bürgerschaft als Rechtsgemeinschaft der Freien. 2 Prominente Althistoriker wie Hansen oder Ober unterscheiden auf ähnliche Weise polis Die Mehrdeutigkeit konstatiert er in Pol. III, 3: 1276a23 f. Zur Mehrdeutigkeit: Pol. III, 3: 1276a23 f. Zur umfassenden Bedeutung als Stadt ist besonders wichtig Pol. III, 4: 1277a5–10. Als weitere Belege mögen die Stellen in Pol. I, 2 dienen, in denen Aristoteles das Entstehen einer Polis aus Dörfern schildert. Zum engeren Sinn als Bürgerschaft siehe Pol. III, 6: 1279a21 oder Pol. III, 9: 1280a31–34. In der umfassenden Bedeutung gehören die Sklaven dazu, in der engeren nicht. 1 2

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im städtischen Sinne (»urban sense« bei Hansen, »geo-polis« bei Ober) und polis im Bürgerschaftssinne (»political sense« bei Hansen, »politico-polis« bei Ober), unter den Philosophen vollzieht namentlich Kraut diese wichtige Differenzierung. 3 Ein genauerer Blick auf unsere Stellen bestätigt den Verdacht, dass Aristoteles an diesen zwei scheinbar widersprüchlichen Stellen einmal von polis im »urban sense« und einmal von polis im »political sense« spricht. Im Umfeld von 1277a5 zählt er zu den Mitgliedern der Polis nämlich auch die unfreien Knechte, die ja bekanntlich nicht Teil der Bürgerschaft sind 4. Dagegen geht es ihm im Kontext von 1328a35 um die Abgrenzung der Bürgergemeinschaft gegenüber denjenigen Bestandteilen einer Stadt, die zwar notwendig sind, jedoch nicht zur Bürgerschaft gehören. Entsprechend müssen wir bei jeder Passage, in der die Polis genannt wird, streng auf den Kontext achten. Wenn dies unterbleibt, führt das zu Interpretationsproblemen: So zeigen sich Interpreten wie Bates verwirrt, warum in Pol. I, 3 der Haushalt und seine Bewohner als kleinste Teile der Polis gelten, aber in Pol. III, 1 der Bürger: Da er das zu analysierende Ganze in beiden Fällen für dasselbe hält, wundert er sich, warum die kleinsten Teile in den Analysegängen von I und III verschieden ausfallen. 5 Dagegen kann die gerade herausgearbeitete Doppeldeutigkeit des Begriffs polis als Stadt und als Bürgerschaft dieses Puzzle ohne weiteres auflösen. Selbstverständlich ist das bisher erreichte Interpretationsergebnis bloß der Auftakt zur eigentlichen Frage. Schließlich wissen wir nun, dass die zwei Bedeutungen von polis als Stadt und als Bürgerschaft streng voneinander unterschieden werden sollten. Allerdings ist damit natürlich nicht geklärt, in welcher Beziehung sie zueinander Vgl. Hansen 1996, 196–203 (besonders 202) bzw. Hansen 1995, 56 und Ober 1996, 161–187. Für unseren Zusammenhang reicht die Übereinstimmung dieser beiden Forscher, dass man eine Polis im städtischen Sinne (»urban sense« bei Hansen, »geopolis« bei Ober) und eine Polis im Bürgerschaftssinne (»political sense« bei Hansen, »politico-polis« bei Ober) unterscheiden kann. Ob die Polis als Einheit von Staat und Gesellschaft gedacht werden soll oder nicht, ist zwischen ihnen umstritten. Relativ selten weisen Philosophen auf diese wichtige Doppeldeutigkeit von polis hin, eine wichtige Ausnahme bildet – wie gesagt – etwa Kraut 2002, 13. Anders überträgt etwa Rosler 2005, 69: »state« und »society«. Hansen 2007 wertet aus, wie oft in philosophischen Quellen die polis im »urban sense« und wie häufig dieses Wort im »political sense« gebraucht wird (vgl. Hansen 2007, 246–252). 4 Vgl. Pol. III, 9: 1280a31–34. 5 Vgl. Bates 2003, 30. 3

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stehen. Bereits oben haben wir festgestellt, dass die polis im Sinne der Stadt umfassender aufgefasst wird und gewissermaßen eine Ordnung aller ihrer Einwohner darstellt. Demgegenüber bildet die Bürgerschaft bekanntlich nur eine Teilmenge der Einwohnerschaft, nämlich die Gemeinschaft der freien Bürger. Gerade diese Differenz muss jedoch auf jeden Fall beachtet werden, da wichtige systematische Weichenstellungen durch sie mitentschieden werden. Einerseits spielt dies in späteren Überlegungen immer wieder eine wichtige Rolle, andererseits sind wir so sensibler gegenüber möglichen Mehrdeutigkeiten bei verwandten Begriffen. So können wir etwa mit dem Ausdruck einer »politischen Herrschaft« drei verschiedene Phänomene bezeichnen, nämlich 1) eine politische Ordnung [p1] im Sinne eines Gegensatzes zu einer häuslichen Ordnung, 2) innerhalb einer politischen Ordnung p1 eine gemeinwohlorientierte Art der Regierung [p2] im Sinne eines Gegensatzes zu einer despotisch-eigennützigen Regierungsweise [d2] und 3) finden wir unter den politischen Verfassungstypen p2 nicht nur die Aristokratie, sondern auch die Politie [p3]. Ebenso wie sich »politische Herrschaft« als vieldeutig herausgestellt hat, können wir auch zwei verschiedene Verwendungsweisen von »despotisch« festhalten: 1) die despotische Herrschaft im Haus [d1], die einerseits »auf der obersten Ebene« im Gegensatz zur politischen Herrschaft p1 steht sowie andererseits »horizontal« innerhalb des Hauses der ökonomischen Herrschaft über Frauen und Kinder entgegengesetzt ist (vgl. für letzteren Punkt Pol. III, 6: 1278b32–1279a2), 2) innerhalb einer politischen Ordnung p1 eine eigennutzzentrierte Art der Herrschaft [d2] im Sinne eines Gegensatzes zu einer allgemeinwohlorientierten Regierungsweise. 6 Wie dies graphisch dargestellt aussieht, zeigt Abb. 1 (vgl. S. 39). Gerade diese Lehre von der Mehrdeutigkeit von politisch und despotisch erweist sich in mehrfacher Hinsicht als von zentraler Bedeutung: Einerseits wird der laut Aristoteles bei Platon ungenügend konturierte Gegensatz zwischen [p1] und [d1] eine sehr wichtige Wasserscheide zwischen platonischer und aristotelischer politischer Wie wir sehen werden, gehört dies zu den wichtigen aristotelischen Erkenntnissen und Fortschritten gegenüber Platon, dass auch despotische Polisordnungen d2 selbstverständlich zu den politischen Ordnungen p1 gehören. Aber auch nicht-platonische Interpretationen rechnen manchmal d2 nicht zu p1 (vgl. etwa Yack 1993, 57 und v. a. 61).

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Philosophie darstellen; andererseits gehört der Unterschied zwischen [p2] und [d2] später zu den grundlegenden Kriterien für die Beurteilung der normativen Qualität der verschiedenen Verfassungstypen. 7 Bereits auf der deskriptiven Ebene betont Aristoteles, dass Platon gewissermaßen einen Kategorienfehler begeht: Schließlich verabsäume dieser es, die unterschiedlichen Herrschaftsweisen über Polis [p1] und Haus [d1] gebührend zu trennen. 8 Bekanntlich glaubt Platon nämlich, dass sich die Herrschaft über ein Haus und diejenige über eine Polis nur in der Quantität der Beherrschten, aber nicht in einer verschiedenen Qualität unterschieden. 9 Damit ebnet Platon jedoch in der Sicht des Aristoteles den wichtigen Unterschied zwischen [p1] und [d1] ein und verkennt somit die Eigenart der politischen Ordnung, über die er uns einführend in Pol. I, 2 informiert. Bekanntlich untersucht Aristoteles in diesem Abschnitt die verschiedenen Formen von menschlichen Gemeinschaften, was auch den Leitfaden für das kommende Kapitel abgibt. 10

1.1.2 Die eudaimonia als Zweck der Polis: Zur »Natürlichkeit« der Polis Wohl jeder moderne Leser stößt sich bei einer Lektüre von Pol. I, 2 unweigerlich an einem ihrer berühmtesten und auch berüchtigtsten Sätze, die Polis sei etwas Natürliches und sogar von Natur aus früher als Familie und Individuum. 11 Obwohl die damit heutzutage einherVgl. Kapitel 2.2 dieses Buches. Vgl. Pol. I, 1: 1252a7–16, wobei der Name seines ehemaligen Lehrers nicht ausdrücklich fällt. Jedoch ist sich die Forschung völlig einig, dass hier auf den Politikos angespielt wird. 9 Dass dies für Aristoteles nicht nur einen Unterschied zwischen Herrschaftsweisen in einer Polis und Herrschaftsweisen in einem Haus betrifft, wobei aber eigentlich Haus und Polis bei Platon dennoch genug unterschieden wären, zeigt das Kapitel 1.1.3. Wie wir dort sehen werden, wirft Aristoteles seinem ehemaligen Lehrer Platon tatsächlich vor, die Polis als eine Art Haus (oder gar Einzelmenschen) misszuverstehen. Auch Kapitel 1.1.5 belegt, dass Aristoteles in der platonischen Polis eine unzulässige Übertragung von häuslichen Strukturen auf die tatsächlich doch wesentlich anders geartete Polis feststellt. 10 Daher würde ich anders als Ambler 1985, 166 Pol. I, 2 nicht bloß als Zwischenspiel zwischen dem Versprechen einer analytischen Untersuchung in Pol. I, 1 und seiner Erfüllung in Pol. I, 3–13 beschreiben. 11 Vgl. für das Folgende: Pol. I, 2: 1253a18–29. 7 8

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Aristokratien (ar)

Königliche Verfassungsformen (k)

Politien (p3)

Demokratien (dem)

Politische Verfassungsformen (p2)

Politische Ordnungen (p1)

Abb. 1

Oligarchien (oli)

Tyranneis (tyr)

Despotische Verfassungsformen (d2)

EhemannEhefrau (ehe)

Ökonomische FamilienVerhältnisse (ö2)

Vater-Kinder (vat)

Despotisches Herr-KnechtVerhältnis (d1)

Häusliche Ordnungen (ö1)

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gehende Naturalismus-Debatte, die manchmal auch eine Totalitarismus-Diskussion nach sich zieht, uns ebenfalls einiges über die Ordnung der Polis verrät, lenkt sie die Forschung häufig vom eigentlichen Kontextzusammenhang weg. Hier hat die deflationäre Lesart des physei on durch Christof Rapp nicht nur den Vorteil, dass sie überstarke Interpretationen abweist, sondern sie erlaubt auch einen stärkeren Fokus auf die eigentlich wichtige Frage des wesentlichen Unterschiedes zwischen der Haus- und der Polis-Gemeinschaft. Sicherlich nicht unwesentlich zur Standarddeutung von Pol. I, 2 als einem Kapitel über Naturalismus hat im Übrigen Thomas Hobbes beigetragen, dessen Interpretation daher im Folgenden ebenfalls untersucht wird. Natürlich schärfen auch Überlegungen zur Frage eines Naturalismus des Aristoteles unseren Blick für bestimmte Eigenarten der aristotelisch verstandenen Polis. Dennoch möchte ich zunächst von diesen Aspekten absehen und die ganze Fragestellung etwas anders als üblich rekonstruieren: Auf den ersten Blick scheint Aristoteles in einer Art genetischer Stufenleiter das Entstehen der Polis von ihrem natürlichen Beginn der biologischen Gemeinschaft von Mann und Frau aus zu beschreiben. Zwar ist es richtig, dass Aristoteles die Entwicklung der Polis aus den ersten natürlichen Anfängen beschreibt: Trotzdem liegt die Pointe eindeutig nicht in der Konstanz zwischen diesen ersten biologischen Anfängen und dem Endergebnis der politischen Gemeinschaft der Menschen, sondern sicherlich in der Betonung ihrer Unterschiede. So entstehen die ersten menschlichen Gemeinschaften zwar aus einem biologischen Bedürfnis heraus, nämlich die Gemeinschaft zwischen Mann und Frau aus dem Wunsch nach Fortpflanzung. Schließlich teilen die Menschen mit den anderen Tieren den Trieb, in ihrer Nachkommenschaft gewissermaßen weiterzuleben. Schon etwas komplizierter ist der zweite wichtige Bestandteil des Hauses, nämlich die Knechtschaft. Mit etwas interpretatorischem Wohlwollen könnte man jedoch hier noch zugestehen, dass die Verknechtung bestimmter Individuen aufgrund ihrer funktionalen Defekte und bestimmter gleichzeitig vorhandener Vorzüge sich doch auch in Ameisenbauten oder Bienenstöcken finden lasse und dies noch nicht gegen eine naturalistisch-organizistische Lesart spreche. Tatsächlich charakterisiert Aristoteles diese Ebene der Gemeinschaftsbildung noch als um der Lebenserhaltung und um der augenblicklichen Bedürfnisse willen da und überstiegen diese Wünsche da-

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mit nicht zwangsläufig ein tierisches Niveau. 12 Nun wird dieser eng gesteckte Rahmen allerdings bereits mit der nächsten Stufe verlassen: Wenn sich mehrere Familien zusammenschließen und diese Vereinigung nicht nur wegen der Versorgung mit alltäglichen Gütern und Bedürfnissen entsteht, dann bildet sich als bereits komplexere Gemeinschaftsordnung ein Dorf. 13 Falls sich mehrere Dörfer miteinander verbinden, entsteht mit der Polis eine neue und vor allem vollkommenere Gemeinschaft. Damit ist nun nämlich auch der Endpunkt der Gemeinschaftsentwicklung erreicht, da sie das für den Menschen erreichbare Autarkielevel erreichbar werden lässt. 14 So entstehen die menschlichen Gemeinschaften zunächst um des bloßen Lebens willen, aber die Polis besteht um des vollkommenen Lebens willen. Gerade an dieser systematisch wichtigen Stelle müssen wir nun innehalten, um zwei wichtige Fragen zu erörtern: 1) Was versteht Aristoteles unter Autarkie? und 2) Inwiefern existiert die Polis von Natur? Ad 1) Im Gegensatz zu unserem heutigen Autarkieverständnis einer wirtschaftlichen Selbstversorgung ist die Autarkie bei Aristoteles umfassender gedacht. 15 Hier können wir wiederum Pol. I, 2 als implizite Platonkritik und damit Fortsetzung des KategorienfehlerVorwurfs von Pol. I, 1 lesen. Um die Probleme des ganzen Kapitels Pol. I, 2 korrekt einzuordnen, sollten wir uns an das ursprünglich gestellte Problem erinnern: Wie wir gesehen haben, behauptet Aristoteles in Pol. I, 1, dass Platon ein falsches Verständnis von politischer Ordnung gehabt habe. Entsprechend ist es interpretatorisch sicherlich nicht verkehrt anzunehmen, Pol. I, 2 sei gewissermaßen der Beginn des aristotelischen Gegenentwurfs. Oberflächlich scheint dieses Kapitel zwar nichts mit einer Platonkritik zu tun zu haben, jedoch trügt diese Einschätzung meiner Meinung nach. Zunächst muss beachtet werden, dass in Pol. I, 1 sehr großer Wert auf die Differenzierung zwischen den Herrschaftsordnungen im Haus und in der Polis gelegt wird und Pol. I, 2 uns über die verschiedene Genese und die unter12 Vgl. EN VIII, 14: 1162a16–33 und Pol. I, 2: 1252b12–14. Sowohl für die Ehe als auch für das Herr-Knecht-Verhältnis lässt sich jedoch zeigen, dass sich ihr Nutzen für die beteiligten Menschen nicht auf diese ersten Resultate beschränkt. 13 Vgl. Pol. I, 2. 1252b15–27. Everson 1988, 92 leitet auch das Dorf noch als natürliche Folge des Sexualtriebs ab. 14 Vgl. Pol. I, 2: 1252b27–1253a1. 15 Zu diesem Begriff bei Aristoteles siehe Schütrumpf 1991a, 203 f. Anm. 13,12.

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schiedlichen Zwecke von Haus und Polis informieren. Auch in diesen Themengebieten kommen Platon und Aristoteles nicht miteinander überein, was wir auch der entsprechenden expliziten Platonkritik in Pol. II und Pol. IV, 4 entnehmen können. So beanstandet Aristoteles in Pol. IV, 4 die platonische Darstellung der Polisentstehung als elegant, aber ungenügend. Schließlich sei die Polis nicht bloß um der Notwendigkeit willen entstanden, sondern um der Tugend willen, und daher dürften die Krieger, die Richter und die Beratenden nicht erst in einem späteren Stadium hinzukommen. 16 Damit verfehlt Platon in der Sicht des Aristoteles den eigentlichen Zweck der Polis, da die Polis doch nicht allein die Autarkie in Wirtschaftsgütern anstrebe. 17 Obwohl uns bereits unsere Stelle in Pol. I, 2 die Antwort auf die Frage gibt, warum die Polis als wichtigste Gemeinschaftsform betrachtet wird, lohnen sich zum besseren Verständnis einige Rückgriffe auf weitere Stellen im Corpus Aristotelicum. So erklärt uns Aristoteles gleich in den ersten programmatischen Sätzen der Politik: Da wir sehen, dass jede Polis eine Gemeinschaft von bestimmter Art und jede Gemeinschaft um eines bestimmten Gutes willen gebildet ist (denn alle [Menschen?] tun alles um dessentwillen, was sie für gut halten), so ist es klar, dass zwar alle Gemeinschaften auf ein bestimmtes Gut zielen, am meisten aber und auf das unter allen entscheidendste Gut [zielt] jene [Gemeinschaft], die von allen [Gemeinschaften] die bedeutendste ist und alle übrigen umfasst. Diese aber ist die sogenannte Polis und die politische Gemeinschaft. 18

Hier charakterisiert er die koinônia politikê also als die höchste praktische Gemeinschaft, da sie das höchste Gut verwirklichen möchte. Etwas allzu knapp stellt unsere Stelle in Pol. I, 2 den Zusammenhang her, dass die vollendete Autarkie mit der Existenz um des vollkommenen Lebens willen erreicht sei. 19 Trotzdem ist bereits damit klar, dass der Gedanke der Autarkie auf das gute Leben abzielt. Aristoteles verknüpft dies in der Politik auch selbst miteinander: Besonders stark stellt er diesen Zusammenhang in Pol. III, 9 heraus:

Vgl. Pol. IV, 4: 1291a10–28. Dies gilt es bei Stellen wie Pol. II, 1: 1275b20 f. zu beachten, wenn dort die Polis als ausreichende Menge an Bürgern für die Erlangung der Autarkie definiert wird. 18 Pol. I, 1: 1252a1–7. 19 Vgl. Pol. I, 2: 1252b27–30. 16 17

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Die Polis aber ist die Gemeinschaft der Familien und Dörfer um des vollkommenen und autarken Lebens willen. Dieses ist, wie wir erklären, das glückselige und edle Leben. 20

Somit ist die Polis autark zu nennen, da sie den Rahmen zur Erlangung der eudaimonia abgibt. 21 Auf den ersten Blick lässt sich die zweite Frage leicht beantworten, warum denn die bisher genannten menschlichen Gemeinschaften tatsächlich »von Natur« zu nennen sind. In gewisser Weise gibt uns die folgende Stelle tatsächlich die entscheidende Auskunft, indem sie uns auf die teleologische Verwendung von physis in unserem Zusammenhang aufmerksam macht, geht aber dabei etwas zu schnell vor: Deswegen ist auch jede Polis von Natur aus, da ja auch die ersten Gemeinschaften [dies tun]. Denn sie ist das Ziel von jenen, das Ziel aber ist die Natur [i. S. des Naturzustands]. Wie nämlich jedes Ding bei abgeschlossener Entwicklung ist, dies nennen wir die Natur/den Naturzustand jedes Dings, wie etwa diejenige des Menschen, die des Pferdes, die des Hauses. Außerdem sind das Worumwillen und das Ziel das Beste: Die Autarkie ist aber sowohl das Ziel als auch das Beste. Daraus ist nun klar, dass die Polis zu den Dingen gehört, die von Natur aus sind [naturgemäß sind] […] 22

Rapp hat in seiner Analyse daraufhin gewiesen, dass wir die Natur als Zielzustand (»die Natur einer jeden Sache«) streng trennen müssen von der Natur im Sinne der Behauptung, etwas sei von Natur aus: Schließlich habe etwa das von Aristoteles genannte Beispiel des Hauses sehr wohl eine Natur, sei aber als Artefakt klarerweise nicht von Natur. 23 Daher belegt er zunächst, dass die ersten Gemeinschaften von Mann/Frau und Herr/Knecht deswegen »von Natur« zu nennen seien, weil ihre Teilnehmer sich aufgrund ihrer Natur zur jeweiligen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben 24 und das Haus seiner Natur gemäß für das tägliche Leben da 25. Ebenso wird sich als ein wichtiger Sinn der menschlichen Natur erweisen, dass sie in ihrer Entfaltung auf die Polisbildung hinwirke. 26 Anders formuliert: die Pol. III, 9: 1280b40–1281a1. Everson 1988, 94 bestreitet, dass Angehörige eines ethnos die nicht-wirtschaftliche Autarkie des guten Lebens erreichen können. 22 Pol. I, 2: 1252b30–1253a2 (Übersetzung des Verfassers unter Zugrundelegung der Übersetzung von Rapp 2016). 23 Vgl. Rapp 2016, 49. 24 Vgl. Rapp 2016, 55. 25 Vgl. Rapp 2016, 63. 26 Vgl. Rapp 2016, 60. Später im Aufsatz resümiert Rapp (ebenda, 73), dass an den 20 21

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Natur des Menschen verlangt gewissermaßen nach der Polis, da sich nur in ihr die menschliche Natur vervollkommnen kann. Ob damit ein Biologismus verknüpft ist, untersuchen die nächsten Kapitel ausführlicher. Vorläufig können wir aber Folgendes festhalten: Offensichtlich gelten also – dieses Ergebnis erhielten wir ja auch bereits aufgrund unserer eigenen Überlegungen zur Autarkie – die menschlichen Poleis als naturgemäß, weil sie zu einem gelingenden guten Leben beitragen. 27 Dazu passend identifiziert – wie gesagt – als über Pol. I, 2 hinausgehender Beleg die Stelle Pol. III, 9: 1280b40–1281a1 das vollkommene und autarke mit dem glückseligen und guten Leben. Somit können wir die Polis also deswegen als natürlichste Gemeinschaft betrachten, da in ihr der Mensch seine Entwicklung vervollkommnen kann und dieses Ziel des glücklich-autarken Lebens nur in der Polis verwirklicht wird. Damit haben wir als Interpretationsergebnis erreicht, dass der Zweck der Polis im guten Leben (eu zên) bzw. der Glückseligkeit (eudaimonia) besteht, womit Aristoteles tatsächlich »seine Politische Philosophie vor dem Hintergrund des individualethischen eudaimonia-Problems entwickelt« 28. Wenn die Polis zwar um des bloßen Überlebens willen entstanden ist, aber ihr Ziel im guten Leben (eu zên) besteht und so ihr wichtigster Sinn das eu zên ist, 29 verwundert Satz »Die Polis existiert von Natur aus« die These vom zôon politikon epexegetisch angeschlossen werde: »Der Staat existiert von Natur aus, und damit ist gemeint, dass der Mensch (der je den Staat etabliert) seiner Natur nach ein nach dem Leben in der polis strebendes Lebewesen ist.« (Hervorhebung wie im Original). 27 Rapp 2016, 66 schließt hier den Bogen zu seiner Leitfrage, wieso die Polis als »von Natur« gelten könne, indem die Polis aus natürlichen Strebungen erwachse: 1) Fortpflanzung (Mann/Frau) und Selbsterhaltung (Herr/Knecht), 2) tägliche Bedürfnisse (Haus), 3) über Alltagsbedürfnisse hinausgehende Strebungen (Dorf) und vollendete Autarkie (Polis). Dabei erstrebten die Menschen jedoch schon in den früheren Gemeinschaften nicht nur die jeweils inhärenten Güter, sondern auch schon die der Polis zukommende vollendete Autarkie (ebenda, 67). Da die Menschen diese Güter/Ziele auf natürliche Weise erstreben, sind auch die entsprechenden Gemeinschaften natürlich. 28 Horn 2005, 115. 29 Damit würde Aristoteles manche modernen Bezeichnungen für Gemeinwesen wie etwa die Rede von der »Deutschland AG« rundweg ablehnen. Aus seiner Sicht wird damit der eigentliche Zweck der Gemeinschaft falsch bestimmt und ist daher ethisch abzulehnen. Schließlich reduzieren solche Positionen ein Gemeinwesen auf das Erreichen bestimmter ökonomischer Ziele, was für Aristoteles auf keinen Fall das höchste praktische Ziel darstellt. Vermutlich würde er darauf hinweisen, dass eine politische

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es nicht, wenn Aristoteles die ersten Polisgründer als Urheber größter Güter bezeichnet 30. Entsprechend zählt auch nicht hauptsächlich die Quantität an Einwohnern, um eine Polis zu definieren. 31 Vielmehr geht es um die Qualität der Gemeinschaft: Von einer Polis sprechen wir dann, wenn sie ein gemeinsames Bemühen um die Tugend eint. Damit widerspricht Aristoteles dem Sophisten Lykophron aufs Schärfste, der aus der Sicht des Aristoteles den Zweck der Polis stark unterbestimmt: Dieser uns ansonsten leider unbekannte Denker betrachtet es nicht als Aufgabe der Polis, ihre Bürger gut und tugendsam zu machen. 32 Dagegen spricht Aristoteles an einer Stelle in Buch III sogar davon, dass eine Polis, die nicht nur dem Namen nach eine Polis sein soll, sondern auch tatsächlich, sich um die Tugend kümmern muss. 33 Daraus liest David Keyt eine normativ sehr starke These heraus: »Thus Aristotle concedes himself that most polises do not pursue the end that he claims differentiates a polis from other communities« 34. Folgerichtig kommt Keyt zu dem für Aristoteles sicherlich problematischen Ergebnis, dass polis in Bezug auf Gemeinschaften mit verfehlten Verfassungsordnungen nur in einem äquivoken Sinne gebraucht werde. 35 Jedoch legt eine Stelle aus der Nikomachischen Ethik nahe,

Gemeinschaft wesentlich von einer Handelsgemeinschaft unterschieden werden muss und würde auf eine Wiederherstellung des Primats der Politik über die Wirtschaft dringen. 30 Vgl. Pol. I, 2: 1253a30 f. 31 Große Städte sind nicht unbedingt bevölkerungsreiche Städte, da Städte mit sehr vielen Einwohnern nicht sehr einfach verwaltet werden können (vgl. Pol. VII, 4: 1326a8–b25). Insofern plädiert Aristoteles an der gleichen Stelle eher für eine beschränkte Anzahl Bürger. Entsprechend tadelt er in Pol. II, 6 Platon dafür, dass dieser 5040 Bürger mit Muße (sowie eine stattliche Anzahl von Frauen und Dienern) für die Stadt der Nomoi vorsehe (vgl. Pol. II, 6: 1265a13–18). Dabei bleibt zu bedenken, dass eine durchschnittliche griechische Polis vermutlich um die 450–1250 Bürger aufwies. Zu diesen Zahlen gelangt jedenfalls Ruschenbusch 1978, 8 f. 32 Vgl. Pol. III, 9: 1280b10–12. 33 Vgl. Pol. III, 9: 1280b6–8. 34 Keyt 1991a, 257. Auch Schütrumpf 1991b, 515 f. Anm. 72,7 meint, dass Pol. III, 9 Gemeinschaften, in denen nicht arêtê und Gerechtigkeit herrschten, die staatliche Existenz bestreite. 35 Vgl. Keyt 1991a, 258. Simpson 1990 hebt ebenfalls auf einen angeblich fehlenden Bezug auf die Tugend ab: »None of the cities were, or even tried very hard to be, anything like what he said a city was.« (Simpson 1990, 150) und meint daher: »Aristotle’s description or definition of the city seems therefore not to be the description or definition of any city that actually existed.« (ebenda). Ordnung in der Polis

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dass diese normativ sehr stark gelesene und zu problematischen Konsequenzen führende Interpretation vermieden werden kann: In EN II, 1 billigt er jedem Gesetzgeber zu, dass er sich um die Tugend der Bürger bemühe. 36 Daher können nicht nur wahrhaft tugendhafte Poleis überhaupt als Poleis bezeichnet werden, sondern es reicht ein gemeinsames Bemühen um Tugend. Wenn sich eine Polis (aus Sicht des Aristoteles bzw. des eigentlich an sich Gebotenen) auf verfehlte Weise um die Tugend bemüht, ist sie dennoch mit der Tugend ihrer Bürger befasst und trotz der normativen Minderwertigkeit ihrer Lösungen immer noch als Polis anzusprechen. 37 Zusätzlich gestützt wird diese Lesart auch dadurch, dass laut Pol. IV, 4: 1291b5 f. alle beanspruchen, aretê zu besitzen. Daher stehen die Gemeinwesen für Aristoteles in der Verpflichtung, für das glückselige Leben ihrer Einwohner so gut wie möglich zu sorgen und ist eine Polis in einem gewissen Umfang als Ermöglichungsrahmen für die Verwirklichung des guten Lebens zu interVgl. EN II, 1: 1103b2–5. Diese Stelle lässt sich gegen die Ansicht von Schütrumpf ins Treffen führen, dass die Nikomachische Ethik ebenso wie der platonische Sokrates im Gorgias die Ansicht vertrete, die sittliche Verbesserung der Bürger sei ein unrealistisches Ziel und werde in der aktuellen Politik nicht verfolgt (vgl. Schütrumpf 2012a, XVf. bzw. schon Schütrumpf 1991a, 90). 1180a24 ff. ist – anders als Schütrumpf glaubt – kein Gegenbeleg, da Aristoteles hier »nur« die fehlende öffentliche Erziehung beklagt. Natürlich wünscht sich Aristoteles, dass sich ein gemeinsames Bemühen um die Tugend auch in einer gemeinsam koordinierten öffentlichen Erziehung niederschlägt; die Erziehung der einzelnen Bürger ist gewissermaßen besonders gut zur sittlichen Verbesserung geeignet, aber wie gerade EN X, 10 zeigt, dürfen wir die Wichtigkeit der »negativen Zwangsseite« nicht zugunsten der positiven Ermutigung vernachlässigen. Pangle verweist für eine ähnliche Qualifizierung auf 1328a37– 28b2. Vgl. Pangle 2013, 304 Anmerkung 22. Allerdings wird an dieser Stelle nicht ausdrücklich allen Gesetzgebern oder allen Verfassungen ein gewisses Bemühen um Tugend zugeschrieben. Überdies ist bekanntlich in der Forschung umstritten, ob und inwieweit Pol. VII in seinen Lehren zum Rest der Politik passt. Keyt 1991a, 256 f. behauptet folgerichtig, dass die meisten Poleis nicht nach Glückseligkeit strebten (auch Schütrumpf 1991a, 87 behauptet, dass die meisten Verfassungen nicht mehr das vollkommene Leben ihrer Bürger zum Ziel haben). Tatsächlich liegt die Ambiguität nicht im Begriff der Polis (anders Keyt 1991a, 258), sondern in der verschiedenen Auffassung der aretê: Alle vernünftigen Menschen streben nach eudaimonia und – wie wir gerade gesehen haben – beanspruchen alle Bürger für sich die aretê (vgl. Pol. IV, 4: 1291b5 f.). Aus der Nikomachischen Ethik wissen wir jedoch, dass für Aristoteles die meisten Menschen die wahre aretê verfehlen. 37 Ganz allgemein hat dies auch Yack festgestellt (vgl. Yack 1993, 97), wobei er sich jedoch in seiner Darstellung der möglichen positiven Einflussnahme von demokratischen oder oligarchischen Rechtsordnungen ziemlich von mir unterscheidet. Dies sei jedoch auf später verschoben. 36

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pretieren. Wenn nun die Polis als naturgemäß bezeichnet wird, soll damit also keinesfalls die Polis zu einem natürlichen Organismus erklärt werden. 38 Vielmehr geht es Aristoteles an dieser Stelle um den teleologischen Charakter dieser vollkommenen Gemeinschaft, da in ihr eben das Ziel des Menschen verwirklicht werden kann. Jedoch lassen sich auch weitere Einwände gegen die Interpretation der Polis als einem natürlichen Gegenstand vorbringen: Bereits das Beispiel des Hauses in Pol. I, 2 zeigt deutlich, dass sich aus der Rede von einem Naturzustand eines Gegenstandes oder von seiner Natur noch überhaupt nicht ableiten lässt, dass es ein natürlicher Gegenstand (i. S. eines Tieres oder einer Pflanze etc.) sei. Schließlich ist ein Haus bekanntlich eine künstliche Entität und trotzdem können wir ohne Probleme von der Natur eines Hauses sprechen. Wenn Aristoteles nämlich die Polis als naturgemäßes Gebilde bezeichnet, hat er dies aus dem oben referierten teleologischen Argument gefolgert und nicht, indem er eine Selbstbewegung eines natürlichen Gegenstandes in der Polis identifiziert hätte. 39 Entsprechend der oben dargelegten teleologischen Annahmen folgert Aristoteles für den Menschen, dass er ein von Natur aus politisches Lebewesen sei. 40 Auch bei diesem Satz muss der Argumentationsgang beachtet werden, denn auch dieser Satz wird von Aristoteles als Konsequenz seiner bisherigen teleologischen Überlegungen beansprucht. Damit ist auch sein Sinn klar, der nicht in einem naiven Naturalismus besteht: Wenn der Mensch als politisches Lebewesen gilt, wird damit nicht ausgesagt, der einzelne Mensch sei von einem unproblematischen natürlichen Drang analog demjenigen von Ameisen oder Bienen gesteuert. Damit ginge auch die wenig attraktive Konsequenz einher, die Polis als einen zu Ameisenstaaten analogen Superorganismus verstehen zu müssen. Stattdessen meint der Satz vom Menschen als zôon politikon, dass der Mensch sein telos nur in der Polis verwirklichen kann. Daraus erklärt sich dann auch der zunächst sehr problematisch Keyt 1991b, 118, Fußnote 1 hält dagegen, dass die Polis für Aristoteles »literally a natural object« sei und bezeichnet Keyt 1991a, 269 f. nicht nur die Polis als natürliche Entität, sondern hält Keyt die aristotelische Theorie des distributiv Gerechten auch für ein spätes Kapitel von dessen Naturphilosophie. 39 Damit erledigen sich bereits einige der bekannten Probleme, die David Keyt in seiner Evaluation einer naturalistischen Deutung aufgezeigt und kritisiert hat (vgl. Keyt 1991b, 118–141). 40 Vgl. Pol. I, 2: 1253a2 f. 38

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wirkende Satz von der natürlichen Priorität der Polis gegenüber Haus und Individuum und die Charakterisierung der Bürger als Teile des Ganzen (der Polis). 41 Nur im Verband der Polis kann der Mensch seine eudaimonia erreichen, außerhalb ihrer vermag er dies nicht. Daher ist ein Mensch, der von Natur aus außerhalb der Polis stände, gar kein Mensch mehr. Vielmehr wäre er entweder ein wildes Tier oder ein Gott. 42 Wenn also der Mensch unter die Stufe der Polisbewohnung sänke, könnte er sein ihm eigentümliches ergon, nämlich die vernünftige Erlangung der eudaimonia, gar nicht erreichen und wäre damit nicht Mensch zu nennen. Nur darin liegt die Pointe des Bürgers als Teil der Polis und der entsprechenden Charakterisierungen als Teil und Ganzes, denn für sich allein ist der Mensch nicht autark. Wie gesagt will Aristoteles mit dem vordergründig anrüchig klingenden Satz von der Priorität der Polis gegenüber dem Einzelnen lediglich ausdrücken, dass die Polis im Gegensatz zu den anderen Gemeinschaftsordnungen und sicherlich erst recht im Vergleich zum Einzelnen im eigentlichen Sinne zum Ziel der Autarkie verhelfen kann. Um seine These zu erläutern, zieht Aristoteles eine Analogie zum menschlichen Körper: So wie eine Hand einen unselbstständigen Teil des selbstständigen Ganzen namens Körper darstellt, so ist auch der Einzelne als gemeinschaftsbedürftiges Lebewesen nur ein Teil im Vergleich zum Ganzen der Polis. Tatsächlich kann der Mensch nicht autark leben ohne Mitmenschen. Aristoteles möchte uns also verdeutlichen, dass der Mensch sein individuelles Ziel der Glückseligkeit nur in einer Polisgemeinschaft überhaupt erreichen kann und wesentlich auf diese Vergemeinschaftung angewiesen ist. Wie ich später ausführen werde, darf daraus freilich keine allzu starke Lesart erfolgen. Zwar benötigt der glückselig werden wollende Mensch die Gemeinschaft als notwendige Mitursache, jedoch liegt die »Moralität« nicht in einem flachen Legalismus oder einer kritiklosen Übernahme einer Sozialisation. Anders formuliert: Die Polis-Gemeinschaft und ihre Regeln und Institutionen sind für das Erreichen der individuellen eudaimonia eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Keineswegs folgt aus der zunächst einigermaßen problematisch klingenden These von der Priorität der Polis gegenüber den Einzelnen ein Bienendrohnenleben im Dienste des größeren Ganzen. Gerade 41 42

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Vgl. Pol. I, 2: 1253a18 f. bzw. 1253a25 f. Vgl. Pol. I, 2: 1253a3 f. und Pol. I, 2: 1253a26–29.

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dies befürchten indes einige Interpreten, denn aus einer missverstandenen Natürlichkeit der Polis (im Sinne, dass die Polis eine natürliche Entität wie ein Fuchs oder ein Baum sei) folgt ihre Substanzialisierung und damit verknüpft auch ein organizistisches Verständnis des Verhältnisses von Polis und Bürger. Wenn jemand den Satz von der natürlichen Priorität der Polis ohne seinen Kontext eines Autarkiearguments liest, sieht so mancher die schlimmsten Vorurteile über einen angeblichen Totalitarismus des Aristoteles vollauf bestätigt. Manche Interpreten befürchten tatsächlich, dass Aristoteles die Polis mit einem Lebewesen gleichsetze und vielleicht mit einer obskuren abstrakten Großtheorie gar vergöttliche. Hier geht Popper 43 besonders weit in seiner Kritik: In Die offene Gesellschaft und ihre Feinde bezichtigt er Aristoteles eines gefährlichen Organizismus und meint, er mache den Staat zum Gegenstand einer quasireligiösen Verehrung. 44 Damit wäre natürlich der Weg nicht mehr weit zu einer sehr bedenklichen extremen Abwertung der einzelnen Bürger zugunsten der doch nun eigentlich wichtigen Polis und einem totalitaristischen Gebaren der Gemeinschaft. Schließlich opfert man doch in Notfällen einen Daumen, damit der restliche Organismus überlebt. Daher liegt die interpretatorische Crux also darin, ob die Polis tatsächlich als eine Art »Supersubstanz« zu denken ist. Allerdings liegt meiner Auffassung nach dem Aristoteles eine solche Substanzialisierung – etwa als Makroanthropos – fern. Zumindest einige Zeit hat im deutschen Sprachenraum sicherlich das entsprechende Verdikt Hegels eine substanzialistische Deutung des aristotelischen Polisverständnisses unterstützt. 45 Dies scheint jedoch auf einem Missverständnis zu beruhen: Zwar können Aristoteleskritiker – neben dem bereits oben erwähnten Vergleich von Individuum und Polis mit Körperteil und Körper – zwei weitere Stellen anführen, an denen Aristoteles die Polis mit einem Organismus vergleicht. In De motu Vgl. Popper 2003a, 134 f. Im zweiten Band der Offenen Gesellschaft bezichtigt er Aristoteles ausdrücklich eines Organizismus (vgl. Popper 2003b, 45). Ähnlich Kamp 1990, 83. 44 Im Lichte solcher Vorwürfe einer quasireligiösen Verehrung sind Thesen wie diejenige von Bellers/Porsche-Ludwig daher leicht dazu angetan, ebenfalls eine gefährliche Verherrlichung der Polis herauszulesen: »Demgemäß wird die polis, eingebettet in einen selbstgenügsamen Kosmos, als Widerspiegelung göttlicher Einheit gedacht« (Bellers/Porsche-Ludwig 2011, 10). Die Gefahren eines Organizismus schildert Nussbaum 1998, 252. 45 Vgl. Hegel 1971, 225–227. 43

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Animalium möchte er einen Einwand gegen die Königsherrschaft zerstreuen, wenn er die Polis mit einem Organismus vergleicht: In beiden Fällen könne sich der Herrscher (im Körper die Seele; in der Polis der König) nach Einrichten der Grundordnung darauf verlassen, dass er nicht jede einzelne Aufgabe selbst überwachen müsse und so der Organismus bzw. die Polis in einem gewissen Maße sich selbst regeln. 46 Dagegen geht es im anderen wichtigen Vergleich 47 in der Politik darum, dass sowohl im Körper als auch in der Polis eine Ordnung existiert: So wie im Menschen die Hauptprinzipien die Seele und der Körper seien (mit Vorrang der Seele) und die relevanten Seelenteile wiederum als logos und orexis (mit Vorrang des logos) anzusprechen seien, so herrsche in der Familie der Mann über die Frau und der Herr über den Knecht (wobei die Polis aus diesen und weiteren Teilen bestehe). 48 Allerdings scheinen sich die genannten Bedenken zerstreuen zu lassen, wenn die Funktion dieser Stellen im Text berücksichtigt wird: Wie Bien und Kullmann argumentieren, handelt es sich bei diesen Vergleichen nicht um buchstäblich zu interpretierende Passagen, sondern um didaktisch geschickt gewählte Analogien. Angepasst an meine Interpretation handelt es sich bei diesen Organismusstellen um Vergleiche, die den Ordnungs-/Organisationsgedanken transportieren sollen. 49 Hier ließe sich natürlich einwenden, dass dies doch nur besser zur eigenen Interpretation des Aristoteles passe und letztlich beide Deutungen möglich wären. Tatsächlich hat jedoch die OrganismusVgl. De mot. Anim. 10: 703a29–34. Yack 1993, 94 weist darauf hin, dass diese Analogie trotz der oberflächlichen Parallelisierung erst recht den Unterschied deutlich mache: Während die tierische Ordnung natürlich ablaufe, vollziehe sich die menschliche gemäß der Gewohnheit. 47 Philosophisch weniger bedeutsam hingegen ist es, wenn Aristoteles in einem Vergleich das Herz als Akropolis des Leibes bezeichnet (Vgl. De part. Anim. III, 7: 670a23–26). 48 Vgl. Pol. III, 4: 1277a5–10. 49 Siehe den entsprechenden Exkurs von Bien: Es handelt sich nur um Analogien mit didaktischer Funktion. Vgl. Bien 1985, 199–201. Kullmann wendet sich ebenfalls gegen die Auffassung, dass mit diesen Vergleichen eine Substanzialisierung legitimiert werden solle. Vgl. Kullmann 1980, 436 und Kullmann 1998, 318–327. Kullmann kann übrigens auch darauf hinweisen, dass wir Heutigen in unseren Unterhaltungen über Politik ebenso nicht völlig frei von organizistischen und substanzialistischen Vergleichen sind. Vgl. Kullmann 1998, 327. So reden wir etwa vom Wachstum einer Volkswirtschaft. Ausdrücklich ablehnend äußert sich zur Analogiethese hingegen Piepenbrink 2001, 63. 46

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lesart einen schwerwiegenden Nachteil: Wenn die Polis buchstäblich als Organismus aufzufassen wäre, würden die Gesetzlichkeiten der Biologie auf die Polis anzuwenden sein und damit die Notwendigkeiten der Physik Einzug in die praktische Philosophie halten. Wie die methodologischen Überlegungen des Aristoteles in der Nikomachischen Ethik allerdings deutlich zeigen, ist das Feld der Praxis nicht derart determiniert wie das Feld der Theorie. Überdies würde ein derartiger Nezessitarismus in der politischen Philosophie die Ratschläge des Aristoteles zur Einführung oder Stabilisierung von Verfassungen überflüssig machen: Wenn die Natur der Einwohnerschaft nämlich einer Notwendigkeit wie derjenigen eines Organismus folgte, wozu sollte man sich dann noch zur Abwendung des meist trotzdem so Ablaufenden derart stark bemühen? 50 Anders formuliert: Die physis ist hier in ihrem teleologischen Vollendungssinne zu verstehen, was speziell für den Menschen in diesem Zusammenhang keine deterministische So-und-nicht-anders-Entwicklung vom ebenfalls physischen Beginn meint: Vielmehr erwächst aus der (Vernunft-)Natur des Menschen nicht nur die Aufgabe der wahrhaft menschlichen Polisgemeinschaft, sondern auch die Mittel zu ihrer Lösung sind aufgrund dieser speziellen Natur offen und nicht eine quasi-deterministisch-»naturgesetzliche« Vorgabe. Nachdem nun biologistische Erklärungen der Polis nicht zum Ziel führen, bleibt nach wie vor die Frage offen, wie denn die koinônia politikê tatsächlich aufzufassen ist. Schließlich kann es sich bei der Polis nicht bloß um ein rein äußerliches Aggregat von vielen Menschen am selben Ort handeln. Vielmehr handelt es sich bei dieser Ordnung um eine tatsächliche Einheit/Synthese.

1.1.3 Einheit und Vielheit der Polis – eine Auseinandersetzung mit Platon Gerade in der Frage nach der Einheitlichkeit der Polis setzt sich Aristoteles sehr bewusst stark von Platon ab, was tiefgreifende Unterschiede ihrer politischen Philosophie offenbart. Zwangsläufig stellt sich beim Problem der Ordnung die Frage Mit einer anderen Begründung verneint Höffe ebenfalls einen derartigen Vorwurf. Vgl. Höffe 2011b, 17). Auch Miller bevorzugt eine nicht-organizistische Deutung. Vgl. Miller 1997, 54–56.

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nach ihrem Einheitsgrad, denn bekanntlich ist eine Ordnung stets eine Strukturierung unter einem oder mehreren Gesichtspunkten. Im Rahmen der politischen Philosophie interessiert einerseits besonders, worin diese Struktur besteht, andererseits wie ausgeprägt die Ordnung (der Gemeinschaft) und damit verknüpft die Einheitlichkeit überhaupt sein soll. 51 Wenn wir den letzten Punkt zuerst abhandeln, bieten sich systematisch drei mögliche Positionen von selbst an, die wir Aristoteles zuschreiben könnten: Erstens soll die angestrebte Einheitlichkeit möglichst ausgeprägt sein, wobei dies kritische Geister als Vorstufe oder im schlimmsten Fall gar als Ausprägung eines Totalitarismus wahrnehmen; zweitens findet sich das andere Extrem einer anarchistischen Unordnung; drittens die vermittelnde Position einer Einheit in der Vielheit, welche zwar eine gewisse Ordnung herstellt, jedoch die Vielheit nicht zugunsten einer überstarken Einheit opfert. Während die anarchistische Variante 2 von niemandem für Aristoteles beansprucht wird, lassen sich in der Forschungsliteratur sowohl für These 1 als auch für These 3 Vertreter ausmachen. So entdeckt Mulgan keinen großen Unterschied zwischen dem platonischen Ideal einer ethisch geeinten Gemeinschaft und der aristotelischen Lösung 52 bzw. diagnostizieren etwa Popper oder Barnes 53 bei Aristoteles eine Totalitarismusgefahr, während Ottmann einen Gegensatz zwischen ihm und Platon erkennt: »Er besteht zwischen dem platonischen Einheitsdenken und der aristotelischen Vielheitsfreundlichkeit« 54. Aber bedeutet dies tatsächlich eine Absage an einen Paternalismus und dass für Aristoteles »jeder im Prinzip Politik kann«, wie Ottmann meint? 55 Tatsächlich versteht sich Aristoteles in diesem Punkt selbst eindeutig als Antipode zu Platon, 56 denn er bezieht in der Frage nach 51 Insofern erstaunt nicht, wieso Aristoteles sich zu Beginn von Pol. II zunächst abstrakt mit dem Begriff der koinônia politikê auseinandersetzt (anders Stalley 1991, 183). 52 Vgl. Mulgan 1977, 29. 53 Vgl. Barnes 1990, 249–263. 54 Ottmann 2005, 12. 55 Vgl. Ottmann 2005, 13–15. Zum Problem des Paternalismus siehe Kapitel 3.2.1.4. 56 Anders als Stalley 1991, 187 halte ich tatsächlich Platons Politeia für das Hauptziel der aristotelischen Argumentation und nicht namentlich ungenannte Platoniker, welche gemäß Met. XIV, 4: 1091b16 ff. und EE I, 8: 1218a6 ff. Pluralität als Ursache des Bösen ansehen. Dass Platon selbst als Ziel identifiziert werden kann, dies belege ich auf den nächsten Seiten.

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dem Problem von Einheit und Vielheit in der Polis ausdrücklich Stellung gegen ihn. Während Platon eine größtmögliche Einheit für seine Polis anstrebe, sei diese Zielsetzung in ihrer platonischen Form übertrieben und daher normativ gar nicht erstrebenswert. Dabei liegt die antiplatonische Pointe seiner Überlegungen nicht nur darin, dass die Polis faktisch eine Vielheit darstellt, 57 sondern dass dies auch so sein soll 58. Anders formuliert: Aristoteles diagnostiziert nicht nur deskriptiv eine gewisse Vielheit, sondern wünscht sie auch normativ; die Polis soll zwar in einer gewissen Weise geeint sein, aber die Mannigfaltigkeit nicht gänzlich zugunsten einer zu großen Einheit aufgegeben werden. Dabei kritisiert er an Platon im II. Buch der Politik einerseits den Umfang der Vereinheitlichung und andererseits auch die Methoden, um diese zu erreichen. Jedoch wenden manche Forscher wie etwa Kraut oder Saunders ein, dass Aristoteles in der Frage nach dem Ausmaß der Einheitlichkeit seinen Lehrer missdeutet oder gar völlig verzerrt wiedergegeben habe. 59 Wie berechtigt ist diese Kritik? Gerade in der Frage nach dem allgemeinen Verhältnis dieser beiden Denker gibt es in der Forschungsliteratur viele verschiedene Antworten. So stellt etwa Popper bei Aristoteles ganz allgemein eine ziemliche Abhängigkeit von Platon fest, stößt sich allerdings an einer angeblichen »oft an den Haaren herbeigezogenen und manchmal inhaltsleeren Kritik an Platon. […] Das Denken des Aristoteles ist völlig von den Ideen Platons beherrscht. Wenn auch etwas widerwillig, so übernahm er doch fast alles von Platon, […] und insbesondere die allgemeine politische Einstellung« 60. Gerade in älterer Literatur findet sich immer wieder eine ähnliche Haltung, die beide Denker weitgehend identifiziert und programmatisch von einer »platonisch-aristotelischen Philosophie« spricht, womit eine weitgehende Einheit ihrer Konzeptionen suggeriert wird. 61 Als notwendige Differenzierung zu einer solchen Identifikationsthese versteht sich eine Position, die wir vielleicht als Verwandtschaftsthese bezeichnen könnten. Dabei stellt man eine jeweils eigenständige Position beider Philosophen fest, betont jedoch auch stark die platonischen Wurzeln wichtiger Positionen des Aristoteles. Vgl. Pol. IV, 4: 1290b23 f. Hauptsächlich finden sich seine diesbezüglichen Argumente in Pol. II, 2+3. 59 Vgl. Kraut 2011, 51 bzw. Saunders 2002, 108 f. 60 Popper 2003b, 7–8. 61 Heutzutage wird die Identifikationsthese nur noch selten vertreten, da die Forschung eine komplette Identifizierung als zu undifferenziert betrachtet. 57 58

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Exemplarisch sei hier etwa Schütrumpf genannt. 62 Als dritte und letzte Interpretationsrichtung könnten wir die Differenzthese anführen: Hier streicht etwa Bien wichtige Unterschiede zwischen Platon und Aristoteles heraus, setzt sie also eher in einen Gegensatz zueinander. 63 Entsprechend sollten wir nun die aristotelische Kritik an seinem Lehrer genau prüfen: Hat Platon tatsächlich übersehen, dass er mit seiner Einheitsforderung die Polis zu einem Haushalt und diesen Haushalt sogar noch zu einem Einzelmenschen reduzieren würde? 64 Dass Aristoteles Platon nicht bloß oberflächlich angreift, eigentlich jedoch seine Lehren übernimmt (so aber Pangle 65), oder gar ein missgünstiger Schüler ist, zeigt ein Blick auf Politeia 462c. Dort beurteilt Platon nämlich tatsächlich diejenige Polis als beste, die sich am ähnlichsten einem einzelnen Menschen zeige. 66 Aristoteles greift solche Aussagen auf und kritisiert sie vehement in immer neuen Anläufen. Grundsätzlich ist eine Polis nämlich eine andere Art Einheit als etwa ein Einzelmensch, der in einem viel höheren Ausmaß eine Einheit darstellt. Wer also wie Platon eine allzu starke Vereinheitlichung anstrebt, hebt gemäß den Lehren des Aristoteles die Polis selbst auf. Grundsätzlich handelt es sich bei einer Polis nämlich um eine Gemeinschaft von Menschen verschiedener Art, denn aus Ähnlichen entsteht keine Polis. 67 Zusammenfassend können wir aus einigen Schütrumpf 1991a, 103, Fußnote 1 stellt in diesem Sinne fest: »Man kann beinahe jedes Kap. von Pol. als den aristot. Gegenentwurf zu Plat. verstehen.« Auf der anderen Seite sieht er wichtige Anschlüsse an den Politikos in Pol. III bzw. an die Nomoi in Pol. VII/VIII (vgl. Schürumpf 1996, 178, Fußnote 4) und Pol. IV–VI (vgl. Schürumpf 1996, 117 f.). 63 Vgl. Bien 1985. 64 Vgl. für die entsprechende Kritik Pol. II, 2: 1261a14–22. 65 Vgl. Pangle 2013, 74 f. Insgesamt betrachtet Pangle das Buch II der Politik als tiefe Verbeugung vor Platon (vgl. ebenda, 92). 66 Auch in Nomoi V. Buch 739d ff. ist eine größtmögliche Einheit das normativ erstrebenswerte Ziel. 67 Vgl. Pol. II, 2: 1261a22–25. Aristoteles ist also durchaus folgender von Arendt konstatierter Sachverhalt bewusst: »Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen.« (Arendt 1993, 9). Gerade Aristoteles wirft sie aber vor, diese Erkenntnis ignoriert zu haben (vgl. dafür zusätzlich Arendt 1993, 144). Grundsätzlich setzt sich eine Polis für Aristoteles aus verschiedenen Gruppierungen zusammen, die sich in mehreren Hinsichten unterscheiden: Besonders wichtig sind für Aristoteles die folgenden Differenzierungen: die soziologische in reiche Oberschicht, wohlhabende Mittelschicht und arme Unterschicht (ebenfalls soziologisch ist eine Feinunterteilung in die verschiedenen Berufsstände), die juristische in Freie, 62

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Stellen in Pol. II, 2 und Pol. II, 5 folgende Erkenntnisse ziehen: Platon übertreibe bei der Vereinheitlichung der Polis und übersehe die normative Notwendigkeit einer positiven Würdigung der Vielheit der Polis. Grundsätzlich handle es sich bei einer Polis nämlich um eine Gemeinschaft von Menschen verschiedener Art, denn »aus Ähnlichen entsteht keine Polis«. 68 Wie eine Symphonie nicht eine Homophonie werden dürfe oder ein Rhythmus nicht aus einem einzigen Takt bestehen könne, so müsse eine Polis notwendigerweise eine gewisse Vielheit kennen. 69 Warum ist dies eigentlich so? Wiederum hat dies mit dem Zweck der Polis zu tun, also mit dem guten Leben. Daher ist der platonische Vergleich der Polis mit einem Haus für Aristoteles grundsätzlich deplatziert: Wenn die Polis als großes Haus interpretiert werde, dann sei ihre Autarkie nicht mehr erreichbar. 70 Schließlich sei eine Polis autarker als ein Haus. 71 Hier lässt sich ein weiterer wichtiger philosophischer Unterschied aufzeigen, der uns im Laufe dieser Arbeit mehrfach begegnen wird: Wie wir gesehen haben, soll die Einheit der Polis bei Platon zwar möglichst der Einheit einer Einzelperson entsprechen. 72 Natürlich weiß aber auch Platon, dass eine Polis aus vielen Menschen besteht und bestimmt daher die Polis als eine Art Großfamilie. 73 Trotzdem hat der Vergleich der platonischen Polis sowohl mit einem Einzelmenschen als auch derjenige mit einem Haus einen guten Sinn. Während ersterer das normative Ziel angibt und eine Metapher für Fremde (mit der Untergruppe der Metöken) und Unfreie, die machtpolitische in Herrscher und Untertanen, die axiologische in tüchtig-tugendhafte und nicht tugendhafte. Je nachdem welcher Polisteil an Qualität und/oder Quantität entscheidend überwiegt, prägt dies den Charakter der Polis. 68 Vgl. Pol. II, 2: 1261a22–24. 69 Vgl. Pol. II, 5: 1263b29–35. 70 Stalley 1991, 190 weist darauf hin, dass Autarkie hier nicht die ökonomische Autarkie meinen könne, da diese schon mit der Stufe des Dorfes erreicht sei. 71 Vgl. Pol. II, 2: 1261b6–15. Allerdings darf man nicht wie Schütrumpf 1991b, 162 Anm. 12,13 aus Stellen wie 1261a18 ff. einen gegenseitigen Ausschluss von Einheit und Autarkie herauslesen. Schließlich betrifft die Kritik des Aristoteles nur das Ausmaß der angestrebten Vereinheitlichung: Passagen wie Pol. II, 5: 1263b31 f. zeigen deutlich, dass Aristoteles den Begriff der Einheit nicht aufgibt. 72 Contra Mulgan 1977, 29 betrifft die geforderte Einheitlichkeit nicht nur die oberste Klasse, sondern tatsächlich die ganze Polis. 73 Schütrumpf 1991b, 160 beschreibt den Unterschied zwischen Platon und Aristoteles wie folgt: Aristoteles finde bei Platon nur eine soziale Differenzierung vor, die er – darin über ihn hinausgehend – auf den politischen Bereich ausdehne. Ordnung in der Polis

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das Gleichklingen der Bürger darstellt, bildet der zweite Vergleich eine faktisch natürlich realistischere Einschätzung. Dabei sollten die Bürger miteinander befreundet sein, was Platon – in der Interpretation des Aristoteles – hauptsächlich durch Frauen-, Kinder- und Gütergemeinschaft erreichen möchte. Nachdrücklich arbeitet Aristoteles in den genannten Kapiteln Pol. II, 2–5 auf das Beweisziel hin, dass Platon durch das Modell einer Polis als Großfamilie (hergestellt durch Frauen-, Kinder- und Gütergemeinschaft) die Freundschaft als Basis der Polis gar nicht befördere, sondern im Gegenteil unmöglich mache. Gerade die von Platon vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vereinheitlichung sieht Aristoteles als gefährlichen Irrweg an, da sie auf der einen Seite amoralische Konsequenzen zeitigen und er auf der anderen Seite auch nicht an ihre Wirksamkeit glaubt. Durchaus einige Forscher merken an, dass Aristoteles seinem Lehrer eine Art Kategorienfehler vorwirft: So bestreitet Ottmann in seiner Besprechung der aristotelischen Platonkritik zwar, dass die Einheit der Familie für Aristoteles ein Vorbild für die politischen Bindungen sein könne, äußert sich jedoch nicht dazu, was er unter letzteren genauer versteht. 74 Auch Schütrumpf konstatiert, dass Aristoteles dem Platon vorwerfe, Verhaltensweisen aus der Familie auf die Polis zu übertragen. 75 Allerdings möchte ich über diese Feststellung hinaus den Gegensatz weiter konturieren und auch den positiven aristotelischen Gegenentwurf herausarbeiten: Natürlich ist es richtig, dass Platon in der Interpretation des Aristoteles den gravierenden Unterschied zwischen einem oikos und einer polis übersieht, was der Schüler dem Lehrer bekanntlich auch sonst vorwirft. 76 Ebenso korrekt ist es selbstverständlich, dass Aristoteles die daraus folgende platonische Lösung der Polis als Großfamilie ablehnt. 77 Aber verbleibt Aristoteles wirklich in einer rein ablehnenden Haltung und präsentiert keinen eigenen positiven Lösungsvorschlag? Auf jeden Fall klar ist, welchen Kriterien eine solche Antwort für Aristoteles genügen muss: Sicherlich muss sie Pluralität und Einheit ausbalancieren und überdies die platonische Analogie der Polis mit Haus oder IndiviVgl. Ottmann 2005, 13. Vgl. Schütrumpf 1991b, 176. 76 Aristoteles argumentiert mehrfach dagegen, dass sich Hausherr und Herrscher nur in der Anzahl der Untertanen unterscheiden (wie dies Platon in Politikos 259b–d annimmt): Vgl. Pol. I, 1: 1252a7–16 mit Pol. I, 7 und Pol. I, 3: 1253b18–20. 77 Kronman 1979, 127 beansprucht jedoch explizit, dass die aristotelische Polis eine Art von »zweiter Familie« werden solle. 74 75

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duum vermeiden. Worin besteht nun die Einheitlichkeit einer Polis, wenn sie nicht eine Art Großfamilie darstellt? Und wie kann sie hergestellt werden, wenn Güter- und Frauengemeinschaft angeblich untauglich sind?

1.1.4 Meint das zôon politikon physei eine biologisch prästabilierte Harmonie? Die Bedeutung des logos für das koinon der koinônia politikê Bekanntlich gibt es in Philosophiegeschichten immer wieder Deutungen, die sich in ihrer Interpretation des Aristoteles als relativ naiven, vielleicht sogar fast sentimentalischen Verklärer von Gemeinschaften auf dessen These vom zôon politikon stützen. Wenn man solche Deutungen sehr überpointiert formuliert, unterstellen sie Aristoteles beinahe eine Art biologisch prästabilierter Harmonie. Aber folgt aus der Lehre des Menschen als politischem Lebewesen wirklich, dass Aristoteles die politische Gemeinschaft als relativ unkomplizierte natürliche Entwicklung auffasst, sie sich quasi-natürlich aus einem angeborenen Trieb zu einem harmonischen Ganzen fügt und die Bürger ihre Aufgaben so bereitwillig wahrnehmen wie Bienen in einem Bienenstock? 78 Gerne wird diese These dadurch ergänzt, dass Hobbes in seinem bahnbrechenden Anti-Aristotelismus als erster die Künstlichkeit der politischen Ordnung erkannt habe. Auf den ersten Blick scheint diese Interpretation dadurch gerechtfertigt, dass Aristoteles in der Historia animalium anscheinend auch einige Tiere als politische Lebewesen begreift 79 und damit die Sozialität des Menschen und mancher Tiere doch in eine bedenkliche Nähe gerieten. Doch sollten wir bereits durch Kapitel 1.1 gewarnt sein, dass die aristotelischen Begriffe häufig mehrdeutig sind. Somit könnte sich also hinter der politischen Lebensweise der Tiere eine ziemlich andere Art der Gemeinschaftsorganisation verbergen. Zu-

Kraut 2002, 247–249 beobachtet eine doppelte Auslegungsmöglichkeit des zôon politikon. Einerseits könne man dies normativ auslegen: Das höchste Gut sei für den Menschen in der Polis zu suchen. Andererseits könne man dies auch deskriptiv lesen: Der Mensch bringe von Natur aus, bestimmte Impulse, die ihn zum politischen Leben treiben. Im Folgenden soll versucht werden, diese Lesarten in einen Bezug zueinander zu setzen. 79 Vgl. De hist. anim. I, 1. 78

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nächst jedoch stimmen alle politischen Lebewesen darin überein, dass sie im Gegensatz zu den bloßen Herdentieren ein verbindendes koinon haben. 80 Beispielsweise zählen der Mensch, die Biene, die Wespe, die Ameise und der Kranich zu solchen zôa politika. 81 Zwar differenziert Aristoteles noch genauer zwischen herrscherlosen politischen Lebewesen und solchen mit Herrschern, gleichwohl bleibt dies in der Historia animalium die feinste Unterscheidung. Wenn wir uns auf Hist. anim. I, 1 beschränkten, wüssten wir somit also nicht, ob es sich bei einem Bienenstock und einer Polis um grundsätzlich verschiedene politische Ordnungen handelt. Sobald wir uns jedoch der Politik zuwenden, ändert sich dieses Bild. Hier taucht als neues Problem auf, ob Aristoteles eher einen graduellen oder einen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Politisch-Sein mancher Tiere und des Menschen annimmt. Während die Formulierung »mallon« 82 grundsätzlich eher eine Graduierung nahelegt, bahnen die folgenden Zeilen eine prinzipielle Differenz an: Dass die Natur nichts umsonst mache und nur der Mensch über logos verfüge, 83 könnte wichtige Auswirkungen auf seine Geselligkeit haben. Wie eng sind diese beiden berühmten Bestimmungen des Menschen als zôon logon echon und als zôon politikon aber tatsächlich zusammenzudenken? Hier scheint sich sogleich ein Interpretationsproblem zu ergeben: Wenn wir diese beiden Bestimmungen miteinander identifizierten, dann gälten ja nur Menschen als wahre zôa politika, und die Historia animalium stünde mit ihrer Anerkennung manch anderer Tiere als »politisch« in einem glatten Gegensatz zur Politik. Tatsächlich beschränkt sich in letztgenanntem Werk der Mensch nicht auf die natürliche Geselligkeit um der Kindererzeugung willen, die eben auch die Tiere pflegen. 84 Schließlich endet sein Streben nicht im natürlichen Gut der Nachkommenschaft, das durch die biologische Lustgemeinschaft von Mann und Frau entsteht. DarüVgl. die wichtige Bestimmung von De hist. Anim. I, 1: 488a7–10, dass jede koinônia politikê ein verbindendes koinon habe. 81 Über die biologische Seite der zôon politikon-Formel informiert Kullmann 1980. Pellegrin 2015 bringt eine nicht-reduktionistische Deutung des Zusammenhangs zwischen Biologie und Politik. 82 Pol. I, 2: 1253a8. 83 Vgl. Pol. I, 2: 1253a9 f. 84 Damit ist sie in gewisser Hinsicht noch natürlicher als die politische Gemeinschaft, wobei sie jedoch beim Menschen eine rein natürliche Fortpflanzungsebene übersteigt und sittlich bewertbar ist (vgl. EN VIII, 14: 1162a17–33). 80

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ber hinaus hat der Mensch nämlich nicht nur diese tierisch-natürliche Seite, sondern ihm eröffnet sich durch den logos die höhere Dimension von Vernunft und Sprache 85. Während die anderen Tiere mit ihren Lauten nur Lust und Leid anzeigen, können die Menschen tatsächlich vernünftig miteinander kommunizieren. 86 Zwar teilen gewisse tierische »Sprachen« mit der menschlichen Sprache manche physischen Grundvoraussetzungen, aber sie unterscheiden sich prinzipiell von ihr durch den fehlenden logos (im Sinne der Vernunft) und damit sowohl in semantischen und syntaktischen als auch in pragmatischen Gesichtspunkten. Schon die verwendeten Zeichenarten trennen Mensch und Tier grundsätzlich, denn nur der Mensch kann Symbole verwenden. Demgegenüber beschränken sich die tierischen Zeichen darauf, Indizes zu sein. Semantisch stimmen die tierischen und die menschlichen Sprachen darin überein, dass beide bedeutsam sind. Allerdings fehlt den Tieren besagter logos, sodass ihre Laute nur physische Bedürfnisse anzeigen. Im Gegensatz dazu kann sich die menschliche Sprache über den Bereich des bloß Tierischen erheben, und so vermag der Mensch über praktische und theoretische Probleme logisch nachzudenken. Besonders prägnant spricht die Konsequenz dieser vernünftigen Sprachlichkeit folgende Kernstelle aus, die man ohne Übertreibung zu einer der wichtigsten in der ganzen Politik zählen kann: Die Sprache hingegen dient dazu, das Nützliche und Schädliche kundzutun und so auch das Gerechte und Ungerechte. Dies nämlich ist den Menschen gegenüber den anderen Lebewesen eigentümlich, dass sie allein die Wahrnehmung des Guten und Schlechten, des Gerechten und Ungerechten usw. besitzen. Die Gemeinschaft in diesen Dingen schafft das Haus und die Polis. 87

85 Kamp kritisiert die gängige Übersetzung dieser Stelle (logos als »Sprache«), obwohl der Zusammenhang eindeutig der communis translatio Recht gibt. Kamp pickt einige Stellen heraus, welche die Vernunftseite des logos betreffen, um damit das angebliche Missverständnis der Übersetzung mit Sprache zu destruieren. Auch seine Deutung der phônê hat sich nicht durchgesetzt (vgl. Kamp 1985, 48–55). Zwar ist es richtig, dass an einigen Stellen mit logos eine Art »sich kundtuende praktische Einsicht« (ebenda, 56) gemeint ist, aber kein Interpret beansprucht, im gesamten Werk den logos stets mit »Sprache« zu übersetzen. Auch die logos-Deutung seines späteren Buches konnte sich nicht durchsetzen (vgl. Kamp 1990, 58–64). 86 Interessanterweise begründet Isokrates die Vergesellschaftung des Menschen ebenso über die Sprache: siehe Antidosis 254–258. Vgl. Isokrates 1997, 165 f. 87 Pol. I, 2: 1253a14–18.

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Allein die Menschen vermögen also vernünftig miteinander zu interagieren, was tief in ihrer Sprachlichkeit begründet liegt: Ohne vernünftige komplex aufgebaute Sprache kann es also zu keiner vernünftig komplex aufgebauten Gemeinschaft kommen. Insofern begründet der Aspekt des logos das menschliche politikon, da die recht verstandene eigentliche Gemeinschaft des Menschen ohne kommunikativen logos nicht möglich wäre. Damit geht auch eine inhaltliche Sonderstellung der menschlichen politischen Ordnung einher, denn nur der Mensch kann sich Gedanken über praktische Fragen nach dem Guten, Gerechten und Nützlichen machen und sie mit seinen Mitmenschen diskutieren. Damit wird nun die Einzigartigkeit der menschlichen Polis klar, denn der Mensch hat zwar einen mit anderen Tieren geteilten biologischen Gemeinschaftstrieb, aber dieser allein reicht nicht zur Erklärung der Polis aus. Vielmehr führt gerade die spezielle logosgeprägte politische Natur des Menschen zur Kommunikation über ethische Fragen und damit zu Gemeinschaften in einem eminenteren Sinne als dies bei Tieren der Fall ist. Somit haben wir nun also das gesuchte koinon der menschlichen koinônia politikê gefunden, denn es liegt in gemeinschaftlichen Auffassungen von Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht sowie Nützlich und Schädlich. Erst wenn eine Gemeinschaft nach einer gemeinschaftlichen Regelung solcher praktischen Fragen sucht, dürfen wir sie als wahrhaft menschliche politische Gemeinschaft ansprechen. 88 Zwar ist damit eine allzu nahe Verwandtschaft mit tierischen Dennoch soll damit den Tieren der Historia animalium nicht ein »politisches« Dasein abgesprochen werden, da auch sie ein koinon verbindet, nur eben keines im Sinne der Praxis (im engeren Sinne der vernünftigen Praxis). Insofern unterscheidet sich das menschliche zôon politikon prinzipiell von anderen »politischen« Tieren, ohne dass deswegen Bienen oder Ameisen das jeweils eigene koinon abgesprochen, sie damit zu reinen Herdentieren degradiert werden und die Verwendung des Begriffs »politisch« in der Historia Animalium zur bloßen Metapher erklärt werden müsste. Nur weil das nicht in der praktischen Philosophie angesiedelte koinon der »politischen« Tiere nicht zur Bildung einer Polis führt, sollte ihre von Herdentieren verschiedene Sozialität nicht durch die Leugnung ihrer »politischen« Natur verkannt werden. Problematisch scheint für uns heutige Leser sicherlich, warum diese »politischen« Tiere überhaupt »politisch« genannt werden. Schließlich meinen wir heute mit »politisch« wirklich nur noch Fälle, die unter den praktischen Anwendungsbereich fallen. Andererseits sind wir auch heute in unserer Alltagssprache in manchen Fällen dennoch nicht allzu weit von solchen Kategorisierungen entfernt. Schließlich bezeichnen wir ohne zu zögern die Organisation von Bienen oder Ameisen als Bienen- oder Ameisenstaaten. Hier liegt natürlich eine gewisse Inkonsequenz vor, da wir

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Gemeinschaften ausgeschlossen und die menschliche Polis als praktische Gemeinschaft etabliert, aber bekanntlich wirft Hobbes dem Aristoteles eine anthropologische Naivität und damit einhergehend auch eine blauäugige politische Philosophie vor. Nun könnte man vielleicht zwar die Naturalismus-These von Hobbes ablehnen, aber dennoch Aristoteles eine naive Anthropologie zuschreiben. Auch wenn diese beiden Thesen bei Hobbes miteinander verknüpft sind, kann man sie natürlich unabhängig voneinander vertreten. Bevor wir uns im nächsten Kapitel eingehend dieser Frage nach der vorgeblichen anthropologischen Naivität des Aristoteles widmen, möchte ich als Überleitung dazu gerne Hobbes’ Position durch ein Zitat verdeutlichen. Besonders prägnant zeichnet Hobbes einen wichtigen angeblichen Kontrast zwischen seiner eigenen politischen Philosophie und derjenigen des Aristoteles gleich zu Beginn von De cive in seiner Kritik am aristotelischen zôon politikon physei: Dieses Axiom ist jedoch trotz seiner weitverbreiteten Geltung falsch; es ist ein Irrtum, der aus einer allzu oberflächlichen Betrachtung der menschlichen Natur herrührt. Denn untersucht man genauer die Gründe, warum die Menschen zusammenkommen und sich gegenseitig an ihrer Gesellschaft erfreuen, so findet man leicht, dass dies nicht naturnotwendig, sondern nur zufälligerweise geschieht. Denn wenn die Menschen einander von Natur, d. h. bloß weil sie Menschen sind, liebten […] 89

Gerne wird eine solche Sicht von heutigen Neuzeitforschern noch weiter vergröbert, indem im Kontrast zum Naturalisten Aristoteles erst Hobbes die politische Gemeinschaft als künstliche Einrichtung erkannt habe. Wie folgende Stelle aus dem Leviathan zeigt, sänke damit die Polis bei Aristoteles zu einer Gemeinschaft herab, wie sie eigentlich nur bei den Tieren vorhanden ist: »Letztens: Die Übereinstimmung dieser Kreaturen ist natürlich, die der Menschen nur durch Vertrag, also künstlich […]« 90. Zwar hat der Mensch bei Aristoteles tatsächlich einen natürlichen Drang zu einer Gemeinschaft, aber für die (wahrhaft menschliche) politische Gemeinschaft reicht diese mit den Tieren geteilte biologische Basis wie wir gerade gesehen haben zwar von Ameisen- oder Bienenstaaten sprechen, aber bezeichnen wir diese Tiere in unserer Alltagssprache wirklich als politische Lebewesen? 89 De cive, Kap. I in der Übersetzung von Gawlick. Hervorhebung durch Unterstreichung Langmeier. 90 Leviathan, Kap. XVII in der Übersetzung von Schlösser. Zu diesem Punkt äußere ich mich später. Ordnung in der Polis

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eben nicht aus und erschöpft sich die Einigkeit der Bürger auch nicht in einer quasi-instinktiven, gewissermaßen biologisch prästabilierten Harmonie aller. Bernard Yack hat dies in die schöne Formel gepackt: Der Drang zur Polis sei natürlich, ihr Zustandekommen und ihre Organisation jedoch künstlich. 91 Anders formuliert: Wir sind einander nicht von Natur zugetan. Hier baut sich Hobbes sichtlich einen argumentativen Pappkameraden auf, wenn er Aristoteles eine wechselseitige Liebe der Menschen aufgrund derselben Artzugehörigkeit zuschreibt. Dies kann er natürlich hervorragend als Kontrastfolie für sein angeblich so viel realistischeres Menschenbild gebrauchen. Noch Hannah Arendt scheint in ihrer substantialistischen Interpretation des zôon politikon der hobbesschen Polemik auf den Leim gegangen zu sein, wenn sie Aristoteles dafür tadelt, dass er ab ovo nie zur Politik gelangen könne: Die Philosophie hat zwei gute Gründe, niemals auch nur den Ort zu finden, an dem Politik entsteht. Der erste ist: 1) Zoon politikon: als ob es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre. Dies stimmt gerade nicht; der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen– den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentlich politische Substanz. Politik entsteht im Zwischen und etabliert sich als der Bezug. Dies hat Hobbes verstanden. 92

Dagegen bleibt jedoch einzuwenden, dass Aristoteles diesen relationalen Charakter der menschlichen Politik keineswegs übersehen hat. Interessanterweise hat Heidegger in einer Bemerkung zum Aspekt des logon echon diesen Sachverhalt deutlich besser erfasst: So sehen Sie, daß in dieser Bestimmung λόγον ἔχον ein fundamentaler Charakter des Daseins des Menschen sichtbar wird: Miteinandersein. Und zwar nicht etwa Miteinandersein im Sinne des Nebeneinandergestelltseins, sondern im Sinne des Miteinandersprechendseins in der Weise der Mitteilung, Widerlegung, Auseinandersetzung. 93

Anders ausgedrückt: Durch den logos-Charakter erweist sich die menschliche Gemeinschaft in hohem Ausmaße als praktische »Kommunikationsgemeinschaft«, wobei schon in Heideggers Formulierungen (»Widerlegung«, »Auseinandersetzung«) das latente Konfliktpotential anklingt. Dementsprechend widmet sich das nächste Kapitel 91 92 93

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Vgl. Yack 1993, 94 f. Arendt 1993, 11. Heidegger GA 18, § 9 (Heidegger 2002, 47).

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der Erforschung des Charakters dieser »Kommunikationsgemeinschaft«.

1.1.5 Die Relevanz der politischen Freundschaft für die politische Ordnung 1.1.5.1 Ist die politische Freundschaft eine Tugendfreundschaft? Oder: Warum die Anthropologie des Aristoteles nicht naiv optimistisch ist Zwar scheint die noch näher zu erläuternde wichtige Rolle der Übereinstimmung in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen dazu geeignet zu sein, gegenüber Arendt den intersubjektiven Charakter der politischen Gemeinschaft bei Aristoteles nachzuweisen. Aber verfällt die im Folgenden vorgelegte Interpretation dieser Übereinstimmung als politischer Freundschaft nicht der bereits zitierten Kritik von Hobbes, dass Aristoteles eine gewissermaßen hoffnungslos optimistische und naive Anthropologie pflege? Aristoteles spricht tatsächlich immer wieder davon, dass die politische Gemeinschaft freundschaftlichen Charakter habe 94 und die philia das größte Gut für eine Polis sei und Bürgerkriege verhindere 95. Auf den ersten Blick scheint dies doch eine stärkere Lesart nahezulegen, denn der Terminus »Freundschaft« ist in unserem Sprachgebrauch bekanntlich ein normativ recht starker Begriff. Allerdings sollten wir uns hier nicht von einer Übersetzung in die Irre führen lassen: Ganz im Gegenteil ist es recht problematisch, die altgriechische philia zu sehr von ihren modernen Übersetzungen als »friendship« oder »Freundschaft« her zu lesen. 96 Bekanntlich stimmen praktisch alle Interpreten darin überein, dass bei philia wesentlich andere Bedeutungen mitschwingen als bei unserer doch eher intim zu verstehenden Freundschaft. 97 Völlig unterschiedlich jedoch sind die Konsequenzen, welche sie ziehen. Vgl. Pol. IV, 11: 1295b19–24. Vgl. Pol. II, 4: 1262b7–9. In EE VII, 1: 1234b22 f. bezeichnet Aristoteles es daher als besondere Aufgabe der Politik, Freundschaft [unter den Bürgern] hervorzurufen. 96 Denselben Sachverhalt beobachtet Kraut 2002, 354 f. für die koinônia, denn auch diesem Begriff fehlt im Altgriechischen die Wärme, die wir in der Regel der »Gemeinschaft« beilegen. 97 Daher werde ich philia unübersetzt lassen. 94 95

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Freilich kommt es uns in unserem Zusammenhang nicht auf sämtliche Verästelungen der weitverzweigten Diskussion über die philia an, sondern wir beschränken uns weitgehend auf die Frage, ob Aristoteles die politische Freundschaft als Tugendfreundschaft 98 oder als Nutzenfreundschaft 99 betrachtet. Erste Hinweise ergeben sich dabei durch einen Vergleich mit Platon. Bereits in Kapitel 1.1.3 bemerkten wir eine aristotelische Kritik an der platonischen Tendenz, die Polis als eine Art befreundete Großfamilie zu sehen. Entsprechend problematisch scheint auf den ersten Blick eine Passage aus dem zweiten Buch der Politik zu sein: Hier stimmt Aristoteles nämlich Platon ausdrücklich zu, dass die Einheit der Polis ein Werk der philia sei. 100 Entweder widerspricht sich Aristoteles in diesem entscheidenden Punkt selbst derart eklatant oder die beiden Philosophen verstehen unter der gesuchten philia etwas ziemlich anderes. Daher müssen wir nun – aufbauend auf den Ergebnissen des Kapitels 1.1.3 – die schon bekannten Grundzüge seiner Kritik vertiefen. Bereits bekannt ist aus den Vorgängerkapiteln der grundlegende Einwand des Aristoteles, dass Platon mit seinen Analogien zwischen polis und oikos bzw. polis und anthropos die Einheitlichkeit übertreibe und so die grundlegend andere Qualität der Polis verkenne. Ebenso vehement kritisiert er bekanntlich auch die Methoden der Frauen-, Kinder- und Gütergemeinschaft, die über die daraus entstehende philia die größtmögliche Einheit herstellen sollen. Sogar wenn das falsche Ziel der größtmöglichen Einheit richtig wäre, taugen jedoch in der Sichtweise des Aristoteles die Maßnahmen der Frauen-, Kinder- und Gütergemeinschaft nicht zur Maximierung der Freundschaft der Bürger untereinander. Auch wenn die Gütergemeinschaft laut Aristoteles ebenfalls darin versagt, die philia in der Polis zu befördern, ist für unsere Zwecke die Analyse der Kritik an der Frauen- und Kindergemeinschaft ergiebiger. Wenn nämlich Platon die starken Bande einer Familie durch Aufhebung der Kleinfamilie und Ausweitung der familiären Beziehungen auf die ganze Bürgerschaft auf die Polis zu übertragen hofft, irrt er dabei für Aristoteles in mehreren Hinsichten: Abgesehen von praktischen Umsetzungsschwierigkeiten 101 versagt die Frauen- und So etwa Kronman 1979, 129. Besonders prominent verteidigt diesen Ansatz Yack 1993. 100 Vgl. Pol. II, 4: 1262b9 f. 101 Beispielsweise entstehen solche Umsetzungsschwierigkeiten bei der Kinderver98 99

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Kindergemeinschaft gerade bei ihrem Hauptziel, nämlich der Intensivierung der philia. Während Platon die kleineren Familienverbände 102 aufheben will, um die ganze Bürgerschaft zu einer einzigen großen Familie umzugestalten, schwächt gemäß Aristoteles diese Maßnahme die Gemeinschaft entscheidend. Derweil Platon sich aufgrund der Frauen- und Kindergemeinschaft eine Bürgerschaft erhofft, in der alle Menschen sämtliche Vertreter der vorhergehenden Generation als Vater und Mutter ehren, die Altersgenossen allesamt als Brüder oder Schwestern ansehen und jedes Kind als das eigene betrachten und sich so die innige familiäre Liebe auf die ganze Polis erstreckt, hinterfragt Aristoteles dies grundsätzlich. Schließlich erfahre am wenigsten Fürsorge, was den meisten gemeinsam sei. Entsprechend führe eine angebliche Verwandtschaft aller mit allen bloß zu einem Desinteresse aller an allen. So würde ich nicht alle Mitbürger gleichermaßen lieben, sondern sie vielmehr gleichermaßen vernachlässigen. 103 Wenn ich zehntausend »Väter« habe und diese zum Beispiel fünfzigtausend »Söhne« haben, wird jeder Einzelne kaum zählen. So wird also in guten wie in schlechten Zeiten das Interesse der lieben Verwandten nicht besonders ausgeprägt sein, weswegen Aristoteles lieber nur ein »echter Cousin« als ein »platonischer Sohn« von Zehntausenden sein möchte. 104 Statt das Gemeinschaftsband der philia zu stärken, zerreißt die Frauen- und Kindergemeinschaft es also: Ebenso wie ein bisschen Süße in einem großen Wassergefäß keine Wirkung zu entfalten vermöge, werde die familiär interpretierte philia in der Polis ebenfalls fad sein. 105 Dementsprechend müssen wir für Aristoteles die philia wie Platon zwar wirklich als das höchste Gut für eine Polis betrachten und erzeugt sie tatsächlich die Einheit in ihr. 106 Jedoch hält Aristoteles die platonische Auslegung der politikê philia als persönlich-familiäre

tauschung (vgl. Pol. II, 5: 1262b24–35). Ebenso wirft Aristoteles das Problem auf, dass manchmal sicherlich die Verwandten aufgrund von Ähnlichkeiten erkannt werden können (vgl. Pol. II, 5: 1262a14–24). 102 Selbstverständlich dürfen wir dabei nicht an unsere heutigen Kleinstfamilien denken. 103 Vgl. Pol. II, 3: 1261b32–40. 104 Vgl. Pol. II, 3: 1262a1–14. 105 Vgl. Pol. II, 4: 1262b15–24. 106 Vgl. Pol. II, 4: 1262b7–10. Ordnung in der Polis

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Freundschaft für verfehlt. 107 Somit muss die von Aristoteles angestrebte politikê philia der Bürger grundsätzlich anders geartet sein als die allzu familienähnlich gedachte Gemeinschaft in der platonischen Polis. 108 Etwas boshaft empfiehlt Aristoteles, die platonische Frauen- und Kindergemeinschaft wenn überhaupt bei den Bauern und nicht bei den Wächtern einzuführen, da dann im dritten Stand weniger Freundschaft bestehe, die Regierten so leichter gehorchen und weniger gut einen Umsturz planen könnten. 109 Wenn die aristotelische politikê philia nun nicht der familiären philia angenähert werden soll, worin besteht sie denn dann? Wie bereits die Kritik des Aristoteles an Platon nahelegt, sollten wir die philia der Bürger untereinander strikt von der tiefen Freundschaft unter persönlichen Freunden oder Familienmitgliedern trennen. Ein weiterer Blick auf die Freundschaftslehre bestätigt diese Annahme: Dies betrifft einerseits die Quantität an möglichen Freunden und andererseits auch die Qualität und Intensität der Beziehung. Hier hat vor allem Bernard Yack geltend machen können, dass sich die philia unter Bürgern wesentlich von der wahren philia, also der philia von Tugendhaften 110, unterscheidet: Während jemand in seiner Rolle als Bürger mit vielen anderen Bürgern befreundet sein kann, ist die wahre Tugendfreundschaft nur mit wenigen möglich. 111 Entsprechend kritisch zu bewerten sind daher Interpretationen, welche die politikê philia recht intim zeichnen und die persönlichen Verbindungen stark hervorstreichen. Hier ist vor allem Cooper zu nennen, der politische Freundschaft als »friendly interest that the citizens take in one another’s qualities of mind and character« 112 beschreibt und diese personale Seite in einem Vergleich sogar noch weiter steigert: »Civic friendship makes the citizens in some important 107 Auch Mulgan betont diesen Unterschied. Vgl. Mulgan 2011, 87 bzw. ausführlicher Mulgan 1999, 19 f. 108 Dies scheint mir Kraut bei seiner Verteidigung Platons gegenüber der Kritik des Aristoteles übersehen zu haben. Vgl. Kraut 2011, 52. 109 Vgl. Pol. II, 4: 1262a40–b3. 110 Gegen Shellens muss jedoch festgehalten werden, dass die vollkommene Freundschaft selbstverständlich axiomatisch an der Spitze aller Freundschaften steht und dieser Begriff auch ethisch-wertend gemeint ist. Anders Shellens 1958, 89–93. 111 Yack 1993, 113 bezieht sich hier auf EN IX, 10: 1171a15–20 und EN VIII, 7: 1158a10–12. Ergänzen könnte man EE VII, 2: 1237b34–1238a10, da Aristoteles hier ebenfalls die Unmöglichkeit einer wahren (= tugendhaften) Freundschaft mit vielen behauptet. 112 Cooper 1990, 234; vgl. auch die Kritik von Annas 1990, 246 daran.

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respects like a large extended family.« 113 Damit vertritt Cooper in dieser Hinsicht nach wie vor – trotz der umfassenden Kritik von Price an seiner Interpretation der eunoia 114 – eine ähnliche These wie 1977. 115 Aufgrund seiner eunoia-Interpretation zeichnet Cooper ein recht idyllisches Bild der civic friendship: »So the process by which one comes to acquire friendly feelings towards one’s fellow-citizens is the acquisition of a disposition to act in all respects morally toward them, and not merely a disposition to act justly« 116. Cooper moralisiert so die Beziehung der Bürger untereinander stark und gibt mit seiner Beschreibung der Bürgerschaft als »large extended familiy« eine wichtige antiplatonische Position des Aristoteles wieder auf. In ihrem Kommentar zum cooperschen Artikel merkt Julia Annas daher ebenfalls an, dass die philia der politikê philia nicht – wie die eigentliche philia – eine intime personale Beziehung sei, sondern sich auf den abstrakteren Mitbürger beziehe, mit dem man nicht im vollen Sinne des Wortes das Leben teile. 117 Annas wiederum legt ihrerseits zu strenge Maßstäbe an die philia an und fragt sich, wie die politikê philia überhaupt noch philia genannt werden dürfe. 118 Implizit oder explizit eint Annas und Cooper bei all ihrer Gegensätzlichkeit daher, dass sie die politische Freundschaft allzu sehr von der Tugendfreundschaft her interpretieren. 1.1.5.2 Inwiefern ist die politische Freundschaft eine Nutzenfreundschaft? Hier konnte namentlich Yack zeigen, dass es sich bei der philia unter Bürgern nicht um die höchste und eigentliche Form der philia, nämlich die philia unter Tugendhaften, handeln kann. Demgegenüber möchte er nicht nur negativ-kritisch nachweisen, dass die politische

113 Vgl. Annas 1990, 236 (trotz vorhergehender Einschränkungen in 233, Anmerkung 15). 114 Vgl. Price 1989, 148–157. 115 Vgl. Cooper 1977, 645–648. 116 Vgl. Cooper 1977, 647 f. Mulgan bemerkt zu Coopers Interpretation, dass diese eine »comparatively altruistic reading of advantage-friendship« (Mulgan 1999, 26) darstelle und kritisiert auch, dass sie expliziter textlicher Belege ermangle (ebenda). 117 Vgl. Annas 1990, 243. 118 Vgl. Annas 1990, 245. Aristoteles selbst warnt explizit davor, aufgrund der primären Freundschaft die anderen Freundschaftsarten nicht mehr als Freundschaft zu akzeptieren (vgl. EE VII, 2: 1236a22–32).

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Freundschaft keine Tugendfreundschaft ist, sondern auch positivkonstruktiv belegen, dass es sich bei der philia unter Bürgern um eine Nutzenfreundschaft handle. Hier verweist er vor allem auf EE 1242a6–13. 119 Tatsächlich lässt sich über Yack hinaus noch ein weiterer Beleg finden, denn in 1161b15 f. vergleicht Aristoteles die politische Freundschaft mit der Gastfreundschaft, die er in EN VIII, 3: 1156a10–31 (bes. 29–31) als Nutzenfreundschaft kennzeichnet. Insgesamt komme ich also wie Yack zum selben negativen Ergebnis, dass es sich bei der politikê philia rein aufgrund der Textbelege nicht um eine Tugendfreundschaft handeln kann. 120 Ebenso möchte ich darüber hinaus die positive These vertreten, dass die politikê philia in einem hohen Ausmaß eine philia aufgrund von Nutzensüberlegungen ist. Abseits dieser philologischen Belege, dass die politische Freundschaft eine Nutzenfreundschaft ist, muss aber auch gezeigt werden, wie sie dies leisten kann. Schließlich tauchen mehrere Probleme auf, wenn ausgerechnet eine Nutzenfreundschaft die Polis zusammenhalten soll. 121 Natürlich muss daher zunächst geklärt werden, was Aristoteles überhaupt unter Nutzen im Zusammenhang mit der Polis und mit der politischen Freundschaft versteht. Angesichts der hobbesschen Polemik schiene es auf jeden Fall verkehrt, diese Problematik zu unterschätzen. Auch Shellens hat im Übrigen davor gewarnt, eine »ethisch verstandene Freundschaft« der Bürger als deus ex machina misszuverstehen, der sämtliche Gemeinschaftsprobleme löst: Nun kann man vielleicht meinen, das habe die Politik auch gar nicht nötig; die Ethik löse diese Schwierigkeiten wie mit einem Zauberspruch, indem sie sage: ›Wenn die Bürger Freunde sind, bedarf es nicht der Gerechtigkeit; lassen sie sich von der Gerechtigkeit leiten, benötigen sie dazu immer noch der Freundschaft.‹ […] Es sind Sätze einer Festrede, die eben zitiert worden sind. Sie lassen allzuleicht vergessen, daß ein Zauberglanz nüchterne Probleme nicht zu lösen vermag. Die Erinnerung wird wach an die gleichfalls

Vgl. Yack 1993, 111. Vgl. Yack 1993, 103 und 110. Bentley 2013, 13 f. argumentiert in ganz anderer Weise dafür, dass die politische Freundschaft keine Tugendfreundschaft sein könne, da eine wahre Freundschaft intolerant gegenüber den ethischen Defiziten des Freundes ist und ihn zu korrigieren trachte: für Bürger, die per definitionem nicht ein anderes Selbst sind, könne daher die Tugendfreundschaft nicht die Basis für den Umgang untereinander bilden. Allerdings geht Bentley 2013, 18 in der Schlussfolgerunge etwas weit, dass aristotelische Bürgerfreundschaft nicht erlaube, Einmischung oder Zwang zu gestatten, um andere gut zu machen. 121 Darauf verweist auch Mulgan 1999, 24. 119 120

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zuweilen im Festesrausch ausgesprochene Erklärung, Recht sei eigentlich gar nichts anderes als Sittlichkeit. 122

Entsprechend besteht die Frage darin, ob Aristoteles die Konflikte in der Gemeinschaft übersehen hat und ein extrem harmonisierendes Gemeinschaftsbild vertritt, wobei durch die Zauberhand eines natürlichen sozialen Triebs Konflikte gar nicht entstehen und das Problem einer Vermittlung divergierender Interessen durch eine von vornherein vorhandene einträchtige Brüderlichkeit gar nicht auftreten kann. Interessanterweise hat ausgerechnet der sich als Neo-Aristoteliker verstehende MacIntyre unserem Philosophen den Vorwurf gemacht, die Konflikte in der Gemeinschaft übersehen zu haben. 123 Anders als Hobbes suggeriert, steht Aristoteles’ Anthropologie jedoch keineswegs im Bann eines naiven Altruismus und ignoriert dabei gar moralisch vor sich hinträumend den Nutzen als den eigentlichen Kitt einer politischen Gemeinschaft. Weit entfernt von einer selbstlosen Aufopferung zugunsten des größeren Ganzen (etwa im Stile von Arbeiterinnen oder Drohnen in einem Bienenvolk), ist sich auch der aristotelische Mensch durchaus selbst der Nächste und wünscht sich jeder Mensch selbst am meisten Gutes. 124 Entsprechend ist Aristoteles nicht blind dafür »dass politische Leitung die Antwort auf ein Bestimmungs- und Koordinationsproblem ist, das sich aus einem Konflikt zwischen den gemeinsamen und den jeweils individuellen Zielen der Bürger ergibt«. 125 Stattdessen durchzieht die Frage nach einer glückenden Vermittlung der überall auftretenden Konflikte in der Polis die Politik als eine der zentralen Leitfragen. Auf Schritt und Tritt begegnen wir bei Aristoteles dem harten Ringen verschiedener Gruppierungen und Individuen um die Wahrung des jeweils eigenen Vorteils, von dem sie sich allzu häufig leiten lassen und dabei das Gemeinwohl vernachlässigen. Recht häufig kollidieren diese verschiedenen Ansprüche miteinander und müssen daher mühsam vermittelt sowie die dazugehörigen Streitparteien befriedet werden. Aristoteles träumt also keineswegs von einem

122 Shellens 1958, 4 f. Bei der von Shellens angeführten Stelle handelt es sich um die berühmte Passage in EN VIII, 1: 1155a22–28. 123 Vgl. MacIntyre 1988, 219. 124 Vgl. EN VIII, 9: 1159a12. 125 So jedoch Anselm Spindler in seiner Einleitung zu Thomas von Aquins PolitikKommentar (vgl. Thomas von Aquin 2015, 37, Fußnote 62).

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Dialog über das Gerechte, Nützliche und Gleiche, in dem alle von gleichen Voraussetzungen aus starten und nur mit fairen Mitteln operieren. Eine Gemeinschaft ist ein Ringen um eine gemeinsame Sozial- und Rechtsordnung, das aber durchaus in einem starken Gegeneinander von verschiedenen Herrschafts- und Gerechtigkeitsinteressen stehen kann. So entspricht das zugrunde liegende Menschenbild bei Aristoteles wahrlich nicht der von Hobbes gezeichneten Karikatur. Umgekehrt ist Aristoteles beileibe kein Hobbesianer: Damit möchte ich nicht nur die eher oberflächliche Feststellung treffen, dass Aristoteles nicht deutlich den griffigen Slogan vom »Kampf aller gegen alle« benützt. Vor allem jedoch unterscheidet sich ihre Anthropologie immer noch wesentlich darin, dass Aristoteles den Menschen in seinem rationalen Eigeninteresse nicht derart stark vereinzelt und die Konfliktsituation, die im Übrigen bei Aristoteles nicht vorpolitisch ist, auch nicht in einer Vertragskonstruktion allein auf den eigenen Vorteil bedachter Individuen auflöst. Nach wie vor ist der Mensch bei Aristoteles ein wesentlich soziales Tier, auch wenn dies nicht naiv gelesen werden darf: Die Sozialität ist gewissermaßen die Aufgabe und nicht die Lösung. 126 Wir werden im Laufe dieser Arbeit mehrfach sehen, wie brutal und rücksichtslos Konflikte bereits in Poleis ausgefochten werden. Jedoch noch viel schlimmer wäre die Situation ohne die Ordnung der Polis: Von Natur also lebt in allen [Menschen] der Drang zu einer solchen Gemeinschaft; derjenige, der sie als erster aufgebaut hat, ist der Urheber größter Güter. Denn wie der Mensch, wenn er zur Vollkommenheit gelangt, das beste der Lebewesen ist, so ist er abgetrennt von Gesetz und Recht das schlimmste von allen. Am gefährlichsten nämlich ist die Ungerechtigkeit, die über Waffen verfügt; der Mensch aber besitzt von Natur aufgrund seiner Klugheit und Tüchtigkeit Waffen, die man ganz besonders zu einander entgegengesetzten [Zwecken] gebrauchen kann. Daher ist er ohne Tugend das ruchloseste und wildeste [Wesen] und in Liebesgenüssen und Essgier das schlimmste. Die Gerechtigkeit aber ist politisch; denn das Recht ist die

126 Gerade in der Auflösung werden sich Aristoteles und Hobbes weit voneinander entfernen, denn die hobbessche Vertragskonstruktion mit einer unbeschränkten Macht des Souveräns über alle anderen Bürger kann nicht die aristotelische Lösung sein. Dabei verwahrt sich Aristoteles – wie wir sehen werden – sowohl gegen die Konstruktion der politischen Ordnung als Machtordnung als auch gegen die komplette Entrechtung freier Bürger.

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Ordnung der politischen Gemeinschaft; das Recht ist nämlich die Unterscheidung des Gerechten. 127

Wenn ich Aristoteles ein eher düsteres Menschenbild zuschreibe, mag dies vielleicht manche Forscherinnen und Forscher aus anderen Forschungsfeldern erstaunen, jedoch stehe ich innerhalb der Forschung zu Aristoteles’ politischer Philosophie damit keineswegs alleine da. Zwar haben sowohl Eckart Schütrumpf als auch Bernard Yack andere Passagen für ihre eigene Deutung herangezogen, 128 aber wie ich schreiben sie Aristoteles einen durchaus realistischen und kühlen Blick auf die Polis als Ort von Eigennutz und Macht zu. Worin wir uns allerdings wesentlich unterscheiden, ist die Frage nach den normativen Zielen der verschiedenen Gruppierungen und Individuen. Während ich die diesbezügliche Auseinandersetzung mit Schütrumpf auf spätere Kapitel verschiebe, möchte ich die Interpretationsunterschiede zu Yack bereits jetzt aufzeigen. Wenn wir zu den oben aufgeworfenen Interpretationsschwierigkeiten in Bezug auf die Yacksche These von der politischen Freundschaft als Nutzenfreundschaft zurückkehren, teile ich grundsätzlich die Stoßrichtung, dass es sich nicht um eine Tugendfreundschaft handeln kann. Doch scheint mir Yack den Gedanken des Nutzens in politischer Hinsicht zu sehr verengen. Dazu passend bestimmt Yack meines Erachtens die Mehrdimensionalität der politikê philia unter, wenn er sie aufgrund seiner Interpretation der politischen Gerechtigkeit normativ sehr dünn auffasst. 129 Zwar stimme ich mit Yack darin überein, dass die Orientierung der Polis auf das gute Leben nicht zur Konsequenz hat, dass eine Teilhabe an der politischen Gemeinschaft ein Teilen des guten Lebens bedeute und somit automatisch aufgrund des Tugendziels eine Tugendfreundschaft entstehe. 130 Allerdings 127 Pol. I, 2: 1253a29–39. Für den letzten Halbsatz schließe ich mich also der Lesart von Susemihl an, die zusätzlich gestützt werden kann durch den Verweis auf EN V, 10: 1134a31 f. Dort wird nämlich dikê ebenso als krisis tou dikaiou kai tou adikou charakterisiert. In den Zeilen davor (a24–31) knüpft Aristoteles das politisch Gerechte an die Rechtsordnung der Gesetze. 128 Schütrumpf stützt dies namentlich mit Verweis auf die Bücher IV–VI der Politik und Yack – wie wir jetzt gleich sehen werden – u. a. durch einen Verweis auf EE VII, 10. 129 Ähnlich Schütrumpf, der zwar ebenfalls feststellt, dass Aristoteles in der Politik nicht an eine philia unter Tugendhaften denke, aber daraus folgert, dass »ihm [= Aristoteles; B. L.] jetzt φιλία als schieres Beisammensein ohne ethische Dimension erscheint« (Schütrumpf 1980, 149 Anmerkung 240). 130 Vgl. Yack 1993, 114 und öfters.

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zieht Yack aus dieser Beobachtung manche Schlüsse, die sich vor allem aus seiner Opposition gegen die Aristoteles-Interpretation von Alasdair MacIntyre erklären. Dies führt dies Yack manchmal dazu, ins gegenteilige Extrem zu fallen und Fragen nach bestimmten normativen Werten kaum noch eine Rolle zuzugestehen. Worin besteht denn etwa der Nutzen, den Aristoteles an den von Yack angeführten Stellen Pol. 1252b28, EE 1242a6 131 und EN 1160a11 in leicht unterschiedlichen Variationen als Leitmotiv für Gründung und Zwecksetzung einer politischen Gemeinschaft angibt? Yack bestreitet nicht, dass der Zweck der Nutzengemeinschaft Polis das gute Leben ist, interpretiert dies jedoch allzu sehr vor dem Hintergrund der materiellen Voraussetzungen dafür. Jedenfalls fällt auf, wie sehr er in seiner Beschreibung der politischen Gemeinschaft allein auf die Verschiedenheit der Bürger an Gütern und Fähigkeiten abstellt. 132 Tatsächlich ist diese Vielfalt an Gütern und Fähigkeiten im Gegensatz zu manch romantisierender Interpretation wirklich eine der Haupttriebfedern des zôon politikon, überhaupt eine Polis zu begründen. Allerdings erschöpft sich das gemeinsame Bemühen um das gute Leben wohl kaum in einer arbeitsteiligen Gliederung der Gemeinschaft und der daraus folgenden Möglichkeit für einige Bürger, der Muße frönen zu können. Stattdessen hat sich die Polis – wie in Kapitel 1.1.4 gezeigt – als praktische Gemeinschaft in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen herausgestellt. Dagegen scheut Yack davor zurück, all diesen normativen Überlegungen mehr Raum zuzugestehen. Deutlich wird dies an seiner Behandlung mehrerer Textstellen, an denen Aristoteles sehr wohl eine tragende Rolle solcher dickerer normativer Auffassungen der Bürger annimmt. So verdünnt Yack die normative Tragweite der wichtigen Stelle in Pol. I, 2, dass Aristoteles die Polis in geteilten Auffassungen über Gut/Böse, Gerecht/Ungerecht und Nützlich/Schädlich gegründet sieht. 133 Auffälligerweise gibt Yack nämlich nur die Übereinstimmungen im Gerechten wieder und lässt die Übereinstimmungen in Fragen von Gut und Böse weg. Ebenso bringt Yack Stellen, die eigentlich in bestimmter Hinsicht Parallelstellen sind, in einen Gegensatz: So meint er, dass De hist. Anim. I, 1 einen Gegensatz zu Pol. I, 2 bilde, Schütrumpf 1991b, 448 Anm. 59,20 hält 1242a6 übrigens für ein Zitat von Pol. III. Vgl. Yack 1993, 53–56. 133 Vgl. die schon oft zitierte Stelle Pol. I, 2: 1253a15–18 mit Yacks Wiedergabe in Yack 1993, 40 oder 56. 131 132

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da an erstgenannter Stelle politische Lebewesen dadurch definiert wären, dass die Individuen einem gemeinsamen Ziel subordiniert seien. 134 Entsprechend glaubt Yack, dass an dieser Stelle für Aristoteles Bienen oder Ameisen letztlich politischere Lebewesen als der Mensch seien. Jedoch äußert sich Aristoteles an besagter Stelle 488a gar nicht näher über das Verhältnis zwischen den Zielen des Einzelnen und den Zielen der Gemeinschaft. Sichtlich vermeidet Yack ein stärker normatives koinon der koinônia politikê, da er einerseits die aristotelischen Überlegungen von einem platonischen Kollektivsubjekt abgrenzen und andererseits die menschliche Gemeinschaft von biologischen Superorganismen geschieden wissen möchte. Da Yack die genannten Befürchtungen hegt, bestimmt er das Ziel der menschlichen »Kommunikationsgemeinschaft« wesentlich unter: »This capacity for reasoned speech supports a specifically human form of political community, a form that centers, I argue, on a particular way of seeking justice, rather than on a simple devotion to the common good.« 135 Weil er eine normative Überforderung fürchtet, bescheidet sich Yack mit der Diskussion der Bürger über das Gerechte 136. Dies ist jedoch in mehrfacher Hinsicht problematisch: Wie bereits oben dargelegt, konstituiert sich die Polisgemeinschaft über gemeinsame Festlegungen in Fragen des Guten und Bösen, ohne dass dies gleich zu einem Missverständnis der Polis als Gemeinschaft von Tugendfreunden führen muss. Wie wir auch später in Kapitel 2.3 sehen werden, ist Yacks Annahme fehlender absoluter Standards in normativen Fragen problematisch: Bereits Mulgan kritisiert, dass Aristoteles bei Yack zu einem deliberativen Demokraten avanciert, bei dem die widerstreitenden Interessen in einer politischen Debatte aufgehoben werden. 137 Darüber hinaus lassen sich auch gegen die nähere Interpretation des Gerechten bei Yack einige Einwände vorbringen: Insgesamt scheint Yack nämlich das Gerechte normativ unterzubestimmen, denn er verkürzt es – wie viele Interpreten – auf Distributionsfragen 138 und legt selbst noch einen weiteren Schwerpunkt auf Fragen Vgl. Yack 1993, 51 f. Yack 1993, 52. 136 Yack 1993, 65 beschränkt die menschliche Kommunikationsgemeinschaft auf Diskussionen über das Nützliche und Schädliche. 137 Vgl. Mulgan 1999, 28 f. 138 »The central focus of political conflict in Aristotle’s Politics, […] is disagreement about the distribution of goods and power.« (Yack 1993, 13). 134 135

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des Reziproken 139. Bevor ich mich im übernächsten Kapitel zur distributiven Gerechtigkeit äußere, möchte ich bereits jetzt auf Fragen des Reziproken eingehen. Nur auf den ersten Blick mag es vielleicht verwundern, warum Yack gerade die Reziprozität besonders hervorhebt. Allerdings hat ein Ansatz beim Reziproken für Yack entscheidende Vorteile: Einerseits läuft gerade ein Ansatz des reziproken Ausgleichs verschiedener Individuen kaum Gefahr, ein Kollektivsubjekt anzusetzen; andererseits erklärt sich diese These auch aus der Bedeutung, die Yack in seiner Besprechung der politischen Freundschaft den Passagen zur ethischen und zur legalen Nutzenfreundschaft in EE VII, 10 und EN VIII, 15 beimisst. 140 Bekanntlich unterscheiden sich diese beiden Arten der Nutzenfreundschaften darin, dass erstere keine ausdrückliche Vereinbarung über die Bedingungen trifft, die zweite, geschäftsmäßigere jedoch schon. Deutlich lässt Aristoteles Sympathien dafür erkennen, in Nutzenfreundschaften den zweiten Weg einzuschlagen und auch die politische Freundschaft zu einer konventionellen und nicht einer ethischen Nutzenfreundschaft zu erklären. 141 Schließlich komme es so zu wesentlich weniger Streitereien. Sicherlich fügt sich diese Annahme auch gut in die allgemeine Interpretation von Yack, dass Aristoteles die politische Freundschaft nicht auf positiven Affektionen aufbauen wolle. Allerdings spricht meiner Ansicht nach der nähere Kontext der Reziprozitätsüberlegungen gegen eine allgemeine Ausweitung auf die politische Freundschaft insgesamt: Schließlich handelt es sich dabei nur um einen speziellen Anwendungsbereich der Gerechtigkeit (v. a. in Hinsicht auf Güteraustausch und Schulden), der nicht umsonst im entsprechenden Kapitel EN V, 8 in einer Erörterung des Geldes gipfelt. Somit mag dieser Ansatz zwar für einen Güteraustausch eine hinreichende Erklärung bieten, aber die Polis stellt für Aristoteles doch ein weitaus ambitionierteres Unternehmen dar. Man beachte etwa, dass zu Beginn des Kapitels EN IX, 1 die Reziprozität in der politischen Freundschaft wiederum mit Güterbeispielen erläutert wird und in einem Vgl. Yack 1993, 133–140. Vgl. Yack 1993, 114 f. 141 Yack 1993, 115 führt als Beleg dafür EE VII, 10: 1243a42 an. Yack 1993, 121 erläutert, inwiefern eine ethische Auffassung einer Nutzenfreundschaft erst recht zu Streitigkeiten und einer normativen Überforderung aller Beteiligten führen würde. Diese Bevorzugung der rechtlich abgesicherten Variante gegenüber der vertrauensseligeren ethischen Form ist übrigens ein weiteres Argument gegen den hobbesschen Verdacht einer naiven Anthropologie. 139 140

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Hinweis auf das Geld endigt. Damit soll selbstverständlich nicht geleugnet werden, dass dies ein wichtiger Pfeiler der politischen Gemeinschaft und der politischen Freundschaft ist, 142 allerdings eben nur ein Pfeiler. 143 Falls sich die politische Freundschaft darin erschöpfte, wäre sie von der in Pol. III, 9 von Aristoteles heftig getadelten Auffassung der Polis als Abmachung zu militärischem Beistand sowie einander im Warenaustausch nicht zu betrügen nicht wirklich unterscheidbar. 144 Dadurch wäre jedoch das aristotelische Projekt von Grund auf gescheitert, da er so eine vernichtende Selbstkritik geübt hätte. Angesichts des großen argumentativen Aufwands, den Aristoteles für die Abgrenzung der Polis von einem so verstandenen bloßen Nützlichkeitsverband immer wieder betreibt, scheint indes ein solch eklatanter Selbstwiderspruch kaum plausibel. Allerdings befriedigt ein solches vorläufiges und bisher rein negatives Resultat nicht, wenn wir die Nutzengemeinschaft der Polis wirklich verstehen wollen. Daher soll an dieser Stelle die endgültige Bestimmung dessen gegeben werden, worin der Nutzen dieser Nutzensgemeinschaft besteht: Rein systematisch müsste eigentlich das gesuchte Gemeinwohl/der allgemeine Nutzen in der Polis dem guten Leben der Bürgerschaft entsprechen. Schließlich ist die Polis ja eine Gemeinschaft zur Erlangung des guten Lebens und besteht ihr höchstes Gut in der eudaimonia. 145 Tatsächlich fragt ja Pol. I, 1 nach dem Gut der Polis und preist dieses angestrebte politische Gut als das höchste, da sie auch die höchste Gemeinschaft sei. Dabei erweist sich einerseits im Folgekapitel Pol. I, 2 das gute Leben (eu zên) als dieser gesuchte Zweck der Polis; andererseits – und dies ist für unseren Zusammenhang ein besonders wichtiger Nachweis – identifiziert Pol. III, 12: 1282b16–18 ausdrücklich das politikon agathon mit dem koi-

Siehe dafür etwa EN IX, 1: 1163b32–1164a2. Auch Schütrumpf 1991b, 168 Anm. 12,36 scheidet das politisch Gerechte deutlich vom reziprok Gerechten. 144 Yack 1993, 148 beansprucht zwar, dass das reziprok Gerechte über den Güteraustausch hinaus auch in Fragen der politischen Ämter zuständig ist, aber dies wird gerade durch die von ihm zitierte Stelle bestritten. So schließt nämlich EN V, 8: 1132b23–25 ausdrücklich die Zuständigkeit des reziprok Gerechten für Fragen des Gerechten im Austeilen (dazu gehört die Ämtervergabe bekanntlich) aus. 145 Aus der Vielzahl an entsprechenden Stellen seien nur einige herausgegriffen: Ziel der Polis ist das eu zên (Pol. I, 2: 1252b30 und Pol. III, 9: 1280a31–34), und daher sollten wir sie als Gemeinschaft zum Zwecke des guten Lebens charakterisieren (vgl. Pol. III, 9: 1280b29–1281a2). 142 143

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non sympheron: »Es ist aber das politische Gut das Gerechte, dies aber ist das Gemeinwohl/das für die Allgemeinheit Nützliche.« 146 Wenn aber als politikon agathon einmal das eu zên und einmal das koinon sympheron genannt werden, handelt es sich entweder um verschiedene Antworten oder sie sollten miteinander identifiziert werden. Während Aristoteles in anderen Zusammenhängen das sympheron und das agathon natürlich strenger voneinander trennt, verwendet er in der Politik in Passagen wie Pol. III, 6: 1278b30–1279b13 das koinon sympheron und das koinon agathon bedeutungsgleich und wechselt ihren Gebrauch ohne sichtliche Bedenken ab. Ebenso verwendet er in Pol. III, 13: 1284b6 für gerechte Verfassungen das Kriterium koinon agathon, das er normalerweise bekanntlich mit dem koinon sympheron angibt. 147 Bereits dieser Sprachgebrauch legt also nahe, dass das koinon sympheron im eu zên liegt. 148 In der Tat wird in Pol. III, 6: 1278b21–23 das koinon sympheron und der letzte Zweck des zên kalôs miteinander identifiziert: »aber auch der gemeinsame Nutzen führt sie [die Menschen; B. L.] zusammen, soweit jeder einzelne an einem guten Leben Anteil besitzt. Dieses ist in der Tat ja am ehesten das Ziel, gemeinschaftlich für alle wie für den Einzelnen.« 149 Gewissermaßen vom anderen Ende her argumentiert EN V, 3: 1129b12–19: Hier fragt Aristoteles nach der Gerechtigkeit von Gesetzen, erwähnt dabei wiederum das koinon sympheron und kommt zum Schluss, dass gerecht dasjenige sei, was die eudaimonia und ihre Teile für die politikê koinônia hervorbringe. 150 Entsprechend klären sich auch ansonsten vielleicht rätselhafte Stellen wie Pol. III, 7: 1279a31 f., die das Gemeinwohl und den Bürgerstatus untrennbar miteinander verknüpfen: Wer nicht am Nutzen teilhabe, dürfe entweder nicht Bürger genannt werden oder müsse teilhaben dürfen. 151 Dies erklärt sich darüber, dass ja nur zur Polis Pol. III, 12: 1282b16–18. Morrison 2013, 177 hält sie ebenfalls für austauschbar. Schütrumpf 1991b, 445 macht darauf aufmerksam, dass die Erwägungen von Pol. I, 2 hinsichtlich der Zwecke der Polis den Maßstab des Gemeinwohls von Pol. III, 6 vorbereiten. 148 Schütrumpf 1991b, 448 f. Anm. 59,20 beschreibt den Nutzen in Pol. III, 6 zweifach: die staatliche Gemeinschaft trage a. zum vollkommenen Leben (zên kalôs) und b. zum physischen Leben allein bei (ähnlich ebenda, 450: »Gemeinwohl als Zweck, den man bei der Bildung des Staates verfolgte, erschien in zwei Formen, als Beitrag zum schieren physischen oder zum vollkommenen Leben.«). 149 Pol. III, 6: 1278b21–23 (Hervorhebung durch Unterstreichung B. L.). 150 Übrigens stellt dies eine schöne Parallelstelle zu Pol. III, 13: 1283b35–42 dar. 151 Insofern koppelt Aristoteles den Grad des erzielten Gemeinwohls an das indivi146 147

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zählt und somit Bürger genannt werden darf, wer überhaupt zu einem guten Leben imstande ist. 152 Wenn jedoch die politische Gemeinschaft eben ein normatives Projekt zur Erreichung des guten Lebens darstellt und sich nicht auf eine Güter- und Verteidigungsgemeinschaft beschränkt, 153 dann muss auch die entsprechende politische Freundschaft solche Elemente aufweisen. Tendenziell neigt Yack also dazu, die ethische Dimension der politikê philia zu unterschätzen, was wir unter anderem beispielhaft anhand von Pol. I, 2 gesehen haben. Besonders dieses Kapitel mit seiner zentralen These der geteilten Auffassungen von Gut/Böse, Gerecht/Ungerecht und Nützlich/Schädlich als normativen Fundamenten der Polis widerstreitet der Interpretation Yacks, dass die politikê philia auf keinen »shared principles and beliefs« 154 aufbaue und dass Freundschaft nicht bedeute, »[to] share in the pursuit of a particular political goal« 155. Stattdessen sei politische Freundschaft zwischen allen Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft anzusetzen. Auf den ersten Blick kann Yack den zunächst kontraintuitiv wirkenden Gedanken, dass politische Gegner (= Politiker oder Bürger mit entgegengesetzten politischen Zielen) politisch befreundet sein duelle Glück und verbindet so seinen Begriff des Gemeinwohls mit dem normativen Individualismus seiner politischen Philosophie. Gleichzeitig ersehen wir aber aus dieser Stelle auch die dunkle Schattenseite seiner Theorie, denn das Gemeinwohl ist nur in Hinblick auf die Bürger konzipiert (vgl. dazu Morrison 2013, 190). Dies gilt es auch für Stellen wie Pol. VII, 2: 1324a23–25 zu beachten, aus denen etwa Martha Nussbaum universalistische Konsequenzen ziehen zu können glaubt. 152 Vgl. Pol. III, 9: 1280a31–b5 (besonders a31–a34). Dies ist die allgemeine Formulierung: Morrison 2013, 193 wendet dies auf die verschiedenen Verfassungen an und kommt zum Schluss, dass jede Verfassung diejenigen von politischer Partizipation ausschließt, welche nicht dem guten Leben entsprechen wie es die Regierung auffasst. 153 Eine wichtige Pointe von Pol. III, 9. 154 Yack 1993, 125. Dabei scheint mir das Hauptproblem darin zu liegen, dass Yack aus der Furcht vor einem platonischen Kollektivsubjekt nicht zu einem tragfähigen Gemeinschaftsbegriff kommt (vgl. die Diskussion Yack 1993, 29–31). 155 Yack 1993, 123, Fußnote 21 und ebenda, 225. Yack 1993, 124 f. möchte die aristotelische Nutzenslehre insofern von der hobbesschen scheiden, indem er auf die Freundschaftsgefühle hinweist, die laut Aristoteles in allen sozialen Interaktionen, also auch im Güteraustausch, hervorgerufen werden. Abgesehen von der im Folgenden im Haupttext besprochenen Schwierigkeit der Instabilität einer »normalen« Nutzenfreundschaft, ist ausgerechnet das von Yack angeführte Beispiel der Reisegesellschaft kaum ein Beleg für Freundschaften im Nutzensbereich: Entgegen der von Yack behaupteten »Im selben Boot sein«-Stimmung führt Aristoteles Reisegesellschaften gerade dafür an, um zu zeigen, wie schwierig das Zusammenleben sei (vgl. Pol. II, 5: 1263a15–19). Ordnung in der Polis

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sollen, durchaus plausibel machen: Yack erläutert nämlich, dies sei als »sharing in the particular kinds of processes and interactions that particular communities establish as forms of political justice« 156 gemeint. Geteilte Überzeugungen scheiden für ihn angesichts der häufigen Konflikte auf diesem Gebiet aus. Demgegenüber teilen die aristotelischen Bürger nicht allein eine solche relativ dünne Übereinstimmung in Verfahrensfragen, sondern betrachten die bürgerliche Gemeinschaft nicht umsonst als eine Lebensgemeinschaft (eine Gemeinschaft auf der Suche nach dem guten Leben) und die Verfassung als Leben der Bürgerschaft. Natürlich handelt es sich bei einer Bürgerschaft aufgrund dieser ethischen Dimension der politikê philia noch nicht um eine Gemeinschaft von Tugendhaften, aber einen gewissen Grundkonsens in Auffassungen des Guten, Gerechten und Nützlichen wenigstens innerhalb der vorherrschenden Gruppe benötigt eine Polis für ihre normative Einheitlichkeit. Andernfalls handelt es sich nicht mehr um ein gemeinsames Vorhaben der Bürger, das gute Leben zu erreichen. Insofern benötigt die Polis für ihre Einheitlichkeit eine etwas »dickere« normative Übereinstimmung als allein die Einigung auf bestimmte Prozedurregeln. Überdies werden sich die Bürger auf Prozedurregeln auch wieder nur dann einigen können, wenn sie in gewissen normativen Annahmen übereinstimmen: Beispielsweise muss geklärt sein, ob Los- oder Wahlverfahren gerechter sind usw. Allerdings muss sich nicht allein die Interpretation der Tugendfreundschaft gewichtigen Einwänden stellen, 157 auch die These von der politischen Freundschaft als Nutzenfreundschaft sollte einige ausstehende Fragen beantworten können. So scheint auf den ersten Blick die Stabilität einer Polis in einer Nutzenfreundschaft kaum gewährleistet werden zu können, da Aristoteles diesen Freundschaftstyp als leicht auflösbar beschreibt. 158 Schließlich enden Nutzenfreundschaften, sobald der Nutzen wegfällt. Ebenso scheint die Yack 1993, 125. Neben der selbst geleisteten und der bereits erwähnten Kritik von Yack an solchen Positionen siehe auch die explizite Auseinandersetzung von Stern-Gillet mit Price (vgl. Stern-Gillet 1995, 166–168). Für die starke Annäherung der politikê philia an die philia der Tugendhaften etwa durch Price (»Thus the foundation of a flourishing city must be a kind of friendship on account of virtue« (Price 1989, 197) bzw. »[…] civic friendship is indeed an extended variety of the friendship of the good« (Price 1989, 204). 158 Vgl. EN VIII, 3: 1156a10–24. 156 157

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Dauerhaftigkeit einer Polis auch insofern gefährdet zu sein, weil Nutzenfreundschaften recht anfällig für Streitereien sind. 159 Schließlich lieben in einer Nutzenfreundschaft die Freunde einander nicht wirklich, sondern stattdessen das in ihr bewirkte (Nutzens-)Gut. Entsprechend hört mit dem Ende dieses vorteilhaften Nutzens auch die dazugehörige Freundschaft auf. 160 Wenn die Identifikation des koinon sympheron mit dem eu zên berücksichtigt wird, lassen sich diese Fragen jedoch ohne größere Schwierigkeiten beantworten: Solange die Regierenden aus Sicht der Regierten deren gutes Leben befördern oder zumindest nicht behindern, besteht ihre Nutzenfreundschaft und die Bürger sehen keinen Anlass zur stasis. 161 Daher kann eine Polis angesichts der ja lebenslangen 162 Aufgabe eines guten Lebens prinzipiell über mehrere Generationen stabil und die Bürger miteinander befreundet sein, aber leicht ist diese Aufgabe wahrlich nicht: Man beachte nämlich, dass die Bürger auch ungerechtfertigte Urteile in diesen Angelegenheiten fällen können und somit auch gerechte Verfassungstypen nicht vor Umstürzen aufgrund von Unzufriedenheit gefeit sind. 163 Gerade die Frage nach der richtigen Auffassung von eudaimonia ist bekanntlich zwischen den verschiedenen Gruppierungen heiß umstritten. 164 Entsprechend kann Aristoteles also sowohl die Stabilität einer Vgl. EN VIII, 15: 1162b5 f. und b16–21. Vgl. EN VIII, 3: 1156a10–24 und EN VIII, 5: 1157a14–16. Damit ist eine Nutzenfreundschaft jedoch nicht zwangsläufig als moralisch schlecht gekennzeichnet, sondern sie stellt einfach einen anderen Typus von Freundschaft dar. Natürlich ist sie axiologisch der Tugendfreundschaft unterlegen, aber trotzdem nicht an sich schlecht. Dies zeigt sich beispielsweise an der Gegenüberstellung der Freundschaft von Schlechten und derjenigen von Nützlichen in EN VIII, 10: 1159b7–12. Da diese Freundschaft nicht auf gute oder schlechte Menschen beschränkt ist, können schlechte Leute untereinander eine solche Freundschaft schließen, aber auch gute mit schlechten etc. (siehe EN VIII, 5: 1157a16–20und EE VII, 2: 1238b1–14, für die Schlechten speziell EE VII, 2: 1236b10–26 und EE VII, 2: 1238a35–b1). 161 Zu einer präzisen Bestimmung dieses komplexen Begriffs siehe Skultety 2009, 357–361. 162 Bekanntlich ist die eudaimonia eine Frage des ganzen Lebens; die für unsere Problematik einschlägige und auch dankenswerterweise sehr deutliche Stelle EN VIII, 11: 1160a8–23 ist leider gerade dort korrupt, wo es um diesen von der Polis gesuchten Nutzen für das ganze Leben (im Gegensatz zum punktuellen Augenblicksnutzen) geht. 163 Siehe dazu das Kapitel 2.4. 164 Vgl. etwa EN I, 3 und – wie wir später sehen werden – Pol. III, 9 und Pol. III, 12 +13. 159 160

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Polis aufgrund dieser politischen Freundschaft erklären, als auch die politischen Konflikte tiefer deuten, indem er sie als Differenzen über das gute Leben auffasst. 165 Wenn also die Bürgerschaft als Ganze oder wenigstens in Teilen kein Mindestmaß an geteilten Überzeugungen über das Gute/Böse, Gerechte/Ungerechte und Nützliche/Schädliche teilt und somit keine gemeinsamen Grundüberzeugungen über das gute Leben vertritt, wird sie vermutlich instabil und von staseis gebeutelt werden. Nur oberflächlich eine Ausnahme davon stellen komplett skrupellose Machtmenschen wie üble Tyrannen dar, welche die philia der Bürger untereinander zu zerstören und/oder gar nicht aufkommen zu lassen versuchen. 166 Schließlich sind sie an keinen normativen Bindungen der Bürger untereinander interessiert, da dies ihrer ruchlosen Herrschaft gefährlich werden könnte. Stattdessen versuchen sie mit nackter Gewalt an der Macht zu bleiben – wie wir im Tyranniskapitel sehen werden, ist dies jedoch nur äußerst kurzfristig möglich. 1.1.5.3 Zur Abgrenzung von politischer Freundschaft und homonoia Auffällig an den bisherigen Überlegungen zur politischen Freundschaft war sicherlich, dass ein bekannter Abschnitt aus der Nikomachischen Ethik bisher keine Erwähnung gefunden hat. Dort beschreibt Aristoteles die politische Freundschaft eingehend, wobei homonoia der entsprechende Fachterminus ist. Daher scheint es nun eine dringende Aufgabe zu sein, gerade diesen Abschnitt genauer zu untersuchen. Schließlich meint etwa Eckart Schütrumpf in seinem Politik-Kommentar, dass philia im politischen Bereich vor allem die Eintracht (gr. homonoia) meine und er daher auch in der Politik philia mit Eintracht übersetze. 167 Entsprechend stellt sich nun die doppelte Aufgabe, einerseits die homonoia in EN IX, 6 zu analysieren und andererseits ihre Bedeu165 Auch hier gilt allerdings die Einschränkung, dass es neben diesen normativen Gründen durchaus auch andere geben kann. Siehe dazu die Kapitel 2.3 und 2.4. 166 Vgl. Pol. V, 11. Dagegen sieht Yack in gewisser Weise sogar einen Gegensatz zwischen politischer Gerechtigkeit und politischer Freundschaft, da er letztere höher als erstere werten will (Yack 1993, 56). Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass die politische Freundschaft nichts anderes als die erreichte Übereinstimmung im Themenfeld des Guten, Gerechten und Nützlichen ist. 167 Vgl. Schütrumpf 1991b, 185 Anm. 15,36.

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tung für die aristotelische Politik zu klären. Wenn man nun zunächst das einschlägige Kapitel EN IX, 6 genau studiert, ergibt sich als Resultat etwa folgende Paraphrase: Bei diesem Freundschaftstypus handelt es sich um die politische Freundschaft zwischen Bürgern, wobei diese Freundschaft nur wichtige praktische Fragen betrifft. Genauer gesagt sind Bürger dann einträchtig, wenn sie »über das Nützliche einer Meinung sind, sich dasselbe vornehmen und die gemeinsamen Beschlüsse durchführen« 168. Soweit stimmt dies – wie auch die folgende Charakterisierung – mit unseren bisherigen Überlegungen überein: »Sie bezieht sich nämlich auf das Nützliche und auf das, was das Leben betrifft.« 169 Jedoch gibt dieses Kapitel noch weitere Informationen zur homonoia preis, indem es Beispiele dafür anführt und überdies die Möglichkeit einer solchen politischen Freundschaft auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt. So erfahren wir etwa, dass das Volk und die Edlen einträchtig zu nennen sind, wenn beide Gruppierungen dieselben Personen herrschen lassen wollen. 170 Außerdem präzisiert Aristoteles, dass die homonoia eigentlich unter den Guten vorkomme. Schließlich wechselten deren Wünsche nicht stets, sondern sie strebten konstant nach dem Gerechten und Nützlichen. Dagegen könnten Schlechte nur wenig oder gar nicht einträchtig sein, da sie stets versuchten, einander zu übervorteilen und darüber in Streit gerieten. Bevor ich nun die Frage nach der systematischen Bedeutung von homonoia in der Politik erörtere, möchte ich jedoch noch zu einer weiteren wichtigen homonoia-Stelle in der Nikomachischen Ethik Stellung nehmen. Zwar wird EN VIII, 1 immer wieder in anderen Kontexten herangezogen, allerdings nicht im Zusammenhang mit der homonoia-Diskussion: So sieht Schütrumpf hier eine angebliche Verabschiedung der Gerechtigkeit, die er in den mittleren Büchern der Politik wiedererkennt. 171 Dies hätte natürlich eine weitreichende Konsequenz für die politische Philosophie des Aristoteles. EN IX, 6: 1167a26–28 (in der Übersetzung von Wolf). EN IX, 6: 1167b3 f. (in der Übersetzung von Wolf). 170 Winthrop 1978, 1214 meint, dass Aristoteles hier die Guten nicht von einer Wahl durch die Niederen abhängen lassen wolle. 171 Vgl. Schütrumpf 1980, 148 Anmerkung 238. In völlig anderer Art und Weise glaubt Winthrop 1978, dass Aristoteles selbst seine eigene »theory of justice« für ungenügend halte (programmatisch Winthrop 1978, 1201 und 1212) und stattdessen die politischen Probleme durch Freundschaft, Vertrauen und guten Willen gelöst werden sollten (ebenda). Yack 1993, 56 f. dagegen kommt aufgrund seiner realistischen 168 169

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In welchem Sinne werden hier philia und dikaiosynê verwendet, wenn Aristoteles schreibt, dass die Gesetzgeber mehr auf philia als auf dikaiosynê achten würden und Freunde keine Gerechtigkeit benötigen, aber Gerechte wohl Freundschaft?172 Hier gilt es meines Erachtens die verschiedenen Bedeutungen von Gerechtigkeit und Freundschaft auseinanderzuhalten sowie den Unterschied zwischen der Nikomachischen Ethik und der Politik zu beachten. Wie eine genauere Lektüre der betreffenden Zeilen zeigt, kann man aus ihnen EN-intern keine allgemeine Abwertung der Gerechtigkeit herauslesen und daraus folgern, ihr eine wichtige Rolle für die Politik abzusprechen. Tatsächlich präzisiert Aristoteles hier nämlich, dass die Gesetzgeber sich vor allem um die homonoia bemühen. 173 Nun hat die homonoia als politikê philia jedoch einen starken Bezug zu Fragen des Gerechten und ist gerade die umfassende Tugend eine hervorstechende Eigenschaft der Einträchtigen: Schließlich bringt Aristoteles im weiteren Fortgang der Eintrachtsbesprechung in EN IX, 6 immer wieder Beispiele für homonoia, die in das Themenfeld des Gerechten fallen (so ist etwa die homonoia auch eine Übereinstimmung in Fragen der Ämterbesetzungen, 174 was zum Thema des Gerechten in der Verteilung gehört). Ebenso kennzeichnet Aristoteles die wahrhaft Einträchtigen als solche, welche »das Gerechte und Nützliche wollen und auch gemeinsam danach streben« 175 und die nicht einträchtigen phauloi als der pleonexia verfallen und charakterisiert sie entspre-

Kompetitions- und Deliberations-Theorie des Politischen bei Aristoteles zum gegenteiligen Schluss: »Political justice plays an even larger role in Aristotle’s understanding of political community than political friendship does.« 172 Vgl. EN VIII, 1: 1155a22–28. 173 Vgl. EN VIII, 1: 1155a24–26. Gerade dieser Hinweis auf die politische Freundschaft der homonoia macht Schütrumpfs Interpretation sehr unwahrscheinlich, die (politische) Gerechtigkeit werde durch eine privat verstandene Freundschaft ersetzt. So aber Schütrumpf 1991a, 85: »Darum teilt Aristoteles ein Lebensgefühl, das Dirlmeier für Xenophon nachgewiesen hat, nämlich daß private Freundschaftsverhältnisse an die Stelle des politischen Zusammengehörigkeitsgefühls treten und Freundschaft zum Ersatz für die Bindung an den Staat wird«. Ebenso soll auch Erziehung letztlich nur noch im privaten Rahmen erfolgreich möglich sein (vgl. Schütrumpf 1991a, 80–88). 174 Vgl. EN IX, 6: 1167a30 f. oder a34–b2. Wenig verwunderlich beschränken sich Interpretationen, welche die entsprechenden Thesen aus EN IX, 6 ableiten, in ihrer Wiedergabe der normativen Einheitlichkeit auf die Übereinstimmungen in Fragen des Gerechten (z. B. etwa Leontsini 2013, 32). 175 EN IX, 6: 1167b8 f. (leicht vom Verfasser veränderte Wolf-Übersetzung)

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chend als solche, die »selbst nicht das Gerechte tun wollen« 176. Damit verbietet sich also EN-intern eine allzu scharfe Gegenüberstellung von philia und dikaiosynê. 177 Wer nun die Politik auf relevante Passagen zur homonoia hin liest, bemerkt jedoch gleich, dass diese terminologisch kaum mehr eine Rolle spielt. 178 Dies könnte man nun auf zwei verschiedene Arten erklären: Entweder bleibt sachlich alles beim Alten und Aristoteles weicht nur begrifflich vom EN-Modell ab oder es versteckt sich hinter der terminologischen Differenz auch eine sachliche. Offensichtlich plädiert Schütrumpf für erstere Option: So glaubt er, dass Platon und Aristoteles in Pol. II, 4 in ihrer Zielsetzung der Eintracht übereinstimmten und Aristoteles nur die platonischen Mittel der Frauenund Kindergemeinschaft kritisiere. 179 Dagegen möchte ich dafür plädieren, dass die Nikomachische Ethik und die Politik in ihrer Einschätzung der politischen Freundschaft durchaus stärker voneinander abweichen. Dafür ist es unumgänglich, die platonischen Lehren zur Einträchtigkeit der Bürger als Kontrast heranzuziehen. Unbestritten ist dabei als Hintergrundannahme sicherlich, dass Aristoteles in der Nikomachischen Ethik diese politische Freundschaft keineswegs als Tugendfreundschaft konzipiert sowie darüber hinaus in der Politik auch das platonische Ziel einer Freundschaft wie in einer Familie keineswegs teilt. Dennoch scheinen trotz dieser eklatanten Unterschiede auf der anderen Seite einige größere Gemeinsamkeiten zwischen den politischen Dialogen Platons und zumindest der Nikomachischen Ethik vorhanden zu sein. So nennen sowohl Platon (in den Nomoi) als auch Aristoteles (in EN VIII, 1) beide die einträchtige Freundschaft der Bürger miteinander als eines der wichtigsten Ziele der Gesetzgeber, 180 wobei diese Freundschaft natürlich kein Selbstzweck ist, sondern im EN IX, 6: 1167b15 f. (Übersetzung von Wolf). Nicht umsonst verstehen im Übrigen die meisten Interpreten an dieser Stelle dikaiosynê als bloß partikular, so etwa Stern-Gillet 1995, 163 oder Pangle 2003, 7 fasst dies als legale Gerechtigkeit auf und erklärt, dass philia deswegen besser sei, da die legale Gerechtigkeit erzwungen sei. 178 Wenn mir keine Stelle entgangen ist, so finden sich Begriffe der homonoia nur 3 � in der Politik (Pol. II, 3: 1261b32, Pol. V, 6: 1306a9 und Pol. VII, 10: 1330a18). Lediglich die erste Verwendung ist ansatzweise von systematischem Interesse, bestreitet jedoch auch nur, dass die überdies mehrdeutige Verwendung von »alle« in Kallipolis Eintracht erzeuge. 179 Vgl. Schütrumpf 1991b, 185 f. Anm. 16,12. 180 Vgl. Nomoi III. Buch: 701d mit EN VIII, 1: 1155a22–28. 176 177

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Dienste des guten Lebens steht 181. Auch die wichtige Rolle des dikaion bzw. der dikaiosynê für die homonoia sowohl in der Politeia 182 als auch in EN IX, 6 fällt als weitere gemeinsame Lehre auf. Daraus folgt sowohl in der Politeia als auch in EN IX, 6 die These, dass die Gerechten aufgrund ihrer seelischen Geeintheit im Gegensatz zu den Ungerechten nicht in Zwietracht geraten. 183 Last but not least ähneln sich die Erläuterungen, worüber denn diese politischen Freunde überhaupt einträchtiger Gesinnung sind: Auch hier stimmen diese beiden Werke darin überein, dass die Einträchtigen dieselben Personen als Herrscher wünschen. 184 Somit hat sich also herausgestellt, dass das platonische und aristotelische homonoia-Konzept trotz wichtiger Unterschiede (v. a. in der Frage nach der Tugendfreundschaft) in anderen zentralen Aspekten einander sehr ähnlich sind. 185 Aber gilt dieser Befund wirklich auch für die Politik? Oder verbirgt sich hinter der dortigen weitgehenden Vermeidung des Begriffs homonoia auch eine sachliche Differenz? Wer die platonischen Texte und EN IX, 6 einerseits und die aristotelische Politik andererseits miteinander vergleicht, stößt dabei auf einige Ungereimtheiten. Besonders problematisch erscheint aus der Warte der Politik der enge Zusammenhang im Corpus Platonicum und in EN IX, 6 zwischen der persönlichen Gerechtigkeit der politischen Freunde und der Stabilität dieser Beziehung. Dahinter steht natürlich das Problem, ob es eine Eintracht ohne Gerechtigkeit geben kann. Während die normativ starke platonische Position dies strikt verneint, muss man aus der Perspektive der aris181 Für Aristoteles siehe die bisherigen Überlegungen; bei Platon dürfte das malista allêlois philoi in Nomoi V. Buch 743c schwerlich als zweite unabhängige Absicht der Gesetze neben der dort ebenfalls genannten eudaimonia gelten. 182 Bei Platon mag Politeia I. Buch 351d als Kernstelle gelten, für Aristoteles wurden die Belege bereits im Laufe des Kapitels gegeben. 183 Siehe Politeia I. Buch 351e–352a mit EN IX, 6: 1167b4–16. 184 So identifiziert Politeia IV. Buch 432a die homonoia mit der sôphrosynê und charakterisiert dies als Zusammenstimmung des von Natur besseren und des von Natur schlechteren Teils, wer sowohl in der Polis als auch im Einzelnen herrschen soll. Auch Nomoi III. Buch 693c erklärt sôphronein, phronêsis und philia ausdrücklich zum selben Ziel und nicht etwa zu drei verschiedenen Zielen und bleibt also bei der Identifikation der Besonnenheit mit der politischen Freundschaft. In EN IX, 6: 1167a30– 1167b2 findet sich die für die Nikomachische Ethik einschlägige Passage. 185 Immer wieder wird in der Forschung herausgestellt, dass es einen »Platonic flavour« in der aristotelischen Konzeption der Eintracht als Analogon der Freundschaft gebe (vgl. Klonoski 1996, 319).

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totelischen Politik ein großes Fragezeichen dahinter setzen: Wenn ungerechte Poleis wirklich stets zwieträchtig wären, wieso können dann ungerechte Verfassungstypen wie Demokratie oder Oligarchie überhaupt stabil sein? Auch Aristoteles spricht aber noch in der Nikomachischen Ethik davon, dass die homonoia unter den epieikeis bestehe und unter den phauloi so gut wie gar nicht. 186 Wenn die homonoia tendenziell auf die wahrhaft gerechten epieikeis beschränkt ist, scheint sie für gewöhnliche Leute nicht wirklich selbstständig erreichbar. 187 Nachdem jedoch gerade die Demokratie für Aristoteles eine nicht nur häufige, sondern auch grundsätzlich recht stabile Regierungsform ist, 188 ist das eher platonische Modell von EN IX, 6 in höchstem Maße kontrafaktisch und wird daher in der Politik zugunsten einer realistischeren Konzeption aufgegeben. Somit scheint die homonoia als Grundlage einer Polis letztlich ein normativ zu starkes Ziel anzustreben und sollte die neue Theorie der Politik sinnvollerweise eine normativ weniger ehrgeizige These verteidigen. 189 Wenn jedoch bei homonoia letztlich ein normativ zu starker Unterton mitschwingt, erklärt dies, warum Aristoteles in der Politik extrem selten Begriffe aus dem Wortumfeld von homonoia verwendet. 190 Überdies scheint als zweiter wichtiger Einwand der systematiVgl. EN IX, 6: 1167b4–12. Pangle bestreitet dies: »Although concord is possible among ordinary people, then, it will be a fortuitous and shifting thing where virtue is weak […]« (Pangle 2003, 158). 188 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–36 und Pol. V, 1: 1301b39–1302a4 sowie für die Stabilität Pol. VI, 6: 1321a1–3., Pol. IV, 11: 1296a13–16 und Pol. V, 1: 1302a8–15. 189 Rosler will dieser Schwierigkeit begegnen, indem er den Begriff der homonoia stark ausdünnt; dabei erklärt er ihn zur Mehrheitsentscheidung oder legt seine Bedeutung gar wie folgt fest: »most likely, simply ›absence of faction‹«. 190 Und wenn, dann geschieht dies nicht vor dem Hintergrund des starken homonoiaBegriffs von EN IX, 6. Schließlich können die einträchtigen Oligarchen in Pol. V, 6: 1306a9–12 wohl schwerlich als epieikeis gelten. Stattdessen scheint der normativ weniger anspruchsvolle homonoia-Gedanke der Eudemischen Ethik Pate gestanden zu haben. Dort verdeutlicht Aristoteles, dass homonoia nicht bloß schlechthin gebraucht wird, sondern in einem abgeschwächten Sinne auch Schlechte einträchtig sein können: »Davon verschieden ist jene, nach der auch die Schlechten einträchtig sind, wenn ihre Entscheidung und ihre Begierde dasselbe Objekt haben. Ihr Streben nach ›demselben‹ muß aber so beschaffen sein, daß es beiden Teilen möglich ist, das Erstrebte (auch) zu b e s i t z e n .« (EE VII, 7: 1241a25–28 in der Übersetzung von Dirlmeier). Somit können auch nicht unbedingt gerecht zu nennende Personen einträchtig sein, da sie gemeinsame Interessen haben und ist also – allgemeiner formuliert – ihre Freundschaft trotz ihres flottierenden Charakters dennoch möglich. 186 187

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sche Hintergrund der platonischen homonoia wenig verträglich mit der aristotelischen Platonkritik zu sein. Schließlich konzipiert Platon die Polis-Ordnung bekanntlich vor dem Hintergrund der Ordnung einer menschlichen Seele und betrachtet die Polis als Makroanthropos. Entsprechend besteht für Platon – wie wir in Kapitel 1.1.3 gesehen haben – die erhoffte größtmögliche Einheit darin, dass sie der Einheitlichkeit eines Menschen nahekommt. Dagegen opponiert Aristoteles – wie wir ebenfalls in besagtem Kapitel erarbeitet haben – aufs Heftigste. Daher stellt sich nun die Frage, ob angesichts dieser platonischen Analogie zwischen der Einheitlichkeit der menschlichen Einzelseele und der Einheitlichkeit der Polis die homonoia in der Polis bei Platon nach dem Musterbild der innerseelischen homonoia gebildet wird. Tatsächlich ist dies der Fall: Schließlich sprechen wir zunächst von einer homonoetischen Seele, wenn der bessere Seelenteil der Vernunft die Oberhand über die anderen Seelenteile hat. 191 Bekanntlich verwendet Platon dann diese Forderung nach der Herrschaft der Vernunft in der Seele als Legitimationsargument für die Herrschaft der Philosophen in der Polis. Somit sollen also diejenigen zum Herrscher gekürt werden, welche über eine innerseelische homonoia verfügen, und dies soll im Makroanthropos der Polis widerspiegelt werden. Insofern muss Aristoteles in der Politik folgerichtig aufgrund des bekannten systematischen Gegensatzes zu der platonischen Analogie zwischen Einzelmensch und Polis Abstand nehmen von der noch in EN IX, 6 vertretenen Parallelisierung der innerseelischen und der politischen Stabilität. 192 Schließlich widerspricht diese Fundierung der politischen Eintracht in der persönlichen Eintracht und damit die Rückführung der Ordnung der Polis auf die Ordnung des Einzelmenschen der aristotelischen Grundüberzeugung ihrer verschiedenen Einheitlichkeit und Qualitäten. Tatsächlich lässt sich diese reduktionistische homonoia-These von Platon systematisch auch vor dem Hintergrund der ebenfalls sehr verschiedenen GerechtigkeitsLehren beider Denker beleuchten: Bekanntlich charakterisiert Aristoteles die Gerechtigkeit als soziale Tugend, da in ihr der Mensch auf andere Menschen bezogen ist und sich ihnen gegenüber moralisch Vgl. Phaidros 256a–b. Klonoski 1996, 319, Anm. 28 führt zwar die aristotelische Kritik an Platon an, spricht aber dennoch davon, dass beide die Analogie von Stadt und Seele teilten und das Individuum in platonischer Weise als Modell für die Gemeinschaft gelte. 191 192

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verhält und ihnen nützt. Daher ist die Gerechtigkeit als einzige Tugend das Gut eines anderen zu nennen. Insofern preist er sie als Ausübung der vollkommensten Sozialtugend, da sie nicht nur auf den Einzelnen selbst gerichtet ist, sondern auch die Mitmenschen beglücken möchte. 193 Dabei legt Aristoteles einen großen Wert darauf, dass die Gerechtigkeit nur die höchste der Sozialtugenden darstellt und nicht die höchste Tugend überhaupt. Demgegenüber scheint die platonische Gerechtigkeitslehre die intersubjektive Seite der Gerechtigkeit etwas zu vernachlässigen. 194 Schließlich bedeutet bei Platon die eigentliche Gerechtigkeit vorrangig eine Ordnung seiner selbst. 195 Gerade dieser Unterschied zwischen der vorrangig intrasubjektiven platonischen und der betont intersubjektiven aristotelischen Gerechtigkeitsauffassung verdeutlicht noch einmal, wieso Aristoteles beim platonischen Modell von EN IX, 6 nicht stehen bleiben kann: Wenn Gerechtigkeit gemäß Politeia 443d–e vorrangig eine Ordnung seiner selbst bedeutet, dies auf die innere Einheit der Seele abzweckt und dann auch noch analog für die Polis gelten soll, erweist sich dies für die politische Philosophie des Aristoteles als unannehmbare Hypothek. Während Platon gerade dieses Streben nach größtmöglicher Einheit auch für die Polis anstrebt, verwirft dies Aristoteles – wie wir in Kapitel 1.1.3 gesehen haben – vehement: Zwar soll natürlich der Mensch möglichst einheitlich-vernünftig geordnet sein, aber die Polis ist im Gegensatz dazu eine – selbstverständlich zu ordnende – Vielheit und sollte nicht im selben Ausmaß vereinheitlicht werden. Entsprechend verfällt die platonische Konzeption, aus der (inneren) Stabilität der gerechten Menschen auf die (äußere) Stabilität der politischen Freundschaft zu schließen, aus Sicht der aristotelischen Politik wiederum dem bekannten Kategorienfehler. Überdies werden wir im Kapitel 3.2.1.3 sehen, dass die platonische Lösung zu weiteren normativen Problemen führt: Tendenziell neigt sie allzu sehr dazu, bloß die Tugendhaften als positiven politischen Faktor zu betrachten. Dies erklärt sich aus dem OrganismusModell, denn es ist natürlich klar, dass die Vernunft herrschen sollte Vgl. EN V, 3: 1129b25–1130a8. Vgl. Kraut 2002, 100 f., 121–123, 132 f. und 169–172 195 Vgl. Politeia IV. Buch 443b–444a (bes. 443d–e) mit dem Hinweis von Kraut 2002, 118 Anmerkung 29 sowie früher schon Bien 1985, 32 f. Einen Überblick über das Thema der Gerechtigkeit bei Aristoteles bietet Bien 1995 (siehe v. a. auch die nützliche Zusammenfassung 162 f.). 193 194

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und die anderen Teile wie etwa der begehrende Teil ihr nicht im Wege stehen sollen. Daher führt die platonische Forderung nach der Befreundung der Teile untereinander zu einer starken Hierarchisierung in der Polis: Wer nämlich die innerseelische Kontrolle der anderen Seelenteile durch die Vernunft nicht selbstständig herstellen kann, soll sich gemäß Politeia 589a–590d durch die in der Polis regierende Vernunft der Philosophenkönige ordnen lassen und muss aufgrund seines eigenen Mangels an Weisheit eine völlige politische Entrechtung hinnehmen. Bekanntlich kommt die Tugend der Weisheit ja nur einer kleinen Elite zu, 196 und daher sollte auch nur diese regieren. Unabhängig davon, wie Aristoteles die große Menge sittlich genau verortet, 197 lässt sich diese platonische Konzentration auf die wenigen epieikeis auch in EN IX, 6 beobachten: »Die so geartete Eintracht besteht unter Guten« 198. Somit ist also auch die aristotelische homonoia letztlich von diesen Tugendhaften dominiert. Wir werden allerdings sehen, dass Aristoteles in der Politik nicht mehr von einer derart dominanten Rolle dieser Gruppe ausgeht und damit ein solches, auf die epieikeis angewiesenes Modell nicht mehr als Leitbild gelten kann. 199 Somit zeigt sich, dass das stillschweigende Verschwinden des homonoia-Begriffs in der Politik eine implizite Selbstkritik ist. 200 Zwar hat Aristoteles in der Nikomachischen Ethik die politische Freundschaft immerhin nicht mehr als persönliche Tugendfreundschaft gekennzeichnet oder sie gar der familiären Freundschaft angenähert, jedoch werden die folgenden beiden Unterkapitel – abgesehen von den bereits vorgebrachten systematischen Bedenken – weitere Vgl. Politeia IV. Buch 428e–429a. Einerseits spricht Aristoteles gerade in EN IX, 6: 1167a34–1167b2 dem dêmos eine mögliche homonoietische Einigung mit den epieikeis zu. Insofern scheinen sie eine Mittelstellung zwischen den epieikeis und den phauloi einzunehmen. Andererseits bezeichnet er in EN IX, 4: 1166b2 f. die Vielen als phauloi und trifft die in EN IX, 8 heftig getadelte schlechte Selbstliebe (im Sinne des dort beschriebenen »Alles-sichselbst-zuliebe-Tuns«) gemäß EN IX, 8: 1168b15–23 in ihrer häufigsten und schlechten Art auf die Vielen zu. Gerade dieses eigennützige Alles-für-sich-Tun und die Vernachlässigung des kalon von EN IX, 8 stimmt mit der Charakterisierung der phauloi am Ende von EN IX, 6 überein. 198 EN IX, 6: 1167b4 f. (in der Übersetzung von Wolf). 199 Schließlich kann das homonoia-Modell gerade wegen der Einschränkung auf die epieikeis eben nicht eine Eintracht in demokratischen oder oligarchischen Poleis gewährleisten (anders Klonoski 1996, 320, obwohl er die Eintracht selbst auf die Guten einschränkt, vgl. ebenda, 325). 200 Kraut 2002, 467 betrachtet die homonoia nach wie vor als befriedigenderes Modell, beschreibt sie jedoch als selten zu findendes. 196 197

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Defizite der Überlegungen der Nikomachischen Ethik nachweisen. Daher ist ein Neuansatz der politischen Freundschaft in der Politik nötig. Stern-Gillet hingegen schreibt der politischen Freundschaft (politikê philia) in der Politik nicht nur sachlich keine Rolle mehr zu 201, sondern behauptet auch ihr terminologisches Fehlen 202. Wenn wir uns zunächst dem zweiten Punkt zuwenden, ist diese These von einer diesbezüglichen terminologischen Lücke nicht haltbar: Während Pol. I, 2 tatsächlich nicht den Begriff der politischen Freundschaft gebraucht, sondern von einer Gemeinschaft in der Wahrnehmung des Guten und Schlechten, des Gerechten und Ungerechten und des Nützlichen und Schädlichen spricht, schreibt Pol. IV, 11: 1295b23 f. der politischen Gemeinschaft ausdrücklich einen Freundschaftscharakter zu und hält Aristoteles – wie bereits erläutert – in Pol. II, 4 (bes. 1262b7–10) die Freundschaft für das höchste Gut für Poleis und beschreibt er die Einheit als Werk der Freundschaft. Damit ist die politikê philia in der Politik nicht nur noch präsent, sondern es kommt ihr eine entscheidende Schlüsselrolle zu. Tatsächlich finden wir nicht nur einige solcher programmatischen Kernstellen, sondern es fällt auch auf, dass Aristoteles häufig Freundschaftstermini wie freundschaftlich gesinnt sein, 203 der Wunsch nach der Weiterdauer dieser Verfassung, 204 das geschickte Freundmachen einer Gruppierung 205 etc. verwendet, um eines der wichtigsten Kriterien für den Erhalt einer Verfassung zu beschreiben. Umgekehrt können bestimmte problematische Entscheidungen wie normative Entrechtungen oder Antasten materieller Güter zur Feindschaft 206 führen. Wie Mulgan setze ich den systematischen Wert der politischen Freundschaft daher auch in der Politik hoch an, wenngleich wir uns auch in der näheren Ausführung unterscheiden: These references to the concept of friendship at key points show that the ideas implicit in the concept remain of central importance in Aristotle’s political philosophy, even though the burden of explicit argument may be

201 202 203 204

Vgl. Stern-Gillet 1995, 153 und 167. Vgl. Stern-Gillet 1995, 149 Vgl. Pol. II, 8: 1268a24 Vgl. als Beispiele Pol. II, 9: 1270b21 f., Pol. IV, 12: 1296b15 f., Pol. V, 9: 1309b14–

18. 205 206

So etwa beispielsweise in Pol. VI, 5: 1320b4–9 oder Pol. V, 8: 1308a3–11. Vgl. Pol. III, 11: 1281b28–30

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largely carried by other concepts with which friendship is logically connected. 207

Worin liegt denn nämlich der gemeinsame normative Kern all der genannten Freundschaftspassagen? Offensichtlich benötigen stabile Verfassungen eine gemeinsame normative Basis, nämlich eine »Liebe zur Verfassung« 208, die wir etwas moderner mit Verfassungspatriotismus umschreiben können. Selbstverständlich werden geschickte Hüter einer Verfassung diese Verfassungsliebe nicht nur indirekt mit vertrauensbildenden Maßnahmen gegenüber den Nicht-Regierenden steigern, 209 sondern auch aktiv durch eine entsprechende Erziehung befördern. Jedenfalls erklärt Aristoteles diese Erziehung gemäß der Verfassung zur Hauptsache: »Am wichtigsten von allem bisher Gesagten für den Fortbestand der Poleis, und was jetzt aber alle vernachlässigen, ist die Erziehung zur Verfassung.« 210 Mulgan 1999, 16 (vgl. auch ebenda, 25). Nicht umsonst erscheint diese in Pol. V, 9: 1309a34 unter den drei wichtigsten Anforderungen an zukünftige Beamte. 209 Wie wir später in den Kapiteln zu den despotischen Verfassungstypen sehen werden, ist die Mahnung von Aristoteles in Pol. V, 9: 1310a19–22 nur zu berechtigt, dass keineswegs eine vollständige Durchsetzung der eigenen reinen Lehre in radikalen Verfassungssubtypen angestrebt werden soll (vgl. dazu auch Pol. V, 9: 1309b18– 1310a2 und Pol. VI, 5: 1320a2–4). 210 Pol. V, 9: 1310a12–14. Diese soll auch wirklich umfassend durchgeführt werden, also z. B. auch die Kinder und Frauen einbeziehen (vgl. Pol. I, 13: 1260b15–20). Gerade eine solche notwendige Breite soll Platon in der Meinung seines Schülers verabsäumt haben, zwar nicht in Hinsicht auf Frauen und Kinder, aber dafür in Bezug auf die niederen Stände. Tadelnd stellt er fest, dass Platon angeblich die Polis durch Erziehung tüchtig machen wollte (vgl. Pol. II, 5: 1263b37–40), aber trotzdem auf andere Mittel wie Frauen-, Kinder- und Gütergemeinschaft gesetzt habe. Vollkommen unklar sei auch, ob es überhaupt eine Erziehung für die Bauern gebe bzw. tadelt er ihr Fehlen – so jedenfalls Aristoteles in Pol. II, 5: 1264a32 und 1264a37 f. Nicht ganz so präzise äußert sich Pol. II, 5: 1263b36 f.: »Man muß vielmehr durch Erziehung die zahlenmäßige Vielheit, die eine Polis ja ist, wie vorher erklärt wurde, zu einer Gemeinschaft und Einheit zusammenschließen« (in der geringfügig überarbeiteten Übersetzung von Schütrumpf). Dennoch schweigt sich Aristoteles hier nicht völlig über die Art der Erziehung aus oder verweist gar auf die Bücher VII/VIII (so Kraut 2002, 307), die noch relativ platonisch Musik u. ä. zu Haupterziehungsfragen erklären. Einerseits ist diese Problematik durch den Verweis am Ende von Pol. I, 13 ohnehin geklärt, andererseits erfahren wir in der Phaleas-Kritik von Pol. II, 7, dass die Begierden der Bürger ausgeglichen werden sollten und daher die Bürger durch die Gesetze erzogen werden sollten. Durch weitere Erörterungen schon in den ersten Büchern wird dieser letzte Hinweis hinreichend klar. Dagegen ist die platonisierende Erziehungskonzeption in VII/VIII allein schon aufgrund des Vokabulars deutlich von derjenigen in I–VI getrennt. 207 208

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In der Folge stellt sich natürlich die entscheidende Frage: Frei nach dem platonischen Symposion, wen oder was liebt man eigentlich in dieser Verfassungsliebe? Anders formuliert: Worin besteht denn der normative Kitt der politischen Freundschaft? Mulgan äußert sich wie folgt dazu: »Public agreement or consensus on constitutional fundamentals and on the legitimacy of legal and political institutions is indeed the essential basis for political stability. In this respect, political friendship, though unnamed as such, is a central topic of the Politics.« 211 Genauer begründet er dies folgendermaßen: The avoidance of faction and revolution (stasis), that is the achievement of unanimity, is the most important political objective for everyday politics and provides the main theme of Books IV–VI. As the main source of stasis is disagreement about which concept of justice should determine the constitution of the polis (Pol 1301a 35–8), it follows that agreement on such matters is a prerequisite of political stability. 212

Wer allerdings diese angegebene Stelle nachschlägt, bemerkt rasch, dass das hier angesprochene dikaion ein Gerechtes im Verteilen meint. Damit folgt Mulgan einer weit verbreiteten Schwerpunktsetzung auf das Gerechte im Verteilen und verweist nicht auf die Übereinstimmungen in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen, welche normativ doch viel mehr zur Einheitlichkeit und zu einem Commitment in Bezug auf die Institutionen taugen. 213 Obwohl dies tatsächlich ein wichtiges Thema in der aristotelischen Politik bildet,

Mulgan 1999, 25 Mulgan 1999, 25. Hierzu auch eine philologische Bemerkung: Mulgan verweist auf derselben Seite auf Miller und dessen »maxim of unanimity«, was bereits meine erste Kritik auslöst. Miller unterscheidet nämlich nicht zwischen der homonoia in EN IX, 6 und den Übereinstimmungen im Gerechten und Nützlichen in der Politik, sondern beansprucht die aus EN IX, 6 abgeleitete homonoia ausdrücklich ebenso für die Politik (Miller 1997, 269 Anmerkung 31 führt zu seiner maxim of unanimity aus: »The maxim formalizes the ideal of unanimity (homonoia) or political friendship as described at EN IX 6 1167a26–b4 (cf. Sect. 4.7 above)«). Ebenso hat auch Mulgan selbst in diesem Aufsatz mehrfach die politische Freundschaft mit der homonoia von EN IX, 6 identifiziert. Wie wir jedoch gerade gesehen haben, hat Aristoteles nicht ohne Bedacht diesen Ausdruck in der Politik nicht mehr verwendet. Überdies gerät die freiwillige Zustimmung der Tugendhaften im Rahmen der homonoia von EN IX, 6 in einen bedenklichen Gegensatz zur Behauptung von Mulgan »Ultimately, agreement rests on enforced beliefs, not rational acquiescence.« (Mulgan 1999, 31). 213 Deslauriers 2013, 127 hingegen liest die Übereinstimmungen von Pol. I, 2 als homonoetisch im Sinne von EN IX, 6. 211 212

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möchte ich die derzeit dominierende Konzentration allein auf diese Spielart des Gerechten im nächsten Kapitel problematisieren. 214 1.1.5.4 Kritik einer einseitigen Interpretation des Gerechten als Distributionsfrage Dazu ist es natürlich zuerst erforderlich, die wichtigen Unterscheidungen der besonderen Arten des Gerechten kurz 215 rekapitulieren. Worin unterscheiden sich zunächst einmal das allgemeine und das besondere Gerechte grundsätzlich? Das allgemeine Gerechte umfasst all das, womit es der Tugendhafte zu tun hat. Demgegenüber kümmert sich das besondere Gerechte nur um Handlungen, die aus Gewinnlust getan werden. 216 Laut Aristoteles sollen wir zwei Arten des besonderen Gerechten unterscheiden und daher auch ein Gerechtes im Austeilen und ein Gerechtes im Ausgleichen. 217 Während es im Themenfeld des Gerechten im Austeilen um die Zuteilung von Ämtern, Geldern oder Ehren geht, 218 werden im ausgleichenden Gerechten vor allem zivil- und strafrechtliche Vertragsprobleme gelöst. Entsprechend ändert sich die ganze systematische Ausrichtung der aristotelischen Politik, je nachdem welche Art des Gerechten denn Aristoteles für besonders wichtig gehalten haben soll. So wird eine Konzentration auf Fragen des Gerechten im Austeilen zwangsläufig die Polis vor allem als Ort von Machtfragen beschreiben müssen, denn schließlich geht es beim Gerechten im Austeilen hauptsächlich um Ämter und Ehren. Dagegen betont eine Interpretation mit einem 214 Andeutungsweise äußert Kraut 2002, 435 eine leise Kritik an der herrschenden distributiven Lesart: Eine Verfassung sei nicht nur zur Ämterverteilung da, sondern stelle den »way of life« einer Stadt dar. Allerdings verfolgt Kraut diesen Ansatz nicht ausführlicher weiter. 215 Da sie in der Literatur in der Regel ausführlich behandelt wird, brauche ich nur an einige wenige Eckpunkte erinnern. 216 Vgl. EN V, 4: 1130a32–b5. Wobei diese Gewinnlust nicht unbedingt absolut zu verurteilen ist; nur dann, wenn sie ungerechtfertigt ist. 217 Vgl. EN V, 5: 1130b30–EN V, 7: 1132b20. Diese Einteilung hat bekanntlich nicht Aristoteles erfunden, da sie etwa Isokrates in Areopagitikos, 21 als allgemeine Einteilung voraussetzt. Vgl. Isokrates 1993, 138. Ebenfalls zwei Arten der Gleichheit referiert Platon: Geometrische Gleichheit in Gorgias 508a, arithmetische Gleichheit der Demokraten in Politeia VIII. Buch 558c. Das Gerechte nach Verdienst erklärt auch Platon zum eigentlichen Gerechten. Allerdings setzt er hier ein Gerechtes nach dem Zufall des Loses entgegen: Nomoi VI. Buch 757b–758a. 218 Gemeingüter werden übrigens immer nach den Grundsätzen des Gerechten im Austeilen verteilt: vgl. EN V, 7: 1131b27–32.

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Schwerpunkt auf das allgemeine Gerechte stärker die normativen Aspekte. Auf den ersten Blick scheint die Standardinterpretation mit ihrer Lesart des Gerechten als distributiv Gerechtem textlich stark im Vorteil zu sein: Schließlich beschäftigen sich weite Teile des dritten Buches der Politik mit der Frage, wer denn herrschen soll. Auch die Bücher IV–VI scheinen eine damalige Grundhaltung wiederzugeben, in der vor allem erbittert um die Macht gekämpft wird. Damit scheinen trotz des wesentlichen Unterschieds bezüglich der homonoia die Politik und EN IX, 6 wenigstens darin übereinzustimmen, dass die Übereinstimmung in Fragen des Gerechten wohl vor allem einen Konsens in Herrschaftsfragen meint. Ebenso stünde Aristoteles für einmal seinem Lehrer Platon wieder näher, da die platonische sôphrosynê in ihrer politischen Auslegung von Politeia 432a–b als ebensolche homonoia in Bezug auf die Herrscherfrage gekennzeichnet wird. Jedoch tauchen auf mehreren Ebenen einige Fragen auf, welche diese Interpretation nicht zufriedenstellend beantworten kann. Dabei möchte ich vor allem folgende drei stark miteinander verknüpfte Aspekte hervorheben: 1) das Thema des Nutzens, 2) die Aufgabenstellung der Einheit, 3) die Problematik des platonischen Personalismus. Bereits mehrfach haben wir erarbeitet, dass für Aristoteles Sinn und Zweck der Polis im guten Leben besteht. Gerade diese Einsicht in den gemeinsamen Nutzen des guten Lebens für alle Bürger stellt jedoch mehrere gewichtige Einwände gegen die distributive Lesart bereit. So legt etwa folgende Stelle nahe, dass gerade der Fokus auf das gute Leben weniger für die distributive Lesart spricht: »So nennen wir denn in einem Sinne gerecht, was in der politischen Gemeinschaft die Glückseligkeit und deren Teile hervorbringt und bewahrt.« 219 Inwiefern soll ausgerechnet das Gerechte im Verteilen das gute Leben ausmachen? Sicherlich ist die politische Partizipation ein Aspekt, der zu einem gelingenden Leben beitragen kann, aber wahrlich nicht der wichtigste. Schließlich besteht das gute Leben in mehr als dem Erreichen von Ämtern und Ehren. Wenn wir diese und ähnliche Stellen betrachten, überrascht wenig, dass Aristoteles in der Nikomachischen Ethik ausdrücklich feststellt, dass der größte Teil der gesetzlichen Regelungen in den Bereich des allgemein Gerechten falle. 220 Tatsächlich dürfte eine Lesart des Gerechten mit Schwerpunkt auf dem allgemein 219 220

EN V, 3: 1129b17–19. Vgl. EN V, 5: 1130b22 f.

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Gerechten deutlich attraktiver sein, wie im Folgenden nach weiteren Kritikpunkten an der distributiven Lesart dargelegt werden wird. Entsprechend soll nun der angebliche Vorrang des Gerechten im Austeilen weiter problematisiert und vor einer gängigen, allerdings interpretatorisch nicht unproblematischen Verengung gewarnt werden: Programmatisch steht etwa in der Einführung zum berühmten Sammelband, den Keyt zusammen mit Miller herausgegeben hat: »Aristotle’s political philosophy is essentially a theory about the just distribution of political authority«. 221 Leicht anders variiert er diese Formulierung in seinem dazugehörigen Aufsatz: »a constitution is primarily a kind of distributive justice« 222. Damit weiß sich Keyt in Übereinstimmung mit Newman, der schon früher bemerkt hatte: »It is thus in justice, and particulary in distributive justice, that Aristotle finds the true basis of the State.« 223 An einer späteren Stelle steigert Newman diesen Anspruch sogar und meint: »Justice was to him [= Aristotle; B. L.] the key to all constitutional problems.« 224 Ebenso Seel: »Die Einheit der Polis wird also nicht durch die Gleichheit ihrer Elemente, sondern durch ein ganz anderes Prinzip garantiert. Dieses Prinzip ist das der gerechten Verteilung der Lasten und Entlohnungen.« 225 So vertritt auf unterschiedliche Art und Weise jede dieser Aussagen eine relativ weitgehende Behauptung: Offensichtlich dürfen wir Thesen 1 und 2 von Keyt aufeinander beziehen und daraus die Folgerungen ziehen, dass erstens die politische Philosophie des Aristoteles weitgehend eine Verfassungstheorie sei und zweitens diese wiederum hauptsächlich in der Frage nach der gerechten Verteilung der Herrschaftsgewalt bestehe. Während ich angesichts meines Ansatzes der ersten allgemeineren These natürlich zustimme, kann Verfassungstheorie nicht hauptsächlich auf das distributiv Gerechte zurückgeführt werden. Dies zeigt zunächst einmal eine Analyse der verschiedenen Definitionen der Verfassung. Zwar spricht Aristoteles in Pol. IV, 3: 1290a7 f. davon, dass eine politeia als Ordnung der Ämter aufzufasKeyt/Miller 1991, 11. Keyt 1991a, 238. 223 Vgl. Newman 2010a, 95. 224 Vgl. Newman 2010a, 266. 225 Seel 1990, 39. Zur Problematik des Nachsatzes, den ich hier noch nicht zitiert habe, da er auf den Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Stabilität einer Polis abzielt, siehe das entsprechende Kapitel 2.4. 221 222

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sen sei; überdies beschäftigt er sich in wichtigen Teilen seines Werkes Politik tatsächlich mit der Frage, wer denn den größten Anspruch auf Herrschaft habe. Nun gibt es allerdings in Pol. IV, 1 eine weitergehende Charakterisierung der politeia, die ich daher im vollen Wortlaut zitiere: »die Verfassung ist nämlich eine Ordnung für die Poleis, [die bestimmt,] auf welche Weise die Ämter verteilt werden, wer der Herr über die Verfassung ist und was das Ziel jeder Gemeinschaft ist.« 226 Natürlich stellt sich die Frage, warum wir zwei verschiedene Erläuterungen zur politeia besitzen – und dies sogar noch in demselben Buch (nämlich Buch IV). Sicherlich auszuschließen ist die Variante, dass die Erklärung der Verfassung vorrangig als Ämterordnung die umfassendere Definition ersetzen soll. Hier träfe wieder der Einwand zu, dass damit die Ausrichtung auf das gute Leben gar keine Rolle mehr spielt. Ebenso bleibt auf diese Weise unverständlich, wie die Verfassung den Rahmen für die Gesetze abgeben kann – bekanntlich müssen sich die Gesetze nach der Verfassung richten 227: Nun ist bereits auf den ersten Blick einleuchtend, dass Gesetze sich nicht auf die Regelung des Ämterzugangs und auf eine Verteilung von Ehren etc. beschränken können und die Verfassung bekanntlich auf das größere Ziel des glückseligen Lebens abstellt. Somit wäre also das Konzept Verfassung mehr oder weniger unbrauchbar gemacht. 228 Überdies lässt sich auch eine Erklärung dafür finden, warum Aristoteles an manchen Stellen die Ämterordnung stärker in den Vordergrund schiebt: Wenn wir an das hohe Maß der Partizipationsmöglichkeit eines Bürgers an der Politik im Alten Griechenland denken, ist natürlich die Frage nach dem Zugang zur Bürgerschaft, der bekanntlich an Ämter gekoppelt ist, 229 besonders umstritten. Entsprechend wesentlich ist die Frage, wer – eben durch seine Eigenschaft als Vollbürger – Pol. IV, 1: 1289a15–18 (vgl. Fußnote 115). Vgl. Pol. IV, 1: 1289a13–15. 228 Ebenso können wir mit einem Schwerpunkt auf dem distributiv Gerechten nicht erklären, worin denn dann genau eine Erziehung gemäß der Verfassung bestehen sollte. Letztlich bliebe dann ja nur die Möglichkeit, dass sie in der Indoktrinierung bestünde, dass gerade diese Machtordnung die richtige sei. Natürlich kann man eine solche Position vertreten, aber bescheidet sich Aristoteles wirklich damit? Hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die meisten Regelungen in den Bereich des allgemein Gerechten fallen (vgl. EN V, 5: 1130b22 f.) und das Ziel der Politik darin besteht, die eudaimonia zu erreichen. 229 Vgl. Pol. III, 1: 1275b17–20 und Pol. III, 5: 1278a35 f. Man beachte, dass es hier bei der Definition der Vollbürgerschaft um die Möglichkeit des Ämterzugangs geht und nicht um die tatsächliche Teilnahme; daher ist der Bürgerbegriff – entgegen der These 226 227

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berechtigt ist, die Verfassung als das »Leben der Bürgerschaft« 230 mitzugestalten. Hier lässt sich jedoch zeigen, dass die Ämterordnungserläuterung die umfassendere Definition voraussetzt. Gleichzeitig stellt dies den zweiten besonders wichtigen Einwand gegen die distributive Lesart dar: Wie wir später ausführlicher etwa in den einschlägigen Unterkapiteln von 2.2.2 sehen werden, wird die Auswahl der Vollbürger mit ihrer Leistung für die Polis begründet. Damit steht das umfassendere Verfassungskonzept letztlich hinter der engeren Konzeption, denn die Frage nach der gerechten Verteilung der Ämter wird durch die jeweils verschiedenen Antworten auf die Frage »Worin besteht das gute Leben?« entschieden. Somit bildet dies also den eigentlichen Entscheidungshintergrund, wer den berechtigtsten Anspruch auf politische Ämter hat. Schließlich sollte der Zugang zur Macht durch das Recht geregelt werden und nicht durch nackte Gewalt. Somit kann eine Übereinstimmung der Bürger in distributiven Fragen wohl kaum letzt- und endgültig die Einheit der Polis herstellen und erhalten, womit die entsprechende These von Seel fraglich wird. Ebenso verkürzt die erste These von Keyt (»that Aristotle’s political philosophy is essentially a theory about the just distribution of political authority«) ironischerweise die politische Philosophie um wesentliche normative Fragen. Letztlich mag dies in einer Verengung der Verfassungsfrage auf Organisationsfragen (Wie wird Macht verteilt?) begründet liegen, die sich in der zweiten Aussage wiederfinden lässt: »[…] a constitution is primarily a kind of distributive justice«. Wenn die Verfassungsproblematik auf gerechte Ämterverteilung reduziert wird, wird damit ihr normatives Fundament ungenügend ausgedrückt. Schließlich denkt Aristoteles – wie die Definition von Pol. IV, 1 zeigt – umfassender und sieht sie auch wesentlich als Ordnung der Bürger auf ein gemeinsames normatives Ziel hin. Zusammenfassend müssen wir also feststellen, dass die spezielle Art des Gerechten in der Verteilung selbst fundierungsbedürftig ist und die politische Philosophie sich nicht in ihr erschöpfen kann. Wiederum hat sich ein deutliches Defizit von EN IX, 6 offenbart, das Aristoteles also in der Politik mit einem neuen Entwurf korrigieren muss. Worin besteht aber nun der neue Gegenentwurf? Bereits oben von Mulgan 1977, 60 f. – auch nicht inkonsistent, insofern die Bürgerschaft stets mit dem »supreme body« zusammenfallen müsste. Überdies gibt es auch niedere Ämter. 230 Vgl. Pol. IV, 11: 1295a40–b1.

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habe ich angedeutet, dass die distributive Lesart letztendlich nur die Organisations- und Machtfrage der Herrscher und Ämter behandelt und so die normative Basis der Polis unterbestimmt. Entsprechend müsste die Alternative normativ gehaltvoller ausfallen. Hier bietet sich die bereits mehrfach erwähnte Schlüsselstelle Pol. I, 2 an, die tatsächlich auch die systematische Kernstelle abgeben wird. Interessanterweise hat John Rawls die Bedeutung der Passage rund um Pol. I, 2: 1253a15 erkannt und gewürdigt. Dabei sieht er selbst Gemeinsamkeiten und lässt unsere konstitutionelle Demokratie analog aus einer gemeinsamen Auffassung der »Gerechtigkeit als Fairness« hervorgehen: Aristoteles bemerkt, es sei eine Eigenart der Menschen, daß sie einen Sinn für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit hätten und daß bei ihnen eine gemeinsame Gerechtigkeitsauffassung eine polis bilde. Ähnlich könnte man angesichts unserer Erörterungen sagen, eine gemeinsame Auffassung der Gerechtigkeit als Fairneß bilde eine konstitutionelle Demokratie. 231

Abseits der berechtigten Frage von Yack, ob sich Aristoteles und Rawls in den Lehren zur Gerechtigkeit nicht wesentlich unterscheiden, da Rawls eine distributive justice in den Vordergrund stelle, Aristoteles hingegen das dikaion im allgemeinen Sinne stärker thematisiere, 232 zeigt ein genauerer Blick auf Pol. I, 2 einen entscheidenden Unterschied in der normativen Ausgestaltung: Rawls hat hier nur einen Teil der von Aristoteles selbst geforderten Gemeinsamkeiten der Bürger wiedergegeben. Es geht Aristoteles dort nämlich nicht nur um die Gemeinsamkeiten in Bezug auf Gerecht und Ungerecht, sondern auch um diejenigen in Bezug auf Nützlich und Schädlich sowie Gut und Böse. 233 Wenn Rawls aber gerade Gut und Böse weglässt, wird damit ein wichtiger Unterschied zum normativ wesentlich anspruchsvolleren Gemeinschaftsgedanken bei Aristoteles verdeckt. 234 Rawls hat sicherlich bewusst die bei Aristoteles zusätzlich angeführRawls 1979, 274 f. Vgl. Yack 1993, 159. Erstaunlicherweise hören wir dennoch von Yack die Gesamteinschätzung »The central focus of political conflict in Aristotle’s Politics, […] is disagreement about the distribution of goods and power« (Yack 1993, 13). 233 Aristoteles spricht hier nämlich nicht nur von einer aisthêsis dikaiou kai adikou (Pol. I, 2: 1253a17), sondern spricht dem Menschen ebenso eine aisthêsis in Bezug auf agathou kai kakou […] kai tôn allôn (Pol. I, 2: 1253a16 f.) zu. Das kai tôn allôn ist klar vor allem auf das einige Zeilen davor genannte to sympheron kai to blaberon (Pol. I, 2: 1253a14 f.) zu beziehen. 234 Selbstverständlich gibt es weitere, die beiden Denker stark trennende Elemente, 231 232

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ten Übereinstimmungen in Fragen des Guten und Bösen nicht angeführt, da er seinen eigenen Argumentationsgang nicht mit Erörterungen über die wesentlich dickere Theorie des Guten bei Aristoteles belasten wollte. Wie müssen wir uns nun diese Gemeinschaft in Fragen des Guten/Bösen, Gerechten/Ungerechten und Nützlichen/Schädlichen bei Aristoteles vorstellen? Und warum spricht er eigentlich davon, dass sie sowohl Haus als auch Polis hervorbringe? 235 Gerade letztere Aussage mag auf den ersten Blick erstaunen, denn wieso nennt er Polis und Haus im selben Atemzug? Zieht Aristoteles gegen Ende von Pol. I, 2 etwa die bereits in Pol. I, 1 236 programmatisch angestrebte und in Pol. I, 2 tatsächlich erarbeitete Differenz zwischen Haus und Polis ein? Jedoch zeigt eine genauere Analyse weitere systematisch entscheidende Unterschiede, die über die bereits erarbeiteten Aspekte von Einheit und Autarkie hinausgehen. Wenn Aristoteles von der haushaltskonstitutiven Rolle der Auffassungen von Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht sowie Nützlich und Schädlich spricht, dann hat dies durchaus einen guten Sinn. Schließlich besitzen nicht nur die erwachsenen Männer Tugenden, sondern laut Pol. I, 13 muss man sich auch um die Tugenden der Frauen, Kinder und Knechte eines Haushaltes kümmern. Ebenso gibt in einem allerdings letztlich nur analogen Sinne sogar auch Gerechtes gegenüber Knechten; erst recht natürlich gegenüber den Frauen. Zwar kann jeder Familienvater im Haushalt auch für die Tugend seiner Kinder und Freunde sorgen, 237 jedoch hat diese Lösung mehrere schwere Mängel. Hauptsächlich ist diese private Erziehung 238 deswegen zu tadeln, da in diesem Bereich dann jeder Familienvater als uneingeschränkter Monarch des Haushaltes nach Belieben schalten und walten kann: Sowohl in der Nikomachischen Ethik als auch in der Politik zitiert Aristoteles allerdings beschränkte ich mich auf diesen einen, da nur er für mein Argumentationsziel relevant ist. 235 Auch Schütrumpf 1991a, 213 Anm. 13,30 lässt die angesprochenen Gemeinschaften in einer Übereinstimmung allein in Fragen des Nutzens und Schadens sowie Recht und Unrechts bestehen (womit das Gute und Böse auch bei ihm weggelassen werden). 236 Vgl. Pol. I, 1: 1252a7–18. 237 Vgl. EN X, 10: 1180a30–32. 238 Mit seiner Befürwortung einer öffentlichen Erziehung setzt sich Aristoteles für umgreifende Veränderungen seiner Lebenswelt ein, denn Finley bemerkt, dass in der Antike »der Staat kaum eine Rolle in der Sozialisation und gar keine bei der Schulausbildung gespielt [hat] […]« (Finley 1986, 42).

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aus dem neunten Gesang der homerischen Odyssee: »und ein jeder gebietet unumschränkt über Kinder und Frauen« bzw. dieselbe Stelle in einer anderen Übersetzung »Jeder gibt das Gesetz für Kinder und Gattinnen«. 239 Nun scheint dies auf den ersten Blick eine relativ wertneutrale Aussage zu sein und in der aristotelischen Sichtweise doch vielleicht sogar erwünscht: Man denke dabei etwa nur daran, dass für ihn der Familienvater aufgrund seiner angeblich natürlichen Überlegenheit den Haushalt wie ein Monarch beherrscht. 240 Allein, wenn Aristoteles diese Zeilen zitiert, kennt natürlich jeder damalige gebildete Zuhörer und Leser auch die Fortsetzung und weiß natürlich auch, von wem hier die Rede ist. Da ein gebildeter Grieche sogleich weiß, dass hier von den Zyklopen die Rede ist und die Bemerkung folgt, dass sie sich um einander nicht kümmern, ist für ihn die implizite normative Abwertung an dieser Stelle auch sofort klar. Wesentlich deutlicher ist eine Passage in EN X, 10, die sich ebenfalls auf dieselbe Stelle der Odyssee bezieht: »In den meisten Poleis hingegen fehlt die Fürsorge dafür [die Erziehung; B. L.] völlig, und jeder lebt, wie er will, setzt nach Art der Zyklopen ›die Satzungen fest für seine Kinder und seine Weiber‹.« 241 Nicht nur wird hier der Bezug zu den – bekanntlich nicht gerade als Vorbild gelten könnenden Zyklopen – explizit gemacht, sondern auch die Arbitrarität der privaten Erziehung hervorgehoben. 242 Mulgan hebt hervor, dass so soziale Uneinheitlichkeit und Konflikte vorprogrammiert wären und damit das gute Leben für die Polis unerreichbar würde. 243 Somit ist auch klar, dass Aristoteles trotz der oberflächlich gemeinsamen Wurzel gemeinsamer Auffassungen des Guten und Bösen etc. nicht wirklich eine echte Analogie zwischen den Auswirkungen im Haus und in der Polis zieht. Später werden wir sehen, dass dies auch in der personalistischen Verfasstheit des Hauses begründet liegt und wiederum einen tiefen Unterschied zwischen der politischen Philosophie des Platon und des Aristoteles ausmacht. Ebenfalls gegen die platonische weitgehende Gleichsetzung von Haus und Polis spricht die wesentlich ausgeprägtere Akzentuierung der Gleichheit der Polisbürger durch Aristoteles. Während der FamiDie erste Übersetzung von Pol. I, 2: 1252b22 f. stammt von Schütrumpf, die zweite von Gigon. 240 Vgl. Pol. I, 7: 1255b19. 241 EN X, 10: 1180a26–29 (in der ganz leicht überarbeiteten Übersetzung von Wolf). 242 Zu einer anderen Lesart dieser Stelle siehe Smith 1999, 631, Fußnote 14. 243 Vgl. Mulgan 1977, 79. 239

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lienvater eine quasi-monarchische Stellung im Haushalt genießt, verletzt eine solche absolute Machtstellung 244 in einer politischen Gemeinschaft – bis auf die noch später im Abschnitt 3.1.1 zu besprechende Ausnahme der pambasileia – die Freiheit der Bürger. Hier irrt Platon in der Sicht des Aristoteles deutlich, wenn jener die Despotie (d1) und die politische Regierung (p1) für wesensgleich und nur zahlenmäßig verschieden hält: Schließlich handelt es sich beim monarchischen Hausherrn um den – so jedenfalls Aristoteles – den restlichen Haushaltsmitgliedern (Frauen, Kindern, Knechten) wesentlich überlegenen Mann, während der regierende Politiker über von Natur Freie und Gleiche regiert. 245 Was ist jedoch damit gemeint, wenn Aristoteles die Gleichheit in der Polis betont? Bekanntlich ist er leider weit weg von der modernen Auffassung der Gleichheit aller Menschen an Würde, daher scheidet dieses Modell aus. Zwar spricht Aristoteles dem Knecht das Menschsein nicht ab,246 aber dieser ist aufgrund seiner mangelnden Fähigkeit, ein gutes Leben zu führen und über prohairesis zu verfügen, kein Mitglied der Polis (im Sinne der politischen Gemeinschaft der Bürgerschaft). 247 Gerade dieser Gegensatz zu den Knechten ist der

Nicht umsonst stellt Aristoteles die (in Pol. III, 6: 1278b37 f. als Herrschaft über die Kinder, die Ehefrau und das ganze Haus bezeichnete) ökonomische Herrschaft in Pol. III, 14: 1285b29–33 als das treffende Analogon zur überragenden Machtfülle des pambasileus heraus. 245 Vgl. Pol. I, 7: 1255b16–20. Allein dieses Faktum der extremen Ungleichheit der Strukturen spricht bereits gegen die harmonisierende Übertragung familiärer Verbundenheit vom Haus auf die Polis (via oikoi verbindende soziale Feste etc.) durch Kronman 1979, 127. Schließlich kann die besondere personale Beziehung im Haus (mitsamt ihrem eigenen Machtgefälle und -gefüge) nicht ohne weiteres 1 : 1 auf die Polis übertragen werden, nur indem sich die verschiedenen Haushaltsvorstände immer wieder bei sozialen Aktivitäten treffen. Daher teile ich nicht die Ausgestaltung dieser These durch Kronman, dass diese Art von Veranstaltungen als Hybride zwischen Haushalt und bürgerlichem Leben zu gelten haben und somit in unkomplizierter Weise die (positiv zu wertende) familiäre Freundschaft auf die Polis übertragen. Man beachte auch, dass Pol. III, 9 solchen Veranstaltungen nur eine Rolle für das syzên, nicht aber für das für die Polis konstitutive eu zên zuweist. 246 Vgl. EN VIII, 13: 1161b5 f. Daher ist auch eine Freundschaft zum Knecht möglich. 247 Vgl. Pol. III, 9: 1280a31–34. Everson 1988, 97 verweist auf ein bestimmtes Minimum an Rationalität, das auch moderne liberale Gesellschaften verlangen, damit man politisch partizipieren darf. Jedoch bestreitet auch eine Sachwalterschaft keineswegs die Gleichheit an Würde, wie sie bei Aristoteles eben nicht vorzufinden ist: Everson 1988, 98 geht selbst etwas in diese Richtung, wenn er meint, wir hätten auf jeden Fall etwas gegen die Instrumentalisierung der Knechte und Kinder. 244

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Schlüssel, um die Gleichheit der Bürger korrekt aufzufassen: 248 Die Formel der eleutherôn kai isôn archê in Pol. I, 7: 1255b20 ist tatsächlich epexegetisch aufzufassen, wie etwa Pol. III, 6: 1279a21 mit seiner Formulierung der Polis als koinônia tôn eleutherôn nahelegt. Wenn Aristoteles die Hierarchie in der Polis im Vergleich zum Haus wesentlich flacher gestaltet, dann spricht er sich damit keineswegs für einen Egalitarismus aus und vertritt etwa einen demokratischen Gleichheitsgedanken der Gleichheit aller Bürger. Da ich die Kritik von Aristoteles daran in Kapitel 3.3.1.4 ausführlich bespreche, stelle ich hier nur einige Grundzüge dar. Besonders die demokratische Fassung des Gleichheits- sowie des Freiheits-Gedankens stößt auf seine vehemente Kritik: Zwar behält die Demokratie gegenüber Oligarchie und Tyrannis recht, dass alle freien Bürger einer Polis eben in ihrer Freiheit als gleich zu betrachten sind und daraus auch eine bestimmte politische Mitsprache 249 zu folgern ist. Freilich irren die Demokraten für Aristoteles darin, dass sie aus der Gleichheit an Freiheit eine völlige Gleichheit folgern. 250 Problematisch ist für Aristoteles daran einerseits, dass die Demokratie angeblich von der Berücksichtigung der unterschiedlichen Würdigkeit absieht und allein auf den Status als Freien abstellt. 251 Andererseits missversteht die Demokratie laut Aristoteles den Freiheitsbegriff entscheidend: Da die Demokraten die krasse Unfreiheit der Knechte vor Augen haben, die eben nicht tun können, was sie wollen, wollen sie am besten von gar nie248 Für Interpretationen, die diesen Gegensatz zum Hauptschlüssel für die Erklärung der Politik erheben, siehe die Arbeit von Simon Weber (Weber 2015). 249 Zum korrekten Umfang der Mitbestimmung des dêmos siehe Kapitel 3.2.1.3. Wir werden später überdies sehen, dass die fehlende oder vorhandene Übereinstimmung von juristischen Bürgern und politischen Vollbürgern ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen politischen (p2) und despotischen (d2) Verfassungstypen sein wird. 250 Vgl. Pol. III, 9: 1280a7–25 sowie Pol. V, 1: 1301a25–36. 251 Vgl. vor allem die einschlägigen Demokratiekapitel von Pol. IV, 4, Pol. VI, 2 und Pol. VI, 4. Insofern irrt die Demokratie also, wenn sie die Freiheit zum alleinigen Maßstab für Ämterbesetzungen erhebt (vgl. für eine wertneutrale Beschreibung dieses Faktums Pol. IV, 8: 1294a11, aber auch bereits EN VI, 6: 1131a25–28). Schließlich sollten die Tugendhaften durch ihren größeren Beitrag zur eudaimonia der Polis einen größeren Anteil an ihr haben als solche, die ihnen an Freiheit oder Abkunft überlegen sind: vgl. Pol. III, 9: 1280b39–1281a8. Etwas rätselhaft scheint, was es mit der größeren Freiheit auf sich haben soll, denn entweder ist man ja ein freier Bürger der Polis oder eben nicht. Vermutlich ist damit schlicht die Frage gemeint, ob beide Eltern bereits freie Bürger waren (vgl. zu dieser Problematik Pol. III, 5: 1278a26–34 und Pol. IV, 4: 1291b26 f.).

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mandem beherrscht werden. 252 Somit führt für Aristoteles die Furcht vor Knechtschaft in ihrer extremdemokratischen Ausprägung zwar trotz einer entsprechenden Schlagseite zwar nicht direkt zur Anarchie, aber immerhin zu einer Willkürherrschaft des Pöbels über die Gesetze sowie einer Unterdrückung der Reichen und verunmöglicht damit eine friedliche politische Gemeinschaft. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums unterdrücken extreme Oligarchien das eigentlich freie Volk und wollen sich ebenso weder von anderen Gruppierungen noch von lästigen Gesetzen bremsen lassen, womit der Freundschaftscharakter der Polis ebenfalls verloren geht. 253 Stattdessen schwingt sich in beiden Fällen eine Seite zum alleinigen »despotischen« Herren auf und missachtet die gerechtfertigten Ansprüche der anderen Gruppierungen, die diesen aufgrund bestimmter Gleichheiten und Ungleichheiten zukommen. Entsprechend schonungslos schildert Aristoteles den düsteren Zustand der damaligen Poliswelt: […] jetzt ist es bei den [Bürgern] in den Poleis Sitte geworden, das Gleiche nicht einmal zu wollen, sondern entweder das Herrschen zu erstreben oder das Beherrschtwerden zu ertragen.« 254 Nüchtern muss Aristoteles also feststellen, dass ein hehrer moralischer Appell selten gehört wird und die Mächtigen sich kaum für das an sich Gute, Gerechte und Nützliche kümmern, sondern das für sie Gute, Gerechte und Nützliche suchen: Aber mag es wohl ganz schwierig sein, die Wahrheit in Bezug auf die Gleichheit und das Gerechte zu finden, ist es gleichwohl einfacher zu erreichen, als jene zu überreden, die in der Lage sind, die Oberhand zu haben. Denn es suchen immer die Unterlegenen die Gleichheit und das Gerechte, die Mächtigen aber scheren sich nicht darum. 255

Häufig finden wir also eine ungesunde Gier nach Macht, die von den Stärkeren hemmungslos ausgelebt wird. 256 Vergeblich ist auch die Hoffnung, dass vielleicht Tugendhafte freundschaftlich die Mächtigen beraten und so mäßigen können – denn eine solche Freundschaft zwischen Tugendhaften und den Mächtigen kommt kaum vor. 257 Sowohl die Politik als auch die Nikomachische Ethik zeichnen in ihrer 252 253 254 255 256 257

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Vgl. Pol. VI, 2: 1317b11–17. Vgl. Pol. IV, 11: 1295b5–25. Pol. IV, 11: 1296a40–b2. Pol. VI, 3: 1318b1–5. Vgl. Pol. III, 6: 1279a13–16. Vgl. EN VIII, 6: 1158a27–36.

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politischen Anthropologie beide ein recht düsteres Bild der natura humana und widersprechen damit vehement lange verbreiteten Klischees, dass erst Macchiavelli und Hobbes mit der aristotelischen Sozialromantik aufgeräumt hätten. Dabei gelangen die Schlusspassagen der Nikomachischen Ethik und die Bücher I–VI der Politik zum selben Schluss. Da diese Stellen in ihrer systematischen Tragweite nicht überschätzt werden können und damit die Argumentationsstrategie von Aristoteles sichtbar wird, zitiere ich nun im Folgenden einige längere Abschnitte daraus: Die Leute aus der Menge jedoch vermögen Worte nicht zum Guten und Werthaften zu motivieren. Denn diese sind ihrer Natur nach so beschaffen, dass sie nicht der Scham, sondern der Furcht gehorchen und dass sie sich schlechter Handlungen nicht deshalb enthalten, weil diese niedrig sind, sondern weil sie Strafe nach sich ziehen. Denn indem sie nach ihren Affekten leben, […] haben aber vom Werthaften und wahrhaft Lustvollen nicht einmal eine Vorstellung, da sie nie davon gekostet haben. Welche Reden könnten daher Menschen von solcher Beschaffenheit umgestalten? 258

Somit ist also klar, dass auch bei der Menge durch reine Überzeugungsarbeit nicht viel erreicht wird: Die Rede und die Belehrung aber haben kaum bei allen Menschen Wirkung; vielmehr muss die Seele des Hörers zuvor durch Gewöhnung bearbeitet worden sein, dass sie sich auf richtige Weise freut und abgeneigt ist […] Denn ein Mensch, der nach dem Affekt lebt, wird auf eine Rede, die ihn davon abbringen will, nicht hören; er wird sie nicht einmal verstehen. Wie aber soll es möglich sein, einen Menschen, der so verfasst ist, umzustimmen? Ganz allgemein nimmt man an, dass ein Affekt nicht der Rede weicht, sondern dem Zwang. Es muss also schon zuvor in gewisser Weise ein der Tugend verwandter Charakter vorhanden sein, der das Werthafte liebt und Widerwillen gegen das Niedrige empfindet. 259

Wie bereits der erste Abschnitt drückt auch diese Passage aus, dass die Menge der Vernunft kaum zugänglich ist und daher korrigierender Zwang auf sie ausgeübt werden sollte. Zusätzlich zeigt dieser zweite Abschnitt jedoch auch, dass am besten die richtigen Sitten durch eine entsprechende Gewöhnung von Kindesbeinen an hervorgebracht werden. Nun stellt sich natürlich das Problem, wie diese beiden Seiten

258 259

EN X, 10: 1179b10–16 (in der Übersetzung von Wolf). EN X, 10: 1179b23–31 (in der Übersetzung von Wolf).

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zusammengebracht werden können und worin denn überhaupt der Zusammenhang mit unseren bisherigen Überlegungen zur politischen Freundschaft besteht. Hier gibt das Ende der Nikomachischen Ethik im Gegensatz zum ersten Buch der Politik nur auf das erste Teilproblem eine Antwort und beantwortet in diesem Abschnitt nicht die zweite Teilfrage nach der politischen Freundschaft: Doch ist es schwer, von Kind an eine richtige Anleitung zur Tugend zu bekommen, wenn man nicht unter entsprechenden Gesetzen aufwächst. Denn mäßig und beherrscht zu leben ist für die meisten Menschen nicht angenehm, insbesondere dann nicht, wenn sie jung sind. Daher muss das Aufziehen und die Beschäftigungen durch Gesetze geordnet werden; denn was zur Gewohnheit geworden ist, wird nicht mehr als unangenehm empfunden. Doch reicht es vermutlich nicht aus, dass Menschen in jungen Jahren die richtige Erziehung und Fürsorge erhalten; da sie auch noch als Erwachsene diese Beschäftigungen betreiben und an sie gewöhnt sein sollen, brauchen wir auch dazu Gesetze, und folglich überhaupt für das ganze Leben. Denn die meisten Menschen gehorchen eher dem Zwang als Worten und eher Strafen als dem Werthaften. 260

Entsprechend lassen sich bereits in der Nikomachischen Ethik hauptsächlich zwei Strategien finden, um das gute Leben in der Polis zu gewährleisten und für die wichtige Rolle der Bürgerschaft für die Tugend des Einzelnen argumentieren zu können: Erstens sind bestimmte Zwangsregeln notwendig, um die Menschen von schändlichen Taten abzuhalten; zweitens behauptet Aristoteles, dass die Regeln, welche die Polisregierung durch ihre Gesetze erlässt, einen positiven Einfluss auf die Tugendhaftigkeit der Bürger ausüben. Zunächst zur ersten These: Grundsätzlich darf man die problematische Seite der Sonderstellung des Tieres genannt Mensch nicht unterschätzen – daher fällt Aristoteles nicht einem möglichen hobbesianischen Vorwurf zum Opfer, dass er allzu naiv sei und den Menschen einseitig sozialromantisch sehe. 261 So findet sich auch schon in der Nikomachischen Ethik – und erst recht in der Politik wie wir bald sehen werden – die These von der Ruchlosigkeit des Tieres namens Mensch: Doch ist die tierische Rohheit ein geringeres Übel als die Schlechtigkeit, aber furchterregender. Denn der bessere Teil ist hier nicht – wie beim MenEN X, 10: 1179b31–1180a5 (in der Übersetzung von Wolf). Auch Höffe hat dies in Abwehr solcher Angriffe herausgestellt: vgl. Höffe 2011b, 20 f. 260 261

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schen – verdorben, sondern nicht vorhanden. […] Denn die Schlechtigkeit desjenigen, das keinen Ursprung der Bewegung hat, ist immer unschädlicher, und die Vernunft ist ein solcher Ursprung […] Denn ein schlechter Mensch wird tausendmal mehr Übel tun als ein wildes Tier. 262

Somit deckt diese Stelle in EN VII, 7 das systematische Hintergrundproblem der Passage von EN X, 10 auf: Wenn er nicht durch seine Vernunft sittlich gut geleitet wird, wird der Mensch nicht gut handeln und weitaus schlimmer und böser sein als die wildesten Tiere. 263 Da wir aber in EN X, 10 schon gesehen haben, dass die meisten Menschen für die Vernunft wenig zugänglich sind, benötigen sie für eine sittliche Lebensführung eine ordnende Kraft, die einerseits negativ mit Zwang operiert und andererseits positiv auf die Tugend hin gewöhnt: Wenn nun, wie gesagt, jemand, der gut werden soll, im Sinn des Werthaften aufgezogen und gewöhnt werden muss, danach in anständigen Beschäftigungen leben muss und weder gegen sein Wollen noch wollend Schlechtes tun darf, dann wird dies der Fall sein, wenn man nach einer gewissen Vernunft und richtigen Ordnung lebt, die wirksame Kraft besitzt. 264

Bereits die Stelle EN X, 10: 1179b31–1180a5 hat uns aber verraten, was sowohl das negative Abschreckungs- als auch das positive Anleitungsmoment in sich vereint, nämlich die Gesetze. 265 In der folgenEN VII, 7: 1150a1–8 (in der Übersetzung von Wolf). Allerdings sollte dies nicht falsch aufgefasst werden: Aristoteles hält den Menschen nicht von Natur aus für böse. Ebenso wie die Tugenden nicht von Natur entstehen oder gegen die Natur, sondern wir von Natur aus fähig zu ihnen sind, ebenso ist der Mensch nicht von Natur aus gut oder böse, sondern offen für beide Entwicklungen. Allerdings steht der aristotelische Mensch vor dem Problem, dass er zu »moral weakness« neigt (vgl. Horn 2013, 235) und sollte insofern – wie EN X, 10 und Pol. I, 2 in diesem Teilaspekt übereinstimmend betonen – am besten von Gesetzen eingebremst werden. 264 EN X, 10: 1180a14–18 (in der Übersetzung von Wolf). 265 Wie sich bereits jetzt herausgestellt hat und wie sich im Verlaufe der entsprechenden Überlegungen im Gesetzeskapitel bestätigen wird, gehört zu den positiven Gesetzen stets ein Zwangsmoment, weswegen man nicht den ermahnend-ermutigenden Aspekt der Gesetze überbetonen und die Rolle der Gesetze zu weich lesen sollte (vgl. jedoch Swanson 1997, 153–182). Jedoch sollte man auch nicht in das andere Extrem fallen, indem man die wichtige negative Zwangsseite der Gesetze (modern formuliert: ihre repressive Rolle) verabsolutiert, denn es gibt für Aristoteles auch eine positive Anleitfunktion der Gesetze, die charakterbildend und nicht bloß charakterkorrigierend wirken soll (vgl. EN V, 5: 1130b23 f.): Gesetze wirken laut Aristoteles nicht nur dadurch auf die Tugend der Poliseinwohner ein, dass sie verbotene Handlungen untersagen, sondern auch durch das Gebieten mancher Handlungen. Dabei müssen die 262 263

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den Passage weist er den Gesetzen ausdrücklich den Status der gesuchten, sowohl zwingenden als auch vernünftigen Ordnung zu: Die väterliche Anordnung besitzt keine solche Kraft und keinen solchen Zwang, und das gilt ja ganz allgemein für die Anordnung eines Einzelnen, es sei denn, er ist König oder Ähnliches. Das Gesetz hingegen besitzt zwingende Kraft, wobei es zugleich eine Rede ist, die aus einer bestimmten Klugheit und Vernunft hervorgeht. Außerdem hasst man zwar Menschen, die unseren Antrieben entgegentreten, selbst wenn diese damit richtig handeln, man hasst aber nicht das Gesetz, wenn es das Gute anordnet. 266

Damit spricht die Nikomachische Ethik bereits wichtige Themen der politischen Philosophie des Aristoteles an, wobei ein Vergleich mit der Politik eine wichtige gedankliche Weiterentwicklung aufzeigen wird. 267 Wenn die politische Gemeinschaft ihr angestrebtes Ziel des guten Lebens erreichen will, dann müssen folgende Leitbedingungen erfüllt sein: Erstens soll die politische Freundschaft für eine gewisse Einheitlichkeit der Bürgerschaft sorgen, also dass der Eigennutzen der Menschen in bestimmten Hinsichten zugunsten des gemein-

Gesetzgeber nicht nur auf die Einsicht der Bürger hoffen, sondern dürfen auch mit Belohnungen in Form von Ehren operieren (vgl. EN III, 7: 1113b21–26). Dass Erziehung durch ihre Gewöhnungsfunktion ein Herzstück jeder geglückten Polisordnung ausmacht, haben wir ja bereits vorher erarbeitet. Besonderes Augenmerk legt Aristoteles auf die wichtige Rolle der Gewöhnung, denn sie ist ein Faktor, der bekanntlich von Kindesbeinen an relevant ist und sich zur zweiten Natur verfestigen kann. Insofern ist es für eine Polis geradezu überlebenswichtig, dass die allgemeinen Sitten eine positive Rolle für die Tugendhaftigkeit des Einzelnen und die Stabilität der Polis spielen. Indem die Polis durch die Erziehung versucht, allgemeine Sitten zu verankern, möchte sie so einen gewichtigen Einfluss auf die Tugendvorstellungen ihrer Bürger gewinnen. An einer Stelle in der Nikomachischen Ethik (vgl. EN II, 1: 1103b3–5) spricht Aristoteles sogar davon, dass die Gesetzgeber die Bürger durch die Gewöhnung tugendhaft machen. Dementsprechend betont er immer wieder, dass die Erziehung gemäß den Verfassungsgrundsätzen zum Wichtigsten überhaupt gehört. Dies betrifft auch und gerade Frauen und Kinder (vgl. für die Nikomachische Ethik EN X, 10: 1179b31–1180a5). Somit kann Aristoteles resümieren: »Was aber die ganze Tugend hervorbringt, sind diejenigen Gesetze, die im Hinblick auf die Erziehung für die Gemeinschaft erlassen sind.« (EN V, 5: 1130b25 f.; Übersetzung des Verfassers, basierend auf Wolf). 266 EN X, 10: 1180a18–24 (in der Übersetzung von Wolf). 267 Simpson 1990, 156 f. plädiert für eine weitergehendere Annäherung: Allerdings dürfen wir die Politik nicht darauf beschränken, ein Anleitungsbuch für gute Gesetzgeber zu sein, wie man andere und sich selbst tugendhaft machen kann. Zur Frage, ob die eigentliche Tugend ein Resultat der Gesetze genannt werden kann, siehe Kapitel 2.1.3.

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samen Nutzens zurückgestellt wird. Da dieser gemeinsame Nutzen letztlich im Erreichen des gemeinsamen Ziels, des guten Lebens, besteht, ist die politische Freundschaft das normative Fundament jeder Polis. Zweitens muss diese politische Freundschaft aber scharf von der persönlichen Tugendfreundschaft unterschieden sowie die strenge Trennung von polis und oikos beachtet werden. Allerdings befindet sich die Nikomachische Ethik in vielen Punkten erst noch auf dem Weg zur endgültigen Position des Aristoteles, die wir daher in der Politik finden. So unterliegt die homonoia als Vertreterin der politischen Freundschaft der Nikomachischen Ethik den bereits erarbeiteten Problemen, dass sie die innerseelische und die politische Stabilität parallelisiert: Einerseits kann so die Stabilität von ungerechten Verfassungen nicht erklärt werden und andererseits ergibt sich eine – wie sich herausstellen wird – ungerechte absolute Dominanz der Tugendhaften. Interessant zu beobachten ist freilich, dass sich EN X, 10 in einigen Hinsichten bereits von der Position von EN IX, 6 entfernt: Während EN IX, 6 die politische Freundschaft zu sehr auf Fragen des distributiv Gerechten abstellt und damit die normative Einheit als Einigkeit in Machtfragen unterbestimmt, bemerkt EN X, 10 bereits immerhin, dass sich die Fürsorge für das öffentliche Wohl wesentlich in den Gesetzen niederschlägt 268 und verrät schon ganz andeutungsweise eine Präferenz einer Herrschaft der Gesetze (in Absetzung von der persönlichen Herrschaft des Hausherrn im Haushalt). Damit bereitet EN X, 10 die entscheidende Wende der Politik weg von dem noch in EN IX, 6 dominanten platonischen Personalismus vor. Gesamthaft gesehen bleibt jedoch auch EN X, 10 gewissermaßen auf halbem Weg stehen, denn mehrere wichtige weiterführende Aspekte sind in der Nikomachischen Ethik relativ unverbunden und erst in der Politik zusammengedacht. 269

1.1.6 Die Einheit der Polis als Rechtsordnung Abgesehen von den weiterführenden Überlegungen korrigiert die Politik nämlich einen entscheidenden Mangel der Nikomachischen 268 Vgl. EN X, 10: 1180a34 f. Rhet. I, 4: 1360a19 f. formuliert noch deutlicher und drastischer, dass Wohl und Wehe einer Stadt in den Gesetzen lägen. 269 Frede 2013, 16 f. sieht als systematischen Gipfelpunkt von EN X, 10 die Frage, wie der Gesetzgeber erzogen werden solle.

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Ethik, indem sie – wie wir sehen werden – die in der EN noch unverbunden nebeneinanderstehenden Themen der politischen Freundschaft und der Rechtsordnung miteinander verknüpft. Bisher haben wir bereits herausgearbeitet, dass die politische Freundschaft – wie in Pol. II, 4: 1262b9 f. programmatisch beansprucht – die Einheit der Polis gewährleistet. Allerdings wissen wir noch nicht wirklich, wie sie dies schafft. In EN IX, 6 wird – wie wir bereits gesehen haben – die platonische Lösung der Herrscherauswahl stark in den Vordergrund gestellt: Bis auf die Ausnahme der »außenpolitischen« Frage nach einem Bündnis mit Sparta drehen sich hier alle Beispiele von homonoia um die Ämterfrage. Wenn jedoch Herrschaftsfragen und Probleme der Ämterbesetzung den Mittelpunkt der Überlegungen einer politischen Philosophie bilden, mündet dies zwangsläufig in einen Personalismus. Schließlich konzentriert man sich dabei vor allem auf die Auswahl der richtigen Personen für die führenden Ämter und hält dies für die entscheidende Frage der Politik. Letztlich steht auch hinter EN IX, 6 ein platonischer Personalismus, zu dessen Grundzügen ich mich noch ausführlicher in Kapitel 1.3.2 äußern werde. 270 Bereits EN X, 10 hat dazu angemerkt, dass die Anordnungen, die dem eigenen Bestreben entgegenstehen, bereitwilliger akzeptiert werden, wenn sie von Gesetzen ausgehen, wohingegen wir Menschen dafür hassen. 271 Bereits diese Passage legt erste Zweifel daran nahe, ob die Lehre von EN IX, 6 auch in dieser Hinsicht die endgültige Lösung bleiben kann. Meilenweit entfernt von Hobbes’ Deutung des anthrôpos physei politikon zôon als gewissermaßen biologisch prästabilierter Harmonie zeichnet Aristoteles auch in Pol. I, 2 den Menschen – wie bereits dargelegt – als höchst problematisches Lebewesen: Denn wie der Mensch, wenn er zur Vollkommenheit gelangt, das beste der Lebewesen ist, so ist er abgetrennt von Gesetz und Recht das schlimmste von allen. Am gefährlichsten nämlich ist die Ungerechtigkeit, die über Waffen verfügt; der Mensch aber besitzt von Natur aufgrund seiner Klugheit und Tüchtigkeit Waffen, die man ganz besonders zu einander entgegengesetzten [Zwecken] gebrauchen kann. Daher ist er ohne Tugend das ruchloseste und wildeste [Wesen] und in Liebesgenüssen und Essgier das schlimmste. 272 270 Dies sollte allerdings nicht falsch aufgefasst werden, es geht Platon selbstverständlich immer noch um die Glückseligkeit der Polis und nicht um eine Machtfrage als Selbstzweck. 271 Vgl. EN X, 10: 1180a22–24. 272 Pol. I, 2: 1253a31–37.

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So wie auch in EN VII, 7: 1150a1–8 stellt Aristoteles hier heraus, dass der Mensch ohne Tugend wesentlich schlimmer als die wildesten Bestien ist. Überhaupt nicht in Frage kommt hier also ein optimistisches Menschenbild, das die Devise Homo homini deus durchweg vertritt und dementsprechend eine Gemeinschaftsbildung für die einfachste Sache der Welt hält. Genau genommen ist getreu dem Buchstaben unserer Passage aber nicht einmal Homo homini lupus zutreffend, da der Mensch ohne Tugend eben als das ruchloseste und wildeste Wesen dargestellt wird und dann auch als das schlechteste gelten muss. Wie hofft nun Aristoteles diesen Ausbund an Ruchlosigkeit und Wildheit zähmen zu können? Letztlich nimmt Aristoteles – wenn wir uns für den Moment allein auf die zitierte Passage beschränken – den Faden von EN X, 10 wieder auf und betont, dass der Mensch in der vernünftigen Zwangsordnung von Recht und Gesetz stehen sollte. 273 Andernfalls versteigt er sich zur bewaffneten Ungerechtigkeit, womit das Projekt der gemeinsamen Suche nach dem guten Leben gescheitert wäre. Wenn wir diese Sackgasse vermeiden wollen, müssen wir die Gemeinschaft richtig ordnen und so das wilde, ungerechte und unheilige Tier namens Mensch zähmen: Die Gerechtigkeit aber ist politisch; denn das Recht ist die Ordnung der politischen Gemeinschaft; das Recht ist nämlich die Unterscheidung des Gerechten. 274

Anders formuliert: Die Frage nach dem Gerechten muss in der Rechtsordnung der Polis gestellt werden, denn sonst finden wir uns in einem gesetzlosen und ungerechten Kampf wilder und ruchloser Tiere wieder, die gewaltsam ihre eigenen Lösungen durchsetzen und damit mögliche vernünftige Lösungen ab ovo verhindern. 275 Nur die Institutionalisierung der Gemeinschaftsbeziehungen in der Polis er273 Bereits Thomas von Aquin hat diesen engen Zusammenhang erkannt und betont: Jede Sozialordnung stellt eine Machtordnung dar, die jedoch als Rechtsordnung konzipiert sein sollte. Vgl. Schönberger 2012, 205. 274 Pol. I, 2: 1253a37–39. Vgl. dazu Fußnote 170. 275 Ambler 1985, 170 f. schreibt Aristoteles eine »noble, aber nicht naive Menschensicht« zu und grenzt ihn von einem angeblich egoistischen Menschenbild moderner liberaler Theorien ebenso ab wie auch von naiven Sozialitätsträumen. Weder sei der Mensch schlicht habgierig, noch einfach als sozial zu bezeichnen, sondern eben als politisch: Der Mensch benötige Gesetze zum Erwerb der Tugend. Insofern könne die politische Ordnung weder als überflüssig verschwinden noch bloß als notwendiger Verteidiger eines Biestes gegen das andere gelten.

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möglicht eine vernünftige Verständigung und ist also eine Voraussetzung für Gerechtigkeit. Dementsprechend negativ charakterisiert Aristoteles einen Menschen, der von Natur aus und nicht bloß zufällig kein Angehöriger einer Gemeinschaft ist. Fast könnten wir bei folgendem Satz meinen, Hobbes zu vernehmen: »Denn dieser ist von Natur aus ein solcher und zugleich gierig nach Krieg, da er unverbunden dasteht wie auf dem Spielbrett.« 276 Hier klingt bereits ein wichtiges Ziel der Polis implizit an, nämlich dass sie ein stabiles Gemeinschaftsleben ohne stete Gewalt bezweckt. Allein schon unter diesem machtorientierten Blickwinkel auf Fragen des Gerechten und der Tugend folgt, dass die Polisgemeinschaft ihren Zweck der Gemeinschaft zur Erlangung des guten Lebens nur dann erreichen kann, wenn sie sich als Rechtsgemeinschaft konstituiert. Somit ist der Mensch also dafür strukturell auf die als Rechtsordnung interpretierte Polis angewiesen, ansonsten verfehlt die menschliche Gemeinschaft ihr eigentliches Ziel des guten Lebens. Natürlich erschöpft sich die aristotelische Begründung für die Auffassung der Polis als Rechtsordnung jedoch nicht darin, dass das Recht gewissermaßen die Macht einhegt und zähmt. Letztlich wäre dies normativ ein zu dürftiges Fundament, wie auch andere Stellen bestätigen. Stattdessen benötigen wir auch einen »positiven« Beitrag, den die Rechtsordnung abseits der negativ-strafenden Rolle zum guten Leben leistet. Somit setzt sich Aristoteles wie bereits sein Lehrer Platon in einen Gegensatz zu gewissen sophistischen Positionen, die sie übereinstimmend als ungenügend charakterisieren. Weder kann es sich bei einer Polis nur um eine reine Machtordnung handeln (gegen Kallikles) noch um eine reine Nutzengemeinschaft (gegen Lykophron). 277 Damit wird der machtvoll-gewalttätige Aspekt der Politik durch Aristoteles nicht im Geringsten geleugnet. Auch für Aristoteles sind Gemeinschaftsordnungen stets auch Hierarchien von Überordnung und Unterordnung, 278 die nicht ohne Zwang auskommen. Natürlich befürwortet Aristoteles genauso wenig wie sein Lehrer

Pol. I, 2: 1253a6 f. Schütrumpf 1991b, 482 f. Anm. 63,40 hingegen lässt im Rahmen seiner Lesart von Pol. IV–VI Aristoteles gewissermaßen ins sophistische Lager wechseln, da Aristoteles in diesen Büchern angeblich die lykophronsche Rechtsauffassung vertrete (Recht lediglich als Verhindern von Unrecht). 278 Vgl. Pol. I, 5: 1254a28–33. 276 277

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eine Herrschaft der nackten Gewalt, 279 sondern möchte die Polis als Tugendgemeinschaft zum Zwecke des guten Lebens auffassen. Allgemein gesagt, erwächst die Legitimität einer Polisgemeinschaft also aus dem Ausmaß ihres Bemühens um die Tugend – was gegen die Annahme mancher Forscher (wie etwa Roberts 280) spricht, dass Aristoteles sich keinerlei Gedanken über die Legitimität der politischen Ordnungen mache. Bekanntlich für recht problematisch hält Aristoteles jedoch den platonischen Weg – jedenfalls in der Form wie er ihn interpretiert: Wenn Platon seine Polis aus Überlegungen zur notwendigen Arbeitsteilung entstehen lässt, ist dies für Aristoteles keineswegs hinreichend. Schließlich gehe es bei der Polis nicht bloß um das Notwendige, sondern v. a. um das Gute (to kalon). Daher sei Platon auch dafür zu tadeln, dass er ausgerechnet die Richter nicht sogleich anführe. 281 Sprachlich interessant ist, dass Aristoteles hier letztlich einen Rückverweis auf Pol. I, 2 macht, da er den richtenden Teil umschreibt als »krinounta to dikaion« 282 und er in 1253a38 f. ja die dikaiosynê als tou dikaiou krisis bestimmt hatte. Nachdem aber 1253a38 die dikê als die politikês koinônias taxis festgelegt hatte, verfehlt Platon in der harschen Kritik des Aristoteles die eigentliche Bestimmung der Polis eben als Rechtsordnung. Während der Sinn der gerade eben behandelten Passage aus Pol. IV, 4 mühselig aufgeschlüsselt werden musste, stellen andere Kapitel dankenswerterweise ganz explizit fest, dass die Polis als Rechtsordnung aufzufassen sei. Besonders einschlägig sind hier natürlich die Betrachtungen des Aristoteles über die Identität der Polis in mehreren Kapiteln des dritten Buches der Politik: Wie bereits in den einleitenden Passagen von Pol. I, 1 festgestellt, ist die Polis als Gemeinschaft auf ein Gut hin ausgerichtet: Daher kann das Kriterium der 279 Zwar kann man tatsächlich versuchen, archê nur bei verfehlten Verfassungstypen mit »Herrschaft« zu übersetzen und bei den normativ guten Verfassungstypen das neutralere Wort »Regierung« zu verwenden. Schließlich kann man aus dem deutschen Wort »Herrschaft« noch den Herrn heraushören kann (analog zum Altgriechischen, da die despotikê archê eben ein Verhältnis zwischen Herr und Knecht bezeichnet). Jedoch hat sich im Deutschen diese »herrische« Bedeutung für den Alltagssprecher völlig abgeschliffen, was Kamp allerdings nicht hindert, Schütrumpf für diesen Sprachgebrauch zu kritisieren. Vgl. Kamp 1990, 160 f. 280 »Nor is there, at the other end, any general abstract question about the legitimacy of the state.« (Roberts 2009, 556). 281 Vgl. Pol. IV, 4: 1291a10–28. 282 Pol. IV, 4: 1291a23 f.

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Identität einer Polis nicht allein in ihrer geographischen Identität liegen. So könnte man den gesamten Peloponnes mit einer einzigen Mauer umfassen, dennoch würde niemand von einer einzigen Polis sprechen. 283 In Pol. III, 9 284 führt er diesen Gedanken noch weiter aus: Sogar wenn Korinth und Megara innerhalb derselben Stadtmauern lägen und zusätzlich Ehegemeinschaften förderten, miteinander Handelsverträge und Militärpakte schlössen, könnten wir trotzdem nicht von einer einzigen Polis sprechen. Dies liegt darin begründet, dass die menschlichen Gemeinschaften nicht nur keine reinen Lustgemeinschaften sind, sondern auch eine Verkürzung auf bloße Nutzengemeinschaften als verfehlt zu betrachten ist: Schließlich beschränkt sich die menschliche Kommunikation nicht nur auf die Besprechung notwendiger Überlebensstrategien, womit die Polis auch kein bloßer Nützlichkeitsverband ist. 285 Ebenso sind wichtige soziale Bindeglieder wie gemeinsame religiöse Feiern oder Eheverbindungen zwar bedeutsame und notwendige Vorstufen für eine politische Gemeinschaft, aber nicht hinreichende. 286 Dabei betont Aristoteles wieder, dass die Polis zwar um des bloßen (Über-)Lebens willen entstehe, jedoch nicht deswegen fortbestehe. 287 Aristoteles betrachtet also Ortsgemeinschaften, auch wenn sie um Handelsverträge oder militärische Vereinbarungen und um wichtige soziale Veranstaltungen und Institutionen wie Ehegemeinschaften, Opferfeste und andere Formen des geselligen Lebens ergänzt werden, nicht als ausreichend, um von einer Polis zu sprechen. Zwar sind all diese Merkmale notwendig für eine Polis, allerdings nicht hinreichend, da sie den wahren Zweck der Polis nicht treffen. Gegen diese antiken »Nachtwächterstaaten«-Theorien erhebt Aristoteles den Einwand, dass die Polis als vollendete Gemeinschaftsordnung das Ziel und den Zweck der menschlichen Gemeinschaft dar-

283 Vgl. Pol. III, 3: 1276a17–b13, das in seinen Schlusspartien allerdings schon die Lösung unseres Problems verrät. Da ich jedoch das Problem in seiner Struktur nachzeichnen möchte, genügt eine dürre Faktenangabe nicht, sondern die dahinterliegende Begründung sollte im folgenden Haupttext gegeben werden. 284 Vgl. Pol. III, 9: 1280b13–1281a4. 285 Obwohl dies durchaus ein wichtiger Grund für das gesellige Zusammenleben ist (vgl. Pol. III, 6: 1278b24–26 und EN VIII, 11: 1160a8–18). 286 Vgl. Pol. III, 9: 1280b15–17 und 1280b35–1281a4 mit der Betonung, dass so nur ein Beisammenleben (syzên) ermöglicht werde. Keyt 1991a, 252 beschreibt diese Hierarchie von zên, syzên und eu zên/zên kalôs weitergehend. 287 Vgl. für diesen Punkt und das Folgende: Pol. I, 2: 1252b28–1253a1.

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stelle. Dahinter verbirgt sich natürlich die schon mehrfach erarbeitete Sichtweise auf die Polis als gemeinsames normatives Projekt, denn eine echte Polis kümmere sich um die Tugend 288 und ziele als Gemeinschaft von Familien und Dörfern auf das vollkommene und autarke, also glückselige und edle Leben ab 289. Hier bezieht sich Aristoteles also wieder auf die Eingangskapitel von Pol. I, 1 und Pol. I, 2, wenn er den Gemeinschaftscharakter in Hinsicht auf das gute Leben betont und erneut an die komplizierte Dialektik zwischen Haus, Dorf und Polis erinnert, wobei er auch wieder den fundamentalen Abstand zwischen Haus und Polis stark macht. So bedeutet die Formel der »Gemeinschaft von Häusern und Familien in Hinsicht auf das gute Leben«, dass es sich bei einer Polis nicht um eine simple Addition von nebeneinander her lebenden Häusern handeln kann. Keinesfalls darf jeder das eigene Haus als seine eigene Minipolis verstehen und nur Warenaustausch und wechselseitige Verteidigung als gemeinsame Unternehmung betrachten. 290 Natürlich führt uns dies wieder auf die Lehre von Pol. I, 2 zurück, dass sich das Projekt des gemeinsamen Strebens nach dem guten Leben genauer als Suche nach gemeinschaftlichen Auffassungen in Fragen des Guten und Bösen, Gerechten und Ungerechten sowie Nützlichen und Schädlichen fassen lässt. Ebenfalls in Pol. I, 2 haben wir bereits gesehen, dass eine solche politische Freundschaft keinesfalls ein einfaches Unterfangen ist und so – in fruchtbarer Weiterführung von Gedanken aus EN X, 10 – eine Vermittlung der verschiedenen normativen Interessen nur im Rahmen der Rechtsordnung glücken kann. 291 Einerseits kann man dies Vgl. Pol. III, 9: 1280b6–8. Vgl. Pol. III, 9: 1280b29–1281a4. EN I, 2: 1095a14–20 nennt in einer wissenschaftstheoretischen Betrachtung entsprechend als Ziel der politischen Wissenschaft das gute Leben. 290 Vgl. Pol. III, 9: 1280b25–29. 291 Daher setzt sich meine Deutung in einen Gegensatz zu Piepenbrink, die meint: »Er [Aristoteles; B. L.] macht sogar einen Gegensatz zwischen Gesetzesherrschaft und bürgerlicher Partizipation aus: Je weniger sich die Bürger an der Politik beteiligen, desto mehr ›herrschen‹ die Gesetze und umgekehrt.« (Piepenbrink 2001, 77) und verweist in einer Fußnote auf 1281a34–39, 1292b38–41 und 1292a23–25. Während es in der ersten Stelle um eine andere Thematik geht, nämlich die Frage, ob auch die Herrschaft der Gesetze den Affekten unterliegen könne, greifen die beiden anderen Stellen auf den ersten Blick tatsächlich die Frage nach einer Partizipation angesichts einer »rule of law« auf. Allerdings zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass es dabei lediglich um das Ausmaß der Partizipation des dêmos in verschiedenen Demokratietypen 288 289

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negativ formulieren, denn das wilde Tier Mensch benötigt dringend die Schranken des Rechts, um nicht ungerecht zu sein; andererseits kann man natürlich auch positivere Aspekte hervorheben und betonen, dass eine erreichte Übereinstimmung in Fragen des Guten und Bösen, Gerechten und Ungerechten sowie Nützlichen und Schädlichen in gemeinschaftliche Rechtsregelungen gegossen werden. So hat sich als ein Zwischenergebnis unserer bisherigen Interpretation gezeigt, dass sich dieses gemeinsame Bemühen um Tugend und Glückseligkeit nur in einem rechtlichen Rahmen verwirklichen lässt und die Polis vorrangig als Rechtsordnung begriffen werden sollte. Tatsächlich kann man dies nicht nur aus Pol. I, 2 indirekt folgern, sondern diese Behauptung, dass Aristoteles die Polis als Rechtsordnung auffasst, findet auch eine ausdrückliche Bestätigung in Pol. III, 3: Dort wird die Frage nach der Identität einer Polis durch die Identität der Rechtsordnung beantwortet werden. Tatsächlich übersteigt Aristoteles nämlich die rein personale Lösung der Identität der Einwohnerschaft als ausreichendes Kriterium. So sichern nicht dieselben Einwohner sowie deren Nachkommen die Identität der Polis, sondern Aristoteles bestimmt die Polis als Gemeinschaft von Bürgern in einer bestimmten Verfassung. 292 Dazu bringt er erläuternde Vergleiche mit einem antiken Chor oder verschiedenen Tonarten: Wie dieselben Töne in verschiedenen Tonarten anders klingen oder dieselben Schauspieler in Tragödien und Komödien anders agieren, so kommt es auch bei einer Polis hauptsächlich auf das Ordnungsprinzip der Verfassung an. Daher wechselt der Charakter einer Bürgerschaft mit ihren verschiedenen Verfassungen. 293 Damit hängt also die Identität der Polis an der Identität der Verfassung und nicht an der Identität des Ortes oder der Bürger. In diesem Sinne lässt sich der Satz in geht. Wenn Aristoteles das Ausmaß der Partizipation des dêmos beschränken will, dann kann dies jedoch nicht als Ausfluss der »rule of law«-Lehre gelten. Vielmehr geht es hier um ein Kapitel aus der politischen Anthropologie, nämlich um die Frage, welche Verhaltensweisen und psychologischen Charakteristika Aristoteles dem dêmos zuschreibt, aufgrund derer das Volk nur in einem bescheidenen Umfang an der Politik teilhaben sollte. Daraus folgt aber nicht, dass die gesamte Bürgerschaft politisch komplett passiv sein sollte. Wie gezeigt ist dies allein ja schon deswegen unmöglich, da die gesamte Konstruktion der politischen Philosophie des Aristoteles in der politischen Freundschaft eine besonders tragfähige Säule sieht. 292 Vgl. Pol. III, 3: 1276b1 f. Entsprechend betrachte ich nicht – wie Dalfen 1988, 131 – die frühen Stoiker als erste Philosophen, die das rechtliche Moment in der Definition des Staates in den Vordergrund gestellt haben. 293 Vgl. Pol. III, 3: 1276b2–13.

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Pol. IV, 11 verstehen, dass die Verfassung das Leben der Bürgerschaft sei. 294 So zeigen die aristotelischen Gedanken über das Verhältnis von Verfassung und Bürgerschaft noch einmal, dass die Polis keineswegs als biologisches System anzusehen ist: Stattdessen ist die Bürgerschaft als eine rechtliche Ordnungseinheit aufzufassen, unter der eine Vielheit an Menschen lebt, nicht aber als eine biologische Vielheit, die sich eine untergeordnete Rechtsordnung gibt. 295 Dass Aristoteles die Polis vor allem als Rechtsordnung ansieht, kann man vielleicht am berühmten »Schiff des Theseus« plausibilisieren: Hier wie dort besteht die Identität in der Strukturordnung (Form des Schiffes bzw. Verfassungsform) und nicht im Material (Holz bzw. Menschengruppe). 296 Was macht also eine menschliche politische Gemeinschaft zu einer (Polis-)Einheit? Wenn sie gemeinschaftliche Auffassungen über das Gute, Gerechte und Nützliche hat, welche die Bürger auch gemeinsam in die Tat umsetzen und in ein gemeinsames Verfassungsund Gesetzeswerk gießen. Somit ist also die Polis als Gemeinschaft von Bürgern in einer bestimmten Verfassung 297 anzusprechen und das gemeinsame Werk der Bürger besteht in der Erhaltung der Verfassung 298. Daher können wir nun gegen Ende dieser komplizierten und verwickelten Überlegungen mehrere Fäden zusammenführen, bei denen vielleicht noch nicht von Beginn an klar war, wie sie genau zusammengeführt werden können: So ist also die Polis ein gemeinsames normatives Projekt zur Erlangung des guten Lebens; 299 dabei versucht 294 Vgl. Pol. IV, 11: 1295a40–b1. Zu den anderen Implikationen dieses Satzes äußere ich mich später. 295 Hier denkt Aristoteles also durchaus ähnlich wie Kelsen (vgl. Kelsen 1971, 32 (bzw. Seite 26 der Originalpaginierung)). Anders als Kelsen betrachte ich diesen Gedanken also nicht erst als Leistung der Wiener Schule. 296 Bekanntlich zieht Aristoteles selbst auch die Analogie, dass das Verhältnis zwischen politischer Gemeinschaft und Bürger ein ähnliches sei wie dasjenige zwischen Schiff und seiner Besatzung (vgl. Pol. III, 4: 1276b20–29). Schütrumpf 1991b, 405– 407 Anm. 53,27 beschreibt die politische Gemeinschaft als Teilhabe von Bürgern an der Verfassung bzw. genauer gesagt ist die Polis ein Ganzes, bei dem die Stellung der Teile den Unterschied mache: Nicht jede Menschenmenge bilde eine Polis, sondern dazu brauche es gewisse strukturelle Bedingungen, die Schütrumpf in der Verfassung als Herrschaftsordnung verortet (dazu vgl. Kapitel 1.1.5.4). 297 Vgl. Pol. III, 3: 1276b1 f. 298 Vgl. Pol. III, 4: 1276b27–29. 299 Vgl. Pol. I, 1+2.

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die Bürgerschaft 300 sich auf gemeinsame Auffassungen des Guten, Gerechten und Nützlichen zu einigen, was in einer für alle gültigen Rechtsordnung gipfelt. 301 Somit ist das Recht als Ordnung der politischen Gemeinschaft anzusprechen 302 bzw. stellt sich die Bürgerschaft als Rechtsphänomen dar und ist die Identität der Polis an ihre Verfassung geknüpft 303. Entsprechend finden wir in Pol. III, 4 einen weiteren Aspekt der aristotelischen Antwort auf die Frage von De hist. Anim. I, 1: 488a7–10 nach dem koinon ergon der Menschen: Aufgrund der zentralen Rolle der Rechtsordnung (hauptsächlich in Gestalt der Verfassung) für das gute Leben ist die Erhaltung der Gemeinschaft gleichzusetzen mit der Erhaltung der Verfassung 304. Folgerichtig koppelt Aristoteles die Frage nach dem Vollbürgerstatus auch daran, ob man die Erlaubnis hat, an dem Entscheidungsprozess über diese Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen mitzuwirken. Schließlich ist man laut Aristoteles dann ein Bürger, wenn man prinzipiell Zugang zu beratenden oder richtenden Ämtern hat 305 und somit an der Verfassungsordnung teilhaben kann. Allerdings darf man sich den Prozess, der von der politischen Freundschaft zur Verfassung führt, keineswegs zu abstrakt vorstellen und auch nicht als Einbahnstraße missverstehen. Damit soll nicht etwa das Bild einer Art verfassungsgebender Versammlung heraufbeschworen werden, die dann eine fixe schriftliche Verfassung ausarbeitet, die dann etwa gar noch mit einer Ewigkeitsklausel versehen wird. Vielmehr erarbeiten die Bürger zwar gemeinsame Rechtsbestimmungen, die als Regeln für die Bürgerschaft zu Themen des Guten, Gerechten und Nützlichen zu gelten haben. Aber damit ist die gemeinsame Suche nach dem guten Leben nicht etwa zu einem definitiven Ende gekommen, womit dann jegliche Diskussion über Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen ein für alle Mal erstickt

300 Wie wir in Pol. III, 1: 1274b38–41 sehen, konzentriert sich Aristoteles in seiner Analyse der Polis auf die Bürgerschaft. Systematisch liegt dies darin begründet, dass die Polis eine Gemeinschaft zur Erlangung der Glückseligkeit ist und nur die Freien ja überhaupt über prohairesis verfügen (für eine entsprechende negative Abgrenzung siehe Pol. III, 9: 1280a32–34). 301 Siehe besonders das Ende von Pol. I, 2. 302 Vgl. Pol. I, 2: 1253a37 f. 303 Vgl. Pol. III, 3. 304 Vgl. Pol. III, 4: 1276b27–29. 305 Vgl. Pol. III, 1: 1275b17–20. Schütrumpf 1991b, 388 Anm. 50,12 hält den aristotelischen Bürgerbegriff für eine Polemik gegen den platonischen.

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wäre. 306 Vielmehr sind diese Regelungen zwar verbindlich, aber nicht für immer festgeschrieben. So werden wir im Rahmen einer Diskussion 307 zu Vernünftigkeit und Tradition bei Gesetzen feststellen können, dass Aristoteles keineswegs stets den Status quo gegenüber Reformen bevorzugt. Obwohl wir diese wichtige Detailfrage an dieser Stelle systematisch noch nicht klären können, sei auf ein grundsätzliches Problem verwiesen: Wenn es tatsächlich zuträfe, dass der Status quo nicht geändert werden dürfte, dann zerbrächen die Poleis sehr schnell an inneren Widersprüchen. Da Aristoteles in der Politik vielfach soziologische Veränderungen oder auch Wechsel in den Auffassungen des Guten, Gerechten und Nützlichen beschreibt, zerrisse die Polis bei einer angenommenen Starrheit der Bestimmungen über das Gute, Gerechte und Nützliche. Wenn die Identität der Polis in der Rechtsordnung liegt, die Rechtsordnung als Ausfluss der normativen Übereinstimmungen zu bestimmen ist und bei geänderten normativen Überzeugungen die Rechtsordnung sich nicht ebenfalls mit verändert, dann gerät die Bürgerschaft gewissermaßen in eine Identitätskrise: Schließlich kommt es so zu einem Widerspruch zwischen der faktisch gelebten normativen Identität der Bürgerschaft (»Welches Leben führt die Bürgerschaft?«) und der im Recht als Sollensanspruch präskriptiv an sich selbst gerichteten normativen Ansprüche (»Welches Leben soll die Bürgerschaft führen?«). 308 In solchen Fällen wird eine Adaptierung der Verfassung unumgänglich sein. Schließlich sollte die Verfassung als koinon ergon der Bürgerschaft ja ihre gemeinsamen normativen Überzeugungen im Regelwerk der Verfassung und der Gesetze ausdrücken und so negativ-strafend und positiv-anleitend die Bürger auf ihrem Weg zur eudaimonia unterstützen. Wenn also die Verfassung gewissermaßen die Lebensregeln der Bürgerschaft darstellt und ihr Leben sich natürlich auch wandeln kann, dann ist ein Gemeinwesen erst dann tot, wenn es keine gemeinsam anerkannten Regeln für das Zusammenleben und das Erreichen des guten Lebens mehr gibt. Dagegen ist eine Diskussion über die 306 Solche Befürchtungen scheint Yack zu hegen. Vermutlich deswegen betont er die Diskussion über politische Fragen, scheut sich aber, die Ausmünzung solcher Diskussionsergebnisse in einer Rechtsordnung als Hauptresultat zu betrachten. 307 Vgl. den Beginn des Kapitels 2.1.4. 308 Einen Konflikt zwischen der deskriptiv beobachtbaren gelebten normativen Identität und ihrer normativen Selbstverpflichtung und -gesetzgebung beschreibt Aristoteles etwa in Pol. IV, 5: 1292b11–21.

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Rechtsordnung und ihre Veränderung ein normaler Vorgang, der in jeder Polis passieren kann. Selbstverständlich kann es auch hier zu einem »etwas wilderen Lebenswandel« kommen. Daher ist diese Relation zwischen politischer Freundschaft und Verfassung auf jeden Fall insofern dynamisch zu nennen, da die Verfassungsordnung bei Änderungen in den normativen Grundüberzeugungen sozusagen mitschwingt. Umgekehrt wirkt aber auch die Rechtsordnung in Gestalt der Verfassungsbestimmungen und Gesetzesvorschriften auf die normativen Überzeugungen der Bürger zurück: Hier denkt Aristoteles einerseits an die Charakterkorrektur durch Strafen und andererseits an die Charakterbildung v. a. durch Erziehung, aber auch durch Anreizsysteme wie Ehrungen. 309 Somit haben wir einen wichtigen Kreislauf in der politischen Philosophie des Aristoteles erarbeitet: Bei einer Polis handelt es sich um eine Rechtsordnung, wobei sie aus gemeinsamen normativen Überzeugungen der Bürger entsteht, die wiederum durch die Rechtsordnung beeinflusst werden. Im schlimmsten Fall entsteht keine echte politische Ordnung, da die Bürger viel zu zerstritten sind (im Falle eines Bürgerkriegs) oder überhaupt nicht an einer Rechtsordnung, sondern bloß an einer Machtordnung interessiert sind (vgl. die extremen Subtypen der verfehlten Verfassungstypen). Während dieser »Teufelskreis« schwer zu durchbrechen ist, kann sich eine Polis im entgegengesetzten Fall natürlich auch in einer Art »Engelskreis« befinden, wobei wohlüberlegte normative Überzeugungen der Bürger zu einer guten Rechtsordnung führen, die wiederum mit durchdachten Gesetzen und einer geglückten Erziehung positiv auf die Bürger zurückwirkt. Darin liegt auch der Sinn der aristotelischen These einer Erziehung gemäß der Verfassung: Bekanntlich soll ja laut Pol. II, 5: 1263b36 f. die Polis durch Erziehung zur Einheit gebracht werden, wobei dies – wie ebenfalls bereits gesehen – Pol. I, 13: 1260b15–20 und Pol. V, 9: 1310a12–14 näher als Erziehung gemäß der Verfassung bestimmen. Damit meint Aristoteles also, dass die Polis ihre Einheit und Stabilität wesentlich in ihrer normativen Einheit findet, die sich 309 Darin würde ich auch die Antwort auf die Fragen von Leontsini 2013, 23 f. suchen, da sie die Möglichkeiten einer Freundschaftsbeförderung (wie sie ja EN VIII, 1: 1155a22–28 fordert) radikal hinterfragt: Wie sollen Gesetzgeber tatsächlich die Freundschaft befördern? Durch Gesetze zur Freundschaft zwingen kann man bekanntlich niemanden und weder die Eudemische noch die Nikomachische Ethik gäben hier dem Gesetzgeber eindeutige Hinweise zur praktischen Umsetzung.

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in einer Art Verfassungspatriotismus und Leben gemäß der Verfassungsordnung widerspiegelt. 310 Entsprechend sollten die Bürger die positiv in Gestalt von Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen ausgemünzten Regelungen des Verhaltens nicht nur als abstrakte Sollensvorschriften betrachten, sondern auch wirklich in ihr konkretes Sittenleben übernehmen. Anders formuliert: Diese gemeinsam gefundenen normativen Regeln sollen ja nicht totes Recht sein, sondern Eingang in die allgemeine Sitte finden. Daher liegt es im höchsten Interesse einer Rechtsordnung, ihre Bürger zur Gesetzestreue und damit zur Befolgung der normativen Regelungen anzuhalten und sie in diesem Sinne zu erziehen. Bei genauerer Betrachtung können wir dabei feststellen, dass die normativen Haltungen der Bürger in gewisser Hinsicht prioritär gegenüber der Rechtsordnung sind. Damit möchte ich nicht etwa auf die genetische Priorität anspielen, sondern vielmehr auf ein akratisches Phänomen hinweisen: Denn auch die nützlichsten und von allen Bürgern gemeinsam beschlossenen Gesetze nützen nichts, wenn die Bürger nicht an die Verfassung gewöhnt und in ihr erzogen sind […] Wenn es nämlich Unbeherrschtheit beim Einzelnen gibt, so gibt es sie auch bei der Polis. 311

Wie also ein einzelner Mensch zwar den orthos logos haben kann, aber dennoch aus Unbeherrschtheit heraus dennoch das Richtige nicht tut, ebenso kann sich eine Polis zwar auf eine vernünftige Rechtsordnung einigen, sie aber dennoch nicht umsetzen. 312 Insofern darf nicht vergessen gehen, dass es mit der Erarbeitung einer vernünftigen und sittlich zu lobenden Rechtsordnung nicht getan ist, sondern auch für ihre praktische Umsetzung gesorgt werden muss. Wie bereits mehrfach gesehen hebt Aristoteles folgerichtig die Erziehung als den wichtigsten Faktor für die Erhaltung von Poleis hervor, womit also die Gewöhnung an die Sittenvorschriften (das Jedoch darf dies nicht in einem allzu starken Sinne verstanden werden, sodass der Unterschied zu Platon verloren geht. Kronman 1979, 129 schätzt die Möglichkeiten der Erziehung bei Aristoteles sehr hoch ein, wenn danach die Bürger eine grundsätzlich ähnliche moralische Haltung und v. a. dieselbe Art Charakter aufweisen sollen. Dies liegt jedoch weit außerhalb der Möglichkeiten, denn derart tiefgreifend vermag die Erziehung nicht zu wirken, sodass etwa in einer funktionierenden aristokratischen Erziehungspolis plötzlich alle Bürger gute Menschen wären. 311 Pol. V, 9: 1310a14–19. Vgl. auch Pol. IV, 8: 1294a3–7. 312 Ähnlich auch EN VII, 11: 1152a19–24: Während die unbeherrschte Polis gute Gesetze nicht anwendet, befolgt die schlechte Polis schlechte Gesetze. 310

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êthos) eben nicht unabhängig von der Verfassungsdiskussion gelesen werden kann: Zuerst sei daran erinnert, dass ein gemeinsamer normativer Rahmen gesucht wird und hier nicht einfach eine gemeinsame Sittlichkeit der verschiedenen Gruppen vorausgesetzt werden kann. Vielmehr stellen gerade die unterschiedlichen Auffassungen des guten Lebens das sittliche Grundproblem dar und kann das Problem also keinesfalls mit einem faktisch nicht vorhandenen Konsens für erledigt erklärt werden. Stattdessen ringen die verschiedenen Gruppierungen um den Einfluss ihrer je eigenen normativen Vorstellungen, die eben einerseits durch eine zwingende Rechtsordnung und andererseits durch eine Erziehung gemäß der Verfassung vermittelt werden sollten. 313 Damit wird also eine gewisse Einheitlichkeit in einer Gemeinschaft mit verschiedenen Strömungen durch die Orientierung an den Grundsätzen der Verfassung hergestellt. Folgerichtig kommt es also dann zu Verfassungswechseln, wenn die Bürgerschaft in verschiedene Fraktionen mit unterschiedlichen Lebenswelten zersplittert ist und diese sich nicht mehr für den gemeinsamen Lebensentwurf der politeia engagieren. Anders formuliert: Wenn die Bürger gemeinschaftlich an der politeia teilhaben, dann ist die Polis von einem gemeinsamen Leben erfüllt, das sich nicht allein in einem bloßen Zusammenleben erschöpft. Insofern benötigen Rechtsordnungen – wie gerade gezeigt – dringend eine Erziehung der Bürger gemäß ihren Grundsätzen. Im gemeinsamen Ziel einer Tugendgemeinschaft stimmen Aristoteles und Platon also überein, jedoch beansprucht Aristoteles, eine bessere Lösung für das Problem der Einheit der Polis gefunden zu haben: Im Vergleich zu den platonischen Lösungsvorschlägen einer Frauen- und Gütergemeinschaft sowie einer stark personalistischen Betonung der überragenden Bedeutung der Herrscherpersonen setzt Aristoteles – wie wir gesehen haben – stärker auf eine wichtige Rolle der Rechtsordnung. Dabei möchte ich den Begriff der Rechtsordnung nicht missverstanden wissen: Ähnlich wie beim Satz, dass eine Polis sich um die Tugend bemühen müsse (vgl. für die Interpretation dieser These 313 Anders Kraut 2002, 195, der aristotelische Erziehung nicht als Erziehung der Bürgerschaft zur richtigen Auffassung der eudaimonia verstehen möchte. Die Erziehung zur Verfassung umfasst jedoch sicherlich eine Beeinflussung der normativen Zielsetzungen, da dies einer der wichtigen Punkte in der umfassenden Verfassungsdefinition ist und eine bloße Einschwörung auf die Machthaber allein oder auf die Akzeptanz der institutionellen Verfahren zu wenig stabilisierend wirken dürfte.

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S. 45 f. dieser Arbeit), sollte auch der Schlusssatz von Pol. I, 2 angemessen interpretiert werden. Dort schreibt Aristoteles, dass das Gerechte der Polis zugeordnet sei, denn das Recht müsse man als Ordnung der politischen Gemeinschaft auffassen und als Unterscheidung von gerecht und ungerecht. 314 Auch hier verfolgt Aristoteles keine normativ überspannten Strategien. Vielmehr möchte er nur folgendes festhalten: Relativ wertneutral ist eine Rechtsordnung als Regelung dessen zu betrachten, was eine Gemeinschaft als gerecht und ungerecht zu belohnen oder zu bestrafen gedenkt. Wenn sich eine Gemeinschaft nicht auf gemeinsame Rechtsregelungen einigen kann, was als gerechte oder ungerechte Tat zu gelten hat, so kann die entsprechende Polis nicht als wohlgeordnete Gemeinschaft zur Erlangung eines glückseligen Lebens gelten. Damit wird aber nicht gesagt, dass ungerechte Rechtsregeln keine Rechtsregeln sind. Wie wir später in Kapitel 1.2.2 sehen werden, vertritt Aristoteles – anders als sein Lehrer – nicht die These, dass Unrecht kein Recht sei. Daher gibt es zwar keinen Unterschied in der faktischen Zuschreibung des Begriffs polis etwa zwischen einer verfehlt regierten Oligarchenherrschaft und einer weise regierten Aristokratie, dennoch sind diese beiden Regierungsformen unterschiedlich legitimiert. Entsprechend ist meine Bezeichnung »Rechtsordnung« deskriptiv zu verstehen und nicht – wie etwa bei Schütrumpf – normativ als »gerechte Ordnung« (im Sinne eines Gegensatzes zu einem ungerechten Rechtssystem). Daher ist im aristotelischen Gedankengang eine von Pangle ins Spiel gebrachte These ab ovo unmöglich, ob wir nicht aus Pol. III, 9 und anderen Stelle schließen könnten, dass es eigentlich in Wirklichkeit gar keine echten Verfassungen gebe, da die besten Regierungstypen gar keine Verwirklichungsmöglichkeit hätten und die verfehlten Verfassungen gar nicht als Verfassungen gelten könnten. 315 So stimmen Platon und Aristoteles zwar in ihrer Zielsetzung überein, dass die Polis auch als Tugendgemeinschaft zu verstehen ist, unterscheiden sich jedoch in ihren Methoden: Wie bereits besprochen, kritisiert Aristoteles vehement die platonische Einheitssehnsucht und auch dessen Lösungswege der Frauen-, Kinder- und Gütergemeinschaft. Stattdessen möchte Aristoteles die Vielheit der Polisteile durch die Rechtsordnung in ein »ordentliches Verhältnis« gebracht wissen, wobei sich besonders die Verfassung als wichtigste Grundordnung 314 315

Vgl. Pol. I, 2: 1253a37 f. Vgl. Pangle 2013, 126.

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herausstellen wird. Da sie eine derart wichtige Rolle einnimmt, bezeichnet sie Aristoteles auch als das Leben der Bürgerschaft 316 und lässt – wie gerade gesehen – die Kontinuität einer Polis an ihrer Verfassung hängen, nicht an den Bewohnern 317. Schließlich regelt sie als Grundordnung der Bürgerschaft 318 die wichtigsten Angelegenheiten – wie unter anderem auch die Frage nach dem Bürgerrecht 319 – und gibt den Leitrahmen für die Gesetze ab, die ebenfalls dafür sorgen, dass die Gemeinschaft nicht durch ständige Fraktionskämpfe zerstört wird. Da die Polis die wichtigste Ordnung menschlichen Gemeinschaftsverhaltens darstellt und aus der Verständigung über Recht und Unrecht entsteht und sich legitimiert, können wir als Resümee dieses Kapitels die Polis in starkem Maße als Rechtsgemeinschaft mit der Rechtsordnung der Verfassung und den Rechtsregeln der Gesetze begreifen. Dementsprechend können wir den deskriptiv gemeinten Ausspruch von Hans Kelsen, dass die Politik von Aristoteles wesentlich Verfassungslehre sei, auch normativ wenden: Die Politik soll für Aristoteles hauptsächlich auf eunomia abzielen und besteht daher auch und gerade in ihrer normativen Funktion, dem Streben nach dem eu zên, zu einem großen Teil aus Verfassungs- und Gesetzeslehre. 320 Vorrangig beschäftigt sich die politische Philosophie also mit einer Verfassungs- und Gesetzeskunde, 321 wobei sie als Kriterium der Güte von Verfassungen und Gesetzen das Gerechte und das allgemeine Wohl hat 322. Detaillierter werden die allgemeinen Evaluationsmaßstäbe im Abschnitt II dieser Arbeit erkundet. 316 Vgl. Pol. IV, 11: 1295a40–b1. Übrigens hat auch Isokrates in Areopagitikos 14–16 diese wichtige Rolle der Verfassung erkannt, wenn er die Verfassung als Seele der Polis bezeichnet und ihr ebenfalls die Funktion als Metaordnung für die Gesetze zuschreibt. Vgl. Isokrates 1993, 137. 317 Vgl. Pol. III, 3: 1276b1–13. 318 Vgl. Pol. III, 1: 1274b38. 319 So verleihen ja die verschiedenen Verfassungen unterschiedlich restriktiv das Bürgerrecht (vgl. Pol. III, 5: 1278a15 ff. oder als konkretes Beispiel: Pol. III, 1: 1275a3–5). 320 Vgl. EN III, 5: 1112b11–14. Sachlich damit übereinstimmend, aber grundsätzlicher formuliert ist die Lehre in EN I, 1: 1094a26–b7, dass die Politik als architektonische Lehre für die übrige praktische Philosophie die Gesetze erlässt, was man tun und lassen solle und wie man Erziehung zu gestalten habe. Kelsens Diktum steht in Kelsen 1989b, 308. Ihren deskriptiven Widerpart findet diese Aussage übrigens in EN X, 10: 1181a23–b23. 321 Vgl. EN X, 10: 1181a23–b23. 322 Vgl. Pol. III, 12: 1282b14–23 und EN I, 1: 1094b14 f.

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Worin besteht politische Ordnung für Aristoteles?

Nachdem sich nun die wichtige Rolle der Rechtsordnung für die politische Philosophie herausgestellt hat, ist die weitere Vertiefung dieses Ansatzes die Aufgabe der nächsten Kapitel: Welche (Rechts-) Ordnungen (taxeis) der Polis kennt Aristoteles überhaupt? Besonders hebt er den Vorrang der Verfassung hervor, denn »die Verfassung ist nämlich eine Ordnung für die Poleis, [die bestimmt,] auf welche Weise die Ämter verteilt werden, wer der Herr über die Verfassung ist und was das Ziel jeder Gemeinschaft ist.« 323 Damit stellt sie die wichtigste Grundordnung der Polis dar, die ich also als erstes besprechen werde. Somit dürfen wir die Verfassungslehre als grundlegende Systematik der Rechtsordnung ansprechen. Darunter gibt es die zweite Ordnung der Polis, nämlich die Gesetze: »Denn das Gesetz ist eine bestimmte Ordnung, und gute Gesetze [eunomia; B. L.] sind notwendigerweise eine gute Ordnung.« 324 Daher können wir die Gesetzeslehre als die auf die Verfassungslehre folgende Systematik der Rechtsregeln betrachten. 325 Allerdings ist es um diese beiden rechtlichen Grundordnungsarten laut Aristoteles im damaligen Griechenland nicht gerade zum Besten bestellt, denn mit Demokratie und Oligarchie sind ausgerechnet zwei schlechte Verfassungstypen die häufigsten 326. Da aber die soziale Ordnung – wie wir gesehen haben – in einem hohen Ausmaß durch die Rechtsordnung beeinflusst wird, ist dies ein deutliches Manko. Schließlich können Gemeinschaften nur dann als gut geordnet gelten, wenn die Bürger guten Regelungen einer gerechten Rechtsordnung folgen. Leicht kann uns Heutigen die Tragweite dieser Einsichten über die Relevanz der Rechtsordnung entgehen, denn wir sind an die »rule of law« und das Prinzip der Verfassungsstaatlichkeit völlig gewöhnt. Einerseits musste diese Einsicht überhaupt erst gewonnen werden, andererseits sieht man an diversen Krisengebieten auch heutzutage, dass der Zusammenbruch des Rechtsstaates zu den verheerendsten Folgen für die Bevölkerung führt. Insofern kann ich Höffe nur beipflichten, wenn er meint, Aristoteles sei mit der Auffassung der PoliPol. IV, 1: 1289a15–18 (Übersetzung des Verfassers, basierend auf Schütrumpf). Pol. VII, 4: 1326a29–31 (Übersetzung des Verfassers, basierend auf Schütrumpf). Schon Platon scheint die Bedeutung der Gesetzesordnung hervorzuheben (vgl. Nomoi VI. Buch 780d). Zum Unterschied zwischen Platon und Aristoteles in dieser Frage, siehe die entsprechenden Kapitel. 325 Vgl. etwa Pol. IV, 1: 1289a11–20. 326 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–36 und Pol. V, 1: 1301b39–1302a4. 323 324

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tischen Philosophie als Ordnungs- und Regellehre für Gemeinschaften wahrhaft epochemachend gewesen: »Der Gedanke, den politischen Prozeß wie ein Rechtsverfahren Regeln zu unterwerfen, wird die europäischen Verfassungen sogar bis heute prägen.« 327

1.2 Die politeia als Rechtsordnung und höhere Ebene einer Gemeinschaftsordnung 1.2.1 Rechtstheoretische Grundcharakteristika der Verfassung Bereits am Ende der Nikomachischen Ethik betont Aristoteles die Wichtigkeit der Verfassungsanalyse: Diese Untersuchung vollende die Philosophie des Menschlichen, 328 womit er die Verfassungsanalyse zu einem der Hauptthemen der praktischen Philosophie erhebt. Ebenso haben wir bereits gehört, dass Aristoteles die Verfassung als das Leben der Polis 329 bezeichnet und gar die Identität einer Bürgerschaft an die Identität der Verfassung knüpft (wenn die Verfassung wechselt, dann wird auch die Bürgerschaft eine andere) 330. Welche Merkmale sorgen nun dafür, dass ausgerechnet die Verfassung diese wichtige Rolle einnimmt und als Grundordnung der Bürgerschaft zu gelten hat? Wieso erhebt Aristoteles ausgerechnet sie zur Leitordnung innerhalb der Rechtsordnung? Bereits die oben angeführte Stelle Pol. IV, 1: 1289a15–18 331 kennzeichnet die aristotelische Auffassung von Verfassung recht brauchbar: Als Ordnung der Höffe 2011c, 7. Vgl. EN X, 10: 1181b12–23. 329 Vgl. Pol. IV, 11: 1295a40–b1. Wobei – wie bereits vorher gezeigt – vor oder nach Verfassungswechseln kurzfristig ein Widerspruch zwischen Verfassung und Herrschaftsausübung bzw. gelebtem ethos existieren kann (vgl. Pol. IV, 5: 1292b11–21). 330 Vgl. Pol. III, 3: 1276b1–13. Entgegen früher vorherrschender Tendenzen in der althistorischen Forschung macht Hansen geltend, dass die Autonomie für eine Polis nicht wesentlich gewesen ist, sondern die Polis stärker institutionalistisch charakterisiert worden ist: »[…] but losing its autonomy did not affect a community’s identity as a polis as long as its political institutions (housed in a bouleuterion and a pyrtaneion etc.) were allowed to survive and work. […] Consequently a polis joining a confederation or subjected to a hegemonic power was a polis like the independent communities.« (Hansen 1994, 16). 331 Zur Rechtfertigung wieso diese Stelle gegenüber den wesentlich engeren Verfassungsdefinitionen von Pol. IV, 3: 1290a7 f. und Pol. III, 6: 1278b8–10 bevorzugt wird, vgl. noch einmal den Beginn des Kapitels 1.1.5.4. 327 328

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Bürger 332 regelt sie die Ämterverteilung, bestimmt, wer die Regierung stellt und nennt auch das Ziel der Gemeinschaft. Zusätzlich zu diesen Hauptcharakteristika erwähnt Aristoteles in den Zeilen davor ein weiteres wichtiges Merkmal einer Verfassung, nämlich dass sie die Grundordnung der Bürgerschaft darstellt und so noch eine Ebene höher als die Gesetze angesiedelt ist. Ausdrücklich betont er, dass die Gesetze sich nach den Verfassungen richten müssen und nicht umgekehrt. Während die Grund- und Leitordnung der Verfassung (als »Grundgesetz«) den Zweck der Polis vorgibt, versuchen die Gesetze als Mittel zum Zweck den Weg zum Ziel anzugeben. 333 Nun übersetze ich politeia immer wieder mit »Verfassung«, 334 aber handelt es sich dabei nicht um einen Anachronismus? Prinzipiell ist diese Übertragung eigentlich unumstritten, jedoch üben einige wenige Forscher wie etwa Kamp trotzdem Kritik an ihr. 335 Da mir ein Plädoyer für die Standardübersetzung überdies einen willkommenen Anlass für weitere Ausführungen zu wichtigen Details der aristotelischen Überlegungen zur Verfassung bietet, sei hier im Folgenden dafür argumentiert: Welche Gemeinsamkeiten findet eine heutige deutsche Verfassungstheorie mit einer aristotelischen politeia, sodass wir politeia überhaupt mit Verfassung übersetzen können? Machen sich Philosophen dabei nicht einer unhistorischen Rückprojizierung eines neuzeitlich-modernen Begriffs schuldig? Grundsätzlich könnte man natürlich darauf verweisen, dass renommierte Althistoriker wie Hansen politeia ebenfalls hauptsächlich mit Verfassung übersetzen. 336 Aber wie könnte man als Philosophiehistoriker dafür argumentieren? Sternberger kennzeichnet die aristotelische politeia insgesamt als Verfassungsstaat und bemerkt gar:

332 Zunächst führt er die politeia in Pol. III, 1: 1274b38 ganz allgemein als Ordnung der Gesamtheit aller Einwohner ein, schränkt sie aber sofort auf die für seine Zwecke vor allem wichtige Frage nach den Bürgern ein und bestätigt so, dass die Verfassung vorrangig als Ordnung der Bürger aufzufassen ist. 333 Dafür dass die Verfassung die Gesetze als Mittel gebraucht, vgl. EN X, 10: 1181b20–23. Folgerichtig hängt die Güte der Gesetze auch an der Güte der Verfassung: So besitzen die richtigen Verfassungen gute Gesetze und verfehlte Verfassungen verfehlte Gesetze (vgl. Pol. III, 11: 1282b8–13). 334 Selbstverständlich muss dabei beachtet werden, dass politeia auch die Bürgerschaft meinen kann (zum Bedeutungsumfang siehe Mulhern 2015). 335 Vgl. Kamp 1990, 87–94. 336 Vgl. Hansen 1995, 65. Auch Miller hält eine Übersetzung mit »constitution« für gerechtfertigt (vgl. Miller 2007b, 83 f.).

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Eben dieses Prinzip des geregelten Wechsels der Regierenden aber ist es, das bis zum heutigen Tage das Wesen des Verfassungsstaates ausmacht. Jegliches Verständnis des Verfassungsstaates, aller »Konstitutionalismus«, wie die Angelsachsen sagen, auch der spätmittelalterliche und der neuzeitliche, ist aus aristotelischer Wurzel erwachsen. 337

Hier finden wir also sogar eine sehr starke Identifizierung, der ich aufgrund der Ergebnisse von Kapitel 1.1.5.4 nicht folgen will: Grundsätzlich scheint sich Sternberger etwas zu stark auf das Problem von Herrschaft und Regierung zu konzentrieren, was sich besonders an seinen Kriterien für einen Verfassungsstaat zeigt: 1) die Prozedurregel für den Wechsel der Regierung, 2) die von der Willkür abgegrenzte Gesetzlichkeit solcher Regelungen und 3) die Ordnung der Ämter oder Staatsgewalten im Gegensatz zu unbestimmten Herrschaftsbefugnissen. 338 Somit ist auch dieses Verfassungsverständnis stark auf distributive Fragen konzentriert. Etwas grundsätzlicher als Sternbergers Kriterien scheint mir die – leicht von Aristoteles’ Aufzählung abweichende – Liste von drei Punkten die Gemeinsamkeiten von aristotelischen und heutigen Verfassungsbegriffen zu treffen: Erstens kennen sowohl die moderne als auch die aristotelische Konzeption den Vorrang der Verfassung vor den Gesetzen, zweitens definieren beide den Zweck der Gemeinschaft, und drittens geht es ihnen auch um eine Regelung der Ämter. 339 Besonders wichtig für das Verständnis der aristotelischen Verfassungstheorie ist der erste Punkt der obigen Aufzählung, also die Funktion der Verfassung als Metaordnung zu den Gesetzen. Hier gilt es streng zu beachten, dass die Verfassungen einen klaren Vorrang gegenüber den Gesetzen aufweisen. Warum aber sollen die Gesetze sich eigentlich nach den Verfassungen richten und nicht umgekehrt? Weil die Verfassungen die Zwecke vorgeben und die Gesetze die Mittel dafür sind. Daher ist die Gesetzesgeleitetheit für eine Regierungsform nur ein relativer Maßstab der Güte. Sofern nämlich die Verfassung bereits unter die verfehlten Formen fällt, rettet sie eine Orientierung an den Gesetzen normativ auch nicht mehr völlig. Da Sternberger 1978, 105. Vgl. Sternberger 1980, 47. 339 Über diesen sollten allerdings die Unterschiede nicht vergessen werden. Problematisch scheint etwa, dass sich kein ausdrücklicher Grundrechtekatalog bei Aristoteles findet. 337 338

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etwa eine oligarchische oder demokratische Verfassung für Aristoteles von vornherein verfehlte, nämlich eigennützige, Zwecke verfolgt, korrigiert eine Gesetzesorientierung diesen grundsätzlichen Mangel nicht mehr. Schließlich orientieren sich die Gesetze an den Verfassungen. Deswegen ist – wie wir sehen werden – nicht in jedem Falle eine Gesetzesherrschaft der Herrschaft eines Menschen überlegen, da eben demokratische oder oligarchische Gesetze die richtigen Ziele verfehlen. 340 So ist also nicht die Gesetzesgeleitetheit das wichtigste Kriterium für eine gute Regierung, sondern die Frage nach der besten Verfassung. Trotzdem darf man nicht in den umgekehrten Fehler verfallen und das Gesetzesthema bei Aristoteles völlig unterschätzen. Gerade für die Verfassungslehre spielen die Gesetze eine bedeutende Rolle: Zwar sind die Gesetze nach den Verfassungen auszurichten und insofern nachgeordnet. Allerdings dürfen wir rechtliche Ordnungen nur dann Verfassungen nennen, wenn sie Gesetze als allgemeine Regeln eingerichtet haben und Beamte 341 als Entscheidungsträger über die Einzelfälle einsetzen: Jemand aber, der sagt, eine solche Demokratie sei überhaupt keine Verfassung, hat wohl recht mit diesem Vorwurf. Denn wo nicht die Gesetze herrschen, besteht keine Verfassung. Es ist nämlich notwendig, dass die Gesetze über alles [Allgemeine] herrschen, die Ämter aber das Einzelne, [und eine solche Ordnung] muss man als Verfassung ansehen. 342

Folgerichtig spricht er dann in den nachfolgenden Zeilen und verwandten Stellen einer Abstimmungsdemokratie den Verfassungsstatus deswegen ab, weil sie diese rechtstheoretischen Grundanforderungen nicht erfüllt – und nicht wegen ihrer moralischen Verwerflichkeit (wie bei Platon). Obwohl – wie gezeigt – die höhere Ebene der Verfassungen letztlich noch wichtiger ist, darf also die Ebene der Gesetze nicht vernachlässigt werden. Zwar gibt die Verfassungsordnung den Rahmen für die Gesetze ab und ist ihr insofern vorgeordnet, jedoch buchstabieren die Gesetze – zumindest sollte dies so sein – den Geist der Verfassung aus und übersetzen die Ziele und Zwecke der Bürgerschaft in konkrete Handlungsanweisungen. Daher lässt sich am VerVgl. Pol. III, 10: 1281a34–39. Dass wir die damaligen Amtsträger trotz aller natürlich vorhandenen Unterschiede durchaus mit dem Begriff des Beamten belegen dürfen, hat Bleicken nachgewiesen. Vgl. Bleicken 1995, 269–272. 342 Pol. IV, 4: 1292a30–34 (Übersetzung des Verfassers, basierend auf Schütrumpf). 340 341

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hältnis einer Bürgerschaft zu ihrer Gesetzesordnung die Qualität ihrer Ziele und Zwecke in einem gewissen Umfang ablesen. Einerseits sind hier die Vernünftigkeit und Gerechtigkeit dieser Regeln zu betrachten, andererseits natürlich ihre Befolgung zu überprüfen. Damit eng verknüpft ist natürlich der zweite Punkt, nämlich die Festsetzung der Gemeinschaftsziele: So werden wir später in den jeweiligen Kapiteln zu den verschiedenen Verfassungstypen sehen, dass diese sich tatsächlich durch verschiedene Ziele unterscheiden. Beispielsweise bezweckt die Verfassungsordnung der Oligarchie vor allem den Reichtum, diejenige der Demokratie die (demokratisch) verstandene Freiheit usw. Dies überrascht angesichts unserer bisher erarbeiteten Ergebnisse keineswegs, denn die Verfassungsordnung entspringt eben einer Verständigung der Bürger über Fragen des guten Lebens, genauer gesagt, wie Probleme des Guten/Bösen, Gerechten/Ungerechten und Nützlichen/Schädlichen behandelt werden sollen. Da die Polis ja gemeinschaftlich das höchste Gut der eudaimonia anpeilt und dafür eine rechtliche und keine bloß machtpolitisch diktierte Antwort finden sollte, muss sich die Polis als eine solche Rechtsordnung in Gestalt der Verfassungsausrichtung um die Beantwortung der Frage nach den Zielen und Zwecken der Gemeinschaft kümmern. Selbstverständlich weiß Aristoteles drittens nur allzu gut, dass eine Rechtsordnung nicht ohne eine flankierende Machtordnung bestehen kann und eine Rechtsordnung sich nicht selbst regelt. 343 Daher hält er eine Polis ohne Ämter für nicht vorstellbar. 344 Selbstverständlich brauchen wir auch in der aristotelisch konzipierten Rechtsordnung verschiedene Ämterklassen, die mit der Erstellung, Beurteilung und Durchsetzung von Rechtsregeln betraut sind. Höchst interessant ist dabei, dass schon Aristoteles die verschiedenen Ämter in drei Hauptklassen einordnet. Grob entsprechen sie einer Art Legislative, einer Art Exekutive und der Judikative: Es gibt bei allen Verfassungen drei Teile; es ist notwendig, dass der gute Gesetzgeber versteht, wie man mit ihnen das Nützliche für jede Verfassung [erreicht]. Wenn diese Dinge sich gut verhalten, ist es notwendig so, dass sich die Verfassung gut verhält; und die Unterschiede zwischen den Ver343 Ob der Ansatz bei der Rechtsordnung aber machtpolitisch hoffnungslos naiv ist, wie Hobbes dem Aristoteles vorwirft, erörtere ich S. 160–166. 344 Vgl. Pol. IV, 4: 1291a34–36. Noch stärker auf den Machtaspekt stellt Pol. III, 15: 1286b27–37 ab.

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fassungen müssen darin bestehen, dass jeder dieser Teile anders ausgebildet ist. Einen dieser drei Teile bildet das über die öffentlichen Dinge beratende; der zweite [Teil] sind die Ämter (d. h. was für Ämter es geben muss, worüber sie entscheiden sollen und wie sie [= die Amtsinhaber] gewählt werden sollen); der dritte [Teil] ist die Rechtsprechung. 345

Natürlich sind die Trennlinien zwischen diesen drei Teilen nicht völlig identisch mit den modernen Abgrenzungen, da etwa der beratende Teil durchaus starke exekutive Kompetenzen hat. Dennoch lässt sich die Bezeichnung dieser Ämterklassen mit den heutigen Namen durchaus rechtfertigen. Schließlich bezeichnet er die »Exekutive« als befehlende, die »Legislative« als beratende und die »Judikative« als urteilende Gewalt. Meines Erachtens lässt sich aufgrund dieser gemeinsamen Grundzüge die aristotelische Einteilung durchaus mit der modernen vergleichen. Schließlich ordnet bereits bei Aristoteles die Verfassung erstens die Rechtssetzung (Legislative), zweitens die Rechtsvollstreckung (Exekutive) und drittens die Rechtsprechung (Judikative). Naheliegenderweise stellt sich hier die Frage, ob Aristoteles somit als Vorläufer einer Theorie von »checks and balances« gelten kann. Dafür argumentiert beispielsweise Miller, da Aristoteles an manchen Stellen die politischen Rechte unter verschiedene Gruppen aufteile und auch Techniken beschreibe, den extremen Regierungsformen Grenzen zu setzen. 346 Wie auch Miller selbst einschränkt, kennt jedoch Aristoteles nicht den modernen Gedanken der gegenseitigen Kontrolle der verschiedenen Institutionen. Da die modernen balances vor allem die Ausbalancierung der Macht zwischen den verschiedenen Gewalten Exekutive, Legislative und Judikative und weniger die Balance im Machtverhältnis der verschiedenen soziologischen Gruppen in der Gemeinschaft meinen, kann man Aristoteles nur in einem solch veränderten Sinne als Vorläufer einer »balancierten Regierungsweise« betrachten. Andererseits scheint er dennoch ein wichtiger Vorläufer von checks zu sein, denn namentlich in Pol. III, 11: 1281b21–34 und Pol. VI, 4: 1318b21–1319a4 findet sich eine Kontrolle der regierenden Besten durch den dêmos. 347 Allerdings gilt 345 Pol. IV, 14: 1297b37–1298a3 (Übersetzung des Verfassers, basierend auf Gigon und Schütrumpf). Die Kompetenzen der Legislative werden 1298a3–1299a2 erläutert, diejenigen der Exekutive 1299a3–1300b12 und zu guter Letzt diejenigen der Judikative 1300b13–1301a15. 346 Vgl. Miller 1997, 259. 347 Jedoch sollte dabei nicht vergessen werden, dass dies keine originelle Leistung von

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auch hier derselbe Einwand, dass es sich vorrangig um soziologische und nicht um institutionelle checks handelt. Aristoteles denkt hier an eine Kontrolle einer sozialen Gruppe durch eine andere, aber nicht zum Beispiel an eine Kontrolle der anderen Gewalten durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit 348. Zusammenfassend können wir die Bedeutung der Verfassung – auch für die aristotelisch verstandene – Politik kaum überschätzen. Somit könnte auch Aristoteles – abseits bereits behandelter Unterschiede – folgendem Satz von Rawls sicherlich problemlos zustimmen: »Zusammengenommen legen die wichtigsten Institutionen die Rechte und Pflichten der Menschen fest und beeinflussen ihre Lebenschancen, was sie werden können und wie gut es ihnen gehen wird.« 349

1.2.2 Der Gegensatz zur platonischen Verfassungslehre Soweit scheint nun in dieser recht allgemeinen Charakterisierung der Verfassung auf den ersten Blick kein Unterschied zwischen Platon und Aristoteles zu bestehen: Schließlich hat auch Platon als die zwei Hauptaufgaben der Verfassung die richtige Ämterverteilung und die Gesetzesorganisation bestimmt. 350 Ebenfalls unstrittig dürfte sein, dass sich auch für Platon in der Verfassung die Ziele und Zwecke der Bürgerschaft zeigen. Oder sollte gerade hier ein entscheidender Unterschied zwischen Platon und Aristoteles liegen? Aristoteles darstellt, da in verschiedenen Poleis Kontrollen und Rechenschaftsberichte der Amtsträger vorgesehen waren. 348 Zum einen sehen wir dies schön in Pol. III, 11: Aristoteles lässt den dêmos eine wichtige Kontrolle ausüben, indem die aristoi ihm gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Hier geht es also eindeutig um eine Kontrolle der einen soziologischen Gruppe durch eine andere. Zum anderen finden wir in Pol. V, 8: 1308b25–28 den zugrunde liegenden Gedanken ausgesprochen, dass man in einer Polis stets Aufgaben und Ämter entgegengesetzten Gruppen übertragen sollte und so eine wechselseitige Überwachung schafft. Es wäre interessant zu erfahren, was sich Aristoteles unter der Arbeit der bei ihm genannten Verfassungsgerichtshöfe vorstellt (vgl. Pol. IV, 16: 1300b20 f. und Pol. VI, 2: 1317b25–27). 349 Rawls 1979, 23. 350 Vgl. Nomoi V. Buch 735a. Allerdings scheint die zweite derartige Stelle (Nomoi VI. Buch 751a) eher darauf hinzudeuten, dass Platon damit geregelt wissen möchte, welche Behörden welche Gesetze zu exekutieren haben.

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Über die Berechtigung der aristotelischen Kritik an der platonischen Verfassungstheorie ist in der Forschung immer wieder sehr kontrovers debattiert worden. So rechnen etwa Susemihl/Hicks die Erziehungsbestimmungen ab der Mitte des V. Buches der Nomoi bis zum Ende von Buch VIII zu einer platonischen Verfassungskunde und wollen so eine ausführliche Verfassungsbesprechung in den Nomoi gerettet wissen 351 oder führt Schütrumpf die Ämterbesetzungsregeln in der ersten Hälfte an 352. Auf der anderen Seite sieht Bien bei Platon einen »Verzicht auf eine durchgeführte politische Theorie als Verfassungstheorie« 353. Während der Einwand von Susemihl/Hicks weniger triftig ist – denn die Erziehung wird auch in den Nomoi in einem aristotelischen Sinne durch Gesetze geregelt –, kann sich Schütrumpf – wie oben angeführt – tatsächlich darauf berufen, dass Platon und Aristoteles die Hauptaufgaben einer Verfassung ähnlich beschreiben. Jedoch meine ich, dass sich trotz dieser ähnlichen Ausgangsbestimmung die weitere Ausgestaltung ziemlich unterscheidet, was auch Schütrumpf indirekt bestätigt, wenn er davon spricht, dass sich Aristoteles in seiner Kritik auf einen engeren Begriff des Politischen beschränke. Aber hören wir zunächst einmal Aristoteles selbst! Sehr eindeutig grenzt er sich gegenüber möglichen Interpretationen ab, die Platon als seinen Vorgänger in Fragen der Verfassungslehre bezeichnen würden. Harsch formuliert er seine Kritik in mehrerlei Hinsichten, die wir daher an dieser Stelle zusammentragen sollten. Erstens: Ganz grundsätzlich wirft er Platon vor, sich in den Nomoi breit über Gesetze, jedoch kaum über Verfassungen geäußert zu haben. 354 Zweitens: Eine Zusammenschau verschiedener Kritikpunkte an Platons politiVgl Susemihl/Hicks 1894, 247 § 4. Vgl. Schütrumpf 2013, 191 f. Noch zustimmend Schütrumpf 1991b, 220 Anm. 22,23. 353 Bien 1968/69, 295. 354 Siehe die entsprechende Kritik an den Nomoi in Pol. II, 6: 1265a1 f. Im Widerspruch zur angeblichen Gesetzesfixiertheit von Platon steht das Eigenlob des Aristoteles am Ende der Nikomachischen Ethik, dass die Früheren die Fragen der Gesetzgebung unerörtert gelassen hätten (vgl. EN X, 10: 1181b12 f.). Da Aristoteles im II. Buch der Politik in seiner Kritik an Platon häufig recht gedrängt formuliert, haben sich viele Missverständnisse ergeben. Dagegen kann der Nomoi-Experte Morrow in seiner Analyse der aristotelischen Kritik und der dazugehörigen Nomoi-Stellen zeigen, dass Aristoteles meist Recht hat. Vgl. Morrow 1960, 145–162. Schütrumpf reduziert die Anzahl der aristotelischen Missverständnisse sogar noch weiter. Vgl. Schütrumpf 1991b, 216–237 (also den Kommentar zu Pol. II, 6). 351 352

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scher Philosophie scheint ein von Aristoteles häufig vorgebrachtes Kritikmotiv zu ergeben: In der Sicht von Aristoteles neigt Platon zu einer zu starken normativen Überformung der Fakten, womit also Platon nicht erst in einer normativen Beurteilung von feststehenden Tatsachen Irrtümer beginge, sondern bereits auf der zuvor liegenden Ebene der Tatsachenbeschreibung. Zunächst zum ersten Kritikpunkt der angeblichen Reduktion der politischen Philosophie auf Gesetzeskunde (statt einem Schwerpunkt auf Verfassungsanalyse). Sogar wenn Aristoteles nicht einfach einen billigen Scherz auf Kosten des Werktitels Nomoi gemacht hat: Wie können wir diese Kritik beispielsweise mit der Verfassungslehre im VIII. Buch der Politeia oder der Verfassungstypologie im Politikos in Einklang bringen? Auf jeden Fall müssen wir dabei berücksichtigen, dass Aristoteles ausdrücklich keine großen Unterschiede zwischen Nomoi und Politeia sieht. 355 Dennoch scheint es nur angemessen und fair zu sein, neben den Nomoi auch die beiden anderen Hauptwerke der platonischen politischen Philosophie in die Analyse mit einzubeziehen. Sicherlich am unproblematischsten ist in dieser Frage die Politeia, da sie in ihrem personalistischen Interesse an der Herrschaft der Philosophenkönige und deren Ausbildung tatsächlich kaum Interesse an einer abstrakteren Diskussion über das – zunächst deskriptiv zu beschreibende – allgemeine Wesen der Verfassung aufbringt. Stattdessen widmet sie sich in ihren Passagen zur Verfassung gleich wesentlich konkreter der normativen Bewertung verschiedener Verfassungstypen. Neben diesem grundsätzlichen Mangel fällt dabei – wie übrigens auch im Politikos – auf, dass im Hintergrund der vorgestellten Verfassungstypologien eine Verfallstheorie steht. So wird sowohl im Politikos als auch in der Politeia in konsequent personalistischer Weise die Herrschaft von gesetzesenthobenen tugendhaften Einzelpersonen als normatives Ideal hingestellt, während die einzelnen Verfassungstypen abseits der perfekten Monarchie/Aristokratie allesamt als Degenerationen zu betrachten sind. 356 Wenn wir schließ355 Vgl. Pol. II, 6: 1264b26 f. Auch Horn sieht insgesamt eher eine Kontinuität zwischen platonischem Mittel- und Spätwerk (vgl. Horn 2008, 3, anders Schütrumpf 1991b, 217). 356 Vgl. für den Degenerationsgedanken Politeia VIII. Buch 544a mit Politeia IV. Buch 445d–e sowie Politikos 301e–303b. Samaras 2015, 124, Fußnote 6 hält hingegen den Politikos trotz zugegebener Unterschiede für die Basis von Pol. III, 7. Schütrumpf legt auch für Pol. IV, 8 das Schema des Politikos zugrunde (vgl. Schütrumpf 1996, 332 Anm. 25,20).

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lich die Nomoi heranziehen, entbehrt der Vorwurf des Aristoteles nicht völlig der Berechtigung. Zwar macht sich Platon an vereinzelten Stellen tatsächlich die erwähnten Gedanken zur Rolle der Verfassung, aber hauptsächlich widmet er sich in diesem Werk tatsächlich vor allem der Erarbeitung verschiedenster Gesetze und untersucht nicht in erster Linie das Thema der politeia. Somit denkt Aristoteles meines Erachtens wirklich viel intensiver als sein Lehrer über eine Verfassungstheorie nach, was sich allein schon quantitativ an einschlägigen Textseiten bemerkbar macht. Noch wichtiger ist freilich der qualitative Unterschied, denn Platon rückt tatsächlich nicht so sehr den Verfassungsgedanken in den Mittelpunkt. Zwar kommt er auch immer wieder auf das Thema der Verfassung zu sprechen, jedoch resultiert daraus keine wissenschaftliche Verfassungsanalyse mit einer echten Institutionenkunde und einem wissenschaftlichen Interesse für Aufstieg, Erhalt und Niedergang 357 von Verfassungen. Stattdessen finden wir bei Platon eine vergleichsweise moralisierende Polemik für oder wider bestimmte Einzelverfassungen. 358 Besonders deutlich sieht man dies an Stellen in den Nomoi, an denen Platon der Demokratie, der Oligarchie und der Tyrannis die Bezeichnung der Verfassung (politeia) verweigert. 359 Anders formuliert: Platon verengt den Begriff des Politischen (im Sinne von p1) auf p2 und hält nur Vertreter von p2 überhaupt für einen Typus von p1. 360 Rowe hingegen schreibt Aristoteles eine Auffassung ähnlich wie Platon zu, was ich im Folgenden zu problematisieren suche. 361 Problematisch an der platonischen Sicht ist, dass sie letztlich zu stark moralisiert und den Verfassungsgedanken normativ überfrachtet, wobei sie sich allerdings mit dieser Aberkennung des Rechtssta357 Beispielhaft etwa die aristotelische Kritik an der platonischen Schilderung der Verfassungsumstürze: Pol. V, 12: 1316a1–1316b27. 358 »Zentrales Forschungsobjekt der Aristotelischen ›Politik‹ ist die πολιτεία.« (Bien 1985, 285) ist für Aristoteles zutreffend, während wir also für die verschiedenen politischen Dialoge Platons nicht dieselbe Aussage treffen können. 359 Vgl. Nomoi VIII. Buch 832b–c oder Nomoi IV. Buch 715a–b bzw. 712e–713a. 360 Auch Yack 1993, 61 beschränkt p1 auf p2, wenn er schreibt: »His understanding of political community effectively restricts the term to republics, that is, to those communities that develop the institutions of public accountability and the sharing of power that are part of the practice of political justice.« Vergleiche auch die vorsichtige Diskussion, inwieweit heutige liberale Demokratien diesem Modell genügen (vgl. Yack 1993, 76). 361 Rowe 2005, 369.

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tus für manche Verfassungen eher Probleme einhandelt. So zeigt das Beispiel Aristoteles, dass mit einer derartigen platonischen Kritik nicht viel gewonnen ist. Aristoteles kritisiert schlechte Herrschaftsformen moralisch nicht weniger scharf als Platon. Dennoch erkennt Aristoteles ihnen trotz ihrer moralischen Minderwertigkeit nicht ihren Rechtsstatus als Verfassung ab – nur bei den Extremformen der verfehlten Verfassungen bestreitet er den Rechtsstatus als Verfassung, was er jedoch rechtstheoretisch und nicht ethisch begründet. 362 Dadurch bietet Aristoteles nicht nur eine befriedigendere Lösung aus rechtlicher Sicht, sondern stimmt darin auch mit der gängigen Praxis seiner Zeit überein: Wie Gschnitzer in einer Studie gezeigt hat, haben die alten Griechen – bei moralisch fragwürdigen Tyrannen zwar etwas zähneknirschend – auch persönliche Herrschaftsformen rechtlich anerkannt. So sind sogar despotische Herrschaften, die durch ihre persönliche und nicht dem Polisgedanken unterworfene Regierung dem Gemeindeprinzip nicht unterworfen sind, trotzdem von Polisgemeinden – im Sinne der politischen Herrschaft bei Aristoteles – rechtlich ohne Probleme anerkannt worden. 363 Platon hingegen gewinnt argumentativ nichts dadurch, wenn er bestreitet, dass eine politeia immer eine Rechtsordnung darstellt; ob sie gerecht ist, stellt wie gesagt eine andere Frage dar. Schließlich ist der Zwang auch beim moralisierenden Absprechen des Rechtsstatus trotzdem noch vorhanden; ob man diesem Zwang folgt, dies ist damit noch nicht vorentschieden (man denke nur an das aristotelische Tyrannenbeispiel in EN III, 1). Jede politeia hat also die Gestalt der positiven Rechtsordnung; 364 ob ihr Gehalt/Inhalt dem Gerechten schlechthin (sozusagen der natürlichen Rechtsordnung) entspricht, ist eine andere Frage; und erst diese zweite Frage entscheidet letztlich über die moralische Beurteilung. In Anlehnung an eine allerdings nicht auf Platon gemünzte Bemerkung von Luhmann 365 lässt sich sagen, dass Platon rechtstheoretisch nicht zwischen Unrecht und Nichtrecht unterscheidet und somit sein normativ-wertendes Werturteil das deskriptiv-wissen362 Fortenbaugh bemerkt zwar den Unterschied zwischen Platon und Aristoteles, schreibt aber Aristoteles als Motiv für seinen Gegensatz zu seinem Lehrer die unterschiedliche Wertschätzung der Alltagssprache zu. Vgl. Fortenbaugh 1991, 232 f. 363 Vgl. dazu Gschnitzer 1960 (v. a. 47–56). 364 Somit bestimmt Aristoteles den Verfassungsgedanken und den Gedanken des (positiven) Gesetzes verhältnismäßig formal. 365 Vgl. Luhmann 1993, 27.

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schaftliche Urteil trübt. Schließlich ist auch eine ungerechte Rechtsordnung deskriptiv eine Rechtsordnung und gehört damit zur Klasse der Rechtsordnungen und nicht in eine komplett andere ontologische Gattung (etwa der Klasse der Kuchensorten). Anders ausgedrückt: Auch Unrecht gehört deskriptiv zur Klasse des Rechts und nicht etwa des Nicht-Rechts; somit kann Platon nicht ohne große rechtstheoretische Probleme normativ missliebigen Rechtsordnungen – wie er es mit der Aberkennung des Rechtstitels politeia jedoch tut – genau diesen Status als Rechtsordnung aberkennen und nur Vertreter des Typus p2 als Fälle von p1 anerkennen. Aristoteles hingegen trennt Recht und Moral stärker, ohne sie völlig auseinanderfallen zu lassen. Damit setze ich mich also in einen Gegensatz zu MacIntyre, der Recht und Moral bei Aristoteles gar nicht getrennt wissen will. 366 Wie wir bereits gesehen haben und weiterhin sehen werden, behandelt eine Verfassungsdiskussion in ihrer normativen Dimension hauptsächlich Themen des Guten, Gerechten und Nützlichen. Damit lässt sich die Sittlichkeit einer Verfassung für Aristoteles sehr wohl rational bewerten. Somit fallen Recht und Moral trotz einer stärkeren Trennung als im Platonismus natürlich nicht völlig auseinander. Schließlich würden die staatlichen Normen bei einem völligen Auseinanderklaffen von Recht und Moral wie die berühmte von Augustinus angenommene völlig verdorbene Räuberbande nur auf Zwang und Gewalt beruhen, ohne im Geringsten auf das Gerechte zu achten. Solange ein positives Recht nicht vernünftig rechtfertigbar ist, betrachtet es Aristoteles als willkürlich und folglich als normativ minderwertig. Allerdings folgt – wie dargelegt – aus der normativen Minderwertigkeit nicht die Aberkennung des deskriptiven Status Verfassung. Dass eine bestimmte Verfassung in Kraft ist, dies ist also eine Sache, ob sie so bestehen soll, jedoch eine andere. So liegt also ein wesentlicher Unterschied zwischen Platon und Aristoteles darin, dass Platon die Frage, ob wir eine bestimmte Gemeinschaftsordnung als Verfassung ansprechen dürfen, vom Rechtsinhalt her entscheidet (»Ist diese Herrschaft eine ungerecht-parteiische Herrschaft?«). Dagegen gründet Aristoteles seine Beurteilung darauf, ob sie die Rechtsform einer Verfassung einhält (»Erfüllt diese Ordnung die Anforderung, mit allgemeinen Regeln bestimmte Aufgaben zu erfüllen?«). Auch die Frage nach der Legitimität von ungerechten Normen lässt sich laut Aristoteles nicht durch das Ab366

Vgl. MacIntyre 1988, 205.

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sprechen des Rechtsstatus als positiv geltender Verfassung lösen. Letztlich verkürzt Platon den Geltungsgedanken in der Verfassungsproblematik auf seine normative Seite (Soll diese bestimmte Verfassung gelten?) und vernachlässigt die deskriptive Seite (Gilt diese Verfassung?). Dagegen beschreibt Aristoteles zunächst die juristische Geltung, um dann in einem zweiten Schritt die normative Legitimität zu hinterfragen. Damit ermöglicht Aristoteles dem Bürger einer solchen Verfassung oder Außenstehenden aber ebenso eine Kritik der ungerechten Zustände wie Platon mit seiner Lösung, ohne sich freilich dessen Problematik einzuhandeln. Schließlich erhält Platon mit dieser rechtstheoretisch bedenklichen Lösung, missliebigen Verfassungen ihren Status als Rechtsordnung abzusprechen, keine bessere Ausgangsposition für eine Kritik an bestehenden Verfassungen, die auch von einer aristotelischen Position aus möglich ist. Ob wir etwas als Verfassung oder als Gesetz bezeichnen können, dies wird bei Aristoteles folglich über formale Fragen entschieden; die inhaltliche Prüfung, also die Frage nach dem Gerechten, liegt auf einer anderen Ebene. Ob die Inhalte der Normen moralisch gerechtfertigt sind (die Frage nach dem an sich Gerechten), entscheidet jedoch nicht über den Status als Verfassung oder Gesetz. Somit ist mit der Anerkennung, dass etwas eine (positive) Norm ist, im Gegensatz zur platonischen Sicht nicht auch schon präjudiziert, ob wir diese Norm als legitim anerkennen und ihr folgen sollen. In der Frage nach dem Bürgerrecht findet sich diese aristotelische Haltung noch einmal bestätigt, was Curtis Johnson in einem Aufsatz bestritten hat. Darin deutet er die Frage nach der Identität der Polis zu einer Frage nach der Bürgertugend und nach der moralischen Korrektheit der Regierung um 367 und unterscheidet – textlich allerdings nicht belegbar – zwischen einem vollkommenen und wahren Bürger (also jemandem, der gerechter Weise ein Bürger ist) und einem Bürger in einem abgeleiteten und abweichenden Sinne 368. Im Gegensatz dazu zeigt Pol. III, 2 jedoch deutlich, dass Aristoteles die Einbürgerung mancher Gruppen durch Kleisthenes zwar für ungerecht und daher für Unrecht hält, aber dennoch ihre juristische Gültigkeit ohne Probleme bestätigt; 369 ebenso ist ausdrücklich auch ein

367 368 369

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Vgl. Johnson 1984, 82 f. Vgl. Johnson 1984, 84. Vgl. Pol. III, 2: 1275b34–1276a6.

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ungerechter Herrscher dennoch als Herrscher zu betrachten 370. Johnson trennt die normativen und die deskriptiven Fragen zu wenig, weswegen für ihn die – meiner Deutung nach eigentlich vorrangig deskriptive – Frage nach der Bürgerdefinition zentral die Frage beantworte, wer es verdiene, ein Bürger zu sein. 371 Natürlich gipfelt die Frage nach der Bürgerdefinition letztlich in der normativen Frage, wer denn gerechterweise diesen Status innehaben solle, aber aus der Ungerechtigkeit der Bürgerrechtsverleihungen zu Zeiten des Kleisthenes folgt nicht im mindesten eine begriffliche oder gar rechtliche Minderwertigkeit. 372 Um dasselbe Problem aus einer anderen Perspektive zu beleuchten: Die Antwort auf die deskriptive Frage »Wer ist überhaupt Bürger?« lautet, dass dieser grundsätzlich Ämter der »Legislative« und »Judikative« bekleiden können darf. 373 Schließlich hält Aristoteles es für problematisch, den Bürgerstatus an die Abstammung zu knüpfen. 374 Nun lehnt Aristoteles aber im Gegensatz zur Meinung von Hier unterscheidet sich die Position der Politik (vgl. Pol. III, 2: 1276a2 f.) von der noch deutlich platonischen Lösung in der Eudemischen Ethik (vgl. EE I, 5: 1216a23– 27). In der EE spricht Aristoteles nämlich noch davon, dass die meisten Politiker gar nicht wahrhaft diesen Namen verdienten. 371 So aber Johnson 1984, 86. 372 Wesentlich weitergehen möchte Schütrumpf 1991b, 400 Anm. 52,18, der Probleme der Rechtmäßigkeit hier völlig verabschiedet sieht. Obwohl Rosler 2005, 23 ff. zunächst herausarbeitet, wie deskriptiv Aristoteles solche Begriffe wie »Bürger« oder »Regent« verwendet, vermischt er im Fortgang der Arbeit doch normative und deskriptive Erwägungen, denn es gebe sowohl technische als auch evaluative Bedingungen für den Verfassungsstatus. Entsprechend sieht er auf Seite 30 schließlich keinen Widerspruch darin, dass Aristoteles manchmal die Tyrannis als Verfassungstypus bezeichne und manchmal aus moralischen Erwägungen nicht. Im ersten Fall wäre es nur ein »intra-systematic viewpoint of its subjects and officials« (Rosler 2005, 30). Demgegenüber kann dieser angebliche Widerspruch zwischen dem Anerkennen und dem Aberkennen des Verfassungsstatus der Tyrannis dadurch aufgelöst werden, dass es bekanntlich verschiedene Ausformungen der Tyrannis gegeben hat: Einerseits gab es durchaus auch gesetzliche Tyrannenherrschaften (mit einer »rule of law« und Ämtern), die eben als Verfassungen gelten können. Andererseits gab es jedoch auch extreme Tyrannenherrschaften, die gar nicht mehr gesetzlich regiert werden: Nicht umsonst zieht Aristoteles in Pol. IV, 4: 1292a19 f. eine Parallele zwischen epitagmata-Tyrannen und psêphismata-Demokratien. Wenn aber am Ende von Pol. IV, 4 den psêphismata-Demokratien wegen ihrer Ablehnung der »rule of law« der Verfassungsstatus aberkannt wird, dürfen wir wohl zu Recht dies auch für ihren tyrannischen Zwilling, die epitagmata-Tyrannis, annehmen. 373 Vgl. Pol. III, 1: 1275b17–20 und Pol. III, 5: 1278a35 f. 374 Vgl. Pol. III, 2; 1275b21–34. 370

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Kelsen die demokratische Bestimmung des Bürgers, »ein Bürger ist derjenige, der an Ämtern teilnimmt« 375 nicht etwa aus ideologischen Gründen ab, wobei er damit ein passives Unterworfensein der Bürger bezweckte. 376 Vielmehr geht es Aristoteles mit seiner Präzisierung des »Teilnehmen-Können« darum, dass er eine Definition des Bürgers findet, die auf alle Verfassungen passt. 377 Auch hier erweist sich also, dass Aristoteles bemüht ist, die rechtstheoretische Stringenz nicht vorschnell den eigenen politischen und ethischen Vorstellungen zu opfern. Erst nachdem er beschrieben hat, wie der Bürger rechtlich zu bestimmen ist, fragt er in einem zweiten, gesonderten Schritt danach, wer in einer besonders gerechten Polis denn überhaupt Bürger sein soll. Insgesamt ergibt sich also folgendes Bild: Tatsächlich kann sich Aristoteles darin bestätigt sehen, sich in der Frage nach der Verfassung von Platon scharf abzugrenzen. Für diese Arbeit hat dies den wichtigen Erkenntnisfortschritt gebracht, dass Aristoteles die Rechtsordnung relativ formal bestimmt und den (deskriptiv aufzufassenden) Status einer Rechtsordnung nicht von moralischen Gesichtspunkten abhängig macht. In Anlehnung an eine Unterscheidung von Hans Kelsen könnte man daher diese beiden Denker folgendermaßen charakterisieren: Aristoteles ist der reinere Rechtswissenschaftler, während Platon die Rechtsordnung stärker von der Rechtspolitik her denkt. So schafft Aristoteles eine wissenschaftliche Verfassungstypologie, die relativ unvoreingenommen die ganze Problematik zu ergründen und begründen sucht. Wenn Aristoteles sich dem Thema der Verfassung widmet, dann beschäftigt er sich eingehend mit den höchsten Gewalten der Polis, erforscht, vergleicht und klassifiziert die verschiedenen Verfassungen seiner gesamten Lebenswelt: Hier denke man einerseits an die berühmte Sammlung der verschiedensten Verfassungen, andererseits an die Besprechung diverser – auch Man beachte, dass Aristoteles mit der Hilfskonstruktion »unbegrenzter Ämter« auch die Teilnehmer an der Volksversammlung miteinschließt. 376 Vgl. Kelsen 1989b, 320 f.; diesen angeblichen Quietismus soll Aristoteles als oberste Bürgerpflicht und höchstes Ideal propagiert haben (vgl. Kelsen 1989b, 306 und 355 f.). 377 Anders noch einmal Johnson 1984, 89 Anmerkung 36. Wiederum eine andere Deutung steckt hinter der Kritik von Robinson (»That is as if we were to give the title of ›citizen‹ only to those few Englishmen who have both the right to vote in the House of Commons and the right to vote guilty or not guilty on a bench of magistrates.« (Robinson 1995, 7). 375

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ausländischer – Verfassungen in der Politik 378. Ebenso analysiert er die Bedingungen für Aufstieg, Erhalt und Niedergang von Verfassungen. Jedoch dürfen wir Aristoteles nicht etwa dahingehend missverstehen, dass er eine theoretizistische Politologie als rein deskriptive Beschreibung der bestehenden Verhältnisse konzipieren möchte. Stattdessen soll sie neben ihrer deskriptiven Aufgabe auch eine Kritik leisten und die Rechts- und Machtinteressen hinter den verschiedenen Rechtslehren aufdecken und so zu einer Veränderung der Gemeinschaft beitragen. 379 Wenn sich eine Politologie nur als wertneutrale wissenschaftliche Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse versteht, täuscht sie sich über ihre eigenen normativen Voraussetzungen. Gerade diesen Fehler versucht die aristotelische Politologie zu vermeiden und möchte weder eine kritiklose Wissenschaft des Bestehenden sein noch eine wissenschaftsfreie, rein rechtspolitische Ideologie verfechten. Genau genommen ist Platons Lösung der Gleichsetzung von Unrecht mit Nichtrecht sogar vor dem Hintergrund seiner eigenen politischen Interessen für Aristoteles gefährlicher, da sie entweder eine Polis noch weiter in Chaos stürzen oder im Gegenteil ohne Resultate bleiben wird. Die Problematik der allzu starken Identifizierung von Sein und Sollen von Verfassungen lässt sich aus folgender Überlegung ersehen: Entweder kann aus dem Nichtsollen dieser Normen eine radikal-»revolutionäre« (»Diese angebliche Verfassung ist gar keine, fegen wir sie hinweg!«) oder aus dem Sollen der bestehenden Verfassung eine tendenziell reaktionäre Haltung hervorgehen. Tatsächlich wird Platon häufig entweder als »Revolutionär« oder als Reaktionär gezeichnet, wobei beide Etikettierungen weder völlig ungerechtfertigt noch völlig gerechtfertigt sind. Natürlich ließe sich bei schlechten Verfassungsordnungen auch die Konsequenz ziehen, sich gewissermaßen in die innere Emigration zu begeben. Tatsächlich gibt Platon teilweise in manchen Dialogen genau solche quietistischen Ratschläge, die aber genauso wie die revolutionären oder die reaktionären Haltungen einem Reformismus entgegenwirken. Ganz im Ge378 Überhaupt darf der Politiker nicht nur die Innenpolitik pflegen, sondern sollte auch an die Außenpolitik denken: vgl. Pol. II, 7: 1267a17–19 und Pol. II, 6: 1265a20– 24. 379 Natürlich lässt sich die kritische Frage auch an Aristoteles selbst richten, ob seine rechtswissenschaftliche Lehre nicht allzu sehr von fragwürdigen rechtspolitischen Interessen bestimmter Gruppierungen geleitet wird.

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genteil macht sich Platon etwa in der Politeia über reformistische Projekte regelrecht lustig. 380 Wenn jedoch Platon und Aristoteles zwar in der Diagnose der Unordnung der politischen Verhältnisse ihrer Zeit übereinstimmen, so trennen sich ihre Wege – zusätzlich zu den ohnehin bereits erarbeiteten Unterschieden – auch dahingehend, dass in aristotelischer Sichtweise der platonische Furor eine allzu radikale Reinigung der Leinwand plant und damit erst recht nicht für Frieden in einer Polis sorgen kann. Oder im Falle einer reaktionären Bewahrung bereits bestehender (angeblich gut geordneter) Verhältnisse oder einem quietistischen Einigeln gegenüber einer angeblichen Schlechtigkeit der Welt dürften die in der Sichtweise von Aristoteles doch immer wieder notwendigen Reformen nicht angegangen werden.

1.3 Der nomos als Rechtsregel und niedere Ebene einer Gemeinschaftsordnung 1.3.1 Rechtstheoretische Grundcharakteristika des nomos Nachdem wir mit der Verfassung die höhere Ebene der Rechtsordnung kennen gelernt haben, widmen wir uns nun im zweiten Schritt der niederen Ebene der Gesetze: Wie kennzeichnet Aristoteles nun den nomos in einer ersten Annäherung? Ebenfalls sehr stark über den Gedanken der Ordnung. 381 Bereits in den bisherigen Überlegungen fanden sich die wichtigsten Charakteristika der Gesetze, die wir uns daher nur noch einmal in Erinnerung rufen müssen: Dabei ist der nomos als Rechtsgesetz ein Aspekt der öffentlichen Ordnung, dem nicht zuwidergehandelt werden sollte. Warum aber sollte jemand dem nomos gehorchen? Weil er ein vernünftiges praktisches Gesetz (logos) mit Zwangsgewalt darstellen soll, 382 das von phronêsis und nous gestaltet wird: »Das Gesetz aber besitzt eine zwingende Kraft, wobei es eine Regel ist, die aus einer bestimmten Klugheit und Vernunft hervorgeht.« 383 SelbstverständVgl. Politeia IV. Buch 425c–427a (besonders 426e–427a). Vgl. Pol. VII, 4: 1326a29–31 und Pol. III, 16: 1287a18. 382 Zu einer abweichenden Sicht auf die legal rationality, siehe Yack 1993, 194 ff. 383 EN X, 10: 1180a21–22 (Übersetzung des Verfassers, basierend auf Wolf, jedoch ergänzt durch die kongeniale Übersetzung von logos mit »rule« durch Nussbaum 380 381

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lich sollte dabei beachtet werden, dass unter den altgriechischen nomos nicht nur geschriebene, sondern auch ungeschriebene Gesetze fallen. Entsprechend sollte vor der weiteren Charakterisierung des nomos und seiner Bedeutung für die politische Philosophie des Aristoteles geklärt werden, was der Leser der Politik darunter zu verstehen haben sollte. Schließlich herrscht im englischsprachigen Raum eine größere Sensibilität dafür, dass ein law keineswegs stets niedergeschrieben sein muss und das ungeschriebene Recht durchaus auch dann als solches zu begreifen ist, wenn die schriftliche Kodifizierung fehlt. Handelt es sich also um ein sozusagen kontinentalphilosophisches Missverständnis, wenn Aristoteles eine Bevorzugung geschriebener gegenüber ungeschriebenen Gesetzen zugeschrieben wird? Anscheinend nicht, denn er bezeichnet es etwa bei den Kretern ausdrücklich als gefährlich, dass sich die kosmoi 384 nicht an Geschriebenes, sondern an ihr eigenes Gutdünken halten und formuliert dies einige Zeilen später ausdrücklich auch als Gegensatz von Gesetz und Mensch. 385 Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang in der zentralen Diskussion um Herrschaft des Gesetzes versus Herrschaft des Menschen, da Aristoteles im ersten Argument das Gesetz wie selbstverständlich als geschrieben auffasst. 386

1.3.2 Herrschaft des vollkommenen Menschen oder »rule of law« bei Aristoteles? Zum aristotelischen Institutionalismus und platonischen Personalismus Gerade die letzterwähnte Passage eröffnet den Zugang zu einem der spannendsten und wirkmächtigsten Kapitel der politischen Philosophie des Aristoteles: Wer soll denn eigentlich herrschen, Menschen oder Gesetze? Wenn man gespielt naiv an diese Thematik herangeht, gewinnt 2001, 346; Miethke übersetzt den logos ebenfalls sehr treffend mit »Ordnungsprinzip«. Vgl. Miethke 2008, 77–111). 384 Dabei handelt es sich um ein Amt, das Aristoteles mit dem spartanischen Ephorat parallelisiert. 385 Vgl. Pol. II, 10: 1272a38 f. bzw. 1272b5–7. Damit möchte ich selbstverständlich nicht suggerieren, dass ungeschriebene Gesetze Willkürgesetze wären. Vielmehr möchte ich nur darauf hinweisen, dass Aristoteles an dieser Stelle Gesetz und Schriftlichkeit eindeutig miteinander verknüpft. 386 Vgl. Pol. II, 15: 1286a7–16 (wiederkehrend in Pol. II, 16: 1287a32–b3). Ordnung in der Polis

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man gerade dadurch eine wichtige Zusatzinformation, nämlich dass es streng genommen nicht um eine Herrschaft des Gesetzes gehen sollte, sondern um eine Herrschaft der Verfassung: Schließlich darf ein vernünftiger Gesetzgeber oder eine vernünftige Gesetzgebungskörperschaft ein Gesetz nicht allein nach eigenen persönlichen Vorstellungen abfassen, sondern muss sich hierbei an der übergeordneten Rechtsstufe der Verfassung orientieren. Bekanntlich gibt ja die Grund- und Leitordnung der Verfassung (als »Grundgesetz«) den Zweck der Gemeinschaft vor, 387 und die Gesetze versuchen als Mittel zum Zweck den Weg zum Ziel anzugeben. 388 Anders formuliert: Die Verfassung gibt den Rahmen vor, die Gesetze sorgen für die detaillierte Ausgestaltung. Insofern ist angesichts dieser Normenhierarchie sogleich einsichtig, dass an der Qualität der Verfassung auch die Qualität der Gesetze hängt, sodass gute Verfassungstypen in der Regel auch über gute Gesetze verfügen und umgekehrt. 389 Jedoch kann – wie besonders Platon immer wieder betont – auch ein noch so sorgfältig bedachtes und formuliertes Gesetz niemals alle Einzelfälle abdecken bzw. sind auch in Normalfällen die allgemeinen Bestimmungen nicht selbstexekutierend. Aus diesem Dilemma heraus stellt sich sowohl für Platon als auch für Aristoteles die systematisch wichtige Frage, ob das Gesetz oder der Mensch regieren soll. Warum scheint Platon für die Probleme der Ordnung einer Polis eine personalistische Lösung zu bevorzugen, dagegen Aristoteles eine institutionalistische? Weshalb setzt Platon seine Hoffnung auf den Philosophenkönig, also einen Menschen, und glaubt, dass es für die Poleis nicht eher eine Errettung aus dem derzeitigen Unheil gebe, ehe nicht Philosophen an die Macht kämen? 390 Ist denn nicht – wie uns vor allem Politikos 293e–297b nahelegt – die Herrschaft des Wissenden dem unflexiblen Gesetz überlegen? Warum also verkündet Aristoteles dennoch nicht nur in der Rhetorik relativ pathetisch, dass an den Gesetzen das Wohlergehen der Polis hänge, 391 sondern scheint auch in der Politik an vielen Stellen eindeutig eine »rule of law« zu favorisieren? Zu diesem Aspekt siehe besonders Pol. IV, 1: 1289a17 f. Dass die Verfassung die Gesetze als Mittel gebraucht, vgl. EN X, 10: 1181b20–23. 389 Vgl. Pol. III, 11: 1282b8–13. 390 Vgl. Politeia V. Buch 473d. Ebenso schreibt er im Politikos 301e–302a die gegenwärtigen Übel der Tatsache zu, dass aufgrund von geschriebenen Gesetzen und Gewohnheiten und nicht aufgrund des königlichen Wissens regiert werde. 391 Vgl. Rhet. I, 4: 1360a19 f. 387 388

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Ähnlich wie bei der Verfassungsthematik lässt sich also auch beim Thema Institutionalismus versus Personalismus fragen, inwiefern Aristoteles sich denn von Platon unterscheidet. Mehrheitlich vertreten die meisten Forscher die Ansicht, dass wir Aristoteles als Institutionalisten und Platon als anti-institutionalistischen Denker lesen sollten. Dazu gibt es in der Regel einen sehr breiten Konsens, man denke nur an Bien, Piepenbrink oder Schütrumpf, die trotz manch gravierender Unterschiede in ihrer sonstigen Beurteilung der politischen Philosophie des Aristoteles in diesem Punkt konform gehen. 392 Sicherlich stimme ich mit den erstgenannten Forschern in der grundsätzlichen Bewertung eines Institutionalismus oder AntiInstitutionalismus überein, wobei ich allerdings das Kapitel der »rule of law« bzw. der Bürokratie etwas anders lesen werde (vgl. unten bzw. die späteren Ausführungen zur Königsherrschaft). Relativ isoliert scheint mir hingegen die Behauptung von Popper, der bei Platon einen Konstitutionalismus entdecken will, weil dieser durch das strenge Erziehungsprogramm die Auswahl der zukünftigen Herrscher streng kontrolliere und Kontrolle ein zentrales Merkmal des Konstitutionalismus sei. Zwar kann man mit Popper einen Institutionalismus wie folgt charakterisieren: »[…] denn es zwingt uns die Frage Wer soll regieren? durch die neue Frage zu ersetzen: Wie können wir politische Institutionen so organisieren, daß es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzugroßen Schaden anzurichten?« 393 Jedoch genügt meines Erachtens der Hinweis auf das strenge Erziehungsprogramm nicht, um bei Platon einen Institutionalismus zu entdecken. Stattdessen würde ich das Schwergewicht vielmehr dahingehend setzen, ob die höchste Instanz in einer politischen Ordnung bestimmte Personen sind und zwar ohne selbst an bestimmte Regeln gebunden zu sein oder ob vielmehr ein bestimmtes Regelwerk auch für die ranghöchsten Menschen bindend ist. Anders und wesentlich terminologischer formuliert: Tatsächlich entscheidet die Frage nach der »rule of law« bzw. der »rule of man«, ob es sich bei einer politischen Ordnung um eine institutionalistische handelt! Wenn in einer politischen Ordnung der Mensch durch das Recht in Gestalt der Verfassung oder der Gesetze eingehegt ist und 392 Vgl. Bien 1990, 54–71 und Piepenbrink 2012, 145. Allerdings ist der Institutionenbegriff bei Bien weiter, ich beschränke mich auf den üblichen. Auch Schütrumpf sieht in Platon einen Antiinstitutionalisten. Vgl. Schütrumpf 1980, 249 f. 393 Vgl. Popper 2003a, 144–164.

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nicht nach eigenem Willen und persönlicher Willkür alles entscheiden kann, dann dürfen wir eine solche Ordnung als »rule of law« bezeichnen. Demgegenüber ist eine »rule of man« gerade dadurch charakterisiert, dass die höchsten Machthaber nicht durch das Recht gebunden sind. Lediglich die Untertanen sind an die selbstverständlich auch in einer normalen »rule of man« zu findenden Gesetze gebunden, daher ist eine »rule of man« im Bereich der Politik in der Regel natürlich eine »rule by law«. 394 Nach dieser Klärung der Begriffe ergibt sich wiederum EN X, 10 als natürliche Einstiegspassage für die aristotelische Haltung zur »rule of law vs. rule of man«. Zwar verhandelt Aristoteles dort genau genommen noch nicht ausdrücklich das Thema einer »rule of law«, aber wichtige Fragestellungen in Hinsicht auf eine »rule of law« können wir diesem Kapitel dennoch entnehmen. So haben wir bei unserer bisherigen Lektüre dieses Abschnittes bereits gesehen, dass die Mehrzahl der Bürger auf jeden Fall auf die Zwangsordnung der Gesetze angewiesen ist. Damit ist jedoch – wenn wir an den wichtigen Unterschied zwischen einer »rule of law« und einer »rule by law« denken – noch lange nicht gesagt, dass die Rechtsordnung tatsächlich für alle Bürger verbindlich ist. Schließlich könnte diese Rechtsordnung von einem Herrscher erlassen werden, der als princeps legibus solutus nicht daran gebunden ist, womit diese Ordnung eigentlich nur als eine »rule by law« gelten könnte. Bevor uns mehrere Kapitel aus dem dritten Buch der Politik endgültige Gewissheit verschaffen, geben uns indessen einige Motive aus EN X, 10, Pol. I, 2 und verschiedenen Passagen aus Pol. IV–VI einige Indizien für die »rule of law« an die Hand und lassen uns die Motivation besser verstehen. Bereits aus EN X, 10 kennen wir das Problem, dass die meisten Menschen zu wenig auf die eigene innerseelische Vernunft hören und insofern für eine sittlich wertvolle Lebensführung auf den Zwang und die Strafen des Gesetzes angewiesen sind. 394 Mulgan 1977, 60 beschreibt für die extremen Verfassungstypen eine unvorhersehbare ad-hoc-Herrschaft von Dekreten. Dies kennzeichnet solche Subtypen tatsächlich in hohem Maße. Nichtsdestotrotz zeigen Stellen wie Pol. VI, 4: 1319b1–4, dass es auch in radikalen Demokratien Gesetze gibt. Allerdings ist ihre Rolle wesentlich beschränkter. Selbstverständlich gilt dies auch für die platonische (Philosophen-)Königsherrschaft in der Politeia und im Politikos. Etwas ausführlicher beschäftigt sich Platon in Politikos 294d–295b mit der Frage, warum auch in dieser »rule of the best men« ein Gesetzeswerk (für die Untertanen) geschaffen werden muss.

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Noch in der Politeia würde Platon diesem Befund selbstverständlich zustimmen, jedoch eine Ausnahme für die vernünftigen Philosophenkönige machen. Entsprechend müssen wir uns die Frage stellen, ob Aristoteles eine Gesetzesgebundenheit auch der Herrscher aus sittlichen Gründen für geboten hält. Rein pragmatisch ist eine stärker institutionalistische Ausrichtung (oder zumindest eine entsprechend »werbewirksame Außendarstellung« in diese Richtung) ohnehin sinnvoll. Schließlich werden Menschen dafür gehasst, wenn sie unseren Antrieben entgegentreten, Gesetze angeblich jedoch nicht. 395 Insofern ist eine institutionalistische Fassade auf jeden Fall anzuraten. So stellt sich bereits ausgehend von EN X, 10 zwar diese wichtige Frage nach einer sittlich begründeten Einschränkung der Regierenden, aber eine Antwort ergibt sich erst aus der Politik. Ebenso bringt EN X, 10 die zweite Frage auf, wie weit sich eigentlich die Anordnungen des Vaters im Haushalt und diejenigen des Gesetzes in der Polis ähneln. Zunächst zur ersten Frage nach der sittlichen Vollkommenheit der Herrscher, also ob sie ebenfalls aus sittlichen Gründen unter dem Gesetz stehen sollten: Hier stößt man auf das Problem, dass sich viele Stellen nicht ganz eindeutig auf diese spezielle Thematik festlegen lassen: Das bereits mehrfach zitierte Pol. I, 2 mit seinem engagierten Plädoyer für die Einhegung des Raubtieres Mensch durch die Rechtsordnung spricht nur ganz allgemein vom Menschen im Kollektivsingular 396. Wiederum eine andere Passage beklagt sich, dass nur die Schwachen Gleichheit und Gerechtes suchen, aber die Mächtigen sich nicht darum scheren 397. Nun verkündet uns Aristoteles damit die bekannte Weisheit, »Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut«, aber gilt diese Aussage wirklich auch für die Tugendhaften? Offensichtlich schon, denn Aristoteles fordert auch für die Besten ausdrücklich eine Kontrolle: Hierbei denkt er an eine Kontrollpflicht gegenüber dem dêmos, rät also zu einer personalistischen Einschränkung auch der Macht der Tugendhaften. Während Pol. V, 8: 1308b10–15 allen Verfassungen den relativ unspezifischen 395 Vgl. EN X, 10: 1180a22–24. Dazu bleibt aber nach wie vor noch zu bemerken, dass eine – für die Untertanen – stark ausdifferenzierte Rechtsordnung trotzdem nur eine »rule by law« darstellen kann und vielleicht eben ein gerissener Herrscher sich bei unpopulären Maßnahmen »hinter dem Gesetz versteckt«, obwohl er eigentlich im Falle des Falles sehr wohl seine Stellung über den Gesetzen ausspielen könnte. 396 Vgl. Pol. I, 2: 1253a31–37. 397 Vgl. Pol. VI, 3: 1318b1–5.

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und in der Praxis wenig hilfreichen Rat gibt, keinen Einzelnen über das Maß emporkommen zu lassen – denn was »über das Maß« bedeutet, wird wohl heftig umstritten sein – weiten die folgenden Zeilen aus Pol. VI, 4 dies in Rechtfertigung der Kontrolle der Besten (!) durch den dêmos zu einer allgemein gültigen Betrachtung aus: Abhängig zu sein und nicht alles tun zu dürfen, was einem gut vorkommt, ist nämlich nützlich; denn die Freiheit, zu tun, was man will, vermag nicht vor dem in jedem Menschen befindlichen Schlechten zu schützen. 398

Immerhin liefert diese Stelle den bemerkenswerten, und später in Kapitel 3.2.1.3 ausführlicher zu kommentierenden Befund, dass sogar die Tugendhaften kontrolliert werden müssen. Hier möchte ich mich im Folgenden nur darauf beschränken, die für die »rule of law« relevanten Aspekte zu besprechen. Während dies an der gerade zitierten Stelle von bestimmten Menschengruppen geleistet werden soll und so vordergründig eine Machtteilung unter Menschen in den Vordergrund gestellt wird, äußert sich das berühmte Kapitel Pol. III, 11 weit grundsätzlicher. In gewisser Weise täuschen die berühmten Kapitel Pol. III, 10–11 an ihrer Oberfläche ein falsches Bild vor, wenn die Schlusspassagen von Pol. III, 11 nicht angemessen gewürdigt werden. So könnte man nämlich leicht die Diskussion in Pol. III, 10–11 dahingehend missverstehen, dass es Aristoteles hauptsächlich um die Beantwortung der Frage geht, welcher Einzelmensch oder welche Menschengruppen denn herrschen sollen. So prüft das aporetische Kapitel Pol. III, 10 zunächst tatsächlich die angeblichen Ungerechtigkeiten aller Verfassungstypen anhand der Missetaten der menschlichen Herrscher und erörtert Pol. III, 11 die Frage nach der Mitbeteiligung des dêmos an der Macht. Meist wird der Themenkomplex Pol. III, 10–13 wirklich so interpretiert, dass die Herrschaft bestimmter Menschengruppen damit gerechtfertigt werden sollte und auf die gestellte Grundfrage »Wer soll das kyrion in der Polis sein?« (Pol. III, 10: 1281a11) irgendeine Menschengruppe wie die Aristokraten oder der dêmos als Antwort gelten soll. Zunächst scheint diese Antwort auch gut begründet zu sein, denn schränkt Aristoteles nicht in Pol. III, 11 die in Pol. III, 9 angedeutete und Pol. III, 12–13 bestätigte herausgehobene Legitimation der Besten dank ihrer herausragenden Qualität der Tugend ein, indem die Besten durch den dêmos kontrolliert werden sollen? Tatsäch398

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Pol. VI, 4: 1318b38–1319a1 (Hervorhebung durch Unterstreichung B. L.).

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lich jedoch spricht sich Aristoteles in Pol. III, 11: 1282b1–6 deutlich dafür aus, dass nicht hauptsächlich Menschen regieren sollten, sondern die Gesetze: Aus der erstgenannten Frage aber geht nichts anderes so deutlich hervor als dies, dass entscheidend die richtig festgesetzten Gesetze sein müssen, dass aber der Amtsinhaber, mag er einer oder mehrere sein, darin entscheidend sein darf, wo die Gesetze außerstande sind, Genaues festlegen zu können; denn es ist nicht leicht, über alle Angelegenheiten Vorschriften in allgemeiner Form zu erlassen. 399

Somit finden wir hier bei Aristoteles eine klare Machthierarchie, denn das kyrion wird ausdrücklich nicht Menschen, sondern dem Recht zunächst in seiner Gestalt der Gesetze zugesprochen, aber dann in den bereits bekannten Folgezeilen natürlich an die Verfassung als oberste Instanz gebunden. Insofern sieht die aristotelische Wunschhierarchie nun folgendermaßen aus: Verfassung – Gesetze – Amtsinhaber. Wer die platonische Diskussion rund um die Herrschaft des Gesetzes kennt, mag vielleicht erstaunt sein, warum Aristoteles die »rule of law« favorisiert und ausgerechnet ein für Platon entscheidendes Argument gegen die Herrschaft des Gesetzes im geraden zitierten Abschnitt für die »rule of law« ohne weiteren Kommentar nüchtern anführt und zumindest an dieser Stelle nicht weiter problematisiert. Schließlich begreift Platon gerade diesen Aspekt als großes Problem und entscheidenden Einwand gegen die Herrschaft des Gesetzes, dass das Feld der Praxis das Einzelne betrifft, aber das Gesetz notwendig allgemein formuliert ist. Dafür findet Aristoteles rechtstheoretisch die Lösung, dass das allgemeine Gesetz den Normalfall abdeckt und so die meisten Einzelfälle beurteilbar macht. 400 Sogar für die Tugendhaften sieht also Aristoteles auf der einen Seite eine Kontrolle durch andere Bürger vor, und auf der anderen Seite wird das Gesetz zum maßgeblichen Herren auch der Tugendhaften erklärt. Auch die wahrhafte Aristokratie ist somit der »rule of

399 Pol. III, 11: 1282b1–6. Somit stimme ich also – contra Schütrumpf – mit Newman darin überein, dass sich »hê de prôtê lechtheisa aporia« auf die Ausgangsfrage von Pol. III, 10 bezieht. 400 Vgl. EN V, 14: 1137b13–19 und Pol. III, 11: 1282b1–6. Genauso dann auch Theophrast (vgl. Fragmente 629 und 630 FHS&G). Vorbereitet ist dieser Standpunkt bereits bei Platon (vgl. Nomoi IX. Buch 875d).

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law« unterworfen. 401 Insgesamt rät Aristoteles jeder Verfassung, das Machtausmaß auf jeden Fall gesetzlich zu begrenzen. 402 Neben der allgemeinen Skepsis in Bezug auf die menschliche Natur hängt dies auch mit der besonderen Dialektik von Recht und Macht in der Polis zusammen. Während Platon im Politikos bekanntlich zwischen der Herrschaft über eine kleine Polis und ein großes Haus keinen wesentlichen, sondern nur einen quantitativen Unterschied erkennen mochte, ist die Einsicht in die wesentliche Verschiedenheit der Herrschaft über eine polis und über einen oikos eine der wichtigen Pointen der aristotelischen politischen Philosophie. 403 Was hat diese zweite Frage aber mit der »rule of law« zu tun? Während im Haus der Hausvater der unangefochtene Herrscher über Ungleiche ist, wird in der Polis ja über Gleiche regiert. 404 Zwar stimmen die archê oikonomikê und die archê politikê darin überein, dass sie zum Nutzen der Beherrschten regieren, 405 trotzdem unterscheiden sich die Herrschaftsweisen dennoch entscheidend. So herrscht nämlich der Hausvater wie ein absoluter König nach eigenem Willen über den Haushalt; 406 eine solche personale, gesetzesenthobene 407 Herrschaft ist aber bei einer grundsätzlichen Gleichheit von Regierten und Regierenden ungerecht 408. Somit muss die politische Ordnung der Bürgerschaft als Gemeinschaft von Freien und Gleichen anders regiert werden, und dies verlangt laut Aristoteles eben nach der »rule of law«. Schon in den bisherigen Erörterungen zur Struktur der politischen Ordnung haben wir gesehen, dass sie als Rechtsordnung aufPrinzipiell genügt ja schon Pol. III, 11 als Nachweis, aber auch aus der selten rezipierten Passage Pol. IV, 8: 1294a2–7 lässt sich dies erschließen: Hier koppelt Aristoteles ja die wahre Aristokratie an die eunomia und bestimmt gleichzeitig diese als Gehorsam gegenüber guten Gesetzen. Die Lösung des Politikos wird hier mit keinem Wort angedacht, sondern die Aristokratie bestimmt sich als eunomia und fällt also mit dem Gehorsam gegenüber einer guten Gesetzesordnung zusammen. 402 Vgl. Pol. V, 8: 1308b10–15. 403 Vergleiche die Kritik an der Aussage des Politikos 259b–d in Pol. I, 1: 1252a7–16, Pol. I, 7 und Pol. I, 3: 1253b18–20. 404 Vgl. Pol. I, 7: 1255b16–20. 405 Vgl. Pol. III, 6: 1278b30–1279a21. 406 Vgl. Pol. III, 14: 1285b31 f. Dass der pambasileus nach eigenem Willen herrscht, findet sich in Pol. III, 16: 1287a9 f. 407 Vgl. Pol. III, 13: 1284a3–15. 408 Vgl. Pol. V, 1: 1301b26–28 bzw. Pol. III, 16: 1287a8 ff. Inwiefern ein absolutes Königtum manchmal doch gerechtfertigt sein kann, wird ausführlicher in Abschnitt 3.1.1 erläutert. 401

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zufassen ist. Nun können wir diesen Ansatz insofern vertiefen, dass es sich dabei auch notwendigerweise um eine »rule of law« handeln muss. So verknüpft Aristoteles die politische Ordnung (p1) strikt mit der »rule of law« und preist dies nicht nur als normatives Ideal an, sondern erklärt es zum deskriptiven Musskriterium, um überhaupt von einer Verfassung zu sprechen: Wenn eine Verfassung nicht eine »rule of law« darstellt, dann handelt es sich gar nicht um eine politische Ordnung p1: Jemand aber, der sagt, eine solche Demokratie sei überhaupt keine Verfassung, hat wohl recht mit diesem Vorwurf. Denn wo nicht die Gesetze herrschen, besteht keine Verfassung. Es ist nämlich notwendig, dass die Gesetze über alles [Allgemeine] herrschen, die Ämter aber das Einzelne, [und eine solche Ordnung] muss man als Verfassung ansehen. 409

Tatsächlich spricht Aristoteles etwa sämtlichen anderen Subtypen der Demokratie und der Oligarchie noch eine »rule of law« zu, lediglich die extremste Ausprägung ist – wie die im Zitat angesprochene extreme Demokratie – keine »rule of law« mehr. 410 Umso verheerender ist dann natürlich das Abgehen von der »rule of law«, denn dann kommt es zu einer persönlich-despotischen Herrschaft der übelsten Sorte. Hier hält uns Aristoteles die kretische Ordnung als warnendes Beispiel vor Augen: Besonders macht er dies am Amt der kosmoi fest, denn diese entscheiden nicht nach dem schriftlichen Gesetz, sondern nach eigenem Gutdünken. 411 Ebenso regellos wie ihre Amtsführung ist auch die Amtsdauer, denn auch mitten in der Amtsperiode dürfen diese zurücktreten. Aristoteles beklagt, dass solche Aktionen doch auf Basis gesetzlicher Regelungen und nicht allein nach den Wünschen

409 Pol. IV, 4: 1292a30–34 (Übersetzung des Verfassers, basierend auf Gigon und Schütrumpf). 410 Vgl. dazu die Auflistung verschiedener Subtypen der Demokratie oder Oligarchie in Pol. IV, 4 und Pol. IV, 6. Schütrumpf 1996, 135 führt dieses Faktum als Beleg für eine massive Aufwertung der Demokratien in Pol. IV–VI an. Pol. III, 10 hat jedoch in Fortführung der relativ neutralen Bestimmung des Rechts bei Aristoteles nachgewiesen, dass eine »rule of law« nur eine minimale normative Güte verbürgt und weist damit auf die Wichtigkeit der Verfassungsfrage hin (vgl. dazu das Ende von Pol. III, 11). Vgl. ebenso auch Pol. IV, 8: 1293b42–1294a9 für die Beobachtung, dass man auch schlechten Gesetzen gehorchen könne und eunomia sich also nur bei der Beachtung guter Gesetze finde. Sogar für die auch von Aristoteles sehr argwöhnisch betrachtete Tyrannis findet sich mit Peisistratos jemand, der sich dem Gesetz unterworfen hat (vgl. Ath. Pol. 16). 411 Vgl. Pol. II, 10: 1272a38 f.

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von Menschen ablaufen sollten. 412 Erst recht gilt dies dafür, wenn die Wünsche verschiedener Menschen zusammenprallen, wofür ebenfalls Kreta ein besonders mahnendes Beispiel abgibt: Häufig werden kosmoi abgesetzt, weil sich Kollegen oder Privatleute gegen sie verschworen haben oder Mächtige sich dem Recht gar nicht unterwerfen wollten. Aufgrund eines solchen doppelten Widerstands gegen die Beamten und das Gesetz diagnostiziert Aristoteles eine ausbrechende Anarchie und resümiert, dass sich die politische Gemeinschaft aufgelöst habe. 413 Sicherlich an solche oder ähnliche Fälle denkt Aristoteles, wenn er in Pol. I, 2 vor der bewaffneten Ungerechtigkeit warnt und in solchen Fällen den Menschen als schlimmer als das wildeste Tier beurteilt. Nachdem bereits die gerade besprochenen Passagen eine aristotelische Befürwortung der »rule of law« nachgewiesen haben, erfährt diese Thematik in den Kapiteln 15 und 16 des dritten Buches der Politik eine wichtige Präzisierung. Dabei handelt es sich um eine Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern einer Königsherrschaft. 414 Dies möchte ich vorab nachdrücklich betonen, da in der Forschung häufig auf diese Kapitel Bezug genommen wird und dabei bloß die antimonarchistischen Argumente herausgepickt und für die Stellungnahme des Aristoteles selbst ausgegeben werden. 415 Zu den wenigen Ausnahmen in dieser Beziehung gehört – abgesehen von Kraut – Bates, 416 wenngleich ich mich in der inhaltlichen Auflösung der Leitfrage völlig von ihm unterscheide. Welche Argumente sprechen nun gemäß ihren Befürwortern für eine Herrschaft der Gesetze? Sicherlich der Umstand, dass Gesetze als 412 Vgl. Pol. II, 10: 1272b5–7. Schütrumpf 1991b, 342 Anm. 42,17 sieht hier in Pol. II, 10 die Antwort auf die Ausgangsfrage von Pol. II, 1 gegeben, woran die staatliche Gemeinschaft Anteil haben müsse: die gesetzliche Ordnung, die Willkür ausschließe, und betrachtet dies als Wiederaufnahme von Pol. I, 2. 413 Vgl. Pol. II, 10: 1272b7–15. 414 Da es mir in diesem Kapitel hauptsächlich um die Frage nach der Herrschaft der Gesetze geht, diskutiere ich vorerst nicht alle Bezüge zur Monarchiediskussion. Stattdessen beschränke ich mich nun auf die unverzichtbaren Aspekte und vertiefe dann diese Problematik im Kapitel über das Königtum. 415 Ausnahmen bilden Schütrumpf und Kraut: Kraut 2002, 400, Fußnote 15 bzw. Kraut 2002, 410, Fußnote 28 hebt ebenfalls hervor, dass Pol. III, 15 und 16 als diskutierende Referate gelten sollten und wir die Resultate erst in Pol. III, 17 und 18 erwarten können. Schütrumpf 1991b, 560 beschreibt Kapitel 16 als Wiedergabe fremder Ansichten. 416 Vgl. Bates 1997, 198.

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allgemeine Regeln aufzufassen sind und ihrem Anspruch nach auf alle Fälle angewendet werden sollen. Schließlich hoffen die Gesetzesbefürworter, dass sie aus der Allgemeinheit der Gesetze ihre Unparteilichkeit ableiten können. Tatsächlich scheint Aristoteles an anderen Stellen des Corpus Aristotelicum ebenfalls die Ansicht zu vertreten, dass die unparteiische Regel des Rechtsgesetzes eine sicherere und gerechtere Richtschnur biete, als man es dem Menschen zutrauen könne. 417 Auch in der Gesetzesanwendung vertritt Aristoteles einen kritischen Ansatz, der dem Richter möglichst wenig Platz für eigenes Ermessen gewähren möchte: Erstens gebe es nur wenige echte Rechtsexperten; zweitens werde über die Gesetze länger und damit sorgfältiger beraten als über Urteile am Gericht; drittens denke der Gesetzgeber in der Regel vorausschauend und über einen allgemeinen abstrakten Rechtsfall nach, während die Richter einen einzelnen konkreten gegenwärtigen Rechtsfall zu entscheiden haben. 418 Dadurch bestehe natürlich die Gefahr, dass die Richter in einem speziellen Fall emotional befangen sind, während das Gesetz eine allgemeine und daher von Gefühlen unbeeinflusste, rationale Richtschnur bieten solle. So besteht also das Hauptargument gegen die Herrschaft des Menschen darin, dass ein Mensch natürlicherweise von Gefühlen affiziert wird. 419 Während der Mensch auch ein wildes Tier der Begierde in sich wohnen hat, soll das Gesetz eine begierdenlose reine Vernunft sein. 420 Zusammenfassend lautet also das stärkste Argument für eine Gesetzesherrschaft, dass der Mensch allzu sehr durch seine eigenen Interessen und Begierden geleitet werde und deswegen eine willkürliche Entscheidung treffen würde (wie ein Tyrann), während das Rechtsgesetz (nomos) auch ein Vernunftgesetz (logos) sei und daher als institutionalisierte Vernunft betrachtet werden könne: »Deswegen lassen wir nicht einen Menschen herrschen, sondern das [Vernunft-]Gesetz, weil ein Mensch in seinem eigenen Interesse herrscht und ein Tyrann wird.« 421 Vgl. Pol. II, 10: 1272b5 f. Vgl. auch für das Folgende: Rhet. I, 1: 1354a31–b16. 419 Vgl. Pol. III, 15: 1286a17–20. 420 Vgl. Pol. III, 16: 1287a28–32. Platon sieht sogar einen etymologischen Zusammenhang zwischen nomos und nous (vgl. Nomoi XII. Buch 957c). Zur auch von Platon in den Nomoi diskutierten Problematik, ob die Willensschwäche die »rule of men« untergräbt, siehe die Diskussion von Müller 2013 (bes. 47–54). 421 EN V, 10: 1134a35–1134b1 in der von mir leicht überarbeiteten Übersetzung von 417 418

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Was entgegnen nun die Monarchisten, um diese gefährlichen Einwände gegen das Königtum zu entkräften? Einerseits bemängeln sie, dass Gesetze nicht alles bis ins kleinste Detail regeln können 422 bzw. der Gesetzgeber nicht alle möglichen Fälle voraussehen konnte. Andererseits sei das geschriebene Gesetz zu starr und könne nicht flexibel auf geänderte Umstände reagieren. 423 Besonders gewichtig ist allerdings ein argumentativer Konter, der eine Schwachstelle der Gesetzesherrschaftslehre aufdeckt. Bekanntlich liegt das Hauptargument für die Gesetzesherrschaftsanhänger darin, dass der nomos ein logos ohne Begierden und damit dem begehrenden Menschen überlegen sei. Dagegen können jedoch die Monarchisten geltend machen, dass dieser Einwand nicht auf verfehlte Verfassungen wie die Demokratie oder Oligarchie zutreffe. In Pol. III, 10 macht Aristoteles selbst diesen Punkt stark, dass Gesetze solcher ungerechten Verfassungstypen genauso stark hinterfragt werden können wie die Herrschaft bestimmter Bürgergruppen, wenn es darum geht, wie gerecht ihre Regierung sei. 424 Systematisch wäre das Gegenteil auch höchst erstaunlich, da doch Aristoteles – wie bereits erarbeitet – die Qualität der Gesetze von der Qualität der Verfassungen abhängig macht. Dies spricht daher maßgeblich gegen die These von Bates, dass das »rule of law«-Argument als Fortsetzung einer angeblichen Bevorzugung der Demokratie durch Aristoteles zu lesen sei. 425 Tatsächlich können wir manche der antimonarchistischen »rule of law«-Verfechter zwar sicherlich als Demokraten identifizieren, jedoch identifiziert Wolf. Wobei recht interessant ist, dass viele Herausgeber den logos an dieser Stelle zu nomos korrigieren. Umgekehrt ist in Phys. II, 1: 193a15 der nomos eindeutig nicht ein juristisches Gesetz. Vielmehr handelt es sich um einen logos (im Sinne einer vernünftigen Gesetzlichkeit, einer vernünftigen Regel). 422 Vgl. Pol. III, 16: 1287b19–22. 423 Vgl. Pol. III, 15: 1286a9–16. 424 Vgl. Pol. III, 10: 1281a34–39. Insofern ist der nomos eben nicht Ausdruck einer affektfreien Kollektivvernunft (so jedoch Effe 1976, 322). Ebenso teile ich zwar die Beobachtung, dass alle Verfassungstypen etwas Gerechtes aufweisen, aber die »rule of law« ist damit noch nicht an sich eine gerechte Institution (so aber Kraut 2002, 115, Fußnote 26). Yack 1993, 182 f. verweist ebenso auf die von mir genannten Stellen, leugnet eine allzu hohe Preisung der den Gesetzen angeblich inhärenten Vernunft und weist ebenfalls darauf hin, dass die berühmten Passagen von einer Diskussionspartei als Argument vorgebracht werden und nicht die aristotelische Ansicht darstellen. 425 Vgl. Bates 1997, 199.

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sich Aristoteles in diesem von ihm inszenierten Dialog mit keiner der beiden Seiten. 426 Entgegen den ausdrücklichen Festlegungen im Text spricht Bates sowohl Königtum, Aristokratie als auch Politie ab, für Aristoteles die normativ beste Verfassung zu sein, 427 und schreibt der Demokratie diesen Status zu. Tatsächlich sind aber gerade die verfehlten Verfassungen (und die Demokratie gehört im ganzen Buch Pol. III sowie – wie sich im Laufe meiner Arbeit zeigen wird – auch in den Büchern IV–VI dazu 428) dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht vernünftig und gerecht auf das Allgemeinwohl achten. Stattdessen wollen sie ihre eigenen Interessen verwirklichen – z. B. stellen sich laut Aristoteles oligarchische Verfassungen einseitig in den Dienst der Vermögenden oder demokratische Verfassungen charakterisiert er als parteiische Herrschaft der Armen. Daher sind dann auch die Gesetze dieser Verfassungstypen im Vergleich zu den Gesetzen der korrekten Verfassungen nicht besonders vernünftig und gemeinwohlgeleitet, sondern klar parteiisch. Entgegen der Eigendarstellung der Demokraten (sowie der Meinung von Bates und Kamp 429) sind also demokratische Gesetze nicht von vornherein vernünftig und der Willkür enthoben. Bates hat in einer knappen Passage seines späteren Buches das Ende von Pol. III, 10 wiedergegeben, 430 was erklärt, wieso für ihn die Demokratie im Laufe des Buches III einen normativen Aufstieg macht: Bates glaubt nämlich aus dem Schluss von Pol. III, 10 ablesen zu können, dass Aristoteles hier die Verfassungsabhängigkeit der Gesetze in ihren Konsequenzen für irrelevant halte. Dies wäre völlig erstaunlich, da dies gegen die sonstigen Aussagen der anderen Bücher und auch des Schlusses von Pol. III, 11 verstieße. Tatsächlich jedoch erklärt Aristoteles im Text, dass es keinen Unterschied mache, ob es Gesetze oder Menschen sind, die gemäß den Verfassungsgrundsätzen ungerecht agieren. 426 Bates identifiziert hingegen Aristoteles mit demokratischen »rule of law«-Proponenten. Vgl. Bates 2003, 171 f. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass der Standpunkt zu Beginn von Pol. III, 15 vielleicht als demokratisch durchgehen mag, aber spätestens ab 1286a38 beschreibt Aristoteles eine Aristokratie. 427 Vgl. Bates 1997, 196 für den Ausschluss von Aristokratie und Politie. 428 Tatsächlich muss die Typologie von Pol. III, 7 nicht zwangsläufig das letzte Wort des Aristoteles zur Demokratie sein muss, aber weder Bates’ negative Widerlegungen der anderen Verfassungstypen noch seine positiven Belege für die Demokratie haben die Forschung überzeugt (vgl. Bates 2003, 103). 429 Kamp hingegen möchte nur die Extremformen der Demokratie und Oligarchie als Willkürregimes bezeichnet wissen (vgl. Kamp 1985, 211). 430 Vgl. Bates 2003, 137.

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Hier hinterfragt Aristoteles also eindeutig die »rule of law«, was Swanson, Lindsay und Yack als rare Ausnahmen in der Literatur gewürdigt haben. 431 Dennoch lassen auch ihre Interpretationen noch Probleme ungelöst: Einerseits verzichten Swanson und Lindsay darauf, den König als nomos empsychos zu erweisen und andererseits identifizieren sie Aristoteles schlussendlich trotzdem mit der im Text vorgestellten »rule of law«-Position. 432 Dies durchtrennt den gordischen Knoten freilich etwas vorschnell, denn Aristoteles billigt ja beiden Seiten zu, einerseits bedenkenswerte Argumente gegen die andere Position vorbringen können und andererseits die eigenen Thesen mit richtig scheinenden Behauptungen zu untermauern. Grundsätzlich gilt auch hier, dass die damalige Diskussion für Aristoteles zu vereinfacht geführt wird, weswegen er nicht bei der simplen Disjunktion verbleibt. Insofern unterscheidet sich meine Interpretation von derjenigen Swansons, auch wenn diese ebenfalls betont, dass Aristoteles die Argumente beider Seiten für wertvoll befinde. 433 Bates bleibt ebenfalls bei der Disjunktion stehen und löst sie gar mit einer Verknüpfung der angeblich aristotelischen Lehre der Gleichheit aller Menschen mit der Herrschaft der Gesetze auf. 434 Tatsächlich jedoch schließt sich Aristoteles keiner der beiden referierten Meinungen wirklich an. 435 Schließlich zielen beide Standpunkte tendenziös nur auf die potentiell schwächsten Punkte der GeVgl. Swanson 1997, 155, Lindsay 1991, 491 und Yack 1993, 176 f. Yack hingegen gelangt ausgehend von der sokratischen Frage aus Apologie 24d– 25c, wer denn die Gesetze gemacht habe, zu einer radikalen Infragestellung der »rule of law« (vgl. Yack 1993, 176 f.). Selbstverständlich werden Gesetze zwar von Menschen beschlossen, aber dies stellt noch keinen grundsätzlichen Einwand gegen die »rule of law« dar, wenn die Menschen bei der Neuschaffung oder Abänderung von Gesetzen wiederum an gesetzliche oder verfassungsmäßige Regeln gebunden sind und insofern eben nicht ihrer eigenen Willkür (à la Pol. III, 10) nachgeben können, sondern eben dem Recht unterworfen sind. 433 Vgl. Swanson 1997, 153 f. 434 Vgl. Bates 1997, 208. 435 Yack 1993, 183 lässt zwar Aristoteles sich keiner der vorgestellten Ausgangspositionen anschließen, verlässt aber auf der Suche nach der Auflösung dieser Frage das Buch III und glaubt mit Rückbezug auf Pol. I, 2 das Gesetz nur als »limit on the exercise of practical reason« bestimmen zu dürfen. Damit entfernt Yack jedoch das Problem aus dem eigentlichen Fragekontext. Ebenso divergieren unsere Interpretationen der Rolle der Rechtsordnung, denn aufgrund eines angeblichen Desinteresses des Aristoteles an einem System des Rechts, kann für Yack die »rule of law« auch kein Garant für eine »regular and predictable social order« sein (vgl. Yack 1993, 185 und 195). 431 432

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genthese ab und betonen einseitig die Stärken des eigenen Ansatzes. Letztlich erliegen beide Seiten der Fiktion der eigenen Vollkommenheit, was sich schon wortwörtlich in der Fragestellung ausdrückt: »Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist [die Frage], ob es besser ist, von dem besten Mann oder von den besten Gesetzen regiert zu werden.« 436 So ist sicherlich die Kritik der Gesetzesherrschaftsvertreter an einem zu simpel gestrickten monarchistischen Ansatz berechtigt, dass es allgemeine Rechtsregeln geben sollte und persönliche ad-hoc-, von-Fall-zu-Fall-Entscheidungen vermieden werden sollten. Wie wir bereits gesehen haben, teilt Aristoteles in einem hohen Ausmaß diese These und warnt vor der erratischen Herrschaft von nicht gesetzesgebundenen Menschen. Bekanntlich kritisiert Aristoteles die Extremformen der verfehlten Verfassungstypen sehr scharf dafür, dass diese nicht mehr die Gesetze als Richtschnur verwenden. Deswegen sind sie letztlich gar nicht mehr als Verfassungen im eigentlichen Sinne zu betrachten. 437 Auf der anderen Seite ist freilich auch die vorgestellte Position der »rule of law« nicht unproblematisch. Besonders erwähnenswert ist der bereits angeführte Mangel, dass die Vertreter dieser Position nicht die Verfassungsthematik und die Frage nach dem Gerechten in den Vordergrund stellen. Darin liegt also ein wichtiges Korrektiv der Monarchisten, dass sie auf diesen Schwachpunkt der Gesetzesfraktion aufmerksam machen. Die Frage nach dem Gerechten ist nicht nur an die Monarchisten zu stellen, sondern auch an die Befürworter der Gesetzesherrschaft. Gerecht sollen nicht nur Personen sein, sondern auch die Institutionen. Vermutlich wegen dieser Einsicht in die mögliche Problematik der Herrschaft mancher Gesetze hat Aristoteles nicht mehr das platonische Kriterium der Gesetzesherrschaft verwendet, um die richtigen von den verfehlten Verfassungen zu unterscheiden. 438 Pol. III, 15: 1286a7–9 (Hervorhebung B. L.), (Übersetzung des Verfassers, basierend auf Gigon und Schütrumpf). 437 Vgl. etwa Pol. IV, 4: 1292a30–34. 438 Wie wir in Kapitel 1.2.2 gesehen haben, beschränkt Aristoteles den Rechtsstatus nicht auf gerechte Rechtsregelungen, weswegen das Kriterium der Gesetzesherrschaft nicht zur Unterscheidung von guten und schlechten Verfassungen taugen kann. Dass Aristoteles das platonische Kriterium der Gesetzesherrschaft nicht mehr verwendet, darauf weist uns Miller hin. Vgl. Miller 1997, 153 Anmerkung 27. Allerdings begründet Miller dies nicht weiter. Anders Robinson 1995, 22, der eine implizite Rückkehr des Aristoteles zu dieser Position annimmt. 436

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An dieser systematisch entscheidenden Stelle zeigt sich also wieder der philosophisch gut begründete Vorrang der Verfassung vor den Gesetzen bei Aristoteles, denn auch die Frage nach der Legitimität und Qualität der Gesetzesherrschaft kann nicht unabhängig von der Verfassung betrachtet werden. Entsprechend zeigt sich die Vernünftigkeit einer Gemeinschaft besonders deutlich an der Wahl einer korrekten Verfassung. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass wir die Ausgangsproblematik nicht allzu simplifizierend durch die Identifikation des Aristoteles mit der Position der »rule of law«-Vertreter der entsprechenden Kapitel im Buch III auflösen können. Vielmehr können und dürfen wir die Frage nach der Herrschaft der besten Gesetze oder des besten Menschen nicht von der Verfassungsthematik mit der Diskussion ihrer normativen Legitimität trennen. Nur unter der gemachten Einschränkung, dass die Qualität der Verfassung über die Qualität der Gesetze entscheidet, können wir Aristoteles als Vertreter einer »rule of law« bezeichnen. 439 Keinesfalls ist er mit der antimonarchistischen »rule of law«-Fraktion der Kapitel 15 und 16 des dritten Buches der Politik zu verwechseln. Wenn wir den Anachronismus der Bezeichnung »Staat« einmal beiseitelassen, sollten wir Aristoteles also nicht vorrangig als Vertreter eines Gesetzesstaates bezeichnen, sondern als Verfechter eines Verfassungsstaats. Dies beinhaltet zwar einen Gesetzesstaat, macht jedoch – vielleicht etwas spitzfindig – den von Aristoteles für besonders wichtig gehaltenen Vorrang der Verfassung vermutlich etwas deutlicher. Dagegen verführt die Rede von der »rule of law« etwas zu sehr zu einer Identifikation mit der von Aristoteles nicht geteilten radikal antimonarchistischen Lehre. Getreu dem bereits mehrfach erarbeiteten Vorrang der Verfassung über den Gesetzen erklärt Aristoteles daher vor allem eine ge-

439 Yack 1993, 177 hingegen fasst sämtliche Stellen, die für die »rule of law« plädieren, als bloße »summaries of the arguments advanced by partisans of the rule of law« auf. Sicherlich trifft dies auf manche Stellen zu, besonders in der Diskussion in Buch III der Politik, aber generell dürfen wir – mit den notwendigen Einschränkungen, die sich in obigem Haupttext finden – Aristoteles eindeutig der »rule of law«-Fraktion zurechnen. Man denke hier nur an die deutliche normative Abwertung von Verfassungen, welche die »rule of law« nicht mehr kennen und daher sogar gar nicht mehr als Verfassungen anzusprechen sind. Ebenso kann man kritisch gegen Yack einwenden, dass Aristoteles nicht nur in Buch III der Politik für die »rule of law« plädiert. Aber sogar in diesem Buch wird die »rule of law«-Lehre nur präzisiert und in gewisser Weise eingeschränkt, aber nicht völlig verabschiedet.

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rechte Verfassung zum erstrebenswerten Ziel einer Polis: Dabei zieht die gerechte Verfassung entsprechend gerechte Gesetze nach sich und erklärt diese dann zur eindeutigen Hauptsäule der Rechtsprechung, wobei sie jedoch die Gesetze mit einer starken Bürokratie kombiniert. 440 Da dies in der Forschung häufig etwas unterbelichtet bleibt, werfe ich nun einen kurzen Blick auf die Bürokratietheorie des Aristoteles. Hier lässt sich zunächst einmal fragen, wieso Aristoteles die wichtige Rolle der Beamtenschaft so sehr betont bzw. wozu eine gut verwaltete Polis eigentlich eine ausgebaute Bürokratie mit vielen Beamten braucht. Darauf lässt sich antworten, dass Aristoteles keinen abstrakten Institutionalismus vertritt: Die richtige Verfassung und wohlkonstruierte Institutionen allein garantieren noch keine geglückte Regierung, denn Institutionen sind keine selbstlaufenden Maschinen. Auch gerechte Verfahrensregeln bieten keine absolute Gewähr dafür, dass es gerecht zugeht, da allgemeine Gesetzesregeln an einer gewissen Unschärfe leiden und notwendigerweise die Umsetzungsmaschinerie von Menschen betrieben werden muss. Schließlich benötigt der allgemeine logos des Gesetzes den individuellen logos des Beamten zur Auslegung bzw. berücksichtigt der Richter manchmal in Sonderfällen besondere Umstände durch Billigkeitsentscheidungen 441. Solche Billigkeitsentscheidungen haben aber nichts mit einer persönlichen Herrschaft der Beamten neben dem Gesetz zu tun, wie Piepenbrink annimmt. 442 Bekanntlich lassen sich nicht alle Einzelfälle schulbuchmäßig unter die allgemeine Regel subsumieren, sondern die Gesetzesanwendung ist bis zu einem gewissen Grad immer auch Gesetzesauslegung und somit Interpretation. Daher be-

Vgl. Pol. III, 11: 1282b1–13 und Pol. III, 16: 1287b15–29. Vgl. EN V, 14. So kann nämlich der Mensch den außergewöhnlichen Sonderfall flexibel im Sinne des vom Gesetzgeber beabsichtigten Normalfalles interpretieren und lösen. Horn hat in einem Aufsatz dargelegt, dass der epieikês nicht partikularistisch interpretiert werden sollte. Vgl. Horn 2006, 142–166. 442 Vgl. Piepenbrink 2001, 79. Entsprechend fällt ihr Resümee aus (siehe dazu Piepenbrink 2001, 89 f.): Sie diagnostiziert aus diesen und verwandten Gründen ein Scheitern der »rule of law« bei Aristoteles und lässt diesen stattdessen mit charismatischen Fähigkeiten ausgestattete Menschen als Herrschaftsträger bevorzugen. Von Leyden 1967, 6 bzw. 8 sieht gerade als große Errungenschaft der aristotelischen Billigkeit an, dass die Ausnahmen nicht mehr länger die Allgemeinheit des Gesetzes aushebeln. Kraut 2002, 110 findet dafür die schöne Formel, dass der im Sinne der Billigkeit agierende Mensch ein Verbündeter, nicht der Gegner des Gesetzgebers sei. 440 441

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zeichnet Aristoteles die Amtsträger auch als Wächter und Diener des Gesetzes. 443 So kann also eine derart recht verstandene Herrschaft des »Verfassungsstaats« den Einwänden der Monarchisten entgegentreten und durch die Bürokratie dem Mangel des notwendigerweise allgemeinen Gesetzes abhelfen. Trotz des Vorrangs der allgemeinen Regeln lässt sich durch die Bürokratie nämlich die notwendige Anwendbarkeit auf die Einzelfälle garantieren. Ebenso eignet sich die Bürokratie aber auch zur Abwehr des antimonarchistischen Arguments, dass ein einzelner Mensch nicht alles wissen könne. Deswegen soll nicht nur ein einziger Mensch entscheiden, sondern viele Beamte stellen die Augen und Ohren des Herrschers dar. 444 Ähnlich wie in der eigentlichen Leitfrage nach »rule of law vs. rule of man?« findet Aristoteles also auch hier die Synthese zwischen den Extrempositionen und kann mit der idealerweise relativ unparteiischen Allgemeinheit der Gesetze und der Kontextsensibilität der einzelnen Beamten sozusagen das Beste aus beiden Positionen kombinieren. Schließlich berücksichtigt er die Einwände beider Seiten. Folgerichtig erhebt Aristoteles die Bürokratie zur zweiten wichtigen Säule einer gelungenen Gemeinschaftsordnung (in Form des Rechtsstaates): So findet sich nicht nur an der bereits erwähnten Stelle (Pol. IV, 4: 1292a32–34) die Bürokratie als eines der zwei Musskriterien, um von einer Verfassung sprechen zu können. Auch in einem anderen Zusammenhang betont Aristoteles ausdrücklich, dass keine Polis ohne die notwendigen Ämter existieren könne und ohne kosmos- und eutaxiabewahrende Ämter nicht gut verwaltet sei. 445 Neben den bereits angeführten Faktoren liegt dies auch darin begründet, dass ein wichtiger Teil der Beamtenschaft zur Exekutive gehört und somit die Befehlsgewalt darstellt. 446 Nun besteht bekanntlich eine gute gesetzliche Ordnung nicht im bloßen Vorhandensein von Vgl. Pol. III, 16: 1287a21 f. Übrigens findet sich die Bezeichnung der Beamten als Diener des Gesetzes bereits bei Platon (vgl. Nomoi IV. Buch 715c). 444 Vgl. Pol. III, 16: 1287b23–30. Zwar steht diese wichtige Bemerkung in einem antimonarchistischen Zusammenhang (anders Swanson, die hier einen Zusammenhang mit den patrioi nomoi vermutet), aber die angebliche Widerlegung dieser These ist nicht der Einwand des Aristoteles selbst. Wie Aristoteles diesem Einwand begegnet, lege ich im Kapitel über das Königtum dar. 445 Vgl. Pol. VI, 8: 1321b6–8. 446 Vgl. Pol. IV, 15: 1299a25–28. Dass die Exekutive von Aristoteles für besonders wichtig erachtet wird, vergleiche noch einmal Pol. III, 6: 1278b8–11 und Pol. IV, 1: 1289a15–18. 443

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gerechten Gesetzen, sondern sicherlich in ihrer Befolgung. 447 Leider wollen viele Menschen nicht gerne dem eigentlich an sich vernünftigen Sollen freiwillig gehorchen und müssen deswegen dem Zwang des Müssens ausgesetzt werden, und so gehört zum Recht bekanntlich auch die Macht (institutionalisiert in Regierung und Verwaltung). Da die Bürokratie derart wichtig ist, erstaunt der Umfang der aristotelischen Gedanken darüber kaum. So überlegt er etwa, welche Beamtenstellen es geben sollte 448 und dass unterschiedlich große Städte verschieden fein differenzierte Beamtenapparate brauchen 449. Besonders dringend stellt sich natürlich die Frage, welche Qualifikation die Beamten eigentlich mitbringen müssen. Einerseits sollen sie natürlich loyal zur Verfassung stehen, große Kompetenzen für ihr Fach aufweisen und vor allem die Auffassungen über Tugend und Gerechtes ihrer jeweiligen Verfassung vertreten. 450 Abschließend sei übrigens noch darauf hingewiesen, dass eine Lesart der Politik mit einem Schwerpunkt auf das distributiv Gerechte letztlich dem Thema der »rule of law« nicht vollkommen gerecht werden kann. Schließlich rückt diese den Menschen und nicht das Gesetz in den Vordergrund, wenn sie danach fragt, wer aufgrund welcher Würdigkeit denn herrschen und Ämter bekleiden solle. Damit wird jedoch meines Erachtens die Architektonik der aristotelischen

Vgl. Pol. IV, 8: 1294a3–7. Schon Platon wusste, dass gute Gesetze allein nicht ausreichen (vgl. Nomoi VI. Buch 751b f.). 448 Besonders hervorzuheben sind hier: Pol. IV, 15 und Pol. VI, 8. 449 Vgl. Pol. IV, 15: 1299a34–b1. 450 Vgl. Pol. V, 9: 1309a33–b14. Hier ist Aristoteles also differenzierter als ihn Piepenbrink liest, die ihm zuschreibt, dass der Amtsinhaber sich vor allem ethisch auszeichnen soll (vgl. Piepenbrink 2001, 81) und Aristoteles gar keinen Begriff von Fachqualifikation habe (vgl. Piepenbrink 2001, 90). Überhaupt keine Rolle spielt im Gegensatz zu Platon die theologische Bildung (vgl. Nomoi XII. Buch 966b–d). So wählen also die Demokratien die Beamten aus der Schar der Freien, die Oligarchien aus dem exklusiven Zirkel der Reichen etc. (vgl. Pol. IV, 15: 1299b20–27). Jedenfalls sollten die Verfassungen darauf achten, dass sie die Beamten aus den Steuerzahlern rekrutieren (vgl. Pol. III, 12: 1283a16–19 f.). Hier macht sich ein elitärer Zug des Aristoteles bemerkbar, denn er möchte die Armen eher ausschließen. Schließlich sollten Bildung und Tugend in der aristokratisch orientierten Lehre des Aristoteles die Hauptkriterien für Ämterbesetzungen sein (vgl. Pol. III, 13: 1283a23–26). Daher sind sie als Ehrenämter am besten nicht bezahlt (vgl. Pol. III, 10: 1281a29–32 für das Amt als Ehre sowie Pol. V, 8: 1309a3–9 als Antwort, warum keine Bezahlung vorgesehen ist). 447

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Politik mit dem Fundament der »rule of law« nicht korrekt eingeschätzt. Gerade dieses Fundament der »rule of law« attackiert hingegen zu Beginn der neuzeitlichen politischen Philosophie Thomas Hobbes extrem scharf und erklärt diese Lehre für einen der maßgeblichen Grundfehler der aristotelischen Philosophie: Und deshalb besteht ein anderer Irrtum der aristotelischen Politik darin, dass in einem wohlgeordneten Gemeinwesen nicht die Menschen herrschen sollten, sondern die Gesetze. Welcher Mensch, der im Besitz seiner natürlichen Sinne ist, wenn er auch weder schreiben noch lesen kann, merkt nicht, dass er von denen beherrscht wird, die er fürchtet und von denen er glaubt, sie könnten ihn töten oder schädigen, wenn er nicht gehorcht? Oder wer glaubt, dass das Gesetz könne ihm schaden, das heißt Worte und Papier ohne die Hände und Schwerter von Menschen? 451

Dementsprechend wenig verwundert, dass Hobbes selbst lediglich eine »rule by law« eines absoluten Souveräns befürwortet und den Souverän ausdrücklich nicht den Gesetzen unterworfen wissen will. 452 Obwohl sowohl Aristoteles als auch Hobbes ihre politische Umwelt in einem steten Machtkampf verschiedener Gruppierungen bzw. gar in einem Bürgerkrieg begriffen sehen, gehen ihre Lösungsvorschläge interessanterweise in genau entgegengesetzte Richtungen. Beide Denker gehen zwar von der Machtgier und den eigennutzorientierten Interessen der Gegner in diesem Kampf um die Macht in der politischen Gemeinschaft aus, dennoch plädiert Aristoteles gerade deswegen für die »rule of law« und Hobbes ebenso gerade deswegen gegen die »rule of law«. Aber wie argumentiert Aristoteles? Ist er tatsächlich machtpolitisch derart naiv, wie die oben zitierte Polemik von Hobbes es nahelegt? Sicherlich möchte Aristoteles das Faktum der machtpolitischen Zerrissenheit dadurch beseitigen, dass er eine Verständigung der verschiedenen Gruppierungen über die Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen empfiehlt und diese sich im Rahmen dieser politischen Verständigung (»politische Freundschaft«) auf eine entsprechende Verfassungs- und Gesetzesordnung einigen. Gerade weil Leviathan, Kap. XLVI in der Übersetzung von Schlösser. Trotzdem beurteilt Ambler 1985, 180 f. ausgerechnet die Passage, der Mensch sei getrennt von Gesetz und Recht das schlimmste aller Lebewesen, als »an almost Hobbesian context«. 452 Vgl. Leviathan, Kap. XXVI. 451

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Aristoteles dem Menschen nicht traut, ordnet er ihn der Herrschaft des Rechtes unter. Warum hofft er gerade so den steten Machtkampf unter den Menschen einbremsen zu können? Weil die Herrschaft von Menschen zum einen normativ meist in einen üblen Despotismus führt 453; zum anderen hat sich dieses Vorgehen der absoluten, ungeteilten Machtergreifung faktisch bei Demokraten und Oligarchen zwar durchgesetzt, 454 aber letztendlich nur zur Perpetuierung des Machtkampfes geführt. Schließlich hat die unterlegene Gruppierung ihre absolute Entmachtung und Entrechtung häufig nicht klaglos hingenommen. Entsprechend scheint es weiser zu sein, das kyrion dem Gesetz und nicht irgendwelchen Menschen zu überlassen. Dabei teilt Aristoteles die Befürchtungen des Hobbes nicht, dass eine solche »rule of law« realpolitisch zahnlos bleiben muss. Vielmehr ist sie machtpolitisch dahingehend abgesichert, dass hinter der Verfassungsordnung ja stets mindestens eine verfassungstreue Mehrheit oder gar die gesamte Bürgerschaft stehen muss. 455 Institutionell wird diese »rule of law« dadurch stabilisiert, dass – wie wir bereits gesehen haben – keine Gruppierung die Macht alleine für sich beanspruchen darf und sogar die Tugendhaften eine Kontrolle durch den Rest der Bürgerschaft über sich ergehen lassen müssen. Dies bremst nicht nur despotische Möglichkeiten ein, sondern kommt auch dem Bedürfnis aller Gruppierungen nach einem gewissen Anteil an der Macht entgegen. Vor allem jedoch ermöglicht eine Herrschaft des Rechtes ein friedvolleres Zusammenleben, da nicht irgendwelche Menschen das Höchste in der Polis darstellen, sondern alle im Gesetzesgehorsam und in der Verfassungstreue übereinkommen und sich an die gemeinsam festgelegten und für alle gleichermaßen geltenden Regelungen halten sollen. Sicherlich dürfen diese politische Freundschaft, also die Übereinstimmung in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen, und dieser Konsens, lieber allgemeine Gesetze als irgendwelche Menschen regieren zu lassen, als die aristotelische Antwort auf das machtpolitische Fundament der »rule of law« gelten. Nach wie vor bleibt aber die Frage offen, wieso denn der Mensch überhaupt diese normative Übereinstimmung suchen soll. Auch wenn wir bisher gesehen haben, dass Aristoteles keine so naive AnVgl. EN V, 10: 1134a35 f. Vgl. Pol. IV, 11: 1296a27–32. 455 Vgl. Pol. II, 8: 1268a23–25, Pol. II, 9: 1270b21 f., Pol. III, 11: 1281b27–30, Pol. V, 4: 1304b2–4, und v. a. natürlich Pol. V, 9: 1309b14–18. 453 454

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thropologie pflegt, wie Hobbes bzw. von Hobbes inspirierte Interpreten gerne annehmen: Wie kann Aristoteles sein realistisches Menschenbild mit einer Forderung nach einer solchen normativen Einigung vereinbaren? Warum sollte denn beispielsweise ein herrschender Demokrat einer Beschränkung seiner Herrschaft durch die »rule of law« oder durch eine Beteiligung der rivalisierenden Gruppen an der Macht (in einem bestimmten, beschränkten Umfang) zustimmen und sie im rauen politischen Geschäft auch umsetzen? Verlangt hier Aristoteles nicht zu viel Einsicht und setzt er nicht ein zu großes Maß an Tugend voraus? Falls Aristoteles tatsächlich so argumentierte, wäre ein völliger Bruch in seiner politischen Philosophie mit Händen zu greifen. Jedoch appelliert er keineswegs in naiver Weise an die Tugend der Herrscher, sondern vielmehr an ihren Eigennutzen: Wenn wir die Lebensdauer solch ungebremst despotischer Herrschaftsformen ansehen, dann waren sie in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle nur von sehr kurzer Dauer. 456 Insofern sollte gerade ein eigennutzzentrierter Herrscher mit ausgeprägtem Machtwillen dennoch die aristotelischen Ratschläge einer »rule of law« und einer gewissen politischen Beteiligung anderer Gruppierungen an der Macht beherzigen – was aber im aufgeklärten Eigeninteresse liegt und nichts mit einer Tugendhaltung zu tun hat. Somit liegt eine extreme Durchführung eines demokratischen oder oligarchischen Programms (»rule of man« statt »rule of law«; eigene absolute Herrschaft und weitgehende Entrechtung des Rests) gerade nicht im Eigeninteresse solcher Verfassungstypen. 457 Allerdings bescheidet sich Aristoteles nicht allein mit dem Appell an den wahren Eigennutzen der Herrscher, sondern versucht durch die bereits bekannte doppelte Ausrichtung der Gesetze auch die uneinsichtigeren Naturen zu überzeugen: So werden einerseits Übertretungen gegen die herrschenden Gesetze selbstverständlich mit Strafen geahndet, womit das Recht natürlich von einer entsprechenden Macht mit Zwang durchgesetzt wird. Vor allem aber bekommt diese Rechts- und Machtordnung auch dadurch ein stabiles Fundament, indem auf die Erziehung gemäß der Verfassung der größte Wert gelegt wird und in dieser positiven Rück456 Vgl. Pol. V, 12: 1315b11 f. (für Tyrannis und Oligarchie) und 1315b38 f. (für die Tyrannis); für die radikale Demokratie siehe Pol. VI, 4: 1319b1–4. 457 Dies stellt Aristoteles ausdrücklich fest: Pol. VI, 5: 1320a2–4. Ähnlich auch Pol. V, 9: 1309b18–1310a2.

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koppelung die normative Einheit der Bürgerschaft ebenfalls einer Zersplitterung vorbeugt. 458 Schließlich sorgt eine funktionierende politische Gemeinschaft so für das eigene Überleben, da sie durch Erziehung der Bürger, der Bürgerinnen und der Kinder gemäß dem normativen Programm der Verfassung gerade die für die Stabilität der Bürgerschaft so notwendige Verfassungstreue und politische Freundschaft befördert. Wer nämlich dieselben normativen Überzeugungen wie der Rest der Bürgerschaft (oder zumindest deren Mehrheit) teilt und sich auch von der Herrschaft der Gesetze (in denen sich ja die normativen Überzeugungen niederschlagen) weniger gedrückt sieht als von einer Herrschaft von Menschen und auch als Angehöriger der nicht stärksten Gruppe einen gewissen Anteil an der Macht erhält, der wird wesentlich weniger Anlass zum Aufstand sehen. Nun muss – wie dargelegt – eine Polis auf solche Haltungen nicht einfach nur hoffen, sondern kann die normative Übereinstimmung der Bürgerschaft durch eine entsprechende Erziehung gemäß der Verfassung verstärken und durch eine »rule of law« sowie eine gewisse Machtteilung der Personen auch für weniger Unmut sorgen. Anders formuliert: Die Einheitlichkeit der politischen Ordnung möchte Aristoteles durch eine Einheitlichkeit der Rechtsordnung erreichen, die wiederum als Ausfluss einer normativen Einigung der verschiedenen Gruppierungen gelten kann und vor allem durch eine einheitliche Erziehung gemäß der Verfassung gestärkt wird. 459 Ebenso dient die Teilung der Macht durch eine Beteiligung aller relevanten Gruppierungen an den Ämtern 460 auch der Rettung der Polis, da dann idealerweise die Motivation für Kämpfe um die verschiedenen Ämter verringert werden sollte. Weshalb befürchtet Hobbes eigentlich, dass gerade die »rule of law« zu einer Zersplitterung und einem machtpolitischen Chaos führt? 461 Während die oben zitierte Polemik angesichts der angeführten Gedanken des Aristoteles nicht besonders überzeugend wirkt, ist Vgl. Pol. V, 9: 1310a12–19. Daher teile ich die Meinung von Piepenbrink nicht: »Was er [Aristoteles; B. L.] propagiert, ist eine ›autonome‹ Nomosherrschaft, die von der sozialen und politischen Interaktion in der Polis so weit als möglich getrennt ist.« (Piepenbrink 2001, 183) 460 Dass dies aber keineswegs eine Gleichberechtigung dieser Gruppierungen bedeutet, sehen wir in Kapitel 3.2.1.3. 461 Da es sich ja nicht um eine Arbeit zu Hobbes handelt, erörtere ich nicht sämtliche seiner Bedenken, sondern konzentriere ich mich auf die wichtigsten für einen Vergleich mit Aristoteles. 458 459

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der eigentliche Gegensatz zwischen ihrer Auffassung der politischen Ordnung dennoch in gewisser Weise mit dieser Problematik verknüpft. Ausgehend von seiner Interpretation der jüngeren englischen Geschichte, sieht er in der Teilung der Macht (zwischen Parlament und Monarchen) den Auslöser für den verheerenden Bürgerkrieg. Entsprechend muss die Macht des Souveräns für Hobbes auf jeden Fall ungeteilt bleiben und darf daher auch nicht dem Gesetz unterworfen sein. Ausführlich argumentiert Hobbes dafür im so genannten Letztinstanzlichkeitsargument: Wenn der Souverän den Gesetzen unterworfen wäre, dann müsste es – für den Fall von Gesetzesverstößen – natürlich eine Instanz geben, die den Souverän richten darf und eine solche, die mit der Macht ausgestattet ist, ihn zu strafen. Dies ist jedoch mit der absoluten Souveränität des Herrschers nicht vereinbar und führt in einen unendlichen Regress, da ja über Souverän 1 die erwähnten Instanzen stehen müssten, die ihn richten und strafen könnten und – über ihm stehend – als eigentlicher Souverän (Souverän 2) angesprochen werden könnten. Dies müsste natürlich bis ins Unendliche fortgeführt werden. 462 Anders formuliert: Hinter jedem Recht muss auch eine Macht stehen. Wenn aber die absolute Macht dem Recht unterworfen werden soll, ist sie eben nicht mehr als absolut zu begreifen, da irgendeine andere Macht dem Recht zur Geltung gegenüber dem Souverän verhelfen müsste und somit als die eigentliche Macht gelten könnte. Hobbes befürchtet also eine machtpolitische Zersplitterung bei einer »rule of law« und schlägt anstelle eines Primats einer Rechtsordnung stattdessen die personalistische Lösung eines einheitlichen, ungeteilten, mit absoluter Macht versehenen princeps legibus solutus vor. Trefflich lässt sich dieser Gegensatz nicht nur bei der Frage nach der Unter- oder Überordnung der höchsten Ämter in Bezug auf das Gesetz studieren, sondern ebenso auch im Problemfeld der Gewaltenteilung. Weil Aristoteles aus der Geschichte die Lehre zieht, dass das despotische Streben nach ungeteilter Macht zu immer neuen Konflikten führt, erkennt er das unhintergehbare Faktum einer Vielfalt der Gruppierungen und ihrer Machtansprüche an und zieht daraus institutionelle Konsequenzen. Daher sieht er die Lösung für das Machtproblem einerseits in einer »rule of law«, andererseits verteilt er die menschliche Macht, da eine absolute Machtergreifung einer einzigen Gruppierung erst recht wieder Aufstände provozieren kann. 462

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Vgl. Leviathan Kap. XXIX.

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Warum stellt die fehlende personelle Einheit für Aristoteles kein Problem dar? Weil er den Primat der Rechtsordnung favorisiert und das (personalistische) Letztinstanzlichkeitsproblem gar nicht für ein solches hält, sondern die Vielfalt der Machtansprüche nicht nur bloß ein Faktum darstellt, sondern sogar (untergeordnet) die Lösung. Somit ist die Ungeteiltheit der Macht, wie sie Hobbes als Lösung anstrebt, für Aristoteles das Problem und nicht etwa die Lösung. Was Hobbes umgekehrt als Hauptproblem ansieht, nämlich die Aufteilung der Macht auf verschiedene Gruppen, ist bei Aristoteles der Weg, wie sich alle Gruppen der Polis zugehörig fühlen können. Entsprechend sieht Aristoteles die Einheit der politischen Ordnung nicht in einer einheitlichen Person begründet, sondern in einer normativen Einigung und damit einhergehend in der Unterordnung aller Menschen unter die Rechtsordnung (»rule of law«). Dagegen hält Hobbes die normative Einheitlichkeit in Form der Eintracht 463 für ungenügend und fordert stattdessen eine tatsächliche Einheit in einer Person. 464 Ironischerweise hat Hobbes in diesem Punkt eine wesentlich tragfähigere Interpretation der aristotelischen politischen Philosophie erbracht als viele moderne Interpreten, die in Aufnahme hobbesianischer Motive die fehlende Rolle einer künstlichen Übereinstimmung beim angeblichen Naturalisten Aristoteles beklagen und ihn Hobbes mit seiner Künstlichkeit des Vertrags entgegensetzen. Tatsächlich bestätigt Hobbes die bereits von uns gewonnenen Einsichten nolens volens in wichtigen Punkten: Zwar missdeutet er die Anthropologie des Aristoteles in der beschriebenen Weise, aber eine fehlende Rolle von Übereinkünften der Bürger bei Aristoteles ist wahrlich nicht sein Vorwurf: Stattdessen ist für ihn diese wichtige Rolle der Übereinkunft bei seinem antiken Gegner durchaus vorhanden. Jedoch übersehe dieser wegen seiner naiven Anthropologie, dass eine Eintracht angesichts des natürlichen Egoismus des Menschen nicht eine solide Basis für eine politische Ordnung sein könne. Daher bemängelt er – wie wir in Aufnahme bereits bekannter Motive sehen – »die bloße Übereinstimmung oder das Übereinkommen zu einer 463 Vgl. De cive, Kap. V. Warum dieser Begriff bei Aristoteles in der Politik keine Rolle mehr spielt und durch das Konzept der politischen Freundschaft (als Übereinstimmung in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen) ersetzt, dafür argumentiert Kapitel 1.1.5.3. 464 Vgl. Leviathan Kap. XVII.

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Verbindung ohne Begründung einer gemeinsamen Macht […]« 465 Sogar das Ergebnis dieser Übereinkunft hat er richtig identifiziert, wenn auch die bereits bekannte Kritik folgt und er den aristotelesfremden Vertragskontext bemüht: Auf dieser Grundlage [des zôon politikon] errichten sie ihre Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft, als ob zur Erhaltung des Friedens und zur Regierung des menschlichen Geschlechts nichts weiter nötig wäre, als daß die Menschen sich auf gewisse Verträge und Bedingungen einigten, die sie selbst dann Gesetze nennen. 466

beziehungsweise: Aristoteles hat also hier unter Staat eine Menschenmenge verstanden, welche durch gemeinsame Übereinkunft (etwa durch ein mittels Abstimmung bestätigtes Schriftstück) bestimmte Lebensregeln angibt. Allein dies sind nur gegenseitige Verträge, welche erst dann für jeden verbindlich werden und daher Gesetze sind, wenn durch Begründung einer höchsten Gewalt, die Zwang auszuüben vermag, jeder vor den anderen gesichert ist, die auf andere Weise jene Verträge nicht einhalten würden. Mithin sind die Gesetze nach dieser Definition des Aristoteles nur nackte und unwirksame Verträge, die erst dann, wenn jemand mit Recht die Staatsgewalt ausübt, nach dessen Ermessen zu Gesetzen werden oder nicht. Er verwechselt also die Verträge mit den Gesetzen […] 467

Nachdem nun die genuin aristotelische Sicht auf die Frage nach der »rule of law« erarbeitet ist, interessiert wiederum der Kontrast zu Platon: Worin unterscheidet sich nun also Aristoteles von Platon im Themenkomplex der Gesetzesherrschaft? 468 Grundsätzlich möchte ich im Folgenden dafür argumentieren, dass Platon personalistischer als Aristoteles denkt, wobei ich einen Institutionalismus vor allem dem reifen Aristoteles der Bücher I–VI zuspreche; in der Polis nach Wunsch in Pol. VII finden sich tatsächlich kaum institutionalistische Züge (verglichen mit I–VI). In Übereinstimmung mit meiner bisherigen Interpretation ist Aristoteles nicht ein derart scharfer Kritiker De cive, Kap. V in der Übersetzung von Gawlick. De cive, Kap. I in der Übersetzung von Gawlick. 467 De cive, Kap. XIV in der Übersetzung von Gawlick. Allerdings bleibt ein gewisser Wermutstropfen dabei, dass sich Hobbes in seiner Darstellung just auf ein unechtes Werk, nämlich die Rhetorik an Alexander, stützt. 468 Dass Aristoteles nicht dem Modell der Philosophenkönigsherrschaft der platonischen Politeia folgt, ist bekannt und braucht hier nicht eigens rekonstruiert zu werden. Für die Frage, wie das Verhältnis von Philosoph und Politiker bei Aristoteles gedacht ist, siehe Bodéüs 1990. 465 466

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einer Gesetzesherrschaft wie Platon es – zumindest bis zu den Nomoi – ist, andererseits kombiniert er – was meines Erachtens in der Forschung bisher zu wenig hervorgehoben worden ist – in der Institution der Beamtenschaft gekonnt die Vorteile von Gesetzes- und Menschenherrschaft und würdigt besser die Bedeutung der Beamtenschaft. Insgesamt kann er damit – wie bereits dargelegt – die scharfe Disjunktion von vollkommenen Gesetzen und vollkommenen Menschen elegant überwinden. 469 Welche Haltung nimmt also Platon in den drei wichtigsten politischen Dialogen, also der Politeia, dem Politikos und den Nomoi, in Bezug auf die Gesetzesherrschaft ein? Obwohl sich Platon in der Politeia nicht ausdrücklich über das Thema der Gesetzesherrschaft äußert, ist die Tendenz dennoch vollkommen klar. Gerade in der Politeia werden den Philosophenherrschern keinerlei institutionelle Schranken auferlegt, sondern wird stattdessen die persönliche Weisheit der Philosophenherrscher stark in den Mittelpunkt gestellt und das Problem einer gesetzlichen Einschränkung stellt sich angesichts ihrer Vollkommenheit gar nicht. Nicht umsonst erklärt Platon im berühmten Gipfelpunkt dieses Werkes den verfehlten Zustand der damaligen Poliswelt damit, dass es bisher noch nicht zum Schulterschluss zwischen Philosophie und Politik gekommen sei und sieht die Rettung erst dann eintreten, wenn endlich die Philosophen Könige werden oder die Könige Philosophen. 470 Dass die Errettung der Poleis in bestimmten Personen liegen soll und nicht in einer Reform der Verfassungs- oder Gesetzeslandschaft, ist sicherlich auch zu einem guten Teil in der in der Politeia bekanntlich höchst zentralen Analogie zwischen einer Polis und einem Organismus begründet: So setzt ja Platon verschiedene Teile des Polis-Organismus mit bestimmten Bürgergruppen (und fest mit ihnen verknüpften psychischen Eigenschaften)

469 Jedoch möchte ich bereits jetzt darauf hinweisen, dass damit dieses Lehrstück nicht abgeschlossen ist: Vielmehr erreicht es für Aristoteles einen weiteren normativen Gipfel im Zusammenhang mit seiner Annahme des herausragenden Königs als nomos empsychos. Im Laufe der entsprechenden Kapitel möchte ich zeigen, dass Aristokratie und Königtum im Gegensatz zur Annahme von Piepenbrink (vgl. Piepenbrink 2012, 146 Anmerkung 8) laut Aristoteles doch institutionelle Regelungen ihrer Herrschaft kennen – wobei dies beim Königtum allerdings nicht die Person des Königs selbst betrifft. Somit stellt die normative Höchstbewertung des Königtums und der Aristokratie trotz der Betonung ihrer persönlichen Qualität keinen Einwand gegen die Charakterisierung des Aristoteles als institutionalistischen Denker dar. 470 Vgl. Politeia V. Buch, 473d. Echos finden sich auch in Politeia VI. Buch, 499b–c.

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gleich und weist etwa die Weisheit den Philosophen oder die Tapferkeit den Wächtern zu. Entsprechend sind die angeblich unvernünftigen Leute aus dem Dritten Stand auf die Philosophenherrschaft angewiesen, damit die Vernunft auch über sie herrscht. 471 Viel wichtiger als eine Neuregelung bereits bestehender Gesetze ist also die Neuregelung der Frage: »Wer soll herrschen?«. Erst eine Machtergreifung der (in den Philosophen verkörperten) Vernunft bewirke eine vernünftige Neuausrichtung der angeblich tief verrotteten Poleis. Scharf attackiert Platons Sokrates Gesetzesreformer, die gewissermaßen mit legalistischen Mitteln ihre Umwelt bessern wollen: Etwas mokant bezeichnet er sie als die besten Männer dieser Welt, die mit steten Reformen etwa eines Handelsrechtes die Lage zu bessern glauben und damit der Hydra wiederum nur ein Köpfchen abschneiden. 472 In seiner Verachtung von Gesetzen geht Platon manchmal etwas gar weit, wenn er etwa so wichtige Angelegenheiten wie die Einsetzung von Richtern oder wichtige zivilrechtliche Bestimmungen nicht gesetzlich geregelt wissen will. 473 Schließlich seien solche Regelungen in einer verfehlten Polis ohnehin nutzlos und zeitigten kein Ergebnis und in einer wohl verwalteten Polis benötigten die braven Bürger solche Anleitungen ohnehin nicht. 474 Wesentlich ausführlicher äußert sich Platon im Politikos zum Thema einer Herrschaft von Personen im Gegensatz zu einer Herrschaft des Gesetzes. Auch hier sehen wir einen eindeutigen Schwerpunkt auf der Persönlichkeit der Herrscher und eine im Politikos sogar explizite Abwertung der Herrschaft der Gesetze gegenüber der Herrschaft des besten Menschen. Etwas tadelnd macht der Fremde seinen Gesprächspartner, Sokrates den Jüngeren, darauf aufmerksam, dass sie doch in ihrer Analyse der normativen Güte verschiedener Verfassungstypen nicht das bereits erarbeitete Ergebnis vergessen dürften, dass es in der politischen Kunst allein auf das Wissen ankäme. 475 Ausdrücklich werden damit die traditionellen Einteilungsschemata von reich und arm, freiwillig und gewaltsam sowie gesetzlich und ungesetzlich als nebensächlich zur Seite geschoben. Dabei wird dieses Kriterium der Gesetzesgeleitetheit am Ende für die Suche nach 471 472 473 474 475

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Vgl. Politeia IX. Buch, 590d. Vgl. Politeia IV. Buch, 426e. Vgl. Politeia IV. Buch, 425c–d. Vgl. Politeia IV. Buch, 427a. Vgl. Politikos 292a–c.

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der vollkommensten Polis als völlig unbrauchbar denunziert. 476 Folgerichtig erklärt der Fremde zum optimalen Zustand, wenn nicht die Gesetze, sondern der mit Einsicht begabte königliche Mann regiere. 477 Wie kommt Platon zu diesem harten Urteil? Welche Gründe sprechen denn gegen die Herrschaft des Gesetzes? Hoch problematisch ist für ihn vor allem der Umstand, dass das Gesetz allgemeine Regelungen für das doch so differierende Feld der Praxis gibt. Etwas höhnisch vergleicht er das Gesetz mit einem selbstgefälligen und ungelehrigen Menschen, der auch niemals ein Iota von seiner einmal festgesetzten Anordnung abweiche. 478 Stattdessen plädiert der Fremde für die uneingeschränkte Herrschaft des Wissenden, der natürlich im Gegensatz zum starren Gesetz sehr wohl flexibel auf unterschiedliche Umstände reagieren könne. Zwar müssen der oder die wenigen durch ihr Wissen herausgehobenen Herrscher zwar auch Gesetze für die Untertanen erlassen, 479 aber selbstverständlich ist dieser Wissende selbst nicht an eine einmal gefällte Entscheidung gebunden und kann sie im Bedarfsfall ohne Probleme korrigieren 480. Sogar wenn er in Ausübung seiner Kunst gegen die eigenen geschriebenen Gesetze verstoßen sollte, begeht der Wissende damit nicht einen Fehler: Schließlich sollte diese technê politikê des Wissenden höher angesetzt werden als die Gesetze und ist der mit Einsicht Regierende dabei ohne Fehl. 481 Dabei ist unwichtig, ob diese Herrschaft überhaupt auf freiwillige Akzeptanz stößt oder eben als gesetzliche Regierung anzusprechen ist. Auch in ihren Maßnahmen ist sie faktisch ungebremst und kann Untertanen auch töten und verjagen, solange sie dabei nach bestem Wissen und Gewissen handelt (also der epistêmê und dem dikaion folgt). 482 Wenig überraschend kommt daher das Resümee, dass das Grundübel in den Poleis in der Herrschaft von Schriften und Gewohnheiten läge und dass nicht die Einsicht herrsche. 483 Folgerichtig Vgl. Politikos 302e. Vgl. Politikos 294a. 478 Vgl. Politikos 294a–c. 479 Schließlich können sie nicht den ganzen Tag bei jedem einzelnen Untertanen sitzen und ihm Anweisungen geben, sondern müssen notgedrungen allgemeine Regeln für den Durchschnittsfall angeben (vgl. Politikos 294d–295b). 480 Vgl. Politikos 295e–296a. 481 Vgl. Politikos 296a–297b. 482 Vgl. Politikos 293a–d. 483 Vgl. Politikos 301e. 476 477

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verfolgt der Fremde von Anfang an die These, dass nur diese Herrschaft des Wissenden als einzig richtige Verfassung anzusprechen sei, 484 sondert diese siebte Regierungsform gänzlich von den anderen ab 485 und erklärt sie zu einem Gott unter Menschen 486. Streng teilt Platon also die Verfassungen danach ein, ob sie sich als Herrschaft des Wissenden entpuppen und kommt damit zu einer grundlegenden Dichotomie, die in dieser Beziehung an die ebenfalls dichotomische Politiksicht im Philosophenkönigs-Diktum erinnert: Auf der einen Seite steht die einzig wahre Herrschaftsform des Wissenden, während der Rest als bloß mehr oder weniger schlechte Abfallprodukte einer Verfallsgeschichte gelten. Schließlich beschränkt sich die normative Güte dieser Verfallserscheinungen darauf, in unterschiedlichem Umfang die eine wahre Verfassung nachzuahmen. 487 Wie später auch in den Nomoi spricht Platon im Politikos den Vertretern der »normalen« Verfassungstypen wie etwa Demokratie oder Oligarchie ab, überhaupt Politiker zu sein und spricht sie stattdessen als Bürgerkriegler an. 488 Tatsächlich gibt es abseits dieser strikten Zweiteilung zwischen der Herrschaft des besten Menschen und dem Rest auch noch eine Binnendifferenzierung in der Gattung der nachahmenden Verfassungen: Wie bereits dargelegt, kommt es Platon im Politikos hauptsächlich auf das Wissen an. Unglücklicherweise sei dieses allerdings nur selten zu finden 489 und können die Unwissenden nur versuchen, es nachzuahmen. Dabei macht es jedoch einen entscheidenden Unterschied, ob hierbei Gesetze die Nachahmung des Wahren leisten oder unwissende Menschen: Besonders verkehrt und schlimm ist es, wenn die Unwissenden sowohl ihrer unwissenden Unvernünftigkeit folgen als auch gegen die Gesetze handeln. Entsprechend sollten das gemeine Volk und die Reichen als der politischen Kunst Unwissende dem Gesetz folgen 490, und ist somit die Gesetzesgeleitetheit Vgl. Politikos 293d–e, 297c–d und 301d. Vgl. Politikos 302c. 486 Vgl. Politikos 303b. 487 Bereits Politikos 293d–e besteht auf dieser grundlegenden Zweiteilung zwischen der einen richtigen Verfassung und den restlichen bloß etwas besseren oder schlechteren Nachahmungen. Politikos 302b spricht dabei ganz deutlich aus, dass alle Verfassungen, die nicht eine Herrschaft des wahrhaft Wissenden beinhalten, nicht richtig sind und das Leben in ihnen allen schwer sei. 488 Vgl. Politikos 303c. 489 Vgl. Politikos 292e–293a. 490 Immerhin beruht es auf langer Erfahrung und einige Ratgeber dürften dem Volk vernünftig geraten haben: Politikos 300b. 484 485

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das normative Scheidekriterium zwischen besseren und schlechteren Nachahmungen. 491 Da Platon die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines solchen Wissenden ziemlich pessimistisch beurteilt, plädiert er dafür, in einer »Zweiten Fahrt« den Gesetzen zu folgen. 492 Somit lässt sich resümieren, dass Platon im Politikos auf der einen Seite die »rule of law« normativ ziemlich weit unter der Herrschaft des besten Menschen ansiedelt und sie ausdrücklich nur als zweitbeste Fahrt ansieht, aber auf der anderen Seite faktisch die zweitbeste Fahrt gegenüber der noch ungeliebteren Alternative einer »rule of worst man« vorziehen glaubt zu müssen. 493 Insofern scheint also auf den ersten Blick aufgrund einer Interpretation der Politeia und des Politikos klar, dass Platon normativ einen lupenreinen Personalismus (die Herrschaft des besten Menschen) eindeutig einem Institutionalismus (der Herrschaft des besten Gesetzes) vorzieht und nur aus resignativ-realistischen Gründen die Herrschaft der Gesetze für die meisten Poleis vorsieht. Jedoch ändert sich dieses Bild nicht entscheidend, wenn man die Nomoi hinzuzieht? Tatsächlich scheint der Athener auf den ersten Blick eine wesentlich gesetzesfreundlichere Haltung zu vertreten: Während in der Politeia und im Politikos die Vernünftigkeit an eine bestimmte Person oder Personengruppe gebunden gewesen ist, ordnen die Nomoi scheinbar die Vernunft nun doch den Gesetzen zu: Während 689b zunächst die Unterwerfung des schmerz- und lustunterworfenen dêmos unter die Vernunft in Gestalt sowohl der HerrVgl. Politikos 300c–301c. Vgl. Politikos 301d–e bzw. Politikos 300b–c und 297d–e. Ähnlich formuliert der VII. Brief, wobei ich dessen Lehren aus Rücksicht auf seine bekanntlich noch nicht ganz zweifelsfrei geklärte Authentizität hier in der Fußnote wiedergebe: Leider befänden sich die Bürgerschaften samt und sonders in einem schlechten Zustand (vgl. VII. Brief 326a). Da das Ideal der Philosophenherrschaft nicht leicht zu verwirklichen sei, schlägt Platon folgende Maßnahme vor: Damit sich die Bürgerschaften nicht der Willkür einzelner Männer oder Gruppen ausliefern, sollen sie durch ein auf herkömmliche Werte gestütztes schriftlich fixiertes Grundgesetz regiert werden (vgl. VII. Brief 334c). Da Platon allerdings die Einwände gegen die Gesetzesherrschaft nicht entkräftet und er bekanntlich – gerade im VII. Brief – große Vorbehalte gegen die Schrift hegt, dürfen wir diesen Rat vielleicht nur als vorübergehende Notmaßnahme gegen die chaotischen Zustände auf Sizilien und nicht als philosophisch untermauerte Allgemeinempfehlung verstehen. Schließlich handelt es sich bei einem niedergeschriebenen Gesetz um ein totes, starres Abbild des wahren nous. 493 Während die meisten Interpreten das Verfassungsschema von Pol. III, 7 auf den Politikos zurückführen, macht Yack 1993, 196 f. auf wichtige Unterschiede aufmerksam. 491 492

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schenden als auch der Gesetze fordert, verdeutlicht die nachfolgende Diskussion bereits in 690c die Herrschaft des Gesetzes als die naturgemäße Form der Herrschaft. 494 Sogar noch emphatischer preist der Athener die »rule of law« an vielen anderen Stellen, indem er das Gesetz gar sakralisiert 495 und in Nachahmung der göttlichen Herrschaft im Zeitalter des Kronos nun ebenfalls kein Sterblicher regieren sollte, sondern vielmehr die göttliche Vernunft in Gestalt des Gesetzes: Und so behauptet denn auch heute noch diese Sage und trifft damit die Wahrheit, daß es für alle Staaten, über die nicht ein Gott, sondern irgend so ein Sterblicher herrscht, kein Entrinnen vor Unheil und Leiden gibt; vielmehr müßten wir, meint sie, mit allen Mitteln die Lebensweise, die unter Kronos bestanden haben soll, nachahmen und dem, was an Unsterblichkeit in uns ist, folgend im öffentlichen wie im persönlichen Leben unsere Häuser und Staaten verwalten, indem wir die Verteilung der Vernunft als Gesetz bezeichnen. Wenn aber ein einzelner Mensch oder eine Oligarchie oder gar eine Demokratie, deren Seele nach Lüsten und Begierden trachtet und nach deren Erfüllung verlangt, jedoch nichts in sich festzuhalten vermag, sondern mit einem endlosen und unersättlichen Übel wie mit einer Krankheit behaftet ist – wenn also über einen Staat oder auch nur über einen einzelnen ein solcher Mensch herrschen sollte, der die Gesetze mit Füßen tritt, dann gibt es, wie wir eben gesagt haben, keine Möglichkeit der Rettung. 496 Denn einem Staat, in welchem das Gesetz geknechtet und machtlos ist, einem solchen sehe ich den Untergang bevorstehen. In welchem es aber Gebieter über die Herrschenden und die Herrschenden Sklaven des Gesetzes sind, dem Staat sehe ich Fortbestand und alle Güter zuteil werden, welche die Götter je Staaten verliehen haben. 497

Somit scheint Platon in den Nomoi in aller wünschenswerten Deutlichkeit für die Herrschaft des Gesetzes zu plädieren. Eindringlich weist der Athener durch verschiedene historische Beispiele nach, welche verheerenden Konsequenzen ein Abgehen von der »rule of law« immer wieder gezeitigt hat. Sowohl Argos und Messene als auch Athen scheiterten – in unterschiedlichem Umfang – an der UnverVgl. Nomoi III. Buch 688e–690c. Beispielsweise erklärt er in Nomoi VI. Buch 762e den Dienst an den Gesetzen zu einem Dienst an den Göttern. Damit zieht der Athener an dieser Stelle eine wichtige Konsequenz aus dem Marionettengleichnis. 496 Nomoi IV. Buch 713e–714a in der Übersetzung von Schöpsdau. 497 Nomoi IV. Buch 715d in der Übersetzung von Schöpsdau. 494 495

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nünftigkeit ihrer Politik: So stürzten die Herrscher von Argos und Messene ihre Poleis dadurch ins Verderben, indem sie entgegen den Gesetzen ohne jegliches Maß immer mehr haben wollten. 498 Einerseits ist es für die menschliche Natur ohnehin nahezu unmöglich, autokratisch alle menschlichen Angelegenheiten zu verwalten, ohne dem Übermut und der Ungerechtigkeit zu verfallen, 499 andererseits scheint dies auch eine spezielle Berufskrankheit von Königen zu sein 500. Aber auch in Athen ging die Politik angeblich einen ziemlich unvernünftigen Weg, wobei hier die Abkehr von der »rule of law« im Übertreten der Gesetzesregeln im Theater lag: Während in der Zeit der Perserkriege das Volk sich selbst als freiwilligen Sklaven der Gesetze begriff, sei später plötzlich die Unsitte aufgekommen, dass sich zuerst die Dichter nicht mehr an die vorgegebene Ordnung hielten, sodann aber das Volk diese Meinung übernommen habe, Musik habe nicht Richtigkeit an sich, sondern es komme lediglich auf die Lust des Beurteilenden an und zwar unabhängig von dessen sittlicher Qualität. Dementsprechend hätte ausgehend von einem solchen Irrglauben an eine musikalische Kompetenz des breiten Volkes eine Verachtung des Gesetzes ihren Anfang genommen. Zudem hätte das Volk sich angemaßt, das Urteil der Besseren nicht nur in der Musik zu ignorieren, sondern es hätte sich auch in allen anderen Bereichen plötzlich für alles zuständig und wissend erklärt. So wäre ausgehend von dieser Theatrokratie die schranken- und uferlose Demokratie des heutigen Athen entstanden. 501 Gewissermaßen den systematischen Hintergrund all dieser Vorgänge bildet das Marionettengleichnis, das uns auf den prekären Zustand unserer menschlichen Seele hinweist: Wir werden von den eisernen Fäden der Lust und des Schmerzes hin- und hergerissen, womit der goldene Faden der Vernunft als bloß überredender dringend der Hilfe bedarf. Gerade in dieser Lust- und Schmerzkontrolle liegt entsprechend ein zentraler Schwerpunkt der Gesetze. 502 Insgesamt scheint Platon in den Nomoi also eine Kehrtwende im Vgl. Nomoi III. Buch 691a. Vgl. Nomoi IV. Buch 713c, ähnlich Nomoi III. Buch 691c–d und Nomoi IX. Buch 875b. 500 Vgl. Nomoi III. Buch 690e–691a. Dagegen empfiehlt der Athener den spartanischen Weg einer Machtbeschränkung und -Teilung (vgl. Nomoi III. Buch 692a– 693b). 501 Vgl. Nomoi III. Buch 698a–701c. 502 Vgl. Nomoi I. Buch 636d. 498 499

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Vergleich zum Politikos und erst recht zur Politeia vollzogen zu haben und koppelt nun die Vernünftigkeit des Menschen an die Gesetzesherrschaft und nicht mehr an die personalistische Herrschaft der Vernünftigen über die Unvernünftigen. Sogar eine ganz zentrale aristotelische Aussage in Pol. I, 2, welche die Herrschaft des Gesetzes über den Menschen für dringend notwendig erklärt und ihn ansonsten vertieren sieht, findet sich bereits in einer ähnlichen Fassung in den Nomoi: Wenn der Mensch ohne Gesetze lebe, dann unterscheide er sich nicht vom allerwildesten Tiere. Schließlich habe kein Mensch die Kraft, das Beste (im Sinne des Allgemeinwohls) zu verwirklichen: Erstens sei es schwierig zu erkennen, dass die wahre politische Kunst auf das Gemeinwohl gerichtet sein müsse und es auch im Eigeninteresse liege, das Gemeinwohl und nicht das Eigeninteresse zu fördern; zweitens werde niemand – sogar wenn er diesen ersten Punkt erkannt habe – die Kraft aufbringen, das Gemeinwohl auch in der Regierungspraxis tatsächlich vor das Eigeninteresse zu stellen, wenn er frei von jeder Verantwortung und aus eigener Macht über eine Polis herrsche. Stattdessen werde seine sterbliche Natur ihn im Verlangen nach Lust und in der Flucht vor dem Schmerz zur Selbstsucht und zur Priorisierung der persönlichen Interessen treiben. 503 Eigentümlicherweise bleibt dieses eindeutig scheinende Votum aber doch nicht das letzte Wort, denn wiederum wird in der Gesamtbewertung die Herrschaft des besten Menschen über die Herrschaft des Gesetzes gestellt: Die Möglichkeit eines solch befähigten und mit genügend politischer Macht ausgestatteten Menschen wird zwar als kaum vorhanden eingeschätzt, jedoch beharrt Platon darauf, dass das Wissen keinem Gesetz und keiner Ordnung unterlegen sein und die Vernunft niemals jemandem dienen dürfe, sondern über alles herrschen müsse. Ausdrücklich bezeichnet er daher Ordnung und Gesetz als Zweitbestes: Wenn allerdings einmal durch göttliche Fügung ein Mensch mit jener natürlichen Fähigkeit geboren würde und imstande wäre, eine solche Machtstellung zu erlangen, so brauchte er keinerlei Gesetze, die über ihn herrschen müßten. Denn dem Wissen ist kein Gesetz und keine Ordnung überlegen; und es widerspräche auch der göttlichen Satzung, wenn die Vernunft etwas anderem untertan und dessen Sklavin wäre, sondern sie muß über alles herrschen, sofern sie wirklich in ihrem Wesen wahrhaft und frei ist. Nun aber findet sich ja doch nirgends eine solche Fähigkeit, es sei denn 503

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Vgl. Nomoi IX. Buch 874e–875a.

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in geringem Maße; darum gilt es das Zweitbeste zu wählen, die Ordnung und das Gesetz […]. 504

Letztlich ändert sich also auch in den Nomoi nichts an der normativen Abstufung: Noch immer hält Platon eine personalistische Herrschaft des Vernünftigen/Wissenden grundsätzlich für normativ wertvoller und erstrebenswerter als die Herrschaft des Gesetzes. 505 Ottmann hat daher das Dilemma der Nomoi zutreffend beschrieben: »Je schlechter und uneinsichtiger der Mensch, um so mehr Gesetze. Die Nomoi inszenieren geradezu eine Gesetzesflut. Seht her, was man alles regeln muß, wenn die wahre Einsicht fehlt!« 506 Nun könnte man natürlich einwenden, dass zwar in der grauen Theorie die Herrschaft des besten Menschen von Platon bevorzugt würde, aber seine Gesamtposition faktisch ja keinen Unterschied zur aristotelischen Bevorzugung der »rule of law« darstelle. Einerseits überzeugt dies nicht völlig, da es philosophisch wohl einen Unterschied macht, ob eine Position vorbehaltlos unterstützt oder sie nur notgedrungen als zweitbeste, aber leider eben realistischere Option akzeptiert wird. Andererseits gerät Platon wie bereits in der Verfassungsfrage so auch im Gesetzesthema aufgrund einer normativen Überdehnung in dieselben rechtstheoretischen Schwierigkeiten. Bereits in der Verfassungsfrage schien das Resultat rechtstheoretisch ziemlich bedenklich, wenn p1 auf p2 verengt würde. Ebenso problematisch scheint die Lage in der Gesetzesfrage zu sein: Der Athener leugnet, dass man in eigennützigen Herrschaftsformen von Gerechtem sprechen könne, sondern erkennt ihnen dieses Attribut glattweg ab: Nicht nur seien diese Verhältnisse nicht als Verfassungen zu bezeichnen und ihre »Bürger« als Bürgerkriegler, sondern was sie als Gerechtes bezeichnen, sei ein leerer Name. 507 Letztlich sehen wir wieder dasselbe Problem, das im Anschluss an Luhmann die Differenz zwischen Nicht-Recht und Unrecht genannt werden könnte: Gesetze setzen tatsächlich dasjenige fest, was in einer Polis als gerecht und ungerecht gilt. Insofern haben auch schreiend ungerechte Gesetze immer noch mit dem Thema des Gerechten zu tun und daher ist eine entsprechende Verfassung immer noch juristisch eine Verfassung

504 505 506 507

Nomoi IX. Buch 875c–d. in der Übersetzung von Schöpsdau. Zu weiteren Stellen siehe Hentschke 1971, 274. Ottmann 2005, 27. Vgl. Nomoi IV. Buch 714b–715c.

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und ein entsprechendes Gesetz immer noch ein Gesetz, und so fehlt eine Traktierung des Gerechten nicht komplett. 508 Wie wir bereits gesehen haben und weiterhin sehen werden, vermeidet Aristoteles in seiner Konzeption des Gesetzes und des Gerechten genau dieses Problem und findet damit eine rechtstheoretisch befriedigendere Lösung. Schließlich erkennt Aristoteles auch ungerechte Gesetze als Gesetze an. Wenn aber jegliches Recht in einem bestimmten Umfang als gerecht anzusprechen ist, rechtfertigt Aristoteles dann nicht jede Rechtsordnung als gerecht? Bereits früher haben wir gesehen, dass die »rule of law« selbst nur für einen gewissen minimalen Standard in normativer Hinsicht sorgt. Somit dürfte für Aristoteles mit der »rule of law« zwar ganz schlimmen Auswüchsen vorgebeugt sein, aber eine wahrhaft gerechte Regierung ist damit noch längst nicht garantiert. Aristoteles ist sich dieser Gefahr deutlich bewusst und vertritt natürlich keineswegs ein normatives »anything goes«. Insofern besteht die eigentliche Aufgabe in der normativen Prüfung der Verfassung anhand von nun zu erarbeitenden Kriterien.

508 Man beachte dabei jedoch, dass ich eine Doppeldeutigkeit durchaus wahrgenommen habe: 715b werden eigennützige Verfassungen ausdrücklich ihres Verfassungsdaseins beraubt (»Tautas dêpou phamen hêmeis nyn out’ einai politeias«), der Nachsatz »out’ orthous nomous hosoi mê sympasês tês poleôs heneka tou koinou etethêsan« hingegen könnte sich auch auf die normative Richtigkeit beziehen. Daher stütze ich mich in meiner Interpretation nicht auf diese Passage, sondern auf die gleich folgende: »hoi d’heneka tinôn, stasiôtas all’ou politas toutous phamen, kai ta toutôn dikaia ha phasin einai, matên eirêsthai«.

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II. Die Bewertung der politischen Ordnung

2.0 Wiederholung: Warum jedes Recht in bestimmtem Umfang gerecht ist Bevor ich den normativen Maßstab des Aristoteles schildere, möchte ich allerdings eine Warnung vorausschicken. Zwar bewertet er jegliche Rechtsordnung anhand bestimmter Kriterien in Hinsicht auf ihr Verhältnis zum eigentlich Gerechten (zum an sich Gerechten), aber deswegen ist Aristoteles keineswegs blind für die normativen Vorstellungen der Bürger. Anders formuliert: Sicherlich beharrt er auf der normativen Überlegenheit seiner eigenen Wunschvorstellungen, aber dennoch verschließt er nicht die Augen vor den normativen Ansprüchen der betroffenen Bürger. So werden wir im Laufe der gesamten Arbeit zwar sehen, dass Aristoteles ein relativ elitärer Freund der Aristokratie und des Königtums ist, aber trotzdem auch die Ansprüche der Demokraten oder Oligarchen in einem beschränkten Umfang mitberücksichtigen kann. Dabei begründet er dies nicht allein vor dem Hintergrund von Stabilitätserwägungen, sondern gesteht ihren normativen Thesen tatsächlich eine gewisse Berechtigung zu. Daher unterteilt sich dieser zweite große Abschnitt in mehrere Schritte: Zunächst wird mit einer Diskussion von »Naturrecht« und positivem Recht bei Aristoteles der Maßstab der normativen Bewertung von Verfassungen erlangt. Sodann wird in einem folgenden Abschnitt dieses Gerechte an sich in seinen Grundzügen erläutert (»Was ist laut Aristoteles gerecht an sich?«), bevor dann der dritte Unterabschnitt sich mit der Relevanz der normativen Bewertungen der Bürger beschäftigt (»Was ist – laut Aristoteles – das Gerechte für die Bürger?«). Schließlich erörtert der vierte Unterabschnitt noch die heftig umstrittene Frage, ob für Aristoteles die Stabilität einer Polis tatsächlich davon abhängt, wie gerecht sie seiner Meinung nach ist. Zunächst sollten wir also rekapitulieren, wieso für Aristoteles überhaupt jegliches Recht – in einem bestimmten Umfang – als gerecht gelten kann. Hier helfen uns die bereits erzielten Erkenntnisse Ordnung in der Polis

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Die Bewertung der politischen Ordnung

zu verstehen, wieso jede Verfassung oder jedes Gesetz das Gerechte in gewisser Weise verwirklicht: Jedes Recht ist aus Vorstellungen über das Gerechte entstanden und kann daher als Spiegel von Auffassungen über das Gerechte verstanden werden: »Es gibt nämlich das Gerechte unter Menschen, die ein Gesetz für ihre gegenseitigen Beziehungen haben; ein Gesetz aber gibt es, wo es unter Menschen Ungerechtigkeit gibt: Denn das Recht ist die Unterscheidung von gerecht und ungerecht« 1. Fast jede Herrschaft ist natürlich bemüht, ihre Regelungen als eigentlich gerecht darzustellen. Selbstverständlich reicht die Bandbreite hier von ungerechten Rechtsregeln verfehlter Verfassungen hin zu einem sehr gerechtem gemeinwohlorientierten Recht. Kraut hingegen bezweifelt, dass jedes Recht in einer gewissen Weise als gerecht zu gelten hat. Beispielhaft sähen wir dies etwa an Extremdemokratien oder Extremoligarchien: »The exceptions are extreme democracies and oligarchies […] In such cities, justice is entirely absent.« 2 Dagegen spricht jedoch einerseits, dass solange rechtliche Regelungen als positive Festsetzungen des Gerechten und Ungerechten erlassen werden, wir tatsächlich das Ausmaß des Gerechten solcher Regelungen feststellen können und diese nicht der Bewertung völlig entzogen sind (da sie eben nicht mehr in die Klasse der gerechten Regelungen fallen würden). Ebenso werden wir später im Demokratiekapitel (pars pro toto) andererseits sehen, dass auch in den extremen Formen etwa einer Demokratie oder einer Oligarchie nicht überhaupt gar nichts Gerechtes am Werke ist, sondern nur eine verfehlte Auffassung des Gerechten in ihrer Reinform durchgeführt. Somit wird eine bestimmte Auffassung des Gerechten extrem verwirklicht, womit also immer noch ein gewisser kleiner Kern von Gerechtem vorhanden ist. Beispielhaft sehen wir dies anhand einer These von Rosler: Dieser behauptet, dass eine extreme Demokratie keine moralisch gerechtfertigten Gründe für einen Kampf gegen eine Tyrannis habe. 3 Tatsächlich gibt es jedoch auch für den demokratiekritischen Aristoteles solche Gründe, da eine extreme Demokratie trotz ihrer eigenen Mängel gegenüber dem Tyrannen mit Recht darauf pochen kann, dass alle Freien in der Polis frei sein sollten und nicht vom Tyrannen despotisch als Knechte misshandelt werden dürEN V, 10: 1134a30–32 (Übersetzung des Verfassers, basierend auf Wolf und Gigon). Kraut 2002, 382 (Hervorhebung durch Unterstreichung; B. L.). Vgl. auch schon Kraut 2002, 116 (zum Tyrannen) oder Kraut 2002, 253. 3 Vgl. Rosler 2005, 37. 1 2

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Wiederholung: Warum jedes Recht in bestimmtem Umfang gerecht ist

fen. Zwar übertreibt für Aristoteles – wie wir im Demokratiekapitel sehen werden – die extreme Demokratie ihr Freiheitsbedürfnis, aber der Anspruch auf Freiheit ist ein legitimer Grund für einen Kampf gegen die Tyrannis. Anders formuliert: Wie bereits im Kapitel 1.2.2 herausgearbeitet worden ist, folgert Aristoteles aus dem normativen Abweichen verfehlter und ungerechter Rechtsregeln gegenüber der normativ besten Lösung nicht, dass es sich dabei überhaupt um kein Recht mehr handelt. Wenn Recht als Scheidung von gerecht und ungerecht definiert wird, ist tatsächlich jedes Recht in einer gewissen Weise und in einem gewissen Ausmaß als gerecht zu bezeichnen. Schließlich setzt jedes Recht fest, was in einer Polis als gerecht und ungerecht zu gelten hat. Somit ist sein Gegenstandsbereich das Gerechte, und wir können das Ausmaß des Gerechten irgendeines – sei es auch noch so ungerechten – Gesetzes oder einer Verfassung nur darum bestimmen, weil es eben zur Klasse der gerechten Entitäten gehört. Selbstverständlich muss dies noch dahingehend präzisiert werden, dass sich unsere Untersuchung auf das politisch Gerechte beschränkt. 4 Dazu erläutert Aristoteles: »Dieses findet sich dort, wo Menschen zur Erreichung von Autarkie ihr Leben gemeinsam leben, und zwar Menschen, die frei sind und gleich entweder im proportionalen oder im arithmetischen Sinn.« 5 Später werden wir sehen, dass Aristoteles die Gleichheit gemäß dem Beitrag zur eudaimonia bemisst und dementsprechend die Macht proportional zuteilen möchte und auf der anderen Seite aber auch die arithmetische Gleichheit an Freiheit eine minimale Gleichbehandlung aller freien Bürger fordert. Bereits diese später noch ausführlich zu erläuternden Theoreme zeigen deutlich, dass Aristoteles jedes Recht in bestimmter Weise als gerecht anspricht und dennoch kein normatives »anything goes« vertritt. Natürlich wertet Aristoteles sehr wohl die verschiedenen Auffassungen des Gerechten. Dies geschieht dadurch, dass er zwei Arten des Gerechten unterscheidet, nämlich einerseits ein allgemein Gerechtes an sich und andererseits die besonderen institutionell-positiv verwirklichten Auffassungen des Gerechten. Anders als Platon dies in seiner Besprechung sophistischer Rechtsthesen nahelegt, folgt aus der Anerkennung der Positivität aller Rechtsordnungen keineswegs 4 EE VII, 10: 1242a22–27 zeigt, dass es ein Gerechtes auch in nicht-politischen Zusammenhängen gäbe. 5 EN V, 10: 1134a26–28 (in der Übersetzung von Wolf).

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notwendigerweise ein normativer Nihilismus: Gerade dies suggeriert Platon mehrfach und behauptet, dass eine solche Position wahllos stets nur die allerletzte positivrechtliche Bestimmung als gerecht ansehe, ohne ein natürlich Gerechtes als Maßstab zu akzeptieren. So setze jede Polis für sich etwas als gerecht fest und halte dies in protagoreischer Weise für sich als wahr, ohne jedoch tatsächlich die eigene Position vernünftig rechtfertigen zu können. 6 Somit wäre der Weg für Platon dahingehend geebnet, dass überhaupt nicht mehr Vernunft, sondern nur noch Gewalt das Gerechte festsetzt. Auffälligerweise verknüpft Platon diese beiden Aspekte sehr konsequent miteinander und lässt die eigentlich deskriptive These, dass die Gesetze jeweils den Verfassungen folgen, stets dahingehend normativ uminterpretieren, dass diese Haltung eine normative Orientierung am despotischen Eigennutzen verkünde und unter der Hand unterstütze. So soll also angeblich eine Anerkennung der Positivität jeglicher Rechtsordnung bedeuten, dass damit das Recht als Vorteil des Stärkeren missverstanden werde. 7 Da so allerdings Unrecht in Form des Rechts aufträte, zieht Platon den – bereits bekannten – Schluss, dass solches Unrecht nicht als Recht anerkannt werden kann und entzieht ihm daher aufgrund seiner Ungerechtigkeit und Unvernünftigkeit den Status der Verfassung. 8 Was dem Gerechten an sich nicht entspricht, dies ist für Platon auch kein Gerechtes für sich, und somit entbehrt solches Recht eben komplett des Rechtscharakters. Wenn hingegen Aristoteles jegliche positive Rechtsordnung in ihrer Positivität anerkennt, möchte er das »Naturrecht« weder vollkommen fehlen lassen und somit jegliche positive Ordnung für genauso gerechtfertigt wie die anderen erklären, noch gar das positive Recht in einem »Naturrecht der Gewalt« bestehen lassen, also jegliches positive Recht als »Recht des Stärkeren« verstehen. Selbstverständlich möchte auch Aristoteles eine vernünftige Evaluierung der verschiedenen positiven Verfassungstypen leisten und beruft sich dabei – wie wir sehen werden – sehr wohl auf einen vernünftig-»naturrechtlichen« Standard. Auf der anderen Seite leugnet er – anders als Platon – keineswegs die positiv vorliegende Tatsache einer Verfassung, sobald die betreffende Verfassung seinen Anspruch an Ver6 Vgl. beispielsweise Nomoi X. Buch 889e–890a oder noch wesentlich pointierter Theaitetos 172a–b. 7 Vgl. Nomoi IV. Buch 714b–715a. 8 Vgl. Nomoi IV. Buch 715b.

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»Naturrecht« und positives Recht

nünftigkeit nicht erfüllt. Anders ausgedrückt: Auch an sich nicht gerechte Verfassungen sind gerecht für sich, was Platon eben vehement bestritten hat. Hier sei für Aristoteles noch einmal daran erinnert, dass dies nicht etwa allein ein gewagtes Interpretationsergebnis des Verfassers ist, sondern sich zum Beispiel darauf stützen kann, dass Aristoteles in Pol. III, 2: 1275b34–1276a6 auch Unrecht (ungerechtes Recht) ausdrücklich als positives Recht anerkennt. Zusammenfassend formuliert: Er strebt an, weder wie angeblich manche Sophisten nur Gerechtes für sich (ohne Maßstab des Gerechten an sich) zu akzeptieren, noch das Gerechte für sich im Gerechten an sich aufgehen zu lassen, sodass nur noch Lösungen, die dem Gerechten an sich entsprechen, überhaupt noch als Gerechtes gelten können (die platonische Lösung). Mit diesen komplizierten Vorüberlegungen im Hintergrund erreichen wir das interpretatorisch schwierige Kapitel des Verhältnisses von »Naturrecht« und positivem Recht.

2.1 »Naturrecht« und positives Recht Zunächst möchte ich erklären, wieso ich die etablierte Bezeichnung Naturrecht in Anführungszeichen setze: Wie wir aus der Diskussion der einschlägigen Stellen in der Forschungsliteratur ersehen können, ist heftig umstritten, ob Aristoteles tatsächlich eine Naturrechtslehre vertritt und als Vorläufer späterer Naturrechtskonzeptionen gelten kann. Da sich die traditionelle Naturrechtslehre und die aristotelische Auslegung des »natürlich Gerechten« meines Erachtens ziemlich unterscheiden, gebe ich das physikon dikaion manchmal auch als »Gerechtes an sich« wider. Umgekehrt kann indes das nomikon dikaion durchweg unproblematisch als positives Recht wiedergegeben werden, da sich die besonderen Auffassungen des Gerechten stets in geschriebenen oder ungeschriebenen positiven Rechtsbestimmungen äußern.

2.1.1 Zur Veränderlichkeit des »Naturrechts« Einleitend knüpft Aristoteles an die bereits vor ihm breit diskutierte Frage nach der Konventionalität und Arbitrarität des Gerechten an. Ordnung in der Polis

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Die Bewertung der politischen Ordnung

Müssen wir das Gerechte als bloß konventionell betrachten oder ist es vielmehr an einen Maßstab des Natürlichen gebunden? Bereits die Vorgänger des Aristoteles unterschieden ein »natürlich Gerechtes« (wörtlich: physikon dikaion) von positiv gesatzten »gesetzlichen« Gestalten des Gerechten (wörtlich: nomikon dikaion). Wie charakterisiert Aristoteles diese beiden Typen des Gerechten? Indem er hier die Kriterien von Genese und Geltung anwendet, stößt Aristoteles auf interessante Ergebnisse. Wenn wir als erstes die Geltung des Gerechten an sich betrachten (gemäß dem längeren Abschnitt zum »Naturrecht« in EN V, 10: 1134b18–1135a5), so gilt es überall in gleicher Weise und hängt nicht von der Meinung der Menschen ab. Somit ist es natürlich scharf von einem positiv gesatzten Recht geschieden, muss also über einen anderen Maßstab verfügen. Wie bereits der Name physikon dikaion nahelegt, ist es an die (praktische) Natur des Menschen gekoppelt. Daher gilt es ausdrücklich für alle Menschen, selbst wenn sie nicht in einer positiven Rechtsbeziehung zueinanderstehen. Entsprechend formuliert die zweite für die Problematik von Recht und Gerechtem wichtige Stelle im Corpus Aristotelicum – Rhet. I, 13: 1373b1–24 (die also zur entsprechenden Besprechung von Neschke-Hentschke 9 zu ergänzen ist) –, dass das physikon dikaion ein nomos koinos ist. So ist also das physikon dikaion ein nomos koinos, da hier die Normen unabhängig von menschlicher Meinung universell feststehen und nicht erst durch die Menschen völlig willkürlich festgelegt werden. Hier dürfen wir sicherlich an Verfehlungen wie Ehebruch oder Mord denken, die Aristoteles in EN II, 6: 1107a8–27 zu den absolut verbotenen Handlungen zählt, die niemals erlaubt sein können. Sogar wenn positivrechtliche Bestimmungen dies plötzlich erlaubten, wäre dies vom Standpunkt des physikon dikaion unerlaubt. Umgekehrt begründet sich das positive Recht genetisch aus der Meinung der Menschen und gilt als konventionelles Recht nicht allgemein, sondern besondert sich in verschiedenen Gegenden jeweils anders und wird daher in Rhet. I, 13 als nomos idios bezeichnet. Da die Rechtsmeinungen nur das positive Recht betreffen können, stellt unser Philosoph dementsprechend stark den konventionellen Charakter der Gesetze heraus und kennzeichnet sie als Vertrag oder Übereinkunft. 10 Sozusagen repräsentiert der nomos die Meinung der 9 10

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Vgl. Neschke-Hentschke 2012, 114. Für die Bestimmung als Vertrag oder Übereinkunft siehe Rhet. II, 15: 1376b10 und

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Mehrheit (zu ergänzen: der damit befassten Bürger). 11 So bezieht das nomikon dikaion also seine Macht aus der jeweils positiven Festsetzung; die Entscheidung über die Höhe des Lösegelds für Gefangene oder die Anzahl und Art der Opfertiere ist genauso wie die Frage nach einem Kult für den spartanischen Feldherren Brasidas von der Gemeinschaft in ihrem positiven Recht willkürlich festsetzbar (wobei diese Regeln dann nach der gesetzlichen Regelung selbstverständlich bindend sind). Daher ist das positive Recht an sich nicht inhaltlich bestimmt, sondern wird vom Gesetzgeber mit Inhalt gefüllt, während das »Naturrecht« bereits an sich inhaltlich festgelegt und einer (beliebig gedachten) Willkür der Menschen entzogen ist. Eng verknüpft mit der Diskussion um »Naturrecht« und positives Recht ist das Problem des geschriebenen und des ungeschriebenen Rechts. Während die ungeschriebenen Gesetze des »Naturrechts« 12 universell gelten, stellt ein geschriebenes Recht eine Regelung für eine bestimmte Gemeinschaft dar. Umgekehrt muss jedoch – dies sei gegenüber Piepenbrink bemerkt – nicht jedes besondere Recht auch niedergeschrieben sein. 13 Welche neue Erkenntnis gewinnen wir überhaupt aus der Frage nach geschriebenem und ungeschriebenem Recht? Hauptsächlich die Charakterisierung des positiven Rechts als Zwangsrecht im Gegensatz zum vernünftig überzeugenden »Naturrecht«. 14 Da die meisten Menschen nicht tugendhaft genug sind und von vornherein aus eigenem Wollen das Sollen des »Naturrechts« befolgen, benötigen die Gemeinschaften sehr wohl ein Müssen in Gestalt eines zwingenden positiven Rechts. 15 Selbstverständlich ist derjenige Mensch tugendhafter zu nennen, der nicht durch den Zwang des positiven Rechts zu einer Handlung oder dem Ablassen von einer Handlung gezwungen wird. Tatsächlich gehorchen leider jedoch die wenigsten Menschen ihrem inneren Sittengesetz, sondern verunreinigen ihre praktische Vernunft einerseits durch ihre Machtinteressen und andererseits durch ihre Triebe, Sympathien etc. Wenn nun aber nicht jeder vernünftig auf das »Naturrecht« hört, sollten diese Leute Pol. I, 6: 1255a6. Miller weist zusätzlich auf die wichtige Stelle Pol. I, 6: 1255a6 hin, in welcher der nomos als homologia gekennzeichnet wird. Vgl. Miller 2007b, 83. 11 Vgl. Soph. El. 12: 173a29. 12 Vgl. neben Rhet. I, 13: 1373b6 auch EN V, 10: 1134b19 f. 13 Vgl. Rhet. I, 13: 1373b5 f. Piepenbrink 2012, 153 hingegen schreibt Aristoteles die These zu, dass ungeschriebene Gesetze stets allgemeine Geltung hätten. 14 Vgl. Rhet. I, 14: 1375a16 f. 15 Vgl. EN X, 10: 1180a3–5, das allerdings das »Naturrecht« nicht erwähnt. Ordnung in der Polis

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dem Zwang des positiven Rechts ausgesetzt werden. Da die Vernunft der Einzelnen häufig nicht zur eigentlichen Sittlichkeit imstande ist und wir den nomos durchaus – wie bereits gesehen – in einem bestimmten Ausmaß als logos begreifen dürfen, benötigen weite Teile einer Gemeinschaft also dringend die institutionalisierte Vernunft der positiven Gesetze. Allerdings darf man daraus nicht den Schluss ziehen, dass Aristoteles alles durch Gesetze regeln will. Schließlich beschäftigt sich die Rechtsordnung mit abstraktem Allgemeinem, während die Taten der Menschen konkrete Einzelhandlungen sind. 16 Bis hierher scheint der Unterschied zwischen »Naturrecht« und positivem Recht sehr einleuchtend. Dies ändert sich indes in der Frage nach der Unveränderlichkeit oder Veränderlichkeit des natürlich Gerechten. Bevor wir zur Beantwortung dieser äußerst wichtigen Frage schreiten, sollten wir eine Warnung von Joachim Ritter beherzigen: Er betont nämlich, dass wir die aristotelische Lehre am besten ohne Orientierung an der späteren Entwicklung aus sich selbst heraus verstehen sollen. 17 Kenner der nachfolgenden Naturrechtstradition mögen zunächst erstaunt sein, dass Aristoteles ausdrücklich die Unveränderlichkeit des häufig als »Naturrecht« wiedergegebenen natürlichen Gerechten bestreitet und vielmehr von seiner Veränderlichkeit ausgeht. Entsprechend problematisch sind daher traditionelle sowie neuere Interpretationen, welche das »Naturrecht« bei Aristoteles als unveränderlich charakterisieren, als Beispiel sei hier etwa Von Leyden angeführt. 18 Während die spätere Naturrechtstradition relativ selbstverständlich von einer Unveränderlichkeit des Naturrechts spricht, finden wir bei Aristoteles ausdrücklich das Gegenteil. Damit lässt Aristoteles den Leser zunächst einmal ratlos zurück, wie Otfried Höffe feststellt: Während man heute, da das Naturrecht oft als obsolet gilt, an ein sich ewig gleich bleibendes Ideal denkt, hält es Aristoteles für veränderlich (kinêton). Dabei wird allerdings nicht ganz klar, ob er das Ideal selber oder nur die stets unvollkommenen Realisierungen als veränderlich ansieht. 19

Somit stehen buchgetreuere Interpretationen, welche dennoch von einem klassischen Naturrecht bei Aristoteles sprechen wollen, in der Notwendigkeit, die aristotelische These von der Veränderlichkeit des 16 17 18 19

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Vgl. für den ganzen Absatz: Pol. II, 8: 1269a11–24. Vgl. Ritter 2003, 150. Vgl. Von Leyden 1985, 74. Höffe 2006, 232.

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»Naturrechts« umzudeuten. Dafür gibt etwa Leo Strauss ein gutes Beispiel ab: Zunächst spricht Strauss trotz des gegenteiligen Wortlauts von EN V, 10: 1134b18–27 davon, dass das »Naturrecht« bei Aristoteles unveränderlich sei. 20 Später korrigiert er diese Annahme zwar, kommt aber in seiner detaillierteren Besprechung des aristotelischen »Naturrechts« in ziemliche Erklärungsnöte. 21 Um die prinzipielle Unveränderlichkeit des Naturrechts zu retten, legt Strauss die entsprechenden Stellen nämlich dann so aus, dass die Veränderlichkeit des »Naturrechts« vonnöten ist, um in Notsituationen angemessen reagieren zu können und dass das »Naturrecht« in konkreten Entscheidungen und nicht in allgemeinen Regeln bestünde. Gewissermaßen handelt es sich um eine Art »Ausnahmethese«, welche dem Naturrecht eine Unveränderlichkeit nach wie vor zuspricht, jedoch von einer Veränderlichkeit als Ausnahme ausgeht. Textlich lässt sich dieser komplizierten Konstruktion durch den Hinweis von Yack auf die genaue Formulierung in 1134b33 (amphô kinêta homoios) begegnen, dass sowohl physikon dikaion als auch nomikon dikaion veränderlich seien. Entsprechend fällt Yacks Resümee aus: »Mutability does not refer merely to exceptions or qualifications added to an ordinarily unchanging standard of natural right. It characterizes natural right as a whole and thus plays no role in distinguishing natural from conventional right in the Nicomachean Ethics.« 22 Miller sieht ebenfalls eine Veränderlichkeit in der EN, konstatiert jedoch einen Widerspruch zwischen EN V und Rhet. I, 13, da er in Rhet. I, 13: 1373b9–13 das »Naturrecht« als unveränderlich charakterisiert. 23 Wenn dies tatsächlich korrekt wäre, brächte das eine ziemliche Spannung in die aristotelische Lehre über das »Naturrecht«. Dagegen erheben sich indes einige Bedenken, denn es handelt sich bei der von Miller vorgebrachten Stelle um ein Zitat aus der Antigone des Sophokles und damit nicht zwangsläufig um eine genuin aristotelische Lehre. Gerade wenn wir das darauffolgende Beispiel ansehen, liegt eine gewisse Vorsicht nahe, die Zitate vollumfänglich als aristotelische Meinung zu betrachten. Im zweiten Beispiel von Rhet. I, 13 (Rhet. I, 13: 1379b14–17) vertritt Empedokles die These, dass es nicht in dem einen Fall – nämlich bei den Tieren – gerecht sein könne, 20 21 22 23

Vgl. Strauss 1977, 100. Vgl. Strauss 1977, 162–167. Yack 1993, 142 Vgl. Miller 2007b, 94.

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zu töten und im anderen Fall dagegen nicht (bei Menschen), denn schließlich wären doch beide beseelt-lebendig. Dies kann jedoch schwerlich die aristotelische Ansicht sein und in einer Übernahme des empedokleischen Tötungsverbots für Beseeltes gipfeln. Da in der aristotelischen Psychologie bekanntlich die Pflanzen ebenfalls eine Seele haben, würde er mit einem allgemeinen Tötungsverbot von Beseeltem den Hungertod der Menschheit befürworten. 24 Auch in einem zweiten Punkt scheint mir, dass zwischen Rhetorik und Nikomachischer Ethik kein entscheidender Unterschied besteht: Während Aristoteles in der EN unbestrittenermaßen eine Abgrenzung zwischen dem menschlichen »Naturrecht« und dem göttlichen Naturrecht vornimmt (während das göttliche Recht unveränderlich ist, müssen wir beim davon unabhängigen menschlichen »Naturrecht« von seiner Veränderlichkeit ausgehen), sieht Miller in der Rhetorik einen göttlichen Ursprung des »Naturrechts«. Jedoch findet diese These – wie auch Miller selbst zugeben muss – keine direkte Stütze im Text. Daher sieht Miller in der Rhetorik eine starke platonische Denktradition wirksam, da Platon in Nomoi IV. Buch 715e–716a, 716c und Nomoi X. Buch 888d–890d die Gesetze tatsächlich sakralisiert hat. 25 Insgesamt erklärt Miller die Naturrechtslehre in Rhet. I, 13 für einen Vorläufer der späteren Naturrechtstradition. 26 Problematisch scheint dies nicht nur wegen der fehlenden Textbasis, sondern auch weil dies die Assoziation eines kosmologisch eingebetteten Naturrechts nahelegt – was jedoch schwerlich einem aristotelischen Naturrecht entspricht, wie Neschke-Hentschke darlegt. 27 Insgesamt findet sich also kein überzeugender Beleg für ein theologisch legitimiertes Naturrecht bei Aristoteles, womit eine bestimmte kritische Diagnose von Habermas auf die meisten anderen vormodernen Rechtsphilosophen zutreffen mag, nicht aber auf Aristoteles: Er sakralisiert die Normen nicht, wie dies in der Interpretation von Haber-

Zingano 2013, 214 hinterfragt mit Hinweis auf die Kritik von Pol. I, 8: 1256b15–20 ebenfalls, ob dieses Beispiel als aristotelisch gelten kann. 25 Vgl. Miller 2007b, 97. Zu ergänzen wäre etwa auch noch Nomoi VI. Buch 762e. 26 Vgl. Miller 2007b, 95. Verdross 1970, 527 f. hingegen betrachtet die Rhetorik als ohne jeglichen wissenschaftlichen Wert für die aristotelische Naturrechtslehre und möchte nur Politik und Nikomachische Ethik heranziehen. Auch Yack 1993, 146 wertet die Rhetorik ab, da sie auf Überzeugung abziele und überdies den Lehren der Nikomachischen Ethik in dieser Frage glatt widerspreche. 27 Vgl. Neschke-Hentschke 2012, 114 und 117. 24

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mas die vorneuzeitlichen Projekte charakterisiert. 28 Textlich ebenso wenig belegbar sind weitere Lösungsversuche etwa von Salomon, der entgegen der Textlage auch das menschliche »Naturrecht« für unveränderlich hält und die Veränderlichkeit nur auf unserer Erkenntnisseite annimmt. 29 Die von Miller 30 angeführte Stelle Rhet. I, 15: 1375a31–b2 ist kein Gegenbeleg, da es hier um prozesstaktische Argumentationsstrategien vor Gericht geht, die Aristoteles den jeweiligen Parteien vorschlägt. Somit scheinen sämtliche Versuche, die Veränderlichkeit des physikon dikaion entweder ganz zu leugnen, umzuinterpretieren oder nur auf die Rhetorik einzuschränken, mangels positiver Textevidenz und systematischer Stringenz gescheitert zu sein. Insofern bleibt nur noch der Weg offen, die Veränderlichkeit des physikon dikaion zu akzeptieren und eine argumentativ befriedigende Lösung dafür zu finden. Ich meine, dass sich die angeführten Interpretationsprobleme vermeiden lassen, wenn es Aristoteles um die faktische und nicht um die normative Veränderlichkeit geht. Was ist also mit der Veränderlichkeit des »Naturrechts« tatsächlich gemeint? Keineswegs dass die Inhalte des »Naturrechts« veränderlich sein sollen, sondern dass sie es tatsächlich sind. Schließlich sind wir frei und können uns über die eigentlich naturrechtlich gebotenen Normen hinwegsetzen und uns anders entscheiden. So könnte Antigone die »naturrechtlich« gebotene Beerdigung unterlassen und damit einem Konflikt mit Kreon aus dem Weg gehen. Damit behauptet Aristoteles freilich nicht, dass der Maßstab/das Ideal veränderlich sein soll. So stellt unser Philosoph ausdrücklich fest, dass etwa nur eine einzige Verfassung »naturrechtlich« geboten sei. 31 Aber auch hier haben die Menschen die Möglichkeit, einen anderen Verfassungstyp für sich zu wählen und so von der eigentlich besten Lösung abzuweichen. Anders formuliert: Das »Naturrecht« bei Aristoteles ist mit einer unveränderlichen Legitimität ausgestatMiller bemerkt eine »[…] general tendency in Aristotle’s theory of natural justice to transform transcendent, religious notions … into naturalistic, biologically based conceptions« (Miller 1997, 229). 29 Vgl. Salomon 1937, 50, ihm folgt Gordon 2007, 255. 30 Vgl. Miller 2007b, 94. 31 Vgl. EN V, 10: 1134b30–1135a5. Wie wir später sehen werden, meint er damit folgendes: Eine solche Verfassungsordnung ist damit als absolut beste, als vollkommenste charakterisiert. 28

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tet, nicht jedoch mit einer faktischen Unveränderlichkeit/unveränderlichen Faktizität im Sinne eines »Man kann dagegen nicht verstoßen«. Insofern ist die Charakterisierung des »Naturrechts« als veränderlich als Hinweis auf die Freiheit des Menschen zu verstehen und nicht als normenrelativistische Aussage.

2.1.2 Das »Naturrecht« als schlechthin gerechtes Recht; die Nützlichkeit des positiven Rechts und die Werte des Naturrechts Daran anschließend stellt sich die Frage, was denn die »Natur« im »Naturrecht« überhaupt meint. Kelsen hat eine Deutung der Formel »von Natur aus« vorgelegt, 32 die darin gipfelt, Aristoteles habe jedes positive Recht für Naturrecht erklärt. 33 Dies würde jedoch die bereits erwähnten Unterschiede zwischen »Naturrecht« und positivem Recht völlig verwischen. Vielmehr scheint eine Stelle in Pol. I, 2 das Rätsel vielleicht auflösen zu können: Anscheinend möchte Aristoteles mit der Rede von der »Natur« die Frage nach der Vollendung stellen. 34 So loben wir einen edlen Fuchs als ein vollendetes Exemplar, das der eigentlichen Natur des Fuchses besonders nahekommt. Dementsprechend ginge es Aristoteles beim »Naturrecht« also um ein vollendetes, vorbildliches Recht, das der Natur des Menschen besonders angemessen ist. Während jedoch die Natur des Fuchses keinen besonders breiten Spielraum für Verhalten zulässt oder das von Aristoteles im »Naturrechtskapitel« der EN genannte Feuer über keinen Handlungsspielraum verfügt, ist das menschliche Verhalten – wie bereits öfters herausgestellt – prinzipiell nicht durch eine invariante Natur determiniert. Vielmehr besteht die Natur des Menschen bekanntlich in seiner Vernunft, sodass also das »Naturrecht« als das der praktischen Vernunft entsprechende Recht anzusprechen ist. Da auch Aristoteles Freiheit und Vernünftigkeit miteinander verknüpft, ist also die »Natur« im »Naturrecht« wiederum nicht eine naturgesetzliche Vorgabe, sodass Vgl. Kelsen 1963, 10 ff. Vgl. Kelsen 1963, 23. 34 Ausdrücklich bemerkt Aristoteles nämlich, dass der Abschluss einer Entwicklung Natur genannt wird: Pol. I, 2: 1252b32–34. Zur Natur als Vollendungsgestalt, siehe Müller 2006. 32 33

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hier kein naturalistischer Fehlschluss vorliegt (so würde Aristoteles vermutlich auf eine solche Frage antworten). Somit könnten wir sie – ganz in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der vorherigen Kapitel – stattdessen als offenen, jedoch nicht-beliebigen Rahmen für menschliches Handeln auffassen. Allerdings sollte man das »Naturrecht« nicht als ein reines Abstraktum und »bloßes Ideal« auffassen, da gewisse »naturrechtliche« Bestimmungen anscheinend menschliche Grundansprüche darstellen sollen – man denke an die erwähnte Problematik der Antigone sowie das Mordverbot. 35 Natürlich kann dies nur der Fall sein bei eindeutig moralisch bewertbaren Rechtsgegenständen, denn das Naturrecht behandelt primär moralisch entscheidbare Fragen und ist von vornherein normativ festgelegt. So ist die Frage des Ehebruchs oder des Mordes für Aristoteles eindeutig moralisch bewertbar, während die Alternativen von Links- oder Rechtsverkehr ursprünglich nicht als gut oder böse bzw. gerecht oder ungerecht bezeichnet werden können. Stattdessen erlassen in der Regelung der Straßenverkehrsordnung die Gesetzgeber das Gesetz nicht nach moralischen Gesichtspunkten, sondern stellen pragmatisch aus Nützlichkeitsüberlegungen heraus bestimmte Regeln auf. Entsprechend gibt es im positiven Recht durchaus einen Bereich, der an sich moralisch eigentlich indifferent ist. Hier gibt es moralisch nicht von vornherein eine bestimmte Antwort, die normativ gefordert ist. Stattdessen kann hier der Gesetzgeber aufgrund von Nützlichkeitsüberlegungen selbst entscheiden. Auf den ersten Blick scheint daher folgende Zuweisung von Salomon den Sachverhalt treffend wiederzugeben: Aristoteles verknüpfe das nomikon mit dem sympheron und das physikon mit dem ariston, und somit stelle sich heraus, dass es im Recht einerseits die Fragen nach der Zweckmäßigkeit und andererseits die Fragen nach dem Wert gebe. 36 Im Detail offenbaren sich jedoch einige Probleme, denn Salomon verweigert etwa dem nomikon die Charakterisierung

Auch Höffe plädiert dafür, dass Aristoteles sich indirekt für bestimmte Grundrechte einsetzt. Vgl. Höffe 2011a, 176. Überhaupt verhandelt dieser Artikel die Frage nach dem spannungsreichen Verhältnis zum modernen Freiheits- und Liberalismusgedanken. Zuvor schon in Höffe 2010a, 290. Bekanntlich plädiert Miller in seiner Studie dafür, Aristoteles als Theoretiker individueller Grundrechte zu betrachten (vgl. schon die programmatischen Äußerungen von Miller 1997, VII und 17, aber vor allem die Ausführungen im Kapitel 4, also 87–139). 36 Vgl. Salomon 1937, 52. 35

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als positives Recht 37, aber vor allem trennt er den Bereich des nomikon und physikon äußerst scharf: »In dem δίκαιον φυσικόν und νομικόν lernen wir also zwei grundsätzlich geschiedene Arten von Recht kennen« 38, »sie stehen als Parallelerscheinungen nebeneinander.« 39 Daraus folgert Salomon eine Beziehungslosigkeit dieser angeblich völlig verschiedenen Rechtsprobleme und scheidet streng Nützlichkeits- und Wertprobleme voneinander. Gerade im Bereich der Verfassung kommt er damit allerdings zu für Aristoteles sicherlich problematischen Ergebnissen: »Ebenso sinnlos aber wäre es, Verfassungsfragen von Zweckmäßigkeitserwägungen abhängig zu machen und sie nicht vielmehr dahin zu bringen, wohin sie einzig gehören: unter den ethischen Maßstab des ἄριστον.« 40 Dadurch streitet Salomon ab, dass Verfassungsfragen ebenfalls in den Bereich von Zweckmäßigkeitserwägungen fallen und reduziert Politik nur auf den ethischen Maßstab des Besten. 41 Diese Moralisierung der Politik ist auch philologisch eher fragwürdig, denn in den Büchern IV–VI der Politik bespricht Aristoteles sehr breit die Nützlichkeit bestimmter Regelungen und Verfassungsordnungen, die er aber nicht im Geringsten als beste charakterisieren würde. Streng nach der salomonschen These dürfte dies jedoch nicht geschehen, denn Verfassungsfragen gehören – wie wir gerade gesehen haben – für diesen Interpreten einzig dem Bereich der Wertfragen an. Überdies spricht auch der bereits erarbeitete Maßstab für die Güte einer Verfassung (das koinon sympheron) dagegen, Nützlichkeits- und Wertfragen so strikt wie Salomon zu trennen. Ebenso dürfen wir nicht vergessen, dass es sich bei jeder Verfassung bekanntlich um eine eigene Rechtsordnung handelt, die von den Menschen positiv gesetzt worden ist, was gegen die erwähnte Zuschreibung jeglicher Verfassungsproblematik zum Themenkreis des »Naturrechts« spricht, da dieses natürlich nicht von positiver Setzung abhängig ist. Auf der anderen Seite des Interpretationsspektrums steht die Identifikationsthese von Kelsen, die ich ebenfalls knapp besprechen möchte: Anders als dieser meint, sind die Bereiche von »Naturrecht« und positivem Recht bei Aristoteles so weit getrennt, dass kein Be37 38 39 40 41

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Vgl. Salomon 1937, 52 f. Salomon 1937, 58. Salomon 1937, 67. Salomon 1937, 58 (Hervorhebung durch Unterstreichung B. L.). Vgl. nur als ein Beispiel unter vielen Pol. IV, 15: 12991a12–14.

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reich den anderen überflüssig machen kann. Keinesfalls verabschiedet Aristoteles das Naturrecht und beschränkt sich nur auf das positive Recht – insofern kann er trotz der relativ formalen Definition einer Rechtsordnung selbstverständlich nicht zu einem Vorläufer des Positivismus erklärt werden. 42 Auf der anderen Seite ist jedoch auch in der besten Polis das positive Recht nicht überflüssig, was zum Beispiel Gordon als These vertritt. 43 Schließlich ist der Bereich des positiven Rechts weiter als derjenige des Naturrechts: Das »Naturrecht« regelt nicht alle Bereiche des menschlichen Lebens (so äußert es sich etwa nicht zu Verkehrsregeln), während das positive Recht sich prinzipiell zur Regelung aller Fragen eignet. Überdies ist die Bürgerschaft auch in der besten Polis nicht übermenschlich und benötigt daher notwendigerweise ein positives Recht, da – kantisch formuliert – nur heilige Willen den Stachel des positiven Rechts nicht benötigen. Gerade in Buch VII der Politik hebt Aristoteles immer wieder die Rolle des Gesetzgebers hervor und lässt diesen bekanntlich umfangreiche gesetzliche Regelungen ausarbeiten. Somit können weder die Identifikationsthese von Kelsen noch die strikte Trennung bei Salomon sämtliche exegetischen Fragen beantworten. Wie wir gesehen haben, handelt es sich bei den Verfassungen für Aristoteles um positive Rechtsgebilde, die – dies zeigen die Schlusssätze der »Naturrechtspassage« der EN 44 – dennoch der »naturrechtlichen« Frage nach der besten Verfassung zugänglich sind. Weder rechtfertigt Aristoteles jegliche positive Rechtsordnung, wie es ihm Kelsen vorwirft, noch beraubt sich unser Philosoph mit einer allzu strikten Trennung von »Naturrecht« und positivem Recht der Möglichkeit einer normativen Bewertung der Güte der verschiedenen Verfassungen. Gerade dieses Maßnehmen vereinbarter Rechtsregeln an dem natürlich Gerechten bestreitet Salomon jedoch vehement. 45 Wie bereits erwähnt, eignet sich das positive Recht zur Regelung sämtlicher Rechtsfragen, womit zwangsläufig ein ÜberschneidungsEffe 1976, 321 dagegen betrachtet das »Naturrecht« nicht als höhere (Bewertungs-) Instanz gegenüber dem positiven Recht, sondern sieht als Beurteilungsmaßstab der positiven Gesetze das Gemeinwohl und das eudämonistische Telos staatlichen Lebens überhaupt: die inhaltliche Füllung sei Gegenstand vernünftiger, offener Diskussion und Aristoteles daher als gemäßigter Relativist oder teleologischer Konventionalist zu bezeichnen. 43 Vgl. Gordon 2007, 252. 44 Vgl. EN V, 10: 1135a4 f. 45 Vgl. Salomon 1937, 52 f. 42

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bereich zwischen »Naturrecht« und positiven Rechtsordnungen entsteht. So gibt es »naturrechtlich« bewertbare Fragen wie »Wer soll Knecht sein?« oder »Wie soll Ehebruch geahndet werden?«, die natürlich auch positivrechtlich regelbar sind. Hier entsteht das Problem, dass diese Fragen, die von vornherein normativ-»moralisch« sind und an sich nicht erst durch die positiven Normen des Gesetzgebers einer moralischen Wertung zugeführt werden müssen, auf verschiedene Weisen im Rahmen der Nützlichkeitserwägungen des Gesetzgebers positivrechtlich aufgelöst werden können. Hier können die positivrechtlichen Bestimmungen entweder den Werten des »Naturrechts« entsprechen oder widersprechen. Exegetisch besonders interessant ist natürlich ein möglicher Konfliktfall zwischen positiver Rechtsordnung und »naturrechtlicher« Ordnung, den allerdings manche Interpreten abstreiten: Yack engt in seiner Interpretation das nomikon dikaion darauf ein, dass es nur diejenigen Regeln umfasse, die an sich moralisch indifferent seien – dadurch unterscheide es sich von unserem Verständnis von positivem Recht, und der Großteil dessen, was wir als positives Recht bezeichnen würden, fiele bei Aristoteles unter das »Naturrecht«. 46 Wie bereits gegen Salomon lässt sich dagegen einwenden, dass diese Interpretation den Setzungscharakter der meisten Gesetzesregeln und der Verfassung leugnen muss. Schließlich beschränkt sich der größte Teil der positiven Rechtsordnung nicht allein auf das Festsetzen von an sich moralisch Indifferentem. Hier müssten Yack und Salomon die moralisch an sich nicht indifferenten positiven Rechtsregelungen zum Gegenstand des Naturrechts erklären, was freilich mit der Positivität eines Gesetzes etwa zu Mord nicht vereinbar ist. Getreu seiner Lesart folgert Yack, dass das »Naturrecht« keineswegs den höheren Bewertungsstandard für das positive abgebe; dabei verweist er auch auf das angebliche Fehlen von Konfliktstellen in der Nikomachischen Ethik. 47 Tatsächlich jedoch findet sich auch in der Nikomachischen Ethik ein Beispiel für einen Gegensatz zwischen »Naturrecht« und positivem Recht: So meint Aristoteles, wenn jemand unwissend ein falsches Urteil fälle, dann habe er zwar im Sinne des positiven Rechts kein Unrecht begangen, wohl aber sei es in einer gewissen Weise Unrecht aus der Warte des »ersten Rechtes« (also des

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Vgl. Yack 1993, 142 f. Vgl. Yack 1993, 143.

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Naturrechts). 48 Auch in EN V, 10 selbst findet sich ein Hinweis darauf, dass die dafür relevanten Inhalte des positiven Rechts an »naturrechtlichen« Standards gemessen werden. So gibt es zwar viele verschiedene (positive) Verfassungen, die jedoch alle als Maßstab eine beste Lösung haben, die »von Natur« gilt. 49 Wie wir später sehen werden, unterzieht Aristoteles die verschiedenen Verfassungsformen einer eingehenden Kritik und hebt unter ihnen namentlich das Königtum und die Aristokratie als »von Natur aus beste« hervor. Gerade darin liegt also der Sinn der »Naturrechtslehre« des Aristoteles, dass sie die verschiedenen positiven Rechte in eine Wertreihenfolge bringt. Wenn wir uns zurückerinnern: Rein positive Rechtsordnungen würden sich ja bloß der Willkür der sie positiv setzenden Menschen verdanken und mit Zwang durchgesetzt werden. Entsprechend wäre das Recht nur durch die Macht gerechtfertigt, was die eigentlich von Aristoteles angestrebte Hierarchie umkehren würde, denn die Macht soll dem Recht dienen und nicht umgekehrt. Somit sollte ein positives Recht nicht allein durch die Macht bzw. die Willkür der gerade Regierenden gerechtfertigt werden, sondern die normative Legitimität muss ebenfalls durch ein Recht geleistet werden. In diesem Fall durch das vernünftige Naturrecht. Anders formuliert: Recht sollte durch die der menschlichen Natur entsprechende Vernunft und nicht allein durch Gewalt und Zwang legitimiert werden. Wenn es diese grundsätzliche Hierarchie der Rechtsordnungen nicht gäbe, könnten wir innerhalb der aristotelischen Philosophie argumentativ ein »anything goes« nicht vermeiden. Im Falle eines Fehlens des »Naturrechts« stünden die verschiedenen Willkürordnungen normativ völlig gleichberechtigt nebeneinander, und Aristoteles könnte keine normative Kritik an den verschiedenen Verfassungen üben. Ebenso wenig attraktiv ist die angebliche Vermischung dessen, was wir heute als positives Recht betrachten, mit dem »Naturrecht«, wie dies Salomon, Yack und auf völlig andere Weise Kelsen vertreten. Besonders extrem hat dies Kelsen durchgeführt, der glaubt, dass Aristoteles das positive Recht und das Gerechte identifiziere und somit bloß die herrschenden Verhältnisse seiner Zeit gerechtfertigt Vgl. EN V, 12: 1136b32–34. Insofern kann es – contra Yack 1993, 157 – doch inhärent korrekte Antworten auf Fragen des politisch Gerechten geben. Dies ist im Übrigen ein Beleg für die These von Horn 2012, 3, dass mit der Unterscheidung von gemeinsamem und eigentümlichem Recht die moralische gegenüber der juridischen Ebene abgehoben werde. 49 Vgl. EN V, 10: 1135a4 f. 48

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habe. 50 Dies kann sowohl – wie von Kelsen selbst – ideologiekritisch gemeint sein oder die nüchterne Feststellung eines Philosophiehistorikers, der dies nicht als einen Mangel begreift. So folgt etwa Kersting in seinem insgesamt kelsenkritischen Aufsatz gerade in diesem zentralen Punkt Kelsen. Allerdings betrachtet er dies nicht als Mangel, da er Aristoteles als hermeneutischen Philosophen kennzeichnet. 51 Demgegenüber verleiht meine Interpretation dem »Naturrecht« einen anderen Sinn: Ich interpretiere Aristoteles nicht bloß als Hermeneutiker der bestehenden Rechts- und Machtverhältnisse, sondern auch als ihren Kritiker. Dies kann er dadurch leisten, dass der Gedanke des Gerechten gewissermaßen die Brücke zwischen Moral und Recht bildet und das »Naturrecht« den Maßstab für das positive Recht abgibt 52 sowie gewisse Grundrechte 53 festschreibt. Damit warnt es uns vor dem Fehlschluss, dass alle tatsächlich existierenden Gesetze gelten sollten. So können konventionell beschlossene Gesetze höchst ungerecht sein. Somit dient die Diskussion um »Naturrecht« und positives Recht letztlich auch dazu, die Legitimationsbasis der positiven Rechtsordnungen überprüfen zu können. 54 Zwar entstehen diese durch Zwang und Macht, dies rechtfertigt sie jedoch keineswegs. Vielmehr werden die positiven Rechtsordnungen durch die Normen des Vernunftrechts überprüfbar und kritisierbar. Die Legitimität der Verfassungs- und Gesetzesnormen erwächst nämlich aus ihrer Vernünftigkeit, nicht aus ihrer puren Faktizität. Dabei ist dasjenige Recht am höchsten zu bewerten, das die vernünftigste und gerechteste Ordnung der Gemeinschaft hervorbringt. Somit müssen wir also das »Naturrecht« als Gebot der rechten Vernunft auffassen. Dagegen sind die »unvernünftigeren« Rechtssysteme wesentlich willkürlicher

Vgl. etwa Kelsen 1957, 126. Vgl. Kersting 2006, 28–30. 52 Aristoteles benötigt also aus seiner Sicht das »Naturrecht« als absolut Gerechtes im Gegensatz zum durchaus im kelsenschen Sinne nur relativ Gerechten (vgl. Kelsen 1989a, 85). 53 Miller argumentiert gegen MacIntyre, dass es »political rights« bei Aristoteles wohl gegeben hat, auch wenn Aristoteles dafür nicht einen einzigen Begriff verwendet. Vgl. Miller 2011, 94–96 bzw. ausführlicher im Artikel Miller 2007b, 102–109. 54 Miller sieht einen Naturrechtsanklang hingegen vor allem in der Kritik der Sklaverei. Vgl. Miller 1991, 296 f. 50 51

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und daher ungerechter. 55 Ich ziehe aus meiner Lektüre des aristotelischen »Naturrechts« also den Schluss, dass Aristoteles das »Naturrecht« aufklärerisch und kritisch interpretiert wissen will. Bekanntlich kann das Naturrecht auf zweierlei Arten ausgelegt werden: entweder traditionalistisch-konservativ (Betonung der Natürlichkeit einer bestehenden Rechtsordnung) oder emanzipatorisch-aufklärerisch (Betonung der Mangelhaftigkeit einer bestehenden Rechtsordnung). Sogar in manchen für uns düsteren Kapiteln der aristotelischen Politik würde Aristoteles selbst auf einem aufklärerischen Verständnis beharren: Ob dies die naturrechtliche Legitimation des Königtums (es handelt sich meiner Interpretation nach beim Universalkönigtum um eine Wahlmonarchie, die stark auf die Freiwilligkeit der Untertanen abstellt 56), die »naturrechtliche« Rechtfertigung von Herrschaft und Knechtschaft (auch hier widersetzt sich Aristoteles den härteren Regelungen seiner Zeit, da er die Kriegsgefangenschaft ablehnt) oder die heikle Barbarenfrage betrifft (entgegen der Polemik von Eratosthenes stellt gerade Aristoteles auf das Kriterium der Tugend und nicht auf Rassen ab und übersteigt so den ihm häufig zugeschriebenen angeblich rassistisch motivierten Bürgerkontextualismus durch einen allerdings elitär eingeschränkten Tugendbegriff). Daher hat sich herausgestellt, dass die Diskussion rund um Naturrecht und positives Recht es Aristoteles erlaubt, die verschiedenen positiven Rechtsordnungen normativ am Maßstab des eigentlich Gerechten zu werten. Hier entscheidet sich nämlich die Legitimation der Rechtsordnungen: Nur durch den ständigen Rückbezug auf das Gerechte und die Tugend kann das Recht letztlich wirklich vernünftig gerechtfertigt werden. 57 Nur dann ist nämlich die Rechtsordnung als Vernunftordnung legitimiert und einsichtig, wieso Menschen sich selber ein Recht geben und sich dann in der Folge dem Zwang der Aristoteles vertritt folglich keineswegs einen Positivismus, in dem Tatsachenaussagen und Werturteile völlig verschieden und nur erstere vernünftig entscheidbar sind. 56 Vergleiche meine Ausführungen am Ende des Kapitels 3.1.1.2. 57 Im Gegensatz zur Behauptung MacIntyres »[…] but notice that those rules, the laws, must have been the work of some legislator or legislators who in formulating those same laws had no such rules to guide them.« (MacIntyre 2003, 119; Hervorhebung B. L.), finden sich also tatsächlich Regeln, die der gute Gesetzgeber beachten sollte. Damit ist vordergründig zunächst einmal gemeint, dass sich die (positiven) Regeln der Gesetze an der positiven Ordnung der Verfassung zu orientieren hat. Wie wir aber bereits gesehen haben, sollte das positive Recht selbst wieder am »Naturrecht« gemessen werden und wird dadurch darauf geprüft, wie gerecht es ist. 55

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positiven Gesetze unterwerfen wollen. Ansonsten würde die Polis nur dem Nutzen bestimmter Gruppen oder Individuen dienen, aber nicht die Werte von Tugend und Gerechtigkeit verwirklichen. Dass Verfassungen und Gesetze für das Gerechte sorgen sollen und ihr Zweck also in der Herstellung des Gerechten besteht, kann auch folgendermaßen umformuliert werden: Das Gerechte ist das Kriterium für die Güte jeglicher normativ zu rechtfertigenden Rechtsordnung. Wenn also geltendes (positives) Recht nicht durch herrschende Macht oder bestehende Sitten normativ letztbegründet werden kann, sondern dazu auf das höhere Recht des »Naturrechts« angewiesen ist, stellt sich für manche tugendhaften Menschen dringend die Frage nach dem Gehorsam gegenüber normativ problematischen Gesetzen. Wie soll sich der tugendhafte Mensch gegenüber normativ minderwertigen Gesetzen verhalten? Muss er sich dennoch als guter Bürger einer schlechten Verfassung erweisen? Wie ich in den folgenden Kapiteln argumentieren möchte, gibt es auch bereits bei Aristoteles den Unterschied zwischen Moralität und Legalität und sollte der tugendhafte Mensch gegen allzu schlimme Verstöße gegen das »Naturrecht« auch tatsächlich vorgehen. Damit verkehrt sich eine traditionell recht beliebte Sicht auf Aristoteles in ihr Gegenteil: Die Gesetzestreue ist nicht der entscheidende Maßstab der Gerechtigkeit, sondern das Ausmaß des Gerechten für die Gesetzestreue. Es gilt nicht mehr: Je treuer ich den positiven Gesetzen gehorche, desto gerechter bin ich schlechthin zu nennen, sondern je gerechter sie sind (also je besser sie dem »Naturrecht« entsprechen), desto freiwilliger soll ich ihnen gehorchen. Wenn positive Gesetze allzu krass gegen »naturrechtlich« gebotene Normen verstoßen, verlangt das »Naturrecht« ihre Negierung. Jedoch hat der eigentlich Gerechte eine Verhältnismäßigkeit dabei zu beachten und auch die Umstände mit zu berücksichtigen. So darf er nicht wegen kleinster Abweichungen vom »Naturrecht« unverhältnismäßige Aktionen setzen. Ebenfalls sollte er nicht die gegebenen Umstände ignorieren und so abstrakt Unmögliches von seinen Mitbürgern verlangen.

2.1.3 Erste Probe: Kennt Aristoteles überhaupt den Unterschied zwischen Legalität und Moralität? Wie wir bereits in den ersten Kapiteln dieser Arbeit gesehen haben, benötigen wir laut Aristoteles deswegen Gesetze, weil der Mensch 196

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ohne Gesetz und Recht das schlimmste aller Lebewesen darstellt: Da er ein schlaues Lebewesen ist, kann er tugendlos besonders verheerende Taten begehen. 58 Somit sollen die Gesetze einen wichtigen Beitrag zur Tugendbildung leisten. Wenn das öffentliche Wohl gut durch Gesetze geregelt wird, 59 und somit das Wohlergehen einer Stadt sehr wesentlich in den Gesetzen liegt, 60 erstaunt nicht, dass Aristoteles als Ziel der Politik ausdrücklich die eunomia nennt 61. Zu einem sehr wesentlichen Teil hängt also das Wohl einer Polis an der Gesetzesordnung, die sie sich selber gibt. Indem Aristoteles der Gesetzesordnung einen großen Einfluss auf die Tugendbildung der Poliseinwohner zuschreibt, setzt er sich – wie ebenfalls bereits mehrfach erwähnt – in einen krassen Gegensatz zum Sophisten Lykophron. Laut diesem Denker ist das Gesetz nämlich ein rein konventioneller Bürge für das Gerechte, kann aber die Menschen nicht gut und tugendsam machen. 62 Nun kann aufgrund dieser Überlegungen leicht der Eindruck entstehen, als würde ein tugendhaftes und gerechtes Leben einfach in der Gesetzesbefolgung bestehen. Schließlich tragen die Gesetze zur Tugendausbildung bei: Laut Aristoteles verbietet uns das Gesetz schlechte Handlungen und gebietet uns die guten. 63 Wie wir oben gesehen haben, gibt es dabei sowohl eine positive Anleitfunktion (v. a. durch die Erziehung), als auch eine negative Abschreckfunktion. Schließlich vermag nicht jeder von vornherein auf die Vernunft zu hören, sondern viele brauchen zur Anständigkeit den Druck des Zwangsrechts. 64 Zwar sollte das Recht ein vernünftiges praktisches Gesetz sein – wie wir bereits oben gesehen haben – jedoch kann sich Vgl. Pol. I, 1: 1253a31–38. Auch Platon hält in den Nomoi den Menschen ohne Gesetze für eines der wildesten Tiere (vgl. Nomoi IX. Buch 874e–875c). 59 Diesen Anspruch stellt er in EN X, 10: 1180a34 f. an die Gesetze. 60 Vgl. Rhet. I, 4: 1360a19 f. wo er aber gleich anfügt, dass Verfassungskenntnisse dazu notwendig sind. Platon bemerkt zu diesem Thema in den Nomoi, dass die Gesetze und die Gebräuche die Polis zusammenhalten, und rechtfertigt so die Menge seiner Gesetze (Nomoi VII. Buch 793c+d). 61 Vgl. EN III, 5: 1112b11–14. 62 Vgl. Pol. III, 9: 1280b10–12. Dass die Gesetze zur Tugendbildung beitragen, bemerkt Platon in den Nomoi (vgl. Nomoi XII. Buch 963a und Nomoi IV. Buch 708d). 63 Vgl. EN V, 5: 1130b23 f. und EN V, 3: 1129b19–25. Was gegen die Tugenden verstößt, sollte bekanntlich auch das Gesetz verbieten. Dieser erhoffte Parallelismus lässt uns übrigens die Stelle verstehen, die das Gesetz zu einer Mitte erklärt (vgl. Pol. III, 16: 1287b4 f.). 64 Vgl. EN X, 10: 1179b31–1180a5. 58

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das positive Recht nicht hauptsächlich auf eine natürliche Überzeugungskraft des Sollens verlassen (im Gegensatz zum »Naturrecht«), sondern wird vor allem durch den Zwang des Müssens durchgesetzt. 65 Darunter ist nicht nur der Zwang der kontrollierenden Exekutive zu verstehen, sondern es gibt auch den Zwang der Sozialisation. Einen gewissen Teil seiner Befehlsgewalt kann das Gesetz daraus beziehen, dass man sich daran gewöhnt hat. 66 Aufgrund dieser Überlegungen stellt sich in aller Schärfe das Problem: Wie sieht der Zusammenhang zwischen dem Bereich des Legalen und des Moralischen aus? Wenn für Aristoteles das Leben in der Polis auf das gute und tugendhafte Leben abzweckt und die Gesetze hier einen besonders wichtigen Beitrag leisten, folgt daraus nicht möglicherweise ein problematischer Legalismus? Tatsächlich scheinen mehrere Stellen im Corpus Aristotelicum auf den ersten Blick einen solch engen Zusammenhang zwischen Moralität und Legalität nahezulegen. So scheint der Widergesetzliche in EN V, 3 für ungerecht und der Gesetzestreue für gerecht erklärt zu werden und in einer gewissen Weise sind für Aristoteles alle gesetzmäßigen Handlungen gerechte Handlungen. 67 Ebenso belehrt uns Aristoteles, dass zu den gerechten Handlungen in einem gewissen Sinne diejenigen Handlungen zählen, die hinsichtlich einer Tugend mit der Vorschrift des Gesetzes übereinstimmen. 68 Nun klingt dies so, als würde die Moralität des Gerechten doch in seinem Gehorsam gegenüber den Gesetzen liegen. 69 Stürzt dies die bisherigen Interpretationsergebnisse um? Erklärt Aristoteles das Recht doch zum Maßstab des Gerechten? Entscheidet also doch ein naiver Legalismus über die Legitimität von Normen? Diese These scheint beispielsweise Roberts zu vertreten, wenn sie schreibt: »justice […] is easily equated with law-abidingness (NE 1129b11–14)« 70 Indes habe ich in obiger Paraphrase eine wichtige Bemerkung von Aristoteles durch Unterstreichung hervorgehoben: Keinesfalls darf der Zusatz »in gewisser Weise« (gr. pôs) fehlen, der

Vgl. Rhet. I, 14: 1375a16 f. mit EN X, 10: 1180a14–22. Vgl. Pol. II, 8: 1269a20–24. 67 Vgl. EN V, 3: 1129b11–14. 68 Vgl. EN V, 15: 1138a5–7 und EN V, 5: 1130b22–24. 69 Was sich bekanntlich schon im Platons Kriton und in Xenophons Memorabilien diskutiert findet. 70 Roberts 2009, 555. 65 66

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eine solche absolute Gleichsetzung von gerecht und gesetzmäßig verbietet. Identifiziert Aristoteles tatsächlich Moralität und Legalität, wenn wir das Problem in kantischer Terminologie formulieren? Vielleicht denkt nun der eine oder andere Leser, dass dies doch eine kantische Unterscheidung sei und in der Antike nichts zu suchen habe. So etwa Habermas: Denn Aristoteles sah keinen Gegensatz zwischen der in den nomoi gesatzten Verfassung und dem Ethos des bürgerlichen Lebens; umgekehrt war auch Sittlichkeit des Handelns nicht von Sitte und Gesetz zu trennen […] Bei Kant hingegen ist das sittliche Verhalten des bloß innerlich freien Individuums klar unterschieden von der Rechtlichkeit seiner äußeren Handlungen. 71

Somit schreibt Habermas dem Aristoteles die These zu, dass der Maßstab für die Sittlichkeit in einer Befolgung der herrschenden Sitten und Gesetze bestünde und daher auch – im Gegensatz zu Kant – Moralität und Legalität nicht scharf getrennt seien. Ähnlich ideologiekritisch äußert sich auch Hans Kelsen über Aristoteles: In Wahrheit verzichtet Aristoteles auch in der ›Ethik‹ auf eine Beantwortung der Frage, was gut sei, wie sich die Menschen den anderen gegenüber verhalten sollen. Seine ethische Theorie setzt vielmehr die positive Moral und das positive Recht als geltende Ordnung voraus […] So läuft die Ethik des Aristoteles […] auf gar nichts anderes als auf eine höhere Rechtfertigung der die staatlich-rechtliche Ordnung einbegreifenden bürgerlichen Moral seiner Zeit hinaus. 72 bzw. Habermas 1963, 13 f. Ähnlich an späterer Stelle: »Aristoteles kannte grundsätzlich keine Trennung zwischen politisch gesatzter Verfassung und dem Ethos bürgerlichen Lebens in der Stadt.« (Habermas 1963, 25) Bien schließt sich in seiner Habilitation der Beurteilung von Habermas weitgehend an und betrachtet dementsprechend als Letztkriterium für Sittlichkeit das Lob oder den Tadel der Polisöffentlichkeit. Vgl. Bien 1985, 224 f. Jedoch bleibt dagegen einzuwenden, dass in der von Bien angeführten Stelle 1178a34 ff. zwar die Tugend ihre Vollendung in prohairesis plus äußerer Handlung (praxis) findet. Allerdings ist dies im Kontext der Stelle zu lesen, nämlich als eine Rechtfertigung einer gewissen Notwendigkeit von äußeren Gütern; dementsprechend brauchen Menschen für Tugenden wie die im Text erwähnte Freigebigkeit auch gewisse äußere Güter. Ebenso bleibt zu bedenken, dass sich auch Kant gegen ein rein abstraktes Wollen ohne Rücksicht auf eine mögliche Verwirklichung ausspricht. 72 Kelsen 1989b, 302. In einem weiteren Aufsatz sieht er moralische Werte und die Bestimmung von Gut und Tugend bei Aristoteles folgendermaßen bestimmt: »It is 71

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Gerechtigkeit ist eine Tugend, […] und als solche besteht sie in dem dem positiven Recht gemäßen Verhalten. So schließt Aristoteles von vornherein, schon im ersten Buch der Nikomachischen Ethik eine von dem positiven Recht verschiedene, mit ihm möglicherweise in Konflikt stehende Gerechtigkeit aus. 73

Worin sind sich Habermas und Kelsen also in ihrer Kritik einig? Dass Aristoteles den guten Menschen letztlich mit dem guten Bürger identifiziere, denn Sittlichkeit bestehe für Aristoteles in Gesetzesgehorsam und Befolgung der allgemein üblichen Sitten. Wenn diese Identifikationsthese tatsächlich zuträfe, verböte sich ein moderner Rückgriff auf die praktische Philosophie des Aristoteles von selbst. Schließlich reduziert eine solche Position die Ethik letztlich auf ein bloßes Anhängsel der Politik und lässt jegliches kritische Potential gegenüber ungerechten Herrschaftsformen und Gemeinschaftsregeln völlig vermissen. Da manche Regierungen und einige Verfassungs- und Gesetzesordnungen überhaupt nicht gerecht sind, wäre ein unbedingter Gehorsam gegenüber solchem Unrecht moralisch sicherlich verwerflich. So manches Tyrannenrecht entpuppt sich schnell als unerträgliches Unrecht, das jeder sittliche Mensch ablehnen muss. Keyt stellt hier die berechtigte Frage, ob Aristoteles tatsächlich das kritische Erbe seines Lehrers Platon völlig vernachlässigt und nichts aus dem Fall Sokrates gelernt habe, der ja bekanntlich zu Unrecht abgeurteilt worden ist? 74 Hier melden sich also schon aus rein biographischen Gründen erste Zweifel an, dass sich für Aristoteles eine philosophisch reflektierte Moralität einfach traditionalistisch an die positive Sittlichkeit und die positiven Rechtsbestimmungen anschließen kann. Nun bleibt dies aber bloß eine vage psychologische Intuition, die noch keine philosophische Überzeugungskraft bietet. Überdies benötigt eine reflektierte Moralität auch Kriterien für die Entscheidung, wann wir Gesetze für ungerecht erklären und moralisch eine bessere Lösung erstreben. Schließlich sollte die Frage bei Aristoteles tiefer behandelt sein als die bloße Erinnerung daran, dass die philosophisch für gut befundene Moralität sich nicht einfach trathe authority of the positive morality and the positive law – it is the established social order.« (Kelsen 1957, 125). 73 Kelsen 1963, 10. 74 Keyt hinterfragt mit Blick auf dieses Erbe, ob sich Aristoteles tatsächlich die Frage nach den »political obligations« nicht gestellt haben könne. Vgl. Keyt 2007, 220. Allerdings hat er dies laut Keyt nur implizit getan.

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ditionalistisch an die positive Sittlichkeit und die positiven Rechtsbestimmungen anschließen kann. Entscheidend ist also, dass wir ein solches Kriterium bei Aristoteles ausmachen können. Hier müssen wir uns an die Charakterisierung der Gerechtigkeit im V. Buch der Nikomachischen Ethik halten, denn hier findet sich ein wichtiger Schlüssel für unsere Frage: Gerechtigkeit beschreibt Aristoteles an dieser Stelle als Haltung, aufgrund derer der Mensch erstens zum Gerechten fähig ist, zweitens auch gerecht handelt und drittens das Gerechte will. 75 Dabei grenzt er die Haltung zunächst negativ gegenüber einem Wissen und einer bloßen Fähigkeit ab. Allein aus diesem Punkt folgt natürlich schon der zweite, nämlich dass die Gerechtigkeit auch in Handlungen verwirklicht werden muss. 76 Niemand ist gerecht, der nicht gerechte Handlungen vollbringt. Allerdings dürfen wir nicht jeden Handelnden als gerecht bezeichnen, nur weil er gerechte Handlungen setzt. Dies zeigt sich deutlich im 13. Kapitel des sechsten Buches der Nikomachischen Ethik, das ich daher ausführlich zitiere: Wie wir sagen, dass manche Menschen gerechte Handlungen tun, ohne schon gerecht zu sein – z. B. diejenigen, die das von den Gesetzen Angeordnete widerwillig oder aufgrund von Unwissenheit oder aus einem anderen Grund und nicht aufgrund der Anordnungen selbst tun (obwohl sie gerade tun, was man soll, und alles tun, was der Gute tun muss) –, ebenso besteht, so scheint es, die Möglichkeit, dass jemand die jeweiligen Handlungen in einer bestimmten Disposition tut, sodass er ein guter Mensch ist; ich meine, dass er sei aufgrund eines Vorsatzes und um der Handlungen selbst willen tut. 77

Worin besteht nun der eigentlich bedeutsame Schritt, der uns jemanden als gerecht beurteilen lässt? Wie die genannte Stelle gezeigt hat, genügt es ja nicht, dass gerechte Handlungen getan werden. Bereits unsere Stelle hat die Lösung verraten, was durch weitere Stellen im Corpus Aristotelicum gestützt werden kann: So ist laut einem aristo-

Vgl. EN V, 1: 1129a6–11. Das gerechte Handeln ist die Mitte zwischen Unrecht tun und Unrecht leiden, wobei die Gerechtigkeit die Mitte schafft und sich insofern von den anderen Tugenden unterscheidet (vgl. EN V, 9: 1133b30–1134a16). 77 EN VI, 13: 1144a13–20 (in der Übersetzung von Wolf). Vergleiche dazu auch EN V, 10: 1135a15–31. Kamp schreibt Aristoteles ebenfalls eine solche These zu, wenngleich ich meine Hauptbelegstelle 1144a13–20 für aussagekräftiger halte als seine Belegstellen (vgl. Kamp 1985, 224). 75 76

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telischen Beispiel 78 auch nicht jeder ein Arzt, der schneidet oder Arzneimittel verabreicht. Vielmehr geht es darum, dass diese Handlungen in einer bestimmten Weise und aus einer bestimmten Haltung heraus getan werden. Welches Kriterium entscheidet in unserer zitierten Stelle über die Gerechtigkeit? Offensichtlich die rechte prohairesis und die beabsichtigten Zwecke. 79 Wie er an einer anderen Stelle ergänzt, hängen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit eines Menschen vor allem daran, ob er seine gerechten oder ungerechten Taten freiwillig oder unfreiwillig getan hat. 80 Wenn jemand gerechte Taten letztlich unfreiwillig vollbracht hat, ist er nicht in einem eigentlichen Sinne gerecht zu nennen. Somit dürfen wir einen Menschen nur dann gerecht nennen, wenn er seine gerechten Handlungen auch freiwillig und vorsätzlich gesetzt hat. Damit handelt also in der aristotelischen Philosophie jemand nicht per se moralisch, sogar wenn er mit einem gerechten Gesetz konform geht. Insofern ist der Unterschied zwischen einem bloß legalen, aber nicht moralischen Handeln nicht erst kantisch wie dies Habermas in der eingangs zitierten Stelle behauptet hat. 81 Vielmehr sehe ich wie Höffe oder Neschke-Hentschke bereits bei Aristoteles einen derartigen Unterschied. 82 Ebenso wenig ist die Gerechtigkeit für Aristoteles bloß ein Verhalten gemäß den Regeln des positiven Rechts, wie es Kelsen dem Aristoteles zuschreibt. Somit lehrt Aristoteles ebenfalls, dass die Rechtsregeln nur die äußere Befolgung verlangen, während die Sittlichkeitsregeln äußere und innere Akzeptanz fordern. Demgegenüber vertritt Ritter die Gegenthese, dass sich Moralität bei Aristoteles letztlich in der Konformität zu den Gebräuchen in der Polis erschöpfe: »Man wird gerecht oder tapfer, indem man tut, Vgl. EN V, 13: 1137a21–26. Ähnliche Gedanken finden sich in EE II, 11: 1228a2–15. Hier denkt Aristoteles darüber nach, wann wir von einem spoudaios sprechen dürfen und macht dies ebenfalls an der prohairesis fest bzw. ob die gute Tat willentlich verrichtet worden ist.4 80 Vgl. EN V, 10: 1135a15–1136a9. Ebenso hebt Aristoteles in EN II, 3: 1105b5–9 hervor, dass gerechte Taten nicht im simplen Vollziehen gerechter Handlungen bestehen, sondern mit der rechten Geisteshaltung einhergehen und bestätigt in den Freundschaftsbüchern noch einmal, dass die prohairesis in der Beurteilung der Tugendhaftigkeit und des Charakters einer Person das Hauptkriterium sei (EN VIII, 15: 1163a22 f.). 81 Zur Unterscheidung von Handeln aus Tugend und Handeln gemäß der Tugend, siehe Müller 2009. 82 Vgl. Höffe 2010a, 282 und Neschke-Hentschke 2012, 121. 78 79

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was in der Polis als gerecht oder tapfer gilt.« 83 Warum kann Sittlichkeit nicht auf ein Leben nach der Sitte reduziert werden? 84 Zwar verhält sich eine Gemeinschaft in einer gewissen Weise richtig, wenn sie gerechten Gesetzen oder Bräuchen folgt. Jedoch sogar wenn wir hier vom Idealfall einer gerechten Polis mit gerechten Gesetzen und gerechten Sitten ausgehen, ist man ohne eine entsprechende freiwilligvernünftige Wahl dieser rechten Verhaltensweisen nicht in einem eigentlichen Sinne gerecht oder tapfer, sondern gehorcht nur dem Zwang der Sozialisation (im Fall der Bräuche) oder des Gesetzes (im Fall des positiven Rechts). Damit haben diese »Gerechten« aber die eigentliche Pointe übersehen, dass das Sollen mit ihrer eigenen freiwilligen Wahl übereinstimmen soll und seine Gültigkeit für sie nicht aus dem Zwang des positiven Rechtes erwachsen sollte. Insofern sind sie nicht eigentlich gerecht zu nennen, wie auch bereits frühere Überlegungen argumentiert haben. Dagegen ist beim absolut Gerechten ein Zwang als Unterstützungshilfe für die Regelung seines Verhaltens letztlich überflüssig, bei ihm widersprechen Sollen und freiwillig Gewähltes einander nicht und zwar durch die Einsicht seiner Vernunft. 85 Zwar kann Bodéüs in seiner Studie Le philosophe et la cité die architektonische Seite der Politik (in ihrem Verhältnis zur Ethik) fruchtbar erörtern und die Wichtigkeit des Nomotheten, der als Adressat der ethischen und politischen Werke zu interpretieren ist, dem Leser näherbringen. Dennoch muss auch gegen ihn mit den oben dargelegten Gründen eingewandt werden, dass die Moralität sich nicht in einer Sozialisation (die letztlich durch den Nomotheten 86 geregelt werde) erschöpft. 87 Auch seine Behauptung »que l’excellence de l’homme, aux yeux d’Aristote, ne se réalise effectivement que sous l’égide de normes coercitives droites, c’est-à-dire de lois justes« 88 ist Ritter 2003, 160. Ritter geht dabei sehr weit, wenn er bei Aristoteles die Trennung des Bereiches der Legalität und der Moralität nicht einmal im Ansatz finden mag. Vgl. Ritter 2003, 168 und 158 sowie 160–164. 84 Abgesehen von der Schwierigkeit, welche Sitte hier gemeint sein soll, da sich die Sitten des Volkes von den Sitten des Adels oder denjenigen der Reichen sehr unterscheiden. 85 Dies wird durch Aristoteles selbst bestätigt, und zwar in Rhet. I, 14: 1375a16 f. 86 Wobei hier zu beachten gilt, dass Bodéüs diesen Begriff recht weit fasst und auch den Hausherren in seiner Rolle als Erzieher als Nomotheten ansieht. Vgl. Bodéüs 1982, 129 ff. 87 Vgl. Bodéüs 1982, 78–80. 88 Bodéüs 1982, 85. 83

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so sicher zu strikt formuliert. Zwar sind die meisten Menschen tatsächlich auf die »unterstützende« Wirkung der Gesetze angewiesen, aber daraus folgt nicht, dass der wahrhaft moralische Mensch in gar keiner nicht gut regierten Gemeinschaft zur Ausbildung seiner Anlage imstande ist. Letztlich setzt Bodéüs ein legales Verhalten deswegen mit der Moralität gleich, da er korrekterweise die Ethik nicht in einer solipsistisch verstandenen Distanz zur Gemeinschaft verstanden wissen möchte. Jedoch deutet er dabei die sicherlich vorhandene Beeinflussung des Einzelnen zu einer völligen Abhängigkeit um. Letztlich münden diese beiden kritischen Fragen von Bodéüs an Aristoteles in der umfassenden Frage: Kann ein guter Mensch auch ohne die günstigste Ausgangsbasis einer durch und durch wohlgeordneten Polis zur Ausübung der wahrhaften Tugend imstande sein? Vorsichtig und mit wichtigen Einschränkungen möchte ich diese Frage bejahen. Natürlich ist der Weg dorthin für den Tugendhaften schwieriger, gleichwohl nicht prinzipiell unmöglich. Allerdings möchte ich hier gleich ein Missverständnis ausräumen: Damit geht nicht einher, dass sich ein Tugendhafter auf jeden Fall unter jeglichen widrigen Umständen gegenüber einer feindlichen Umwelt durchsetzen kann. Dies würde ja tatsächlich grundlegenden aristotelischen Überlegungen zum Einfluss äußerer Umstände auf die Tugend widersprechen. Vielmehr plädiere ich dafür, dass Aristoteles die Existenz von Tugendhaften in ethisch nicht vollkommenen Poleis prinzipiell für möglich hält und setze mich damit in einen Gegensatz zu Irwins These »Without the ideal city there will be no good men« 89. Anders formuliert: In meiner Interpretation erklärt Aristoteles das Vorhandensein von guten Menschen in nicht perfekten Poleis für möglich, was jedoch nicht bedeutet, dass dies auch auf extrem zerrüttete Poleis zutrifft. Wenn eine Polis allzu sehr die Freiheit der Hervorragenden beschneidet, können diese klarerweise ihre Tugend nicht entfalten. Falls Irwin recht hätte, wären bestimmte aristotelische Überlegungen völlig überflüssig, denn wie wir später sehen werden, verhandelt Aristoteles ausdrücklich die Frage, ob die wenigen Tugendhaften in einer schlecht regierten Polis einen Aufstand wagen dürfen und solIrwin 1990, 410. Yack 1993, 3 (speziell Fußnote 5) widerspricht diesem Befund ebenfalls, da ansonsten das Publikum für die EN fehlte. Ganz im Gegenteil behauptet Yack 1993, 90 gar, dass gerade die vorherrschenden verfehlten Verfassungstypen die einzigen seien, welche Mittel zum aristotelischen guten Leben bereitstellten. Schließlich gebe es laut Aristoteles nur solche imperfekten Ordnungen.

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len. Wenn es jedoch nur in wohlgeordneten Poleis überhaupt Tugendhafte geben könnte, dürfte sich diese Frage ja gar nicht stellen – es sei denn, man erklärt sie stets zu Produkten der vorhergehenden Polis, was allerdings für Aristoteles nicht in jedem Fall zutreffen kann, da die meisten Poleis schon längere Zeit von verfehlten Regierungsformen wie Demokratien oder Oligarchien regiert werden und die guten Verfassungsformen recht selten auftreten. Wenn wir nun aber dasselbe Problem von der Warte der Polis bzw. der Polisregenten aus betrachten wollen: Kann eine wohlgeordnete Polis ihren Bürgern die wahre und eigentliche Tugendhaftigkeit und Gerechtigkeit aufzwingen? Wenn es tatsächlich um Zwang geht, natürlich nicht. Man darf jedoch daraus nicht ableiten, dass die Gesetze nicht doch hilfreich auf dem Weg zu Tugendhaftigkeit sowie Glückseligkeit sein können: Rosler betont die negative Zwangsseite der Gesetze allzu sehr und vernachlässigt in seiner Diskussion die positive Vorbildfunktion. Daher sieht Rosler Stellen, an denen Aristoteles nachdrücklich die Freiwilligkeit und die Abwesenheit von Zwang in edlen Taten betont, 90 in einem gewissen Widerspruch zur Lehre der Tugendbeförderung durch die Gesetze. 91 Wenn wir allerdings die Doppelrolle der Gesetze berücksichtigen, also dass die Gesetze nicht nur durch Strafandrohungen einen negativen Zwang ausüben, sondern auch positiv formulierte Handlungsanweisungen geben und so im Sinne einer Vorbildwirkung durch Gewöhnung einwirken, dürfte sich diese Sorge als unbegründet erweisen. Jedoch auch in dieser positiven Anleitfunktion können die Gesetze die Bürger nicht vollständig tugendhaft werden lassen, denn sogar die besten Poleis können ihren Bürgern die Mühseligkeit der Tugend- und Gerechtigkeitsausbildung nicht völlig abnehmen. Schließlich können die eigentliche Gerechtigkeit und die eigentliche Tugend nicht von außen vollständig bewirkt werden, da diese freiwillig selbst gewählt werden müssen und dies kann nicht von außen geleistet werden. Stattdessen müssen – wie bereits gezeigt – die Menschen diese Haltung selbst freiwillig wählen und damit für sich vernünftig begründen können. 92 Allerdings folgt daraus natürlich keine solipsistisch gedachte Vgl. etwa EN III, 8: 1116b2–3 und EN IV, 1: 1120a23–4. Vgl. Rosler 2005, 183–185. 92 Anders Gigon: »[…] wird der Gesetzgeber die Verwirklichung dieses Besten bis in alle Einzelheiten hinein zur gesetzlichen Vorschrift machen derart, daß der Einzelne nur den Gesetzen zu gehorchen braucht, um an Seele und Körper vollkommen zu werden.« (Gigon 1988, 212) 90 91

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Selbsterschaffung der Tugend: So müssen die drei Grundvoraussetzungen für die Tugend (physis, ethos und logos) 93 in einer bestimmten Qualität vorhanden sein, damit der Tugendhafte diese drei Faktoren nützen kann. Erstens darf sich weder die physis in einem zu schlechten Grundzustand befinden, noch zweitens die Erziehung und das soziale Umfeld zu schlechte Gewohnheiten einreißen lassen, oder drittens darf die Vernunft einerseits ein bestimmtes Grundniveau nicht unterschreiten und muss andererseits auch genügend gebildet worden sein. Bei all diesen Faktoren kann die Polis im besten Fall unterstützend wirken, aber niemals diese Bedingungen völlig in ihrer Hand haben, denn sie muss erstens mit der vorhandenen Natur ihrer Bürger zurechtkommen; 94 zweitens ist die Erziehung ja nicht alleine Sache der Polis, denn auch das soziale Umfeld (Familie, Freunde und überhaupt das soziale Lebensumfeld etc.) können der Erziehung im Geiste der bestehenden Verfassung oder der allgemeingültigen Sitten entgegenwirken; 95 drittens kann die vernünftige Zustimmung nicht erzwungen, sondern muss durch Überzeugungsarbeit erreicht werden und wird so sogar bei vernünftigsten Lehren ihr Ziel der Tugendbildung nicht erreichen, wenn der Adressat diese Lehren nicht vernünftig bejaht. Wie gerade gezeigt, kann also nur ein legales Verhalten, nicht aber Tugend und Gerechtigkeit im eigentlichen Sinne von außen erzeugt werden. Schließlich gelten Tugend und Gerechtigkeit nur dann als wahrhaft und eigentlich, wenn sie freiwillig gewählt worden sind, und dies lässt sich nicht aufzwingen oder sonst irgendwie von außen komplett erzeugen. Damit soll nicht geleugnet werden, dass die Polis durch Lenkung der Sitten und durch vernünftige Belehrungen einen gewissen Einfluss hat, allerdings kann sie die eigentliche Tugend und Gerechtigkeit nicht allein erzeugen, und dies hängt mit den normativen Möglichkeitsbedingungen für Tugend und Gerechtigkeit zusammen. Wie können wir also das Verhältnis zwischen Polis und einzelnem Menschen resümieren? Sicherlich bietet die Polisgemeinschaft einen gewissen Ermöglichungsrahmen für die Ausbildung von Tugend und Gerechtigkeit. Ganz basal allein schon deswegen, weil der Mensch als zôon politikon bekanntlich nur in der Gemeinschaft beVgl. Pol. VII, 13: 1332a38–b11. Vgl. Pol. I, 10: 1258a21–23. 95 Auf die Möglichkeit der Tugendbeförderung durch Einzelne, wenn die Gemeinschaft versagt, verweist Aristoteles selbst in EN X, 10: 1180a30–32. 93 94

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stehen kann. Freilich erschöpft sich die Rolle der Polis natürlich nicht darin, sondern sie hat durchaus auch einen aktiven Einfluss auf die Tugendhaftigkeit ihrer Einwohner. Einerseits wirkt sie – wie beschrieben – durch Gesetze 96 auf die Menschen ein, andererseits versuchen die Polisregierung und die herrschenden Gemeinschaftsgruppen ihre Schutzbefohlenen auch durch Erziehung und erstrebte Lenkung der Sitten zu der aus ihrer jeweiligen Sicht vernünftigen Teilnahme an der Kommunikation über das Gute und Rechte zu befähigen. Jedoch kann auch die wohlgeordnetste Polis die eigentliche Gerechtigkeit und Tugend aus den schon erwähnten Gründen nicht hervorbringen, wohl aber den Einzelnen dabei unterstützen. Somit ist eine Polis zwar aus mancherlei Gründen heraus eine notwendige Bedingung für die Ausbildung einer wahrhaften und eigentlichen Tugendhaftigkeit, freilich allein genommen keine hinreichende. Insofern kann sie die wahre und eigentliche Gerechtigkeit auch nicht diktieren. Entsprechend kann man Bien nur beipflichten, wenn er schreibt: »Man mag hier sehen, wie unzutreffend eine zur Zeit verbreitete Auffassung ist, die die praktische Philosophie des Aristoteles nicht nur der Position einer sog. konventionellen Sittlichkeit zuordnet, sondern in ihr geradezu deren paradigmatische Gestalt sieht.« 97 Auf der anderen Seite müssten eigentlich diese genannten Einschränkungen des Einflusses der Polis auf die Tugendausbildung auch dazu führen, dass es auch in nicht besonders gut geordneten Poleis dennoch tugendhafte Leute geben kann. Sicherlich wird eine wahrhaft schlechte Gemeinschaftsordnung im schlimmsten Fall zwar die Ausbildung der Tugendhaftigkeit verhindern, 98 aber in gemäßigt schlecht verfassten Poleis wie nicht allzu übergriffigen Demokratien, Oligarchien oder Tyrannenherrschaften wird ein verhältnismäßig in Ruhe gelassener Tugendanwärter ohne größere Hindernisse durch allzu stark beschränkende politische oder soziale Faktoren vermutlich doch die eudaimonia anstreben können. Bestätigt wird diese Lesart durch Aristoteles selbst, da er auch in nicht tugendausgerichteten Poleis von tugendhaften Einzelnen ausgeht: »Denn auch in den [Poleis], die sich nicht gemeinsam um die Tugend bemühen, gibt es doch einige [Menschen], die in gutem Ruf stehen und das Ansehen genießen, 96 Aristoteles betont in EN X, 10: 1179b31–1180a5, wie wichtig die Regelung bereits des kindlichen Verhaltens ist. 97 Bien 1995, 144 98 Einen besonders schlimmen Fall bespricht er in EN VII, 14: 1153b19–21.

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gute Männer zu sein.« 99 Damit ist die bereits genannte These von Irwin (»Without the ideal city there will be no good men« 100) direkt durch Aristoteles widerlegbar, da es auch in nicht perfekten Poleis tugendhafte Menschen geben kann. Zwar geht Aristoteles nicht von einer Selbsterschaffung des Tugendhaften aus, aber manche Interpreten vernachlässigen die wichtige Rolle des sozialen Umfelds zugunsten der Politik mit ihren diversen Regelungen. Wenn auch die Familie und überhaupt die gesamte Lebenswelt (inklusive anderer unter der politischen Ordnung stehender Gemeinschaften) einen wichtigen Einfluss durch Sittenformung und Belehrung in der Erziehung spielen können, erklärt sich das Vorhandensein von Tugendhaften auch in bereits länger nicht tugendhaft regierten Poleis. 101 Entsprechend problematisch scheinen daher manche in der Forschung häufig zu findende Annahmen zum Verhältnis von gutem Menschen und gutem Bürger zu sein.

2.1.4 Zweite Probe: Identifiziert Aristoteles den guten Menschen und den guten Bürger miteinander? Wie denkt Aristoteles das Verhältnis von gutem Menschen und gutem Bürger? Wie weit ist ihre Güte parallel? Sind die Tugenden des guten Bürgers und des guten Mannes dieselben? Fallen bei Aristoteles öffentliche und private Tugend wirklich zusammen, wie Aubenque behauptet? 102 Oder hat gar Derbolav recht, wenn er schreibt »[…] im Staat des Aristoteles kommt der Mensch nur im Dienst des Gemeinwesens, als Bürger zu seinem Recht; der Bürger ist die Höchstform des Menschen, der Mensch im Bürger (und neben dem Bürger) noch gar nicht entdeckt.« 103 Dies wäre natürlich eine ziemlich Pol. IV, 7: 1293b12–14 (Übersetzung des Verfassers, basierend auf Gigon und Schütrumpf). 100 Irwin 1990, 410. 101 Wie bereits herausgestellt, benötigen die meisten Menschen allerdings tatsächlich die zwingende Gewalt der Gesetze zu einer gewissen Tugendausbildung. Man beachte jedoch, dass Aristoteles in EN X, 10: 1179b31–1180a5 betont, dass es schwierig sei, tugendhaft zu werden ohne entsprechende Gesetze. Schwierig, jedoch nicht unmöglich. Yack betont dies in einer kleinen Notiz zu 1180a31 ebenfalls (vgl. Yack 1993, 106). 102 Vgl. Aubenque 2007, 23 f. 103 Derbolav 1980, 172. Richtiger dagegen Bien: Menschsein und Bürgersein fallen nicht mehr zusammen. Vgl. Bien 1995, 142 f. 99

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problematische These für uns, denn eine solche Fixierung auf den Bürger würde den Nichtbürgern keine Möglichkeit einräumen, den Status des vollkommenen Menschen zu erreichen. Tatsächlich aber löst Aristoteles diese Frage selbst eindeutig anders, denn in Pol. III, 4 verwahrt er sich gegen eine pauschale Identifikation des guten Bürgers und des guten Menschen. Schließlich orientiert sich die Tugend des Bürgers an der Verfassung, und da es viele verschiedene Verfassungstypen und daher auch viele verschiedene Bürgertugenden gibt, steht dies im Gegensatz zur einzigen vollkommenen Tugend des guten Menschen. So können der gute Mensch und der gute Bürger also nicht schlechthin identifiziert werden. 104 Ansonsten käme Aristoteles ja in ziemliche Relativismusprobleme: Wenn in der demokratischen Polis A und in der oligarchischen Polis B völlig entgegengesetzte Werte für tugendhaft angesehen werden, kann die eigentliche Tugend nicht an die gutbürgerliche Befolgung der jeweiligen Polisgesetze und Sitten gekoppelt sein. Jedoch kennt Aristoteles durchaus einen Verfassungstypus, in dem der gute Bürger dem guten Menschen verhältnismäßig stark angenähert wird: Nur im Falle einer vollkommenen (also aristokratischen 105) Bürgerschaft gleicht Aristoteles den guten Bürger dem guten Menschen an. Warum können in den besten Verfassungen der gute Mensch und der gute Bürger einander überhaupt stark angenähert werden? Weil beide ein auf die Tugend ausgerichtetes Leben führen sollen und daher die politischen Ziele des Bürgers identisch mit denen des guten Menschen sind. Demgegenüber sind die Bürger in den anderen mehr oder weniger guten Verfassungen nur relativ gut und zwar in demselben Ausmaß wie ihre Verfassung in Tugendfragen von der perfekten Verfassung abweicht. 106 Falls eine Bürgerschaft solch angeblich nicht tugendhafte Leute wie Bauern, Handwerker etc. zum Bürgerrecht zulässt, engt Aristoteles seine Definition des

104 Vgl. für diesen Abschnitt: Pol. III, 4: 1276b30–35. Besonders intensiv diskutiert das Thema des guten Menschen und des guten Bürgers Keyt 2007. Daher werde ich mich im Folgenden immer wieder auf diesen Aufsatz beziehen. 105 Wobei in einem gewissen Sinne auch die Königsherrschaft aristokratisch ist (vgl. Pol. V, 10: 1310b2 f.). Platon rückt sie ebenfalls sehr nahe zusammen (vgl. Politeia IV. Buch 445d). 106 Zu diesem gesamten Abschnitt vgl. Pol. IV, 7: 1293b1–7 und Pol. III, 18: 1288a37– b2.

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guten Bürgers ausdrücklich auf die von banausischen Tätigkeiten unbelasteten Freien ein. 107 Hier stellt sich die Frage, wie er in den besten Verfassungen das Verhältnis von gutem Menschen und gutem Bürger genauer auffasst. Dabei lassen sich prinzipiell drei Möglichkeiten unterscheiden: Entweder werden guter Mensch und guter Bürger miteinander identifiziert, oder der gute Mensch steht über dem guten Bürger oder der gute Bürger über dem guten Menschen. Hier möchte ich für die zweite Option votieren, also den Vorrang des guten Menschen über dem guten Bürger. 108 Schließlich beschränkt sich der gute Mensch nicht auf seine Rolle als Bürger, sondern füllt darüber hinaus auch unpolitisch-soziale und v. a. natürlich auch private Funktionen aus. Somit kann sich die Menschentugend nicht in der Bürgertugend erschöpfen, da sich die Menschlichkeit und die menschlichen Vollkommenheiten nicht allein im Bürgersein äußern. Mulgan hat in einem Artikel gezeigt, dass politische Partizipation 109 für Aristoteles zwar ein wichtiger Wert, aber kein absolut notwendiger ist. Stattdessen betone Aristoteles auch stark den Wert von Freunden und Familie; der idiôtês (Privatmann) sei also kein Idiot in unserem Sinne; dies im Gegensatz zur Meinung des Perikles in der Gefallenenrede, der Apolitische für nutzlos erkläre. Insofern dürfen wir den guten Menschen auch im besten Fall nicht auf seine Eigenschaft als guter Bürger reduzieren. Überdies spricht meines Erachtens auch die Analyse der Frage der verschiedenen Lebensweisen gegen die Identifikationsthese oder gar Höherwertigkeit des guten Bürgers, denn bei der Höchstform des Menschen handelt es sich nicht um den politisch tätigen Bürger, sondern um den Theoretiker. Wenn aber der gute Mensch sogar in den besten Verfassungen nicht im guten Bürger aufgeht bzw. im Normalfall der eher verfehlten Verfassungen ohnehin nicht mit ihm identifiziert werden kann, können die Ziele des tugendhaften Bürgers und der verfehlten Bürgerschaft kollidieren. Obwohl Aristoteles diese Frage nirgends derart abstrakt stellt, können wir Heutigen durchaus nachhaken, wie in aristotelischen Überlegungen eigentlich das Problem eines Konflikts zwiVgl. Pol. III, 5: 1278a8–11. Ebenfalls gegen eine völlige Identifikation spricht sich Newman 2010a, 236 aus (vgl. auch zusätzlich auch den Appendix, ebenda, 569 f.). 109 Vgl. Mulgan 1990, 211 f. Etwas anders argumentieren Duvall/Dotson 1998 für eine eingeschränkte Rolle der politischen Partizipation für die individuelle eudaimonia. 107 108

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schen den Polisnormen und den Gerechtigkeitsgrundsätzen eines tugendhaften Individuums gelöst werden könnte. Nachdem die politischen Ziele des guten Menschen und des guten Bürgers nur in den besten Verfassungen dieselben sind, ergibt sich allein daraus ein möglicher Normenkonflikt für tugendhafte Menschen in nicht perfekten Poleis. Zunächst sollten wir nun der Frage nachgehen, aus welchen Gründen Aristoteles angeblich einen derartigen Konflikt zwischen tugendhaftem und gerechtem Einzelnen und nicht völlig gerechten Verfassungs-, Gesetzes- und Sittenordnungen entweder nicht zulassen oder zugunsten der ungerechten Polisordnung entschieden haben soll. Hier lassen sich vor allem zwei Begründungen ausmachen: einerseits der Hinweis von MacIntyre, dass es sich bei Aristoteles um einen traditionalistischen Denker handle (nennen wir dies die Traditionsthese) und andererseits die Bedenken von Keyt, dass Aristoteles um die Stabilität der Polis bange (bezeichnen wir dies als die Stabilitätsthese). Zuerst möchte ich mich der Traditionsthese zuwenden: Während Nussbaum Aristoteles immer wieder als Traditionskritiker charakterisiert, der auch von Traditionen eine Rechtfertigung verlangt, 110 zeichnet MacIntyre in seinen Werken den Aristoteles als extrem konservativen, traditionalistisch orientierten Denker. Dabei interpretiert er dessen Tugendkonzeption als Traditionsgut und setzt sie in einen krassen Gegensatz zur Freiheitskonzeption der Moderne. In einer polemischen Auseinandersetzung mit modern-liberalen Vorstellungen räumt MacIntyre zwar die Möglichkeit ein, dass jemand die Güterordnung seiner Polis hinterfragen kann. 111 Nun folgt für ihn aber aus der wichtigen Rolle der Gemeinschaft für die Moralvorstellungen des Individuums: »To be a rational individual is to participate in such a form of social life and to conform, so far as is possible, to those standards.« 112 Auch Kelsen glaubt, kein Philosoph wolle so ängstlich der landläufigen Moral entsprechen wie Aristoteles. 113 Von einem moderVgl. Nussbaum 1999b, 229 f. Vgl. MacIntyre 2003, 133 f. 112 Vgl. MacIntyre 2003, 141 (Hervorhebung B. L.). 113 Vgl. Kelsen 1989b, 305. Im Gegensatz zu späteren Aufsätzen (vgl. Bien 1995, 144) scheint Bien in seiner Habilitation noch die Auffassung zu vertreten, dass das Letztkriterium für Sittlichkeit die Beurteilung durch die Polisöffentlichkeit sei (vgl. Bien 1985, 225) und es bei Aristoteles noch keinen Unterschied zwischen einem sittlichen und einem bloß gesitteten Menschen gebe (vgl. Bien 1985, 226 Anmerkung 33). 110 111

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nen Standpunkt aus kritisiert Schnädelbach: »Die hermeneutische Rückbindung der Ethik an das Ethos erzeugt nicht nur ein geradezu habituelles Vorurteil zugunsten des Bestehenden […]« 114 Bereits früher habe ich ausführlich dafür argumentiert, dass die wahre Gerechtigkeit und die wahre Tugend nicht als bloß heteronome Reproduktion der partikularen Sozialisation aufzufassen sind, sondern eine vernünftig begründete und in diesem Sinne autonome Entscheidung fordern. Natürlich spielt die Sozialisation für Aristoteles eine wichtige Rolle, und Praxis kann nur in Gemeinschaften stattfinden, was freilich nicht heißt, dass der gute Mensch einfach die überlieferten Vorstellungen seiner Gemeinschaft ohne freie Entscheidung und vernünftige Prüfung übernehmen soll. Zwar kann der Mensch für Aristoteles nur in der Polisgemeinschaft wirklich Mensch sein, 115 jedoch wird damit nicht ein heteronomes Diktat der Gemeinschaft gerechtfertigt und so Aristoteles zum kritiklosen Verteidiger der Polistugenden. Horn hebt den in diesem Zusammenhang wichtigen Unterschied zwischen Genese und Geltung hervor: Nun sagt aber der Kontextbezug des Tugenderwerbs noch nichts darüber, ob sich Tugenden auf eine Gruppenmoral reduzieren lassen. Aristoteles billigt den Umständen, unter denen Tugenden erworben werden, zwar eine wesentliche moralpädagogische Funktion zu, […] Dies wirkt sich aber nicht inhaltlich aus. Die Betonung der Gemeinschaftsbindung ändert nichts daran, daß Aristoteles’ Tugendbegriff als traditionsunspezifisch, kritisch und revisionär angesehen werden muß. 116

Ganz konkret erweist sich Aristoteles nämlich immer wieder als Kritiker bestehender Verhältnisse: Sei es in seiner Verfassungsdiskussion, da Aristoteles vor allem verfehlte Verfassungstypen an der Macht sieht; sei es, dass die aristotelische Kritik am Militarismus in den Büchern VII und VIII der Politik zeigt, dass er durchaus gegen gängige Sozialisationsmuster ankämpft. 117 Last but not least ließe sich auch seine Kritik an dem normativ angeblich so vorbildlichen Adel nennen. 118 Dennoch bezeichnen einige Forscher Aristoteles als sehr konVgl. Schnädelbach 1992, 224. Vgl. MacIntyre 2003, 96–99. 116 Horn 1998, 123. 117 Hierzu v. a. Pol. VIII, 4: 1338b9–38 und Pol. VII, 14: 1333b12–26. Bekanntlich zielt dieser Rüffel zwar vor allem auf die Spartaner, ist aber historisch gesehen doch für die Gesamtheit der Griechen ziemlich zutreffend gewesen. 118 Vgl. dazu meine entsprechenden Analysen im Aristokratiekapitel. 114 115

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servativen Philosophen (Miller 119) oder schreiben ihm wie Swanson gar die Ansicht zu, »that rulers should […] always rule conservatively« 120. Ohne auf die Problematik der Rückprojektion solcher Begriffe wie »konservativ« auf die Antike näher einzugehen, möchte ich weitere Argumente dafür und dagegen prüfen. Häufig fallen solche Bemerkungen im Zusammenhang mit der aristotelischen Diskussion um eine Reform alter Gesetze: So schreibt etwa Swanson unserem Philosophen eine sehr traditionalistische Philosophie zu 121 oder meint Ottmann, dass in dieser Frage nur der Reformer und nicht der Gesetzesbewahrer ihre Haltung begründen müssten und Aristoteles insgesamt von einer Vernünftigkeit des Bestehenden ausgehe 122. Tatsächlich jedoch kommt es Aristoteles ausdrücklich vor allem auf die Vernünftigkeit der alten oder neuen Gesetze, nicht auf ihr Alter an: 123 Schließlich gehe es bei Gesetzen nicht um ihr ehrwürdiges Alter, sondern um das Gute. Da die früheren Menschen wesensgleich mit den heutigen gewesen seien, sei ein unproblematischer Rückgriff ohne Rücksicht auf die normative Güte töricht: Problemlos findet Aristoteles sehr alte Gesetze, die höchst einfältig sind. So legt etwa in einer bestimmten Polis ein Gesetz fest, dass bei einem Mord der Ankläger nur genug seiner Gefolgsleute als Zeugen aufrufen muss, damit der Angeklagte für schuldig befunden wird. 124 Abgesehen von solchen einfach anklagbaren Kuriositäten bemängelt er an den archaischen Gesetzen ihren häufigen Militarismus, ihre inhaltliche Dürftigkeit und das barbarische Ethos. Deutlich verlangt also Aristoteles auch von Traditionen den Nachweis ihrer Vernünftigkeit. Manche Interpreten werten wie Piepenbrink die in besagter Diskussion aufgebrachten Gegenargumente gegen diese Sicht als die abVgl. Miller 1997, 186. Ähnlich Mulgan 1977, 11. Swanson 1997, 170. 121 Vgl. Swanson 1997, 157 ff. Okin greift auf die aristotelische Wissenschaftstheorie zurück, um die von ihr diagnostizierte Verherrlichung des Status quo noch zu untermauern. Vgl. Okin 1992, 73 f. Dabei überliest sie trotz ihres Verweises auf EN VI, 3, dass Aristoteles dort für die Ethik und politische Philosophie keine strenge Notwendigkeit annimmt. 122 Vgl. Ottmann 2005, 11. Zwar mag in gewisser Weise ein leichter Vorrang des Bestehenden existieren, aber wie Ottmann selbst am Ende seines Vortrages zeigt, ist Aristoteles keineswegs ein Traditionalist im Sinne MacIntyres. Vgl. Ottmann 2005, 40 f. 123 Vgl. Pol. II, 8: 1269a3–8. 124 Vgl. Pol. II, 8: 1269a1–3. 119 120

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schließende Antwort des Aristoteles und betrachten ihn als Denker, der gar keine Gesetzesänderungen erlaube. 125 Dagegen warnt Schütrumpf zu Recht: »Der Abschnitt a 12 ff., der die Argumente gegen Gesetzesänderung bringt, zieht doch nur die Folgerung, man dürfe nicht mit allzu leichter Hand neue Gesetze machen (a 22), nicht dagegen, daß jede Änderung ausgeschlossen sein müsste«. 126 Wie begründet Aristoteles diese wichtige Einschränkung gegenüber einem allzu großen Gesetzgebungseifer? An dieser von Schütrumpf genannten Stelle erinnert Aristoteles daran, dass Gesetze nur dann befehlen können, wenn sie zur allgemeinen Sitte gehören und die Menschen daran gewöhnt sind. Wenn die allgemeinen Rechtsgebote nämlich nicht in die individuellen Sittlichkeitsgebote Eingang finden, handelt es sich um totes, nicht befolgtes Recht. Da die allgemeinen Sitten gewissermaßen die Übersetzung der allgemeinen Rechtsregeln in die Sittlichkeit des Einzelnen entscheidend erleichtern, billigt Aristoteles ihnen ein großes Gewicht zu. Damit zieht er eine wichtige Schranke gegenüber naiven Reformenthusiasten, die in der Umstürzung der bisherigen Gesetzesregeln und der Aufstellung neuer bereits die Lösung aller möglichen Missstände sehen. Dabei übersehen sie jedoch, dass die Rechtsordnung zur Bürgerschaft passen muss. Wenn sich die Bürger in der neuen Rechtsordnung nicht wiederfinden, werden sie diese Gesetze nicht befolgen und damit wurde im besten Falle nur totes Recht produziert, in schlimmeren Fällen löst sich der Wille zur Gesetzesbefolgung auf. Daher warnt Aristoteles vor einem übertriebenen Reformismus, der als Selbstzweck eine Neuerung die andere jagen lässt. Entsprechend sollten Politiker keine lebensfremden Utopien anstreben, die nicht kontextsensibel angepasst sind. Dies kann auch eigentlich an sich gerechte Lösungsvorschläge betreffen, die aber in manchen Poleis – in der Sicht des Aristoteles sogar den meisten Poleis – nicht unter allen Umständen verwirklichbar sind. Wie angesprochen, kann eine bloß aufgepfropfte Rechtsordnung auf den machtvollen Widerstand des Volkes stoßen, womit auch wieder das Problem der Freiwilligkeit und Autonomie hereinspielt. Somit ist also die Schwierigkeit einer Konsensfindung nicht zu unterschätzen. Rechtstheoretisch soll125 Vgl. Piepenbrink 2012, 153, die allerdings nicht die nachfolgenden Zeilen Pol. II, 8: 1269a14–22 dafür heranzieht, sondern 1268b32–1269a12, also die Argumente für die Gesetzesänderungen. 126 Schütrumpf 1991b, 282 Anm. 4,19.

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ten die Gesetze bekanntlich zur Verfassung passen; machtpolitisch sollten die Interessen der anderen Parteien nicht gröbstens verletzt werden (ansonsten kann es leicht zu Aufständen kommen, wenn die herrschende Schicht die anderen dadurch allzu sehr reizt). Aristoteles wendet sich dabei ausdrücklich gegen die naive Ansicht mancher Sophisten, dass doch einfach eine Auswahl der besten bekannten Gesetze getroffen werden solle. 127 Schließlich erfordert eine Auswahl von guten Gesetzen bereits ein Kriterium, um sie überhaupt als solche erkennen zu können. 128 Insgesamt dürfen wir die verantwortungsvolle Aufgabe der Gesetzgebung überhaupt nicht unterschätzen, da die Entscheidungen des Gesetzgebers vorausschauend sein sollten und die allgemeinen Regeln für die den Einzelfall beurteilenden Richter abgeben müssen. 129 Im Rahmen dieser schwierigen Balance versucht Aristoteles also weder einem technokratisch-utopischen Machbarkeitswahn zu verfallen (»Wir müssen die Gemeinschaft von Grund auf umkrempeln«) noch reaktionär-fatalistisch alles beim Alten lassen zu wollen. Stattdessen möchte er vorsichtig die bestehenden Gemeinschaften reformieren. Hier zeigt sich deutlich der Realismus des Aristoteles, der im Feld der praktischen Philosophie niemals die gegebenen Umstände vernachlässigen möchte, ohne sich allerdings mit ihnen zufriedenzugeben. Weit entfernt davon, mit den gegebenen Umständen stets zufrieden zu sein (wie es MacIntyre ihm ja vorwirft), äußert sich hier Vgl. auch für das Folgende: EN X, 10: 1181a12–b23. Dies dürfen wir möglicherweise als Seitenhieb auf Isokrates verstehen, der in Antidosis, 83 die Schwierigkeiten der Gesetzeserstellung aus einer Sammlung von bereits erprobten deutlich verharmlost. Vgl. Isokrates 1997, 133. Aber auch Platon verfällt vielleicht dieser Kritik, da er ab Nomoi IX. Buch 858b ebenfalls eine Auswahl aus bereits bestehenden Gesetzen trifft (vgl. zu Platon: Hentschke 1971, 244). Hier spielt nicht nur Erfahrung eine wichtige Rolle, sondern auch eine spezielle »juristische Intelligenz«. Diese phronêsis nomothetikê ist eine der wichtigsten Unterarten der phronêsis (vgl. EN VI, 8: 1141b24–32). Geschickt preist Aristoteles sein eigenes Projekt einer Sammlung von Verfassungen an, da der dadurch entstehende mögliche Rechtsvergleich für solch herausragende Rechtskenner mit der nötigen juristischen Intelligenz sehr wertvoll sein kann. Damit ist es aber natürlich nicht getan, da die Klugheit die richtigen Gesetze nicht nur intellektuell erstellen oder beurteilen können soll. Schließlich sollen sie auch praktisch durchgesetzt werden, was durch eine besondere Begabung auf dem Gebiet der so genannten beratenden Rede (Reden über Gesetzgebung stellt eines der fünf Hauptgebiete einer beratenden Rede dar: Rhet. I, 4: 1359b20–23. Details folgen dann in Rhet. I, 4: 1360a20–b1) sicherlich gefördert wird. 129 Vgl. Rhet. I, 1: 1354b4–8. Der Richter ist als beseeltes Gerechtes anzusehen (vgl. EN V, 7: 1132a21 f.). 127 128

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– wie Jones vermutet – vermutlich eher ein Unbehagen an den stürmischen Zeiten: The distrust of new legislation, as they saw it being enacted in their own day, which pervades the work of Plato and Aristotle was a reflection not of satisfaction with the existing state of the law but of distrust of the restless assertiveness and corruption of so many of the Athenian politicians of the fourth century. 130

Allerdings sollte hier einschränkend darauf aufmerksam gemacht werden, dass dies nicht allein als Kritik an Athen aufzufassen ist, sondern die meisten anderen Poleis seiner Zeit ebenso betrifft und diese wichtigen Einschränkungen ihrerseits auch nicht zu stark gelesen werden sollen, sodass Aristoteles dann als reaktionärer Bewahrer der althergebrachten Sitten denunziert wird. Braun hingegen geht mit einem Blick auf 1287b5 ff. von einem eklatanten Vorrang der auf Sitte und Herkommen beruhenden Gesetze gegenüber den geschriebenen aus. 131 Tatsächlich findet sich an besagter Stelle eine Erörterung, die einem uneingeschränkten Herrscher zuschreibt, dass er wohl zuverlässiger sein könne als Herrscher, die niedergeschriebene Gesetze als Leitfaden nehmen, nicht jedoch als solche, die nach den herrschenden Sitten regieren. 132 Allerdings kann diese Stelle nicht für eine allgemeine Abwertung der geschriebenen Gesetze in Anspruch genommen werden: Zunächst muss dringend festgehalten werden, dass es sich hier nur um ein antimonarchistisches Argument handelt, bei dem wir nicht wissen, wie Aristoteles explizit dazu steht. Dass die von Braun genannte Passage die aristotelische Lehre treffend wiedergibt, wird überdies durch eine Stelle aus dem zweiten Buch der Politik sehr unwahrscheinlich gemacht: Hier kritisiert Aristoteles die Kreter scharf dafür, dass diese das geschriebene positive Recht allzu sehr durch ihr eigenes Rechtsempfinden ersetzt hätten. 133 Außerdem übersieht eine derartige Haltung, dass die Sitten sehr wohl auch durch die Regierenden lenkbar sind, denn Aristoteles sieht bekanntlich eine Erziehung der Leute gemäß der Verfassung vor. 134 Jones 1956, 113. Vgl. Braun 1953, 148. Ähnlich Von Leyden 1967, 15. 132 Vgl. Pol. III, 16: 1287b5–8. 133 Vgl. Pol. II, 10: 1272a38 f. 134 Sogar von einer möglichen Lenkung der Begierden, die bekanntlich besonders mächtig sind, geht Aristoteles aus (vgl. Pol. II, 7: 1266b29 f.). 130 131

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Insofern ist das Verhältnis von Sitte und Rechtsordnung keine Einbahnstraße, sondern die Regierenden haben durchaus ebenfalls Möglichkeiten, in einem gewissen Umfang auf die Sitten Einfluss zu nehmen. 135 Des Weiteren können wir die von Braun genannte Stelle kaum als Absage an jegliche, dem Ethos einer bestimmten Bürgerschaft bisher eher fremde Gesetzesänderung auffassen, denn sonst hätte sich Aristoteles die Mühe der Ratschläge zur Verbesserung der verschiedenen Verfassungen sparen können. Schließlich würde dies sonst einen Automatismus bedeuten, der jegliche Verbesserung von verfehlten Poleis (wie sie Platon und Aristoteles bekanntlich recht häufig in Griechenland sehen) für mehr oder weniger unmöglich erklärt. Ähnliches lässt sich auch gegen die verwandte Position von Swanson einwenden: »A ruler who refuses to accept this morality [i. e. the common opinions of an audience or the public morality; B. L.] but proceeds to try to persuade is a mere sophist or dogmatist.« 136 Wer aus Aristoteles einen bloßen Apologeten der bestehenden Verhältnisse machen möchte, der missdeutet ihn letztlich als schlechten Theoretizisten: Unser Philosoph will keineswegs alles lassen wie es ist und nur erkennen. Stattdessen geht es ihm darum, sich praktisch dagegen zu verhalten. Ebenso beurteilen Philosophen wie Habermas die praktische Philosophie des Aristoteles zu pessimistisch. Letztlich befürchten solche Denker, dass ein Kontextualismus Aristoteles dazu führe, die praktische Vernunft wegen einer angeblich dominanten Sozialisierung ihre Fähigkeit zur Kritik nicht mehr ausüben lassen zu können. Entsprechend muss ein Aristoteliker entgegen dem nachfolgenden Zitat von Habermas nicht bereit sein »den emanzipatorischen Gehalt des moralischen Universalismus aufzugeben und schon die bloße Möglichkeit zu leugnen, jene strukturelle Gewalt, die in Verhältnisse latenter Ausbeutung und Repression eingelassen ist, einer moralisch unnachsichtigen Kritik zu unterziehen« 137. Wenn wir uns der Stabilitätsthese zuwenden, dann wähle ich hier als Vertreter David Keyt, 138 da dieser in seinem Aufsatz The good 135 An einer genauso übertriebenen Stelle in Pol. II, 11 behauptet Aristoteles, dass sich die übrigen Bürger den Wertvorstellungen der Regierenden mit Notwendigkeit anschließen (vgl. Pol. II, 11: 1273a40 f.). Warum dies der Fall sein soll, schreibt Aristoteles jedoch nicht. 136 Swanson 1997, 171. 137 Habermas 1991, 90. 138 Vgl. Keyt 2007, 235–240.

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man and the upright citizen in Aristotle’s Ethics and Politics die äußerst wichtige Frage nach dem Verhältnis von gutem Menschen und gutem Bürger nicht rein abstrakt gestellt hat. Keyt behauptet dabei, dass in den Handlungen die guten Menschen auch in verfehlten Poleis nicht von guten Bürgern unterscheidbar sind. Lebhaft malt er uns eine Szenerie eines tugendhaften Bürgers aus, der unglücklicherweise in einer moralisch eher bedenklichen Polis lebt: Um uns die Situation etwas plastischer vor Augen zu führen, erfindet Keyt die Situation des aristokratisch gesinnten Bürgers Ariston, der im demokratischen Athen lebt. Während Ariston schlechthin gerecht zu nennen ist und als Richtschnur für sein Handeln ein ideales Gesetz bevorzugt, ist der ebenfalls fiktive athenische Bürger Demokrates nur in Hinblick auf die athenische Verfassung gerecht zu nennen. Warum glaubt Keyt, dass schlechthin Gerechte wie Ariston weder die Gesetze einer ungerechten Polis missachten, noch sich gegen die Verfassung verschwören? 1.) Aristoteles lege einen besonders großen Wert auf politische Stabilität, was sich vor allem daran zeige, dass er ein ganzes Buch der Politik dem Erhalt von Verfassungen widme und dabei auch Tipps für Tyrannen gebe, 2.) sei ein Widerstand der Tugendhaften aufgrund ihrer geringen Zahl sinnlos 139; 3.) würden die Tugendhaften durch Ungehorsam gegenüber den Gesetzen ein schlechtes Beispiel abgeben. Da Aristoteles schon skeptisch gegenüber geringfügigen Gesetzesverbesserungen sei, 140 könne man dies wohl analog auf die Frage des Gesetzesungehorsams übertragen. Schließlich verneine Aristoteles die Sinnhaftigkeit von kleinen Gesetzesänderungen, da die Gewohnheit die Basis für Gesetzesgehorsam darstelle und häufige Änderungen die Gewöhnung an die Gesetzesregeln verunmöglichen würden. Somit müsse Ariston fürchten, dass er durch einen Ungehorsam gegenüber athenischen Gesetzen ein so schlechtes Beispiel abgäbe, dass Gesetz und Ordnung bald zusammenbrächen. Daher müsse Ariston in Übereinstimmung mit demokratischen Werten handeln, jedoch aus Stabilitätsüberlegungen und nicht aus einer demokratischen Haltung heraus. Anders formuliert: Die Handlungen unterschieden sich beim eigentlich antidemokratischen Ariston und beim glühenden Demokraten Demokrates nicht, wohl aber die Gesinnung. Nun möchte ich mehrfach Fragezeichen hinter Keyts Thesen 139 140

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Hier verweist Keyt auf Pol. V, 4: 1304b4–5. Vgl. Pol. II, 8: 1269a14–22. Dazu siehe meine Ausführungen oben.

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setzen: 1.) Zwar hat Aristoteles tatsächlich mit Pol. V ein ganzes Buch der Stabilisierung auch verfehlter Verfassungen gewidmet. Allerdings läuft dies häufig auf eine Abkehr von der reinen Lehre etwa der Demokraten hinaus, da extreme Verfassungen nur sehr kurzlebig sind. Anders formuliert: Um etwa eine radikale Demokratie langfristig zu stabilisieren, sollte sie laut Aristoteles in Richtung einer gemischten Verfassung reformiert werden, also in eine Demokratie besseren Typs verwandelt werden. So ist aber die von Keyt für so wichtig gehaltene Stabilisierung einer Verfassung nicht stets mit dem Bewahren des Status quo zu verwechseln; 2.) die Tugendhaften sind zwar wirklich nur einige wenige, was ihre Lage tatsächlich nicht einfach gestaltet. Jedoch entscheidet laut Aristoteles nicht allein die Quantität an Parteigängern über das Zustandekommen oder Bewahrtwerden einer Verfassung, sondern auch ihre Qualität. 141 Ansonsten gäbe es ja auch einen Automatismus zugunsten der Demokraten, da es stets mehr Arme als Reiche oder Mittelständische gibt. Jedoch muss zugegeben werden, dass dies das stichhaltigste Argument ist, das jedoch hauptsächlich den außergewöhnlichsten Fall eines Aufruhrs gegen die Verfassungsordnung betrifft; die Lage ist für echte Aristokraten gewissermaßen im Allgemeinen eher hoffnungslos, jedoch nicht in jedem Einzelfall komplett aussichtslos; 3.) ist die notwendige Stützannahme von Keyt, dass die Tugendhaften auch in einer ungerechten Polis in Ehren gehalten würden, doch eher kontrafaktisch und damit ist ihre angebliche Vorbildwirkung eher nicht vorhanden. Rosler glaubt ganz allgemein feststellen zu können: »People are heavily influenced by the behaviour of virtuous agents and thus even a minor or single act of disobedience may well have quite an impact on the rest of society.« 142 Wenn allerdings die Tugendhaften derart bedeutsam für die Handlungen der anderen Bürger sein sollen, warum wird dann die Gemeinschaft nicht insgesamt tugendhaft? Trotzdem schreibt auch Keyt dem tugendhaften Ariston keinen absoluten Kadavergehorsam gegenüber den Gesetzen zu, denn er gibt zwei Ausnahmen zu: erstens das berühmte Tyrannenbeispiel aus EN III, 1, 143 das er allerdings als Ausnahmesituation betrachtet; zweitens Vgl. Pol. IV, 12: 1296b17–24. Rosler 2005, 252 143 Kraut beschreibt die Tyrannensituation etwas missverständlich als freiwillig. Vgl. Kraut 2002, 345. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine Mischform freiwilligunfreiwillig, die Aristoteles nur als freiwillig in einem gewissen Sinne anerkennt (besser Miller 2007b, 93). 141 142

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die Erziehung der Kinder, die Ariston nicht gemäß der athenischen Verfassung vornehmen solle und die er als die wichtige Ausnahme im sonstigen äußerlich verfassungs- und gesetzestreuen Verhalten des guten Mannes wertet. 144 Gerade dieser Hinweis auf die wichtige Rolle der Erziehung im Haushalt für die Ausbildung der Tugendhaftigkeit und Gerechtigkeit ist sehr wertvoll, da der Haushalt bei Aristoteles durchaus ein Gegengewicht (im Guten wie im Bösen) zum Einfluss der politischen Regelungen bieten kann. Keyt hat jedoch eine wichtige Stelle in der Nikomachischen Ethik unerwähnt gelassen, welche meine These gegenüber Irwin stützt, dass Aristoteles die Tugendhaftigkeit einzelner Menschen nicht zwangsläufig an die Tugendhaftigkeit der Polis koppelt, nämlich EN X, 10: 1180a29– 32. Dort meint Aristoteles nämlich, dass es am Einzelnen liege, seinen Freunden und Kindern zur Tugend zu verhelfen, falls die Gemeinschaft versage. Ausgehend von diesen Überlegungen möchte ich die Frage klären, unter welchen Umständen Aristoteles denn nun einen passiven oder aktiven Widerstand gegen Verfassung, Gesetze und Sitten erlaubt und wie weit der Tugendhafte dabei gehen darf. Grundsätzlich würde ich dabei drei Problemfelder differenzieren: Erstens, ob ein friedliches Abweichen des guten Menschen gegenüber den Sitten und dem gesetzlich nicht geregelten Geist der Verfassung statthaft ist; zweitens, wann sich der Gerechte über die Gesetze hinwegsetzen darf; drittens, ob und wann die Tugendhaften sich gegen die Verfassung verschwören dürfen. Zunächst zur ersten Frage: Meines Erachtens ist der Tugendhafte für Aristoteles moralisch sogar dazu verpflichtet, sich nicht dem Druck der allgemein geltenden Sitten bzw. dem Geist der Verfassung zu beugen, falls diese grob ungerecht sein sollten. Schließlich muss ein Gerechter auch gerechte Taten setzen und nicht in der bloßen Innerlichkeit einer anderen Gesinnung verharren. Wenn wir nun zweitens der Frage nach dem Ungehorsam gegenüber den Gesetzen nachgehen, müssen wir in einem gewissen Um-

Anders als Rostock vermutet, hat also Aristoteles doch ein Gespür für die repressiven Seiten der Polis gehabt und keinen rein affirmativen Herrschaftsbegriff (vgl. Rostock 1975, 268 f.). 144 Nicht völlig klar wird allerdings, ob Keyt die Erziehung als einzigen abweichenden Bereich betrachtet.

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fang die Stabilitätsthese berücksichtigen. Hier gilt es für den Tugendhaften nämlich abzuwägen, ob ein etwaiger Gesetzesverstoß tatsächlich nicht schlimmere Konsequenzen nach sich zieht als das Hinnehmen einer geringfügigen Ungerechtigkeit. Analog zu den aristotelischen Überlegungen in Pol. II, 8: 1269a14–22 beschränke ich mich hier allerdings nur auf geringfügige Ungerechtigkeiten. Nur hier sollte der Gerechte sozusagen stillhalten, denn anders sieht es meines Erachtens bei schwerwiegenden Verstößen gegen das eigentlich Gerechte aus. 145 Für Aristoteles wohl zu moralistisch hingegen ist das Verständnis von Rosler, der meint erkennen zu können: »It is only when the political community fulfills its moral tasks that it has a right to demand allegiance from its members and that its members and subjects are morally required to abide by its decisions.« 146 Wenn dies tatsächlich zuträfe, wären die Poleis rasch unregierbar. Ähnlich wohlüberlegt muss das Urteil im dritten, letzten und für den Tugendhaften sicherlich am schwierigsten zu entscheidenden Fall sein, nämlich einer Verschwörung gegen die Verfassung. Obwohl die Sympathien des Aristoteles sicherlich bei Reformen und nicht bei gewaltsamen Umstürzen liegen, versperrt er den Tugendhaften nicht völlig diesen Weg. So spricht er ihnen an einer Stelle das größte Recht auf einen Aufstand zu. 147 Hier gilt allerdings ebenfalls, dass dieser Schritt sehr wohl überlegt sein und ein schwerwiegender Verstoß gegen das eigentliche Gerechte vorliegen muss. Insofern kann es wohl »conflicts between legal and moral obligation« geben, und Aristoteles betrachtet das Problem der Grenzen der Gehorsamspflicht des Bür-

145 Anders als Kraut 2002, 381 glaube ich, dass hier die einzelnen Normen betrachtet werden müssen und nicht nur das Gesamtmaß an Gerechtem in einer Verfassung. Kraut diskutiert ein ähnliches Problem meines Erachtens allzu sehr unter dem Gesichtspunkt, wie gerecht oder ungerecht bestimmte Ausformungen von Verfassungstypen sind. Daher betrachtet er es auch für gute Menschen als Pflicht, moderat schlechten Demokratien oder Oligarchien zu gehorchen. Jedoch meine ich, dass hier stets die einzelnen Anordnungen geprüft werden müssen, da sie auch Anzeichen einer Verschlechterung der Gesamtlage sein können. Auch moderat schlechte Verfassungen können moralisch völlig unerlaubte Dinge fordern. Umgekehrt scheint Kraut anzunehmen, dass in den ungerechten extremen Verfassungstypen kein Gehorsam geschuldet sei, was ich wiederum nur in Bezug auf unmoralische Befehle unterschreiben würde – das Gerechte ist für Aristoteles auch in diesen Verfassungstypen nicht völlig absent. 146 Rosler 2005, 170 f. 147 Vgl. Pol. V, 1: 1301a39 f.

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gers gegenüber Gesetzen – im Gegensatz zur Deutung von Roberts 148 – nicht als »a question of no interest at all«. Nachdem wir bisher einen Schwerpunkt auf den guten Menschen gelegt und sein Verhalten in guten sowie in schlechten Rechtsordnungen betrachtet haben, lohnt sich aufgrund einer Bemerkung von Kraut auch die Frage nach den guten Bürgern einer schlechten Verfassung: Kraut hinterfragt, ob ein guter Bürger einer verfehlten Verfassung ein schlechter Mensch sein müsse. Dabei beruft er sich auf Pol. III, 4: 1276b21–29: 149 Schließlich soll ein guter Bürger die Verfassung bewahren wollen, und dies liefe bei verfehlten Verfassungstypen auf ihre Mäßigung hinaus. Dies scheint mir teilweise richtig zu sein, andererseits muss diese These modifiziert bzw. differenziert werden. Tatsächlich können wir mit Kraut festhalten, dass nicht notwendigerweise jeder Anhänger einer Demokratie oder Oligarchie gleich als Extremist und damit als schlechter Mensch angesehen werden muss. Hingegen gilt auch hier, dass die Reformbereitschaft nicht zu einer echten Tugend führen kann. So bleibt der Status des im eigentlichen Sinne guten Menschen auch für gemäßigte Demokraten oder gemäßigte Oligarchen unerreichbar. Wenn solche Demokraten oder Oligarchen eine maßvollere Politik gegenüber der Gegenpartei betreiben als es ihnen die »reine Lehre« prinzipiell nahelegt, handeln sie – zumindest in der Interpretation von Kraut und Roberts – nicht wirklich aus moralischen Gründen, sondern aus Machterhaltungstrieb.150 Schließlich agieren sie nicht aus der Erkenntnis des eigentlich Gerechten heraus (und nur dies würde sie ja zu guten Menschen machen), sondern weil sie ihre Verfassung stabilisieren und retten wollen. Insofern tun sie dies aus gerissenem machtpragmatischem Kalkül und nicht aus einer echten Gerechtigkeitshaltung heraus. Wohl gibt es in den weniger schlechten Verfassungssubtypen vielleicht weniger Repressalien gegenüber den Reichen (in der guten Demokratie) oder den Armen (in der guten Oligarchie), aber dies bedeutet noch nicht eine echte Gemeinwohlorientierung. Was das eigentlich Gerechte ausmacht, kann ein tatsächlich de148 Roberts 2009, 556 (ähnlich 564); auch Mulgan 1977, 57 vertritt eine ähnliche Lesart. Von Leyden 1967, 13 hingegen gesteht Aristoteles einen solchen Konflikt zu. 149 Vgl. Kraut 2002, 369 f. Roberts möchte ebenfalls dafür argumentieren, dass ein guter Bürger einer schlechten Verfassung nicht unbedingt ein schlechter Mensch sein müsse. Vgl. Roberts 2009, 561 f. 150 Roberts spricht dies explizit aus. Vgl. Roberts 2009, 562 f.

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mokratisch oder oligarchisch gesinnter Bürger nicht erkennen und danach handeln, da er seinen eigenen parteiischen Gerechtigkeitsstandpunkt nicht transzendieren und zum an sich gerechten Standpunkt vorstoßen kann. Den Hinweis von Roberts 151 auf 1310a11–28 betrachte ich nicht als Gegenargument, da an dieser Stelle Aristoteles von seinem eigenen (gewissermaßen absoluten) Standpunkt aus argumentiert und dies nicht die Binneneinsicht eines überzeugten Demokraten oder Oligarchen ist. Auch Nichols vertritt sichtlich einen ähnlichen Standpunkt wie Roberts: »To be friendly toward the established regime and possess the virtue and justice relative to it, then, is to transcend its particular vices and horizons for the sake of its own preservation and improvement.« 152 Besonders in den Schlusspassagen ihres Aufsatzes wird deutlich, dass Roberts dem Anhänger einer verfehlten Verfassung allzu sehr den – dem parteiischen Blickwinkel transzendenten – Standpunkt des eigentlich Gerechten zumutet: Being a good citizen is aiming at the preservation of the constitution, which is presumably worth doing because it serves the common good. The common good being served may well not be the ideal good; being a good citizen may not amount to making a successful contribution to the complete virtue and happiness of all the citizens of a city. It will though be a contribution to whatever happiness is available in the circumstances. This is exactly what the good man aims at as well. 153

Indem angeblich sowohl der gute Mensch und der gute Bürger beide dasselbe Ziel eines Erreichens einer maximalen Glückseligkeit unter den gegebenen Umständen verfolgen sollen, werden jedoch der gute Mensch und der gute Bürger jeder Verfassung allzu stark einander angenähert, was der aristotelischen Lehre ausdrücklich widerspricht. Letztlich unterscheiden sich der gute Mensch und der gute Bürger in einer solchen Interpretation vor allem nur noch dadurch, dass der gute Mensch in guten Verfassungen leben soll und dort seine höheren Ziele verfolgen kann, während in schlechten Verfassungstypen der tatsächlich gute Mensch und der »bloß« gute Bürger relativ ununterVgl. Roberts 2009, 562. Nichols 1992, 104. Gegen Nichols und Interpreten mit ähnlichen Ansätzen lässt sich einwenden, dass Aristoteles eindeutig davon ausgeht, dass Bürger mit vom eigentlich Gerechten und Gleichen abweichenden Auffassungen in Fragen nach dem Gerechten und Gleichen schlecht, nämlich höchst parteiisch urteilen (vgl. Pol. III, 9: 1280a7–16). 153 Roberts 2009, 564. Einen ähnlichen Standpunkt wie Roberts vertritt auch Irwin 1990, 458. 151 152

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scheidbar sein müssten, da sie beide das Beste aus den Umständen machen. Meine Einwände dagegen habe ich bereits in der Auseinandersetzung mit Keyts Thesen vorgebracht. Überdies dürfen meines Erachtens die wahrhafte Mitte des Tugendhaften und die Mäßigkeit nicht miteinander verwechselt werden, was übrigens später auch in der Behandlung der mittleren Verfassungsform der Politie relevant sein wird. Ebenso spricht gegen eine allzu starke Annäherung von guten Bürgern und – in diesem Fall bloß relativ – guten Menschen, dass ansonsten die meisten demokratischen oder oligarchischen Poleis letztlich als Politien (also als Mischformen zwischen Demokratien und Oligarchien) anzusprechen sein müssten. Schließlich müssten in einer starken Lesart der Güte des Bürgers eigentlich die meisten nicht extremistischen Demokraten oder Oligarchen im Interesse ihrer eigenen Regierungsform erkennen, dass vor allem eine mäßige und gemischte Regierung zur Stabilität beiträgt, was sie in die Nähe der Politie bringen würde. Und wenn die Mehrheit der guten Bürger dies erkennen würde (was sie müsste, damit diese Verfassungsform stabil bliebe 154), würde die Mehrheit der guten Bürger in Demokratien und Oligarchien letztlich aus gemäßigten Politieanhängern bestehen. Daraus wiederum würde folgen, dass die Politie eine häufige Verfassung sein müsste. Nun sind allerdings laut Aristoteles die Verfassungstypen der Demokratie und Oligarchie schon seit einiger Zeit die dominierenden Verfassungen 155 und Politien haben sich kaum gefunden 156. Aber auch zwischen aus Machtkalkül gemäßigten Demokraten und Oligarchen einerseits und wahrhaften Politieanhängern andererseits muss Aristoteles unterscheiden können, denn im ersten Fall handelt es sich nicht um eine echte Gemeinwohlorientierung, im zweiten Fall schon. Besonders wichtig ist für mich also, dass eine solche Lesart dem guten Bürger verfehlter Verfassungen allzu sehr das Transzendieren des eigenen Standpunkts zumutet sowie die Gemeinwohlorientierung einer Politie sich normativ von der bloß stabilitätsorientierten Mäßigkeit solcher Verfassungen unterscheiden lassen sollte. Kraut bezweifelt übrigens in einer epistemologischen Argumentation, dass für Aristoteles schlechte Menschen als gute Bürger ir154 155 156

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Vgl. Pol. V, 9: 1309b16–18 und Pol. II, 9: 1270b21 f. Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–36 und Pol. V, 1: 1301b39–1302a4. Vgl. Pol. IV, 7: 1293a39–b1.

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gendeiner Verfassung gelten können. 157 Dabei beruft er sich auf Pol. III, 4: 1277b25–29, da dort dem Regierten die richtige Meinung im Gegensatz zum nous der Regierenden zugeschrieben werde. Allerdings legt der Zusammenhang nahe, dass ein Untertan die richtige Meinung haben soll, und nicht, dass er sie stets hat. Ansonsten müsste Aristoteles an dieser Stelle auch die seltsame These vertreten, dass alle Regierenden über den wahren nous verfügen. Ähnlich lässt sich dem zweiten Einwand von Kraut gegen eine solche Lesart begegnen: In Pol. III, 5: 1278a8–11 geht es Aristoteles nur darum, auszuschließen, dass die Banausen gute Bürger der besten Polis (beltistê polis) sein können, nicht aber, dass sie in überhaupt keiner Verfassung gute Bürger sein können (so jedoch Kraut). Insofern kann ich auch seiner Schlussfolgerung nicht beitreten, dass ein guter Bürger einer schlechten Verfassung notwendig moderat sein müsse. Natürlich kann es auch moderate gute Bürger geben, aber diese werden sich auch wiederum vor allem in moderaten Verfassungen finden. Wenn eine Verfassung tatsächlich schlecht ist, wird ein eigentlich gemäßigter Mensch oder gar ein tugendhafter Mensch wohl kaum die Ungerechtigkeiten ertragen: Man denke nur an tugendhafte Menschen, die in einer von einem Tyrannen geknechteten Polis leben. 158 In Übereinstimmung mit den bereits erreichten Ergebnissen zum Thema Moralität und Legalität hat sich also in der Diskussion um das Verhältnis von gutem Menschen und gutem Bürger noch einmal nachdrücklich gezeigt, dass der Gerechte nicht einfach die Normen der bestehenden Rechtsordnung (sei es aus Traditions- oder sei es aus Stabilitätserwägungen heraus) stets unangetastet lassen will bzw. gar Vgl. Kraut 2002, 369 f. Schütrumpf scheint einer ähnlichen Sichtweise anzuhängen, wenn er nach Angabe einiger Stellen schreibt: »M. E. darf man daraus schließen, dass er auch unter einer Tyrannis an seinen ethischen Grundsätzen festzuhalten forderte« (Schütrumpf 2005, 564 Anm. 47,21). Eigentümlich indifferent dagegen das laut Kraut 2002, 373 von Aristoteles empfohlene Verhalten von Bürgern in Demokratien oder Oligarchien: Hier sollte sich zum Beispiel kein Bürger an einem anti-oligarchischen Aufstand der Demokraten beteiligen, denn wozu sollte man einen verfehlten Verfassungstypus durch einen anderen ersetzen? Dagegen könnte man einwenden, dass Aristoteles nicht derart scharfe Schnitte wie Platon ansetzt und wesentlich differenzierter sehr wohl für eine Ablösung einer Oligarchie zugunsten einer Demokratie plädieren könnte, da diese normativ der Oligarchie vorzuziehen ist (v. a. wenn es sich zum Beispiel um eine Ablösung einer radikalen Oligarchie zugunsten einer gemäßigten Demokratie handelte). Eine Ausnahme macht Kraut 2002, 374 für die Tyrannis. 157 158

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übernehmen kann. Stattdessen ist er dazu aufgerufen, das Ausmaß des Gerechten in der bestehenden Rechtsordnung kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls auf ihre Veränderung hinzuwirken. Bekanntlich finden wir bei Aristoteles eine grundlegende Dreiteilung der Verfassungstypen in königlich, politisch und despotisch. Miller meint, dass eine normative Hierarchisierung der verschiedenen Verfassungen danach vorgenommen werden könnte, je nachdem ob sie die »natural justice« erfüllen oder nicht. 159 Yack hingegen formuliert in Abhebung von solchen Naturformeln, dass die normative Güte eines bestimmten Verfassungstypus am Ausmaß seiner »general justice« abzulesen sei. 160 Selbstverständlich folgt daraus nun die nächste inhaltliche Herausforderung: Was versteht denn Aristoteles überhaupt inhaltlich unter dem Gerechten an sich? Worin besteht denn für ihn eine gerechte Gemeinschaftsordnung?

2.2. Die normative Bewertung der politischen Ordnung vor dem Hintergrund des Gerechten an sich, oder: Wie buchstabiert Aristoteles das Gemeinwohl aus? 2.2.1 Das Gerechte als normative Begründung für die Rechtsordnung Wenn wir uns diese Fragen stellen, dann erwachsen daraus einige Kriterien für die nachfolgende Analyse der verschiedenen Verfassungstypen. Ähnlich wie beim Begriff des Rechts muss hier darauf geachtet werden, dass das Gerechte bei Aristoteles normativ nicht zu stark gelesen werden darf. So kennt er zwar ein Gerechtes schlechthin, aber auch Verfassungstypen wie die Demokratie oder die Oligarchie verfügen immerhin über etwas Gerechtes und sind also nicht schlechthin ungerecht zu nennen. Wenn es im ersten Schritt darum geht, das für Aristoteles schlechthin Gerechte zu erforschen, legen sich folgende drei normative Kriterien für die Verfassungsanalyse nahe: 1) »rule of law«, 2) Herrschaft des Gemeinwohls, 3) nicht-despotisch geregelte Partizipation an der Verfassung. Dabei nimmt das bereits wohlbekannte Kriterium der »rule of 159 160

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Vgl. Miller 2007b, 98. Vgl. Yack 1993, 159.

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law« eine eigentümliche Stellung ein: Einerseits bildet die »rule of law« die Trennlinie zwischen den normativ unerwünschtesten Subtypen der despotischen Verfassungstypen und dem Rest und entscheidet so für die Betroffenen tatsächlich in ganz entscheidender Weise über Wohl und Wehe, denn in einer psêphismata-Demokratie, einer dynasteia-Oligarchie oder einer epitagmata-Tyrannis lebt es sich höchst unkomfortabel für die Regierten. Hier bewahrheitet sich nämlich die Warnung von Pol. I, 2 auf schreckliche Weise, dass der Mensch getrennt von Gesetz und Recht das schlechteste aller Lebewesen wird. Tatsächlich wird ein solcher Mensch – wie Aristoteles warnt – seine Klugheit und Tüchtigkeit in verkehrtem Sinne gebrauchen und so höchst ungerecht sein. Entsprechend ist eine politische Gemeinschaft dringend darauf angewiesen, dass sie tatsächlich einer Herrschaft des Rechts und nicht einer Tyrannis derartiger Menschen unterliegt. Andererseits haben wir aber bereits in Pol. III, 10: 1281a34–39 vernommen, dass auch eine »rule of law« vor normativen Ungerechtigkeiten nicht völlig schützt: Tatsächlich können wir uns ohne Probleme eine ungerechte »rule of law« vorstellen, denn – modern formuliert – garantiert ein formeller Rechtsstaat ja noch lange keinen substantiellen Rechtsstaat. Ebenso sieht dies Aristoteles, denn eine demokratische oder oligarchische »rule of law« kann gemäß dieser Stelle auch ohne weiteres schlimme Ungerechtigkeiten verüben. Entsprechend antwortet das ebenfalls schon bekannte Ende von Pol. III, 11, dass zwar die »rule of law« gegenüber der »rule of man« vorzuziehen sei, aber die richtigen Gesetze an der richtigen Verfassung hängen. Daher verweist das erste Kriterium der »rule of law« bereits über sich hinaus und fordert eine inhaltliche Füllung: Woran erkenne ich denn gerechte Gesetze? Hier hilft der Hinweis von Aristoteles, dass die Richtigkeit der Gesetze an der Richtigkeit der Verfassung hänge, in entscheidender Weise weiter. Wenn wir nämlich die ausführliche Definition der Verfassung in Pol. IV, 1: 1289a15–18 näher studieren, erwachsen daraus zwanglos die beiden entscheidenden Kriterien für eine gerechte Verfassungsordnung. Schließlich lassen sich an dieser Definition mit Rostock zwei Seiten unterscheiden, nämlich eine organisatorische und eine normative. 161 So ist nämlich die Verfassung sowohl diejenige Ordnung, welche die Ämterverteilung regelt und 161 Vgl. Rostock 1975, 83 f.: Die Staatsformenlehre hat zwei Aspekte: 1) den normativen (Welchem Ziel dient die Herrschaft und wird sie in gutem Sinne ausgeübt?),

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bestimmt, wer das kyrion ist, als auch bestimmt sie das Ziel der Gemeinschaft. Deswegen müssen wir für die inhaltliche Antwort auf die Frage nach einer gerechten Gemeinschaftsordnung sowohl die normative Frage nach dem Ziel der Gemeinschaft richtig beantworten als auch den Zugang zur Vollbürgerschaft und zu den Ämtern in rechter Weise regeln. Daher teilt Aristoteles im berühmten Kapitel Pol. III, 6 die Verfassungen in normativer Hinsicht danach ein, ob sie in richtiger Weise das Gemeinwohl anstreben oder ob sie in verfehlter Weise nur den eigenen Nutzen suchen. Aufgrund der bereits erzielten Resultate dieser Arbeit wissen wir, dass Aristoteles unter diesem gesuchten Gemeinwohl das gute Leben versteht. Entsprechend verlangt Aristoteles von einer gerechten Verfassung, dass sie das gute Leben auch für die Regierten sucht. Andernfalls müssen wir sie als despotische Verfassungen (d2) normativ für minderwertig erachten. Schließlich übertragen sie eine Verhaltensweise aus der d1-Beziehung zwischen Herr und Knecht, wo sie gemäß Aristoteles einen guten Sinn hat: Wenn in der despotischen Herrschaft des Herrn über den Knecht (d1) hauptsächlich der Nutzen des (herrschenden) Herrn gesucht wird, dann erachtet dies Aristoteles bekanntlich aufgrund der angeblich himmelweiten Verschiedenheit zwischen dem überlegten 162 Herrn und dem weitgehend vernunftlosen Knecht 163 als gerecht. Bereits im Verhältnis zu den ebenfalls freien Frauen und Kindern sollte jedoch für Aristoteles auf den Nutzen der Regierten geachtet werden – erst recht gilt dies für die freien Männer in der Bürgerschaft. Wenn also despotische Herrscher (d2) den Nutzen ihrer Untertanen nicht fördern und nur auf ihr eigenes Wohl achten, dann missachten sie die gerechtfertigten Ansprüche der freien Bürger auf deren Nutzen und verwenden sie in quasi-despotischer Weise (d2) als bloße Mittel zu ihrem eigenen Nut-

2) den organisatorischen (Wer ist das Herrschaftssubjekt?). Mulgan 1977, 56 unterscheidet ähnlich eine ethische Seite von institutionalistischen Aspekten. 162 Entscheidend für die Legitimität der Herrschaft des freien Mannes sowohl über die ebenfalls freien Frauen und Kinder als auch über den unfreien Knecht ist seine richtige Entfaltung des bouleutikon: Weber 2015, 43 bezeichnet dies als objektiv-natürliche Norm für die Herrschaft von Menschen über Menschen. 163 Tatsächlich verfügen gemäß Aristoteles die Knechte nicht über einen selbstständigen logos, sondern sie haben den logos gewissermaßen passiv nur soweit, dass sie belehrt und ermahnt werden können (vgl. Pol. I, 5: 1254b20–24).

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zen. Gerade dies ist für Aristoteles freilich nur im häuslichen Bereich von Herrschaft und Knechtschaft angebracht, denn ein Freier lebt für sich und nicht für jemanden anderen und ist daher Zweck an sich und nicht Mittel für andere. 164 Demgegenüber ist der Knecht für den Bereich der Praxis als Pendant zum Werkzeug im Bereich der Technik aufzufassen, womit er also als beseeltes Werkzeug gilt. 165 Jedoch nehmen despotische Herrscher eine solche Instrumentalisierung im Bereich der Praxis auch bei ihren eigentlich mündigen und selbst Zwecke setzenden Untertanen vor, indem sie diese als Mittel zur Erlangung der eigenen Glückseligkeit missbrauchen. Entsprechend sind despotische Herrscher ungerecht zu nennen, da sie das Gut des anderen nicht befördern. Umgekehrt sind die richtigen Verfassungen deswegen gerecht zu nennen, da sie das Gut des anderen (gemeint: der gerade nicht Herrschenden) fördern und somit gemeinwohlorientiert sind. Allerdings zeigt ein Vergleich mehrerer Fassungen des politisch Gerechten, dass sich hinter dieser scheinbar glatten Einschätzung eine innere Spannung verbirgt. So charakterisiert eine Stelle in der Nikomachischen Ethik das politisch Gerechte folgendermaßen: »Dieses findet sich dort, wo Menschen zur Erreichung von Autarkie ihr Leben gemeinsam leben, und zwar Menschen, die frei sind und gleich entweder im proportionalen oder im arithmetischen Sinn.« 166 Einerseits kann diese Stelle als Ausgangspunkt für das nächste Kriterium dienen, andererseits – und dies ist das jetzige Anliegen – definiert sie das politische Gerechte relativ weit. Schließlich findet es sich überall dort, wo freie und zumindest proportional gleiche Menschen gemeinsam das autarke Leben anstreben. Entsprechend sind in dieser weiten Definition auch die despotischen Verfassungsformen mit inbegriffen und sind sie zumindest teilweise als politisch gerecht zu bezeichnen. Tatsächlich arbeitet Aristoteles grundsätzlich meist mit diesem weiteren Begriff des politisch Gerechten, da er ausdrücklich auch verfehlten Verfassungstypen Gerechtes zuschreibt. Jedoch finden sich im Corpus Aristotelicum auch engere Formulierungen, die in verkürzender Sprechweise zwar vom Gerechten reden,

164 165 166

Vgl. Met. I, 2: 982b25 f. Vgl. Pol. I, 3: 1254a1–17 sowie Pol. I, 4: 1253b27–33 und EN VIII, 13: 1161b3–5. EN V, 10: 1134a26–28 (in der Übersetzung von Wolf).

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aber nur das schlechthin Gerechte meinen. 167 Wenn ein solcher Maßstab angelegt wird, kann Aristoteles die verfehlten Verfassungen auch als ungerecht bezeichnen. 168 Etwas präziser in der Formulierung ist daher die Passage von Pol. III, 6 selbst, da er dort die auf das Gemeinwohl achtenden Verfassungen als »gemäß dem schlechthin Gerechten« richtig bezeichnet. 169 Lediglich solche Verfassungen dürfen wir als richtig bezeichnen, da nur sie den eigentlichen Zweck der politischen Gemeinschaft, nämlich das gute Leben für die gesamte Gemeinschaft, im Blick behalten: Während Pol. III, 6: 1279a28–30 bloß das Gemeinwohl als richtig bezeichnet, aber wir uns darunter inhaltlich nicht besonders viel vorstellen können, präzisiert Pol. III, 13: 1283b36–42, dass die richtigsten Gesetze das gleichmäßig Richtige hervorbringen sollen und dieses gleichmäßig Richtige der Nutzen der gesamten Polis und der Gemeinschaft der Bürger sei. 170 Nun stellt sich dabei allerdings das Problem, dass der richtig aufgefasste Nutzen selbstverständlich nur von Verfassungen mit dem richtigen Ziel der Tugend erreicht werden kann. Entsprechend müssen wir bei Aristoteles einen strengeren Maßstab der Richtigkeit von einem weniger anspruchsvollen unterscheiden, was freilich nicht ganz spannungsfrei abläuft: Bekanntlich rechnet Aristoteles in Pol. III, 6 auch die Politie zu den richtigen Verfassungen, obwohl sie nur zur kriegerischen Tugend fähig ist. 171 Später werden wir sehen, dass sie lediglich Reichtum und Freiheit als Kriterien kennt, nicht jedoch die eigentliche Tugend. Daher fällt sie in einer strengeren Lesart, wie sie Aristoteles selbst auch vornimmt, eigentlich aus dem Kreis der schlechthin gerechten Verfassungen heraus. 172 Auf den ersten Blick scheint die Frage nach dem Zugang zur Vollbürgerschaft bzw. zu den Ämtern wesentlich einfacher interpretatorisch zu bewältigen. Da zwar alle Freien im Ziel des guten Lebens

So spricht etwa Rhet. I, 6: 1362b27 f. davon, dass das Gerechte das Nützliche für die Gemeinschaft sei. Zentraler ist natürlich die Aussage in Pol. III, 12: 1282b16–18, dass das politisch Gute das Gerechte sei und dies das Gemeinwohl meine. 168 Wie dies etwa Pol. III, 11: 1282b13 geschieht. 169 Vgl. Pol. III, 6: 1279a17–19. 170 Nur sie verwirklichen ja das oberste Ziel des guten Lebens, das der wichtigste Grund für das Zusammenschließen zu einer politischen Gemeinschaft gewesen ist (vgl. Pol. III, 6: 1278b21–24). 171 Vgl. Pol. III, 6: 1279a37–b4. 172 Vgl. dafür Pol. IV, 8: 1293b22–27. 167

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übereinstimmen, aber der Weg dorthin reichlich umstritten ist, 173 dreht sich ein großer Teil der Diskussionen der beteiligten Gruppen – und daher auch der aristotelischen Politik – um die Frage, wer denn überhaupt an der Vollbürgerschaft und der Verfassung teilhat und somit mitüberlegen und mitentscheiden darf. Wem kommt also das bouleuesthai über die Mittel zum Ziel des guten Lebens zu? 174 Wenn wir von einer Polis ausgehen, in der für Aristoteles niemand zu Unrecht Bürger ist, dann müssen alle Bürger am Nutzen teilhaben 175. Da alle freien Bürger das bouleutikon besitzen und sich also Gedanken zu den Mitteln für den Weg zum guten Leben machen können, deswegen sind alle Bürger qua ihres Status als freie Männer auf jeden Fall berechtigt, an beratenden und richtenden Ämtern mitzuwirken und insofern an der Verfassung teilzuhaben. 176 Kann also für Aristoteles jeder [Bürger] im Prinzip Politik betreiben, wie Ottmann meint? 177 In gewisser Weise schon, allerdings geht Aristoteles bekanntlich nicht von einer gleichen Würde der Menschen aus und teilt auch nicht den demokratischen Grundgedanken, dass alle Bürger gleich befähigt zur Politik sind. Weil er nicht alle Bürger für gleich klug und tugendhaft und somit im vollen Sinne politikfähig hält, misst Aristoteles daher den verschiedenen Gruppie-

Nicht allein strebt alles nach dem Guten (vgl. EN I, 1: 1094a1–3 bzw. Pol. I, 1: 1252a1–7), und stimmen die meisten Menschen in seiner Benennung als eudaimonia überein (vgl. EN I, 4: 1095a18–20; inhaltlich verstehen die verschiedenen Gruppierungen sie allerdings wesentlich anders: EN I, 4: 1095a20–22) sondern den Freien zeichnet gegenüber dem Knecht gerade aus, dass er eben auch tatsächlich an einem glückseligen Leben teilhaben kann (vgl. Pol. III, 9: 1280a32 f.). Noch einmal möchte ich hervorheben, dass alle Gesetzgeber die Bürger durch Gewöhnung tugendhaft machen wollen und somit alle im Ziel übereinstimmen, aber in der Ausführung unterscheiden sich die richtigen von den verfehlten Verfassungen (vgl. EN II, 1: 1103b3–6). 174 Vgl. die Erörterungen von Rhet. I, 6: 1362a17–21, zu denen Weber 2015, 180 bemerkt, dass sich die materielle Bestimmung des Nutzens und Wohlergehens aus der Theorie des guten Lebens herleite. 175 Vgl. Pol. III, 7: 1279a31 f. 176 Bekanntlich lautet in Pol. III, 1: 1275b18 f. die Formel für den Bürger: Hô gar exousia koinônein archês bouleutikês kai kritikês. Im interpretatorisch nicht ganz einfach zu entschlüsselnden Pol. III, 11 finden sich das bouleuesthai und das krinein als Kompetenzen auch des dêmos. Raaflaub 1985, 4 und 114 informiert darüber, dass Freiheit für einen alten Griechen nicht nur ein Gegensatz zur Unfreiheit war, sondern auch das Innehaben von Macht und Herrschaft forderte, denn völlig frei fühlte sich nur, wer auch an der Herrschaft beteiligt war. 177 Vgl. Ottmann 2005, 13–15. 173

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rungen abgestufte Kompetenzen je nach Ausmaß ihrer Politikfähigkeit zu. 178 Je nachdem wie gerecht die einzelnen Verfassungstypen den Zugang zur Vollbürgerschaft und zu den einzelnen Ämtern gestalten, achten oder missachten sie den Status, der den verschiedenen Gruppierungen eigentlich zukommt. Unglücklicherweise sind die meisten Herrschaftsformen nur wenig darauf bedacht, das schlechthin Gerechte und Gleiche zu beachten. Aristoteles beklagt daher die entsprechenden Entwicklungen seiner Zeit bitterlich: Eigentlich handle es sich bei der Gleichheit um eine normative Problematik, welche die Poleis durch vernünftig-friedliche Überlegungen lösen sollten. Wie wir sehen werden, sind jedoch die meisten Regierungen einer despotischen Herrschaftsweise zuzurechnen und fragen viele Zeitgenossen nicht mehr nach einem Recht auf Gleichheit, sondern sie lösen die Frage nach Gleichheit und Ungleichheit rein machtpolitisch: […] jetzt ist es bei den [Bürgern] in den Poleis Sitte geworden, das Gleiche nicht einmal zu wollen, sondern entweder das Herrschen zu erstreben oder das Beherrschtwerden zu ertragen.« 179 Tatsächlich suchten nämlich das Gerechte und Gleiche immer nur die Schwächeren, die Stärkeren aber kümmerten sich nicht darum. 180 Somit sind laut Aristoteles viele der politischen Ordnungen seiner Zeit keineswegs gemeinwohlorientiert, sondern stellen im Gegenteil in höchst egoistischer Weise allein auf den eigenen Nutzen ab. Tatsächlich jedoch sollte das Problem von Gleichheit und Ähnlichkeit nicht machtpolitisch gelöst werden, sondern in einem engen Zusammenhang mit dem Gerechten stehen, und Verfassungen und Gesetze sollten in ihrer Funktion als Scheidung von gerecht und ungerecht nicht bloß als Machtinstrumente missverstanden werden. So sieht Aristoteles bekümmert, dass die Rechtsfrage der Gleichheit häufig eine unrecht-machtvolle Antwort erhält. Eigentlich sollten die verschiedenen Auffassungen über das Gerechte und Gleiche vernünftig diskutiert und argumentiert und eben nicht mit der Macht des Schwertes gewaltsam entschieden werden. Dagegen basieren viele Verfassungstypen für Aristoteles somit nicht auf Recht (hier ausnahmsweise tatsächlich als gerechtes Recht zu verstehen), sondern 178 Dies werden wir in der Analyse der verschiedenen Verfassungstypen erarbeiten, wobei für unsere Thematik besonders Pol. III, 11 ergiebig sein wird. 179 Pol. IV, 11: 1296a40–b2. 180 Vgl. Pol. VI, 3: 1318b1–5.

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allein auf Macht. 181 Beides lässt sich in der politischen Wirklichkeit beobachten, denn Ämter werden sowohl gemäß einer Gleichheit in bestimmten Hinsichten als auch aufgrund der Machtverhältnisse verteilt. 182 Somit stellen sich die nächsten wichtigen Aufgaben, einerseits den Maßstab der Gleichheit zu evaluieren und andererseits das Verhältnis zwischen normativer Güte und politischer Stabilität näher zu beleuchten.

2.2.2 Die Gleichheit als normative Begründung für die Machtordnung, oder: Die Fundierung des Gerechten im Austeilen in der Gleichheit 2.2.2.1 Gleichheit oder Ungleichheit der Poliseinwohner? Bevor wir die normativen Einschätzungen des Aristoteles zu verschiedenen Gleichheitskriterien erarbeiten, müssen wir zunächst natürlich wissen, ob Aristoteles die politische Gemeinschaft grundsätzlich für aus Gleichen oder Ähnlichen aufgebaut hält. Oder gibt es in seiner Polis bestimmte Bürger, die – frei nach Orwell – gleicher sind? Dabei treffen wir wieder auf die altbekannte Schwierigkeit, dass sich auf den ersten Blick Aristoteles mehrfach zu widersprechen scheint: So stellt er nämlich fest, dass zu seiner Zeit viele [Bürger] einander ähnlich seien und daher kaum noch Königtümer entstünden. 183 An einer weiteren Stelle aus dem V. Buch der Politik meint er gar, dass die demokratisch verstandene Gleichheit bei einander Ähnlichen sowohl gerecht als auch nützlich sei. 184 Allerdings wäre es voreilig, diese beiden Passagen zu kombinieren und Aristoteles deswegen zu einem demokratischen Denker zu erklären. Tatsächlich muss nämlich darauf geachtet werden, was er mit diesen Feststellungen bezweckt. So geht es in der letztgenannten Stelle darum, dass oligarchische Herrscher im Umgang miteinander von demokratischen Gepflogenheiten wie etwa einer kurzen Amtsdauer profitieren könnten. Dagegen spricht die erstgenannte Stelle

181 182 183 184

Vgl. Pol. III, 3: 1276a12–16. Vgl. Pol. IV, 3: 1290a7–11. Vgl. Pol. V, 10: 1313a6–8. Vgl. Pol. V, 8: 1308a11–13.

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keine normative Empfehlung aus, sondern beschreibt nüchtern die zunehmenden Vermassungstendenzen in der politischen Landschaft. 185 Damit geht nämlich bei Aristoteles nicht die demokratische Sichtweise einher, dass alle Bürger einander völlig gleich seien und dies auch gut sei. Stattdessen hält er die politische Gemeinschaft wesentlich für aus Verschiedenen aufgebaut und wird – wie wir sehen werden – die demokratische Gleichheit als politische Gleichheit aller als ungerechte Gleichbehandlung von Ungleichen verurteilen. Insofern erstaunt es dann nicht besonders, dass Aristoteles die Bevölkerung einer Stadt wesentlich aus Ungleichen und Unähnlichen zusammengesetzt sieht. Dabei ist – wie bereits in der Auseinandersetzung mit Platon erwähnt – eine Polis nicht bloß quantitativ aus vielen Menschen aufgebaut, sondern besteht auch qualitativ aus verschiedenen Arten von Menschen, denn »aus Ähnlichen entsteht keine Polis«. 186 Wie eine Symphonie nicht eine Homophonie werden dürfe oder ein Rhythmus nicht aus einem einzigen Takt bestehen könne, so müsse eine Polis notwendigerweise eine gewisse Vielheit kennen. 187 Ebenso wie ein Lebewesen aus Leib und Seele zusammengesetzt sei und die Seele aus Vernunft und Streben und ebenso wie ein Haushalt aus Mann und Frau sowie Herr und Knecht bestehe, so sei die Polis aus Ungleichen zusammengesetzt, und zwar kenne sie nicht nur diese Asymmetrien, sondern auch viele weitere innerhalb der Bürgerschaft. 188 Hier können viele Unterteilungen getroffen werden: Die wichtigsten sind für Aristoteles die soziologisch-ökonomische in Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht (oder eine Feinunterteilung in die verschiedenen Berufsstände), die juristische in Freie, Unfreie und

185 Bereits an dieser Stelle sei auf die Problematik der Verrechnung von Quantität und Qualität in einer Polis hingewiesen, die Aristoteles uns in Pol. IV, 12 vorstellt. 186 Vgl. Pol. II, 2: 1261a22–24. 187 Vgl. Pol. II, 5: 1263b29–35. 188 Vgl. Pol. III, 4: 1277a5–10. So muss man also auch immer auf den Kontext achten, wenn es darum geht, ob die Polis aus Gleichen/Ähnlichen besteht oder nicht. Schließlich heißt Polis nicht nur Stadt, sondern verengt sich in manchen Kontexten zur Bürgerschaft (als exklusiver Gemeinschaft der Bürger). Manchmal beschäftigt sich Aristoteles mit der Stadt als Gemeinschaft von Ungleichen und Unähnlichen, manchmal mit der Bürgerschaft. Verkompliziert wird die Lage – wie wir gleich sehen werden – dadurch, dass die Bürgerschaft sowohl als Gemeinschaft von Gleichen und Ähnlichen charakterisiert wird als auch ausdrücklich als Gemeinschaft von Ungleichen und Unähnlichen gilt. Inwiefern dies kein Widerspruch ist, dies begründe ich im Haupttext.

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Auswärtige, die machtpolitische in Herrscher und Untertanen, die axiologische in Tugendhafte und Nicht-Tugendhafte. 189 Allerdings könnte man gegen diese These von einer gewünschten Ungleichbehandlung der Bürger einwenden, dass doch die politische Ordnung (p1) als Herrschaft über Freie und Gleiche bzw. Ähnliche und Freie definiert werde. 190 Wie aber kann Aristoteles gleichzeitig die Gleichheit und Ungleichheit bzw. Ähnlichkeit und Unähnlichkeit der Bürger behaupten? Einerseits müssen wir den Gedanken der Gleichheit terminologisch präzisieren und andererseits auch die Gleichheit und Ungleichheit inhaltlich näher betrachten: Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass Aristoteles eine absolut-arithmetische Gleichheit der Zahl von einer proportional-geometrischen Gleichheit der Würdigkeit differenziert. Wenn man diesen wichtigen Unterschied vernachlässigt, missversteht man leicht wichtige Thesen des Aristoteles. So ist etwa die politische Herrschaft p1 (die politikê archê) als eine Regierung über Freie und Gleiche (eleutherôn kai isôn archê) keineswegs nur auf egalitäre Massenherrschaften, also die Demokratie, beschränkt. Selbstverständlich gehören auch alle anderen Verfassungstypen für Aristoteles zu den politischen Herrschaftsformen p1, da sie eben über freie Bürger herrschen, die in ihren Qualitäten vergleichbar sind. 191 Später werden wir sehen, dass nicht einmal die Gattung der politischen Verfassungstypen p2 von einer absoluten Gleichheit ihrer Bürger ausgeht: Schließlich zählt ja auch die Aristokratie zu den politischen Verfassungstypen p2 und errichtet dabei durchaus eine Hierarchie unter den Bürgern. Entsprechend umfasst also – wie Newman hervorhebt – in Pol. I, 7: 1255b20 das isôn in der eleutherôn kai isôn archê auch die proportional Gleichen. 192 Wenn Gleichheit für Aristoteles nur als absolut-arithmetische Gleichheit der Zahl existierte und nicht die abgestufte proportionale Gleichheit der Würdigkeit ebenfalls ihr Recht genösse, müsste Aris189 Ich beanspruche damit nicht eine vollständige Aufzählung geliefert zu haben: weder was die möglichen Einteilungen angeht, noch was die Elemente dieser verschiedenen Gattungen angeht. 190 Vgl. Pol. I, 7: 1255b20 und Pol. III, 4: 1277b7–9. 191 Lediglich der pambasileus wird – wie wir in Kapitel 3.1.1 sehen werden – als mit dem Rest der Bürgerschaft unvergleichlich und unvergleichbar angesehen. Daher setzt ihn Aristoteles konsequenterweise außerhalb der Bürgerschaft. 192 Vgl. Newman 2010b, 209 Anm. zu 1259b1. Grundsätzlich äußert sich zu diesem Themenkomplex Schütrumpf 1991b, 421 Anm. 54,36.

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toteles als Anhänger der demokratischen Gleichstellung aller freien Bürger in ihren politischen Ansprüchen gelten. Da wir heute Gleichheit als demokratischen Wert betrachten und die absolute politische Gleichheit aller Bürger (»one man, one vote«) unterstützen, irritiert dieses Ergebnis vielleicht auf den ersten Blick: Historisch lässt sich allerdings belegen, dass die isonomia nicht nur eine demokratische Gleichheitsordnung gewesen ist, sondern auch von den Oligarchen beansprucht werden konnte, 193 sodass »der darin enthaltene Gleichheitsanspruch nicht notwendig und nicht von vornherein derjenige demokratischer Gleichheit ist« 194. Vielmehr ist »Gleichheit ursprünglich ein aristokratisches Konzept gewesen und [blieb] dies immer« 195. Worin bestehen aber nun Gleichheit und Ungleichheit der Bürger inhaltlich? Bereits oben haben wir gesehen, dass das Thema der Gleichheit in der aristotelischen Politik besonders im Zusammenhang mit der Ämterverteilung diskutiert wird. Wenn wir uns nun ein wichtiges Ergebnis früherer Überlegungen in Erinnerung rufen wollen, ist die spezielle Art des Gerechten der Verteilung selbst fundierungsbedürftig. Somit kann die politische Philosophie nicht in ihr gipfeln, was sich nun in der genaueren Besprechung des Gerechten im Austeilen in seinem Zusammenhang mit der Gleichheit wieder bestätigt: Bekanntlich geht das Gerechte im Austeilen nach der geometrischen Proportionalität vonstatten, während das Gerechte im Ausgleichen mit der arithmetischen Proportion verknüpft ist. 196 So verfährt man in Streitfragen über ausgleichendes Gerechtes streng arithmetisch und achtet etwa in einem Diebstahlsprozess darauf, dass der durch die Tat entstandene Gewinn und Schaden exakt behoben werden. Insofern läuft es auf eine strenge Gleichheit hinaus. Anders verfährt man in Fragen nach dem Gerechten im Austeilen, denn hier achtet man auf die beteiligten Personen und bemisst ihren Anteil je Vgl. Raaflaub 1985, 116. Ebenda. 195 Vgl. Raaflaub 1985, 305. Dem steht natürlich nicht entgegen, dass mit der Zeit ein erweiterter demokratischer Gleichheitsbegriff entstand (ebenda). Von Leyden hingegen beschränkt den Gleichheitsbegriff nur auf politische Formen im Sinne von p3, wenn er schreibt, »that the possibility of comparing men and finding them alike or equal is confined to the middle class only, and does not arise in the context of the whole body politic« (Von Leyden 1985, 46). 196 Für die Verknüpfung der Gerechten im Austeilen mit der geometrischen Proportionalität siehe besonders EN V, 7: 1131b9–16 und für das Gerechte im Ausgleichen in seiner Verknüpfung mit der arithmetischen Proportion vgl. vor allem EN V, 7: 1131b32–1132a10. 193 194

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nach Würdigkeit. Daher erhalten hier gleiche Personen auch Gleiches, ungleiche Personen dagegen Ungleiches. 197 Wenn wir diese Formulierung des Gerechten im Austeilen heranziehen, klingt sie relativ formal: Das Gerechte im Austeilen besteht ja darin, verschiedenen Personen ihren Anteil je nach Würdigkeit zu geben. Dabei erhalten – wie gesagt – gleiche Personen Gleiches und ungleiche Personen Ungleiches. Insofern ist der so noch relativ formal gefasste Gedanke des Gerechten im Austeilen nicht auf einen bestimmten Inhalt festgelegt und kann so verschiedenen Auffassungen über das Gerechte dienen. Falls Aristoteles das Gerechte im Austeilen nicht werten würde, käme dies einer Rechtfertigung jeglicher Machtordnung gleich. Tatsächlich hat Kelsen dies dem Aristoteles vorgeworfen. Aber trifft dies wirklich zu? Zwar gesteht Hans Kelsen verschiedene Würdigkeitskriterien für die verschiedenen Verfassungen bei Aristoteles zu; jedoch behauptet er, dass Aristoteles sich philosophisch nicht für ein Hauptkriterium entscheiden könne und daher die Entscheidung, was der Grundsatz »Jedem das Seine« inhaltlich bedeute, dem positiven Recht überlasse. Schließlich nehme er eben die einsozialisierten Tugendvorstellungen und somit doch die positive Rechtsordnung als Maßstab. Er folgert daraus, dass Aristoteles damit letztlich jede inhaltliche Bestimmung als gerecht rechtfertige 198. Interessanterweise macht Kelsen dem Aristoteles also genau denselben Vorwurf, der manchmal an den Rechtspositivismus gerichtet wird, nämlich dass er jegliche Ordnung legitimiere. Dagegen wird meine Analyse nachweisen, dass Aristoteles sich sehr wohl um eine Wertung der verschiedenen Gedanken über das Gerechte bemüht. So ist er nicht als quietistischer Verfechter jedweden Status quo zu lesen, sondern durchaus für eine vernünftige Kritik 197 Wissenschaftstheoretisch darf die Rede der verschiedenen Proportionalitäten jedoch nicht dazu verleiten, dem Aristoteles eine völlige Mathematisierung der Rechtssphäre zu unterstellen, wie dies etwa Salomon tut, wenn er Gleichheit und »Gerechtigkeit« auf Mathematik gründet und damit das Recht als Wissenschaft »more mathematico« betrachtet (vgl. Salomon 1937, 26; ähnlich Von Leyden, der zu den naturrechtlichen Charakteristika zählt, »that they presuppose rules of impartiality and equity as infallible as mathematical norms« (Von Leyden 1985, 86)). Zwar trifft dies auf die Strafbemessung im Zusammenhang mit einem Ausgleich im Gerechten zu, und natürlich gibt es auch bei Fragen des Gerechten im Austeilen eindeutig mathematisch Messbares; dennoch stellt die Würdigkeit der Personen (etwa für Regierungsämter) eine bedenkbare Qualität und nicht eine berechenbare Quantität dar. 198 Vgl. Kelsen 1957, 127 f.

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ungerechter Regelungen zu gewinnen. Hauptsächlich lassen sich dabei zwei Argumentationsstränge herausstreichen: Einerseits interessiert sich Aristoteles für den Kreis der »Nutznießer des Gerechten« und verwahrt sich hier gegen ungerechte Einseitigkeiten. Tatsächlich ist es zu seiner Zeit heiß umstritten, ob der Gesetzgeber bei seiner Tätigkeit die Besten oder die Vielen im Auge haben soll. 199 Allerdings entpuppt sich diese Entgegensetzung als falsche gestellte Alternative. Schließlich würde dies in beiden Fällen auf eine ungerechte Parteienherrschaft hinauslaufen. Weder dürfen die Besten die Menge knechten, noch der Pöbel die Besten niederdrücken. Stattdessen sollen die guten Gesetze mit Blick auf die gesamte Gemeinschaft gemacht werden. Zwar legt Aristoteles an dieser Stelle natürlich einen besonderen Wert auf die Bürger, dennoch schränkt er das angestrebte Gerechte nicht auf sie ein. So spricht er ausdrücklich von einem Gerechten für die ganze Gemeinschaft, was auch Frauen und Knechte einschließt. Sogar die Knechte dürfen nicht völlig ungerecht behandelt werden, denn es gibt ein allgemeines Gerechtes jedem Menschen gegenüber. 200 Andererseits – und dieser Punkt ist natürlich besonders zentral – untersucht Aristoteles die wichtige Frage, wie wir die verschiedenen Interpretationen des Gerechten in der Verteilung korrekt begründen und kritisieren können. Vor allem leistet er dies durch eine Analyse der verschiedenen Gleichheits- und Ungleichheitsgedanken. Wenn Aristoteles aber tatsächlich eine philosophisch begründbare Auslese von irrelevanten Ungleichheiten (wie etwa Größe etc.) treffen sollte, beantwortet er damit die Frage nach dem richtigen Maßstab der Gleichheit und Ungleichheit auch inhaltlich und widerlegt damit den Vorwurf von Kelsen, dass Aristoteles mit einem leeren, tautologischen Gerechtigkeitsgedanken letztlich alles rechtfertige. Natürlich liegt in der Verteilung des Gerechten in gleicher Weise für die eigentlich Gleichen bzw. der ungleichen Verteilung für die eigentlich Ungleichen das Problem, denn welche Gleichheit in welcher Beziehung ist eigentlich gemeint? Welches Kriterium entscheidet über das Wohl und Wehe einer Vgl. Pol. III, 13: 1283b36–42. Dies zeigt ein vergleichender Blick auf EN VIII, 13: 1161b4–8. Gutschker jedoch kritisiert an MacIntyre, dass dieser übersehen habe, »Bei Aristoteles findet Praxis per definitionem unter gleichen Bürgern statt« (Gutschker 2002, 367). Tatsächlich ist Praxis aber nicht auf solche symmetrischen Verhältnisse eingeengt.

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Polis? Hier kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in der damaligen griechischen Welt über nichts erbitterter gestritten worden ist. Auch darin widerspricht meine Darlegung der politischen Philosophie des Aristoteles der habermasschen Interpretation der vormodernen Projekte: Anders als Habermas es generell für die vorneuzeitlichen Gemeinschaften annimmt, können wir für das antike Griechenland anscheinend keinen gefestigten Konsens über die Substanz des Guten und des Gerechten annehmen. Zwar betont Hobbes den Konflikt sicherlich stärker als Aristoteles, dennoch dürften obige Überlegungen sehr wohl zeigen, dass Aristoteles stark mit Konfliktsituationen gerechnet hat. 201 Wieder erschließt sich die Antwort auf die Frage nach dem inhaltlichen Prüfstein für Gleichheit oder Ungleichheit der Bürger nur dann, wenn die Hauptfrage der politischen Gemeinschaft nach dem guten Leben als Leitmotiv des Gedankenganges dient. Indem er sich einer Analogie der Bürger mit Seeleuten bedient, erläutert uns Aristoteles deren Verschiedenheit: 202 So wie der Seemann zur Schiffsgemeinschaft gehört, so ist der Bürger natürlich ein Angehöriger der Bürgerschaft und ebenso wie die verschiedenen Seeleute in ihrer je201 In der Forschungsliteratur haben in letzter Zeit namentlich Yack und Höffe darauf hingewiesen und damit die gegenteiligen Behauptungen von MacIntyre angezweifelt: Vgl. dazu v. a. die ausführlichen Überlegungen von Yack 1993 bzw. die entsprechenden Bemerkungen von Höffe (Höffe 2011b, 21). Auch eine Bemerkung von Aristoteles in Pol. II dürfte zeigen, dass er beileibe nicht naiv-sentimental über menschliche Gemeinschaften gedacht hat: In Pol. II, 5: 1263a15 f. bemerkt Aristoteles, dass das Zusammenleben und Gemeinsamsein allgemein eine schwierige Sache sei – darauf verweist auch Yack 1993, 7. Andererseits muss man die folgende Feststellung von Miller in zweierlei Hinsicht leicht ergänzen: »He [= Aristotle; B. L.] views the disputes within the Greek citystates over which constitutional form is correct as turning, ultimately, on their competing theories of justice.« (Miller 1997, 67). Da von den vier dort angegebenen Belegstellen zumindest drei eindeutig auf das Gerechte im Verteilen abzielen, scheint Miller hier vor allem darauf abzustellen. Wie wir bereits gesehen haben, werden zum einen die organisatorischen Aspekte der Ämtervergabe und der Frage, wer die Regierung stellen darf, manchmal nur machtpolitisch entschieden und somit die Frage nach der richtigen Verfassung bloß in der Weise beantwortet, dass manchen Gruppen das Gemeinwohl egal ist und das Gerechte sich für sie in der Frage des eigenen Nutzens erschöpft und dieser Nutzen in der Herrschaft und unbeschränkten Macht für sich (und seinesgleichen) besteht. Zum anderen muss das normative Kriterium für Ämterverteilung vor dem Hintergrund des Gleichen bestimmt werden: Schließlich soll der Ämterzugang aufgrund bestimmter Gleichheiten und Ungleichheiten normiert werden. Wer in einer bestimmten Beziehung gleich ist, ist herrrschaftsberechtigt. 202 Vgl. auch für das Folgende Pol. III, 4: 1276b20–29.

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weiligen Rolle als Ruderer, Steuermann etc. verschiedene Funktionen einnehmen, so haben auch die verschiedenen Bürgergruppen ihre jeweilige eigentümliche Leistung. Darüber ist sogleich einsichtig, dass sowohl Seeleute als auch Bürger als ungleich gelten können, 203 insofern sie eben in unterschiedlichem Maße zur Gemeinschaft etwas beitragen. Zugleich ist aber damit bei Aristoteles auch schon klar, inwiefern sie als Gleiche angesprochen werden, indem sie eben alle als Seeleute bzw. Bürger mit einer gemeinsamen Mission gelten können. Während Pol. III, 4 dies noch nicht vollständig ausdekliniert und den eher vagen Hinweis gibt, die Erhaltung der Verfassung wäre das gemeinsame Werk der Bürger, wissen wir aufgrund unserer bisherigen Lektüre, dass die koinônia politikê gemeinsam das gute Leben anstrebt. Entsprechend müsste sich also die Gleichheit und Ungleichheit der Bürger hauptsächlich dadurch ergeben, dass die Bürger in unterschiedlichem Maße zur Erlangung der eudaimonia beitragen. Tatsächlich erhebt Aristoteles dies zum entscheidenden Kriterium: Das Ziel der Polis ist also das gute Leben […] Dieses aber ist, wie wir erklären, das glückselige und gute Leben. Man muss folglich festhalten, dass die politische Gemeinschaft um der guten Handlungen willen existiert und nicht bloß um des Beisammenlebens willen. Deshalb steht denjenigen ein größerer Anteil an der Polis zu, die am meisten zu einer derartigen Gemeinschaft beisteuern … 204

Daher evaluiert Aristoteles die jeweiligen Ansprüche der verschiedenen Gruppierungen danach, ob und wie weit sie zur eudaimonia imstande sind und dazu auch etwas beitragen können. Somit interpretiert Aristoteles den erbitterten Parteienstreit seiner Lebenswelt tiefer: Es handelt sich nicht nur um die Gefechte von und um Machtordnungen, sondern ebenso meist auch um Kämpfe von und um Rechtsordnungen (und dabei vorrangig um einen Wettstreit der konkurrierenden normativen Auffassungen). Damit möchte ich nicht nur ausdrücken, dass jede Machtordnung sich als Rechtsordnung konstituieren sollte. Darüber hinaus liegt ein weiterer wichtiger Aspekt darin, dass die verschiedenen Gruppierungen oder Einzelpersonen zumindest das normative Ziel des guten Lebens für sich (und ihresgleichen) erstreben. Somit ist ihr Machtstreben auf jeden Fall normativ als nicht 203 Daher resümiert Aristoteles in Pol. III, 4: 1276b40 den Zwischenstand, dass es unmöglich sei, dass alle Bürger ähnlich seien. 204 Pol. III, 9: 1280b39–1281a5.

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völlig leer aufzufassen, sondern in unterschiedlichem Maße vertreten auch sie bestimmte normative Ansichten über das Gute/Böse, Gerechte/Ungerechte und Nützliche/Schädliche und lassen sich in ihrer Politik davon leiten. Entsprechend ist auch in den meisten verfehlten Verfassungsformen nicht bloß ein völlig illegitimes Streben nach Macht am Werke zu sehen. Stattdessen gehen die Herrscher solchen Verfassungstypen sicherlich irrigerweise davon aus, dass zum Beispiel Macht oder Reichtum wichtige Bestandteile der eigenen eudaimonia seien. Zwar gründen sich ihre Machtansprüche – zumindest in den verfehltesten Subtypen – wesentlich mehr auf Gewalt und egoistischem Machtstreben, aber dennoch lassen sie sich in ihrer Politik von einem – allerdings verfehlten – Verständnis des guten Lebens leiten, das einerseits falsche Ziele anstrebt und andererseits die berechtigten Ansprüche der anderen Gruppierungen ignoriert und/oder mit Füßen tritt. Selbstverständlich ist beim Spezialfall des Tyrannen der normative Hintergrund relativ dünn ausgeprägt, aber bei Demokratien und Oligarchien jeglicher Art lohnt sich für Aristoteles dennoch eine genaue Prüfung ihrer entsprechenden normativen Auffassungen und können wir daher auch ihnen laut Aristoteles eine gewisse normative Berechtigung trotz all ihrer Fehler und Übertreibungen nicht absprechen. 2.2.2.2 Die Evaluation verschiedener Gleichheitsgedanken durch Aristoteles Grundsätzlich unterscheidet Aristoteles zwei Arten der Gleichheit, nämlich die arithmetische Gleichheit nach Zahl und die geometrische Gleichheit nach Würdigkeit. 205 Da er anders als die Demokraten nicht von einer schlechthinnigen Ungleichheit der Bürger ausgeht, lehnt Aristoteles die demokratische Auffassung der Gleichheit als »Gleichheit nach Zahl« als zu einseitig ab. 206 Jedoch verwirft er – aus GrünVgl. Pol. V, 1: 1301b29 f. Vgl. Pol. VI, 2: 1317b3–10. Bekanntlich befindet er, dass das Gerechte in der Gleichheit der Gleichen und nicht in der Gleichheit aller bestehe (vgl. Pol. III, 9: 1280a11 f.). Wie wir in der Besprechung der Demokratie sehen werden, ist allerdings die Gleichheit der Würdigkeit und die Gleichheit der Zahl für die Demokraten gar kein Gegensatz, da sie eben alle freien Bürger aufgrund ihrer gleichen Freiheit für gleich würdig erachten. Insofern ist es auch kein Widerspruch, wenn Aristoteles mehrfach betont, dass alle darin übereinstimmten, dass das schlechthin Gerechte dasjenige nach Wür205 206

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den, die wir noch erarbeiten werden – die Gleichheit nach Zahl nicht völlig, was schließlich ebenso einseitig wäre. Stattdessen lehrt er, dass in einer gerecht geordneten Polis stets beide Gleichheitsregeln angewendet werden sollen. 207 Dennoch bevorzugt Aristoteles die Gleichheit nach Würdigkeit, erklärt das Gerechte nach Würdigkeit zum schlechthin Gerechten 208 und hält in Fragen nach dem Gerechten die Gleichheit nach Würdigkeit für die wichtigste und die Gleichheit nach Zahl für die zweitwichtigste 209. Wie bereits vorher beschrieben, entstehen Verfassungen auch in ihrer Seite als Machtordnung nicht in einem normativen Vakuum. Hinter bestimmten Verfassungstypen stehen bestimmte Überzeugungen, so entstehen etwa laut Pol. V, 1 Demokratien oder Oligarchien aus unterschiedlichen Gleichheits- und damit Würdigkeitsüberzeugungen: So achten die Demokraten nur auf die Gleichheit aller Freien und leiten daraus eine absolute politische Gleichheit aller Bürger ab, da alle Freien in gleicher Weise frei sind und insofern alle gleich würdig sind. Demgegenüber beschränken sich die Oligarchen auf das Feststellen einer Ungleichheit an Besitz und folgern daraus eine absolute politische Ungleichheit ungleich Reicher, denn allein das erfüllte Kriterium des Reichtums macht jemanden der Teilnahme an der politischen Gemeinschaft würdig. 210 Ebenso geht ein Königtum von der absoluten Ungleichheit der Bürger an Tugend verglichen mit dem König aus oder interessieren sich Aristokraten hauptsächlich für eine relative Gleichheit oder Ungleichheit an Tugend oder hebt eine Politie sowohl das Kriterium der Gleichheit an Freiheit als auch dasjenige einer gewissen Gleichheit an Besitz hervor. Somit lässt sich digkeit sei, aber im Maßstab der Würdigkeit, einer bestimmten Gleichheit, nicht übereinkommen (z. B. Pol. V, 1: 1301b35–39 oder EN V, 6: 1131a24–29) oder sich zusätzlich auch nicht in der Einschätzung der Personen einigen können (vgl. Pol. III, 9: 1280a16–25). Somit steckt etwas Polemik in Pol. VI, 2: 1317b3 f., wenn Aristoteles dort das demokratisch Gerechte als Gleichheit der Zahl bestimmt und sie der Gleichheit der Würdigkeit entgegensetzt. 207 Vgl. Pol. V, 1: 1302a2–8. 208 Vgl. Pol. V, 1: 1301b35–39. In dieser Bevorzugung des Gerechten im Austeilen stimmt er übrigens mit Isokrates überein, wie ein Blick auf Areopagitikos, 21–28 zeigt (vgl. Isokrates 1993, 138 f.). 209 Vgl. EN VIII, 9: 1158b30–33. In der Freundschaft ist es genau umgekehrt. 210 Vgl. Pol. V, 1: 1301a25–39. Dieses ganze Kapitel zeigt auch, dass die Demokraten den Gesichtspunkt des Wertes nicht völlig verneinen (so aber Schütrumpf 1996, 169), da sie eben den Wert der Freiheit gegen die Oligarchen anführen.

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schlüssig zeigen, dass Gleichheits- und Ungleichheitsauffassungen wesentlich den Charakter einer Verfassung bestimmen. Anders formuliert, erweist sich die Antwort auf die Frage »Welche Arten von Gleichheit sind entscheidend für die Grundordnung der Gemeinschaft?« als ein Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen den verschiedenen Verfassungen: Sage mir, welche Gleichheiten oder Ungleichheiten über die Ordnung in der Gemeinschaft entscheiden sollen, und ich sage dir dann, welche Verfassung du bevorzugst. 211 Nun sind aber selbstverständlich nicht alle Gleichheitsvorstellungen einerseits an sich gleich gerecht, andererseits für jede Gemeinschaft gleich gerecht. Dies führt zur eigentlichen normativen Prüfung der verschiedenen Gleichheitsauffassungen. Natürlich liegt aber genau hier das eigentliche Problem, denn welche Eigenschaften tragen nun tatsächlich am meisten zur eudaimonia bei und sind insofern die zentralen Kriterien für die Würdigkeit? Entgegen der Polemik von Kelsen verhält sich Aristoteles hierbei nicht neutral, sondern erklärt vor allem folgende drei Kandidaten für besonders gut legitimiert, wenn es um die gerechte Ordnung der Polisgemeinschaft anhand bestimmter Gleichheitskriterien geht: Tugend, Freiheit und Besitz. 212 Diese drei Ansprüche rechtfertigt Aristoteles auch philosophisch, indem nämlich eine Polis nicht ohne Freiheit (Anspruch der Demokraten) und Wohlstand (Anspruch der Oligarchen) bestehen könne, aber ohne Gerechtigkeit und (politische) Tugend nicht gut (Anspruch der Aristokraten bzw. des Königtums). 213 Glücklicherweise lässt sich die Betrachtung der eudaimonia noch weiter fruchtbar machen für die normative Bewertung der verschiedenen Verfassungen: Wie bereits erwähnt, gehört zum Wesen der Verfassung, dass sie die Ziele der Gemeinschaft angibt. Wenn wir an die bereits erzielten Interpretationsergebnisse der ersten Abschnitte dieser Arbeit zurückdenken, besteht das Ziel der Polis eindeutig im eu zên. Nun lassen sich die genannten Ziele von Freiheit, Reichtum 211 Eng verknüpft mit dieser Frage ist natürlich die Frage nach dem guten Leben, wie Nussbaum herausgestellt hat. Vgl. Nussbaum 1999a, 32 ff. 212 Siehe vor allem Pol. III, 12: 1283a17–23 und Pol. IV, 8: 1294a19 f., aber auch Pol. IV, 12: 1296b17 f. legt dies implizit nahe. EN V, 6: 1131a9–29 und Pol. IV, 8: 1294a9– 11 identifizieren dies als gängige Parteienvorstellungen. 213 Vgl. Pol. III, 12: 1283a14–23. Ich folge hier der Lesart Schütrumpf 1991b, 515 Anm. 72,7, dass hier politikês aretês und nicht polemikês aretês gelesen werden sollte. Warum Pangle von »comic inconsequence« und »laughable logic« dieser Stelle spricht, erschließt sich mir nicht ganz (vgl. Pangle 2013, 149).

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und Tugend als Letztziele der genannten Strömungen sowohl für das Leben des Einzelnen als auch für dasjenige der Bürgerschaft identifizieren. Schließlich betrachten die Demokraten die Freiheit als wichtigstes Ziel, die Oligarchen den Reichtum und die Aristokraten wie auch das Königtum die Tugend. 214 Entsprechend sind nicht die Unterschiede in den Fragen nach dem Gerechten in der Verteilung der tiefste Unterschied zwischen den verschiedenen Strömungen in der Polis, sondern die unterschiedlichen Auffassungen des guten Lebens. 215 Daher entscheidet auch die Qualität der »Lösung« für die eudaimoniaFrage auch über die normative Güte der Gleichheitsauffassung dieser Gruppe oder dieser Einzelpersonen. Welchem Maßstab billigt Aristoteles nun den berechtigtsten Anspruch zu? Wenn man mit der aristotelischen eudaimonia-Lehre vertraut ist und an die nähere Bestimmung der Aufgabe der Polis, die Tugend ihrer Bürger, denkt, überrascht es nicht, dass Aristoteles unter den genannten drei Kandidaten (Freiheit, Reichtum und Tugend) der Tugend den größten Anspruch auf Herrschaft zubilligt. 216 Insofern erweist sich als höchstes Kriterium für die Legitimität einer Verfassung ihr Bemühen um die wahre und eigentliche Tugend ihrer Bürger. Allerdings folgern Schütrumpf und Keyt aus verschiedenen Passagen in Pol. III, 9, dass es Verfassungen gebe, die nicht auf das gute Leben/die Glückseligkeit abzielten. Hier nennt etwa Schütrumpf eine Vgl. Pol. IV, 8: 1294a10 f. als Sammelstelle für Aristokratie, Oligarchie und Demokratie; weitere Belegstellen finden sich für das Königtum und die Aristokratie in Pol. IV, 2: 1289a30–33 (Tugend als Ziel dieser Verfassungen), für die Freiheit im Sinne der Willkür für die Demokratie in Rhet. I, 8: 1366a4 bzw. Pol. VI, 2 und für den Reichtum als Ziel für die Oligarchie in Rhet. I, 8: 1366a4 f. 215 Anders formuliert: das Gerechte in der Verteilung benötigt selber einen Maßstab, den es in der Gleichheit oder Ungleichheit der Bürger in verschiedenen Aspekten findet. Welche dieser Aspekte tatsächlich die entscheidenden sind, erweist sich über ihren Beitrag zum guten Leben der Bürger. Dass die Distributionsfrage von der Frage nach den Zielen abhängt, bemerkt Miller an einer späteren Stelle selbst: »The standard governing the distribution of rights is based upon the teleological hypothesis concerning the end of the polis.« (Miller 1997, 159). Ähnlich Irwin 1990, 427 216 Vgl. u. a. Pol. III, 9: 1281a4–8. Yack 1993, 165 f. akzeptiert diese Lösung nicht, da die Tugend politisch machtlos sei und die anderen Ansprüche nur teilweise gerecht seien. Dementsprechend belässt er es bei der an sich ja sehr unspezifischen Auskunft von Pol. III, 13: 1283b40–42, dass der Nutzen der gesamten Polis und das Gemeinwohl gesucht werden müssten. Gemäß seinem deliberativen Ansatz gibt es dafür keinen fixen Maßstab, sondern für die jeweils partikularen Bedingungen verschiedener Poleis müssen die Bürger jeweils verschiedene Lösungen finden. 214

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Herrschaft der Menge von Pol. III, 11, welche dieses Kriterium nicht mehr erfülle. 217 Wie bereits gegenüber der ähnlichen These von Keyt kann man gegenüber Schütrumpf auf EN II, 1: 1103b2–5 verweisen, da Aristoteles hier eindeutig und ausdrücklich jedem Gesetzgeber zubilligt, sich um die Tugend zu bemühen. Überdies sollte man auch eine Analogie zu den verschiedenen Lebensweisen im Rahmen der aristotelischen Ethik ziehen: Ebenso wie die meisten Menschen ein falsches Lebensmodell (bios) wählen und sich trotzdem alle um die Glückseligkeit bemühen, ebenso wollen auch die verfehlten Verfassungstypen das glückselige Leben erreichen, nur tun sie es auf eine falsche Weise. Yack glaubt ebenfalls, dass die meisten Verfassungen sich nicht aktiv um die wahre Tugend bemühen, folgert dies aber vermutlich aus Pol. VIII, 1. Zwar gibt er keine Stelle an, jedoch weist der Hinweis auf die Spartaner, die als einzige sich um die Tugend bemühten, für mich darauf hin, dass Yack hier an Pol. VIII, 1 denkt. 218 Allerdings geht es dort nur um die Erziehung, welche die Spartaner als einzige im damaligen Griechenland ernst genommen hätten. Trotzdem ermöglichen für Yack auch die verfehlten Verfassungstypen der Demokratie und Oligarchie in einem gewissen Umfang das gute Leben. Allerdings soll dies sozusagen unbeabsichtigt geschehen bzw. allein dadurch, dass »the laws established by oligarchies and democracies will inevitabely promote character-forming habits, even if they are not designed to do so. These habits will not necessarily be the best to establish the dispositions of virtuous individuals; they will, nevertheless, promote them to some extent, for every regime wants its citizens to be moderate, lawful, and courageous in at least some circumstances« 219. Daher trägt für Yack auch eine unvollkommene Polis zur eudaimonia bei, »as soon as it brings free and relatively equal individuals into a community ordered by general rules and political justice«. 220 Sicherlich sind funktionierende Gesetze eine Minimalbedingung, ohne die eine Glückseligkeit eines Einwohners einer Polis nicht erreicht werden kann, jedoch muss die normative Evaluation der Gesetze und des Begriffs des Gerechten ebenfalls geleistet werden und hier versagen – zumindest in der Sichtweise des Aristoteles – die genannten Verfassungen deutlich. 217 218 219 220

Vgl. Schütrumpf 1980, 187 und Keyt 1991a, 256 f. Vgl. die Besprechung in Yack 1993, 83. Yack 1993, 106. Vgl. auch ebenda, 104. Yack 1993, 90.

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Yacks Position erklärt sich durch seine Kritik an Fehldeutungen der aristotelischen politischen Teleologie: Die natürliche Funktion einer Polis erfülle sich, wenn das gute Leben für einzelne Individuen möglich gemacht werde und nicht bloß dann, wenn der beste Verfassungstypus herrsche. Insofern leisteten auch Demokratien und Oligarchien einen positiven Beitrag zum guten Leben und seien keine bloßen Pathologien oder Freaks. 221 Zwar ist ein Erreichen der wahren aristotelischen eudaimonia auch in den verfehlten Verfassungstypen nicht unmöglich, aber dennoch teile ich die These von Yack nicht, dass »even highly imperfect political communities make it possible to lead the good life by giving us the training necessary to the development of the ethical virtues« 222. Einerseits wird mit der Erlangung der oben genannten Teilaspekte die umfassende aristotelische eudaimonia nicht erreicht: Tugend erschöpft sich nicht in diesen drei Aspekten. Überdies kann ein legalistisches Verhalten in einer schlechten Verfassungsordnung der eigenen Glückseligkeit deutlich abträglich sein; dies haben ja auch die Überlegungen zum guten Menschen und guten Bürger gezeigt. Vor allem aber sind nicht alle Verfassungen moderat, daher fördert auch nicht unbedingt jede Verfassung diese Haltungen. Last but not least streben auch Oligarchien oder Demokratien bewusst das gute Leben an, haben jedoch verfehlte Auffassungen davon. Insgesamt möchte ich also wesentlich vorsichtiger formulieren: Mittelschlechte Verfassungen fördern die Glückseligkeit nicht im wahren Sinne, sondern sie verhindern sie nur nicht bzw. behindern sie dennoch die meisten Bürger, indem sie einseitig bestimmte Aspekte überbetonen (nur wahrhaft Einsichtige werden ja genügend Urteilsvermögen haben, diese Übertreibungen als solche zu erkennen). Anders ausgedrückt möchte ich gegenüber Yack zu bedenken geben: Die verfehlten Verfassungstypen laufen durch ihre Vorstellungen des Guten, Vgl. dazu auch Yack 1993, 95. Yack 1993, 170. Kategorisch leugnet auch nur den kleinsten oligarchischen Beitrag zur eudaimonia Schütrumpf 1996, 155 Fußnote 2. Dagegen lässt sich einwenden, dass als untergeordnete Bestandteile der eudaimonia auch äußere Güter und damit der dazugehörige Reichtum zählen. Insofern können die Oligarchen sehr wohl beanspruchen, das Gemeinwohl und das gute Leben der Gemeinschaft teilweise zu befördern. Vor allem aber billigt Aristoteles ihnen einen Beitrag auch ausdrücklich zu (vgl. Pol. III, 13: 1283a24–42). Das Ausmaß reicht jedoch natürlich nicht zu einer Legitimation ihrer Alleinherrschaft oder zu einer zureichenden Förderung von eudaimonia durch eine oligarchische Polis qua oligarchische Politik. 221 222

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Gerechten und Nützlichen, also in ihren Vorstellungen über das gute Leben, dem wahrhaft guten Leben für die Gemeinschaft doch zuwider. 223 Nicht extreme verfehlte Verfassungsordnungen bringen zwar eine gewisse stabile Berechenbarkeit in das Gemeinschaftsleben und verabsolutieren meist einen gewissen Aspekt, der zur eudaimonia nötig ist, jedoch den positiven Einfluss, den die Poleis selbst beisteuern, überschätzt Yack meines Erachtens. Freilich folgt für Aristoteles aus einer solchen Kritik an den verfehlten normativen Vorstellungen nicht-aristokratischer und nichtköniglicher Bürger nicht, dass die anderen freien Bürger mit ihren imperfekten normativen Maßstäben von den (aristokratischen oder königlichen) Tugendhaften in einer Art Tugendtyrannis geknechtet werden dürfen und nur allein deren Anspruch auf die Macht zählt. 224 Sicherlich sind die Tugendhaften am ehesten schlechthin ungleich zu nennen, 225 allerdings rechtfertigt dies keine völlige Entmachtung und Entrechtung der anderen Bürgergruppen. Schließlich geht es den gemeinwohlorientierten Verfassungen um das eu zên aller, während die Machthaber in verfehlten Verfassungen den Rest der Gemeinschaft entweder nur als Mittel oder als Hemmnisse auf dem Weg zu ihrem eigenen, verfehlten eu zên sehen. Und da die Ansprüche der Oligarchen aufgrund ihres Besitzes und der Demokraten aufgrund ihrer Freiheit 226 eine gewisse Berechtigung haben und sie überdies als freie Männer ihr bouleutikon mit 223 Vgl. etwa die Überbetonung der Freiheit in Demokratien (vgl. Pol. VI, 2) oder die Problematik rund um Arme und Reiche in Pol. IV, 11. Dem steht nicht der frühere Befund entgegen, dass es auch in verfehlten Poleis Tugendhafte geben kann. 224 Daher betonen Pol. III, 9: 1281a2–8 und v. a. Pol. III, 13: 1283a23–31 auch die relative und nicht absolute Legitimität im Vergleich zu den anderen Ansprüchen (Newman verweist auf letztere Stelle, um ebenfalls zu verneinen, dass in Pol. III allein der Anspruch der Tugendhaften zähle, vgl. Newman 2010b, 394 Appendix A). Ich bevorzuge diese Stellen gegenüber der von Irwin 1990, 428 genannten Passage 1283a17–20. 225 Vgl. Pol. V, 1: 1301a39–1301b1. 226 Hier könnte man sich natürlich fragen, was denn die armen und »bloß« freien Demokraten überhaupt für einen Beitrag zur Glückseligkeit beisteuern: Wie bereits angeführt, ist jeder der Natur nach Freie zum bouleuesthai befähigt und überdies – dies wird Pol. III, 11 zeigen – trägt natürlich die Armut als Hauptmerkmal der Demokraten nichts Positives zur Polis bei, aber dies gilt natürlich nur für den einzelnen Demokraten. Wenn wir die vielen Armen mit ihrem individuell bescheidenen Ausmaß an Reichtum oder Tugendhaftigkeit zusammenrechnen, so werden sie laut Aristoteles’ Summierungstheorie den Reichen bzw. Tugendhaften sogar in deren Domänen gleichkommen können.

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einbringen dürfen sollten und sich so am bouleuesthai beteiligen können sollten, wäre ihr völliger Ausschluss aus der Politik durch ihre Entfernung aus der Vollbürgerschaft und der Zugangsmöglichkeit zu den Ämtern 227 auch ungerecht. 228 In einem gewissen Ausmaß sollten also all diese drei Kriterien berücksichtigt werden: Dabei sind sie zum einen nicht völlig gleichrangig, dürfen zum anderen aber auch nicht für sich alleine genommen zum einzigen Maßstab verabsolutiert werden. Streng mahnt Aristoteles vor verfehlten Einseitigkeiten und stellt grundsätzlich fest, dass eine Ungleichheit in einem Punkt nicht Ungleichheit in allen Punkten bedeuten dürfe und Gleichheit in einem Punkt auch nicht zur Gleichheit in allen Punkten führen solle. 229 Indes bedeutet diese gewisse Berechtigung der Ansprüche der Demokraten und der Oligarchen nicht, dass damit plötzlich das Urteil von Pol. III, 7 umgestoßen wird und sie nun als gerechte und korrekte Verfassungen gelten können. 230 Deutlich stellt dieses Kapitel nämlich heraus, dass diese Verfassungen zwar eigentlich einen gewissen relativen Anspruch stellen können, aber ihn fälschlich verabsolutieren und sie daher als verfehlte, da eigensüchtige Verfassungen zu gelten haben. Auf der anderen Seite darf man aber nicht die demokratischen und oligarchischen Ziele als »simply wrong« 231 bezeichnen. Wenn unterschiedliche Vorstellungen über das Gerechte letztlich in abweichenden Vorstellungen über das gute Leben begründet liegen 232 und diese Ansprüche zumin227 Da auch die nicht Tugendhaften einen Beitrag zur Polis leisten, müssen sie auch an den dazu gehörigen Ehrungen teilnehmen können. Hier sei daran erinnert, dass für erbrachte Leistungen der betreffenden Person Ehrungen der Polis zustehen (vgl. EN VIII, 16: 1163b5–12 und EE VII, 10: 1242b2–22) und Ämter als Ehren aufzufassen sind (vgl. beispielsweise das für das Problem der Atimie besonders zentrale Kapitel Pol. III, 10, besonders Pol. III, 10: 1281a31). 228 Daher mahnt Aristoteles in Pol. III, 13: 1283b27–30, dass keiner der Maßstäbe dazu führen dürfe, dass alle anderen Bürger in eine völlig asymmetrische Abhängigkeit gerieten. 229 Vgl. Pol. III, 13: 1283a26–28 und Pol. III, 9: 1280a16–25. 230 So aber Bates 2003, 150. 231 Rowe 1991, 67. 232 In dieser Grundannahme trifft sich Aristoteles ebenfalls wieder mit Rawls (vgl. Rawls 1979, 26). Aus dem im Haupttext genannten Argument folgt aber keineswegs, dass Aristoteles seine Gedanken zum Gerechten empiristisch aus Erfahrung und Sprachgebrauch aufrafft (vgl. die diesbezüglichen Thesen von Trude 1955, 3 bzw. 11 f.). Bereits die Lehre vom »Naturrecht« als dem Gerechten an sich, das nicht von den Meinungen der Menschen abhängig ist, stellt eine solche Position vor unlösbare Schwierigkeiten.

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dest eine Teilberechtigung haben – was Aristoteles den genannten Gruppen ja ausdrücklich zubilligt 233 –, dann darf keine dieser Gruppen ihrer politischen Rechte völlig beraubt werden und dürfen ihre Forderungen nicht völlig unberücksichtigt bleiben. Dies deckt sich mit den Ergebnissen, die wir in der Frage nach dem Maßstab einer normativen Kritik von an sich ungerechten Verfassungs- bzw. Gesetzesbestimmungen erzielen: Bisher haben wir in EN V, 3: 1129b11–14 gesehen, dass »in gewisser Weise« jedes gesetzliche Recht gerecht sei. Tatsächlich jedoch kann dieser Hinweis auch in Hinsicht auf eine mögliche Kritik der Gleichheitsauffassungen präzisiert werden: Aristoteles behauptet in Hinsicht auf das Recht, dass das Gerechte im Gesetzlichen und Gleichen liegt und das Ungerechte im Ungesetzlichen und Ungleichen. 234 Somit dürfen wir also nicht plakativ jedes Recht sogleich als eigentlich gerecht benennen, 235 sondern nur, wenn es die verschiedenen Gleichheiten in richtiger Weise achtet. Weil nur jenes Recht als eigentlich gerecht gerechtfertigt ist, das Gleichheit und Ungleichheit der Menschen in rechter Weise berücksichtigt und so eine gerechte Gemeinschaftsordnung ermöglicht, macht Aristoteles einen entscheidenden Schritt in der politischen Philosophie: So werden Normen und Personen weder religiös, noch traditionalistisch und auch nicht autoritär gerechtfertigt. Anders formuliert: Die Legitimität von Normen und Personen erweist sich im Wohlergehen der Einzelnen und in der Nichtverletzung ihrer Ansprüche – hierin weiß ich mich also – bei manchen sonstigen Differenzen – grundsätzlich mit Miller einig. 236 233 Vgl. beispielsweise Pol. V, 1: 1301a35 f. Dies sollte sowohl in seinen affirmativen als auch seinen kritischen Konsequenzen ernst genommen werden. So bestreitet Aristoteles in Pol. III, 13: 1284a17–1284b34 dem Ostrakismos nicht ein gewisses Recht, aber hält ihn dennoch – vom Standpunkt des Gerechten schlechthin – für verfehlt (vgl. besonders das Resümee 1284b22–25, da hier von einem den verfehlten Verfassungen eigenen Gerechten und Nützlichen gesprochen wird, das aber nicht dem Gerechten schlechthin entspreche). 234 Vgl. EN V, 2: 1129a31–b1. Aristoteles kann bei seiner starken Verknüpfung von Gerechtigkeit und Gleichheit übrigens endoxastisch an die Meinungen der Leute anknüpfen: Laut Aristoteles sind auch ohne Beweis alle Menschen davon überzeugt, dass Ungerechtes ungleich und Gerechtes gleich ist (vgl. EN V, 6: 1131a9–13). 235 Dass zu Zeiten des Aristoteles kein ernstzunehmender Philosoph eine schlichte Gleichsetzung von gesetzlich und gerecht vornehmen kann, ist eine Leistung der Sophistik (vgl. Bien 1995, 141). 236 In der Forschungsliteratur diskutiert bekanntlich namentlich Miller die verschie-

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Jedoch gibt es natürlich nicht nur den gewissermaßen absoluten Maßstab des Gerechten und Gleichen schlechthin, den Aristoteles sozusagen für sich und seine Interpretation beansprucht, sondern auch den relativen Maßstab des Gerechten und Gleichen, den die Bürger anlegen. Zwar betrachtet Aristoteles diese Maßstäbe als nicht schlechthin gerechtfertigt, trotzdem spricht er ihnen – wie wir gesehen haben – eine eingeschränkte normative Berechtigung zu. Ebenso – und dies ist das Thema der nächsten beiden Abschnitte – berücksichtigt Aristoteles sehr wohl, dass in einer bestimmten Polis irgendwelche Lösungen vielleicht normativ wünschenswerter sind, aber dennoch unter genau diesen Umständen nicht verwirklichbar sind, da die Bürgerschaft ziemlich andere Meinungen pflegt. Anders formuliert: Die kommenden Kapitel ergründen die Problematik, wie weit Aristoteles auf die normativen Vorstellungen der Bürger eingeht oder ob er relativ weltfremd seine Ansichten als die einzig wahre und daher für jede Polis 1:1 umzusetzende Lösung präsentiert.

2.3 Die normative Bewertung der politischen Ordnung durch die Bürger Entsprechend widmen wir uns nun also der Frage, wie weit die normative Bewertung der politischen Ordnung durch die Bürger ebenfalls eine wichtige Rolle in der politischen Philosophie des Aristoteles spielt. Bernard Yack hat die Frage aufgeworfen, wie weit das Gemeinwohl bei Aristoteles als das Ergebnis eines Konsenses unter den verschiedenen Bürgergruppen zu interpretieren ist. Dabei bestreitet er, dass der Philosoph einen Monopolanspruch auf die Ausdeutung des Allgemeinwohls habe. Hier kommt es nun meines Erachtens darauf an, wie dies ausbuchstabiert wird: Einerseits können wir – wie Yack – denen individualistischen (Gemeinwohl = Wohl aller Einzelnen) und holistisch-organizistischen Interpretationen (Wohl der Gemeinschaft auch gegen die Einzelnen). Vgl. Miller 1997, 194–224. Ausführlich argumentiert er dafür, dass wir Aristoteles einen moderaten Individualismus zuschreiben dürfen. Auch Christof Rapp bestreitet allzu antiindividualistische Lesarten: er erinnert gegen MacIntyre daran, dass die Gemeinschaft bei Aristoteles individualistisch gerechtfertigt wird, da das Glück der Polis im Glück der Einzelnen bestehe. Vgl. Rapp 1997, 65. Überhaupt hinterfragt der gesamte Aufsatz recht deutlich, ob die Vereinnahmung des Aristoteles durch MacIntyre gerechtfertigt werden kann.

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diesen Satz als allgemeingültige normative Aussage lesen oder ihn andererseits zu einem pragmatischen Ratschlag herabstufen. Wie Yack das Gemeinwohl aber zu einer Art Kompromiss verschiedener rivalisierender Konzepte des Allgemeinwohls erklärt, 237 wirft allerdings einige Probleme auf: Zwar ist dies pragmatisch anzuraten, denn so werden allergröbste Ungerechtigkeiten vielleicht vermieden und erreicht man größere Stabilität. Jedoch erreicht ein derartiger pragmatischer Kompromiss für Aristoteles normativ sicherlich nicht die Qualität der von ihm selbst nahegelegten Interpretation eines korrekt verstandenen Allgemeinwohls. Insofern kann ein Philosoph sehr wohl besser wissen, was das Allgemeinwohl schlechthin sein sollte, wenn ihn dies auch – und hier ist Yack durchaus beizupflichten – nicht zwangsläufig zu einer nützlichen Umsetzung in einer bestimmten Polis befähigt. Last but not least verkäme Aristoteles mit einer solchen Theorie zu einem normativen Flip-Flopper, der in Polis A das Gerechte und Gleiche X für das Allgemeinwohl erklärt und in Polis B das Gerechte und Gleiche Y. Yack hingegen fürchtet eine Entpolitisierung des Allgemeinwohls, wenn feste Maßstäbe der Würdigkeit bei der Bestimmung des Gerechten im Austeilen entscheiden sollen und verabschiedet daher radikal den Maßstab der Würdigkeit. Konkret sieht er die Gefahr, dass sonst das Gerechte »can be determined by disinterested analysis of human nature and particular sociopolitical conditions rather than as something that emerges from political argument and competition« 238. Dies sei jedoch ein zu philosophisches und entpolitisiertes Verständnis des Gerechten, das Aristoteles sicherlich nicht gehabt habe. 239 Sicherlich richtig ist, dass Aristoteles den mit der politischen Philosophie zentral angesprochenen Gesetzgeber nicht normativ überfordert und im Sinne der geforderten Praxisgeleitetheit und Praxistauglichkeit die Legitimität einer Verfassung aus der sozusagen absoluten Sicht des wahrhaft Tugendhaften nicht der alleinige Maßstab sein kann. Anders formuliert: Aristoteles ist nicht so weltfremd, sich nur für das Gerechte und Gleiche schlechthin zu interessieren. Vielmehr fordert er bekanntlich an vielen Stellen, dass Bürgerschaft und 237 Vgl. Yack 1993, 170 f. Vorbereitet wird dies bereits in Yack 1993, 130–133, da er dort für Aristoteles ein politisches Verständnis des Gerechten (in Abhebung von einem legalistischen) beansprucht. 238 Yack 1993, 167. 239 Ebenda.

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Verfassung zueinander passen müssen: Wenn etwa eine Polis durch eine große Menge armer Leute geprägt ist, wird das Anstreben einer Aristokratie sinnlos und werden entsprechende stasis-Versuche der Aristokraten nutzlos und kontraproduktiv sein. Obwohl Aristoteles sehr genaue Vorstellungen von der Legitimität der verschiedenen Ansprüche hat, ist er also sowohl machtpolitisch realistisch als auch normativ fair genug, den notgedrungen relativen Standpunkt der Betroffenen zu beachten. Dennoch ist die richtige Auffassung des Gemeinwohls nicht bloß ein Kompromiss zwischen den verschiedenen Gruppen 240 und leugnet Aristoteles keineswegs die Existenz von »determinate and certain […] standards of justice« 241. Natürlich darf nicht in abstrakter Weise über die politischen Vorstellungen der verschiedenen Gruppen in der Bürgerschaft hinweg entschieden werden, dennoch verzichtet Aristoteles trotz seiner Kontextsensibilität keineswegs auf feste Maßstäbe. 242 Anders formuliert: Zwar darf das angeblich schlechthin Gerechte tatsächlich nicht über berechtigte Ansprüche anderer Gruppen hinwegsehen und gegen deren Willen despotisch durchgesetzt werden, gleichwohl kann – contra Yack – daraus nicht abgeleitet werden, dass begründbare Würdigkeitsmaßstäbe keine Rolle mehr spielen und das Gemeinwohl an sich nur noch ein Kompromiss zwischen den mächtigsten Gruppen ist. Normativ verzichtet Aristoteles also keineswegs auf seinen festen Maßstab, lässt aber lebensklug auch genügend Raum für die in seiner Sicht durchaus öfter eher defizient zu nennenden Vorstellungen der Bürger. Dementsprechend legt Aristoteles in pragmatischer Hinsicht nicht etwa den größten Wert darauf, seinen eigenen Tugendmaßstab um jeden Preis durchzuboxen, sondern achtet auf eine sinnvolle Balance. 243 Besonders gut konkretisiert Aristoteles das AusSo aber Yack 1993, 170 f. Yack 1993, 168. 242 Philologisch problematisch ist der Versuch von Yack 1993, 165 f., die Passage 1283b27–42 dahingehend zu interpretieren, dass hier Maßstäbe der Würdigkeit generell verneint würden. Yack kürzt den Text so geschickt, dass der Leser den Eindruck gewinnt, dass Aristoteles sämtliche Maßstäbe der Würdigkeit verabschiede. Tatsächlich jedoch bestreitet Aristoteles nur, dass eine Gruppe aufgrund ihres eigenen Würdigkeitsmaßstabs alle anderen Gruppen übermäßig dominieren dürfe. 243 Kraut 2002, 397 f. löst ein ähnliches Problem anders: Kraut meint, dass das Gemeinwohl nur durchgesetzt werden könne, wenn die ganze Bürgerschaft in ihren Deutungen des Gemeinwohls übereinstimme. Da das Gemeinwohl in der Beförderung des Wohls aller besteht und in den real existierenden Poleis eine Vielfalt an 240 241

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einanderklaffen der eigenen normativen Bewertung einerseits und der harten Realität andererseits in einer Bemerkung in Pol. V, 1: Zwar haben die an Tugend schlechthin Ungleichen das größte Recht zu einer stasis, aber sie tun dies wegen ihrer geringen Zahl am seltensten. 244 Dahinter verbirgt sich eine ausgeklügelte Machttheorie, die Aristoteles uns in Pol. IV, 12 vorstellt: Dabei sollen wir in einer Polis sowohl den Faktor der Quantität (numerische Überlegenheit) als auch den Faktor der Qualität (Freiheit, Reichtum, Bildung, Adligkeit) der verschiedenen Gruppierungen beachten. 245 So kann eine Gruppe wie die Oligarchen zwar zahlenmäßig den vielen armen Demokraten unterlegen sein, in der Qualität jedoch diese eindeutig übertreffen und somit eine Oligarchie einrichten. Entsprechend ist der »Sieger« einer solchen Verrechnung machtpolitisch am leichtesten 246 in der Lage, die Meinungen über das Gemeinwohl existiere, gebe es für Aristoteles folgerichtig gar keine gemeinwohlorientierten Verfassungen. Stattdessen sollten solche Poleis das Ideal des guten Bürgers verfolgen, um sich so an das unerreichbare Ideal der wahren Gemeinwohlorientierung wenigstens anzunähern. Meines Erachtens kann man dieses Problem auch anders auflösen: Einerseits ermöglicht etwa eine aristokratische Regierung auch einem z. B. oligarchischen Streben nach Reichtum einen gewissen Platz. Insofern werden sich diese Gruppierungen nicht um ihr eigenes Wohl betrogen fühlen, auch wenn die Aristokraten mit der Tugendausrichtung der Polis noch weitreichendere Ziele verfolgen. Andererseits ist nicht jede Polis mit politisch stets rebellisch auf ihren eigenen Vorstellungen beharrenden Gruppierungen geschlagen – wie wir später sehen werden, ist etwa die beste Demokratie durch politische Indifferenz der Bauern gekennzeichnet. 244 Vgl. Pol. V, 1: 1301a39–b1: »Von allen aber am gerechtfertigsten, einen Aufstand zu machen, dürften diejenigen sein, die sich durch Tugend auszeichnen – sie tun es aber am wenigsten […]« 245 Anders als Miller 1997, 292 halte ich die Verrechnungstheorie von Pol. IV, 12 für die generelle aristotelische Machttheorie und schränke sie nicht auf die verfehlten Verfassungstypen ein, sodass die homonoia das Erklärungsmodell für die korrekten Verfassungen abgebe. Ebenso gibt sie im engeren Sinne keine normativen Empfehlungen, sondern beschränkt sich auf eine nüchterne Bestandsaufnahme des Faktischen (contra Miller 1997, 294). 246 Quasi-deterministisch interpretiert hingegen Miller 1997, 285–293 (v. a. 287) die »maxim of superiority«, denn die Wahrscheinlichkeit des Verrechnungsresultats bezeichnet er als »always or for the most part«, was bekanntlich die Notwendigkeit in der sublunaren Physik wiedergibt. Sicherlich kann die Verrechnung von Pol. IV, 12 gute Hinweise auf wahrscheinliche Regierungsformen geben. Jedoch muss mitbedacht werden, dass es auch »schlafende Riesen« in einer Polis geben kann, die sich der eigenen Stärke nicht bewusst sind oder Gruppen können forscher auftreten als es ihrer eigentlichen Macht entspricht. Last but not least darf auch die Rolle des Zufalls nicht übersehen werden. Insofern ist diese Verrechnung nicht mit einer quasi-matheOrdnung in der Polis

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Polis nach seinen Vorstellungen zu formen. Selbstverständlich können aber andere Gruppierungen auf ihren eigenen Meinungen beharren und die eingeführte Ordnung für ungerecht befinden, womit eine stasis im Bereich des Möglichen liegt. Konsequent durchdacht, heißt dies allerdings natürlich, dass ungerechte Gleichheits- und Gerechtigkeitsauffassungen genauso gut Auslöser für Umstürze sein können wie gerechte Meinungen. Entgegen mancher Verzeichnung des Aristoteles als relativ weltfremd, ist er also tatsächlich höchst realistisch und lässt sich nicht durch seine eigenen normativen Wunschvorstellungen dazu verleiten, die Augen vor der vermachtet-eigennützigen und leider nur zu selten an der wahren Gerechtigkeit interessierten Wirklichkeit zu verschließen. Dabei reflektiert Aristoteles ausdrücklich darauf, dass das Streben nach Gleichheit oder Ungleichheit durch bestimmte Gruppen gerecht 247 oder ungerecht sein kann, 248 weswegen – entgegen der gegenteiligen Ansicht von Roberts 249 – nicht jedes Auftreten von unwilligen Untertanen auf tatsächliche Ungerechtigkeiten hinweisen muss. Gehrke stellt ihn diesbezüglich in eine Reihe mit Thukydides 250 und betont ebenfalls »das Empfinden der ungerechten Behandlung durch das Vorherrschen differenter Gleichheitsvorstellungen« 251. Interessanterweise plädiert Aristoteles dann keineswegs dafür, um jeden Preis eine gerechtere Ordnung herzustellen. Zwar kann die soziologisch-machtpolitische Wirklichkeit dem normativen Wunschmatischen Notwendigkeit ausgestattet, was im Übrigen auch nicht zur Wechselhaftigkeit der Praxis passen würde (vgl. die einschlägigen methodologischen Erörterungen in der Nikomachischen Ethik). 247 Daher weicht Aristoteles von der einseitigen platonischen Verfallsgeschichte der stasis ab, die überdies – wie Skultety 2009, 365 f. erläutert – einseitig stets irrationale Begierden für Verfassungsänderungen verantwortlich macht. 248 So etwa Pol. V, 2: 1302a28 f. 249 »[…] unwilling subjects are for him [= Aristotle; B. L.] a symptom of constitutional injustice […]« (Roberts 2009, 556). 250 Vgl. Gehrke 2011 126. 251 Gehrke 2011, 124 [Hervorhebung durch Unterstreichung; B. L.]. Ähnlich Schütrumpf in seinem 2012 in Madrid gehaltenen Vortrag »Aristotle and the language of emotion in the Politics: taking emotional reactions seriously«. Polansky 1991, 327 sowie Mulgan 1977, 121 betonen ebenfalls die subjektive Seite des empfundenen Unrechts. Angebliche oder reelle Ungerechtigkeiten sind übrigens nicht nur potentiell stasisauslösend, wenn sie in der Gegenwart empfunden werden, sondern Umwälzungen können auch aufgrund vergangener Schandtaten oder sogar wegen bloß für die Zukunft befürchteter stattfinden (vgl. Pol. V, 3: 1302b21–24).

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bild des Aristoteles widersprechen, aber dennoch kann unter bestimmten Umständen eine normativ weniger wünschenswerte Verfassung dennoch als die für diese Polis angemessene Gemeinschaftsordnung zu beurteilen sein. 252 Pragmatisch soll also die Mehrheit der Bürger (oder idealerweise sogar alle) dieselben Gleichheits- und Gerechtigkeitsauffassungen teilen und besonders im Maßstab der Gleichheit nach Würdigkeit zu denselben Ergebnissen gelangen. Selbstverständlich bleibt normativ zu wünschen, dass diese Machtordnung eine solche ist, mit der alle leben können und somit die Polis nicht stets mit staseis zu kämpfen hat. Ebenso hofft Aristoteles natürlich, dass dieses machtpolitische Gleichgewicht nicht normativ krass von seinen eigenen normativen Wünschen abweicht. Tatsächlich sind zwar mit dem Typus der Demokratie und der Oligarchie zwei für Aristoteles normativ nicht besonders erstrebenswerte Verfassungstypen am häufigsten in Griechenland zu finden, 253 dennoch gibt es im Maß ihrer Ungerechtigkeit Grenzen: Schließlich haben sie immer noch an einem Stück des Gerechten teil. 254 Entsprechend sind vor allem die Extremformen mit völliger Vereinseitigung eines Gleichheitsbegriffs hochgradig gefährdet (sei es, dass Gruppen über die Interpretation der Gleichheit nach Würdigkeit streiten, sei es, dass eine Polis einseitig nach der Gleichheit nach Würdigkeit oder der Gleichheit der Zahl nach geordnet wird) 255. Bereits die letzten Zitate legen eine wichtige Tendenz auch der häufig fälschlicherweise so genannten empirischen 256 Bücher IV–VI der Politik offen. Gerade im zentralen stasis-Buch, also dem V. Buch, belehrt uns Aristoteles über die höchst zentrale Rolle der Gleichheit und des Gerechten. Mehrfach betont er hier, dass unterschiedliche Gleichheitsauffassungen die Hauptursache für staseis sind (»Überall Vgl. Pol. IV, 11: 1296b9–12. Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–36 und Pol. V, 1: 1301b39–1302a4. 254 Vgl. vor allem die bisherigen Ausführungen, aber auch Pol. V, 1: 1301a35 f. 255 Vgl. Pol. V, 1: 1301b28–1302a8. In Demokratien gibt es Aufstände der oligarchischen Gruppen wegen einer gefühlten Gleichheit trotz beanspruchter Ungleichheit, umgekehrt in Oligarchien wegen einer gefühlten Ungleichheit trotz beanspruchter Gleichheit (vgl. Pol. V, 3: 1303b3–7). 256 Kraut 2002, 446 bemerkt dazu, dass Aristoteles sich nicht auf ein bloß deskriptives und empirisches Projekt beschränke, sondern auch in Pol. IV–VI noch Wert auf eine normative Taxonomie lege und wie die herrschenden Verhältnisse zum Positiven verändert werden könnten. Zu einer weiteren Kritik der jaegerschen Begriffsverwendung siehe Schütrumpf 1991a, 53. 252 253

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nämlich entsteht der Aufruhr durch das Ungleiche […] Mit einem Wort: man lehnt sich auf, weil man nach dem Gleichen strebt.« 257) bzw. sich die verschiedenen Verfassungstypen aus Meinungsverschiedenheiten in den Auffassungen über das Gerechte und Gleiche ausdifferenzieren (»Man muss als Ausgangspunkt zuerst annehmen, dass viele Verfassungen [darum] entstanden sind, weil zwar alle [in den grundsätzlichen Begriffen] des Gerechten und des proportional Gleichen übereinstimmen, dies[e] aber [trotzdem] verfehlen […]« 258). Wie Aristoteles im selben Kapitel mehrmals ausdrücklich bestätigt, unterfüttern die Demokraten und die Oligarchen ihren Machtanspruch also durchaus mit normativen Argumenten 259 und verweisen nicht bloß auf ihre Stärke. Dabei führen die Oligarchen an, dass sie mit ihrem größeren Reichtum auch mehr zur Gemeinschaft beitragen und folgern also aus der Ungleichheit an Besitz auch eine UnPol. V, 1: 1301b26–29. Pol. V, 1: 1301a25–28. Aristoteles betrachtet dies im – hier fehlenden – Folgehalbsatz als Rekapitulation früherer Erwägungen (vermutlich denkt er hier an Pol. III, 9). 259 Vgl. Pol. V, 1: 1301a28–36 bzw. Pol. V, 1: 1301b35–39. Später werden wir auch in der Besprechung der Demokratie und der Oligarchie sehen, dass das Gerechte auch in den Büchern IV–VI immer noch eine wichtige Rolle spielt: Schließlich verstehen sich die Demokraten und Oligarchen selbst nicht als despotische reine Machtmenschen, sondern betrachten bestimmte Gemeinschaftsordnungen als gerecht und nützlich auf dem Weg zum guten Leben. Gerade in den Büchern IV–VI charakterisieren sich diese beiden Verfassungstypen immer wieder selbst über ihre Auffassungen des Gerechten und Gleichen (vgl. dafür v. a. Pol. V, 1 und Pol. VI, 2 (für die Demokratie)). Somit verabschiedet Aristoteles also das Gerechte und Gleiche in seiner wichtigen Rolle für die Entstehung, die Erhaltung und das Vergehen von Verfassungen keineswegs völlig. Auch historisch trifft die schütrumpfsche These von der fast vollständigen Ersetzung des Gerechten durch Erwägungen der jeweiligen Stärke das Selbstverständnis der Demokraten und Oligarchen sicherlich nicht: Der berühmt-berüchtigte »Melierdialog« ist kein Gegenbeispiel, da es hier um das »außenpolitische« Verhältnis zwischen verschiedenen Poleis geht. Ebenso konnte sich Athen zwar selbst als polis tyrannos verstehen (dazu siehe Raaflaub 1985, 37, 170 f. und 324; zur Erklärung der Anwendbarkeit 180–184), aber dies betraf ebenfalls nur das Verhältnis zu anderen Poleis und meinte nicht, dass der dêmos sich in seinem Selbstverständnis im Innern tyrannisch verhielt. Die Passagen Pol. IV, 11: 1296a40–b2 und Pol. VI, 3: 1318b4 f. beziehen sich in ihrem Kontext deutlich auf eine vermittelnde Position in den Auffassungen des Gerechten und Gleichen, welche die Demokraten und Oligarchen in ihrer Radikalität nicht zulassen und hier ihre Stärke und Macht ausspielen. Nun stellt aber die fehlende Kompromissbereitschaft in Fragen des Gerechten und Gleichen nicht in Frage, dass diese Gruppen selbst bestimmte Auffassungen des Gerechten und Gleichen vertreten; an beiden Stellen werden im Umkreis der genannten Zeilen nämlich Fragen des Gerechten und Gleichen bzw. des Gemeinwohls erörtert. 257 258

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gleichheit an politischen Rechten. Umgekehrt erklären die Demokraten die Gleichheit an Freiheit aller Bürger zum wesentlichen Gesichtspunkt und plädieren also für eine absolute politische Gleichberechtigung. Entsprechend fühlen sich die Oligarchen in Demokratien zu Unrecht gleich behandelt und die Demokraten in Oligarchien zu Unrecht ungleich behandelt. Ergänzenswert wäre hier noch die Bemerkung, dass alle nicht-demokratischen Verfassungstypen die absolute Gleichheit der Demokraten als Verstoß gegen die auf das Verdienst achtende Gleichheit nach Würdigkeit betrachten und sie stattdessen als nivellierende Gleichheit der Zahl denunzieren. Wie bereits mehrfach dargelegt, einigen sich die verschiedenen Gruppierungen auch nicht über die inhaltliche Füllung des Kriteriums für die Gleichheit nach Würdigkeit. Somit tobt also ein erbitterter Streit um absolute oder proportional abgestufte Gleichheit, den Aristoteles – wie gesagt – vermittelnd dadurch gelöst wissen möchte, dass beide Gleichheiten verwendet werden sollen. 260 Detailliert identifiziert Aristoteles als besonders wichtige Hauptgegenstände von Aufständen Ehre und Gewinn sowie ihre Gegenteile. 261 Dabei spielt das Laster der pleonexia, des Mehrhabenwollens, eine zentrale Rolle: Wer ungerechtfertigterweise mehr haben will, verstößt damit gegen die Gleichheit. 262 Gerade dies ist in der Politik jedoch gang und gäbe 263 bzw. vermuten dies die beteiligten Gruppierungen als Motiv hinter den Taten der anderen: Wie wir bereits gesehen haben, teilen sich sowohl die Demokraten als auch die Oligarchen gerne einen größeren Anteil zu, als Aristoteles ihnen als gerechtfertigt zuweisen würde. Umgekehrt vermuten beide Fraktionen hinter anderen Rechts- und Machtordnungen gerne eine ungerechtfertigte Minderberücksichtigung der eigenen doch allein gerechtfertigten Ansprüche auf Gleichheit oder Ungleichheit und somit eine schändliche

Vgl. Pol. V, 1: 1302a2–8. Vgl. Pol. V, 2: 1302a31 f. und Pol. II, 7: 1266b38–1267a2. Zur Rolle der Ehre speziell Pol. V, 3: 1302b10–14. Machtstellungen rufen häufig das Gefühl hervor, dass man selber ungerecht benachteiligt wird (vgl. Pol. V, 4: 1304a33–38). Entsprechend stellt er etwa für Aristokratien, Politien und Oligarchien ausdrücklich fest, dass sie meistens an Versäumnissen in der Frage des Gerechten scheitern: Für die Aristokratien vgl. Pol. V, 7 speziell Pol. V, 7: 1307a5–7, wo dies auch für die Politien festgestellt wird. Oligarchien können stabil sein, wenn sie gerecht gegenüber dem dêmos agieren (vgl. Pol. V, 8: 1308a3–11). 262 Vgl. EN V, 2: 1129a32 f. 263 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–b2. 260 261

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pleonexia der Machthaber. 264 Interessanterweise neigen die Leute aus dem Volk laut Aristoteles stärker zu Aufständen aufgrund ihrer angeblichen oder tatsächlichen Benachteiligung in Besitzfragen, die Reichen hingegen wegen ihrer angeblichen oder tatsächlichen Benachteiligung in Ehrenfragen. 265 Obwohl Aristoteles auch die pleonexia des Volkes für unvernünftig hält, beurteilt er die Habgier der Reichen als schlimmer. 266 Natürlich könnten wir uns damit bescheiden, dass die Reichen und Armen eben nach einem Übermaß an Ehre und Besitz streben, aber Aristoteles erklärt dies noch tiefer: Damit meine ich nicht, dass vulgärpsychologisch ganz verständlich ist, dass die armen Habenichtse gerne mehr Besitz hätten und die Reichen zusätzlich zu ihrem Besitz auch gerne angesehen sein möchten. Stattdessen möchte ich einerseits darauf hinaus, dass hinter diesen Haltungen für Aristoteles ein tieferes psychologisches movens steckt: Letztendlich sind solche Leute von ihren Begierden (epithymiai) und Affekten (pathê) geleitet und insofern unvernünftig zu nennen. 267 Auch hier liegt eigentlich wieder eine falsche Sicht auf die eudaimonia zugrunde, denn die Vielen wählen – wie bereits hinlänglich durch die EN bekannt – die Lebensform der Lust, während die Reichen mit dem Reichtum gar nur ein Mittel zu ihrem letzten Zweck erklären. Da also für Aristoteles das eigentliche Kranksein in der pleonexia nach Besitz oder Ehre in der unersättlichen Begierde liegt, 268 sind seine Heilungsvorschläge auch nicht auf eine Veränderung der Besitz- oder Ehrenverhältnisse beschränkt. 269 Zwar ist dies durchaus 264 Vgl. etwa als Beispiele Pol. V, 3: 1303b3–7 oder Pol. V, 2: 1302a22–31. Ganz allgemein und nicht bloß in Bezug auf die Demokraten und Oligarchen wird dies in Pol. V, 2: 1302a38–b2 formuliert. Wheeler 1951, 160 und Yack 1993, 209–218 argumentieren gegen marxistische Interpretationen, die in Aristoteles einen Klassenkampf hineindeuten. 265 Vgl. Pol. II, 7: 1266b40–1267a2. 266 Vgl. EN IX, 8: 1168b15–21 für die unvernünftig-übermäßige Jagd der Vielen nach Geld, Ehre und körperlichen Lüsten mit dem Vergleich der pleonexia der beiden Gruppierungen in Pol. IV, 12: 1297a11–13. Rhet. II, 16 zeichnet im Übrigen ein recht lebendiges Charakterbild der Reichen. 267 Vgl. EN IX, 8: 1168b15–21. In der Rhetorik bestreitet Aristoteles daher, dass Armut und Reichtum die Leute zu Handlungen treibt, sondern diagnostiziert dahinter bestimmte Begierden (vgl. Rhet. I, 10: 1369a11–15). 268 Für die Vielen festgehalten in Pol. II, 7: 1267a41–b5, für die angeblich widernatürliche Unbegrenztheit des Gelderwerbs Pol. I, 9. 269 Wheeler 1951, 152 benennt solche Stellen als wichtige Einschränkung allzu stark auf ökonomische Interpretationen festgelegter stasis-Analysen.

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ein wichtiger Aspekt, zumal so tatsächliche Ungerechtigkeiten beseitigt werden können. Allerdings finden – wie wir im folgenden Kapitel noch einmal sehen werden – auch ungerechte Aufstände statt, denn für eine stasis reicht eben auch eine bloß gefühlte Ungerechtigkeit, auch wenn diese tatsächlich nicht wirklich begangen worden ist. Weil sowohl Reiche als auch Arme in unvernünftiger Weise übermäßig den Begierden verfallen sind, sind beispielsweise Besitzreformen sicherlich durchaus nützlich, aber letztlich ist eine Gleichheit der Begierden im Sinne ihrer Mäßigung durch eine Erziehung gemäß den Gesetzen wesentlich wichtiger als eine Besitzreform. 270 Aristoteles vertritt nämlich die Meinung, dass die meisten und schwerwiegendsten Verbrechen nicht aus purer Existenznot, sondern aus Begierde nach noch mehr Besitz oder Ehre begangen werden. Daher verhütete eine Reform der Besitzverhältnisse – wie sie etwa Phaleas von Chalkedon vorgeschlagen hat – seiner Ansicht nach nur die kleinen Verbrechen. 271 Entsprechend sollten die Anständigen zur Ablehnung der pleonexia hin erzogen werden und die Schlechten von ihrer Ausübung abgehalten werden, indem sie einerseits schwach gehalten werden und andererseits ihnen auch kein Anlass durch Ungerechtigkeiten gegeben werden soll. 272 Daher müssen durch Gesetze vorrangig die Begierden geregelt werden. Nur so wird das Übel wirklich an der Wurzel gepackt, denn ein bloßer Ausgleich etwa des Besitzes gemäß des Gerechten schlechthin änderte nichts an der verzerrten Wahrnehmung der pleonexia-geplagten Armen und Reichen. Noch einmal sei abschließend betont, dass die Unvernunft der Nicht-Tugendhaften nicht als absolut aufzufassen ist: Selbstverständlich sind die normativen Ziele der Armen und Reichen – wie wir auch

270 Vgl. Pol. II, 7: 1266b24–31. Gerade solche und weitere bisher schon zitierte und zukünftig angeführte Stellen führen mich zu einer Korrektur von Skultety 2009. Sicherlich hat er in seiner Kritik mancher allzu platonistischer Interpretationen Recht, dass die Aufrührer in einer stasis nicht zwingend als irrationale Figuren gelten sollten. Insofern gehe ich mit Skultety konform, stasis dürfe nicht »always being explained by uncontrolled, irrational appetite« (Skultety 2009, 347). Dennoch stecken hinter den nicht komplett unvernünftigen Zielen der Ehre oder des Reichtums eben doch bestimmte Begierden, welche in einem wohl abgewogenen Sinne unvernünftig genannt werden müssen. Kraut 2002, 144 bezeichnet als tiefere Ursache ungerechter Handlungen der Demokraten und der Oligarchen ihre emotionale Unordnung, nämlich die exzessiven Begierden der Reichen und Verachtung und Neid bei den Armen. 271 Vgl. Pol. II, 7: 1267a2–17. 272 Vgl. Vgl. Pol. II, 7: 1267b5–9.

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im dritten Teil der Arbeit sehen werden – nicht komplett unvernünftig, sondern haben durchaus eine eingeschränkte Richtigkeit. Vor allem die Verabsolutierung ihrer Ziele ist für Aristoteles problematisch, nicht aber dürfen wir sie als an sich völlig falsche Ziele denunzieren. 273 Sicherlich bleibt Aristoteles stets der Auffassung, dass divergierende Auffassungen über das Gerechte und Gleiche der mit Abstand allerwichtigste Faktor für Aufstände sind. Dennoch darf die tatsächlich überragend wichtige Rolle der Auffassungen über Gerechtes und Gleiches nicht vollkommen überbetont werden. Man sollte nicht alle staseis auf Probleme des Gleichen und des Gerechten reduzieren, wenn diese genannten Themen sicherlich auch zu den wichtigsten gehören. In Pol. V, 2 zählt Aristoteles nämlich weitere stasis-Auslöser auf, etwa Gewalttätigkeit, Angst, Machtübergewicht, Verachtung und ein das rechte Verhältnis überschreitendes Anwachsen; teilweise haben manche dieser Faktoren auch mit Gleichheit oder Gerechtem zu tun, teilweise liegen sie abseits dieser Problematik. 274 Skultety resümiert daher treffend: »Stasis is not everywhere and always a symptom of a single ›root‹ cause and it is most certainly not to be explained by appetites running amok.« 275 Ebenso bleibt festzuhalten: »[…] if we had to pick just one element to play the leading role in the Aristotelian drama of stasis, it would surely be the content of the agents’ rational beliefs concerning what is just, appropriate and beneficial.« 276

273 Darin treffe ich mich mit Skultety 2009, 351, Fußnote 11, ebenso auch mit seiner Interpretation, dass Aristoteles die einseitige platonische Herleitung von staseis allein durch Begierden als lächerlich betrachte (für letzteren Punkt siehe Skultety 2009, 367). Während ich also mit Skultety übereinkomme, dass die nicht-tugendhaften Aufrührer nicht völlig irrational sind und ihre Ziele ebenso wenig, teile ich auf der anderen Seite jedoch nicht seine These, sie seien letztlich nicht durch Begierden motiviert sowie ihre inhaltliche Ausfüllung der eudaimonia bestehe nicht in Ehre, Reichtum (und Macht). 274 Vgl. Pol. V, 2: 1302b2–Pol. V, 3: 1303a13 und Pol. V, 10: 1311a33–1312a14. 275 Skultety 2009, 366. 276 Ebd.

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Hängen Gerechtigkeit und Stabilität einer Verfassung zusammen?

2.4 Hängen Gerechtigkeit und Stabilität einer Verfassung zusammen? Nachdem anscheinend eine der größten Sorgen der Gesetzgeber das Problem der stasis ist, 277 widmet Aristoteles solchen Themen nicht nur das gesamte V. Buch der Politik, sondern äußert sich auch an anderen Stellen breit über dieses Thema. Daher wollen wir nun das im letzten Kapitel angesprochene Problem noch ausführlicher untersuchen, ob das Ausmaß des Gerechten und die Stabilität einer Verfassung zusammenhängen. In seiner Diskussion mit Thrasymachos kommt Sokrates im I. Buch der Politeia zu einem eindeutigen Ergebnis: Ungerechtigkeit führt zu Zwietracht, Hass und Streit, die Gerechtigkeit jedoch zu Eintracht und Freundschaft. 278 Auf den ersten Blick scheinen verschiedene Stellen im Corpus Aristotelicum genau diese These auch für Aristoteles nahezulegen. So schreibt Aristoteles im siebten Buch der Politik anscheinend unmissverständlich: »Und es ist schwierig, dass eine Verfassung fortbesteht, die gegen das Gerechte verstößt.« 279 Nun gibt es verschiedene Deutungen, wie man diesen Satz interpretieren könnte bzw. ob man ihn überhaupt für das gesamte Werk Politik beanspruchen darf. Schließlich muss die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass Aristoteles diese These nur in Pol. VII vertritt, nicht jedoch in den anderen Büchern. Wie bereits angedeutet, halte ich Pol. VII und Pol. VIII für einen eigenständigen Block, der in seinen Lehren in vielen Punkten vom Rest der Politik wesentlich abweicht. Aber dies mag auf sich beruhen. Indes gibt es auch eine schwache Lesart, die mit dem Rest des Werkes kompatibel ist. Schließlich haben auch Demokratien oder Oligarchien an einem Stück des Gerechten teil. 280 Schütrumpf liest Pol. VII, 14 dagegen so, dass nur Verfassungen, welche die normativen Wünsche von Aristoteles zur Gänze erfüllen, stabil sein können. 281 Auch Seel verknüpft die Stabilität einer Polis mit den normativen Idealvorstellungen des Aristoteles: »Die Untersuchungen des Vgl. EN VIII, 1: 1155a25 f. Vgl. Politeia I. Buch 351d. 279 Pol. VII, 14: 1332b27–29 (tên synestêkyian para to dikaion wird bekanntlich durch die meisten Übersetzer recht frei wiedergegeben, ich schließe mich in meiner Übersetzung dieses Halbsatzes bis auf die Wiedergabe von dikaion Schütrumpf an). 280 Vgl. das bereits oft zitierte Pol. V, 1: 1301a35 f. 281 Vgl. Schütrumpf 1980, 230. 277 278

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Buches Ε haben ja u. a. als Ergebnis, daß eine Verfassung und eine Polis umso stabiler sind, je mehr sie den Vorstellungen des Aristoteles vom ›idealen Staat‹ entsprechen.« 282 Im Gegensatz zu Schütrumpf, der eine solche These bekanntlich wegen seinem genetisch-analytischen Ansatz nicht dem ganzen Werk zuschreibt, dehnt Seel diese These unbekümmert auf das gesamte Werk Politik aus und verstößt damit gegen zentrale Einsichten etwa des V. Buches. Allerdings spricht gegen diese allzu starke Verknüpfung von Stabilität und Gerechtigkeit, dass aus einer Instabilität einer ungerechten Ordnung logisch nicht die Stabilität einer gerechten Ordnung folgt. Vielmehr möchte Aristoteles die wesentlich weniger weitreichende These vertreten, dass lediglich extreme Ungerechtigkeiten per se instabil sind. Diese Interpretation von Pol. VII, 14 würde Aristoteles auch nicht zumuten, in einen krassen Widerspruch zur politischen Wirklichkeit zu geraten: Wie ein Blick auf die machtpolitische Landkarte der damaligen Zeit lehrt, sind die laut Aristoteles als ungerecht zu betrachtenden Verfassungstypen der Demokratien und Oligarchien vorherrschend. 283 Besonders interessant ist jedoch natürlich die Frage, wie Aristoteles dieselbe Problematik im Hauptteil der Bücher I–VI löst. Manche Interpreten legen auch hier einen stärkeren Zusammenhang zwischen der Stabilität einer Verfassung und ihrer Annäherung an das Gerechte an sich nahe. Rosler behauptet nicht nur einen allgemeinen Zusammenhang zwischen dem Gerechten und der Stabilität, sondern sieht dies gar in den Büchern IV–VI ebenfalls am Werk. 284 Oder Roberts meint: »In other words, deviant constitutions are preserved only Seel 1990, 62. Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–36 und Pol. V, 1: 1301b39–1302a4. Viel weitgehender jedoch Yack 1993, 196: Die Klasse der richtigen Verfassungstypen sei leer, also nirgends verwirklicht. Insofern radikale Demokratien – wie wir auch später sehen werden – keinen »Instabilitätsautomatismen« erliegen, ist die Demokratie in gewisser Weise ein Grenzfall für die These, dass größere Ungerechtigkeiten zur Instabilität führen werden. Für die Demokratie stellt Aristoteles auch ausdrücklich fest (vgl. Pol. VI, 6: 1321a1 f.), dass die Demokratie mitnichten durch ihre Auffassung des Gerechten nach Würdigkeit gerettet werde, sondern vielmehr durch ihren Volksreichtum. 284 Vgl. Rosler 2005, 22 mit ebenda, 35 f.: »Whereas many would raise their eyebrows at this claim for the stability of just constitutions if it appeared in the context of the so-called ›empirical books‹ […] we may be confident that this claim is quite at home here.« Auch Hatzistavrou 2013, 291 verknüpft Gerechtes und Stabilität in starker Weise. 282 283

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by moving them toward justice.« 285 Dagegen spricht freilich der erwähnte Umstand, dass die normativ verfehlten Verfassungen der Demokratie und Oligarchie die häufigsten Typen sind. Demgegenüber müsste die These von Roberts implizieren, dass Demokratien und Oligarchien zur Politie tendieren müssten, um stabil zu sein. Jedoch sind weder Politien häufig, 286 noch überhaupt die normativ besten Demokratien und Oligarchien. Stattdessen dominieren die extremeren Varianten der Demokratie und Oligarchie. 287 Auch Miller nimmt einen stärkeren Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Gerechten und der Stabilität einer Polis an: Dabei verweist er einerseits auf drei Stellen im V. Buch (Pol. V, 1: 1307a26 f. und 1301b26 und Pol. V, 7: 1307a5–7) und andererseits auf das Prinzip der Einmütigkeit (homonoia). 288 Allerdings scheint eine von Miller abweichende Deutung dieser drei Stellen einige von dessen Problemen zu vermeiden: In 1307a26 f. sprechen die Beispiele (stasis von Aristokratie zu Demokratie oder von Politie zu Oligarchie) dagegen, die Aussage über die Stabilität der Gleichheit nach Würde dahingehend zu interpretieren, dass Aristoteles damit sozusagen den absoluten Standpunkt des Philosophen einnehme und nur gerechte Interpretationen der Gleichheit nach Würde stabil seien. 289 Schließlich sind von seinem eigenen Standpunkt aus Oligarchien und Demokratien grundsätzlich ungerechter in ihrer Interpretation des Gleichen nach Würdigkeit als Aristokratien oder Politien. Überdies darf nicht vergessen werden, dass laut Aristoteles alle darin übereinstimmen, dass das Gerechte in der Verteilung nach Würdigkeit geschehen müsse. 290 Insofern ist der Satz von 1307a26 f. inhaltlich überhaupt nicht festgelegt. Ebenso problematisch ist es, 1301b26 so zu lesen, dass nur dann staseis ausbrechen, wenn die Ungleichheiten vom »höheren Standpunkt des Aristoteles« aus ungerechtfertigt sind (nur dann wären es ja Verstöße gegen die Gerechtigkeit schlechthin). Auch hier Roberts 2005, 358. Vgl. Pol. IV, 7: 1293a39–b1 und Pol. IV, 11: 1296a22–36. 287 Dies legen vor allem Pol. IV, 11: 1296a22–32 und speziell für die Demokratie Pol. IV, 14: 1298b13–15 nahe. 288 Vgl. Miller 1997, 269. 289 Schütrumpf wiederum liest die Stelle anders, nämlich als Referat der Position der Überlegenen. Vgl. Schütrumpf 1996, 514 Anm. 65,25. Jedoch stimmen wir sicherlich darin überein, dass diese Stelle nicht den Sinn hat, den ihr Miller oder Newman 2010a, 251 verleihen möchten, nämlich dass das an sich Gerechte stabil sei. 290 Vgl. EN V, 6: 1131a25–29. 285 286

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möchte ich dafür plädieren, die Stelle normativ schwächer zu lesen und das im Kontext dieser Stelle angesprochene Streben nach Gleichheit der verschiedenen Bevölkerungsgruppen ernst zu nehmen. Interpretatorisch etwas komplexer ist 1307a5–7: Hier beschreibt Aristoteles tatsächlich, dass Aristokratien oder Politien am häufigsten darüber stürzen, dass sie vom Pfad des Gerechten abweichen. Allerdings scheint mir diese Stelle nicht für die generelle Regel von Miller auszureichen: »He also contends that stability is a consequence of constitutional justice […] and, conversely, instability of injustice.« 291 Dies scheint mir nämlich die anderen möglichen Umsturzfaktoren zu vernachlässigen und einen zu starken Zusammenhang zu behaupten. Tatsächlich können Ungerechtigkeiten Umstürze auslösen oder gerechte Regelungen die wichtigen Gruppen zufrieden stellen. Jedoch suggeriert Miller mit seiner Wortwahl zu sehr einen notwendigen Zusammenhang, als würden ungerechte Verfassungen letztlich früher oder später notwendigerweise über verfehlte Verhaltensweisen stürzen und gute Verfassungsordnungen in der Regel stabil bleiben. Gerade bei Oligarchien mag dies noch eher zutreffen, da mit dem ungerechten Ausschluss des dêmos häufig tatsächlich eine kürzere Lebenserwartung einhergeht. Aber wir werden sehen, dass nicht einmal dieser Effekt notwendig eintritt. 292 Zwar bemerkt Miller an anderer Stelle: »But faction arises from the perception that they are victims«, 293 bringt jedoch in den nächsten Sätzen lauter Beispiele von tatsächlichen und nicht nur gefühlten Ungerechtigkeiten. Entsprechend kommt er am Ende der betreffenden Passage zum Schluss: »A central thesis of Book V, therefore, is that the further a constitution deviates from justice the less it is able to last.« 294 Letztlich berücksichtigt Miller meines Erachtens die Wichtigkeit des Standpunktes der Bevölkerung zu wenig und unterschätzt den Realismus des Aristoteles. Sicherlich gibt Aristoteles seine eigenen normativen Maßstäbe auch in den Büchern IV–VI nicht auf, jedoch lässt er nicht die eigenen normativen Vorstellungen die Wirklichkeit verzerren. Schließlich sind gerade die ungerechten Verfassungstypen vorherrschend und die gerechten eher selten. Daher würde ich – in Miller 1997, 269. Bereits jetzt sei darauf hingewiesen, dass beispielsweise Pol. IV, 13: 1297b6–8 dies für eine Oligarchie nachweist. 293 Miller 1997, 296. 294 Miller 1997, 296. 291 292

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Übereinstimmung mit den Interpretationsergebnissen des letzten Kapitels – dafür plädieren, obigen millerschen Satz folgendermaßen umzuformulieren: »Die Stabilität einer Verfassungsordnung wird erhöht, wenn die Meinungen der relevanten Bürgergruppen über das Gute, Gerechte 295 und Nützliche berücksichtigt werden; umgekehrt werden staseis wahrscheinlicher, wenn solche Vorstellungen ignoriert werden«. Hingegen sind bestimmte Verletzungen des Gerechten schlechthin nicht unbedingt stasisauslösend, da beispielsweise die Ansprüche der Besten wegen ihrer extremen numerischen Unterlegenheit von den anderen Gruppierungen bequem überstimmt werden können. Nur sehr krasse Verstöße gegen das Gerechte schlechthin werden in diesem Fall wohl problematisch genug sein, vermutlich v. a. dann, wenn Ansprüche einer relevanten Gruppe völlig ignoriert oder gar extrem repressiv unterdrückt werden und so weiteren Widerstand regelrecht herausfordern. 296 Nun lässt sich natürlich fragen, ob wir aus der Stabilität einer Verfassung auch Rückschlüsse auf ihren Anteil am Gerechten ziehen können. Dafür spräche, dass Aristoteles in Pol. II, 11 es ein Zeichen einer guten Ordnung nennt, wenn sie durch das Volk nicht umgestürzt werde. 297 Allerdings spricht Aristoteles hier streng genommen nur davon, dass dies ein Indiz sei, nicht jedoch, dass die Stabilität alleine schon Rückschlüsse auf ihre Gerechtigkeit zulasse. Bereits eine Stelle aus dem vorangehenden Kapitel sät erste Zweifel: Aristoteles verneint ausdrücklich, dass das Ruhigbleiben des Volkes trotz seiner Nicht-Beteiligung an den kosmoi-Ämtern zeige, dass diese Regelung schön sei. 298 Noch wesentlich eindrücklicher ist der umgekehrte Fall: Es gibt nämlich als gut charakterisierte Verfassungen, die dennoch wegen der Unzufriedenheit bestimmter Gruppen gestürzt werden: Zwar charakterisiert Aristoteles in Pol. V, 6 die oligarchische Regierung der Basiliden in Erythrai ausdrücklich als gut, dennoch wurde sie vom Volk

Was natürlich auch die Gleichheitsvorstellungen mit umfasst. Anders als Miller 1997, 290 f. beschränke ich die Gefahr einer stasis nicht darauf, wenn ein überlegener Teil der Polis seiner politischen Rechte beraubt wird. Selbstverständlich können auch unterlegene Teile einen Aufruhr beginnen. Umgekehrt kann ein eigentlich überlegener Teil sich seiner eigenen Macht noch nicht bewusst sein und daher keine stasis wagen. 297 Vgl. Pol. II, 11: 1272b30–32. 298 Vgl. Pol. II, 10: 1272a39 f. 295 296

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gestürzt. 299 Dies setzt daher ein Fragezeichen hinter die These von Miller: »[…] he [= Aristotle; B. L.] assumes that a government that promotes everyone’s interests will have everyone’s approval.« 300 Zwar könnte man eigentlich mit Miller zwischen einer einhelligen Unterstützung der Regierung durch die Bürger und einer bloßen Mehrheitsherrschaft unterscheiden. Jedoch habe ich bereits in früheren Kapiteln dagegen argumentiert, wie Miller den Begriff homonoia in der Politik zu verwenden. Dadurch beachtet er nicht den Unterschied zwischen der Konzeption der EN und derjenigen der Politik. Überdies sprechen die von ihm angeführten Stellen (Pol. II, 9: 1270b21–22; IV, 9: 1294b34–40; VI, 5: 1320a14–17) im Gegensatz zur homonoia-Stelle in EN IX, 6 nicht von einer umfassenden Einigkeit in Fragen des Gerechten und Nützlichen, sondern stellen nur die faktische Einigkeit fest. Worin diese gegründet ist, bleibt offen. Überdies ist die millersche Form der Zufriedenheit normativ nicht derart bindekräftig wie die tatsächlich in der Politik häufiger vorkommende Übereinstimmung in Fragen des Gerechten und Nützlichen. Einmütig geteilte Überzeugungen sind ja grundsätzlich wesentlich stabiler und bindekräftiger als die in den von Miller angegebenen Stellen angesprochene Zufriedenheit mit dem Status quo. Wer mit seinen Mitbürgern in den wichtigen Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen übereinstimmt, schafft eine stärkere Gemeinschaft, die vielleicht auch schwierigere Zeiten durchstehen kann. Wer hingegen nur mit der derzeitigen Politik einigermaßen zufrieden ist – und nicht mehr verlangen einige dieser Stellen – ist sozusagen nicht »ideologisch« mit der Regierung einverstanden, sondern nur »pragmatisch«. So kann etwa ein Anhänger der wahren Aristokratie im damaligen Athen den Erhalt der gerade amtierenden demokratischen Regierung befürworten, jedoch nur aus dem Grunde, dass er die gerade wichtigeren Vertreter der oligarchischen Richtung verhindern will. Sobald aber bessere Leute in der oligarchischen Richtung vertreten wären, würde er dann vielleicht ihre Sache unterstützen. Dagegen kann Miller nicht erklären, warum er den besten Subtypen der Demokratie und Oligarchie ausdrücklich zuspricht, dass in 299 Vgl. Pol. V, 6: 1305b18–22. Erythrai ist also gewissermaßen ein Mahnmal dafür, das Volk unbedingt an der Politik zu beteiligen. Karthago hingegen hat klugerweise alle Gruppen in irgendeiner Weise beteiligt (vgl. Pol. II, 11) und damit die Lehre beherzigt, dass alle relevanten Gruppen die Polis unterstützen sollten (vgl. Pol. II, 9: 1270b21 f.). 300 Miller 2007a, 31 Anmerkung 7.

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ihnen die Bürger einmütig sind (zumindest in der negativen Form der »universal non-opposition«), 301 aber – was er gar nicht als Problem aufwirft – die besten Vertreter vor allem historische Beispiele sind und nun die radikalen Subtypen an der Macht sind. Indes lässt sich diese Entwicklung ohne Probleme erklären, wenn man – wie der Verfasser vorliegender Arbeit – die homonoia von der Übereinstimmung in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen trennt sowie diese beiden Formen wiederum von dem normativ nicht besonders anspruchsvollen Zufriedensein mit dem Status quo. Besonders gut sollen sich diese Lehren die Regierenden einprägen, denn Ungleichheiten ohne entsprechend akzeptierte Proportionsrechtfertigungen sind oft der Auslöser von Aufständen. 302 Aristoteles vertritt nicht die naive These, die in Politeia VIII. Buch 545d diskutiert und bejaht wird, dass ein Regierungswechsel immer von Veränderungen bei den Herrschenden bedingt sei und diese, solange sie einträchtig seien, nicht stürzen könnten. Demgegenüber kann eine Regierung bei Aristoteles vor allem dann auf Stabilität hoffen, wenn sie die Gleichheit nach Verdienst aus Sicht ihrer Untertanen korrekt beachtet und jeder das Seine genießen darf. 303 Wenn nämlich die Untertanen überhaupt nicht mehr entsprechend ihrer (eigenen Wahrnehmung von) Gleichheit und Würdigkeit behandelt werden, dann maßen sich der oder die Herrscher in der Sichtweise der Untertanen eine ungerechte Missachtung berechtigter Ansprüche ihrer Mitbürger an. Indem sich nämlich dann die Herrscher als Herren über alles aufschwingen, entehren sie den Rest der Bürgerschaft und zerstören so in mehrfacher Hinsicht die politische Gemeinschaft. Eigentlich sollte eine politische Gemeinschaft ein gemeinsames »freundschaftliches« Suchen nach dem guten Leben sein, aber eine komplette und ungerecht empfundene Ungleichbehandlung bestimmter Gruppen führt wohl kaum zu einer sinnvollen Kooperation. Auch nicht vernachlässigt werden darf die machtpolitische Seite: Aufgrund ihrer verschiedenen Leistungen glauben sich verschiedene Gruppen ja berechtigt, an den Ämtern der politischen Ordnung mitwirken zu können. Wenn nun einer Gruppe dieser Zugang komplett verwehrt wird, fühlt sich diese nicht mehr der Polis zugehörig und ist daher in ihrer Macht- und Rechtlosigkeit mit Fremden zu ver301 302 303

Miller 1997, 271. Vgl. Pol. V, 1: 1301b26–32. Vgl. Pol. V, 7: 1307a26 f.

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gleichen 304. Wer aber nicht gemäß seinen Vorstellungen an der politeia teilhat und so keine Möglichkeiten hat, seine Vorstellungen über das Gute, Gerechte und Nützliche einfließen zu lassen, der versteht sich nicht mehr als Teil der politischen Gemeinschaft, da der Rahmen des guten Lebens ohne ihn gestaltet wird. Entsprechend wird er der herrschenden politischen Ordnung schwerlich gewogen sein, 305 weswegen Aristoteles die (durchaus auch falsch sein könnenden) Meinungen zur gerechten Teilhabe als besonders wichtigen Grund für Bürgerkriege nennt 306. Dahinter stecken selbstverständlich mehrere mögliche Motivationen: 307 Einerseits können sich die an der Verfassung Unbeteiligten daran stören, dass sie an der gemeinsamen Beratung über das gute Leben nicht beteiligt werden und so ihre normativen Vorstellungen nicht berücksichtigt werden; andererseits kann simple Machtgier der eigentliche Grund sein oder – normativ vielleicht etwas sympathischer – die Wahrnehmung, dass die eigene Leistung für die Polis nicht genügend mit Ehre vergolten wird 308. Wir werden im Kapitel zur Aristokratie sehen, dass eine allzu radikale Aristokratie durch den kompletten Ausschluss des dêmos von der Macht sowohl in Hinsicht auf die normative Beurteilung als auch die Stabilität als verfehlt zu betrachten ist und das Kapitel Pol. III, 11 dieses komplexe Problem feindlicher Gefühle der von den Ämtern Ausgeschlossenen in den Griff bekommen muss 309. Genau an solchen Problemen scheitert in der Sicht des Aristoteles auch die übertriebene (Geistes-)Aristokratie der Philosophenkönige. 310 Derartige oder ähnliche Probleme erschüttern natürlich eine politische Gemeinschaft in ihren Grundfesten. Daher ist auch klar, dass solche als extrem wahrgenommenen Herrschaftsformen in der Regel Vgl. Pol. III, 5: 1278a36–38. Aristoteles schildert solche Sachverhalte in immer wiederkehrenden, leicht variierten Formulierungen: vgl. Pol. II, 8: 1268a23–25, Pol. II, 8: 1268a39 f. oder noch deutlich das bereits zitierte Pol. III, 5: 1278a36–38. 306 Vgl. als generelle Aussage Pol. V, 1: 1301a37–39. Da die Angelegenheit für die elitären Formen ohnehin klar ist, verweise ich dafür auf die entsprechenden Kapitel; für Demokratien und Oligarchien siehe Pol. V, 3: 1303b3–7. 307 Wheeler 1951, 151 beschreibt die aristotelische stasis-Konzeption als komplex, wobei moralische und politische Angelegenheiten als wichtigste Motivationen gelten könnten, danach soziale und ökonomische Streitigkeiten. 308 Für diesen letzten Punkt vergleiche die interessanten Lehren von EN VIII, 16 für Freundschaften zwischen Ungleichen, besonders 1163b5–18. 309 Vgl. Pol. III, 11: 1281b28–30. 310 Vgl. Pol. II, 5: 1264b6–15. 304 305

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nicht langlebig sind. 311 Hier sei noch einmal daran erinnert, dass das Streben nach Gleichheit oder Ungleichheit an Besitz oder Ehre den häufigsten Auslöser von staseis darstellt 312 und selbstverständlich Bürger auch aus ungerechten Gründen rebellieren. Ebenso zeigt eine weitere Rückschau, dass die Machttheorie von Pol. IV, 12 ebenfalls problemlos erklären kann, wieso Gerechtigkeit und Stabilität nicht zwingend aneinander gekoppelt sind. Dass mit den Oligarchen und den Demokraten ausgerechnet zwei normativ ungerechtere Verfassungstypen machtpolitisch dominieren, lässt sich mit ihrer weitaus größeren Zahl (verglichen mit den wenigen Aristokraten 313) erklären. Insofern ist leicht erklärlich, wieso ausgerechnet die beiden schlechthin gerechten Verfassungstypen des Königtums und der Aristokratie selten anzutreffen sind; sogar die normativ nicht besonders anspruchsvolle Politie gibt es nicht allzu häufig. Umgekehrt ist ebenso klar, warum die Reichen und die Armen die politische Landschaft dominieren: Einerseits sind sie dank ihrer Stärke machtpolitisch besonders im Vorteil, andererseits verfallen sie auch besonders der epithymia und zügeln daher seltener ihre unvernünftigen Begierden nach Macht und Reichtum. Gerade in der Interpretation der Spannung zwischen dem Gerechten und der Macht unterscheidet sich die vorliegende Arbeit wesentlich von den bisher in der Forschungsliteratur zu findenden Ansätzen. Wie wir gesehen haben, gibt es einerseits Forscher wie Miller, welche einer gerechten Polis Stabilität zusprechen, andererseits solche, welche dem Gerechten kaum mehr eine Rolle in der Polis zusprechen (hier sei etwa Schütrumpf zu nennen). 314 Während die erste Po311 Wie wir in den Kapiteln zur Oligarchie und zur Tyrannis sehen, gilt dies bei diesen beiden Verfassungstypen ohnehin ganz allgemein. Aber auch die Demokratie, die dank ihrer zahlreichen Anhängerschaft ein stabileres Fundament hat (vgl. Pol. VI, 6: 1321a1 f.), ist im Falle einer psêphisma-Demokratie auf gut funktionierende ältere Gesetze und Gewohnheiten angewiesen (vgl. Pol. VI, 4: 1319b1–4). Dass die eigentlich die wahre Mitte treffenden Königtümer und Aristokratien selten vorzufinden sind, ist bereits hinlänglich oft betont worden. 312 Vgl. Pol. V, 2: 1302a24–32. 313 Dazu siehe Pol. V, 1: 1301b39–1302a2. 314 Schütrumpf bleibt seiner Interpretation jedoch nicht stets hundertprozentig treu, denn er schreibt zur in sich einigen Regierung der Oligarchen in Pharsalos von Pol. V, 6: 1306a9–12: »Auch hierzu gibt es gibt (sic!) keine andere Information. Der Vorgang ist aber an sich wichtig, da er zeigt, dass Aristoteles sich bewusst war, dass Einheit innerhalb der Regierenden und eine gute Regierung Stabilität stiften« (Schütrumpf 2012a, 340, Fußnote 69; Hervorhebung durch Unterstreichung B. L.).

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sition die Machtprobleme verkennt und die daraus entstehenden Durchsetzungsprobleme gerechter Positionen übersieht, unterschätzen die Vertreter der zweiten Interpretationslinie die normative Seite der aristotelischen Überlegungen: Gerade Forscher wie Schütrumpf beleuchten die Sensibilität des Aristoteles für machtpolitische Fragen, stehen aber umgekehrt häufig allzu sehr in der Gefahr, über der berechtigten Kritik an normativ überzogenen Lesarten gleichsam das Kind mit dem Bad auszuschütten und in der politischen Philosophie vor allem nur noch machtpolitische Kämpfe und Probleme zu sehen und die wichtige Rolle normativer Konzepte zu unterschätzen. Letztlich beraubt Schütrumpf die aristotelische politische Philosophie wichtiger normativer Klammern, wodurch im Endergebnis nicht mehr völlig klar ist, wie ein derart vermachtetes Gebilde wie die Polis denn überhaupt noch Bindekraft besitzen soll: Sicherlich ist die Polis sehr wesentlich ein Ort von Machtkämpfen – dies sei noch einmal gegenüber allzu naiven Interpretationen bemerkt, welche die aristotelische Polis eine recht verträumte Idylle friedlicher Harmonie sein lassen – jedoch ist die politische Gemeinschaft nicht nur eine Bühne für Konflikte, sondern auch der Ort ihrer möglichen Lösung. Wie wir besonders anhand von Pol. I, 2 gesehen haben, ist der Mensch dem Menschen im schlechteren Fall einer Ungebremstheit schlimmer als ein Wolf, aber in der recht verstandenen und richtig geordneten Polis kann der Mensch dem Menschen zwar nicht gerade ein Gott, wohl aber immerhin ein Mensch sein. Anders ausgedrückt: Menschliches Zusammenleben ist für Aristoteles stets mit Konflikten behaftet, dennoch vermag eine wohlgeordnete Polis das Beste für den Menschen zu ermöglichen. Ebenso bemängelt Schütrumpf Interpretationen, welche Aristoteles »eine heile-Welt-Träumerei, nach der Rechtsprinzipien und hohe ethische Qualitäten sich immer durchsetzen werden« 315 zuschreiben. Jedoch fallen – wie ich bereits am Ende des letzten Kapitels dargelegt habe – auch in den Büchern IV–VI der Politik Fragen nach dem Gerechten nicht völlig weg: 316 Sicherlich legt Aristoteles in diesen Büchern nicht mehr denselben Maßstab des Gerechten wie in Pol. III an, aber daraus darf man aus den oben genannten Gründen Schütrumpf 2011b, 112. So aber Schütrumpf 2011b, 106. Noch verschärft formuliert hat dies Schütrumpf in seinem 2012 in Madrid gehaltenen Vortrag »Aristotle and the language of emotion in the Politics: taking emotional reactions seriously«. 315 316

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nicht schließen, dass in Pol. IV–VI Auffassungen des Gerechten kaum eine Rolle spielen. Bekanntlich sieht Schütrumpf einen wichtigen Gegensatz zwischen Pol. III und Pol. IV–VI darin, dass in Pol. III Aristoteles die Verfassungen nach dem Maßstab des Gerechten beurteile, sich jedoch dabei in nicht auflösbare Aporien verstricke, da die eigentlich gerechte Aristokratie laut Pol. III, 10 an Stabilitätsproblemen leide und Aristoteles daher in Pol. III, 11 eine theoretisch nicht völlig zufriedenstellende Ad-hoc-Lösung benötige. 317 Demgegenüber setze Aristoteles in Pol. IV–VI neu an, indem er die wichtige Rolle des Gerechten durch eine tragende Rolle der Stärke ersetze und nun auf die Nützlichkeit anstelle des ohnehin nicht erreichbaren Gerechten abstelle. 318 Dadurch erreiche Aristoteles einen Fortschritt gegenüber der angeblich plakativen Dichotomie von gemeinwohl- und eigennutzorientierten Verfassungen in Pol. III, was sich auch in der Unterscheidung verschiedener Unterarten von Demokratie und Oligarchie in Pol. IV–VI zeige, womit die Pauschalverurteilung dieser Verfassungen in Pol. III überwunden und ihre bessere Würdigung ermöglicht werde. 319 Last but not least stehen für Schütrumpf Deutungen, welche eine wichtige Rolle des Gerechten annehmen, in der Gefahr, Aristoteles als illusionären Träumer zu verzeichnen, der in naiver Art und Weise keine Durchsetzungsprobleme des Gerechten annehme. 320 Schütrumpf hat namentlich die Bücher IV–VI wieder stärker aus dem unverdienten Schattendasein 321 in Vergleich zu Buch III geholt und eine realistischere Lesart gegenüber normativ allzu starken Interpretationen verteidigt. Jedoch setzt er die Bücher III und IV–VI zu sehr in einen Gegensatz und degradiert die Polis vor allem durch seine Kritik an einer wichtigen Rolle normativer Konzepte in den Büchern IV–VI zu einer bloßen Machtordnung herab: So dünnt Schütrumpfs Realismus in einer teilweise durchaus berechtigten, insgesamt jedoch überschießenden Kritik an normativ zu starken Lesarten die Bücher IV–VI normativ zu sehr aus und kann die Polis letztlich nur noch als Schauplatz von Machtkämpfen begreifen, woVgl. Schütrumpf 2011a, 264 f. Vgl. Schütrumpf 2011b, 110. 319 Vgl. Schütrumpf 2011b, 116 f. 320 Vgl. Schütrumpf 2011a, 263 f. 321 Schütrumpf 1996, 109–111 stellt einige wichtige Interpretationen vor, die IV–VI für systematisch relativ unwichtig erachtet haben: Dagegen plädiert er dafür, dass sie für philosophisch Interessierte genauso von Interesse sind wie die anderen Bücher. 317 318

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mit allerdings das auch von oligarchischer und demokratischer Seite beanspruchte normative Ziel des guten Lebens und ihre normativ auch begründbaren Ansprüche in Fragen des Gerechten und Gleichen zum Verschwinden gebracht werden. Nun spielen Erwägungen der Stärke in Pol. IV–VI zwar tatsächlich eine größere Rolle, allerdings leitet sich daraus im Gegensatz zur Annahme von Schütrumpf nicht zwingend ein Gegensatz zu Pol. III ab, da in den Büchern III und IV–VI verschiedene 322 Fragen behandelt werden: Knoll hat in seinem Disput mit Schütrumpf zu Recht auf die Bedeutung der vier verschiedenen Aufgaben der politischen Wissenschaft in Pol. IV, 1 hingewiesen; 323 wenn ich auch Knolls Deutung von Buch III als allgemeiner Theorie der gerechten Ämterverteilung nicht für eine erschöpfende Interpretation dieses Buchs halte (für eine Kritik der Verkürzung des Themas des Gerechten auf distributive Fragen, siehe Kapitel 1.1.5.4), teile ich seine Beobachtung, dass die Untersuchungen in den Büchern III und IV–VI verschiedene Perspektiven und Fragestellungen verfolgen, sich aber ergänzen. Auch die übrigen Thesen werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit kritisch zu prüfen sein: Wir werden sehen, dass Aristoteles in Pol. III sehr wohl eine konsistente Theorie entwickelt und dass dieses Buch in keiner Weise den Büchern IV–VI widerspricht. Entsprechend ändert sich die normative Wertung der verschiedenen Verfassungen auch nicht, was insbesondere Kapitel 3.3.1.3 zeigen wird. Und dass eine wichtige Rolle des Gerechten in der politischen Philosophie keine naive Träumerei bedeuten muss, haben einerseits grundlegend die bisherigen Kapitel gezeigt, andererseits werden wir dies im weiteren Durchgang durch die konkreten Rechtsordnungen, also die verschiedenen Verfassungstypen, bestätigt finden.

322 Schütrumpf hingegen glaubt, dass in III und IV–VI auf dieselben Fragen verschiedene Antworten gegeben würden (Schütrumpf 1991a, 48–51 u. ö., Schütrumpf 1991b, 114 u. ö.) 323 Vgl. Knoll 2011, 135 f.

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III. Deskriptive Merkmale und normative Bewertung der verschiedenen Verfassungstypen als konkreten Rechtsordnungen

3.0 Ein Rückblick auf die Kriterien und ein Vorblick auf die Verfassungstypologie Bisher haben wir im zweiten Hauptteil dieser Arbeit die Kriterien für die normative Beurteilung der verschiedenen Verfassungstypen erarbeitet, die wir nun im dritten und letzten Teil auf die verschiedenen Verfassungstypen anwenden. Noch einmal möchte ich darauf aufmerksam machen, dass es sich bei einer Verfassung einer Polis nicht um ein relativ abstraktes und als lebensfern wahrgenommenes Gebilde handelt. Stattdessen fasst Aristoteles diesen Gedanken konkreter auf, denn die juristische Verfassung stellt – wie bereits öfters erwähnt – das Leben der Bürgerschaft dar. Entsprechend werden wir bei allen Verfassungstypen zunächst die Frage nach den Vollbürgern stellen sowie näherhin, wer die tatsächliche Führungsschicht darstellt, also wer der soziologische Hauptträger dieser bestimmten Regierungsform ist. Schon über die nähere Charakterisierung dieser Gruppen oder Einzelpersonen durch Aristoteles gewinnen wir in der Regel erste Informationen über ihre normative Bewertung. Zweitens untersuchen wir bei jedem Verfassungstypus seine Haltung zur »rule of law«: Handelt es sich um einen Verfassungstypus, der grundsätzlich die Gesetze regieren lassen will, oder neigen bestimmte Verfassungsformen tendenziell eher zu einer Herrschaft des Menschen? Hier werden wir teilweise auf eher überraschende Ergebnisse stoßen. Drittens erörtern wir die damit eng verknüpfte Frage nach der normativen Ausrichtung der Verfassung und ihrer Gesetze: Welche normativen Ziele verfolgen die verschiedenen Verfassungen, worin besteht ihre Auffassung von eudaimonia? Viertens ergibt sich daraus ganz natürlich das Problem, ob das koinon sympheron der eudaimonia in despotischer Weise nur für die Herrscher gesucht oder ob das gute Leben für die gesamte Bürgergemeinschaft angestrebt wird. Fünftens beschäftigen wir uns bei jeder Verfassung auch damit, ob die Kriterien für die Teilhabe an der Ordnung in der Polis

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Deskriptive Merkmale und normative Bewertung

Verfassung gerecht oder ungerecht zu nennen sind und es sich auch in dieser Hinsicht um eine Herrschaft des angestrebten Gemeinwohls oder um eine Herrschaft der Macht handelt. Insgesamt können wir also aufgrund dieser Kriterien die normative Einschätzung jeder Verfassung durch Aristoteles gut wiedergeben. Während die Interpretation, die Verfassungen als Typen aufzufassen und die verschiedenen Unterarten als Subtypen zu interpretieren, sicherlich unbestritten bleiben dürfte, werden vor allem Anhänger einer genetisch-analytischen Lesart der Politik hinterfragen, ob wir für die gesamte Politik bestimmte Aussagen über diese sechs Verfassungsordnungen treffen können. Bekanntlich entzündet sich der Streit darüber hauptsächlich am Verhältnis des Buches III zu den Büchern IV–VI. 1 Dabei möchte ich folgende Position vertreten: Während Buch III die Frage nach der besten 2 Verfassung beantwortet und dafür etwa die grundtypusspezifischen normativen Auffassungen der sechs Grundtypen der Verfassungen prüft, interessieren sich die Bücher IV–VI nach der erfolgten Beantwortung der Frage nach der normativ absolut besten Verfassung nun für die den jeweils einzelnen Poleis am besten angemessenen Verfassungen. Da sie also verschiedene Gesichtspunkte (»Welche Verfassung ist an sich die beste?« versus »Welche Verfassung ist für bestimmte Poleis am besten?« bzw. »Welche Verfassung ist für die meisten Poleis geeignet?«) bearbeiten, widersprechen Buch III und die Bücher IV–VI einander nicht. Deutlich wird die Nichtwidersprüchlichkeit der Bücher III–VI auch in der Konstanz der normativen Beurteilungen: Sowohl in Buch III als auch in den Büchern IV–VI werden das Königtum und die Aristokratie als die normativ besten Verfassungstypen ausgezeichnet und die Politie als

1 Jedoch unterscheide ich mich von den meisten unitarischen Deutungen der Politik darin, dass ich die Bücher VII und VIII ausdrücklich vom Rest des Werkes geschieden wissen möchte. 2 Dass Pol. III die Antwort auf die Frage nach der besten Verfassung (gemäß Pol. IV, 1: 1288b22 f.) darstellt, wird gestützt durch die Bemerkung von Pol. IV, 2: 1289a30–32, dass über die besten Verfassungen (nämlich Aristokratie und Königtum) schon gesprochen worden sei. Wie der Anfang von Pol. IV, 2 zeigt, bezieht sich Aristoteles hier auf Pol. III (anders als Knoll 2009, 115 f., Fußnote 299 beziehe ich dies allerdings nicht allein auf die Kapitel Pol. III, 14–17: Aufgrund einer verschiedenen Interpretation der antimonarchistischen Einwände scheint mir nicht in diesen Kapiteln die wesentliche Besprechung der Aristokratie gegeben zu sein. Getreu meiner eigenen Interpretation sind vielmehr die Kapitel Pol. III, 9–13 als besonders einschlägig zu bezeichnen).

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Ein Rückblick auf die Kriterien und ein Vorblick auf die Verfassungstypologie

ein prinzipiell guter, aber normativ weniger anspruchsvoller und daher mittelmäßigerer Typus gekennzeichnet. 3 Wie wir vor allem im Kapitel 3.3.1.3 sehen werden, ändert sich im Gegensatz zur Annahme von Schütrumpf 4 überdies auch die normative Bewertung der Demokratie und der Oligarchie in den Büchern IV–VI nicht wesentlich gegenüber Buch III. Gegenüber Schütrumpf möchte ich geltend machen, dass der Grundtypus bei den verfehlten Verfassungstypen nicht in der normativ besten Form am getreulichsten wiedergegeben wird, sondern in der schlechtesten; daher ändert auch die Erwähnung normativ erträglicher Subtypen nichts am grundsätzlichen aristotelischen Urteil über Demokratie und Oligarchie. Schließlich geben gerade die besten Subtypen der Demokratie und Oligarchie nicht den Grundtypus gut wieder, sondern nähern sich dank ihrer ausgewogenen Mischung schon der Politie an. Insofern bleibt das Urteil über den Grundtypus in den Büchern IV–VI dasselbe wie in Buch III. Da wie erwähnt die Aufgabenstellung von Buch III in der Entdeckung des besten Verfassungstypus liegt, besteht in Buch III schlicht nicht die Notwendigkeit, die Subtypen 5 einer ein3 Vgl. Pol. III, 18, Pol. IV, 2: 1289a30–33 und Pol. IV, 2: 1289a39–b1 für das Königtum und die Aristokratie; für den in gewissem Sinne mittleren Rang der Politie vgl. Pol. III, 7: 1279a39–1279b2 mit Pol. IV, 8: 1293b23–27 und Pol. IV, 11: 1295a25–31. 4 Vgl. Schütrumpf 2011a, 256–258 und Schütrumpf 2011b, 116 f. 5 Schütrumpf behauptet, dass in Pol. III keine Subtypen erwähnt würden: »Aristoteles verrät in Pol. III keine Kenntnis der Art der Unterscheidung von Unterarten einer Verfassung, wie er sie in IV–VI vornimmt […]« (Schütrumpf 2011a, 253; ähnlich auch schon Schütrumpf 1991b, 114 oder Schütrumpf 1996, 183). Philologisch trifft dies jedoch nicht zu, denn Aristoteles erwähnt in Pol. III, 5: 1278a18–20 ausdrücklich die sogenannte Aristokratie und beschreibt in Pol. III, 4: 1277b1–3 durch den eschatos dêmos eine radikale Demokratie. Aufgrund des oben beschriebenen Programms von Pol. III (Welcher Grundtypus stellt die beste Verfassung dar?) besteht ohnedies schlicht keinerlei Notwendigkeit, bereits in Pol. III die Unterarten erschöpfend zu behandeln oder auch nur vollständig aufzuzählen, denn für die Prüfung der besten Verfassung ist kein detailliertes Eingehen auf die Subtypen erforderlich (dies sei zu Schütrumpf 2011a, 255 bemerkt). Dennoch verraten die beiden genannten Stellen, dass das Konzept der Verfassungs-Subtypen in Pol. III tatsächlich doch bekannt ist. Problematisch hingegen ist der Versuch von Knoll 2011, 135, die fünf Unterarten des Königtums in Pol. III, 14 mit den Unterarten von Pol. IV–VI zu parallelisieren. Allerdings möchte ich meine Kritik anders als Schütrumpf begründen: Mein Einwand lautet, dass die Aufzählung der Unterarten in Pol. III, 14 im Gegensatz etwa zu den Unterarten der Demokratie oder Oligarchie in Pol. IV–VI keine normative Reihung darstellt: Bekanntlich hält Aristoteles die erste Unterart der Demokratie bzw. Oligarchie für die beste, die zweite für die nächstbeste etc. Dies ist beim Königtum nicht der Fall, da Aristoteles am Ende von Pol. III, 14 in seiner Aufzählung zuerst das heroische

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gehenderen Analyse zu unterwerfen. Schließlich genügt die Untersuchung des Grundtypus. Überdies zeigt eine genauere Analyse der in dieser Thematik vor allem wichtigen Kapitel Pol. III, 9–13, dass Schütrumpf die aristotelische Kritik an der Demokratie und Oligarchie in Pol. III zu harsch ansetzt, 6 denn Aristoteles verdammt deren Ansprüche schon in diesem Buch nicht schlechthin in Bausch und Bogen, sondern gesteht ihnen eine gewisse Berechtigung zu und bemängelt bloß ihre Übertreibungen. Entsprechend ist der normative Abstand zwischen Pol. III und Pol. IV–VI einerseits von Seiten von Pol. III als auch von Seiten von Pol. IV–VI kleiner als von Schütrumpf beansprucht. Aber zur Thematik der inneren Einheit von Pol. I–VI äußer(t)e ich mich an verschiedenen Stellen dieser Arbeit genauer. Bevor wir nun jedoch die einzelnen Verfassungstypen durchmustern, sollten wir erarbeiten, warum es überhaupt zu den verschiedenen Verfassungstypen kommt. Schließlich betrachtet Aristoteles seine Typologie nicht als zufällig aufgerafft, sondern sieht sie als philosophisch hinreichend begründet an. Oft wird in Darstellungen der aristotelischen politischen Philosophie sein Schema der verschiedenen Verfassungen nur dargestellt, jedoch nicht eigens begründet: Obwohl die erste Annäherung an die sechs Verfassungstypen anhand der klassischen Frage nach der Zahl der Regenten nicht die letzte Antwort bleiben kann, trägt sie mit ihrer Erkundigung nach der Regentenschicht dennoch ein Scherflein zur Taxonomie bei. Tatsächlich können wir diese Frage als Grundeinteilungspunkt festmachen, wenngleich nicht die Zahl der Regenten, sondern die Qualität des soziologischen Trägers für die Klassifizierung entscheidend Königtum nennt, sodann das barbarische, drittens die Aisymneten, viertens das spartanische Königtum (das – wie Schütrumpf 2011a, 252 hervorhebt – auch keine Verfassungsform darstellt) – egal, von welcher Seite der Aufzählung man beginnt, handelt es sich nicht um eine normative Reihung. Ebenfalls ziemlich unterschiedlich scheinen auch die normativen Konsequenzen der Mischung zu sein: Während die Mischtypen der Aristokratie immer noch politisch regieren (vgl. Pol. IV, 7), handelt es sich bei den Aisymneten und den barbarischen Königtümern um despotische Herrschaften (vgl. Pol. III, 14: 1285b3 bzw. 1285a19–22); während also alle Mischtypen der Aristokratie ebenso wie der beste Typus gut (= politisch) regieren, trifft dies auf die beiden genannten Arten des Königtums nicht zu, denn sie herrschen despotisch statt königlich. 6 Vielleicht wirkt hier nach, dass Schütrumpf das Buch III vor allem in der Nachfolge des platonischen Politikos liest (vgl. Schütrumpf 1996, 134 f.) und Platon bekanntlich recht rigide die Demokratie kritisiert hat.

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sein wird. Ihre Rechtfertigung findet dieses Vorgehen sicherlich darin, dass trotz des vorherrschenden Institutionalismus die Fragen nach dem soziologischen Träger der Macht und nach den Kriterien für den Zugang zur Vollbürgerschaft durchaus von nicht geringer Relevanz sind: Schließlich prägen die verschiedenen Bürgergruppen mit ihren normativen Vorstellungen und den ganz realen Gruppenegoismen nicht nur die normative Ausrichtung der Polis, sondern provozieren auch bestimmte machtpolitische Reaktionen. Einerseits kann also eine politische Freundschaft beispielsweise des Mittelstands zu einer der beiden anderen wichtigsten Gruppierungen der Demokraten und Oligarchen deutlich wahrscheinlicher sein, andererseits stacheln manche Verhaltensweisen und normativen Vorstellungen der beiden letztgenannten Gruppen häufig Bürgerkriege an. Daher lohnt sich ein genauer Blick auf den soziologischen Träger für Aristoteles durchaus. Da Aristoteles die Polis vorrangig als Rechtsordnung auffasst, erklärt sich das Kriterien einer »rule of law« als weiteres Evaluationskriterium eigentlich von selbst: Nur die allerdespotischsten Verfassungssubtypen beachten diese »rule of law« nicht und können daher auch nicht mehr als politische Ordnungen (im Sinne von p1) gelten. Aufgrund der vor allem in Pol. III, 10 festgestellten möglichen Problematisierbarkeit einer »rule of law« muss die zugrunde liegende normative Ausrichtung der Verfassung als drittes Kriterium notwendigerweise ebenfalls beachtet werden: Wenn die Polis als Rechtsordnung zu denken ist und dabei als Resultat einer Übereinstimmung in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen gelten kann, müssen diese Antworten auf die gerade genannten normativen Fragen entscheidend für den »Charakter« und das »Leben« dieser Bürgerschaft sein. Häufig sehr entscheidend für dieses politische Gemeinschaftsleben wird sein, ob das angestrebte koinon sympheron der eudaimonia von der Regierung entweder nur für sich selbst gesucht wird oder für die gesamte politische Gemeinschaft: Die Polis zielt ihrer Anlage nach ja auf das gute Leben ab, daher gehört zu den drängenden Fragen und wichtigen Kriterien, ob ein Verfassungstypus der Natur der Polis entsprechend das gute Leben für die ganze Bürgerschaft erstrebt oder nicht. Wiederum eher in einer Zwischenstellung zwischen normativen und machtpolitischen Aspekten beschreibt und erörtert das fünfte und letzte Kriterium die jeweils verfassungstypischen AusgestaltunOrdnung in der Polis

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gen der Teilhabe an der Verfassung: Hier müssen die Verfassungen für Aristoteles die Balance zwischen der (Un-)Gleichheit der Bürger in ihrem Beitrag zur eudaimonia und ihrer Gleichheit in ihrem Status als Freie finden. Wenn wir bei jedem Verfassungstypus den reinen Subtypus als legitimen Vertreter des Grundtypus auffassen, 7 erkennen wir überdies rasch anhand der letztgenannten Leitfragen »rule of law« vs. »rule of man«, der normativen Vorstellungen (speziell der eudaimonia-Konzeption), der Gemeinwohlorientierung und der berücksichtigten Kriterien für die Vollbürgerschaft/Ämterteilhabe, dass sich zwanglos drei verschiedene Gattungen politischer Ordnungen bilden lassen. Zuerst kann sich anhand des Kriteriums, ob der oder die Herrscher angesichts der Bestimmung der Bürgerschaft als Gemeinschaft der Gleichen überhaupt noch zur Bürgerschaft gezählt werden kann, das Königtum in entscheidender Weise von den anderen politischen Gattungen absetzen. So etabliert es sich auch als erste Gattung, die auch in der Frage nach der »rule of law« eine Spezialstellung einnehmen wird. Jedoch gibt es auch unter den Verfassungen, deren Herrscher zur Bürgerschaft (als Gemeinschaft der Gleichen) zählen, entscheidende Binnendifferenzierungen: Indem die verschiedenen Grundtypen beim Thema der »rule of law«, der normativen Ausrichtung der Verfassung und der Gesetze auf bestimmte Ziele, der Frage, ob die eudaimonia/das sympheron nur für sich gesucht wird und dem Problem, ob die verschiedenen Bürgergruppierungen tatsächlich gemäß ihrer Würdigkeit an der Macht beteiligt werden, für Aristoteles teilweise verfehlte, teilweise aber auch richtige Antworten geben, können wir zur korrekten königlichen Polisordnung auch die richtigen politischen 8 Verfassungen sowie die verfehlten despotischen 9 Gemeinschaftsordnungen gesellen. Dementsprechend lassen sich die folgenden Abschnitte der Arbeit zwanglos unterteilen in III.1: Königliche Verfassungsformen, III.2: Politische Verfassungsformen (p2) und III.3: Despotische Verfassungsformen. So werden wir sehen, dass laut Aristoteles die rein durchgeführten despotischen Verfassungstypen d2 eine »rule of law« ablehnen, nicht die wahrhafte Tugend als eigentliches Ziel verfolgen (sondern zum Beispiel Reichtum als wahres Ziel angeben und entsprechende 7 8 9

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Zu einer Rechtfertigung dieser Vorgangsweise siehe Kapitel 3.3.1.3. Im Sinne von p2. Im Sinne von d2.

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Haltungen entwickeln), das sympheron nur für sich erstreben und das diffizile Gleichgewicht zwischen Freiheit und Gleichheit der verschiedenen Bürgergruppen in einseitiger Weise auflösen und entweder die Freiheit des dêmos nicht gebührend würdigen (Oligarchie und Tyrannis) oder die Gleichheit im Namen einer schrankenlosen Freiheit übertreiben (Demokratie). Daher sind sie auch insofern verfehlt zu nennen, weil sie das Verhältnis zwischen Vollbürgerschaft und juristischer Bürgerschaft nicht korrekt bestimmen und die proportionale Gleichheit der Würdigkeit der Bürger nicht in richtiger Weise beachten. Demgegenüber zeichnet für Aristoteles die politischen Verfassungsformen p2 aus, dass sowohl die Aristokratie als auch die Politie einer »rule of law« gehorchen, gemeinwohlorientiert sind und geschickt die normativen Ansprüche und Ziele der verschiedenen Gruppierungen berücksichtigen und auch die politische Gleichheit stimmig auflösen, sodass es in der Polis nicht zu solchen Asymmetrien wie im Haushalt 10 kommt. Genauer gesagt ist bei den korrekten Verfassungsformen die Vollbürgerschaft aufgrund der richtigen Kriterien mehr (Königtum und Aristokratie) oder weniger (Politie) perfekt zusammengesetzt, sodass es zu keinem störenden Übergewicht irgendeiner Gruppe kommt. Ebenso deutlich ist die normative Überlegenheit der politischen Regierungsformen, was die eudaimonia angeht: Wie bereits gezeigt, erwachsen die Verfassungen aus geteilten Vorstellungen in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen und erfahren ihre letzte Legitimation aus ihrem Beitrag zur eudaimonia. 11 Entsprechend unterscheiden sich die verschiedenen Verfassungen wesentlich darin, dass sie unterschiedliche Auffassungen der Tugenden und der Glückseligkeit haben. 12 Während die politischen Verfassungen gemeinwohlorientiert sind, indem sie als Zweck das eu zên aller betrachten und mit der wahren Tugend auch den richtigen Maßstab haben (Aristokratie) oder wenigstens die materiellen und freiheitsrelevanten Aspekte sichern (Politie), sehen die despotischen Machthaber in verfehlten Verfassungen den Rest der Gemeinschaft entweder nur als Mittel oder als Hemmnisse auf dem Weg zu ihrem Im Haus sind die Asymmetrien für Aristoteles jedoch auch gerechtfertigt. Miller geht einen ersten Schritt in diese Richtung, wenn er Aristoteles eine Stufenleiter der Verfassungen anhand ihrer Erfüllung oder Abweichung von der »natural justice« zuschreibt. Vgl. Miller 2007b, 98. Jedoch führt Miller dies nicht weiter aus. 12 Vgl. Pol. VII, 8: 1328a37–b2. 10 11

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Deskriptive Merkmale und normative Bewertung

eigenen, letztlich aber falsch verstandenen eu zên. So ist die Tyrannis eine selbstsüchtige Unrechtherrschaft eines einzelnen ungerechten Machthabers (mit dem Ziel der eigenen Lust), die Oligarchie die selbstsüchtige Unrechtherrschaft einiger ungerechter Besitzender (mit dem Ziel des eigenen Reichtums) und die Demokratie die selbstsüchtige Unrechtherrschaft vieler ungerechter Armer (mit dem Ziel der eigenen Lust bzw. der Freiheit, alles tun zu können, was man will). 13 Dementsprechend verfehlen sie alle die eigentlich anzustrebenden normativen Ziele, was natürlich besonders krass auf die Tyrannis zutrifft. Aber auch die beiden anderen verfehlten Regierungsformen scheitern normativ daran, dass sie einseitige normative Konzeptionen vertreten. Ebenso vorteilhaft heben sich die politischen Regierungsformen von den despotischen Herrschaftsordnungen in der Frage nach der »rule of law« ab: Bei einer korrekten Verfassung handelt es sich auch um eine Regierung des verantwortungsvollen Rechts und nicht um eine hauptsächlich gewalttätige Herrschaft der bloßen Macht, weswegen erstere als gerechte Gemeinschaftsordnungen anzusehen sind. 14 Daher erkennen die richtigen Verfassungen die Herrschaft des Rechts ohne Probleme an, während die despotischen Formen in ihrer reinen, unvermischten und daher unverfälschten Form die »rule of man« bevorzugen. 15 Leicht anders ausgedrückt lässt sich die Frage nach der komplexen Dialektik von Recht und Macht auch dahingehend umformulieren: Ist die polisdominierende Übereinstimmung in den grundlegenden Fragen nach dem Guten, Gerechten und Nützlichen, die eine Verfassung bestehen lässt, tendenziell eher gewaltsam erzwungen oder vernünftig in einem Ausgleich der Interessen erreicht? Wenn es sich um einen vernünftig ausgehandelten Konsens handelt, dann dürfen wir von einer wohlgeordneten Verfassung ausgehen. Dagegen erzwingen die verfehlten Verfassungen die Akzeptanz ihrer verfehlten normativen Auffassungen meist in despotischer Weise oder übergehen in ihren milderen Varianten wenigstens die Vernunft der Tugendhaften, indem sie ihre zahlenmäßige Stärke ausspielen. Vgl. Pol. III, 7: 1279b4–10 und Pol. III, 7: 1279a30 f. Der Nachweis der Ziele wird in den jeweiligen Kapiteln gegeben. 14 Vgl. den Gegensatz zwischen Machtordnungen und gemeinwohlorientierten Verfassungen in Pol. III, 3: 1276a12 f. 15 Wir werden in den entsprechenden Kapiteln auch sehen, dass Aristoteles jeweils den reinen unverfälschten Subtypus auch für den historisch dominierenden in seiner Zeit hält. 13

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Wenn wir es auf den Punkt bringen, rechtfertigen sich die verfehlten Verfassungen wesentlich stärker durch den despotischen Zwang der Gewalt und verstoßen so gegen die eigentlich vernünftige Ordnung. Je extremer die Fehlformen sind, desto offensichtlicher ist dieser tyrannische Zug: Gerade die äußersten Extreme sind durch die Auflösung jeglicher allgemeinen Rechtsordnung und durch eine persönlich-gewaltsame Willkürherrschaft gekennzeichnet. Letztlich vermag aber bloß das Gerechte eine Herrschaft (also die Macht über jemanden) vernünftig zu legitimieren. Somit erfährt folglich eine Gemeinschaftsordnung eine vernünftige Rechtfertigung nur dadurch, dass sie sich als eine konsensuell gefundene vernünftige Rechtsordnung mit geteilten Auffassungen in den Bereichen des Guten, Gerechten und Nützlichen erweist und dabei alle relevanten Gruppierungen angemessen berücksichtigt. Daraus folgert Aristoteles, dass die Bürger als Freie und nicht quasiknechtisch behandelt werden sollen. 16 Ansonsten tritt die Macht das Recht mit Füßen und ordnet die Gemeinschaft selbstsüchtig, indem sie nur auf den Nutzen der Herrscher achtet und so ungerecht gegenüber berechtigten Ansprüchen anderer Gruppierungen verfährt. Demgegenüber zeichnet die wahren Regierungsformen aus, dass sie vernünftig die Ansprüche aller abwägen und die Autonomie der Bürger achten sowie eine richtige Balance zwischen Gleichheit nach Würdigkeit und Gleichheit nach Zahl finden. Daher rechtfertigen sich korrekte Institutionen und Konstitutionen nicht allein durch Macht und Zwang, sondern auch durch eine vernünftig-freiwillig-gerechte Ordnung (wobei diese natürlich auf Macht 17 und Zwang nicht verzichten kann). Wir werden ebenso bezüglich des letzten Punktes sehen, dass die richtigen Verfassungstypen die Partizipation der wichtigen Gruppierungen an der Verfassung ermöglichen und so das gesamte Potential der Bürgerschaft ausschöpfen, wenn es um das gemeinsame Überlegen geeigneter Mittel auf dem beschwerlichen Weg der eudaimonia Vgl. Pol. III, 6: 1279a17–21. Fortenbaugh 1991, 229 beschreibt die verfehlten Verfassungen in ähnlicher Weise als despotisch, insofern »[…] they disregard the interests of free men«. 17 Schließlich hängt Aristoteles keinen anarchistischen Träumereien von herrschaftsfreier Gleichberechtigung nach: Sobald eine Synthese aus verschiedenen Teilen besteht, ist eine hierarchische Ordnung mit Überordnung und Unterordnung nötig (vgl. die Feststellung in Pol. I, 5: 1254a28–31). Ebenso weiß er, dass in der Regel das Recht durch den Zwang der Macht durchgesetzt werden muss. 16

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geht. Indem die Leistung sämtlicher oder beinahe aller Bürgergruppen gewürdigt wird, die etwas zum Gemeinwohl beitragen, erweisen sich diese Verfassungstypen als gerecht und klug. Bereits jetzt scheint der Hinweis angebracht, dass der besonders wesentliche normative Unterschied zwischen einer Politie und einer Aristokratie gerade darin besteht, dass die Politie die Ansprüche und Lösungsvorschläge der Tugendhaften nicht oder nur ungenügend berücksichtigt. Hier möchte ich erneut dafür plädieren, dass man die politische Philosophie des Aristoteles keineswegs bloß als apologetische Hermeneutik der bestehenden Verhältnisse verstehen darf. Gerade die auf den letzten Seiten gemachten Überlegungen zeigen wiederum, dass die Verfassungslehre unseres Philosophen sich nicht nur in der deskriptiven Schilderung der tatsächlichen Verfassungstypen erschöpft: Vielmehr bewertet er sie auch kritisch unter normativen Gesichtspunkten. Wenn wir diese Erkenntnis in einem Satz zusammenfassen wollen, dann können wir sie so formulieren: Die Macht kann durch das Recht kritisiert werden und das positive Recht durch ein recht verstandenes physikon dikaion. Dabei beschränkt sich Aristoteles nicht nur auf eine Kritik der innenpolitischen Ordnungen. Besonders hart bemängelt er die Außenpolitik der ehemals führenden Poleis Athen und Sparta, welche mit ihrem Egoismus das damalige Chaos in der griechischen Machtpolitik zu verantworten haben. Sowohl Sparta als auch Athen haben in der Regel nur auf ihre eigenen Interessen geachtet, nicht jedoch auf denjenigen Gesamtgriechenlands oder der von ihnen dominierten Poleis. 18 18 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a32–36 und Pol. V, 7: 1307b22–24. Anders als Susemihl/Hicks glaube ich also nicht, dass Aristoteles eine Kombination athenischer und spartanischer Charakteristika für den besten Weg hält. Vgl. Susemihl/Hicks 1894, 55. Auch Theophrast klagt über den Egoismus Athens (siehe etwa die Kritik an Aristeides in Fragment 614 FHS&G). Hier stimmen das Urteil des Aristoteles und des Theophrast durchaus mit demjenigen heutiger Historiker überein, sofern sie sich nicht einseitig auf die wüste Propaganda des Demosthenes stützen und die Rolle Athens zu einem reinen Leuchtfeuer der Demokratie und Freiheit verklären (vgl. etwa die Vierte Rede gegen Philipp, 13 f.). Siehe etwa die Kritik des Historikers Errington an der athenischen pleonexia, die zum entsprechenden Imperialismus führte. Eigentlich meinte der vorgeblich heldenhafte Kampf für die Freiheit häufig nur die eigene, was die kleineren Poleis durchaus erkannten und daher die Politik des Philipp anders wahrnahmen als uns Demosthenes dies weismachen will. Vgl. für diesen Abschnitt Errington 1986, 72–77. Jehne charakterisiert die Haltung vieler griechischer Poleis als ambivalent: Einerseits herrschte eine gewisse Unzufriedenheit (vgl. Jehne 1994, 200 und 238), andererseits wurde die makedonische Suprematie durch Griechen gegen Sparta verteidigt (siehe Jehne 1994, 234 f.). Zusammenfassend stellt er fest, dass diese

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Hier muss jedoch noch einmal nachdrücklich an das in den letzten Kapiteln erarbeitete Ergebnis erinnert werden, dass Aristoteles trotz seiner Orientierung an der eudaimonia die politische Philosophie nicht moralisierend missdeutet und seine normativen Wünsche ihn die Realität verkennen lassen. Zwar stuft Aristoteles klar die Qualitäten der verschiedenen Verfassungen ab, dennoch jubelt er nicht eine einzige Verfassungsform hoch und verurteilt die restSuprematie von den Makedonen zunächst »recht rücksichtsvoll« ausgeübt worden sei (Jehne 1994, 267). Die Rolle Athens resümierend kann Errington feststellen: »Das Interesse aller Griechen war eben nicht identisch mit der Meinung der herrschsüchtigen Athener.« (Errington 1986, 77). Auch Jehne spricht in Bezug auf das fünfte Jahrhundert von einer skrupellosen, teilweise zynischen Machtpolitik der Athener (vgl. Jehne 1994, 15), Ehrenberg von Athen als besonders imperialistischer und andere Poleis unterdrückender Macht (vgl. Ehrenberg 1965, 296). Sogar Isokrates muss in Areopagitikos, 10 und 81 zugeben, dass die Athener inzwischen einen schlechten Ruf bei den Griechen genießen und gar gehasst werden. Vgl. Isokrates 1993, 136 und 150. Allerdings versucht er die Schandtaten der Athener erst auf das Ende des Peleponnesischen Krieges und die Zeit danach zu legen und auch dies für Einzeltaten bestimmter Feldherren zu erklären (vgl. Panathenaikos 97–114). Vgl. Isokrates 1997, 64–67. Interessanterweise zeigt das Zeugnis des Thukydides, dass schon zu Beginn des Peloponnesischen Krieges die meisten Griechen eher mit den Spartanern sympathisiert haben (vgl. das achte Kapitel des zweiten Buchs des Peloponnesischen Krieges). Regelrecht verhöhnt vorkommen müssen sich die anderen Griechen, wenn Demosthenes in der Dritten Olynthischen Rede behauptet, dass Athen mit Einverständnis der anderen Griechen geherrscht habe (vgl. Dritte Olynthische Rede, 24) oder sie als einzige uneigennützig dem Gemeinwohl aller Griechen verpflichtet darstellt (vgl. Zweite Rede gegen Philipp, 7–14 und Rede über die Angelegenheiten in der Chersones, 38–43). Etwas vorsichtiger drückt sich Demosthenes in der Dritten Philippischen Rede aus, wenn er darauf pocht, dass eventuelle Untaten der Spartaner oder der Athener immerhin von echten Griechen begangen worden wären. Vgl. Dritte Rede gegen Philipp, 30. Vergleiche dazu die historische Analyse etwa durch Raaflaub 1985, 148–162 sowie 204, der Sparta als liberaler und rücksichtsvoller in seinem Verhalten gegenüber seinen Bundesgenossen herausstellt. Die Verknechtung durch die Athener sei sogar unmittelbarer fühlbar gewesen als diejenige durch die Perser (vgl. Raaflaub 1985, 162). Überhaupt ist Demosthenes manchmal mit Vorsicht zu genießen: So hackt er auf widerliche Weise auf dem Makedonentum von Philipp herum oder behauptet wider besseres Wissen, dass Philipp kein Grieche sei (bekanntlich waren die makedonischen Herrscher als Griechen anerkannt, was sich in ihrer Zulassung zu den Olympischen Spielen äußert), oder beleidigt Makedonien als Land, das früher nicht einmal brauchbare Sklaven geliefert habe. Vgl. Dritte Rede gegen Philipp, 31. Zwar sind Freiheit und Gleichheit im damaligen Griechenland sicherlich in Athen am besten verwirklicht gewesen, aber eine blinde Apologie Athens dient der Sache der Demokratie kaum. Auch renommierte Althistoriker wie Finley warnen davor zu glauben, »daß in Athen die Politik von einer moralischen Reinheit war, die in anderen politisch verfaßten Gesellschaften ohne Entsprechung ist« (Finley 1986, 69). Ordnung in der Polis

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lichen, sondern ist auch hier kontextsensibler. Schließlich gilt für Aristoteles, dass die juristische Verfassung der Verfassung (im Sinne des Zustandes) der Bürgerschaft angepasst sein sollte. 19 Entsprechend kann für Aristoteles unter Umständen sogar eine extreme Demokratie angeraten sein, wenn sie auch seinen normativen Wünschen widerspricht. Hier möchte Aristoteles stets mit den gegebenen Bedingungen arbeiten: So schwebt ihm auch keine abstrakt-überrissene Utopie als Verbesserungsmaßstab vor, sondern eine schrittweise Verbesserung. Anders als Rosler meint, bedeutet dies jedoch keine Orientierung der schlechteren Verfassungen an der besten. 20 Im Rahmen meiner Interpretation des Aristoteles als reform- und nicht revolutionsorientierter Denker möchte ich also dafür plädieren, dass er verfehlte Verfassungen nicht durch die beste Regierungsweise ersetzen möchte bzw. in der Regel daran misst. 21 Wenn eine ungerechte oligarchische Herrschaft stabilisiert werden soll, dann sollte sie mit demokratischen Elementen gegensteuern (oder umgekehrt). Schrittweise kann sie so gerechter und dadurch auch hoffentlich stabiler werden. 22 Falls dieser Prozess nicht umgekehrt oder eingefroren wird, dann würde sich eine derartige Regierung irgendwann einmal vielleicht einer Politie oder einer sogenannten Aristokratie annähern und so den Sprung zu einer gemeinwohlorientierten Regierung geschafft haben (zu der Problematik einer rein institutionellen Betrachtungsweise der Mischverfassungen siehe jedoch Kapitel 3.2.2.1). Hauptsächlich müssten sich Demokratien also um oligarchische Maßnahmen bemühen, Oligarchien um demokratische. Obwohl eine Oligarchie als »natürlichen Verwandten« eigentlich die Aristokratie hat, kann sich eine entsprechende Verfassung jedoch nicht einfach abstrakt eine aristokratische Orientierung vornehmen. Gewissermaßen einen Spezialfall stellt die 19 Vgl. Pol. IV, 1: 1288b24–27: Wenn Aristoteles hier feststellt, dass viele gar nicht bis zur besten Verfassung vorstoßen können, muss ich vorausschicken, dass dies in späteren Kapiteln durchaus wichtig wird: Dass Königtum und Aristokratie faktisch nicht weit verbreitet sind, spricht überhaupt nicht gegen ihre normative Überlegenheit. 20 So aber Rosler 2005, 16. 21 Kraut legt ebenfalls Wert darauf, dass nicht stets die beste Verfassung angestrebt werden kann, da die Sozialordnung und die politische Ordnung zusammenpassen müssen. Etwas schnell übergeht er dabei allerdings die Schwierigkeiten, die auf dem Weg von einer extremen Demokratie oder Oligarchie zu einer Politie liegen können. Vgl. Kraut 2002, 374 f. 22 Allerdings kann eine Demokratie schlicht auf ihre Stärke vertrauen oder kann auch eine gerechtere Oligarchie trotzdem stürzen, wie das Beispiel Erythrai zeigt.

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Tyrannis dar, da diese sich tatsächlich an der besten Regierung (dem Königtum) ein Vorbild nehmen sollte, aber dies erklärt sich durch die Besonderheit einer Alleinherrschaft. Falls – und dies ist die Regel – in einer Gemeinschaft keine besonders herausragenden Tugendhaften vorhanden sind, plädiert Aristoteles am ehesten für eine Herrschaft des Mittelstandes. 23 Da Aristoteles also versucht, ein Gleichgewicht zwischen den normativen Wünschen und der tatsächlichen Verfasstheit der betreffenden Gemeinschaft herzustellen, darf ihm weder das Zerrbild eines abstrakt-kontextignorierenden Universalismus, noch (was ihm tatsächlich viel häufiger vorgeworfen wird) ein sich an die äußeren Umstände kritiklos verlierender Kontextualismus unterstellt werden. Obwohl er nämlich kontextsensibel verschiedene Verfassungen für verschiedene Poleis als nützlich empfiehlt, behält er stets seinen normativen Maßstab, was eigentlich an sich die beste Regierungsform wäre. In den folgenden Kapiteln werden wir daher untersuchen, welche Verfassungstypen aus welchen Gründen normativ wie bewertet werden. Bekanntlich unterscheidet Aristoteles sechs verschiedene Verfassungstypen und beurteilt folgende Ordnungen hauptsächlich anhand ihres Beitrages zum Gemeinwohl und zur Erlangung der eudaimonia als richtige Verfassungen: Die besten Verfassungstypen sind das Königtum und die Aristokratie, und er fügt als schlechteste der guten Verfassungen die Politie hinzu. Wenn diese richtigen Verfassungen verfehlt sind, dann finden wir statt der besten Verfassung des Königtums die schlimmste Regierungsform, nämlich die Tyrannis; ebenso wird die nicht tugendhafte Herrschaft einiger nicht mehr Aristokratie genannt, sondern es handelt sich um eine Oligarchie; auf ähnliche Weise unterscheidet er die Politie als verhältnismäßig tugendhafte Herrschaft der Vielen von der Demokratie als der nicht tugendhaften Variante. 24 Grundsätzlich bleibt diese normative Reihung in den Büchern III–VI der Politik stets dieselbe: Königtum-Aristokratie-Politie als gemeinwohlorientierte und somit naturgemäße Verfassungen und Demokratie-Oligarchie-Tyrannis als verfehlte Verfassungstypen, die auf den Eigennutz der Herrscher aus sind und nicht

Vgl. Pol. IV, 11. Vgl. Pol. IV, 2: 1289a26–30. Allerdings ist dieses Degenerationsmodell nicht zeitlich aufzufassen (contra Schütrumpf 1996, 115), was tatsächlich wenig Sinn ergäbe.

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mehr die Natur der Polis, das gute Leben für alle Bürger, zu verwirklichen suchen. Voller Zorn bezeichnet Aristoteles die Tyrannis und die anderen verfehlten Verfassungen daher als naturwidrig. 25 Schließlich verfehlen sie diese bereits erwähnten Hauptkriterien der Gemeinwohlorientierung bzw. der korrekten Auffassung des eu zên; überdies liegt ein weiterer Hauptmangel verfehlter Verfassungstypen darin begründet, dass sie machtpolitisch Gleiche ungleich behandeln oder Ungleiche gleich. 26 Besonders schlimm ist dies dann, wenn sie eigentlich freie Bürger quasi-knechtisch behandeln. 27 Während Demokratie oder Oligarchie immerhin Teile des eigentlich Gerechten verabsolutieren und so nicht schlechthin ungerecht sind, 28 aber trotzdem gegen die eigentlich gerechte Gemeinschaftsordnung verstoßen, weil sie Gleiches ungleich oder Ungleiches gleich behandeln, ist die Tyrannis vermutlich schlechthin ungerecht zu nennen. Schließlich stellt sie eine absolut ungerechtfertigte Ungleichheit eines Einzelnen dar, da dieser gegen sämtliche Begriffe des Gerechten und Gleichen verstößt und meist auch eine moralisch äußerst zwielichtige Figur ist. 29 Wenn wir uns an die bisher erreichten Ergebnisse zurückerinnern, entscheidet also das Kriterium der Tugendbeförderung am stärksten darüber, welche Verfassung die beste genannt werden kann. 25 Vgl. Pol. III, 17: 1287b38–40 mit Pol. VII, 3: 1325b7–10. Ambler 1985, 177 f. betrachtet dies jedoch als Verkomplizierung der Ausgangsthese von Pol. I, dass jede Polis von Natur sei: Schließlich bezeichne er nun die meisten Poleis als naturwidrig, beschreibe aber die korrekten Verfassungstypen nicht ausdrücklich als kata physin. Insofern helfe die Unterscheidung von Verfassungstypen aufgrund von Naturwidrigkeit und Naturgemäßheit nicht in aktuellen politischen Entscheidungen. 26 Daraus sollte aber meines Erachtens nicht gefolgert werden, dass das zentrale Beweisinteresse von Pol. III auf eine Evaluation des Gerechten im Austeilen als natürlich oder unnatürlich – via eine Bewertung ihrer Theorie der politischen Rechte – hinausläuft (so aber Miller 1997, 123). Rapp 2016, 71 hingegen rekonstruiert die Naturwidrigkeit ebenfalls als Widerspruch zur Natur der Polis, nämlich der Beförderung der Autarkie und des guten Lebens: Naturwidrige Verfassungen enthalten zumindest manchen Bürgern den gebührenden Anteil am Nutzen und guten Leben vor und erfüllen so das Ziel menschlichen Strebens nicht zur Gänze. 27 Vgl. Pol. III, 6: 1279a17–21. Besonders verwerflich ist dies, weil sie keine politische Herrschaft ausüben (= Herrschaft über Freie und Gleiche, vgl. Pol. I, 7: 1255b20 und Pol. III, 4: 1277b7–9, ferner negativ-abgrenzend Pol. VII, 3: 1325a27–30 und Pol. III, 6: 1278b32–1279a21). 28 Vgl. etwa Pol. III, 9: 1281a8–10 mit Pol. III, 9: 1280a7–16. 29 Vgl. Pol. IV, 10: 1295a17–22

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Schließlich gilt es, sich den Zweck der Polis vor Augen zu halten: Sie besteht nicht nur um des nackten Überlebens willen, sondern bezweckt das gute Leben. Bekanntlich erreichen wir die eudaimonia durch Tugendausübung, daher müssen wir die Tugend als Hauptkriterium für eine gelungene Verfassung ansehen. 30 Entsprechend dieser normativen Stufenleiter anhand des Guten und Gerechten von Natur, gibt es einen normativen Höhepunkt in der Verfassungstypologie: Zwar argumentiert Yack zurecht gegen eine substanzialistische Fehldeutung der Polis, 31 leitet allerdings daraus allerdings ab, dass es in der Beschreibung der aristotelischen politischen Philosophie nicht legitim sei, von der Natürlichkeit oder Naturwidrigkeit bestimmter Verfassungen zu sprechen. 32 Tatsächlich jedoch kritisiert Aristoteles nicht nur – wie oben gezeigt – manche Verfassungstypen als naturwidrig, sondern billigt ausdrücklich manchen Verfassungen zu, dass sie die Besten von Natur aus seien. 33 Freilich darf die Rede von »Natur« nicht einen falschen Schluss nahelegen, den Keyt trotz seiner organizistischen Lesart ausdrücklich vermeidet, indem er auf einen wichtigen Unterschied zwischen physischem Organismus und den Verfassungen der Polis hinweist: Das Widernatürliche ist in der Welt der lebendigen physischen Organismen die Ausnahme, während die laut Aristoteles widernatürlichen Verfassungen (v. a. Demokratie und Oligarchie) in der Politik die Regel darstellen. 34 Während die Natur im Bereich der Physik ihr Ziel meist erreiche, verfehlen die Menschen häufig das von dem eigentlich Guten und Gerechten (vom »Naturrecht«) Gebotene und lassen schlechte Verfassungen zu. Dies schließt sich auch nahtlos an die Überlegungen zur politischen Anthropologie in den Eingangskapiteln an: Die menschliche (Vernunft-)Natur ist eine vernünftige und damit wesentlich offene Aufgabe und nicht eine quasi-naturgesetzlich-unumstößliche Vorgabe. Bekanntlich hat der Mensch die Freiheit, das an sich vernünftig Gebotene zu unterlassen oder ihm gar ausdrücklich zuwider zu handeln. Somit legt sich für Aristoteles nahe, dass es zwar eine beste Option geben kann, aber diese von den Menschen nicht 30 Für diesen Abschnitt vergleiche als gelungene Kurzzusammenfassung: Pol. VII, 8: 1328a35–b2. 31 Vgl. Yack 1993, 90–96. 32 Vgl. Yack 1993, 95. 33 Vgl. EN V, 10: 1135a5. 34 Vgl. Keyt 1991a, 258 f. Ähnlich Yack 1993, 63, Fußnote 22.

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zwingend gewählt wird. In der Politik scheint der Mensch für Aristoteles von dieser Möglichkeit ausgiebig Gebrauch zu machen, da gerade die »naturrechtlich« gebotenen, also naturgemäßen Verfassungen nur eher selten auftreten. Welche Verfassungen dürfen sich nun mit dem Ehrentitel der besten Verfassung schmücken? Darunter müssen wir entweder das Königtum oder die Aristokratie verstehen: Über die Aristokratie und das Königtum ist nun also gesprochen worden (denn über die beste Verfassung nachzudenken, ist dasselbe wie über diese [Verfassungen] zu sprechen, die diese Namen tragen: es will nämlich jede von beiden auf die Tugend, die [mit äußeren Gütern] gut ausgerüstet ist, hin bestehen). 35

Somit legitimiert Aristoteles das Königtum und die Aristokratie deswegen als beste Verfassungsformen, da sie allein den Zweck der Polis vollumfänglich erfüllen und für das wahre eu zên sorgen können. Da nur die sittlich besten Menschen gemäß ihren sittlich am besten zu nennenden normativen Vorstellungen die sittlich besten Rechtsordnungen hervorbringen und in sittlich gebührender Weise die anderen Gruppierungen daran mitbeteiligen, erreichen nur sie das Ziel der Polis in wahrer Weise; ebenso erfüllen lediglich nur diese beiden Verfassungen die zweite Forderung, die Gemeinschaft auch in machtpolitischer Hinsicht »naturgemäß« zu ordnen und die Ansprüche der verschiedenen Gruppen korrekt zu würdigen. Daher plädiert Aristoteles gerade für diese zwei Verfassungstypen. Königtum und Aristokratie sind also als die natürlichen (= vollkommenen) Verfassungen einer guten Gemeinschaft zu verstehen. 36 Da Königtum und Aristokratie von Aristoteles als die normativ besten Verfassungsformen erachtet werden, bespreche ich diese zuerst. 37 Sodann werde ich die nächst beste Regierungsform, nämlich Pol. IV, 2: 1289a30–33 (Übersetzung des Verfassers, basierend auf Gigon und Schütrumpf). Wenn wir uns zurückerinnern, müssen wir die Polis als Gemeinschaft zur Sittlichkeitsverwirklichung betrachten: Pol. III, 9: 1280b6–8. 36 Dies stellt sozusagen die ausbuchstabierte Antwort auf das Fragezeichen dar, das sich für Interpreten aus EN V, 9: 1135a3–5 ergibt. Eigens zu prüfen wäre natürlich noch die These von Kraut 2002, 360 f., dass Pol. VII die schlechthin beste Verfassung wäre und Königtum und Aristokratie nur für bereits existierende Städte die beste Möglichkeit seien und bloß innerhalb der Taxonomie von Pol. III den Höhepunkt darstellten. 37 Hier sei übrigens zur Einteilung des nächsten Abschnitts bemerkt, dass meist nur politische und despotische Regierungsgattungen unterschieden werden, aber das 35

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Königliche Polisordnungen

die Politie, genauer untersuchen. Abschließend analysiere ich die despotischen Verfassungsformen der Demokratie, Oligarchie und Tyrannis.

3.1 Königliche Polisordnungen 3.1.1 Der Typus des Königtums 3.1.1.1 Das Königtum als suprapolitische absolute Herrschaft eines Tugendhaften Wenn wir uns für die Definition des Königtums interessieren, nehmen wir am besten unseren Anfang mit dem Schluss des Kapitels Pol. III, 14, da Aristoteles hier fünf verschiedene Subtypen des Königtums aufzählt: 1) das Königtum des Heroenzeitalters, 2) das barbarische Königtum, 3) die Aisymneten, 4) das spartanische Feldherrenamt und 5) das Universalkönigtum. 38 Rasch scheidet Aristoteles drei der fünf Subtypen als uninteressant aus und diskutiert am Anfang von Pol. III, 15 die Frage, ob das schwache spartanische Königtum oder das besonders machtvolle Universalkönigtum für die Erörterung der normativen Qualität des Königtums geprüft werden solle. Dabei entscheidet sich Aristoteles dafür, das Universalkönigtum zu analysieren, da das Feldherrenkönigtum in jedem Verfassungstypus vorkommen könne, also mehr die gesetzliche als die Verfassungsseite berühre. Entsprechend bleibt nur noch das Universalkönigtum als maßgeblicher Hauptvertreter des Königtums übrig. 39 Textfern sind daher Befunde wie diejenige von Von Leyden, der Aristoteles als Befürworter einer »constitutional or limited kingship« betrachtet. 40 Aufgrund des Beginns von Pol. III, 15 kann man nämlich Aristoteles entweder als Verfechter eines absoluten Königtums zeichnen oder als Gegner des Königtums überhaupt, jedoch sicherlich nicht als Vertreter einer konstitutionellen Monarchie. Königtum nicht gleichberechtigt als dritte Art zur Seite gestellt wird. Mulgan 1977, 37 behebt diesen Mangel. 38 Vgl. Pol. III, 14: 1285b20–33. 39 Vgl. Pol. III, 15: 1285b33–1286a7. Daher ist auch mit dem wahren Königtum von Pol. IV, 10: 1295a4 f. unbestreitbar die pambasileia gemeint (vgl. Schütrumpf 1991b, 538). 40 Vgl. Von Leyden 1985, 77 f. Ordnung in der Polis

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Wie aber lässt sich eine solche absolute Regierung eines Königs überhaupt rechtfertigen, denn ist die Polis nicht als Gemeinschaft von Freien und Gleichen aufzufassen? Widerspricht also nicht eine derart herausragende Machtstellung aristotelischen Grundgedanken einer politischen Ordnung? Bereits erste Hinweise erhalten wir durch eine Stelle aus dem IV. Buch der Politik, denn das Königtum sei entweder nur ein bloßer Name oder es beruhe auf dem großen Vorrang des Regierenden. 41 Damit haben wir nun auch eine wesentliche normative Rechtfertigung des Universalkönigtums kennengelernt, nämlich dass der König alle anderen an Tugend völlig überrage. Warum ist Aristoteles dieser Punkt so wichtig? Wenn wir uns die erste vorläufige Definition des Universalkönigtums in Pol. III, 14 ansehen, dann hebt Aristoteles zunächst nur auf den machtvollen Aspekt der absoluten Herrschaft eines einzigen Menschen über poleis und ethnê ab und zieht dabei die Analogie zur Machtfülle des Hausherrn. 42 Wenn allerdings diese Definition die einzige bleiben sollte, wäre genau genommen ein besonders machtvoller König von einem besonders machtvollen Tyrannen nicht unterscheidbar. Daher hebt Aristoteles den derart machtvollen König normativ dadurch hervor, dass dieser aufgrund seines aretê-Vorrangs dazu auch berechtigt sei und das Universalkönigtum also die Herrschaft des Besten darstelle. 43 Ziemlich deutlich ruft Aristoteles an mehreren Stellen die Bürger zur freiwilligen Anerkennung eines solch herausragenden Menschen auf. 44 Nun können aber natürlich Bürgerschaften auf verschiedene Weise mit einem solch herausragenden Menschen umgehen: So werden eigennützige Herrschaftsformen wie die Tyrannis ihn ermorden lassen oder eine Demokratie mag ihn verbannen. Umgekehrt kann eine Polis die Herrschaft dieses Besseren willig anerkennen. Nachdem wir uns seiner normativen Begründung für die absolute Königsherrschaft angenähert haben, 45 bleibt dennoch für AristoVgl. Pol. IV, 2: 1289a41 f. Vgl. Pol. III, 14: 1285b29–33. 43 Vgl. Pol. III, 17: 1288a15–29 und Pol. III, 18: 1288a32–37. Implizit legt dies schon Pol. III, 7: 1279a32–40 nahe. 44 Siehe zum Beispiel Pol. III, 17: 1288a15–29 (besonders das Resümee in den letzten Zeilen, dass man einem solchen Menschen gehorchen solle und dieser überhaupt und nicht bloß eingeschränkt herrschen solle), Pol. III, 13: 1284a9–11 oder Pol. III, 13: 1284b28–34. Ferner wird ein lebenslanges Königtum auch in Pol. V, 1: 1301b27 f. unter bestimmten Umständen gerechtfertigt, denn es sei nur ungerecht zu nennen, wenn es unter Gleichen bestünde. 45 Weiter unten vertiefe ich diesen Aspekt weiter. 41 42

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teles das juristische Problem, wie er die Bürgerschaft als Gemeinschaft der Gleichen mit einer solchen Herrschaft eines absolut Ungleichen vereinbaren kann. Genau diese zwei Elemente muss Aristoteles schließlich miteinander vereinbaren können, um ein Universalkönigtum legitimieren zu können: Zum einen muss die Bürgerschaft aus Freien bestehen, ansonsten würde der König ja über Knechte herrschen. Zum anderen ist die Vollbürgerschaft bekanntlich definiert als Gemeinschaft von Gleichen. Hier wählt Aristoteles die Lösung, dass solch überragende Figuren wie der absolute Monarch nicht mehr zur Bürgerschaft gehören, sondern ausdrücklich außerhalb gestellt sind. 46 Dies löst auch das folgende, von Yack aufgeworfene Problem: »Any community that included such an individual or family would clearly lack the proportionate equality that Aristotle considers a necessary foundation of political community«. 47 Damit beschreitet Aristoteles keineswegs einen juristisch problematischen Sonderweg für die damalige Zeit, denn Ergebnisse der althistorischen Forschung zeigen, dass die Griechen keine juristischen Probleme hatten, Herrscher, die über oder neben der Gemeinde standen, rechtlich zu fassen und dementsprechend auch anzuerkennen. 48 So kann Aristoteles elegant das Problem lösen, wie er die Bürgerschaft als Gemeinschaft von Freien von einem absolut Ungleichen regiert werden lassen kann: 49 Der König als völlig Ungleicher steht außerhalb der Bürgerschaft und kann diese daher bestehen lassen und – wie wir sehen werden – in der Form der Bürokratie in einem gewissen Umfang auch mitbeteiligen. Da der König derart unvergleichbar ist, steht er außerhalb der Bürgerschaft und wirkt fast wie ein Gott unter Menschen. Dies führt sogleich zur nächsten, häufig problematisierten These im Zusammenhang mit dem Königtum, weswegen wir die angebliche Vergöttlichung genauer unter die Lupe nehmen sollten. Hier zieht Aristoteles Vergleiche und verklärt den König nicht etwa wirklich zu einem Gott: Schließlich erklärt er, dass der König fast wie ein Gott wirke, vergleicht ihn an anderen Stellen mit Heroen und wiederum an einer anderen Stelle vergleicht und parallelisiert er die Stellung des Königs zu seinen Untertanen mit derjenigen von Zeus zu den 46 47 48 49

Vgl. Pol. III, 13: 1284a3–8. Yack 1993, 86 (Hervorhebung durch Unterstreichung; B. L.). Vgl. Gschnitzer 1960, 47. Miller 1997, 235 hingegen findet diese Lösung bizarr.

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Göttern. Direkt vergöttlicht wird der König nirgends, womit die Hürde für potentielle Könige nicht derart hoch ist wie manchmal suggeriert wird. 50 Überhaupt muss auch der damalige Sprachgebrauch berücksichtigt werden: Aristoteles berichtet nämlich, dass die Spartaner jemanden göttlich nennen, wenn sie ihn besonders bewundern. 51 Insofern versucht Aristoteles meiner Interpretation nach mit dieser Lehre nur, die besonders herausragende Stellung des Königs zu versinnbildlichen. Schließlich muss der König dem normalmenschlichen Maßstab enthoben werden, damit der Einwand der Antimonarchisten nicht zutrifft, dass der Mensch zwangsläufig ein Tier mit sich führe. Kritisch muss in diesem Zusammenhang angemerkt werden, dass viele Interpreten an manchen Stellen irreführende Übersetzungen bieten und somit den Sinn der Aussagen verkehren. So übertragen einige Übersetzungen der zentralen Stelle Pol. VII, 14: 1332b16– 27 das griechische rhadion falsch. Vor der entscheidenden Stelle legt Aristoteles fest, dass ein Mann dann ein solch absoluter Machthaber sein dürfe, wenn er die anderen so überrage, wie die Götter und Heroen die Menschen. Nun übersetzen viele Interpreten den entscheidenden Halbsatz tendenziös und philologisch nicht haltbar, indem sie ou rhadion mit »unerreichbar« wiedergeben. Tatsächlich heißt es aber nur »nicht leicht«, was semantische Welten ausmacht. 52 Aubenque hingegen interpretiert: »Premièrement, l’homme universellement compétent que devrait être en droit l’individu royal est en fait introuvable« 53, ähnlich auch Miller 54. Kraut hingegen versteht die ou rhadion-Stelle satirisch und karikiert diese Vorstellung als Übermenschenrassen-Phantasie. 55 Darüber hinaus fügt er hinzu: »But, he immediately adds, there are no such superhuman beings«. 56 Allerdings findet sich für diese These kein Beleg im aristotelischen Text; auch Kraut selbst bietet dafür keine Stelle. Insgesamt scheint er mir – wie viele moderne Interpreten – allzu sehr von seinem eigenen Horizont Auch Schütrumpf legt unter Verweis auf Bosworth Wert auf diesen wichtigen Unterschied »Richtig hält dagegen Bosworth 1988, 278–280, Vergöttlichung und die Vorstellung einer Überlegenheit wie die eines Gottes unter Menschen auseinander« (Schütrumpf 1991b, 528 Anm. 74,20). 51 Vgl. EN VII, 1: 1145a27–29. 52 Dies hat schon Kamp bemerkt und bemängelt. Vgl. Kamp 1985, 300. 53 Aubenque 1993, 258 (Hervorhebung B. L.). 54 Vgl. Miller 1997, 236. 55 Vgl. Kraut 2002, 225 f. und 233. 56 Kraut 2002, 225. 50

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aus bestimmte Annahmen für unplausibel zu erklären: Nur weil wir Heutigen nicht mehr von einer derartigen Überlegenheit der Herrschenden an Körper- und Geistesgaben ausgehen, kann dies nicht auf frühere Zeiten übertragen werden. Man denke hier nur an entsprechende Schilderungen von Herrscherfiguren quer durch die Jahrhunderte und verschiedenen Kulturen. Die ebenfalls gottähnliche Heraushebung in Pol. III, 13 hält Kraut dagegen nicht für unrealistisch, da sie keine körperliche Überlegenheit verlange. 57 Während vor allem aus diesen genannten Gründen Interpreten wie Mulgan oder Miller von einer rein hypothetischen Möglichkeit eines solchen fast göttlich zu nennenden Königs ausgehen, 58 betrachte ich einerseits wie Keyt die Stelle EN VII, 1: 1145a27 f. als starken Hinweis, dass der göttliche Mann nur selten (aber nicht nie) auftritt. 59 Über Keyt hinausgehend möchte ich jedoch auch darauf hinweisen, dass eine behauptete faktische Unmöglichkeit des Königtums der aristotelischen Haltung zu Utopien widerspricht. Bekanntlich spricht sich Aristoteles mehrmals dahingehend aus, dass Voraussetzungen nach Wunsch gemacht werden dürfen, allerdings nicht unmögliche. 60 Warum soll dies beim Königtum anders sein, warum soll hier Aristoteles plötzlich einer angeblich nur theoretisch denkbaren, aber in der Realität nicht verwirklichbaren Regierungsform lange Kapitel seines Werkes widmen? Damit verstieße Aristoteles gegen die eigene antiplatonische Lehre, dass nichts Unfruchtbares erörtert werden sollte. Manchmal geschieht diese Annahme eines königtumskritischen Aristoteles vermutlich in apologetischer Absicht, um aus Aristoteles doch noch einen heimlichen Demokraten (im Schema des Aristoteles selbst ist natürlich die Politie gemeint) zu machen und ihn so anschlussfähiger zu halten. So schreibt etwa in einem anderen Zusammenhang Nussbaum, dass Aristoteles ein problematisches Verhältnis zum makedonischen Hof gehabt hätte, »whose threat to democratic freedoms he probably deplored« 61. Dabei zeigt sich bei genauer Lektüre der

Vgl. Kraut 2002, 422 Anmerkung 40 und Kraut 2002, 403. Vgl. Miller 2007b, 100 bzw. Mulgan 1991, 314 (»totally theoretical construct«)/ Mulgan 1977, 87, aber auch Schütrumpf 1991b, 533 f. und 538. 59 Vgl. Keyt 1991a, 277. 60 Vgl. Pol. II, 6: 1265a17 f. und Pol. VII, 3: 1325b38 f. 61 Nussbaum 2001, 345. Völlig anders als diese bewertet die Lage Simpson 1990, 161 f., der die Makedonen als politische Macht interpretiert, welche die Vollendung der griechischen Polis ermöglichen soll. 57 58

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aristotelischen Schriften, dass Aristoteles den demokratischen Freiheitsbegriff heftig kritisiert. Überdies erachtet Aristoteles eine herausragende Tugend von Königtum oder Aristokratie sogar als wesentlich wahrscheinlicher als eine entsprechende Tugend der Massen und zieht sie dieser auch normativ vor. 62 Manchmal wird gegen die Möglichkeit eines Königtums die Stelle Pol. V, 10: 1313a3–10 angeführt, da Aristoteles hier davon spricht, dass zu seiner Zeit kaum mehr Königsherrschaften entstünden. Hier hat Keyt herausgearbeitet, dass damit nichts gegen bereits bestehende Königsregierungen gesagt werde. 63 Sicherlich spricht dies faktisch gegen eine große Anzahl von Königtümern, was jedoch nichts über die generelle normative Wünschbarkeit aussagt. Aristoteles erhebt nämlich nicht die bestehenden Verhältnisse zum normativ Wünschenswerten: Schließlich sind in der Sicht des Aristoteles die Zeiten insofern beklagenswert, da vor allem die schlechten Herrschaftsformen aufblühen. So entstehen einerseits eher Tyranneien als Königsherrschaften. 64 Andererseits sind in Griechenland größtenteils Demokratien und Oligarchien verbreitet: Während großer Reichtum und große Massen von Armen sich häufig finden, seien Adel und Tugend sehr selten; in der Regel treffe man nicht mehr als hundert derartig herausragender Personen in einer Polis an. 65 Zwar gab es auch früher wenig Tugendhafte, dennoch waren die Oligarchien und Königsherrschaften häufiger, da infolge der kleinen Bevölkerungszahl die Armen nicht besonders viele und daher leicht zu kontrollieren waren. 66 Wenn Aristoteles also feststellt, dass zu seiner Zeit die Menschen ähnlicher seien und kaum mehr jemand über die anderen weit hervorragen könne, so darf dies nicht als befriedigte Tatsachenkonstatierung eines überzeugten Demokraten oder gar nor»Denn dass sich einer oder wenige an Tugend auszeichnen, ist möglich, dass aber viele allen Anforderungen der Tugend entsprechen, ist schwierig, am ehesten [ist es möglich] in der kriegerischen [Tugend]: diese kommt nämlich bei der Menge vor.« (Pol. III, 7: 1279a39–b2). Auch im Bereich der Gesetze ist es wesentlich einfacher, einen oder wenige zu finden, die Recht setzen oder sprechen können, als viele derartige Begabungen (vgl. Rhet. I, 1: 1354a34 f.). 63 Keyt 1999, 168. Meiner Interpretation zufolge erteilt Aristoteles also keineswegs den real existierenden Monarchien eine Absage und neigt auch nicht theoretisch zur Ablehnung der Königsherrschaft. Anders Scholz 1998, 165. 64 Vgl. Pol. V, 10: 1313a3–10. 65 Vgl. Pol. V, 1: 1301b39–1302a4. 66 Vgl. Pol. III, 15: 1286b8–10 mit Pol. IV, 13: 1297b25–28. 62

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mative Absage an das Königtum aufgefasst werden. Rosler hingegen versteht diese eigentlich nur deskriptive Feststellung als eine positive normative Wertschätzung. 67 Meiner Ansicht nach handelt es sich stattdessen wahrscheinlich eher um den resignierten Seufzer eines elitären Denkers, der die zunehmende Vermassung und damit einhergehende Demokratisierung seiner Zeit beklagt: 68 Da die Qualitäten und Quantitäten in einer Polis miteinander verrechnet werden müssen, 69 wird es für einen oder wenige »Qualitätsleute« immer schwieriger, gegen die immer größer werdenden Quantitäten von Nichtsnutzen oder Mittelmäßigen anzukommen. Da beide Extreme (die Tugendhaften und die wirklich Schlechten) relativ selten sind 70 (aber doch existieren), sieht Aristoteles seine Zeit am ehesten in einem Sumpf von Mittelmäßigkeit versinken. Somit verwehren unrechtmäßige Regierungsformen dem oder den zahlenmäßig weit unterlegenen Tugendhaften das Recht auf Herrschaft, indem sie ihre schiere Macht ausspielen. Interessant ist diese Feststellung des Aristoteles dadurch, dass gerade die Vertreter der höheren Schichten (König und Aristokratie) zu wenig Macht hätten, um ihr Recht durchzusetzen. Wie wahrscheinlich ist überhaupt ein solch überragender Mensch wie es der König sein sollte? Da die Messlatte doch sehr hoch liegt, finden wir natürlich nur wenige derart herausragende Männer. Daraus lässt sich freilich keineswegs ableiten, dass Aristoteles der Monarchie feindlich gegenüberstünde. Schließlich gehört es bekanntlich zum Grundgedanken einer Mon-Archie, dass es nur wenige derartig herausragende Menschen gibt: Es kann ja nicht jeder König sein. Mit diesen Überlegungen ist das Problem gelöst, wann ein Anwärter auf das Königtum einen legitimen Anspruch auf die Herrschaft erheben kann. Neben den bereits erwähnten Hauptargumenten für das

Vgl. Rosler 2005, 257. Vgl. Pol. III, 15: 1286b20–22. Insofern würde ich die Darstellung von Schnädelbach 1992, 212 f. korrigieren. Überdies ist der orthos logos gerade nicht der gesunde Menschenverstand im Sinne des common sense. Zwar orientieren sich aristotelisierende Politiker nicht an »theoriedefiniter Wahrheit« (im Gegensatz zu Platon), womit Aristoteles einen entscheidenden Fortschritt zu Platon darstellt; ebenso traut Aristoteles der Öffentlichkeit letztlich mehr zu als es sein Lehrer tat. Dennoch würde ich seine Philosophie nicht als antielitär und als Fundamentaltheorie unseres Verständnisses von liberaler Demokratie bezeichnen. 69 Vgl. Pol. IV, 12: 1296b17–24. 70 Vgl. EN VII, 1: 1145a27–33. 67 68

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Königtum finden wir bei Aristoteles noch weitere Legitimationsversuche, die ebenfalls seine Wertschätzung für den König ausdrücken. Zu nennen wäre auch noch die religiöse Legitimation des Königs, die Aristoteles als Möglichkeit in den Raum stellt: Falls dem herausragend tugendhaften König die Regierungsmacht verweigert werde, sei dies ein Sakrileg, das einer Hybris der Menschheit, über Zeus herrschen zu können, gleichkäme. 71 Bekanntlich soll nicht nur auf Erden das Königtum regieren, sondern auch im Himmel. Damit hat der irdische König in Zeus sein himmlisches Pendant. Pathetisch schließt Aristoteles das Buch Lambda der Metaphysik mit dem Homerzitat, dass einer regieren solle, denn Vielherrschaft sei schlecht. 72 Wenn nun die göttliche Ordnung durch einen Götterkönig sichergestellt wird, dann spricht dies prinzipiell für eine irdische tugendhafte Königsregierung bzw. kann der irdische tugendhafte Monarch auf seinen himmlischen Kollegen hinweisen. Allerdings darf dieser Vergleich nicht falsch aufgefasst werden: Es geht Aristoteles nicht darum, dass der König durch Gott eingesetzt und so die Politik letztlich im Sinne einer Gottesgnadenlehre theonom begründet würde. Stattdessen handelt es sich um eine schwache Analogie, die aber nicht die Stellung des Königs eigentlich legitimiert. Schließlich erhält der König seine herausragende Stellung nicht kraft der göttlichen Autorität, sondern durch seine eigene Tugend und durch den Konsens der Vollbürger. Dass der Zeusvergleich schwerlich begründend gemeint sein kann, wird durch Pol. I, 2: 1252b24–27 gezeigt. Hier bemerkt Aristoteles nämlich, dass die Menschen dazu neigen, ihre Lebensweise auf die Götter zu übertragen und daher die monarchisch regierten Vorfahren eine solche Verfassung für den Himmel angenommen haben. Interessanterweise setzt sich die erwähnte Analogie der verschiedenen Bereiche weiter fort: Der König des Himmels (also Zeus) besitzt ein Pendant auf Erden (nämlich den König), der wiederum im Vater als König des Haushalts einen Minikollegen erhält. So habe Homer recht gehabt, wenn er den Götterkönig als Vater der Götter und Menschen bezeichnet und das Königtum als väterliche Regierung bezeichnet oder umgekehrt das Verhältnis des Vaters zu den Söhnen als königlich kennzeichnet habe. 73 Vgl. Pol. III, 13: 1284b28–34. Vgl. Met. XII, 10: 1076a4. 73 Vgl. Pol. I, 12: 1259b10–17 mit EN VIII, 12: 1160b24–27. Noch weniger schmeichelhaft als der Vergleich der Untertanen mit Kindern (die Untertanen als Landes71 72

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Allerdings ist Aristoteles kein blinder Apologet der Herrschaft eines Königs, denn ihm sind die Gefahren und Risiken dieser Alleinregierung sehr wohl bewusst. Prinzipiell handelt es sich zwar um eine recht stabile Regierungsform, gleichwohl ist auch sie nicht völlig vor dem Untergang gefeit. 74 Besonders gefährlich ist einerseits Zwist unter den Helfern des Königs und andererseits, wenn der König tyrannisch und gesetzwidrig wird. Recht problematisch sind für Aristoteles die Erbmonarchien, denn auch gute Könige haben nicht immer ebenso tugendhafte Nachkommen. 75 Bekanntlich kommt es Eltern sehr hart an, wenn ihre Sprösslinge nicht wohlgeraten sind, und in der Regel versuchen sie dann, deren Defizite großzügig zu übersehen: Wenn nun ein guter König missratene Kinder hat, wird es ihm daher oft schwer fallen, sie von der Thronfolge auszuschließen. 76 Um solche und ähnliche Probleme von vornherein nicht aufkommen zu lassen, plädiert Aristoteles vermutlich für ein Wahlkönigtum. 77 kinder) ist übrigens der von Aristoteles gebrauchte homerische Vergleich des Königs als Schafhirten (vgl. EN VIII, 13: 1161a10–15). Allerdings muss bei diesem und folgenden Haushaltsvergleichen stets daran gedacht werden, dass es sich nur um didaktische Vergleiche handelt: Vermutlich möchte Aristoteles an den doch sehr lebensnah gewählten Beispielen die Sittlichkeit der verschiedenen Herrschaftsverhältnisse erläutern. 74 Dazu Pol. V, 10; besonders Pol. V, 10: 1312b38–1313a16. 75 Hier wechseln optimistische Stellen (vgl. Rhet. I, 9: 1367b30 und Pol. III, 13: 1283a36) mit pessimistischeren (vgl. Pol. V, 10: 1313a10–16) und relativ neutral gehaltenen (vgl. Pol. I, 6: 1255a32–b4, bes. b1–4.) ab. Ziemlich ausgewogen schließlich in Rhet. II, 15: 1390b22–31. 76 Vgl. Pol. III, 15: 1286b22–27. Manchmal gibt es allerdings tatsächlich solche auf das Gemeinwohl und nicht die eigenen Familieninteressen bedachten Machthaber: Der enge Freund des Aristoteles, Antipatros, ernennt bekanntlich nicht seinen eigenen Sohn Kassandros zum Nachfolger als Reichsverweser. Stattdessen glaubt er, den Polysperchon vorziehen zu müssen (worauf auch Newman 2010c, 289 Anm. zu 1286b26 hinweist). 77 Vgl. den Vorschlag, den er sogar für die schwache spartanische Monarchie macht (Pol. II, 9: 1271a20–22). Des Weiteren deuten einige andere Umstände auf ein Plädoyer für eine Wahlmonarchie hin; so müssen die Untertanen bekanntlich freiwillig dem König untertan sein. Auch in seiner Besprechung der karthagischen Verfassung plädiert er für eine Wahlmonarchie (vgl. Pol. II, 11: 1272b38–40). Damit setze ich mich in einen Gegensatz zur Deutung von Kelsen, der Aristoteles in seinem berühmten einschlägigen Aufsatz als Verfechter einer Erbmonarchie interpretiert. Bodin hingegen charakterisiert und kritisiert in Les Six Livres de la République VI, 5 Aristoteles sehr bestimmt als Befürworter einer Wahlmonarchie. Vgl. Bodin 1986, 426 f. Nun lässt sich natürlich fragen, ob nicht die Makedonenkönige etwas gegen eine Erbmonarchie gehabt haben könnten. Eine genauere Lektüre der althistorischen Forschung entkräftet eine derartige Überlegung, denn Alexander der Große musste sich Ordnung in der Polis

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3.1.1.2 Der König als nomos empsychos oder: Warum die pambasileia der »rule of law« nicht widerspricht Wenn nun aber der pambasileus ausdrücklich der Bürgerschaft enthoben ist und somit der »normalen« (= bürgerlichen) politischen Ordnung übergeordnet ist, müsste er eigentlich auch der Rechtsordnung enthoben sein. Schließlich ist die politische Ordnung für Aristoteles als Rechtsordnung zu begreifen. Nun könnte es aufgrund der Ergebnisse des letzten Kapitels so wirken, als würde Aristoteles beim Universalkönigtum eine Ausnahme von seiner Favorisierung der »rule of law« machen und stattdessen die »rule of the best man« bevorzugen. So glaubt zum Beispiel Piepenbrink, dass das Königtum für Aristoteles keine Gesetzesherrschaft im engeren Sinne sei oder behauptet Yack gar, dass alle gesetzlichen Monarchien als Abweichungen zu betrachten seien. 78 Tatsächlich wäre dies ein schweres systematisches Bedenken: Wenn wir uns den ausgeprägten Institutionalismus des Aristoteles sowie sein Eintreten für eine starke Bürokratie vergegenwärtigen, scheint dies auf den ersten Blick mit seiner normativen Wertschätzung des Königtums unverträglich zu sein. Wie kann das absolute Königtum als Herrschaft eines einzelnen Menschen für Aristoteles überhaupt eine gute Regierungsform darstellen, wenn er doch so sehr die Notwendigkeit der Herrschaft der Gesetze betont? Handelt es sich nicht um eine ungerechte Willkürherrschaft eines Tyrannen, wenn ein Mensch über den Gesetzen steht und absolut herrscht? So und ähnlich polemisieren einige Zeitgenossen gegen das Königtum. Um diese Einwände gegen das pambasileia-Königtum entkräften zu können, muss Aristoteles auf seine komplexe Verfassungsund Gesetzeslehre zurückgreifen und auch die Gedanken zur Bürokratie mitberücksichtigen. Bevor wir uns den einschlägigen Kapiteln Pol. III, 15+16 zuwenden, möchte ich auf zwei wichtige Punkte hinsichtlich der aristotelischen Argumentationsstrategie hinweisen: Erstens berücksichtigen viele Interpreten den Dialogcharakter dieser Kapitel nicht, 79 denn es handelt sich hier tatsächlich um eine Diskussion ebenfalls wählen lassen, und insofern entspricht die Wahlmonarchie zumindest oberflächlich auch den tatsächlichen Gegebenheiten (vgl. Jehne 1994, 182 f.). 78 Vgl. Piepenbrink 2001, 42 und Yack 1993, 203 Anm. 69. 79 Bates hat auf dieses dialogische Moment hingewiesen. Vgl. Bates 1997, 198, unterscheidet sich jedoch sehr in der inhaltlichen Auflösung. Miller hat ebenfalls darauf aufmerksam gemacht, legt allerdings ebenfalls eine deutlich verschiedene Interpreta-

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zwischen Monarchisten und Antimonarchisten. Zweitens – und dies folgt aus dem ersten Punkt – dürfen nicht bestimmte Aussagen isoliert aus ihrem Kontext herausgerissen und als aristotelische Lehre ausgegeben werden. Vielmehr möchte ich zeigen, dass Aristoteles keiner der beiden hier Diskussionsparteien völlig zustimmt und so die Disjunktion zwischen besten Gesetzen und bestem Mann mit einer eigenen Lösung übersteigt – was meines Erachtens in der Forschung bisher noch nicht beachtet worden ist. Wenn wir uns an die bereits im Kapitel »Herrschaft des vollkommenen Menschen oder »rule of law« bei Aristoteles? Zum aristotelischen Institutionalismus und platonischen Personalismus« erarbeiteten Ergebnisse zurückerinnern, können wir als Anknüpfungspunkt folgende Erkenntnisse wählen: Die Antimonarchisten argumentieren gegen die Herrschaft eines Einzelnen vor allem damit, dass das Gesetz als institutionalisierter und begierdenloser logos gelten soll. Somit könnte die Herrschaft des absoluten Königs nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie sich als besonders vernunftgeleitet und als nicht willkürlich erweisen sollte. Tatsächlich argumentiert Aristoteles genau auf diese Weise: So stellt der König den Gipfelpunkt der aretê dar 80 und erfüllt damit beide »Anforderungskriterien« 81 für einen vollkommenen Herrscher, nämlich die vollkommene Ausbildung der ethischen Tugenden sowie der dianoetischen aretê der phronêsis. Schließlich kann ein Mensch bekanntlich nur dann über die praktische aretê im Vollsinn verfügen, wenn er sowohl die phronêsis als auch die ethischen Tugenden in vollendeter Weise verwirklicht. Wenn aber der König mit seiner überragenden Gesamttugend sowohl als ethisch vollkommen als auch als besonders klug aufzufassen ist, dann dürfte der entsprechende Einwand der Befürworter der Gesetzesherrschaft auf ihn nicht zutreffen. Prinzipiell würde von dieser Überlegung her die platonische Lösung naheliegen, dass der König als völlig überragender Mensch die tion vor. Vgl. Miller 1991, 302 Anmerkung 54. Andere Interpreten, beispielsweise Derbolav 1980, 162, übersehen diesen Aspekt. Jedoch weist Aristoteles am Ende des 16. Kapitels des dritten Buchs der Politik selbst eindeutig darauf hin und spricht diesen Argumenten im 17. Kapitel keine absolute Gültigkeit zu, sondern hält sie in manchen Situationen für falsch. 80 Vgl. Pol. III, 13: 1284b25–34 und Pol. VII, 3: 1325b10–14. 81 Vgl. Pol. III, 15: 1286a16 f., Pol. I, 13: 1260a14–19 und Pol. III, 4: 1277a14 f. (er sollte phronimos sein, also die praktische Vernunft in einem besonders hohen Ausmaß besitzen) und Pol. III, 4: 1277b25–29. Ordnung in der Polis

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Gesetzesherrschaft auf den zweiten Platz verweist. Dies nimmt etwa Miller an, der Platon und Aristoteles in diesem Punkt parallelisiert: »Aristotle also speaks of kingship as the ›first and most divine‹ constitution (IV 2 1289a39–b1), which implies that the rule of law is only found in the ›second-best‹ constitution.« 82 Wie bereits im Kapitel zum platonischen Personalismus gezeigt, gilt dieses Modell der Gesetzesherrschaft als zweitbester Fahrt ausdrücklich auch im Politikos und in den Nomoi. Dagegen möchte ich zeigen, dass Aristoteles seine Wertschätzung für die »rule of law« sogar im Falle der absoluten persönlichen Überlegenheit eines einzelnen Menschen oder eines Geschlechts nicht aufgibt. Stattdessen verschmilzt in der Lehre des Königs als nomos empsychos die normative Höherwertigkeit der »rule of law« mit der größeren Flexibilität des einzelnen Menschen. Damit wäre der König dem vollkommenen Gesetz nicht unterlegen, da er ebenfalls als vernunftgeleitet und insofern als nicht begierdengeleitet charakterisiert wird und damit der entscheidende normative Nachteil des Menschen gegenüber dem Gesetz auf den König nicht zutrifft. Tatsächlich unterstreicht Aristoteles diesen Gedanken dadurch, dass er den König als Gesetz charakterisiert. 83 Etwas anderes wäre in gewisser Weise auch völlig erstaunlich, da die pambasileia in 1286a5 f. ausdrücklich als Verfassungsform gewertet wird. 84 Bekanntlich koppelt aber Aristoteles den Verfassungsstatus an das Vorhandensein von Gesetzen als allgemeinen Regeln. Insofern muss die pambasileia – im recht verstandenen Sinne – eine gesetzliche Herrschaft sein, denn der König soll als nomos empsychos selbst das Gesetz sein und für die Bürgerschaft gilt ohnehin die positive Rechtsordnung, die der pambasileus erlässt: 85 Interessanterweise ist dieser Aspekt in der Forschung bisher kaum beachtet worden: Wie die meisten Forscher begreift etwa Dolezal das Königtum und die Gesetzesherrschaft als Gegensätze. 86 Dabei vertreten viele Interpreten sogar die Extremposition, dass der pambasileus auf Gesetze verzichte, Miller 1997, 83. Vgl. v. a. Pol. III, 13: 1284a13 f., aber auch die Erinnerung in Pol. III, 17: 1288a2 f. 84 Nur das spartanische Königtum wird nicht als Verfassungsform gerechnet, wohl aber die anderen (contra Lindsay 1991, 495). 85 Noch viel weniger kann natürlich auf den Zwang verzichtet werden (wiederum anders Lindsay 1991, 494). 86 Vgl. Dolezal 1973, 49. Vielleicht erliegen hier manche modernen Interpreten der Hetze des Demosthenes, der in seiner zweiten anti-philippischen Rede König und 82 83

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um die Gemeinschaft zu ordnen. 87 Gegen eine solche Leugnung gar einer »rule by law« sprechen indes mehrere Argumente: Der König wird in Pol. III, 14: 1285b32 f. als Herrscher über eine Stadt oder eines oder mehrere Völker gekennzeichnet. Wie soll ein König über Völker ohne Gesetze regieren? Eine rein persönliche Herrschaft ist völlig undenkbar. Vor allem aber wird in der Diskussion von Pol. III, 15 der König eindeutig als Gesetzgeber herausgestellt. 88 Miller geht zwar auf die genannten Stellen der Gleichsetzung von König und Gesetz ein, deutet sie allerdings wie folgt: »Perhaps he means to suggest that such a person acts on his own accord the way an ordinary person would who consistently obeys the law.« 89 Dagegen identifiziert Neschke-Hentschke zwar den logos des gerechten Herrschers mit dem Gesetz, ohne dies jedoch auf das Königtum einzuschränken oder auf diesen Aspekt zu verweisen. 90 Dies ist jedoch nötig, da nur der König von Aristoteles als derart übermenschlich gedacht wird, dass das von Neschke-Hentschke angesprochene Verschwinden des wankelmütigen Menschen gewährleistet ist. Knoll wiederum trifft im Zusammenhang mit der Diskussion um die besten Gesetze die Annahme, dass Aristoteles das absolute Königtum wegen der mangelnden Gesetzlichkeit und der emotionalen Gefährlichkeit ablehne. 91 In 1272b5–7 hatte sich ja das Problem gestellt, dass der Mensch keine zuverlässige Richtschnur sein kann. Wenn jedoch der König über den orthos logos und über seine Tugend den Titel des spoudaios verdient, stellt er eben doch das Maß und die Richtschnur dar, denn Aristoteles kennzeichnet mehrfach den spoudaios als Maß 92. Insofern können die Bedenken von Knoll als zerstreut gelten. Tyrann gleichsetzt und sie Feinde der Freiheit und der Gesetze nennt. Vgl. Zweite Rede gegen Philipp, 25. 87 Vgl. Lindsay 1991, 494 und 506; Newman 2010a, 289. 88 Vgl. Pol. III, 15: 1286a21 f. Hier sei daran erinnert, dass zu Beginn von Pol. III, 15 die Behandlung des Königtums auf die Analyse des Universalkönigtums eingeengt wird. 89 Miller 2007b, 100. Damit übersteigt Miller die Lösung eines früheren Artikels, in dem er Aristoteles die These zuschreibt, den nomos empsychos einseitig an die »rule of law«-Argumentation zu koppeln und darin zu scheitern. Vgl. Miller 1991, 304. Im Gegensatz zu Miller möchte ich hervorheben, dass Aristoteles in der Lehre vom nomos empsychos die Vorteile beider Seiten aufgehoben sieht und nicht einseitig der als eine der beiden Streitpositionen vorgestellten »rule of law« die Richtigkeit zuspricht. 90 Vgl. Neschke-Hentschke 2012, 122. 91 Vgl. Knoll 2009, 117. 92 Zur Lehre des Tugendhaften als Maß vgl. EN III, 6: 1113a29–32, EN X, 5: 1176a15– Ordnung in der Polis

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In meiner Beschäftigung mit Einwänden von Keyt werde ich diesen Punkt noch weiter vertiefen. Anders als Newman vermutet hat, ist also der pambasileus nicht die Ausnahme von der »rule of law«, 93 sondern im Gegenteil zeigt sich hier die Gesetzesherrschaft in neuer Qualität. Schließlich gibt es selbstverständlich nicht nur die Gesetze als allgemeine Regeln für die Bürger sowie die Beamtenschaft als treue Diener des königlichen Willens (meist ausgedrückt in den Gesetzen), sondern es zeigt ein Vergleich mit den Diskussionspartnern der Ausgangssituation »Herrschaft des besten Mannes oder der besten Gesetze« die Genialität der aristotelischen Lösung: Aristoteles unterläuft nämlich geschickt die Alternative von vollkommenen Gesetz und vollkommenen Menschen, die sich in Pol. III, 15 94 aufgetan hatte, denn der König vereint die vollkommene Gesetzlichkeit als Mensch in sich, womit die Alternative von Pol. III, 15 in ihm aufgehoben ist. So stellt er in seiner Person die gesuchte Verbindung von Gesetz und Klugheit dar, die Lindsay dem Buch III ausdrücklich ab- und der Polis der Bücher VII/ VIII zuspricht 95 bzw. können wir ihn – in Anwendung der Studie von Hoffmann (zur Regularität in der aristotelischen Ethik) auf die politische Philosophie – als ein Token des Typus der normativen Regularität ansprechen 96. Trotzdem lässt sich hier aus moderner Sicht ein Rückschritt des Aristoteles beobachten: Zwar substantialisiert er die Polis nicht zu einem Lebewesen, aber der König als nomos/logos empsychos ist eindeutig eine fragwürdige Substantialisierung: Wie soll der König als nomos empsychos die Unpersönlichkeit des Gesetzes in sich als Person aufheben? Wie kann sich Transpersonalität in einer Person manifestieren? Hier überzeugt die aristotelische Synthese von allgemeinem Gesetz und individueller Person uns Heutige wohl eher nicht. Aus obigen Überlegungen resultiert eine weitere wichtige Entgegnung auf antimonarchistische Argumente: Laut Aristoteles dürfen wir nicht vergessen, dass Verfassungen und Gesetze nicht vom Himmel fallen. Bekanntlich müssen sie erst geschaffen werden, was 18 und EN IX, 4: 1166a12 f. Dies ist sogar ein großer Vorteil des Monarchen, denn er erweist sich als den starren Gesetzen überlegen, da er gleichzeitig flexibler auf besondere Umstände reagieren kann, ohne den moralischen Kompass zu verlieren. 93 So jedoch Newman 2010a, 276. 94 Vgl. noch einmal die die sehr zugespitzte Fragestellung von Pol. III, 15: 1286a7–9. 95 Vgl. Lindsay 1991, 505. 96 Vgl. Hoffmann 2010.

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aber je nach »Hersteller« unterschiedlich gerecht und logos-geleitet ausfallen kann. Da der König eben logos-geleitet und gerecht regiert, wird er als nomos empsychos die Verfassung und die Gesetze vernünftig und gerecht regeln. Letztlich dreht Aristoteles sogar den Spieß um und wirft manchen Demokratien und Oligarchien seiner Zeit ihre ungerechte und unvernünftige Willkür und Eigennützigkeit vor. 97 Insofern sind gerade ihre Verfassungsgestaltungen und ihre Gesetze nicht ein institutionalisierter logos, sondern eher das von ihnen beschworene wilde Tier mit viel Freilauf. 98 Hier muss ich allerdings noch anmerken, dass die Willkür in zweierlei Hinsicht verstanden werden kann: Willkür muss nicht völlige Regellosigkeit bedeuten, denn nur die schlimmsten Ausläufer der verfehlten Verfassungen fasst Aristoteles als ziemlich regellos auf. Dagegen gehorchen die anderen Varianten durchaus vergleichsweise konstant Regeln, nämlich den Regeln ihres eigenen Vorteils. Natürlich sind diese im Vergleich zu den Vernunftregeln schwankend, da auch die Willkür wesentlich erratischer als die Vernunft ist. Welche weiteren Argumente bringen Interpreten, die Königtum und Gesetzesherrschaft als Gegensatz begreifen? Manche konzentrieren sich auf eine bestimmte Stelle in Pol. III, 13, nämlich 1284a11–14. Dort schreibt Aristoteles, dass es für die Überragenden keine Gesetze gebe, weil sie selber das Gesetz seien. Keyt und Schütrumpf sehen hier gewichtige Gründe, um Königtum und Gesetzesherrschaft einander gegenüberzustellen. So glaubt Keyt, dass der königliche Wille nicht durch das Gesetz begrenzt werde. 99 In einer gewissen Weise hat er sicherlich recht, man darf dies gleichwohl nicht missverstehen. Gerade die erste von ihm angeführte Stelle (Pol. III, 13: 1284a13 f.) zeigt, dass der König zwar über dem positiven Gesetz steht, aber selber das Gesetz ist. Insofern ist der königliche Wille kein willkürlich-erratischer Wille, sondern ein vernünftig-regelhafter. 100 Bestätigt wird diese Lesart durch Rhet. I, 8: 1366a1 f.: Dort charakterisiert Aristoteles

Vgl. das bereits zitierte Pol. III, 10: 1281a34–39. Vgl. das hehre Selbstbild, das Demosthenes von den Gesetzen der Demokratie als Ausdruck des Geistes der Bürgerschaft zeichnet, mit der abschätzigen Beurteilung des Willens der Demokraten durch Aristoteles etwa in Pol. VI, 2: 1317b11–15 und Pol. VI, 4: 1319b27–32. 99 Vgl. Keyt 1991a, 273. 100 Die in Pol. III, 16: 1287a1 bzw. 8–10 angesprochene boulêsis ist also eine boulêsis kata ton logon und keine wilde, ungezügelte Willkür. 97 98

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die Tyrannis als eine schrankenlose und regellose Regierung, während die Königsherrschaft einer taxis folge. 101 Schütrumpf vertritt sogar eine vielleicht noch schärfere Lesart von Pol. III, 13: 1284a11–14 und des Kontexts, denn er betrachtet den besten Staat als Herrschaft des einzelnen oder der wenigen Besten ohne Gesetzesbindung und lässt diese Lehre dem Verfassungsschema des platonischen Politikos entsprechen. 102 Daran ist richtig, dass bei Aristoteles der Beste selbst nicht den positiven Gesetzen unterworfen ist. Damit spricht Aristoteles freilich nur das Prinzip des princeps legibus solutus 103 aus, der nicht an die positiven Gesetze gebunden ist. Soweit sehe ich durchaus Parallelen zur platonischen Lehre, da dieser ebenfalls dafür plädiert, dass der vollkommene Herrscher nicht den positiven Gesetzen unterworfen sein solle. Jedoch unterscheiden sich Platon und Aristoteles in drei wichtigen Beziehungen: Erstens fehlt bei Platon die ausdrückliche Identifikation des Königs mit dem Gesetz im Sinne des nomos empsychos; 104 zweitens zeigt ein Blick auf 302b–303b, dass Platon die Verfassungstypen außerhalb der besten Regierungsform allesamt als ouk orthai politeiai betrachtet, was Aristoteles einerseits wegen der anderen Konzeption der besten Regierung und andererseits wegen der positiveren Sicht auf die platonischen drei besten Verfassungen anders sieht (ebenso teilt er – wie erwähnt – nicht das Kriterium der Gesetzesherrschaft als absolutes Kriterium für die Scheidung von brauchbaren und unbrauchbaren Typen); drittens wiederum in der institutionalistischen Ausprägung der Königsherrschaft: Während Platon solchen Überlegungen kaum Platz einräumt, beharrt Aristoteles sehr explizit auf institutionellen Regelungen der Herrschaft in Aristokratien oder Königtümern. Während Piepenbrink Aristoteles eher platonisch interpretiert, indem Monarchie und Aristokratie vor allem durch die ethische Qualität der Herrschenden und das Fehlen institutioneller Regelungen Schon Platon sieht den Tyrannen in einem äußersten Gegensatz zu logos und nomos: Der Tyrann flieht nomos und logos und lebt für seine Lüste (vgl. Politeia IX. Buch 587c). 102 Schütrumpf 1991b, 528 Anm. 74,20. 103 Damit liefert Aristoteles eine philosophische Rechtfertigung eines königlichen Absolutismus; die Lehre eines princeps legibus solutus findet sich später auch bei den Römern sowie überhaupt in europäischen Absolutismustheorien (auch in der Philosophie der Neuzeit finden sich Lehren einer Gesetzesenthobenheit des Herrschers, z. B. im hobbesschen Leviathan). 104 Allenfalls finden sich sehr zarte Anklänge wie etwa in Nomoi VIII. Buch 836e. 101

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gekennzeichnet seien, 105 möchte ich nun für eine wichtige Rolle einer Bürokratie auch im Königtum argumentieren: Aristoteles muss in Pol. III, 16: 1287a23–25 auf einen antimonarchistischen Einwand reagieren, dass doch nicht ein Einzelner alles selbst entscheiden könne. Swanson macht diesen Einwand zu ihrem eigenen und sieht ihn als schlagkräftiges Argument gegen das Königtum. 106 Tatsächlich jedoch ist sich Aristoteles dieser Problematik natürlich bewusst. Er gibt natürlich zu, dass sogar der herausragende Machthaber nicht alles selbst entscheiden und überblicken könne. Freilich stellt sich dieses Problem nicht, wenn er über eine vernünftig aufgebaute Bürokratie verfügt. Im Gegensatz zu den genannten Interpreten räumen dies sogar die Gegner des Königtums ein, wie Pol. III, 16: 1287b23–35 zeigt: Die demokratischen Antimonarchisten gestehen dem König durchaus zu, dass er viele Beamte zu seinen Helfern mache, streiten indessen ab, dass ein absoluter König mit seinen Helfern befreundet sein könne. Wenn er nicht deren Freund sei, würden diese ihn nicht unterstützen, sei er jedoch ihr Freund, wären sie gleich und bestritten ihm die Herrschaft. Allerdings picken sich die Antimonarchisten an dieser Stelle gezielt eine Definition der Freundschaft heraus, die nur unter völlig Gleichen gelten soll. Dabei unterschlagen sie – sowie ihnen nachfolgend Bates 107 – freilich, dass die Freundschaft nicht stets eine Beziehung unter völlig Gleichen sein muss. 108 Natürlich ist die Freundschaft des Königs zu seinen Untertanen keine unter Gleichgestellten, sondern beruht auf den Wohltaten des Höhergestellten. Entgegen dieser Infragestellung durch die Antimonarchisten kennt Aristoteles in den berühmten Freundschaftsbüchern der Nikomachischen Ethik keinerlei Bedenken, von einer Freundschaft zwischen König und Untertanen zu sprechen 109 und wird auch laut Pol. V, 11: 1313b30 das Piepenbrink 2012, 146 Anmerkung 8. Vgl. Swanson 1997, 171 f. 107 Bates behauptet entgegen der Textlage, dass Freundschaft nur unter Gleichen und Ähnlichen existieren könne, weswegen die pambasileia auch nur von Guten akzeptiert werde. Vgl. Bates 2003, 191. 108 Man möge sich hier an die Erkenntnis von Newman erinnern, dass die politische Herrschaft auch nicht auf die völlig Gleichen eingeschränkt ist. 109 Vgl. EN VIII, 13: 1161a10–20. Wobei es durchaus Grenzen gibt, denn beispielsweise ein Bettler wird sich schwerlich der Freundschaft des Königs rühmen können (vgl. EN VIII, 9: 1158b35–1159a5). Genau genommen würde diese Einschränkung aber auch auf die antimonarchistischen Gegner zutreffen, da sie Freundschaft unter Gleichen postulieren und viel Tiefergestellte ja keine Gleichen sind. An der letztgenannten Stelle bemerkt Aristoteles, dass im zwischenmenschlichen Bereich nur 105 106

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Königtum durch Freunde erhalten. Auch sonst zeigen die Überlegungen in den philia-Büchern, dass Freundschaften tatsächlich zwischen Rangungleichen bestehen können bzw. zwischen jedem Herrscher und den Beherrschten eine derartige philia der Überlegenheit herrscht 110. Somit können die Beamten durchaus zu den königlichen philoi gezählt werden und stellen insofern eine institutionelle Stütze seiner Regierung dar, da sogar dieser herausragende Machthaber nicht alles selbst entscheiden und überblicken kann und sich auf eine vernünftig aufgebaute Bürokratie verlassen können sollte. Wenn wir nun ein Resümee der Diskussion rund um die Legitimität des Königtums angesichts der Argumente der Gesetzesherrschaftsbefürworter ziehen wollen, dürfte die folgende Kritik von Kraut an Aristoteles hoffentlich als entschärft gelten können: Dieser wirft Aristoteles nämlich vor, dass er das Königtum argumentationslos und dogmatisch unterstütze. 111 Tatsächlich jedoch scheint Aristoteles durchaus beeindruckend scharfsinnig für die Legitimität des Königtums zu streiten. Schließlich beansprucht er, dass sich Recht und Macht im absoluten König als nomos empsychos vereinigen. So erweist sich gerade das Königtum als eine Regierung des Rechts und nicht als die Herrschaft eines bloß Mächtigen, der das Recht mit Füßen tritt. Also ist laut Aristoteles das Königtum die absolute Macht verknüpft mit Sittlichkeit und Vernunft. Nachdem wir also gesehen haben, dass das Universalkönigtum der »rule of law« nicht widerspricht, sondern im Gegenteil in gewisser Weise sogar ihren Gipfelpunkt darstellt, wollen wir uns nun im nächsten Kapitel weitere Argumente für die axiologische Hochschätzung des Aristoteles für das Königtum ansehen.

sehr schwer eine Grenze zu ziehen ist, ab wann eine Freundschaft nicht mehr möglich ist. Dabei gilt es zu bedenken, dass es um eine Freundschaft zwischen den verschiedenen Rollen geht. Aristoteles spricht ausdrücklich von einer Freundschaft zwischen Herr und Knecht, insofern nämlich der Herr den Knecht nicht als Knecht, sondern als Menschen betrachte (vgl. EN VIII, 13: 1161b5–8 und Pol. I, 6: 1255b12–14). 110 Siehe EN VIII, 8: 1158b11–14, besonders 13 f., wo uns Aristoteles bestätigt, dass zu solchen Freundschaften der Überlegenheit auch diejenige »[…] jedes Herrschenden zum Beherrschten« (Hervorhebung durch Kursivierung; B. L.) gehört. Dies betrifft also auch die demokratischen Herrscher. 111 Vgl. Kraut 2002, 410.

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3.1.1.3 Wieso die pambasileia Glückseligkeit und Gemeinwohl für die gesamte Bürgerschaft gewährleisten kann Aristoteles erhebt das Königtum ebenso wie die Aristokratie zur normativ besten Verfassung, denn diese beiden Verfassungen zielen auf die Tugend 112 und haben also mit der Tugendförderung auch den eigentlichen Zweck menschlicher Gemeinschaften erkannt. Letztlich finden sich für Aristoteles in diesen beiden politischen Ordnungen die besten Bedingungen für das gute Leben aller Bürger und für das Gemeinwohl, denn nur diese beiden Verfassungen haben mit dem Maßstab der Tugend auch die richtige Auffassung der eudaimonia. Insofern verdienen also natürlich auch nur diese zwei Grundtypen den Titel der besten Verfassung. Darin liegt auch die wesentliche Verwandtschaft dieser beiden Verfassungstypen: Ihre Ähnlichkeit liegt in der gemeinsamen Grundlage von Tugend, Würdigkeit und Macht. 113 Wie auch übrigens später bei der Aristokratie legt Aristoteles beim Königtum ausdrücklich einen großen Wert darauf, ihm die Tugend zuzusprechen und bekräftigt dies auch dadurch, dass nur solche Verfassungen sich mit dem Titel des Königtums schmücken dürfen, die tatsächlich auf der überragenden Tugend des Herrschers beruhen. 114 Nun kann natürlich weiter gefragt werden, ob diese beiden Regierungsformen des Königtums und der Aristokratie tatsächlich völlig gleichrangig sind oder ob Aristoteles nicht doch eine der beiden bevorzugt. Hier muss zunächst grundsätzlich festgehalten werden, dass er beide Verfassungstypen als ziemlich vollkommen ansieht. Zwar entscheidet sich Aristoteles für den Vorrang des Königtums, was freilich den Wert der Aristokratie nicht entscheidend mindert. So preist Aristoteles in der Politik das Königtum als göttlichste und dem Rang nach erste Verfassung und bezeichnet sie in der Nikomachischen Ethik als beste Regierungsform. 115 Nun wenden manche InVgl. Pol. IV, 2: 1289a30–33. Vgl. Pol. V, 10: 1310b31–1311a5. 114 Vgl. Pol. IV, 2: 1289a41–b1. Wenig überraschend ist daher laut Pol. V, 10: 1311a5 das Schöne (to kalon) das Ziel des Königs. 115 Vgl. Pol. IV, 2: 1289a39–b1 und EN VIII, 12: 1160a35 f. Pol. III, 17: 1287b41– 1288a6 ist kein Beleg für eine grundsätzliche Überlegenheit der Aristokratie, da nur bei Gleichen eine Königsherrschaft ungerecht ist, dies aber nicht auf den völlig ungleichen pambasileus zutrifft. Oberflächlich gesehen kommt Platon zum selben Ergebnis, da er ebenfalls die beste Polis für königlich beherrscht und die schlechteste als tyrannisch geknechtet erklärt: Politeia IX. Buch 576d–e (ebenso übrigens auch beim Einzelmenschen: Politeia 112 113

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terpreten wie etwa Schütrumpf ein, dass Aristoteles in Pol. III, 15: 1286b2–7 die Aristokratie dem Königtum vorziehe. 116 Allerdings hat bereits Newman vor längerer Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass diese Passage aporetisch formuliert ist und nicht der Ansicht des Aristoteles entspricht. 117 Schließlich spricht dieses Argument davon, dass mehrere Aristokraten gleich tugendhaft wären wie der König, was auf den pambasileus definitionsgemäß nicht zutreffen kann. 118 Allerdings müssen die Ausführungen von Newman dahingehend korrigiert werden, dass dieser Tugendmangel im Vergleich zum (Universal-)König nicht nur auf die einzelnen Herrscher einer tugendhaften Aristokratie zutrifft (so Newman), sondern auch – dies muss angesichts des Summierungsarguments gegenüber Newman dringend ergänzt werden – auch in ihrer Gesamtheit. Schließlich ist ja die gesamte Bürgerschaft gegenüber dem (Universal-)König im Ausmaß ihrer Tugend defizitär und nicht bloß alle einzelnen Mitglieder für sich betrachtet. Ansonsten wäre – und dies betont Aristoteles in den entsprechenden Kapiteln recht häufig – das Universalkönigtum nicht gerechtfertigt. Wie wir bereits erarbeitet haben, ist die Regierung des Universalkönigtums nur dann gerecht, wenn sie nicht über Gleiche ausgeübt wird. Konsequenterweise ist ein Königtum als Herrschaft ungerecht und wider die Natur, wenn der König über ihm Gleiche regiert. 119 Entsprechend sieht die bereits von uns im Ansatz erarbeitete Lösung des Aristoteles aus: Gerechtfertigt ist eine absolute Königsherrschaft, IX. Buch 580b+c); in Politikos 301b–c erklärt er ebenfalls die Regierung durch einen König für die vollkommenste. Wir haben allerdings gesehen, dass durch die wichtige Rolle der Bürokratie und die stärkere Verknüpfung des Königtums mit einer Gesetzlichkeit Aristoteles die platonische Lösung übersteigt. Man beachte nämlich, dass Platon in allen drei für die politische Philosophie wichtigen Hauptdialogen (Politeia, Politikos und Nomoi) stets die Regierung des nous einer Gesetzesherrschaft entgegensetzt und die nous-Lösung eindeutig abhebt. Besonders schön lässt sich dies am Politikos zeigen, da er die beste Regierungsform (des noetisch Hochbegabten) von den sechs anderen abgrenzt, die sich dann durch ihre vorhandene oder fehlende Orientierung an den Gesetzen in gute und schlechte gliedern (vgl. Politikos 302c– 303b). 116 Schütrumpf 1991b, 529 Anm. 74,20 sowie Schütrumpf 1980, 185 f. und 302. 117 Vgl. Newman 2010c, 285 Anm. zu 1286b3. 118 Und Schütrumpf hat ja selbst in Schütrumpf 1991b, 538 darauf hingewiesen, dass unter dem Königtum nur die pambasileia verstanden werden kann. 119 Vgl. Pol. V, 1: 1301b26–28 bzw. als Referat der gegnerischen Ansicht (Pol. III, 16: 1287a8 ff.).

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wenn es sich um einen Mann handelt, der an Tugend völlig seine Untertanen überragt. 120 Wer um einiges besser als der Rest ist, sollte gerechterweise über den Rest bestimmen. Insofern ist das entscheidende Moment die große persönliche Überlegenheit des Königs über den Rest der Bevölkerung, die sein Recht auf die Macht legitimiert. Dies verweist uns wieder auf das zentrale Thema der Gleichheit zurück, denn das Königtum ist nur als Herrschaft über Gleiche ungerecht und wider die Natur. Dabei können wir dieses Thema nicht dadurch rasch übergehen, indem wir auf unsere bisherigen Erörterungen der Gleichheit verweisen. Damals stellte sich nämlich nur eine grundsätzliche Hierarchisierung der Gemeinschaft heraus. So kann zwar eine ziemliche Ungleichheit in der Gemeinschaft herrschen, aber trotzdem eine Königsherrschaft ungerecht sein. Wenn nämlich eine Elite aus untereinander Gleichen/ähnlich Tugendhaften existiert, wäre eine Königsherrschaft eines Einzelnen nicht gerecht. 121 Dennoch lässt sich ein Königtum für Aristoteles bei entsprechenden Umständen problemlos rechtfertigen, denn das Gerechte im Austeilen misst dem Besten die größten Güter zu. Wenn dies auf die Regierung bezogen wird, kommt Aristoteles zu folgendem Schluss: Wer um einiges besser als der Rest ist, und seien die Anderen auch gut, sollte gerechterweise über den Rest bestimmen. Insofern ist das entscheidende Moment die große persönliche Überlegenheit des Königs über den Rest der Bevölkerung, die sein Recht auf die Macht legitimiert. Allerdings denkt hier Aristoteles tatsächlich an einen besonders außergewöhnlichen Menschen, der sozusagen über gewöhnliche Menschen regiert. Im Gegensatz zur Interpretation von Yack sollte also auf die Überlegenheit des Königs abgestellt werden und nicht auf die Unterlegenheit der Bürger. 122 Bereits oben haben wir gesehen, dass Aristoteles das Königtum zu einer gemeinwohlgeleiteten Verfassung erklärt. 123 Dies lässt sich Vgl. auch für das Folgende Pol. III, 13: 1284a3–b34. Vgl. Pol. III, 15: 1286b3–7. In diesem Fall wäre also eine Aristokratie angebracht. Umgekehrt soll jemand König sein, sobald er einen absoluten Tugendvorrang besitzt (vgl. Pol. III, 13: 1283b20–23 oder Pol. III, 17: 1288a15–29). 122 Konkret fehlt ihnen laut Yack »the competence to judge or share in their ruling activities.« Vgl. Yack 1993, 86. Inwiefern auch der zweite Halbsatz problematisch ist, sehen wir im weiteren Verlauf des Königtumskapitels, besonders wenn wir die Rolle der Bürokratie für die Frage nach der Vollbürgerschaft beleuchten. Auch Mulgan 1977, 37 geht davon aus, dass die Bürger in königlichen Regierungen keinen Anteil hätten. 123 Vgl. beispielsweise Pol. III, 7: 1279a33 f. bzw. EN VIII, 12: 1160b2 f. 120 121

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für unseren Denker dadurch erklären, dass der König einerseits eben besonders tugendhaft ist und anderseits in einem wirklich umfassenden Sinne autark an allen Gütern. 124 Daher kann der König das Gemeinwohl anstreben und muss nicht auf seinen eigenen Nutzen achten. So sorgt er in der Regel für einen gerechten Interessensausgleich zwischen Armen und Reichen, sodass weder die Reichen ausgeplündert werden, noch das Volk gedrückt wird. 125 Insofern ist gerade der König besonders gut geeignet, das rechte Maß in der Gemeinschaft herzustellen. Newman bemerkt dazu, dass das Königtum in seinen besten Momenten damit dieselbe Funktion erfülle, wie sie Aristoteles sonst dem Mittelstand als Mittler zuschreibe. 126 Somit können wir aus der Sicht des Aristoteles noch einmal das Resümee ziehen, dass der König von Natur aus über seine Untertanen regiert. 127 Welche Eigenschaften befähigen also ausgerechnet die Regierung des Königs dazu, eine besonders glückliche Ordnung zu gewährleisten? Laut Aristoteles vereinigt der König die höchsten inneren und äußeren Güter in sich. So bezweckt seine Regierung nicht nur das höchste innere Gut (nämlich die Tugend 128), sondern diese findet sich auch in ihm in besonderem Maße. Dies dürfte sowohl die ethischen Tugenden als auch die dianoetische Vollkommenheit der Klugheit umfassen. Anders als Sternberger glaubt, handelt es sich bei dieser Lehre von der Tugendherrschaft allerdings nicht um eine Neuauflage des platonischen Philosophenkönigtums. 129 Schließlich ist die Tugendhaftigkeit bei Aristoteles nicht an die Philosophie geknüpft und benötigt der aristotelische König nicht auch die theoretische Vollkommenheit der sophia. Wer also die menschlichen Vollkommenheiten im Bereich der Praxis besonders gelungen in sich vereint und eine derartig imposante Zierde des menschlichen Geschlechtes ist, darf mit Fug und Recht einen Anspruch auf den Königsthron behaupten. Freilich sollte dieser Vorsprung tatsächlich bemerkenswert sein, ansonsten wäre die Würde des Königtums nicht angebracht und Vgl. EN VIII, 12: 1160b3–7. Vgl. Pol. V, 10: 1310b40–1311a4. Kurz zuvor (1310b9–12) stellt er allerdings heraus, dass das Königtum meist von den Anständigen als Schutz vor dem dêmos installiert wird. Trotz dieser Entstehungsgeschichte versteht sich das wahre Königtum als unparteiischer Richter. 126 Newman 2010a, 502 Anmerkung 1. 127 Vgl. EN VIII, 13: 1161a18–20. 128 Vgl. Pol. III, 17: 1288a15–29. 129 So aber Sternberger 1978, 125. 124 125

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somit ungerecht. 130 Ebenfalls von einem vollkommenen König erreicht werden können die äußeren Güter, denn seine Handlungen verschaffen ihm mit Ehre und Freundschaft der Bürger die höchsten äußeren Güter. 131 3.1.1.4 Is there anybody out there? Oder: Zur Partizipation der Bürger in der pambasileia Wenn es um die normative Beurteilung von Herrschaftsformen hinsichtlich die Gleichheit oder Ungleichheit der Bürger geht, sollten wir daran denken, dass Aristoteles nicht nur eine in der Sicht der Bürger gerechtfertigte politische Regierung von Gleichberechtigten kennt sowie eine ungerechtfertigte despotische Herrschaft über Ungleiche, sondern auch die in der Sicht der Bürger gerechtfertigte königliche Regierung über Ungleiche. Gerade was die Legitimität der verschiedenen Regierungsformen betrifft, spielt diese Lehre der drei Regierungstypen (politisch, despotisch und königlich) eine wichtige Rolle: Während in den despotischen Herrschaftsformen die nicht regierenden Bürger häufig unzufrieden sind und daher in Opposition zu den Mächtigen stehen, behandeln die politischen Regierungstypen der Aristokratie und der Politie die Gesamtheit der Bürger nicht despotisch und lassen sie politisch in mehr oder weniger hohem Ausmaß mitbestimmen. Aber wie sieht dies beim Königtum aus? Hat Nichols wirklich recht, wenn sie behauptet: »Nor is there any sharing in speech about advantage or justice between the overall king and the others in the city« 132? Wie dürfen wir uns eine politische Mitsprachemöglichkeit

Darauf weisen uns die vorsichtigen Formulierungen in Pol. III, 17: 1287b41– 1288a4 hin, wobei es sich hier trotz der gemachten Einschränkungen nicht um eine generelle Absage an das Königtum handeln kann, da Aristoteles einige Zeilen später den Tugendvorsprung als Legitimation des Königs für möglich hält. Andernfalls wäre es auch nur eine Königsherrschaft dem Namen nach, aber nicht tatsächlich (vgl. Pol. IV, 2: 1289a41 f.). 131 Das kalon als Ziel des Königs: vgl. Pol. V, 10: 1311a5. Zur Ehre als größtem aller äußeren Güter (vgl. EN IV, 7: 1123b20 f.). Dieser Siegespreis der Tugend wird daher nur den Guten zuerkannt (vgl. EN IV, 7: 1123b35–1124a1). Die Freundschaft der Bürger ist dem guten König sicher (vgl. Pol. V, 11: 1313b29 f. und EN VIII, 13: 1161a10–15 mit Pol. V, 10: 1311a7 bzw. Pol. III, 14: 1285a25–29). Damit verfügt die Polis dann über das größte (äußere) Gut, das in ihr liegt (vgl. Pol. II, 4: 1262b7 f.). 132 Nichols 1992, 75. 130

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der Bürger in einem Königtum denn überhaupt vorstellen? Mulgan fasst die Meinung vieler Interpreten zusammen, wenn er diese explizit bestreitet: »[…] for in kingly rule the subjects have no share in ruling at all«. 133 Ihm pflichten andere Interpreten wie Ostwald (»Even though Aristotle does not explicitly say so, it is clear that this statement is not likely to apply to the two kinds of rule by one, kingship and tyranny, since in them there is no distribution of offices among the members of the state« 134) oder Yack 135 bei. Dagegen haben wir bereits in den vorhergehenden Überlegungen gesehen, dass für Aristoteles der König sehr wohl seine Freunde zu Beamten beruft und es daher auch in einer Königsherrschaft Ämter in einer »Exekutive«, »Legislative« und »Judikative« gibt. Wenn wir dies erkannt haben, löst sich auch ein weiteres, häufiges Rätsel der aristotelischen Königtumstheorie auf: Die Frage nach der Anzahl der Vollbürger. Hier sieht Miller schwerwiegende Paradoxa bei Aristoteles und wundert sich, warum Aristoteles sie nicht bemerkt. 136 Keyt, 137 Fred Miller 138 und Schütrumpf 139 sehen in einer Königsherrschaft nur die Königsfamilie als Vollbürger an. Streng genommen ist diese Auskunft sogar in mehrfacher Hinsicht fragwürdig, da der König – wie wir gesehen haben – aufgrund seiner besonderen Tugend außerhalb der Polis steht und damit sicherlich nicht überhaupt irgendein Bestandteil der Bürgerschaft sein kann 140 – geschweige denn ihr einziger. Besonders beachtenswert scheint mir zu sein, dass Aristoteles mit seiner Definition des Bürgers sehr wohl auch Bürger in einem Königtum zulassen kann: Wenn die grundsätzliche Möglichkeit einer Teilnahme an »Legislative« und »Judikative« gegeben ist, dann dürfen wir laut der von Aristoteles bevorzugten Bürgerdefinition von einem Bürger sprechen. Und wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, werden selbstverständlich Bürger vom König zu Ämterinhabern

Mulgan 1977, 37. Ostwald 2000, 42. 135 Vgl. Yack 1993, 86. 136 Vgl. Miller 1997, 235. 137 Vgl. Keyt 2005, 210 f. 138 Vgl. Miller 1997, 235. 139 Vgl. Schütrumpf 1991b, 394 Anm. 51,30 bzw. Schütrumpf 1991b, 388 Anm. 50,12. 140 Noch radikaler ist Lindsay, wenn er leugnet, dass es in der pambasileia eine politische Gemeinschaft gebe. Vgl. Lindsay 1991, 493. 133 134

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bestellt werden. 141 Damit liegen die Paradoxa der Frage nach den Bürgern im Königtum nicht bei Aristoteles, sondern eher bei seinen Interpreten. Soweit ich sehe, hat nur Kraut dieses Problem des Vollbürgertums in der Königsherrrschaft befriedigend auflösen können. 142 Entsprechend erübrigen sich auch die Probleme, welche Jeff Miller in einem Aufsatz auf die Bürger in einer Monarchie zukommen sieht: Dieser Interpret behauptet, dass 1) Bürger in einer pambasileia ihre »skills« als Bürger nicht ausüben könnten, da sie nicht abwechselnd regierten und regiert würden, 2) dass sie Frauen, Kindern und Knechten gleichgestellt wären, da sie nicht als Gleiche mit einer Möglichkeit zur Ausübung ihrer Vernünftigkeit (in Entscheidungen) behandelt würden. 143 Tatsächlich jedoch können die Bürger auch in einer königlich regierten Gemeinschaft ihre politischen Anlagen ausleben und sind in einem gewissen Rahmen in die Entscheidungsfindung miteinbezogen – wenn auch im absoluten Königtum die überragende Macht bei ebendiesem König liegt, gegen dessen Willen niemand eigenmächtig verstoßen kann. Obwohl die Gewalten stark vom König dominiert werden, verletzt dies für Aristoteles aber keineswegs die »Autonomie« des Volkes. Schließlich ist der König durch die freiwillige Akzeptanz seiner Regierung keine völlig heteronome Zumutung für die Gemeinschaft und können die Bürger durch Ämterteilnahme die politische Gemeinschaft durchaus mitgestalten. Zwar werden wir von unserem heutigen demokratischen Autonomiegedanken aus dies höchstens als sehr schwachen Autonomiegedanken anerkennen (wenn überhaupt), aber in der Sicht des Aristoteles genügt dies seinem Autonomieverständnis. 144

141 Anders Rosler 2005, 180, der den Bürgern im Königtum ausdrücklich abspricht, »[to] share in deliberative or judicial office«. 142 Auch Kraut argumentiert dafür, dass es in Monarchien Ämter gebe und daher nicht nur der König als Bürger aufzufassen sei. Vgl. Kraut 2002, 385 Anm. 1 und Kraut 2002, 411. Entsprechend geht auch er von einer aktiven Rolle der Bürgerschaft in einem Königtum aus. 143 Vgl. Miller 1998, 502. Zumindest teilweise scheint auch Polansky damit übereinzustimmen, da er in der pambasileia die Bürger auf den privaten Bereich beschränkt sieht. Vgl. Polansky 1991, 341. 144 Derbolav lässt Aristoteles daher erste Ansätze zu einer Autonomielehre aufweisen. Vgl. Derbolav 1980, 164. Allerdings präzisiert Derbolav dies nicht dahingehend ein, dass Aristoteles diese Autonomie für (fast) alle Verfassungen beansprucht und nicht nur für demokratische Ordnungen reserviert.

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Durch solche Überlegungen versucht Aristoteles zu verdeutlichen, dass das Königtum keinesfalls eine despotische Unterdrückung bedeutet. So kann also das Spiel um Regeln auch vom König nicht solo gespielt werden. Wenn nun aber einerseits die Bürger auch in einer pambasileia politisch mitbestimmen dürfen und Aristoteles andererseits von einer Freundschaft zwischen König und Bürgern spricht, wird dies – in Übereinstimmung mit den Grundthesen dieser Arbeit – wohl schwerlich eine persönliche Freundschaft sein, sondern eine politische Freundschaft. Da nun – wie erwähnt – das Königtum eine gemeinwohlorientierte Verfassung ist, können Bürger und König gemeinsame Auffassungen des Guten, Gerechten und Nützlichen entwickeln. Tatsächlich spricht Aristoteles ausdrücklich davon, dass die Freundschaft der Bürger zum König auf dessen Wohltaten den Untertanen gegenüber beruht. 145 Dafür stellen die dankbaren Bürger die Wache des Königs 146 und stützen insgesamt durch ihre freiwillige Anerkennung dessen Regierung. So regiert der König über freiwillig regierte Freie, womit sie eben gerade nicht die unfreiwilligen Knechte eines Tyrannen sind. Aber ist dieses Kriterium der Freiwilligkeit nicht bloß eine propagandistische Behauptung? Wie will Aristoteles denn die Bürger vor einer prinzipiell sicherlich möglichen Wesensänderung des eigentlich doch tugendhaften Königs bzw. dessen Nachkommen schützen? Hier muss aus heutiger Sicht kritisch angemerkt werden, dass Aristoteles ausgerechnet bei der höchsten Machtfülle eine positive Verrechtlichung und somit verbindlich-justiziable Regelung ablehnt, sondern nur auf eine »naturrechtliche« Einschränkung vertraut. Wie wir gesehen haben, untersteht der absolute König zwar keinen positiven Gesetzen, möchte aber natürlich trotzdem eine schrankenlose Tyrannenherrschaft vermeiden. Hier sucht Aristoteles den Ausweg, dass die königliche Regierung den strengen Forderungen des eigentlich Gerechten genügen sollte. 147 Aber binden diese Schranken der Vernunft und des Gerechten nicht nur idealiter, sondern auch realiter? Aristoteles würde vermutlich auf meine Bedenken hinsichtlich der nicht positivrechtlichen Einschränkung Folgendes antworten: Da die Vgl. EN VIII, 13: 1161a10–20. Vgl. Pol. III, 14: 1285a25 f. 147 Rosler 2005, 218 widerspricht dem aristotelischen Text glatt, wenn er den König doch durch positivrechtliche Regeln binden will (wobei es sich um »secondary rules« im Sinne H. L. A. Harts handeln soll). 145 146

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Untertanen gerade im besonderen Fall des außerhalb der Bürgerschaft und der Gesetze stehenden Königs sensibel auf Verletzungen des eigentlich Gerechten reagieren werden, wird der König sich vor allzu groben Verstößen gegen das eigentlich Gerechte hüten. 148 So ist die Lehre von der Freiwilligkeit der königlichen Regierung zusätzlich ein normatives Druckmittel gegen schlechte Herrschaftsformen: Wenn sich eine Herrschaft als ungerecht gegenüber den Untertanen erweist, dann muss die Regierung durchaus mit Rebellionen rechnen. Dies scheint nahezulegen, dass sich auch das Königtum für Aristoteles durch den Willen und die Zustimmung der Bürgerschaft legitimiert. Roberts hat hingegen als allgemeine These aufgestellt, dass »Aristotle’s preference for willing subjects over forced subjects is not an indication that he takes either the legitimacy or the scope of governmental authority to be dependent on consent; unwilling subjects are for him a symptom of constitutional injustice« 149. Aber ist die freiwillige Zustimmung wirklich nur »evidence« für die Rechtfertigbarkeit, selbst jedoch keine »justification« für das Königtum (wie es Miller formuliert)? 150 Wenn wir einen genauen Blick auf Pol. V, 10 werfen, ergibt sich als Ergebnis, dass eine monarchische Regierung, welche die Bürger als über die Maßen ungerecht empfinden, nicht mehr als Königtum angesprochen wird, sondern eine Tyrannis darstellt, die gestürzt werden kann. 151 Zumindest im Falle des Königs hängt die Legitimation also auch wirklich daran, dass er vom Volk gewollt wird. Wenn er das Mandat der Bürgerschaft verliert, ist seine Stellung nicht mehr von derjenigen eines Tyrannen unterscheidbar und der Weg zu seinem Sturz frei. Aber nicht nur aus reinem Macht-

Hier stellt sich also erneut die Frage, ob aus der Lehre des physikon dikaion möglicherweise ein Widerstandsrecht abgeleitet werden kann: Yack sieht ein Widerstandsrecht der guten Menschen im Notfall vor (vgl. Yack 1993, 262), ohne hier allerdings auf die Lehre des physikon dikaion anzuspielen oder speziell den Fall des Königtums zu erörtern. Wie bereits mehrfach gesehen, gehört für Aristoteles zu einem Königtum maßgeblich das Kriterium der Freiwilligkeit der Bürger: Insofern werden die Untertanen eines Königs diese Herrschaft und diese besonders mächtige Regierung nicht als etwas ihr Fremdes und Entwürdigendes wahrnehmen; sie ordnen sich ja freiwillig dem König unter und betrachten daher seine Anordnungen nicht als heteronomen Zwang. 149 Roberts 2009, 555 f. 150 Vgl. Miller 1997, 273. 151 Vgl. Pol. V, 10: 1313a14–16. Rosler gibt die (schwächere) Belegstelle 1313a5–10 dafür an. 148

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kalkül und aus Stabilitätserwägungen heraus strebt ein König die Anerkennung durch seine Untertanen an, sondern dies ist in gewisser Weise dem Königtum sowieso immanent, da es im Gegensatz zur Tyrannis keine monetären Vorrechte sucht, sondern sein Ziel in der Ehrung durch das Volk sieht. 152 Sicherlich vertritt Aristoteles keine ausformulierte Theorie der Volkssouveränität, in der jegliche Legitimation der Regierung von ihrer Akzeptanz durch die Bürger abhängt. Dennoch findet sich in der Lehre von den drei Arten der Regierungstypen vielleicht ein erster Ansatz zu solchen Überlegungen. Abschließend meine ich, dass die königliche Regierungsweise als dritter Weg neben Despotie und politischer Herrschaft nicht außer Acht gelassen werden darf, wenn man die entsprechenden Kapitel der aristotelischen politischen Philosophie angemessen interpretieren möchte. Anzuführen wäre hier etwa Nichols, 153 die nicht nur bloß von einem politischem und einem despotischen Weg spricht und den königlichen völlig außer Acht lässt, sondern sogar davon spricht, dass die größte Sicherheit und die größte zu erreichende Errungenschaft eines Tyrannen wäre, ein (politischer) Staatsmann zu werden. Dabei zeigen die Erörterungen von Pol. V, 11 eindeutig, dass er königlicher werden soll. Insgesamt können die aristotelischen Lehren zum Königtum durchaus plausibel gemacht werden, was die Bedenken von Yack wohl ausräumen wird: »I conclude that one cannot make room for monarchy in Aristotle’s conception of political community without undermining its coherence and consistency. As far as I can see, Aristotle never resolves the difficulties raised by his account of monarchy.« 154 Sicherlich mögen uns viele Theoriestücke etwas ungewohnt vorkommen und den meisten werden wir nicht zustimmen können, aber an Kohärenz und Konsistenz mangelt es ihnen nicht.

152 153 154

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Vgl. Pol. V, 10: 1311a4–7. Vgl. Nichols 1992, 100. Yack 1993, 87.

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3.2 Politische Polisordnungen 3.2.1 Der Typus der Aristokratie 3.2.1.1 Die Aristokratie als Regierung der Besten und Muster an eunomia Während in der englischsprachigen Sekundärliteratur die meisten wichtigen Vertreter unseren Philosophen als aristokratischen Denker kennzeichnen, ist diese Position im deutschsprachigen Raum umstrittener und kann etwa Knolls Habilitation bisher nur als Minderheitenmeinung gelten. Daher möchte ich in diesem Abschnitt meiner Arbeit etwas breiter mögliche Vorzüge und Probleme einer aristokratischen Lesart diskutieren. 155 Wenn wir uns der Charakterisierung der Aristokratie durch Aristoteles zuwenden, finden wir in Pol. IV, 7 eine Aufzählung verschiedener aristokratischer Subtypen. Wenn wir diese genauer analysieren sowie der Frage nach der normativen Verwandtschaft von Aristokratie und Oligarchie nachgehen, fällt das Beharren des Aristoteles auf einer scharfen Trennlinie zwischen Aristokratien und Oligarchien sehr stark auf. Dagegen scheint auf den ersten Blick zu sprechen, dass sich im Corpus Aristotelicum manchmal Formulierungen finden, welche die Aristokratie oligarchisch nennen. Damit sind jedoch nicht die wahren Aristokratien gemeint, sondern die sogenannten Aristokratien, die in ihrem Mischcharakter den Politien ähneln. Schließlich konzentrieren sich diese nicht hauptsächlich auf die Tugend, sondern räumen problematischerweise dem armen Volk und den reichen Oligarchen nahezu gleichen Einfluss auf die Regierung ein. Entsprechend weisen solche Mischaristokratien an möglichen Mischungskriterien (oligarchischen) Reichtum, (demokratische) Menge und (aristokratische) Tugend auf 156 bzw. Freiheit, Reichtum

Vgl. Knoll 2009. Vgl. Pol. V, 7: 1307a7–10 und v. a. Pol. IV, 7: 1293b14–16. Wobei letztere Stelle mit Karthago gleich auch noch ein Beispiel nennt. Gerade das Beispiel Karthago zeigt die enge Verwandtschaft zur Politie, die ja dann als besonders geglückt gilt, wenn die Leute sich bei ihr nicht entscheiden können, ob es sich um eine Demokratie oder eine Oligarchie handelt. Karthago wird nämlich in Pol. V, 12: 1316b5 f. als demokratisch bezeichnet, in Pol. II, 11: 1273a2–b24 eher oligarchisch gezeichnet (wobei er in diesem Kapitel diese Verfassung ausdrücklich als teilweise oligarchisch, teilweise demokratisch charakterisiert). 155 156

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und Tugend 157. Wegen ihrer engen Verwandtschaft zum anderen Mischverfassungstypus, nämlich der Politie, verdienen solche sogenannten Aristokratien meist keine eigene Behandlung, sondern gelten mit den Politien als mitbehandelt. 158 Prinzipiell gelten solche Mischverfassungen dann als besonders geglückt, wenn man sich nicht entscheiden kann, welche der Mischkomponenten denn überhaupt überwiegt. Um sie dennoch zu unterscheiden, nennt Aristoteles die leicht oligarchischeren Mischverfassungen sogenannt aristokratisch und die leicht demokratischeren Politie. 159 Mehrfach betont Aristoteles jedoch den normativen Graben zwischen diesen sogenannten Aristokratien und der eigentlichen und wahren Aristokratie: »[…] denn die Verfassung, die auf an Tugend schlechthin Besten beruht und sich nicht nur auf an irgendeiner Voraussetzung gute Männer stützt, darf allein mit Recht Aristokratie heißen.« 160 Entsprechend sollten wir die Angabe von Pol. III, 7: 1279a34–37, dass es sich bei einer Aristokratie um die Regierung der Besten bzw. die Regierung zum Besten der Polis handle, nun genauer fassen. Es muss sich bei den schlechthin Besten um die besonders Tugendhaften handeln, und damit ist nur in der aristokratischen Bürgerschaft der gute Bürger mit dem guten Menschen zu identifizieren. 161 Da es sich um die Tugend im eigentlichen Sinne handelt, sind also der vollkommene Mensch und der tüchtige Bürger einer wahren Aristokratie miteinander zu identifizieren; die Bürger der anderen Verfassungsformen hingegen sind höchstens tüchtig im Verhältnis zu ihrer eigenen Verfassung. 162 Laut Aristoteles können in der besten Verfassung der gute Mensch und der gute Bürger überhaupt derart verwandt sein, weil beide ein auf die Tugend ausgerichtetes Leben führen wollen und daher die politischen Ziele des aristoVgl. Pol. IV, 8: 1294a22–25. Vgl. Pol. IV, 11: 1295a31–34 und Pol. IV, 8: 1294a27–29. 159 Vgl. Pol. IV, 8: 1293b33–38. Wie wir später sehen werden, zeigt sich in der normativen Abstufung der beiden Mischverfassungen die aristokratische Grundtendenz des Aristoteles, da er die sogenannten Aristokratien für normativ besser als die Politien hält. 160 Pol. IV, 7: 1293b3–5 (in einer etwas abgewandelten Gigon-Übersetzung; Hervorhebung durch Unterstreichung durch B. L.). Vgl. aber auch bereits Pol. II, 11: 1273a41–b1. 161 Vgl. Pol. IV, 7: 1293b1–7 und Pol. III, 15: 1286b3–5. 162 Vgl. Pol. IV, 7: 1293b1–6. Auch dies zeigt, dass die »Polis nach Wunsch« aristokratisch regiert wird. Aristoteles bezeichnet ihre Bürger nämlich als schlechthin Gerechte (vgl. Pol. VII, 9: 1328b37 f.). 157 158

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kratischen Bürgers identisch mit denen des guten Menschen sind. Dementsprechend möchte die Aristokratie den Besten unter den Bürgern den Vorrang zuteilen; 163 was wir unter dem Vorrang genauer zu verstehen haben und ob also die gesamte Vollbürgerschaft allein aus den Tugendhaften bestehen soll, werden wir in Kapitel 3.2.1.3 klären. Bisher unbeantwortet geblieben ist die Frage, wer sich hinter diesen Besten sozioökonomisch eigentlich verbirgt: Natürlich muss sich jeder Fürsprecher einer Aristokratie die kritische Frage gefallen lassen, ob er nicht einfach der Anwalt der herrschenden Familien ist. So hat etwa MacIntyre unserem Philosophen vorgeworfen, er habe mit seiner Tugendliste einfach vorbehaltlos den Verhaltenskodex der zeitgenössischen Adligen wiedergegeben. 164 Anders gefragt: Wie sehr entsprechen einander eigentlich Erbadel und Leistungsadel? Auch Aristoteles weiß um diese Einwände und diskutiert sie rege. Bekanntlich leitet sich der Adel von den edlen und wohlhabenden Vorfahren ab und beansprucht gewissermaßen die Tugend der Vorfahren für die Nachfahren. 165 So können Adlige oft mit einigem Recht den Ruhm ihrer Ahnen für sich in Anspruch nehmen. 166 Dennoch dürfen wir den alten Erbadel nicht nur seiner Vorfahren wegen für besonders tugendsam halten, ohne seine Verdienste für die Gegenwart zu untersuchen. Arrogant sehen manch dekadente adlige Schnösel auf tatsächlich leistungsfähige und tugendsame Menschen wegen ihrer geringeren Abkunft herunter, obwohl sie sich selber ihrer Vorfahren nicht als würdig erweisen: Einige fähige Persönlichkeiten wie etwa Perikles oder Alkibiades scheinen nämlich tatsächlich sehr merkwürdige Nachfahren gehabt zu haben. 167 Je nach bevorzugter Lesart betonen manche Forscher die adelskritische, manche die adelsfreundlichen Stellen: Wood/Wood lesen Aristoteles als Advokaten des alten Adels, wenn sie schreiben: »Hence, good birth is the condition of nobility, even if all well-born are not noble …« 168 Ober jedoch folgert aus Pol. V, 1: 1301b1–4: »The implication is that high birth often leads to moral excellence but also that the two attributes were dis-

Vgl. Pol. IV, 8: 1293b40 f. Vgl. MacIntyre 1995, 68 f. 165 Vgl. Pol. III, 13: 1283a36 f., Pol. IV, 8: 1294a20–22 und Rhet. I, 5: 1360b31–38. 166 Vgl. Rhet. I, 9: 1367b30 f. und Pol. III, 13: 1283a36 f. 167 Vgl. dazu das recht adelskritische Rhet. II, 15. Eine Analogie dazu findet sich im Tierreich (vgl. De hist. Anim. I, 1: 488b18–20). 168 Wood/Wood 1978, 221. 163 164

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tinct.« 169 Meiner Meinung nach zeigen die oben erwähnten Stellen, dass Aristoteles den Erb- und den Leistungsadel zwar häufig gleichsetzt, allerdings nicht stets. Insgesamt scheint er eher der adelskritischen Fraktion zuzurechnen zu sein, denn er stellt in der Tugendfrage in erster Linie vor allem auf das eigene Verdienst ab. Deswegen rechnet Aristoteles an einer bemerkenswerten Stelle den (Geburts-)Adel auch zu den Merkmalen einer Oligarchie und charakterisiert die wahre Aristokratie nur über die Tugend. 170 Ebenso deutlich äußert er sich in der Nikomachischen Ethik: »Denn man hält sowohl die Adligen der Ehre für wert, als auch die Machthabenden und Reichen […] in Wahrheit aber sollte allein der Gute geehrt werden.« 171 Damit setzt Aristoteles aus Gerechtigkeitsgründen das Leistungskriterium über das Herkunftskriterium. 172 Entsprechend ist es für Aristokratien überlebenswichtig, keinen abgeschlossenen Filz zu bilden. Daher sollten sie das Gerechte im Austeilen gegenüber tüchtigen Aufsteigern beachten. In der spezifisch aristotelischen Deutung des Gerechten im Austeilen gemäß der Tugendwürde liegt also implizit schon ein Leistungsgedanke verborgen. Auch in der strafrechtlichen Seite des Gerechten im Ausgleichen widerspricht Aristoteles dem Standesdünkel der Adligen, wenn er hier die strikte Gleichbehandlung ohne Vorrechte fordert. Später wird diese Haltung ihm übrigens einen vehementen Tadel durch Jean Bodin eintragen. 173 Ähnlich wie beim Königtum scheint sich auch bei der Aristokratie die Frage zu stellen, ob die Betonung der herausragenden Persönlichkeit der Aristokraten diese Regierungsweise nicht als eine »rule of man« kennzeichnet. Wie bereits beim Königtum, meint Piepenbrink auch bei der Aristokratie, dass es hier hauptsächlich auf die ethische Qualität der Herrschenden ankäme und sie keine Gesetzesherrschaft 169 Ober 1990, 249. In einer Diskussion von Rhet. II, 15: 1390b19–31 betont Ober die standesdünkelkritische öffentliche Meinung, denn »claims of high birth could not be counted upon to stimulate a consistently positive response among fourth-century Athenians.« (Ober 1990, 256). Knoll 2009, 20 f. (bzw. 60 f. und 82 f.) differenziert ebenfalls zwischen dem gängigen Herkunftsadel und der aristotelischen Konzeption. 170 Vgl. EN V, 6: 1131a28 f. Auch in Pol. II, 11: 1273a41–b1 knüpft er die Charakterisierung der Aristokratie streng an die Tugend. 171 EN IV, 8: 1124a21–25. Dazwischen und danach würdigt er zwar durchaus, dass die äußeren Güter eine wichtige Rolle spielen, aber verneint, dass äußere Güter ohne Tugend zu ehren sind. Etwas unverständlich ist, wie Piepenbrink 2001, 48 aus 1313a3–8 eine Dekadenz der kalokagathoi zu nur noch Reichen herauslesen kann. 172 Erste Ansätze dazu findet man bereits in Pol. III, 9: 1280b39–1281a8. 173 Vgl. De la République VI, 6 (Bodin 1986, 478).

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im engeren Sinne sei. 174 Wiederum hätte Aristoteles sich damit ein systematisch kaum zu bewältigendes Problem eingehandelt, widerspräche dies ja der grundsätzlichen Bevorzugung der »rule of law«. Tatsächlich jedoch handelt es sich auch der Aristokratie nicht um eine personalistische Herrschaftsform, sondern geradezu paradigmatisch um eine »rule of law« – hier allerdings in ihrer klassischen Ausprägung mit der Subordination der Menschen unter das Gesetz. Bemerkenswerterweise wird die Frage nach dem Verhältnis der Aristokraten zur »rule of law« in der Forschung kaum gestellt; vermutlich steht sie allzu sehr im Schatten der entsprechenden Diskussionen rund um den König einerseits sowie die angebliche Gesetzlosigkeit der Demokraten andererseits. Erstaunlich ist dieses Manko deswegen, weil Aristoteles sogar explizit die gute gesetzliche Ordnung (eunomia) mit der Aristokratie verknüpft. Wenn wir nämlich verschiedene Passagen im Corpus Aristotelicum näher unter die Lupe nehmen, stellt Aristoteles immer wieder einen besonders engen Zusammenhang zwischen der (aristokratischen) Herrschaft der Besten und der eunomia her: In Pol. IV, 8 etwa äußert sich Aristoteles wie folgt über den Zusammenhang zwischen der Aristokratie und der eunomia: Es scheint aber zu den unmöglichen Dingen zu gehören, dass eine Polis, die nicht von den besten [aristokratoumenên!], sondern von schlechten/bösen Herrschern regiert wird, sich der Wohlgesetzlichkeit/einer guten gesetzlichen Ordnung (eunomia) erfreut; und genauso auch, dass eine Polis, die keine gute gesetzliche Ordnung (eunomia) hat, aristokratisch regiert ist; denn es herrscht keine gute gesetzliche Ordnung, wenn zwar gute Gesetze erlassen wurden, man ihnen aber nicht gehorcht. 175

Sehr raffiniert koppelt also Aristoteles die eunomia besonders an die Regierung der Besten und verweigert umgekehrt Poleis mit schlechten gesetzlichen Ordnungen den Rang einer aristokratischen Verfassung. Damit sichert Aristoteles sich gegen mögliche Vorwürfe ab, dass doch manche aristokratischen Bürgerschaften schlechte gesetzliche Ordnungen hätten und identifiziert umgekehrt die wahrhaft guten gesetzlichen Ordnungen mit aristokratischen Lösungen. 176 Vgl. Piepenbrink 2001, 42. Pol. IV, 8: 1293b42–1294a4 (in einer leicht abgewandelten Schütrumpf-Übersetzung). 176 Hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass das Königtum genau genommen keine klassische »rule of law«-Lösung anbietet und die Politie aufgrund der fehlenden Tugendberücksichtigung in einem speziellen und ganz strengen Sinne schon als Ab174 175

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Systematisch wäre dies anders auch gar nicht möglich, da bekanntlich – und in dieser Arbeit mehrfach herausgestellt – die Güte der Gesetze maßgeblich von der Güte der Verfassung abhängt 177 und Aristoteles unter der besten Verfassung die jeweils beste Form des Königtums oder der Aristokratie versteht. 178 3.2.1.2 Wieso die Aristokratie Glückseligkeit und Gemeinwohl für die gesamte Bürgerschaft gewährleisten kann Wie bereits schon im Kapitel zum Königtum nachgewiesen, verfügt die Aristokratie ebenso wie die Königsherrschaft über die richtige Auffassung der eudaimonia. 179 Beide setzen wie erwähnt auf den richtigen Maßstab der Tugend. So strebt also jeder Politiker nach der eunomia 180, aber die wahren aristokratischen poleis erreichen sie. Ebenso bemüht sich jeder Politiker um die Tugend 181, tatsächlich jedoch richten sich nur Königtum und Aristokratie auf die wahre Tugend hin aus 182. Hier zeigt übrigens ein vergleichender Blick zurück auf die Platonkritik unseres Philosophen, dass besonders die Aristokratie auch die richtigen Mittel zur Erlangung der Tugendhaftigkeit der Polis anwendet, nämlich paideia und Gesetze. 183 Indem sie also

weichung gelten kann (vgl. dazu Pol. IV, 8: 1293b22–27 mit Pol. IV, 2: 1289a30–33), also auf jeden Fall nicht die eunomia im vollen Sinne verwirklicht. Wenn übrigens die Politie an der genannten Stelle in einer äußerst strengen Sichtweise unter die Abweichungen gerechnet wird (was aber einleitend relativiert worden ist), müssen wir dies als Radikalisierung und holzschnittartige Vergröberung des Verfassungsschemas von Pol. III, 6+7 auffassen und nicht als Differenzierung und Herunterspielen dieses wichtigen Unterschiedes (so aber Schütrumpf 1996, 131 f.). 177 Vgl. Pol. III, 11: 1282b8–13. 178 Zum Vorrang der Aristokratie aus diesem Grund siehe auch Miller 1997, 127. 179 Vgl. die Ausführungen von Kapitel 3.1.1.3. 180 Vgl. EN III, 5: 1112b11–14. 181 Vgl. EN II, 1: 1103b2–5. 182 Vgl. Pol. IV, 2: 1289a30–33. 183 Vergleiche die Kritik an Platon in Pol. II, 5: 1263b36–40 (welche die Erziehung in den Vordergrund stellt und Gewöhnung, Philosophie (hier wohl allgemein als Lehre zu verstehen) sowie Gesetze als Königsweg zur Erlangung einer guten Polisordnung angibt) mit den Zielen der Aristokratie in Rhet. I, 8: 1366a5 f. Folgerichtig legt eine Aristokratie in der wichtigen Frage der Ämtervergabe einen besonderen Schwerpunkt auf die paideia, die daher in manchen Aufzählungen an die Stelle der Tugend tritt: Vgl. etwa Pol. IV, 8: 1294a9–11 und EN V, 6: 1131a28 f. für die Tugend als Maßstab. Zur Hochschätzung der paideia in der Aristokratie vgl. Rhet. I, 8: 1365b33 f. und Pol. IV, 15: 1299b24 f.

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sowohl das Ziel korrekt auffassen, als auch die richtigen »Mittel« dorthin verwenden, dürfen wir die Aristokraten als die wichtigsten Beiträger zur gemeinschaftlichen eudaimonia ansprechen. Pol. III, 13 wirft dabei das interessante Problem auf, ob die richtigsten Gesetze auf den Nutzen der Besseren oder der Mehrzahl abstellen sollen. In gewisser Weise ist diese Frage sowohl leicht als auch schwierig zu beantworten: Einerseits kann die Aristokratie als politische Regierungsform selbstverständlich nicht bloß auf den Nutzen der Regierenden achten, also muss und wird die Antwort des Aristoteles natürlich auch nicht derart ausfallen und ist das »richtig« im Sinne des gleichmäßigen Nutzens für die ganze Polis und für die gesamte Bürgerschaft aufzufassen. 184 Andererseits kann man sich natürlich schon die Frage stellen, warum denn Aristoteles nicht für eine radikalaristokratische Verfassung plädiert. Schließlich kennen ja nur die tugendhaften Besten den Weg zum höchsten Gut, insofern wäre ihre völlige politische Bevorzugung doch auch ohne weitere Probleme rechtfertigbar. Anders gefragt: Wählt Aristoteles für seine Aristokratie denselben Weg wie Platon, der selbstverständlich auch das Gemeinwohl und die Glückseligkeit der gesamten Polis befördern wollte, dafür aber in der Politeia und im Politikos für die uneingeschränkte Herrschaft der Geistesaristokratie plädiert hatte? Wird bei ihm wie bei seinem Lehrer der Beitrag der breiten Bürgermasse vor allem darin bestehen, willig die Herrschaft der Besten anzuerkennen, ihren Befehlen zu gehorchen, sich mit dem eigenen Platz in der Ständeordnung zu bescheiden (also auch u. a. dem angestammten Beruf nachzugehen) und – für unseren Zusammenhang besonders wichtig – auf politische Mitsprache und somit die Deliberation über die Mittel und Wege zum höchsten Gut für die Gemeinschaft zu verzichten? 185 Erste Zweifel beschleichen uns, wenn wir die Rolle der Tugend bei diesen beiden Denkern vergleichen: Während für Platon nur die

Vgl. Pol. III, 13: 1283b36–42. Während Politeia IX. Buch 590d noch in naiver Weise davon ausgeht, dass trotz der völligen politischen Entrechtung eine Freundschaft zwischen den Bürgern bestehen kann, ist hier Nomoi VI. Buch 757a–758a bereits realistischer und gewährt dem Volk einen kleinen Anteil. Allerdings handelt es sich dabei nicht um das Modell von Pol. III, 11, denn Platon bringt für diese minimale Beteiligung an niedrigen Ämtern nur Stabilitätsgründe vor, nicht jedoch eine normative Rechtfertigung (wie sie das Summierungsargument darstellt). Überdies schränkt er sogar diesen kleinen Anteil dadurch ein, dass diese Verlosungen nur selten angewandt werden sollen. 184 185

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Tugend eudaimonia-relevant ist, zeichnet Aristoteles zwar die Tugend als wichtigsten Bestandteil eines guten Lebens weit vor den anderen Faktoren aus, aber beispielsweise auch die äußeren Güter sind in einem bestimmten Umfang für die eudaimonia notwendig. 186 Entsprechend lässt sich fragen, ob der Anteil der nicht Tugendhaften für die eudaimonia der gesamten Gemeinschaft bei Aristoteles nicht höher eingeschätzt wird. Somit könnte also der Beitrag etwa der Reichen oder des dêmos zum Gemeinwohl möglicherweise stärker gewürdigt werden und die Rolle der Tugendhaften etwas geringer. Tatsächlich argumentiert Aristoteles in mehreren Kapiteln der Politik genau für diese zuletzt skizzierte Position: Bekanntlich ist die politische Gemeinschaft eine Gemeinschaft um des glückseligen und guten Lebens willen und wer zu dieser Gemeinschaft am meisten beiträgt, der hat auch den größten Anteil an der Polis verdient. 187 Eben diese Argumentation aus Pol. III, 9 führt Aristoteles in Pol. III, 12 fort und buchstabiert sie in aristokratischer Weise aus: Warum dürfen gerade die Edlen, die Freien und die Reichen besonderen Anspruch auf Ämter (als Ehrungen für ihre Leistungen für die Polis) erheben? Weil eine Polis notwendigerweise aus Freien und Steuerzahlern bestehen muss und überdies Gerechtigkeit und politische Tugend vorhanden sein sollten, wenn die Polis gut regiert sein sollte. 188 Endgültig äußert sich Aristoteles sodann in Pol. III, 13: Hier spricht er paideia und arêtê den größten Anspruch zu, schiebt allerdings sogleich nach, dass sämtliche Verfassungen, die aufgrund von Ungleichheit in einem Punkte eine Ungleichheit in allem postulieren, als Abweichungen zu betrachten sind. 189 Daher berechtige keiner der Maßstäbe zur uneingeschränkten Alleinherrschaft. 190 Damit haben wir also bereits für das nächste Kapitel vorgearbeitet, denn nun wissen wir, dass die Aristokratie keine ungebremste und uneingeschränkt-absolute Herrschaft der Tugendhaften sein kann. Daher besteht für Aristoteles die Leistung der Aristokraten nicht allein in ihren tugendhaften Leistungen für die Polis, sondern auch in ihrer fairen Würdigung der Beiträge der anderen Gruppierungen zum Gemeinwohl. Warum eigentlich kann die Aristokratie überhaupt zu den ge186 187 188 189 190

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Vgl. etwa EN I, 11: 1101a14–21. Vgl. Pol. III, 9: 1281a1–8. Vgl. Pol. III, 12: 1283a14–22. Vgl. Pol. III, 13: 1283a23–31. Vgl. Pol. III, 13: 1283b27–30.

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meinwohlorientierten Verfassungen gerechnet werden? 191 Bereits früher konnten wir herleiten, dass die Aristokratie als politische Regierungsform p2 den allgemeinen Nutzen sucht; indem sie die Tugend als Ziel der Gemeinschaft verfolgt, erreicht eine wahre Aristokratie dies auch tatsächlich. Auch hier finden wir im Charakter der regierenden Aristokraten bestimmte Gründe, wieso sie wirklich die geforderte politische Verhaltensweise p2 an den Tag legen, im Amt nicht ihren eigenen Nutzen zu suchen, sondern denjenigen der nicht regierenden Mitbürger. 192 Anders als beim Königtum äußert sich Aristoteles nicht ausdrücklich über solche Beweggründe, aber aus bekannten Charakteristika der aristotelischen Tugendhaften kann man sie wohl ohne weiteres erschließen: Während die Vielen und die Reichen den erhofften Nutzen in Reichtum und/oder Ehre ansetzen, bedeuten diese Güter dem wahrhaft Tugendhaften laut Aristoteles nicht allzu viel 193 und daher jagt er diesen nur eingeschränkt und nicht schlechthin gut zu nennenden Gütern nicht übermäßig nach. Nur im Sinne von EN IX, 8: 1169a18–b2, der allerdings weitab der alltagssprachlich-normalen Bedeutung liegt, sind aristotelische Tugendhafte selbstliebend zu nennen, da sie bei von anderen geschätzten Gütern zugunsten der anderen zurücktreten und sich mit solch tugendhafter Zurückhaltung mit dem Schönen das höhere Gut zumessen. Selbstredend klingt diese Schilderung solcher Tugendbolde höchst erbaulich, aber kann Aristoteles dies tatsächlich für realistisch halten? Wenn wir diese Frage klären, dann erhalten wir mehrere wichtige Ergebnisse: Zunächst ist klar, dass er solch hohe Anforderungen nur an die Regierenden in aristokratischen Poleis stellt. 194 Natürlich kann man gleich fragen, wie häufig solche wahren Aristokratien denn überhaupt sind. Hier steht auch die Aristokratie – ähnlich dem wahren Königtum – vor dem Problem der Vermassung und der damit einhergehenden Schwierigkeit der Tugendhaften, sich 191 Bekanntlich nimmt er diese Wertung der Aristokratie in Pol. III, 7: 1279a34–36 vor. 192 Diese Anforderung stellt ja Pol. III, 6: 1279a8–13. 193 In aller Kürze verweise ich für eine allgemeine Abwertung unnatürlichen Reichtumsstrebens v. a. auf Pol. I, 9+10 sowie für die aristotelische Geringschätzung des oligarchischen Gewinnstrebens auf das entsprechende Kapitel in dieser Arbeit. Dafür dass der wahrhaft Tugendhafte die Ehre letztlich gering schätzt, siehe den Themenkomplex rund um die megalopsychia EN IV, 7–10. Für nähere Charakteristika dieser letztgenannten Tugend vgl. Langmeier 2016. 194 Vgl. als Resümee v. a. der relevanten Passagen von Pol. III, 4 den Abschnitt Pol. III, 4: 1277b16–32.

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durchzusetzen. 195 Daher liegt sogar die so genannte Aristokratie außerhalb der Möglichkeit der meisten Städte. 196 Schließlich sind Adel und Tugend relativ selten: Es gibt nirgends mehr als hundert Adlige oder Tüchtige. 197 Dennoch ist die Aristokratie nicht rein hypothetisch, wie auch Keyt hervorhebt. 198 Wir haben zwar bisher gesehen, dass Aristoteles die Aristokratie prinzipiell vor dem Vorwurf in Schutz nehmen möchte, dass sie eine eigennützige und ungerechte Oligarchie im Sinne einer Herrschaft der Reichen sei. Sicherlich scheidet Aristoteles die Prinzipien der Oligarchie und der Aristokratie reinlich voneinander; es regieren laut Aristoteles in beiden Fällen zwar nur wenige, dennoch dürfen wir sie aufgrund ihrer verschiedenen Prinzipien nicht einfach gleichsetzen. 199 Schließlich handle es sich bei der Aristokratie um eine gerechte und gemeinnützige Regierung der Besten/Tugendhaftesten, während die Oligarchie als ihre Verfallsform weit von dieser guten Ordnung entfernt sei und nur eine ungerechte und eigennützige Herrschaft der Reichen darstelle. 200 Damalige und heutige Kritiker könnten jedoch gegen Aristoteles einwenden, dass diese Beteuerungen der angeblichen Tugendhaftigkeit und Wohlgesetzlichkeit in der Aristokratie doch nicht darüber hinwegtäuschen können, dass die Aristokratie die Ansprüche der anderen Gruppen (Demokraten und Oligarchen) nicht beachte. Letztlich handle es sich doch beim angeblichen aristokratischen Augenmerk auf das Gemeinwohl im besten Fall um einen faktisch unmöglichen Versuch der Besten, die Interessen aller wahrzunehmen. Rostock hat die Problematik schön zusammengefasst: »Es ist für Aristoteles nicht denkbar, daß eine einzelne Schicht die Vernünftigkeit des Ganzen wahrt, während andere Gruppen der Bürger gleichsam völlig außerhalb der aktiven Bürger stehen müssen.« 201 Anders ausgedrückt: Zwar ist die Aristokratie insofern keine Oligarchie zu nennen, weil sie keine plutokratische Herrschaft ist, die hauptsächlich auf Wohlstandsmehrung abzielt, aber in ihrer AusVgl. Pol. V, 4: 1304b2–5 mit Pol. III, 15: 1286b20–22. Vgl. Pol. IV, 11: 1295a31–33. 197 Vgl. Pol. V, 1: 1301b40–1302a2. 198 Vgl. Keyt 1991a, 277. Schütrumpf 1980, 156 dagegen hält Aristokratien für praktisch irrelevant und wirklichkeitsfern. 199 Vgl. Pol. V, 7: 1306b24–27. 200 Vgl. Pol. IV, 2: 1289b3 f. und Pol. III, 7: 1279b4 f. 201 Rostock 1975, 299. 195 196

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wirkung auf die politischen Rechte vor allem des dêmos scheint sie möglicherweise oligarchische Auswirkungen zu haben, falls dieser politisch ausgeschlossen ist. Somit handelte es sich zwar nicht um eine plutokratische Oligarchie, aber um eine meritokratische, da – ganz wörtlich – nur wenige herrschten. Falls eine völlige politische Entrechtung der anderen Gruppen tatsächlich zuträfe und sie überdies an der alleinigen Fürsorge und Wahrnehmung der Gemeinschaftsinteressen scheiterte, müssten wir der Aristokratie den Rang als politischen Verfassungstypus aberkennen und sie als despotisch kennzeichnen. Hier droht nun also der Aristokratie eine »oligarchische Gefahr«, denn so käme sie sowohl in der subjektiven Sichtweise der betroffenen Bürger 202 als auch in dem tatsächlich objektiv bestehenden Problem der Entrechtung aller nicht Tugendhaften der bekanntlich despotisch agierenden Oligarchie recht nahe. Zwar wissen wir aufgrund der in diesem Kapitel erarbeiteten Beachtung der anderen normativen Ansprüche, dass die Aristokraten als brave politische Regenten (im Sinne von p2) sich wohl schwerlich solcher Vergehen schuldig machen. Noch wissen wir allerdings nicht, wie dies zustande kommen soll. Daher widmen wir uns im folgenden Kapitel diesem zentralen Thema. 3.2.1.3 Die oligarchische Gefahr von Pol. III, 10 oder: Die wahre Aristokratie in Pol. III, 11 Wieso kann laut Aristoteles überhaupt eine oligarchische Gefahr für die Aristokratie entstehen? Hier sollten wir uns das Problem der unterschiedlichen soziologischen Zusammensetzungen von Pol. VII/ VIII und dem Rest der Politik vergegenwärtigen: Während Aristoteles in Pol. VII, 9 noch in platonischer Weise die nicht Tugendhaften aus der Vollbürgerschaft ausschließt und sie daher politisch rechtlos sind, 203 besteht in den restlichen Bürgerschaften die Vollbürgerschaft nicht mehr nur aus Tugendhaften, womit das Problem des Unterschiedes zwischen dem guten Menschen und dem guten Bürger in 202 Piepenbrink beansprucht, dass Königtum und Aristokratie von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, weil sie angeblich durch die fehlende Partizipation des Volkes massive Akzeptanzprobleme hätten (vgl. Piepenbrink 2001, 48). Für das Königtum hoffe ich den Beweis des Gegenteils bereits angetreten zu haben, die entsprechenden Probleme der Aristokratie werden im nächsten Kapitel verhandelt. 203 Vgl. Pol. VII, 9: 1329a19–38.

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Pol. III als zentrales Problem auftaucht 204. Insofern kann natürlich das Dilemma auftreten, dass im eigentlichen Sinne nicht tugendhaft zu nennende Leute selbstverständlich nicht gleichberechtigt zur Regierung zugelassen werden sollten, aber eine völlige politische Entrechtung auch ungerecht erscheinen mag. Diesbezüglich war die Situation in Pol. VII ja einfacher, da sowohl die Bauern als auch die Handwerker am besten ausländische Sklaven sein sollten und dementsprechend despotisch regiert werden können, was bei dem freien griechischen dêmos im Rest der Politik natürlich nicht angeht. 205 Meist wird jedoch die »oligarchische Gefahr«, die der Aristokratie droht, in der Forschungsliteratur überhaupt nicht besprochen. Dabei erweist sich das entsprechende Kapitel Pol. III, 10 auf jeden Fall als Wendepunkt im dritten Buch der Politik. Bereits im Abschnitt 1.3.2 haben wir erarbeitet, inwiefern Pol. III, 10 die »rule of law« hinterfragt und wie Pol. III, 11 diese Herausforderung meistert. Auf den ersten Blick irritiert Kapitel Pol. III, 10 nicht bloß deswegen, weil es jede Menge ernster Probleme aufwirft und selbst keine Lösung zu bieten scheint. 206 Vielmehr scheint es geradezu umstürzend zu wirken und sämtliche bisher erreichten Interpretationsergebnisse zunichtezumachen: Schließlich problematisiert es sämtliche Verfassungstypen und scheint sie für ungerecht zu erklären. Damit entzöge Aristoteles jedoch der berühmten Verfassungseinteilung Vgl. Pol. III, 4: 1276b37–1277a5. Insofern unterscheidet sich meine Aristokratie-Deutung in diesem Punkt grundsätzlich von derjenigen von Manuel Knoll: Knoll 2009, 62 hält die Aristokratie der »Polis nach Wunsch« aus Pol. VII/VIII für die wahre Aristokratie und interpretiert die nicht-despotisch herrschenden Aristokratien mit einer politischen Herrschaft über die nicht-aristokratischen Freien in den restlichen Büchern für sekundäre Aristokratien. Wie ich im Folgenden argumentieren möchte, stellt aber gerade eine Aristokratie, welche die Freien nicht angemessen beteiligt und insofern despotisch agiert, für Aristoteles ein normatives Problem und insofern sogar eine parekbasis dar. Daher kann das extreme Modell von Pol. VII/VIII, in dem es nicht einmal nicht tugendhafte Freie gibt, sondern alle nicht Tugendhaften Sklaven sind, nicht die Blaupause für die Lösung des Problems von Pol. I–VI bilden, dass nicht wahrhaft tugendhafte Freie eben nicht despotisch regiert werden dürfen. Daher kann – contra Keyt 1991a, 260 – mit der wahren Aristokratie von Pol. IV, 8: 1294a24 f. nicht die Aristokratie von Pol. VII/ VIII gemeint sein, da eine derart elitär-aristokratische Herrschaftsausübung über die in Pol. I–VI ja zwar freien, aber nicht tugendhaften anderen Bürger einen Despotismus bedeutete und so den Einwänden von Pol. III, 10 zum Opfer fiele. 206 Meine Interpretation möchte nachweisen, dass Pol. III, 10 nicht allein in Aporien verbleibt (vgl. für eine solche Interpretation Robinson 1995, 35), sondern bereits implizit über sich hinausweist. 204 205

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von Pol. III, 6+7 völlig den Boden, wenn nun auch Königtum und Aristokratie als ungerecht gälten. Genau diesen Schluss scheint Aristoteles in Pol. III, 10 zu ziehen, denn auf die Frage nach dem kyrion in der Polis führt er uns als Antwort scheinbar in die völlige Aporie und stellt bei allen Verfassungen ihre Ungerechtigkeit heraus. Grundsätzlich wirft dies auf den ersten Blick bei den an Tugend ohnehin ärmeren Vertretern der Menge, der Reichen und des Tyrannen keine größeren Interpretationsprobleme auf, denn als Herrscher der entsprechenden despotischen Verfassungstypen erreichen sie das schlechthin Gerechte natürlich nicht. Allerdings erstaunt die Vehemenz der Attacken doch einigermaßen: So wird der dêmos als kyrion deswegen abgelehnt, weil er in einer »äußersten Ungerechtigkeit« 207 den Besitz der Reichen unter sich aufteilt und so die Polis zugrunde richtet; ebenso wäre dieselbe Verhaltensweise der kompletten Enteignung dieses Mal des dêmos durch die Reichen als schlechter und ungerechter Raub zu geißeln 208. Dabei fällt zweierlei auf: Erstens betrachtet Aristoteles stets den reinen unvermischten Subtypus als legitimen Vertreter des Grundtypus und rechtfertigt so sein Pauschalurteil über die betreffende Verfassung. 209 Zweitens überspitzt er die Problematik jeder Verfassung: Es erscheint uns ja nicht völlig gerecht, den Anspruch etwa der Demokraten oder der Oligarchen auf das kyrion dadurch abzuschmettern, dass ihnen die schlimmsten Ungerechtigkeiten zugeschrieben werden. Hat denn Aristoteles nicht in vorhergehenden Kapiteln wie Pol. III, 9 festgestellt, dass diese beiden Verfassungen bis zu einem gewissen Grade recht hätten und sie so durchaus bis zu einem bestimmten Umfang gerecht zu nennen sind, aber eben durch ihre Übertreibung und Verabsolutierung eines an sich nicht völlig unberechtigten Anliegens das Gerechte schlechthin verfehlen? Nun gut, könnte man sich denken, die besten Verfassungen des Königtums und der Aristokratie werden doch nicht von solchen Problemen betroffen sein und stellen sicherlich dank ihrer politischen 207 Pol. III, 10: 1281a16 f. stellt also den Höhepunkt der Demokratenpassage (Pol. III, 10: 1281a14–21) in diesem Kapitel dar. 208 Vgl. Pol. III, 10: 1281a24–28. 209 Damit stimmt auch gut überein, dass Aristoteles am Ende der kurzen Tyrannenpassage (Pol. III, 10: 1281a21–24) die vorher beschriebenen ungerechten Handlungsweisen des dêmos gegenüber den Reichen mit dem tyrannischen Faustrecht parallelisiert. Dieser Parallelisierung der demokratischen und oligarchischen Extremformen mit der Tyrannis werden wir in unseren Despotiekapiteln mehrfach wieder begegnen.

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Regierungsweise das leuchtende Gegenbeispiel dar, wie man eben eine Polis regieren sollte. Wer mit solchen Erwartungen die Folgezeilen liest, der erlebt eine ziemliche Überraschung: Sowohl der König als auch die Besten werden scharf für angeblich oligarchische Konsequenzen kritisiert, denn wenn sie Herren über alles seien, und alle anderen von der Ehre der politischen Ämter ausgeschlossen wären, verfiele eben der nicht königliche oder nicht aristokratische Teil der Polis der Atimie. Bekanntlich verbaut Aristoteles gleich in den nächsten Zeilen den scheinbar rettenden Ausweg, dass vielleicht bloß der (aristokratisch, oligarchisch, demokratisch usw. gesinnte) Mensch solchen Einwänden zum Opfer fiele, denn auch für entsprechende Gesetze gelten die gleichen vernichtenden Verdikte. Unweigerlich stellt sich die Frage, ob die ganze bisher vorgestellte normative Verfassungstheorie nur ein schlecht aufgebautes Kartenhaus war und Aristoteles nun nach dessen Zusammenbruch die Karten völlig neu mischt. So eine ähnliche Ansicht vertritt etwa Eckart Schütrumpf und sieht nun in Vorbereitung des Ansatzes der Bücher IV–VI das Kriterium der Stärke den Maßstab der Tugend ersetzen. 210 Tatsächlich sollten die interpretatorischen Herausforderungen dieses Kapitels ernst genommen und intensiv diskutiert werden. Bisher scheint mir dies allein der genetisch-analytische Ansatz von Schütrumpf geleistet zu haben. Gerade unitarische Deutungen sollten aus Glaubwürdigkeitsgründen dieses Problem zufriedenstellend lösen, speziell wenn sie zusätzlich die These vertreten, dass Aristoteles ein aristokratischer Denker sei. Schließlich stehen wir vor dem Dilemma, dass Aristoteles – wie bereits mehrfach erarbeitet und belegt – in den Kapiteln vor Pol. III, 10 sowie in den Passagen nach Pol. III, 11 eindeutig Königtum und Aristokratie als die normativ besten charakterisiert, aber ihnen hier einen Oligarchievorwurf macht. Selbstverständlich könnte man auf vielfache Weise versuchen, diese Gefahr zu bannen: Beispielsweise könnten wir uns den Umstand zunutze machen, dass Aristoteles in seiner Kritik der Aristokratie und des Königtums nicht mehr von Ungerechtigkeiten spricht. Hoffnungsfroh könnte man dann postulieren, dass er implizit den Fokus von der Gerechtigkeit zur Stabilität verschiebt und die Ehrlosigkeit allein ein Stabilitäts-, jedoch nicht ein Gerechtigkeitsproblem sei. Tatsächlich könnten wir eine solche Lesart dadurch stützen, dass 210

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Schütrumpf 2015, 173 diagnostiziert einen »complete shift of paradigms«.

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Aristoteles mehrfach Stabilitätsschwierigkeiten von Aristokratien aufgrund von Atimie-Problemen anspricht: Nicht nur in einer sogenannten Aristokratie von Pol. V, 7 herrscht aus diesem Grund die Gefahr einer stasis, 211 sondern er problematisiert dies auch für die radikale Geistesaristokratie der Philosophenkönigsherrschaft der platonischen Politeia: Wenn immer nur dieselben herrschen und der Rest niemals mitbestimmen dürfe, dann führe dies sogar bei Leuten ohne Selbstachtung zum Aufruhr und erst recht bei kriegerischen Menschen. 212 Wenn wir in der Terminologie von Pol. III, 10 bleiben wollen, dann erweist sich für Aristoteles die platonische Philosophenkönigsherrschaft als ebensolche problematische radikale Aristokratie, die in oligarchisch anmutender Weise Herr über alles ist und den entrechteten Rest in die Atimie stürzt. 213 Wiederum könnte Aristoteles also aus seiner Sicht seinem früheren Lehrer erfolgreich nachweisen, dass dessen politische Philosophie an der Realität vorbeigeht. Hier müsste er allerdings für diesen Triumph den doch recht hohen Preis bezahlen, dass seine eigene normative Theorie ebenfalls an der Realpolitik scheiterte und er im RahVgl. Pol. V, 7: 1306b22–27. Dass es sich bei der dort beschriebenen Aristokratie um eine sogenannte handelt, ist einerseits aus den Beispielen ersichtlich (etwa Sparta) und andererseits daraus, dass 1307a9–12 diese Verfassungsordnungen an einem falschen Mischungsverhältnis zwischen den demokratischen, oligarchischen und genuin aristokratischen Elementen scheitern und auch ausdrücklich als eben solche sogenannte aristokratische Mischverfassungen angesprochen werden. 212 Vgl. Pol. II, 5: 1264b6–15. 213 Miller 1997, 128 ist einer der wenigen Interpreten, der eine solche platonische Radikalaristokratie als Problem für Aristoteles ansieht. Dabei kann er die »platonische Gefahr« eindrücklich mit einer Stelle aus dem IX. Buch der Politeia (genauer gesagt: 590c–d) belegen, da Platon hier einen Banausen (sowie andere Untugendhafte) ausdrücklich als Knecht (doulos) der Besten bezeichnet. Auch wenn man sicherlich eine gewisse Rhetorik dahinter vermuten kann (siehe z. B. die Rede von den Herrschenden als Knechten der Gesetze in Nomoi IV. Buch, 715d), bleibt natürlich trotzdem ein tiefer Graben zwischen Herrschenden und Beherrschten von Platon selbst beabsichtigt. Erst recht nimmt die völlig anders gelagerte aristotelische Theorie diese Kluft als problematisch wahr. Daher bleibt für Aristoteles trotz der anders gelagerten Rhetorik von Nomoi VI. Buch 756e–758a sicher auch in den Nomoi immer noch eine oligarchische Gefahr bestehen; dies obwohl Platon dort die oligarchische Gefahr selbst erkennt (eine Freundschaft zwischen »Knechten«, also entrechteten Freien, und politisch berechtigten Bürgern entstehe wohl nicht) und er daher dem dêmos nolens volens aus Stabilitätsgründen einen gewissen Anteil zugesteht. Schließlich wird damit das gemeine Volk mit niedrigen Ämtern abgespeist und die entsprechende Losgleichheit soll auch nur sehr selten angewendet werden. Insofern ist aus aristotelischer Sicht das Problem wohl nicht wirklich an der Wurzel gepackt. 211

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men dieser Selbstkritik selbst einen neuen Ansatz wagen müsste, in dem jeglicher weitergehende normative Anspruch fallen gelassen wird und nur noch eine Verrechnung verschiedener Stärken interessant bleibt. Allein, dieser gerade beschriebene Versuch eines interpretatorischen Auswegs aus dem Dilemma von Pol. III, 10 durch einen Fokuswechsel auf die Stabilität ist ebenfalls zum Scheitern verurteilt, wenn wir uns die Fortsetzung in Form von Pol. III, 11 ansehen und auch an die früheren Kapitel zurückdenken. Grundsätzlich kann man diesen »turn to stability« entweder unitarisch oder genetisch-analytisch vornehmen. Besonders stark unter Druck steht hier das unitarische Modell, denn wie lässt sich die scheinbar durchschlagende, vernichtende Fundamentalkritik an den besten Verfassungstypen von Königtum und Aristokratie in Pol. III, 10 mit der normativen Höchstschätzung der früheren Kapitel und Bücher und der ab Pol. III, 12 wieder erfolgenden Auszeichnung als besten Verfassungstypen vereinbaren? Kann es wirklich sein, dass Aristoteles in Pol. III, 10 die Aristokratie und das Königtum als Oligarchie entlarvt und ohne weitere offensichtliche Auflösung dieser Schwierigkeiten ab Pol. III, 12 unbekümmert dieselbe normative Agenda wie in Pol. III, 6–9 verfolgt, auch wenn sie für die Praxis fruchtlos bleibt? Dies scheint wenig wahrscheinlich angesichts des aristotelischen Einwandes gegen Platon, dass in der praktischen Philosophie Theorien niemals um ihrer selbst willen aufgestellt werden sollten, sondern die Praxisrelevanz beachtet werden müsse. Warum sollte Aristoteles normative Theorien aufstellen, die dann doch aus Stabilitätsgründen hinfällig werden? Noch inkohärenter wird eine unitarische Position, wenn – wie dies ja häufig geschieht – Pol. III, 11 als Politie oder gar als Demokratie verstanden wird, denn wieso verwirft Aristoteles aufgrund von Pol. III, 10 seine bisherigen Lieblingsverfassungen, wechselt in Pol. III, 11 zur Politie oder Demokratie und kehrt dann, erstaunlicherweise ohne ein einziges Wort der Begründung darüber zu verlieren, plötzlich wieder zur gewohnten normativen Höchstbewertung von Königtum und Aristokratie zurück? 214 Ebenso ließe sich fragen, wieso Aristoteles in Pol. III, 10 die Normativität zugunsten der Stabilität Vgl. etwa Keyt/Miller 1991 mit ihrer Beschreibung von Pol. III, 11 als »qualified defense« der Demokratie bzw. soll das Summierungsargument ergeben, dass die Demokratie unter manchen Umständen sogar als absolut gerecht und nicht mehr als verfehlte Verfassung gelten könne (so Keyt 1991a, 270).

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aufgibt und dann ab Pol. III, 12 wieder ohne ein Wort zu verlieren zum üblichen modus procedendi übergeht und zumindest in den Folgekapiteln bis Ende des dritten Buches ohne sichtliche Probleme weiterhin das Projekt der Suche nach der normativ absolut besten Verfassung verfolgt. Wesentlich komfortabler scheint also zumindest auf den ersten Blick die Lage des genetisch-analytischen Ansatzes zu sein. Sofern man der Interpretation von Schütrumpf beipflichtet, vermeidet man die eklatanten Widersprüche einer oben charakterisierten unitarischen Deutung. Schließlich erklärt man dann Pol. III, 10 sozusagen zum Paulus-Erlebnis des reifen Aristoteles, und dieser verfolge dann ab Pol. III, 11 das Projekt einer wesentlich realistischeren politischen Philosophie, wie es auch für Pol. IV–VI kennzeichnend sei. 215 Da Schütrumpf überdies Pol. III, 11 als Mischverfassung im Sinne von Pol. V, 8 interpretiert 216 und dies in Pol. IV–VI aufgrund der Machttheorie von Pol. IV, 12 als Erfolg versprechendes Modell gelten darf, scheinen sämtliche Probleme gelöst. Anders formuliert: Entweder lässt sich eine andere Erklärung für den Themenkomplex Pol. III, 6– 18 finden oder Schütrumpf hat angesichts der gravierenden Konsequenzen von Pol. III, 10 sowohl mit dem genetisch-analytischen Ansatz als auch mit seiner konsequenten Verabschiedung der Aristokratie als völlig unbrauchbarer Verfassung auf ganzer Linie recht. Tatsächlich meine ich, dass eine solch alternative unitarische Lesart möglich ist, welche die von Pol. III, 10 aufgeworfenen Probleme angemessen berücksichtigt und dennoch eine weiterhin normativ orientierte Interpretation ermöglicht. Zu diesem Zwecke weise ich auf der einen Seite nach, dass das Thema des Gerechten nach wie vor eine Rolle auch in Pol. III, 11 spielt und mitnichten bloß Stabilitätsfragen erörtert werden, womit normative Fragen als bloße Träumereien gelten müssten. Auf der anderen Seite möchte ich auch deutlich machen, inwiefern im Komplex von Pol. III, 6–18 dieselbe normative Bewertung durchgängig vertreten, also der Vorrang von Königtum und Aristokratie an keiner Stelle tatsächlich bestritten wird. Dazu muss man natürlich nachweisen können, dass Pol. III, 10 keineswegs Pol. III, 9 übersteigt 217 und Pol. III, 9–13 die bitteren oligarchischen Konsequenzen von Pol. III, 10 vermeidet und dabei eine kohärente 215 216 217

Pol. III, 12–18 müssen dann folgerichtig ältere Denkstände wiedergeben. Vgl. Schütrumpf 1996, 114. Darin liegt jedoch ein Interpretationsproblem von Schütrumpf, der aus Pol. III, 9

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Aristokratietheorie liefert. Schließlich sollte man sich als Unitarier darüber Rechenschaft ablegen können, wieso Pol. IV, 2: 1289b3 f. und öfters die Aristokratie normativ wesentlich von der Oligarchie geschieden wissen möchte. Das Oligarchie-Problem von Pol. III, 10 muss also zufriedenstellend gelöst sein. Zuallererst verschärfe ich das Oligarchieproblem allerdings noch weiter, denn die Ungerechtigkeit einer Radikalaristokratie im Sinne von Pol. III, 10 besteht nicht nur in der Sichtweise der entrechteten demokratischen oder oligarchischen Mitbürger und führt zum erwähnten Stabilitätsproblem. Vielmehr betrachtet auch Aristoteles selbst eine radikale Aristokratie, in der die Tugendhaften Herren über alles sind, als normativ ungerecht. Dabei sehen sich die Radikalaristokraten von Pol. III, 10 einer doppelten Attacke ausgesetzt: Ihre absolute Herrschaft leidet nicht nur an einem machtpolitischen Stabilitätsproblem, sondern gilt auch für Aristoteles als normativ ungerecht 218 und daher nicht gut legitimierbar. Dies mag zunächst erstaunlich wirken, denn Aristoteles gilt doch nicht umsonst als Begründer der Tugendethik und scheint doch auch in seiner politischen Philosophie der Tugend einen besonders prominenten Platz zuzuweisen: Muss sich denn nicht eine Polis um Tugend bemühen, und wer könnte dies besser als die Tugendhaften? Warum sollten wir ihnen also nicht ein absolutes kyrion einräumen? Wer so argumentiert, betrachtet Aristoteles letztlich noch zu stark durch eine platonische Brille. Und gerade gegen Platons radikale Aristokratie mit ihrer absoluten Herrschaft bloß der Tugendhaften und der politischen Entrechtung des Rests wendet sich Aristoteles mit seiner wahren Aristokratie, deren erste Grundzüge wir nach der schneidenden Kritik an einer falsch verstandenen Radikalaristokratie in Pol. III, 10 dementsprechend in Pol. III, 11 kennenlernen und in Pol. III, 12+13 vertieft finden! Im Rahmen meiner nun folgenden Interpretation werde ich also zunächst weitere Schwierigkeiten der radikalen Aristokratie à la Pol. III, 10 aufzeigen und sodann belegen, inwiefern Pol. III, 11 als Aristokratie gelten kann und keineswegs als

herausliest, dass dort den Besten die Macht allein übertragen würde (vgl. z. B. Schütrumpf 1996, 124 u. ö.). 218 Anders Schütrumpf 2015, 181: Eine politische Partizipation der Vielen könne Aristoteles nicht mit normativen Argumenten begründen, sondern nur mit Stabilitätserwägungen. Ähnlich Schütrumpf 1991b, 492: Aristoteles stimme nur aufgrund der Mehrheitsverhältnisse einer Machtteilung zu.

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Politie, Demokratie oder Mischverfassung Demokratie-Aristokratie aufgefasst werden darf. Nachdem Aristoteles in Pol. III, 10 die Schwierigkeiten einer radikalen Aristokratie aufgezeigt hat, macht er zu Beginn von Pol. III, 11 zunächst weiter die Gegenrechnung auf und fragt sogar, ob das kyrion nicht eher bei der Menge (!) liege und diese Annahme nicht bloß verteidigbar, sondern auch wahr (!) sein könne. 219 Allerdings stellt dies nur den Diskussionsbeginn dar und darf nicht voreilig als Lösung des Kapitels präsentiert werden. 220 Wie bereits gesagt, sieht die Lage für radikale Aristokraten relativ übel aus, denn der Oligarchievorwurf von Pol. III, 10 steht ja noch im Raume. Entgegen der bisher vorgetragenen vorsichtigen Lesart beschränkt sich dieses Thema jedoch nicht allein auf von entrechteten Mitbürgern wahrgenommene Ungerechtigkeiten und damit auf Stabilitätsprobleme. Vielmehr äußert Aristoteles solche Oligarchiebedenken in Bezug auf die radikale Aristokratie auch in normativer Hinsicht: Ebenso wie eine Oligarchie die berechtigten normativen Ansprüche des dêmos aufgrund des eigenen Maßstabes des Reichtums weitgehend oder gar ganz ignoriert, ebenso kann man einer radikalen Aristokratie à la Pol. III, 10 diesen Vorwurf sogar in zweifacher Hinsicht machen: Erstens kritisiert Aristoteles einen Absolutheitsanspruch der Tugend, also eine Meinung der Radikalaristokraten, nur die Tugend allein trage zur eudaimonia und zum koinon sympheron der politischen Gemeinschaft bei. Zweitens verneint Aristoteles aber sogar den Absolutheitsanspruch der Besten auf die Tugend, bestreitet also den platonischen Ansatz, dass nur die radikalen Aristokraten überhaupt tugendhaft genug sind und nur sie daher über die korrekte Politik deliberieren dürfen. Zunächst zum ersten Kritikpunkt des verfehlten AbsolutheitsVgl. Pol. III, 11: 1281a39–42. So aber Schütrumpf 2009, 46 oder Schütrumpf 1996, 148 (hier führt Schütrumpf diese Stelle sowie eine weitere aus dem aporetischen Kapitel Pol. III, 10 dafür an, dass die Aristokratie schon in Pol. III. nicht unbedingt politisch wünschenswert scheine). Man beachte die zutreffende Warnung in Schütrumpf 1991b, 110 f. zur aporetischen Methode im III. Buch: »Aristoteles trägt nicht Ergebnisse vor, sondern entwickelt sie erst. Nicht jede der verschiedenen Stufen, die zum Ergebnis hinführen sollen, kann schon als die endgültige Antwort angesehen werden […] Es ist daher hier besonders wichtig, den jeweiligen Zusammenhang, den Stand der Diskussion zu beachten – man kann nicht einfach Sätze zitieren und als die gültige aristotelische Position ausgeben.« Ebenfalls kritisch äußert sich Bobonich 2015, 143: »Quoted above, 1281a40–42 is hardly an unequivocal endorsement of the many’s claim to rule.« 219 220

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anspruchs der Tugend: Tatsächlich spricht sich Aristoteles in Pol. III, 10 allein gegen ungerechte Inanspruchnahmen der gesamten Macht aufgrund eines einzigen Kriteriums aus, denn dies läuft auf eine ungerechte Benachteiligung der anderen, ebenfalls gerechtfertigten Ansprüche (auf wenigstens einen Teil der Macht) hinaus. Daher ist auch die Infragestellung der Aristokratie in Pol. III, 10 nicht als generelle Absage an jegliche Aristokratie aufzufassen, sondern betrifft nur radikale Aristokraten, welche – wie in der betreffenden Passage 221 beschrieben – sich zu Herren über alles aufschwingen und den restlichen Bevölkerungsgruppen aufgrund derer angeblich fehlenden Leistungen für die Polis gar keinen Anteil an der Verfassung gewähren. Schon in Pol. III, 9 hörten wir ja, dass die Polis als Gemeinschaft in Hinsicht auf das gute Leben aufzufassen ist und die Anteile an der Verfassung je nach Beitrag zur Polis zu vergeben seien: »Deshalb steht denjenigen ein größerer Anteil an der Polis zu, die am meisten zu einer derartigen Gemeinschaft beisteuern …« 222 Inwiefern können also die Maßstäbe der Demokraten und der Oligarchen in bestimmtem Umfang als vernünftig/gut begründet (eulogôs) gelten? 223 Einerseits sind auch die Beiträge der Oligarchen und Demokraten objektiv notwendig für das gute Leben der Gemein-

Vgl. Pol. III, 10: 1281a28–32. Pol. III, 9: 1281a4 f. (Hervorhebung durch Unterstreichung B. L.) Bereits dieses Ende von Pol. III, 9 belegt – contra Schütrumpf 2015, 176–178 – die Verknüpfung von eudaimonia und politischer Anteilhabe. Ebenso weist der Anfang von Pol. III, 13 (genauer: Pol. III, 13: 1283a24–42) – ebenfalls contra Schütrumpf 2015, 176–178 – nach, dass Demokraten und Oligarchen sehr wohl mit ihrem Beitrag zur allgemeinen eudaimonia für einen bestimmten Anteil an der Macht argumentieren: In diesem Text lässt Aristoteles die verschiedenen Gruppierungen ihren Beitrag zum zôên agathên (1283a24) vorbringen, wobei bereits von Anfang an zwar auf das Ergebnis von Pol. III, 9 (das größte Recht für Bildung und Tugend) rekurriert wird, aber im weiteren Verlaufe etwa das Summierungsargument für den dêmos wieder aufgegriffen wird. Somit kann das Konzept des distributiv Gerechten sehr wohl die politische Partizipation des dêmos rechtfertigen (contra Schütrumpf 2015, 181). Man kann es natürlich auch umgekehrt formulieren: Eine absolute Herrschaft der Tugendhaften (»Herren über alles«) ist durch ihren höheren Anspruch normativ nicht gedeckt (contra Schütrumpf 1991b, 491, der für die Relativierung ihrer Herrschaftsansprüche das Stabilitätsargument bemühen muss und – in the long run – daher auch die Notwendigkeit sieht, normative Betrachtungsweisen zugunsten der Stabilitätserwägungen aufgeben zu müssen). 223 »Es ist nötig, in den Dingen den Streit auszufechten, aus welchen die Polis [wesentlich] besteht. Daher erheben mit gutem Grund [gerade] die Edlen, die Freien und die Reichen Ansprüche auf Ämter.« (Pol. III, 12: 1283a14–17). 221 222

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schaft (beispielsweise ermöglichen nur die Leistungen der anderen die Muße für die Aristokraten oder kann eine Polis unmöglich das gute Leben ohne ein bestimmtes Mindestmaß an äußeren Gütern erlangen, das die Aristokraten aufgrund ihrer geringen Zahl sicherlich nicht erbringen können); andererseits sei noch einmal daran erinnert, dass sich alle freien Bürger »subjektiv« um die eudaimonia und die Tugend bemühen 224. Entsprechend billigt Aristoteles sogar in Hinsicht auf das gute Leben der Bildung und der Tugend nur das größte Recht (malista dikaiôs) zu. 225 Gleich darauf präzisiert er, dass daraus aber kein alleiniger Anspruch der Aristokraten erwachse: Da aber weder diejenigen, die nur in einem Punkte gleich sind, in allen Dinge das Gleiche erhalten dürfen, noch das Ungleiche, wenn sie [bloß] in einem Punkte ungleich sind, so müssen also alle derartigen Verfassungen [Verfassungen, die derart verfahren] Abweichungen sein. 226

Daher ist die entsprechende radikalaristokratische (und auch platonische!) Annahme, dass nur die Tugend einen Anspruch begründe, als Abweichung (parekbasis) gebrandmarkt. 227 Schon in Kapitel 9 wird eine uneingeschränkte Alleinherrschaft der Besten abgelehnt, da sie zu einer ungerechten und auch ungerecht empfundenen Hintansetzung anderer Ansprüche führe. 228 Aretê gilt für Aristoteles gerade nicht »als einzig richtiger Anspruch« (so jedoch Schütrumpf 1980, 218), denn die Ansprüche von Freiheit und Besitz sind in einem bestimmten Umfang berechtigt und daher durchaus »richtig«. Dass eine sich absolut gebärdende radikale Aristokratie mit demselben normativ vernichtend gemeinten Prädikat der parekbasis wie die eigentlichen Despotien bedacht wird, spricht schon Bände. Streng warnt Aristoteles davor, nur einen einzigen Maßstab anzuerkennen, seinen Vertretern die absolute Macht zu geben und die Vertreter der anderen Maßstäbe politisch zu entrechten: »All dies aber scheint klarVgl. noch einmal die einschlägigen Fußnoten. Vgl. Pol. III, 13: 1283a24 f. 226 Pol. III, 13: 1283a27–29. 227 Interessanterweise weist Newman (vgl. Newman 2010a, 260) in zwei dürren Sätzen (mit Bezug auf 1283a14 ff., dass die anderen auch einen Beitrag zur Polis leisten) darauf hin, dass eine absolute Alleinherrschaft sogar der Aristokraten nicht gerechtfertigt wäre. Jedoch übersieht Newman dabei, dass schon Pol. III, 9 eine absolute Regierung der Aristokraten verunmöglicht; überdies muss sich eine heutige Verteidigung der aristokratischen Lesart des gesamten Buches III mit den Einwänden von Schütrumpf auseinandersetzen. 228 Vgl. das bereits zitierte Pol. III, 9: 1281a2–8. 224 225

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zumachen, dass von diesen Maßstäben keiner richtig ist, aufgrund deren sie [die Vertreter der verschiedenen Ansprüche] beanspruchen, dass sie herrschen, alle anderen aber von ihnen beherrscht werden.« 229 Somit verwehrt also Aristoteles dem absoluten Machtanspruch einer radikalen Aristokratie seine Zustimmung und möchte auch die bekanntlich nicht ganz so tugendhaften Angehörigen des dêmos sowie die Oligarchen politisch nicht völlig entrechten. 230 Damit endet jedoch keineswegs die Reihe der normativen Zumutungen, die Aristoteles für einen aufrechten Radikalaristokraten bereithält. Nicht nur bestreitet er den Alleinvertretungsanspruch der Tugend als richtigen Maßstab, sondern er beraubt die Besten sogar auch des Alleinvertretungsanspruches in Hinsicht auf die Tugend. Äußerst knapp resümiert Aristoteles dies im Anschluss an das letzte Zitat: Sogar auf deren ureigenem Gebiet der Tugend oder des Reichtums könne die Menge in ihrer Gesamtheit besser sein als die wenigen Tugendhaften oder die Reichen. 231 Selbstverständlich erinnert Aristoteles in dieser knappen Bemerkung an das berühmte, später sogenannte Summierungsargument, dem wir uns daher nun widmen werden. Bereits durch diese kleine Rückschau von Pol. III, 13: 1283b30–35 sind wir nun dafür sensibilisiert, dass der Anfang von Pol. III, 11 die normative Herausforderung der Besten durch den dêmos auf seinem ureigensten Gebiet der Tugend bereithält: Soll der dêmos tatsächlich das kyrion tês poleôs beanspruchen dürfen, weil er in seiner Gesamtheit sogar auf dem Feld der Tugend besser abschneidet als die wenigen Tugendhaften? 232 Dabei argumentiert Aristoteles, dass die vielen Angehörigen der Menge für sich betrachtet zwar nicht tugendhaft seien, aber jeder einen Teil an Tugend und Klugheit habe. Bei Zusammenkünften könne unter günstigen Umständen 233 diese individuell relativ bescheidene Tugend und Klugheit des Bürgers A mit all den anderen, individuell für sich betrachtet ebenfalls relativ bescheidenen Tugenden und

Pol. III, 13: 1283b27–30 (in einer leicht abgewandelten Schütrumpf-Übersetzung). Später wird er daher in Pol. V, 8: 1309a27–32 Oligarchien und Demokratien den weisen Ratschlag erteilen, den entgegengesetzten Gruppen (Demokraten in Oligarchien und Oligarchen in Demokratien) Gleichheit oder gar Vorrang einzuräumen, lediglich die höchsten Ämter sollten der eigenen Gruppe vorbehalten sein. 231 Vgl. Pol. III, 13: 1283b30–35. 232 Vgl. Pol. III, 11: 1281a40–b2. 233 Die Menge dürfe nicht zu sklavenartig sein (vgl. Pol. III, 11: 1282a15 f.). 229 230

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Einsichten der anderen dêmos-Angehörigen ein höheres Level an Gesamttugend und -Klugheit als die Gesamttugend und -Klugheit der wenigen Besten hervorbringen. 234 Somit scheint Aristoteles in Pol. III, 11 plötzlich eine völlig andere normative Vorliebe zu hegen, denn in diesem normativen Duell um das kyrion tês poleôs scheint plötzlich der dêmos wesentlich im Vorteil gegenüber den Besten zu sein. 235 Wenig verwunderlich hat dieses Kapitel daher quer durch die Jahrhunderte eine rege Rezeptionsgeschichte erfahren: So beruft sich etwa mit Marsilius von Padua der mittelalterliche Ahnvater des Volkssouveränitätsgedankens 236 in seinen entsprechenden Begründungen tatsächlich auf Pol. III, 11 oder lesen es heutige Interpreten wie David Keyt als Verteidigung der Demokratie gegen Platons überschießende Kritik (oder ziehen es zumindest wie Ernest Barker als Begründung heran, wieso Aristoteles nicht als Antidemokrat bezeichnet werden könne 237). Demgegenüber möchte ich nachweisen, dass Aristoteles keineswegs ins Lager der überzeugten Demokraten überläuft und er auch in Pol. III, 11 immer noch aristokratisch argumentiert. Nur handelt es sich nicht um die radikale Aristokratie à la Pol. III, 10 oder à la Platon, sondern um die wahrhafte aristotelische Aristokratie. 238 Warum dürfen wir auch im zunächst so demokratisch scheinenden Pol. III, 11 dennoch nicht von einer Abkehr von dem elitär-aristokratischen Schema ausgehen, das all die vorherigen und nachfolgenden Kapitel dominiert? 239 Vor allem weil sich in einer detaillierten Analyse zeigen wird, dass das kyrion des dêmos relativ bescheiden ausfällt. Überdies werden wir auch sehen, dass der dêmos zwar nicht in platonischer Weise völlig herabgesetzt wird, aber dennoch eine mit einer Demokratievorliebe nicht vereinbare normative Minderbewertung vorherrscht.

Vgl. Pol. III, 11: 1281b2–7. Interpreten wie Bates meinen daher, dass in Pol. III die Demokratie zur besten Verfassung erklärt werde (vgl Bates 2003, 2). Ein weiterer Verfechter der Demokratielesart in jüngerer Zeit ist Pangle 2013, 138 ff. 236 Schütrumpf 1996, 140 bestreitet jedoch auch für Pol. IV–VI, dass die gesamte Bürgerschaft als Gesetzgeber gelten solle und überträgt diese Aufgabe dem Gesetzgeber und leitenden Politiker. 237 So Barker 1946, XXXI. 238 Dagegen Schütrumpf 1996, 148: »Eine Aristokratie erschien Aristoteles schon in P o l. III nicht unbedingt wünschenswert« (unter Bezug auf 1281a28 ff. und 1281a40). 239 Anders gefragt: Was übersieht Rosler 2005, 257, der Pol. III, 11 als Demokratie auffasst? 234 235

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Wie bereits mehrfach angeführt, stellt der Beginn von Pol. III, 10 die alles entscheidende Leitfrage nach dem kyrion der Polis 240 und erkundigt sich der Anfang von Pol. III, 11 vorsichtig, ob denn nicht das kyrion mehr beim dêmos als bei den Besten liegen könne 241. Nach den Passagen mit dem Summierungsargument scheint für viele Interpreten die Sache bereits entschieden, und Aristoteles plädiert angeblich entweder für eine Demokratie, eine Politie oder eine Mischverfassung Demokratie-Aristokratie. Dies scheint auf den ersten Blick insofern plausibel, da der dêmos die Besten in der Tugend zu übertrumpfen können scheint. Wenn aber die Aristokraten sogar auf ihrem gewissermaßen ureigensten Gebiet überflügelt werden können, dann müsste Aristoteles tatsächlich die Aristokratie plötzlich für normativ minderwertig gegenüber der Demokratie erklären und das kyrion tês poleôs dem dêmos übertragen. Zielstrebig steuert Aristoteles daher auf die Frage zu, worin das kyrion des dêmos denn nun wirklich bestehe. 242 Man beachte hierbei jedoch, dass Aristoteles wirklich danach fragt, in welchen Angelegenheiten denn die Freien und die Menge der Bürger das kyrion haben. Wenn Schütrumpf in seiner Übersetzung von Pol. III, 11 das kyrion konsequent mit »souveräne Gewalt« wiedergibt, bringt dies den Leser von vornherein auf eine falsche Spur. 243 Tatsächlich handelt es sich nur beim kyrion tês poleôs oder beim kyrion pantôn um so etwas wie eine souveräne Gewalt, aber nicht jedes kyrion über irgendetwas ist eine souveräne Instanz: Beispielsweise meint Aristoteles in Pol. II, 10: 1272a10–12, dass die kretische Volksversammlung nur (!) das kyrion habe, die Beschlüsse der Geronten und der Kosmoi in einer Abstimmung zu bestätigen. Insofern darf eine Übersetzung von 1281b23 f. nicht gleich eine souveräne Gewalt suggerieren. Schließlich besteht das eigentliche, dieses Mal wirklich souveräne kyrion von Menschen in einer Polis selbstver-

Vgl. Pol. III, 10: 1281a11. Vgl. Pol. III, 11: 1281a140–42. 242 Vgl. Pol. III, 11: 1281b23 f. 243 Überdies sorgt dies für Kohärenzprobleme in seiner Interpretation, da er immer wieder betont, wie untergeordnet die politischen Funktionen des dêmos tatsächlich seien und die Besten die Vorzugsstellung einnähmen (vgl. Schütrumpf 1996, 335 f. Anm. 25,40, der neben der besprochenen Stelle in Pol. IV, 8 auch ausdrücklich auf Pol. III, 11 und Pol. VI, 4 verweist). 240 241

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ständlich im Herrschen (archein). 244 Somit müsste also in Pol. III, 11 das archein der Menge zugesprochen werden, damit wir wirklich den dêmos als kyrion tês poleôs ansprechen können. Gerade dies verwehrt jedoch Aristoteles den bloß Freien des dêmos, denn aufgrund ihrer Ungerechtigkeit (adikia) und Torheit (aphrosynê) dürfen die Angehörigen der Menge nicht an den höchsten Ämtern teilhaben! 245 Wenn das Volk in völlig anti-demokratischer Art und Weise als ungerecht und töricht getadelt wird, erfüllt diese Kombination von adikia und aphrosynê im Übrigen die Kriterien einer Stelle in der Rhetorik für die größten Übel 246. Tatsächlich ist dies insofern einleuchtend, da erstens gute Herrscher natürlich als ihr Ziel das politisch Gute, sprich das Gerechte, also das koinon sympheron, anstreben sollten 247 und Ungerechtigkeit somit das Ziel der politischen Gemeinschaft verunmöglicht; zweitens wird dem dêmos die aphrosynê zugeschrieben, die ja als Gegensatz zur phronêsis definiert ist. 248 Damit ist also klar, dass Aristoteles ihr eine der wesentlichen politischen Kompetenzen zum Herrschen abspricht, nämlich klug deliberieren zu können. 249 Schließlich können wir dem bekannten Anfang von EN VI, 5 entnehmen, dass der phronimos gut überlegen (bouleuesthai) könne und zwar was dem guten Leben zuträglich sei. 250 Insgesamt ist also klar, dass Aristoteles den dêmos keineswegs zur Herrschaft befähigt sieht und ihn deswegen von der Herrschaft ausschließt. Daher kann es sich bei Pol. III, 11 nicht um eine Demokratie (eine Herrschaft des Volkes) handeln. Jedoch vergisst Aristoteles keineswegs seine frühere Kritik am radikalaristokratischen Platon, dass der dêmos wohl schwerlich eine völlige Atimie ertrage: Ihnen aber [gar] keinen Anteil zu geben und sie [überhaupt] nicht teilnehmen zu lassen, ist Anlass zur Furcht (wenn nämlich viele Ehrlose und Arme vorhanden sind, wird diese Polis notwendigerweise voll von Feinden sein).

Eigentlich ist dieser Sachverhalt ohnehin an sich einsichtig, daher mag die Belegstelle Pol. III, 13: 1283a42–b8 genügen, welche die archein- und die kyrion-Diskussion miteinander identifiziert (vgl. besonders b5). 245 Vgl. Pol. III, 11: 1281b25–28. 246 Vgl. Rhet. II, 4: 1382a10 f. 247 Uns bereits bekannt durch Pol. III, 12: 1282b17 f. 248 Vgl. EE VII, 2: 1236a4 f. 249 Lane 2013 wehrt Lesarten von Pol. III, 11 ab, welche dort eine »Weisheit« der Menge entdecken. 250 Vgl. EN VI, 5: 1140a24–28. Ähnlich Rhet. I, 9: 1366b20–22. 244

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Es bleibt also [nur] übrig, sie am Beraten (bouleuesthai) und Beurteilen (krinein) 251 teilnehmen zu lassen. 252

Hier plädiert Aristoteles also mit einem Stabilitätsargument, wieso der dêmos trotz seiner Unvernunft und Ungerechtigkeit in gewissem Umfang an der Polis teilhaben soll. Bräche Pol. III, 11 hier ab, dann wunderte man sich wohl sehr über Aristoteles: Hat er nicht eben noch in 1281a40–b2 mit dem Summierungsargument ein normativ starkes Argument dafür in die Hand gegeben, dass der dêmos den Besten an Tugend und Klugheit überlegen sei? Da er dies in Pol. III, 13: 1283b30–35 bekräftigt, verlässt er diese Position offensichtlich auch nicht. Gerade eben aber haben wir erfahren, dass der dêmos sowohl ungerecht als auch unklug sei, was nicht gerade für besondere Tugendhaftigkeit und wiederum Klugheit spricht. Wie kann jedoch Aristoteles auf der einen Seite den dêmos im Summierungsargument als klüger als die Besten darstellen und ihnen auf der anderen Seite wegen ihrer Unklugheit den Zugang zu den Ämtern versperren? Des Rätsels Lösung finden wir im nächsten und übernächsten Abschnitt, da Aristoteles zunächst die Kompetenzen des dêmos genauer fasst und dann gegenüber platonistischen Einwänden verteidigt: Lobend erwähnt er die Entscheidung von Solon und anderen Gesetzgebern, dem dêmos lediglich die Wahl der Beamten und die Rechenschaftsabnahme zu überantworten, sie jedoch nicht herrschen (archein!) zu lassen. 253 Hier lohnt sich ein Vergleich mit der solonischen Politie von Pol. II, 12 und der Athênaiôn Politeia: Recht eindeutig informiert uns Aristoteles in Pol. II, 12 über seine normative Bewertung des Machtumfangs der Menge, wenn er schreibt, dass Solon durch diese Wahl und Rechenschaftsprüfung dem dêmos nur die notwendigste Macht gegeben habe. 254 Ebenso zählt Ath. Pol. 9,1 in seiner Aufzählung der drei volksfreundlichsten Maßnahmen die seisachtheia, die verbesserten Klagemöglichkeiten und die Überweisung Sowohl Gigon als auch Schütrumpf übersetzen krinein mit »entscheiden«. Wir werden im weiteren Verlauf des Kapitels jedoch sehen, dass Aristoteles dem dêmos die Beamtenwahl und die Rechenschaftsabnahme der gewählten Beamten überantwortet. Dies wird jedoch wohl besser mit »beurteilen« wiedergegeben. Akkurater daher Robinson 1995, 37: »judgment«. 252 Pol. III, 11: 1281b28–31 (leicht veränderte Übersetzung im Ausgang von Schütrumpf und Gigon). 253 Vgl. Pol. III, 11: 1281b32–34. 254 Vgl. Pol. II, 12: 1274a15–21. Zur Echtheit des Abschnitts über Solon im ansonsten sonst vermutlich größtenteils unechten Kapitel Schütrumpf 1991b, 367. 251

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von Rechtsverfahren an das dikastêrion auf, erwähnt aber mit keinem Wort die Wahl und Kontrolle der Beamten durch den dêmos als besonders wichtig. Nebenbei sei übrigens bemerkt, dass für das antike Griechenland die Wahl ein oligarchisches oder aristokratisches Charakteristikum war, denn in einer echten Demokratie sollten die Ämter verlost werden. 255 Radikale Aristokraten oder Platoniker würden zwar sicherlich dem folgenden Vergleich des dêmos mit unreiner Nahrung zustimmen, 256 allerdings schwerlich damit übereinstimmen, dass Aristoteles die Vermischung dieser unreinen Nahrung (des dêmos) mit der reinen Nahrung (den Besten) für nützlich erklärt und so die Beteiligung der Kollektivintelligenz des Volkes bei politischen Beratungen und Beurteilungen rechtfertigen möchte. 257 Aufschlussreich ist hier ein Vergleich mit platonischen Positionen, die hier zwar nicht ausdrücklich als Diskussionsgegner genannt sind, aber ganz offensichtlich gemeint sind. Zunächst kann man sich dieser Problematik über ein verwandtes Thema nähern: Während Platon in den Nomoi dem dêmos im Theater keine krinein-Intelligenz zusprechen mag und das Zulassen solcher Theaterkritik durch die Menge gar als Ursache für den moralischen Verfall, das Abgehen von der aristokratischen »rule of law« und den Aufstieg der radikalen Demokratie über den Umweg einer solchen Theatrokratie ansieht, 258 verwendet Aristoteles gerade die Kritik von Dichter- oder Musikerzeugnissen als Beispiel für die Richtigkeit seines Summierungsarguments in Hinsicht auf den dêmos 259. Gleichermaßen finden wir diesen Gegensatz im politischen Bereich: Während Platon etwa in der Politeia die (weise) Wohlberatenheit nur den Philosophenkönigen und sonst gar niemandem zuspricht, 260 beteiligt Aristoteles die Menge – wie wir gesehen haben –

Vgl. Pol. IV, 9: 1294b7–9 oder Pol. II, 12: 1273b40 f. Solche Stellen sollten beachtet werden, da sonst Aristoteles eine zu positive Einschätzung der Menge zugeschrieben wird: Effe 1976, 322 meint etwa, dass die Summierungstheorie bei einer qualifizierten Menge besser als Subtraktionstheorie zu bezeichnen sei. Schließlich würden hier die Affekte neutralisiert. Insgesamt könnten wir daher bei Aristoteles eine positive Grundeinstellung zur Menge beobachten. Demgegenüber weist Bobonich 2015, 147 f. die laut Aristoteles beobachtbare Defizienz der Menge mit vielen Belegstellen nach. 257 Vgl. Pol. III, 11: 1281b34–38. 258 Vgl. Nomoi II. Buch 659a–c mit Nomoi III. Buch 700a–701c. 259 Vgl. Pol. III, 11: 1281b7–10. 260 Vgl. Politeia IV. Buch 428a–429a. 255 256

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sowohl aus Stabilitätsgründen als auch mit der normativen Rechtfertigung des Summierungsarguments am bouleuesthai. Während in Platons Politeia allein die Philosophen die entsprechende Tugend besitzen und politisch tätig sein dürfen, ist der dêmos bei Aristoteles zwar nicht tugendhaft genug für die Herrschaft (er hat gewissermaßen keine anordnende Tüchtigkeit), wohl aber ist er als Kollektivintelligenz tüchtig genug, die richtigen Besten zu wählen und ihre Amtsführung zu beurteilen. Insofern fehlt es dem ungerechten und unklugen dêmos zwar an der notwendigen Tugendhaftigkeit, um aktiv herrschen zu dürfen, 261 aber für das passive Wahl- und Kontrollrecht bringt das Summierungsargument den Beleg einer entsprechenden Tüchtigkeit. Allerdings geben sich die Radikalaristokraten nicht so einfach geschlagen: Gerade ein solches kyrion in krinein und hairesis bestreiten platonistische Einwände, die wir am besten als Fachleuteargumente bezeichnen: 262 Es könne doch nur ein Fachmann den anderen Fachmann als solchen identifizieren, nur ein Arzt vermöge einen guten Arzt zu erkennen und nur solchen Standesgenossen gegenüber sei eine Rechtfertigung überhaupt sinnvoll. Im Subtext soll dies natürlich suggerieren, dass nur die Besten über die Tüchtigkeit der Amtsanwärter urteilen (krinein) könnten. Ebenso verstünden doch Fachleute mehr von einer Kunst als Laien, daher wählen wohl auch besser Fachleute die Fachleute. Daher dürfte die Menge weder in den Beamtenwahlen noch in den Rechenschaftsabnahmen mitreden. Demgegenüber verteidigt Aristoteles die Teilnahme des dêmos am bouleuomenon sowie die speziellen Kompetenzen der Wahl und Rechenschaftsabnahme. Dabei weist Aristoteles das Fachleuteargument dadurch zurück, dass nicht immer die anfertigenden Fachleute das Produkt am besten beurteilen können. Einleuchtend belegt er dies etwa über das Beispiel des Hauses, denn schließlich müssen die Bewohner darin leben und daher beurteilen sie seine Qualität wohl besser. Ebenso wird auch bei einem Steuerruder der Benutzer (Steuermann) seine Tauglichkeit besser bewerten als der Schreiner oder dürfen wir als Gäste eines Essens sehr wohl die Qualität der Speisen

261 Dazu passt auch, dass Aristoteles in Pol. III, 4: 1277b25–29 nur dem Regierenden die phronêsis zuschreibt, aber den Regierten höchstens eine wahre Meinung. 262 Vgl. Pol. III, 11: 1281b38–1282a14.

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bewerten, auch wenn wir vielleicht nichts Vergleichbares auf den Tisch zaubern können. 263 Zu guter Letzt bringt Aristoteles noch den letzten Gegeneinwand zur Sprache: Wieso sollten die Geringen über Wichtigeres als die Anständigen entscheiden, denn zum Wichtigsten gehörten doch Wahlen und Rechenschaftsablagen? 264 Etwas allzu knapp beantwortet Aristoteles die eigentliche Frage, denn er erinnert etwas pauschal an das gerade vorgelegte Argument, dass nicht nur Fachleute zu einem kompetenten Urteil fähig sind, sondern in einigen Fällen sogar die nicht aktiv an der Hervorbringung Beteiligten besser und kompetenter seien; ebenso verweist er schon etwas ausführlicher auf das Summierungsargument und behebt so in bewährter Weise das Problem, wieso Nicht-Tugendhafte plötzlich eine positive Rolle spielen können. 265 Somit glaubt er resümieren zu können, dass die Menge mit Recht entscheidend in größeren Dingen sei. 266 Dieses kyrion meizonôn bezieht sich jedoch eindeutig auf den Beginn dieser Frage, wo 1282a26 f. Wahl und Rechenschaftsabnahme genannt werden. Insofern darf man diese Aussage nicht zu einem generellen kyrion des dêmos umdeuten. 267 Vgl. Pol. III, 11: 1282a16–23. Mulgan 1977, 105 f. bemerkt ebenfalls, dass dieser Abschnitt nicht für eine Herrschaft des Volkes spricht, sondern nur für eine Kontrolle. Dennoch sieht er die Verfassung von Pol. III, 11 als eine Mischverfassung zwischen Demokratie und einer elitäreren Konzeption an. Bobonich 2015, 154 kommt ebenfalls zum Schluss, dass der dêmos falsche Ziele verfolgt und daher kaum die richtige Deliberation im vollen Sinne vollziehen könne. Dennoch zieht er nicht die Konsequenz aus der Kochanalogie (usw.), dass dem dêmos nur keine aktive, wohl aber eine passive Entscheidungskompetenz zugebilligt werden kann und daher ihre Miteinbeziehung tatsächlich bessere Entscheidungen produziert (vgl. die besonders kritische Bewertung in ebenda, 158). Insofern resümiert er ebenda, 162, dass Pol. III, 11 ein seltsamer Text sei, da ein eigenartiger Widerspruch zwischen der »many thesis«, also der These, dass die Vielen besser beurteilen können, und den aus den Analogien herausziehbaren Argumenten sowie der allgemeinen Defizienz des dêmos bestehen. Ich hoffe, diese Schwierigkeiten zufriedenstellend gelöst zu haben. 264 Vgl. Pol. III, 11: 1282a23–27. 265 Vgl. Pol. III, 11: 1282a27–b1. 266 Vgl. Pol. III, 11: 1282a38. 267 Problematisch daher, wenn Schütrumpf resümiert, das Summierungsverfahren solle innerhalb der siegreichen Kategorie Tugend die Herrschaft der Menge rechtfertigen (vgl. Schütrumpf 1980, 176). Nun hat aber Schütrumpf an anderer Stelle selbst beobachtet, dass in Pol. III, 11 dem Volk nur das krinein, nicht aber das archein zugesprochen wird (vgl. Schütrumpf 1980, 190 Anmerkung 117). Lane 2013, 266 f. beschränkt das kyrion des dêmos aus demselben Grund ebenfalls auf 263

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Bevor wir die endgültige Antwort auf die Frage nach dem kyrion tês poleôs erhalten, fassen wir am besten noch einmal knapp zusammen: In wünschenswerter Klarheit hat Aristoteles in Pol. III, 11 die Frage von 1281b23 f. beantwortet, worin das kyrion des dêmos besteht. Selbstverständlich darf es nicht das in Pol. III, 10 erfragte kyrion tês poleôs sein, daher verwehrt Aristoteles ihm auch die entscheidenden höchsten Ämter und beruft sich dabei auf Solon 268 und andere Gesetzgeber, die der Menge nur die nötigste Macht gegeben haben. Dies begründet er einerseits mit der Ungerechtigkeit der Vielen, womit ein falsches Ziel angestrebt wird und andererseits mit ihrer Torheit, also ihrer mangelnden Fähigkeit, richtig über das gute Leben zu überlegen (bouleuesthai). Entsprechend sollten die höchsten Ämter den Besten vorbehalten bleiben, denn – dies darf nicht vergessen werden – der relevante Maßstab in diesem Kapitel ist und bleibt auch im Summierungsargument die (aristokratische) Tugend. Trotzdem plädiert er für eine politische Zusammenarbeit des mit unreiner Nahrung verglichenen dêmos mit den mit reiner Nahrung verglichenen Besten: Dabei sollen die Besten die politische Leitung innehaben, jedoch von den Vielen gewählt und kontrolliert werden. Sowohl aus Stabilitätserwägungen heraus als auch aufgrund der normativen Rechtfertigung über das Summierungsargument gesteht er dem dêmos zwar nicht das archein zu, wohl aber ein kritisches Kontrollieren und Wählen und beschränkt daher das kyrion der Menge auf Wahlen (haireseis tôn archôn) und Rechenschaftsabnahmen (euthynai). 269 Sicherlich befürwortet Aristoteles eine gewisse Teilhabe des dêmos an der Macht, dies lässt ihn allerdings angesichts der geringen Wahl und Rechenschaftsabnahme. Allerdings erklärt sie gegen Ende ihres Aufsatzes (ebenda, 268) diese Funktionen zu einer Form von Herrschaft. 268 Weiter unten werde ich mich zur Frage äußern, ob nicht der Verweis auf Solon, der bekanntlich als einer der Gründerväter der athenischen Demokratie galt, für eine demokratiefreundliche Lesart spricht. 269 Hier ist es interessant zu beobachten, dass Schütrumpf trotz seiner sonstigen Tendenz, dem dêmos das kyrion zuzuschreiben, in einem Resümee seiner Kompetenzen zu folgendem Ergebnis kommt: »Die Rolle, die Ar. ihm sonst zuweist, ist die der Wahl und abschließenden Kontrolle der eigentlichen politischen Entscheidungsträger (vgl. 12, 1274 a 15 ff. und Anm.; Susemihl Anm. 388). Offensichtlich soll aber seine Entscheidungsbefugnis in politischen Fragen so weit wie möglich reduziert bleiben« (Schütrumpf 1991b, 349; Hervorhebung durch Unterstreichung; B. L.; ähnlich die Bewertung derselben Kompetenzen des dêmos in Pol. VI, 4: Schütrumpf 1996, 390 Anm. 37,30). Inwiefern die Angehörigen des dêmos dann trotzdem als superani anzusprechen sind, bleibt unbegründet.

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Kompetenzen und des geringen Zutrauens zum dêmos noch nicht zum prinzipiellen Verteidiger der Demokratie werden. Wie bereits gezeigt spricht er dem dêmos in Pol. III, 11 nicht nur positive Eigenschaften zu (anders Schütrumpf 270), sondern die auch mögliche Summierung 271 von negativen Charaktereigenschaften – vgl. Pol. IV, 4 – ist vorbereitet durch polemische Vergleiche der Menge mit unreiner Nahrung in Pol. III, 11: 1281b34–38; aber auch die Einschränkung von Kraut 272, dass das Summierungsargument nur dann positive Auswirkungen habe, wenn eine Masse nicht allzu verkommen sei, eröffnet diesen Horizont. Der Gegensatz von III, 11 und IV, 4 muss also nicht unbedingt genetisch erklärt werden. 273 Etwas später innerhalb seiner Habilitation bemerkt Schütrumpf doch Mängel des dêmos in Charakter und Vernunft in Pol. III, 11 und weist ihm eine untergeordnete politische Bedeutung zu 274 – ohne daraus die naheliegende Konsequenz zu ziehen. Obwohl der Text die Kompetenzen des dêmos eindeutig beschränkt, versuchen manche Interpreten der Menge bei Aristoteles doch mehr Macht zuzuschreiben. Aufgrund der Solon-Parallelstelle sowie der häufigen Nennung ausschließlich dieser beiden Kompetenzen des dêmos scheint mir jedoch beispielsweise die Deutung von Keyt textlich ausgeschlossen, dass Aristoteles »may have intended for the ekklesia of free men to have all of its usual powers« (Keyt 1991a, 272), worunter Keyt sämtliche Kompetenzen des bouleuomenon in Pol. IV, 14: 1298a3–7 versteht. Überdies schwanken bekanntlich die Befugnisse der ekklêsia je nach Verfassungstypus 275, was es Vgl. Schütrumpf 1980, 184. Dabei fragt sich Aristoteles, ob die breite Masse nicht als Kollektivintelligenz den wenigen einzelnen Tüchtigen überlegen ist. Kritisch zur angeblich daraus folgenden demokratischen Ader des Aristoteles äußert sich Frede 2005, 181. Narcy nimmt in seinem Vergleich der Positionen des Platon, des Protagoras und des Aristoteles zur Demokratie an, dass die Summierungstheorie nicht per se zu einer Bevorzugung der Demokratie führen muss. Stattdessen sind die Argumente auch für die anderen Regierungsformen nutzbar. Vgl. Narcy 1993, 280–283. Keyt bemängelt übrigens die Bezeichnung »Summierungstheorie«, da sie die wichtige Rolle der Organisation unterschlage und eine simple Summe der Einzelnen suggeriere. Tatsächlich liege aber gerade in der Ordnung der Mehrwert gegenüber einer simplen Summe. Vgl. Keyt 1991a, 270 f. 272 Vgl. Kraut 2002, 404–406. 273 So aber Schütrumpf 1980, 184 f. Anmerkung 93. 274 Vgl. Schütrumpf 1980, 190. 275 Siehe zum Beispiel die kretische Regelung: Pol. II, 10: 1272a10–12. 270 271

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auch fragwürdig macht, ohne Textbeleg sämtliche Kompetenzen des bouleuomenon für Pol. III, 11 zu reklamieren. Wenn wir daran denken, dass das bouleuomenon auch bei Aristoteles das kyrion tês poleôs darstellt, 276 bedeutete eine solch vollständige Abdeckung sämtlicher Kompetenzbefugnisse durch die Volksversammlung eine wesentliche Erweiterung gegenüber dem Modell von Pol. III, 11 mit seinen explizit beschränkten Kompetenzen des dêmos. Besonders auffällig ist, dass die Gesetzeserstellung nicht zu den dêmos-Kompetenzen in Pol. III, 11 gerechnet wird. Bekanntlich plädiert Aristoteles mehrfach eindringlich für die »rule of law«, was in unserer Frage einen bestimmten Schluss nahelegt: Wer die Gesetzgebung bestimmt, wird wohl auch in der Frage nach dem kyrion eine besonders wichtige Rolle spielen. Wenig erstaunlich ist daher, dass einigen Kommentatoren die Relevanz der Gesetzgebung für die Frage nach dem Souverän nicht verborgen geblieben ist: So stellt etwa Schütrumpf in einem anderen Zusammenhang fest, dass die Gesetzgebung die wichtigste aller Angelegenheiten sei und verweist dabei auf EN VI, 8: 1141b24. 277 Erstaunlicherweise hat aber kein Interpret diese Lehre auf Pol. III, 11 zurückbezogen. Wenn wir dies nachholen, zeigt sich deutlich, dass Aristoteles von den in Pol. IV, 14 genannten möglichen Kompetenzen des bouleuomenon (Entscheidungen über Krieg und Frieden, Abschluss und Auflösung von Bündnissen, Gesetzgebungsbefugnis, Entscheidungen über die Todesstrafe, Verbannung und Vermögenskonfiszierung sowie Wahl und Rechenschaftsablage der Beamten) dem dêmos in Pol. III, 11 nur zwei ausdrücklich zuspricht. So sehen wir also, dass von den umfassenden Kompetenzen und der dazu gehörigen Machtvielfalt des bouleuomenon dem dêmos in Pol. III, 11 nicht viel zugestanden wird und ihm vor allem die wichtigste Kompetenz – die Gesetzgebung – nicht zuerkannt wird. Damit zeigen auch die Überlegungen zur Gesetzgebung als wichtigstem Merkmal des Souveräns, dass der dêmos in Pol. III, 11 unmöglich der tatsächliche Souverän der Polis sein kann, sondern wenn wir überhaupt von einem menschlichen Souverän reden möchten, dies die Aristokraten sind. 278 276 Dies beansprucht er nicht nur für Platon (vgl. Pol. II, 6: 1264b33 f.), sondern stellt er auch für seine eigene Verfassungstheorie fest (vgl. Pol. IV, 14: 1299a1 f.). 277 Vgl. Schütrumpf 1996, 291 Anm. 20,29. In dieser Passage aus dem sechsten Buch der EN erklärt Aristoteles im Bereich der politischen Klugheit die in der Gesetzgebung tätige zum leitenden und führenden Teil. 278 Ausdrücklich bezeichnet auch schon Schütrumpf 1991b, 551 Anm. 80,4 die Ge-

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Jedoch darf über diese Erörterung der Rangfolge unter den Bürgern nicht übersehen werden, dass Aristoteles das eigentliche kyrion tês poleôs am Ende von Pol. III, 11 den Gesetzen zuspricht, die wiederum – in bekannter Weise – ihre normative Güte von der ihr übergeordneten und sie leitenden Verfassung erhalten. 279 Somit beantwortet Aristoteles die Frage nach dem kyrion von Pol. III, 10 am Ende von Pol. III, 11 damit, dass das Gesetz herrschen solle und nur dort, wo die Gesetze nichts Genaues festlegen können, sollten die Beamten maßgebend sein. Um dem Einwand des Endes von Pol. III, 10 zu entgehen, dass doch auch Gesetze ungerecht sein können, verweist er ausdrücklich auf die normative Orientierung der Gesetze an der Verfassung. Dementsprechend ist die normative Prüfung der Verfassungen das Entscheidende und belegen die Folgekapitel daher die normative Güte der Aristokratie und des Königtums als besten Verfassungstypen. Schließlich fordert Pol. III, 11 dazu auf, die richtigen Gesetze als kyrion anzusehen. Hier haben wir bereits gesehen, dass die Verfassungsfrage darüber entscheidet und die richtigen Verfassungen sich dadurch zu erkennen geben, dass sie gleichmäßig auf den Nutzen aller Bürger achten 280. Und diese normative Prüfung haben Königtum und Aristokratie bereits in den Kapiteln 3.1.1.3 und 3.2.1.2 erfolgreich bestanden. Somit können wir nun nach erfolgreichem Abschluss der eigentlichen Interpretation einige vielleicht noch offene Fragen klären, allen voran zunächst einmal die Frage nach einer möglichen unitarischen Interpretation von Pol. III, 9–13: Nun ist Pol. III, 11 zwar eines der wichtigsten Kapitel im dritten Buch der Politik, aber seine Relevanz darf dennoch in einem wichtigen Punkt nicht überschätzt werden: Pol. III, 11 stellt nämlich trotz zahlreicher Vorarbeiten noch nicht die definitive Antwort auf die Frage nach der normativ besten Verfassung dar. Dies hat allerdings Schütrumpf angenommen, der in einem Aufsatz sogar den Diskussionsbeginn von Pol. III, 11 zur Lösung der Aporien von Pol. III, 10 erklärt. 281 Dagegen erhebt sich jedoch ein schweres Bedenken, der durch einen wichtigen Hinweis von setzgebung als höchste politische Funktion und spricht sie den Besten zu. Dennoch scheut er eigenartigerweise davor zurück, ihnen das »menschliche kyrion tês poleôs« zuzusprechen und hält stattdessen in seiner Besprechung von Pol. III, 11 den dêmos für souverän. 279 Dazu siehe das bereits mehrfach zitierte Pol. III, 11: 1282b1–13. 280 Siehe noch mal Pol. III, 13: 1283b36–42. 281 Vgl. Schütrumpf 2009, 46. Ordnung in der Polis

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Susemihl/Hicks gestützt wird, die darauf hinweisen, dass das Ende von Pol. III, 11 den Wert der verschiedenen Verfassungstypen ausdrücklich noch offen lässt. 282 Sicherlich beantwortet Pol. III, 11 die Aporien von Pol. III, 10 insofern, dass nicht Menschen, sondern Gesetze herrschen sollen und präzisiert dabei – ebenfalls aus der Not von Pol. III, 10 geboren – dass die normative Güte der Gesetze anhand der normativen Güte der jeweiligen Verfassung bestimmt werden könne. Jedoch äußert sich Pol. III, 11 genau genommen nicht selbst zu dieser weitergehenden Frage nach der normativen Güte der verschiedenen Verfassungen. Bloß eine Herrschaft des dêmos wird durch dieses Kapitel offensichtlich verunmöglicht; bereits wahrscheinlich, aber noch nicht vollständig begründet ist die Herrschaft der Besten. Insofern erweist sich Pol. III, 11 nicht als völlige Wende innerhalb von Pol. III, sondern ist eine wichtige Zwischenstation, die in ihren Lehren weder den vorhergehenden noch den nachfolgenden Kapiteln widerspricht. Hier hat Aristoteles nur den Anspruch des dêmos genauer untersucht und den Umfang seiner nach Pol. III, 10 notwendigen Mitsprache geprüft, die Gerechtigkeit der aristokratischen und der königlichen Herrschaft wird nun in den darauffolgenden Kapiteln bis zum Ende des dritten Buches genauer untersucht. Anders formuliert: Pol. III, 9 legt den Vorrang der Tugend nahe und bereitet dabei mit der Aussage, wer am meisten beitrage, verdiene auch einen größeren Anteil, die nachfolgenden Kapitel mit ihrem Verbot einer absoluten Herrschaft einer Gruppe vor; Pol. III, 10 warnt vor einer falsch verstandenen Auffassung von aristokratischer Regierung und Pol. III, 11 präzisiert die Mitsprachemöglichkeiten des dêmos angesichts der »oligarchischen Gefahr«. Da das Ende von Pol. III, 11 jedoch den Vorrang der Gesetze vor den Amtsinhabern nachweist und die richtigen Gesetze an den richtigen Verfassungen abzulesen sind, widmen sich die Folgekapitel Pol. III, 12 und 13 eben dieser normativen Prüfung. Dabei knüpft Aristoteles in Pol. III, 12+13 an die früheren Einsichten an, dass das Tugendkriterium der Aristokratie tatsächlich einen politischen Vorrang genieße, der allerdings nicht zur

282 Vgl. Susemihl/Hicks 1894, 41: »This section ends with the remark (III. 11. 20) that all this does not as yet inform us what kind of laws there ought to be, but simply that those made in the spirit of the right constitution are the right ones. In other words, the order of merit of the normal constitutions, and in its complete form that of the degenerate varieties, is not yet decided.«

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völligen Entrechtung der anderen Gruppen führen dürfe. 283 Ebenso bietet es aber auch die endgültige normative Begründung, warum denn die verschiedenen Ansprüche ihren jeweiligen Status genießen dürfen: Weil sie eben einen unterschiedlichen Beitrag zum guten Leben der Gemeinschaft leisten. Entsprechend muss man nicht wie Schütrumpf Pol. III, 10 zur Trendwende innerhalb des Buches III der Politik erklären, da ja bereits Kapitel 9 eigentlich implizit vor einer Alleinherrschaft irgendeiner Gruppe warnt. Dabei sind beide Begründungen von Schütrumpf fragwürdig: So muss Aristoteles weder eine vorher angeblich berechtigte absolute Herrschaft der Aristokraten nun plötzlich für oligarchisch erklären 284, denn diese war ja – wie 1281a2–8 zeigt – nicht absolut uneingeschränkt gerechtfertigt, sondern den anderen Gruppierungen wurde ebenfalls ein Recht zugestanden. 285 So stellt also auch diese Kritik von Pol. III, 10 an einer absoluten Herrschaft von Aristokraten keinen Neuanfang dar, sondern schließt sich hier an Pol. III, 9 an, das die Diagnose der Ungerechtigkeit einer solchen absoluten Herrschaft problemlos ermöglicht. Auch die zweite Hauptthese Schütrumpfs scheint hinterfragenswert, denn in Pol. III, 10 wechselt – wie bereits ausführlich nachgewiesen – die Perspektive keineswegs weg von der Erwägung des Gerechten hin zur Stabilität 286: Wenn man den Kontext betrachtet, handelt es sich nämlich im ganzen Kapitel 10 um eine 283 Schütrumpf 1980, 354 scheint mit seiner gegenteiligen Behauptung Passagen wie Pol. III, 13: 1283a26–29 oder Pol. III, 13: 1283b27–30 zu vernachlässigen. Wie bereits im Königtumskapitel besprochen, bildet hier natürlich das absolute Königtum der pambasileia eine gewisse Ausnahme mit einer viel absoluteren Herrschaft des Königs, wobei jedoch auch hier die Bürgerschaft an Ämtern teilnehmen kann und insofern das Problem von Pol. III, 10 sich letztlich nicht bedrohlich für eine gerechte pambasileia oder Aristokratie auswirkt. 284 Dies behauptet allerdings Schütrumpf 1980, 169, der dies auch im Folgenden zu einer Leitthese und Hauptbegründung für eine genetische Unterscheidung verschiedener Denkstufen innerhalb von Buch III erhebt (vgl. Schütrumpf 1980, 175). Paradoxerweise widerspricht sich Schütrumpf selber, da er noch einige Seiten davor bemerkt hat, dass in Pol. III, 9 der Anspruch der Aristokraten im Gegensatz zu Pol. VII nicht absolut sei (vgl. Schütrumpf 1980, 167 f.). Wieso er ohne Begründung diese wichtige und richtige Einsicht fallen lässt? Auch im späteren Kommentarband Schütrumpf 1991b beschreibt Schütrumpf für Pol. III, 9 zunächst nur einen höheren Anspruch der Besten, sieht aber dennoch später wiederum eine völlige Rechtfertigung ihrer absoluten Herrschaft vorgenommen. 285 Anders als etwa bei Pol. III, 15 halte ich die Standpunkte von Pol. III, 10 nicht für tatsächlich dialogisch (anders Bates 2003, 136). 286 So wiederum Schütrumpf 1980, 169.

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Diskussion, welche Gruppe den gerechtesten Anspruch auf das kyrion stellen kann. Nachdem er die absolute Herrschaft von Demokraten und Oligarchen verworfen hat, lehnt er aber auch eine absolute Herrschaft von Aristokraten ab, wenn sie keine Mitbestimmung des Rests zulässt. Damit ist jedoch kein ausdrücklicher Perspektivenwechsel verbunden, jedenfalls spricht Aristoteles hier keine neuen Aspekte an. Entsprechend muss auch Pol. III, 11 nicht in einen Gegensatz zu Pol. III, 9 und Pol. III, 12 ff. gesetzt werden und zwar mit der Begründung, dass Pol. III, 10 die aristokratische Herrschaft als oligarchisch entlarvt hätte und nun die Stabilitätserwägung berechtigterweise über das Kriterium der aretê siege (so aber Schütrumpf 287). Vielmehr zeigt Pol. III, 11, wie eine gerechte aristokratische Regierung aussieht, die eben nicht von den Einwänden gegen eine absolute Herrschaft der Aristokraten (wie in Pol. III, 10 vorgebracht) betroffen ist und den dêmos doch in gewissem Umfang mitbeteiligt. Dass tatsächlich die Aristokratie neben dem Königtum die beste Verfassung ist, weist Pol. III, 11 wie gesagt noch nicht selbst nach, erst Pol. III, 12 und 13 belegen in Erweiterung der Diskussion von Pol. III, 9 sowohl dass die Aristokraten mit ihrem Kriterium der Tugend das höchste Anrecht haben, als auch dass diese Regierungsform mit ihrem Streben nach dem Allgemeinwohl und der recht verstandenen Gleichheit nach Leistung tatsächlich politisch (im Sinne von p2) zu nennen ist und dabei auf die Interessen der gesamten Bürgerschaft achtet (dies einerseits normativ in Hinsicht auf das gute Leben und andererseits machtpolitisch in Hinsicht auf eine Beteiligung der anderen Gruppierungen an der Verfassung). Zusammenfassend kann sagen, dass die Tugend in Pol. III zwar das größte Recht auf Macht hat, weswegen auch ein Vorrang in dieser Kategorie über die höchste Macht entscheidet, doch bedeutet dies – wie bereits belegt – keine einseitige Verabsolutierung, sodass die Tugendhaften jegliche Macht besitzen dürfen und der Rest völlig ehrlos ist. 288 Stattdessen gelten in einem eingeschränkten Maße auch die Vgl. Schütrumpf 1980, 186 f. bzw. Schütrumpf 1991b, 491. Damit möchte ich auch für einen dritten Weg gegenüber der von Schütrumpf diagnostizierten Alternative Pol. VII versus Herrschaft der Menge in Pol. III, 11 als deuteros plous (so Schütrumpf 1980, 185 sowie Schütrumpf 1980, 185 Anmerkung 97) plädieren: Die Aristokratie von Pol. III, 9–13 vermeidet den überstarken Elitarismus von Pol. VII, verzichtet aber nicht auf die Herrschaft der Besten. Anders als in Pol. VII muss in dieser wahren Aristokratie nicht jeder Bürger ein guter Mensch sein, sondern nur die herrschenden Bürger müssen wahrhaft gut sein (vgl. Pol. III, 5). 287 288

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Ansprüche des Volkes (qua Freie) und der Oligarchen (qua Reiche) als in gewissem Umfang gerechtfertigt. Daher müssen wir nicht wie Josiah Ober eine verborgene demokratische Neigung des Aristoteles annehmen, 289 sondern können das Problem der politischen Beteiligung der freien Bürger als von Aristoteles kohärent gelöst betrachten. Ober interpretiert Aristoteles nämlich zwar grundsätzlich ebenfalls als elitär-aristokratischen Denker, vermutet jedoch eine von Aristoteles selbst bekämpfte und verleugnete Grundlinie in dessen Denken, welche die Demokratie zur besten Regierungsform erkläre: Aufgrund des natürlichen Freiheitsdurstes aller Freien sollen für Obers Aristoteles alle freien, einheimischen, erwachsenen Männer natürliche Bürger sein; dies führt zur erwähnten angeblichen Bevorzugung der Demokratie, da bloß in ihr »natural citizens« und »actual citizens« identisch seien. 290 Wenn Aristoteles die demokratische Ausdehnung des Bürgerrechts auf alle Freien jedoch als naturwidrig und nicht als naturgemäß betrachtet (vgl. auch meine entsprechenden Ausführungen im Demokratiekapitel), dann würde dies Ober zwar vermutlich anerkennen, jedoch durch die im Untergrund existierende prodemokratische Ader des Aristoteles konterkariert sehen. Tatsächlich wäre der Einwand von Ober ein durchschlagendes Argument gegen die aristokratische Konzeption des Aristoteles, wenn nicht folgende Entgegnungen dagegensprächen. Zwar gibt es einen natürlichen Durst freier Bürger, sich politisch zu betätigen, dies ist jedoch aus mehreren Gründen nicht allzu stark zu lesen. Hier sollte primär daran erinnert werden, dass Freie vorrangig als Freie behandelt werden wollen. Wie wir gesehen haben, entscheiden verletzte Gleichheits- oder Gerechtigkeitsauffassungen zwar in hohem Ausmaße über die Stabilität einer Verfassung, doch bleibt dies dem Er-

Interessant ist übrigens, dass Aristoteles in den didaktischen Analogien zwischen Familien und Verfassungen in der Nikomachischen Ethik bereits ein Entrechtungsproblem innerhalb der Familie anspricht: In EN VIII, 12: 1160b32–36 und EE VII, 9: 1241b30 beschreibt Aristoteles das Verhältnis von Mann und Frau als aristokratisch, mahnt aber streng, dass der Mann nicht über alles herrschen dürfe und die Frau über gar nichts, da dies (ungerecht-)oligarchisch sei. Zwar sei er ihr an Würdigkeit überlegen, aber daraus lasse sich keine völlige Entrechtung der immerhin freien Frau legitimieren. 289 Oder gar wie Everson 1988, 90 die Demokratie als die für Aristoteles ideale Polisordnung bezeichnen und glauben, dass dieser nur die extreme Demokratie ablehne. 290 Vgl. Ober 1996, 162 und Ober 1998, 302 und 306 sowie 347 bzw. 349. Ordnung in der Polis

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messen der Betroffenen überlassen. Solange ihre Interessen gewahrt bleiben, kann es je nach Charakter des dêmos sogar zweitrangig sein, ob er selbst in nennenswertem Umfang an der Regierung beteiligt ist: Sogar normativ nicht ideal bewertete Verfassungstypen wie die sogenannte Aristokratie, die beste Demokratie oder eine Oligarchie können das gemeine Volk mehr oder weniger von den entscheidenden Ämtern fernhalten, ohne dass dies ihre Stabilität zwangsläufig gefährden muss. 291 Entscheidend ist nämlich die Frage, wie weit die Bevölkerungsgruppen ihre Rechte und Interessen gewahrt sehen, und dies kann ein dêmos in der Polis A anders wahrnehmen als der genau gleich behandelte dêmos in Polis B. Entsprechend sind manche Bevölkerungsgruppen in manchen Poleis gar nicht so sehr auf Ämterteilnahme erpicht, andere hingegen sehr. Dies zeigen die Beispiele der letzten Fußnote: In manchen Oligarchien kümmert die Vielen ihr Ausschluss von den wichtigsten Ämtern nicht, solange sie in Ruhe gelassen werden und ihren eigenen Geschäften nachgehen können; in manchen uneigentlichen Aristokratien und Oligarchien ist ein Auskommen mit dem Volk möglich, wenn es nicht in seinem Besitzstreben behindert wird und fähige Ehrgeizlinge in gewissem Umfange doch eingebunden werden. Last but not least: In der besten (Bauern-)Demokratie sind die Bauern zufrieden, wenn sie nicht allzu sehr mit Politik behelligt werden und streben auch nicht nach Ämtern, es sei denn, sie sind gut bezahlt. Hier meint Aristoteles sogar feststellen zu können, dass die Vielen eher nach Besitz als nach Ehren (und Ämter sind ja Ehren) streben. Ebenso ließe sich als zweites Argument gegen Ober anführen, dass auch die nicht für die höchsten Ämter in Frage kommenden freien Bürger politisch keineswegs rechtlos sein müssen, da ihnen immer noch beratende und/oder richterliche Funktionen offenstehen können. So zeigen die Überlegungen in Pol. III, 11 eindeutig, dass Aristoteles diese Trennung selbst im Sinne hat. Hier bleibt daran zu erinnern, dass die Aristokratien die Gemeinschaft zwar vorrangig gemäß der Gleichheit der Würdigkeit ordnen und hier vor allem das Kriterium der Tugend berücksichtigen. Jedoch wäre die Aristokratie keine gerechte Regierungsform, wenn sie dies einseitig durchführte und neben der Gleichheit an Würdigkeit die Gleichheit an Zahl völlig

291 Vgl. Pol. V, 8: 1308a3–11, Pol. V, 8: 1308b31–36, Pol. VI, 4: 1318b9–17 und Pol. IV, 13: 1297b6–8.

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unberücksichtigt ließe. 292 Entsprechend müssen die Ansprüche der anderen freien Bevölkerungsgruppen ebenfalls berücksichtigt werden, da es sich ansonsten um eine ungerechte Despotie zum reinen Nutzen der eigenen Herrschaft handelte, was der angestrebten Gemeinwohlorientierung völlig widerstreben würde. Obers Vorschlag zur Lösung dieses »demokratischen Problems des Aristoteles« (Kolonien in Asien) kann jedoch keine Lösung für das Festland darstellen, das sicherlich im Mittelpunkt des aristotelischen Interesses gelegen hat. Nachdem nun die eigene Interpretation von Pol. III, 11 vorliegt, möchte ich mich im nächsten Schritt mit alternativen Deutungen der dort beschriebenen Verfassung auseinandersetzen. Gerade in der deutschsprachigen Forschung findet sich häufig die Annahme, bei Pol. III, 11 handle es sich um eine Politie. Dagegen erheben sich jedoch bei genauerer Lektüre schwere Bedenken: So passt weder die Charakterisierung der Politie in Buch III noch diejenige in den Büchern IV–VI auf die Regierung von Pol. III, 11. Schließlich wird sie weder als Regierung der Menge mit besonderer Betonung ihrer militärischen Fähigkeiten bezeichnet, 293 noch wird sie als Mischung von demokratischen und oligarchischen Elementen gezeichnet (incl. Zensus) bzw. als Regierung des Mittelstandes charakterisiert 294. Insofern fehlt schlicht die textliche Basis, um eine Politie zu vermuten. Vermutlich beschreiben manche Interpreten diese Verfassung deswegen als Politie, weil auch dem Volk ein gewisser Anteil zugestanden wird – ich hoffe, dieses Faktum befriedigend erklärt zu haben und verweise im Übrigen darauf, dass wenn überhaupt eine Mischverfassung vorliegen sollte, dies dann wohl eher eine demokratisch-aristokratische Mischung darstellte, wie Schütrumpf dies vorschlägt. Überdies gerät man mit einer Deutung von Pol. III, 11 als Politie dahingehend in große Interpretationsschwierigkeiten, da dann nicht recht ersichtlich ist, wieso Aristoteles ohne weiteren Kommentar zwischen den königtums- und aristokratiefavorisierenden Kapiteln davor und danach eine Beschreibung einer Politie einschiebt. Da Pol. III, 10 ausdrücklich die Frage stellt, wer das kyrion tês poleôs darstellen soll, und Pol. III, 11 diese Frage aufgreift, schiene eine Beschreibung von Pol. III, 11 als Politie plötzlich eine neue Wunschverfassung von Aristoteles nahezulegen. Damit stellte sich das vorhergehende Problem eines kom292 293 294

Siehe die entsprechende Forderung von Pol. V, 1: 1302a2–8. Dies wäre die Beschreibung der Politie in Pol. III, 7: 1279a37–b4. Dies sind ja die zwei möglichen Ausformungen der Politie in IV–VI.

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mentarlosen zweifachen Wechsels innerhalb weniger Kapitel. Überdies scheint bedenklich, dass wer eine solche normative Bevorzugung der Politie gegenüber Königtum und Aristokratie behauptet, a) sich auf keine Textstelle stützen kann, welche die Politie normativ absolut am höchsten bewertet und muss b) dem Textbefund widersprechen, denn am Ende des dritten Buches und in Pol. IV, 2 werden ausdrücklich Königtum und Aristokratie zu den besten Regierungsformen erklärt. 295 Zudem gilt auch die Aristokratie für Aristoteles als politische Regierungsweise, womit die gemeinwohlorientierte Regierung über Freie gewährleistet bleibt. Somit muss aus der Anforderung, dass die Freien politisch regiert werden müssen, nicht eine Politie resultieren, da die Aristokratie dieses Kriterium ebenfalls erfüllt. Nun könnte man natürlich Solon ins Spiel bringen, um die aristokratische Deutung unwahrscheinlich zu machen: Aristoteles orientiert sich in seiner Gewährung der Rechte von Wahl und Kontrolle der höchsten Ämter an Solon, und dessen politische Ordnung kann wohl schwerlich als aristokratisch bezeichnet werden. Schließlich wird er in Pol. II, 12 und Pol. IV, 11 doch als Vertreter einer Mischverfassung vorgestellt, die eine Politie darstellt und als Beginn der demokratischen Entwicklung gilt. 296 Tatsächlich jedoch zeigt ein Vergleich der Kriterien, dass die Verfassung von Pol. III, 11 und die solonische Ordnung tiefgreifende Unterschiede aufweisen. Schütrumpf bezeichnet Pol. III, 11 hingegen als »Verfassung nach Solonischem Muster« 297 und begeht damit denselben Fehler, den er in seiner Auseinandersetzung mit Knoll diesem angelastet hat: »Knolls Argumentation basiert auf einem Fehlschluss, da er unzulässigerweise annimmt, der Nachweis der Existenz gewisser identischer Aspekte beweise mehr als nur die Einheitlichkeit in eben den beobachteten gemeinsamen Aspekten.« 298 Nur weil in beiden Verfassungen dem dêmos dieselben Kontroll- und Wahlrechte zugestanden werden, sind sie damit nicht wesensidentisch. Tatsächlich unterscheiden sie sich stark durch ihr unterschiedliches Hauptkriterium (Tugend versus mittlerer Zensus). Während sich der dêmos in Pol. III, 11 mit den Besten in dessen aristokratischem Kriterium der Tugend messen muss – es werden also keine Ansprüche anderer Gruppen in diesem 295 296 297 298

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Vgl. Pol. IV, 2: 1289a30–33 und Pol. III, 18. Vgl. Pol. II, 12: 1273b35–1274a7. Schütrumpf 2011a, 266. Schütrumpf 2011a, 245.

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Kapitel erwogen, womit der aristokratische Anspruch also nicht bestritten, sondern nur präzisiert wird 299 –, schreibt Aristoteles der solonischen Verfassung in Ath. Pol. 7,3 und Pol. II, 12 eindeutig die Kriterien der Politie zu: Schließlich sorgt die Vermögensschätzung für den Ämterzugang. 300 Überdies vermeidet Pol. III, 11 sorgsam einen Fehler des Solon, denn Aristoteles lässt in seiner aristokratischen Polis – anders als Solon 301 – den dêmos (insbesondere die Theten 302) nicht die Macht im Gericht übernehmen. Gerade diese Machtübernahme des dêmos in den Gerichten betrachtet Aristoteles nämlich als ein besonders verhängnisvolles Moment der solonischen Reformen, das den Weg zur zeitgenössischen radikalen Demokratie entscheidend geebnet habe. 303 Ein weiterer verwandter Lösungsvorschlag von Schütrumpf charakterisiert Pol. III, 11 als Mischform zwischen Aristokratie und Demokratie, die am besten durch Pol. V, 8: 1308b38 ff. beschrieben werde. 304 Allerdings muss man gegen diese Deutung einwenden, dass die dortige Charakterisierung nicht auf Pol. III, 11 zutrifft, denn in diesen Mischformen zwischen Demokratie und Aristokratie in V, 8 dürfen als demokratisches Element dieser Verfassung alle (also auch das Volk) prinzipiell regieren, die Armen tun es jedoch nicht. Wenn wir nun wieder Pol. III, 11 betrachten, ist der dêmos gerade nicht zu den höchsten Ämtern zugelassen und wird ihm die Fähigkeit zur selbstständigen Regierung verwehrt. 305 Insofern fehlt der angeblichen demokratisch-aristokratischen Mischverfassung durch das 299 Anders Schütrumpf: »[…] mit dem Ergebnis, dass eine Verfassung empfohlen wird (III 11), die sich nicht auf dieses Prinzip [hier bezieht sich Schütrumpf auf »ein zugegeben aristokratisches Verständnis des distributiven Rechts in Pol. III 9« (ebenda); B. L.] stützt.« (Schütrumpf 2011a, 263) Wie meine Überlegungen gezeigt haben, müssen wir Pol. III, 11 eindeutig als Antwort auf Pol. III, 9 und vor allem auf die angeblichen Aporien von Pol. III, 10 lesen. Gerade die Ämterverteilung basiert in Pol. III, 11 aber immer noch auf demselben Prinzip der aristokratischen Tugend und sogar die Kompetenzen des dêmos (Wahl und Rechenschaftskontrolle) werden im Summierungsargument durch ihre summierte Tugend hergeleitet. 300 Vgl. Ath. Pol. 7,3 und Pol. II, 12: 1274a18–21. 301 Schütrumpf 1991b, 502 f. Anm. 67,36 übersieht mit seiner Behauptung einer völligen Analogie der beiden Kapitel in Bezug auf Solon, dass Pol. II, 12 im Vergleich zu Pol. III, 11 zu den politischen Funktionen des dêmos auch die Herrschaft über die dikastêria rechnet und gerade dies als besonders verhängnisvoll herausstellt. 302 Vgl. Pol. II, 12: 1274a3–7 und Ath. Pol. 7,3. 303 Vgl. Pol. II, 12: 1274 und Ath. Pol. 9,1 304 Vgl. Schütrumpf 1996, 114. 305 Vgl. Pol. III, 11: 1281b25–34.

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fehlende prinzipielle Recht, am archein teilzuhaben, schlicht das demokratische Element. Entsprechend problematisch scheint es, von einer Herrschaft der Menge in Pol. III, 11 zu sprechen (wie dies in leicht variierenden Formulierungen Schütrumpf 306 vorbringt). Daher resultiert aus den bescheidenen Rechten des dêmos keine demokratisch-aristokratische Mischverfassung, sondern eine recht verstandene Aristokratie. Von einer weitgehenden Gleichberechtigung der Besten und der Menge (wie sie in einer echten Mischverfassung gegeben wäre) merken wir in Pol. III, 11 angesichts der doch deutlichen Zurücksetzung des dêmos hinsichtlich der Macht freilich relativ wenig. Ebenso verhandelt Aristoteles den Wettstreit zwischen dem dêmos und den Besten allein aufgrund des (aristokratischen) Tugendkriteriums. Anders als Ober diagnostiziere ich bei Aristoteles also keine heimliche demokratische Ader, sehe aber jedoch eine gewisse und systematisch recht problematische Einschränkung seiner aristokratischen Neigung. Genau genommen sollte man nämlich die gewissermaßen passive Tugendhaftigkeit der Vielen in Pol. III, 11, also die Urteilskompetenz der Menge, nicht allzu romantisch auffassen und sich bloß über den lobenswerten demokratiepolitischen Fortschritt von Platon zu Aristoteles freuen. Vielmehr drängt sich auf der anderen Seite ein gewisses Problem auf, das durchaus einigen Sprengstoff bietet. Eigentlich sollten wir uns nämlich fragen, inwieweit die Besten in normativer Hinsicht von der Kontrolle und der Beratung durch die Menge profitieren. Dies wäre zum Beispiel der Fall in der Passage mit den Dicht- oder Musikerzeugnissen in Pol. III, 11, denn ein Kunstwerk wird ja so angeblich umfassender und besser gewürdigt als durch Fachleute allein. Wie können wir dann jedoch die Besten überhaupt noch als die Besten ansprechen, denn in der Ethik erhebt Aristoteles durchaus höchste Ansprüche an sie? Noch problematischer in dieser Hinsicht ist Pol. VI, 4: 1318b32–1319a4, denn hier macht Aristoteles die Besten in ihrer normativen Güte sogar gewissermaßen abhängig von der Kontrolle durch den dêmos: Auch werden sie [die Tüchtigen und Angesehenen; B. L.] gerecht regieren, da andere die Rechenschaftsablage kontrollieren. Denn abhängig zu sein und nicht alles tun zu dürfen, was man will, ist nützlich. Denn das Recht zu tun, was immer man will, vermag nicht das Schlechte, das sich in jedem 306 Vgl. Herrschaft der Menge (Schütrumpf 1991b, 113 und 496 bzw. Schütrumpf 1980, 170 und 186) bzw. Herrschaft der Freien (vgl. Schütrumpf 1980, 171).

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Menschen findet, zu zügeln. So muss also eintreten, was in den Bürgerschaften das Nützlichste ist: die Tüchtigen regieren ohne Fehler, und das Volk wird in keiner Weise benachteiligt. 307

Erstaunlicherweise muss also das Schlechte in jedem Menschen gezügelt werden, also sieht Aristoteles ausdrücklich auch die Tugendhaften in dieser Gefahr. Insofern nützt – wie das gerade gebrachte Zitat nachweist – die Kontrolle durch den dêmos sogar den Besten in dieser Hinsicht, denn das Handeln nach eigenem Ermessen ist für alle Menschen problematisch. Hier müssen wir natürlich nachhaken und uns fragen, wie dies mit dem Menschenbild der Nikomachischen Ethik zusammenpasst, das die menschliche Natur der Besten nicht so dunkel malt, als dass eine Kontrolle durch den selbst ja nicht besonders tugendhaften dêmos nützlich sein könnte. Anders gefragt: Wie können wir die Besten der Politik als eigentlich tugendhaft betrachten, wenn sie doch ohne Kontrolle durch ihre Mitbürger auch in der Gefahr stehen, Schlechtes zu tun? Mit diesem Hintergedanken im Kopf lesen wir vermutlich das nächste Kapitel etwas anders, in dem wir die Frage nach dem Ausmaß des aristotelischen Paternalismus verhandeln wollen. 3.2.1.4 Aristoteles als Totalitarist oder Paternalist? Einer von Platons Grundfehlern (auch noch in den Nomoi) liegt für Aristoteles im Organismusmodell, das eine allzu große Einheitlichkeit fordert und gerade beim Menschen natürlich dafür sorgt, dass von der Herrschaft der Vernunft geschwärmt wird und alle anderen Bürgergruppen als unvernünftig gelten. Nur die Vernunft der Aristokraten gilt als Ausdruck der wahren Vernunft, in den anderen herrscht eben nicht der innere Mensch 308. Bereits öfters haben wir gesehen, dass Aristoteles im Gegensatz dazu das Faktum des Pluralismus problemlos anerkennt und auch von einer gewissen Grundvernünftigkeit bei allen relevanten Bürgergruppierungen auszugehen bereit ist. So besteht Aristoteles also gegenüber dem angestrebten Gemeinschaftsmonismus seines Lehrers auf einem grundsätzlichen Gemeinschaftspluralismus. Was ist damit gemeint? Natürlich kein moderner Gesellschaftspluralismus im heutigen Sinne, denn in seiner politischen Philoso307 308

Pol. VI, 4: 1318b32–1319a4 (Hervorhebung durch Unterstreichung; B. L.). Um an das bekannte Bild des Seelentieres im IX. Buch der Politeia anzuknüpfen.

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phie geht Aristoteles eben nicht von einer Gleichberechtigung im politischen Diskurs aus. Zwar gesteht er verschiedenen Positionen tatsächlich ein gewisses Recht und eine gewisse Vernünftigkeit zu und lässt damit eine gewisse Toleranz walten. Dennoch zeichnet er dann im Rahmen seiner perfektionistischen Lehre einen einzigen Lösungsansatz normativ weit vor den anderen aus, was allerdings relativ exklusiv nur wenige Bürger im vollen Umfang erfüllen können. Insofern kann für Aristoteles doch nicht jeder Bürger Politik aktiv betreiben, wohl aber dürfen alle sie passiv beurteilen. Dennoch trägt die aristotelische Lehre zu einer positiveren Wertung der bekanntlich pluralismusfreundlicheren Demokratie (bei Aristoteles: Politie) im Vergleich zu Platon bei. Obwohl Aristoteles recht überzeugend für den politischen Charakter der Aristokratie argumentiert hat, bleibt für uns moderne Menschen aufgrund dieser elitären Bevorzugung der Besten nach wie Raum für Besorgnis: Ricken stellt die kritische Frage, ob Aristoteles mit der Aristokratie nicht eine Tyrannei der Tugend rechtfertige. 309 Rein textimmanent ist dies natürlich nicht möglich, da Tugend und Tyrannis einander wechselseitig ausschließen und wir bereits gerade gesehen haben, dass eine Regierung der Besten die anderen Bürger nicht völlig entrechtet. Es handelt sich ja immer noch um eine politische Regierungsweise. Überdies besteht der Zweck einer Polis zwar in der Beförderung der Tugend, allerdings zeichnet sich die wahre Tugend durch ihre Freiwilligkeit aus. Somit kann eine Polis zwar paternalistisch die Tugendhaftigkeit durch entsprechende Gesetze und Erziehung befördern wollen, aber muss dies – mindestens begleitend – auf eine vernünftige Weise tun. Dagegen würden ein reiner Zwang und bloße Gewalt die Bürger zu einem bloß legalen Handeln treiben und nicht zu einem tugendhaften Handeln im eigentlichen Sinne. Auch hier dürfen Freiwilligkeit und vernünftige Anerkennung nicht völlig ausgeschaltet werden. Wie die aristotelischen Überlegungen zum wahren Gerechten zeigen, beharrt auch Aristoteles auf einer autonomen Regelung des Verhaltens und ersetzt sie keineswegs völlig durch die Autorität des ethos oder der nomoi der Polis. Schließlich kann eine wahre Tugendhaftigkeit letztlich nicht paternalistisch verordnet werden. Laut Aristoteles dürfen Gemeinschaftsethos und öffentliche Erziehung trotz ihrer wichtigen und von unserem Philosophen als ausbaufähig beschriebenen Rolle für die Ausbildung 309

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Vgl. Ricken 1998, 170.

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der wahren Moralität nicht als völlig determinierende Indoktrination missverstanden werden. Manche Forscher sehen jedoch einen Paternalismus oder gar Totalitarismus noch weit grundsätzlicher im Gedankengebäude von Aristoteles verankert: Allein die Formulierungen der Polis als Ganzem und den Einzelnen als Teilen sowie die Organismusvergleiche legen für manche Interpreten einen bedenklich scheinenden extremen Vorrang der Polis nahe. Schließlich könnte man daraus ableiten, dass das Glück des Einzelnen völlig unwichtig im Vergleich zum Glück der Gemeinschaft ist – so wie das Wohlergehen des ganzen Körpers klar wichtiger ist als das Wohlergehen etwa eines Daumens. Allerdings schlägt Aristoteles nicht diesen Weg ein. Zwar gehören die Bürger als Teil der Polis nicht ausschließlich sich selbst, aber die Rechte- und Pflichtenbeziehung zwischen Bürger und Polis ist nicht einseitig aufgelöst. So hat nicht nur der Bürger gewisse Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft, sondern auch umgekehrt die Gemeinschaft gegenüber dem Bürger: Wenn es den Teilen der Polis nicht gut geht, dann auch nicht der Gemeinschaft. 310 Aristoteles kritisiert – hier allerdings ungerechtfertigt – Platon, der das Glück der Gemeinschaft auf Kosten gewisser Gruppen (in diesem Fall der Wächter) aufbauen wolle. 311 Überhaupt bemängelt er, dass bei Platon der Bereich des Öffentlichen den Bezirk des Privaten zu sehr beschneidet (man denke nur an Frauen- und Gütergemeinschaft). Warum darf dies nicht geschehen? Weil die Polis eine Synthese aus ihren Teilen darstellt und also nicht glücklich sein kann, wenn nicht wenigstens die wichtigsten Gruppen es auch sind. Grundsätzlich ist das eigentliche Ziel der Polis und des Einzelnen dasselbe, 312 nämlich die Tugend und das glückselige Leben. Daher kann die Polis auch im eigenen Interesse die eudaimonia all ihrer Mitglieder nicht übermäßig behindern, da die Gemeinschaft – wie bereits am Anfang dieser Arbeit gezeigt – keine hypostasierte, eigenständige Existenz getrennt 310 Im dritten Kapitel seines Buches führt Yack 1993 aus, dass die politische Gemeinschaft nicht um ihrer selbst willen existiert und so eine angeblich eigene (hypostasierte) Natur verwirkliche. Vielmehr bestehe sie um der Vervollkommnung und Entwicklung ihrer Bürger. 311 Vgl. Pol. II, 5: 1264b15–24 als Kritik an Politeia 419a–421a. Susemihl/Hicks bemängeln daran, dass Aristoteles sich nur auf diese, einen vorläufigen Stand wiedergebende, Stelle konzentriert und die Korrekturen in 465d–466b und 680–692b unerwähnt lässt. Vgl. Susemihl/Hicks 1894, 244 § 27 15. 312 Vgl. Pol. VII, 15: 1334a11 f.

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von den Bürgern führt. Anders formuliert: Die eudaimonia der Polis hängt an der eudaimonia ihrer Einwohner, daher kann sie auch nicht in einem krassen Gegensatz stehen. 313 Wir haben vor allem in der Verfassungsdiskussion gesehen, dass Aristoteles die recht verstandene Gemeinwohlfrage zu einem entscheidenden Kriterium der Güte einer Verfassung macht. Kritisch lässt sich freilich an Aristoteles die Frage stellen, ob nicht die eudaimonia der restlichen Bevölkerung zugunsten derjenigen der Bürger geopfert wird. Wenn wir diese Frage ausweiten und das Verhältnis von Ethik und Politik im Rahmen der aristotelischen Überlegungen philologisch untersuchen, könnten auf den ersten Blick solche Bedenken auftreten: Schließlich scheint zunächst eine Stelle in der Nikomachischen Ethik anzudeuten, dass Aristoteles einen totalen Vorrang der Politik über die Ethik behauptet. 314 Dort spricht er nämlich davon, dass es besser sei, das Gute für poleis und ethnê zu erlangen als für einen Einzelnen. Jedoch ist diese Stelle überinterpretiert, wenn aus ihr ein allgemeiner Vorrang der Politik über die Ethik behauptet wird. Streng genommen fordert Aristoteles hier nämlich nur, dass die Glückseligkeit für eine größere Zahl erreicht und nicht nur auf Einzelne beschränkt werden soll. Überdies kann nicht von vornherein Aristoteles unterstellt werden, dass er das Allgemeinwohl in einen Gegensatz zum Einzelwohl denkt. Schließlich steht das Glück einer Gemeinschaft systematisch nur dann in einem Gegensatz zum Glück des Einzelnen, wenn es radikal holistisch gedacht wird. 315 Dagegen würde eine moderat individualistische Lesart des Aristoteles aus dieser Stelle nicht deduzieren, Ethik werde bei Aristoteles auf Politik reduziert. Manche Forscher wie etwa Yack vermissen zudem eine deutliche Trennung zwischen der Disziplin Ethik und der Disziplin Politik im Corpus Aristotelicum, 316 was nach Meinung mancher Interpreten ein philologisches Indiz für eine weitgehende Vermischung von Ethik und Politik ist. Tatsächlich jedoch 313 Der oberflächlich mir scheinbar widersprechende Titel von Kapitel 7.8. von Kraut 2002 (das Kapitel trägt den Titel »The Civic Good is Prior to the Individual Good«) meint jedoch nur, dass das Gemeinwohl nicht jedem Gut jedes Einzelnen unterzuordnen ist und bei einer Entscheidung zwischen einem Übel für die ganze Stadt und demjenigen für ein Individuum die Wahl auf das schlechte Resultat für den Einzelnen fallen sollte (vgl. Kraut 2002, 264–267). 314 Vgl. EN I, 2: 1094a26–b10. 315 Vgl. Miller 1997. 316 Vgl. Yack 1993, 18.

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decken sie laut Pol. VII, 1 auch für Aristoteles verschiedene Schwerpunkte im Bereich des Verhaltens ab: Während sich die Ethik um das Gut des Einzelnen kümmert, sorgt sich die Politik um das Gut einer Gemeinschaft 317. Anders formuliert: Die Ethik ist die Lehre der Verhaltensregeln eines Einzelnen, die politische Philosophie die Lehre der Verhaltensregeln einer Gemeinschaft. Dagegen bestreitet Habermas diese Unterscheidung, wenn er die praktische Vernunft sich erst durch die neuzeitliche Subjektphilosophie auf das individualistisch verstandene Glück und die moralisch zugespitzte Autonomie des Einzelnen beziehen lässt: Der Begriff der praktischen Vernunft als eines subjektiven Vermögens ist eine moderne Prägung. Die Umstellung der Aristotelischen Begrifflichkeit auf Prämissen der Subjektphilosophie hatte den Nachteil, daß die praktische Vernunft aus ihren Verkörperungen in kulturellen Lebensformen und politischen Lebensordnungen herausgelöst wurde. Sie hatte aber den Vorzug, daß sich die praktische Vernunft nunmehr auf das individualistisch verstandene Glück und die moralisch zugespitzte Autonomie des Einzelnen beziehen ließ […] 318

Wie wir bereits mehrfach gesehen haben, ist die Zuschreibung eines individuenrelativen Perfektionismus durch Miller und Horn zweifellos gerechtfertigt: »Aristoteles hingegen ist zweifellos kein normativer Kollektivist, sondern Individualist. Das zeigt sich daran, dass er seine Politische Philosophie vor dem Hintergrund des individualethischen eudaimonia-Problems entwickelt.« 319 Da Aristoteles das Wohl des Einzelnen nicht dem Gemeinwohl opfert, kann man ihm schwerlich einen Totalitarismus im Sinne der Anklage Poppers vorwerfen. Bekanntlich wirft dieser Denker unserem Denker vor, die eigenständige Moralität der Bürger durch einen

Vgl. Pol. VII, 1: 1324a19–23. Habermas 1994, 15. 319 Horn 2005, 115. Ähnlich in einem späteren Aufsatz, wenn er das Modell des Aristoteles als individuenrelative Variante eines politischen Perfektionismus bezeichnet (vgl. Horn 2008, 6 f.). Yack vertritt eine ähnliche Position wie Horn oder Miller, wenn er schreibt: »The end of the polis is thus not to develop itself into a complete and perfected form but rather to contribute to the development and perfection of human beings into their complete and natural form.« (Yack 1993, 16). Zu einer weiteren Diskussion des spannungsreichen Verhältnisses zwischen Ethik und Politik vgl. die entsprechenden Kapitel meiner Dissertation (etwa Legalität und Moralität). Dadurch entkommt Aristoteles ab ovo den Gefahren eines totalitär-organizistischen Modells. 317 318

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Kadavergehorsam gegenüber dem Bereich des Legalen zu ersetzen. 320 Sicherlich gehört es zum Grundkonsens in der ansonsten nicht stets geeint auftretenden Totalitarismusforschung, dass totalitäre Regimes mit extremem Zwang und gewalttätiger Repression abweichende Meinungen unterdrücken und ein angebliches Gemeinwohl systematisch über das Wohl des Einzelnen stellen. Da Aristoteles aber das Gemeinwohl nicht in einem Gegensatz zum Wohl des Einzelnen denkt, fehlt bereits hier ein wichtiges Merkmal solcher Zwangsordnungen. Ebenso habe ich im Laufe der entsprechenden Kapitel dafür plädiert, dass die Moralität keineswegs in einem Legalismus besteht und für Aristoteles auch nicht gewaltsam erzwungen werden kann. Insofern ist zumindest der Totalitarismusvorwurf an Aristoteles übertrieben. Jedoch ist damit noch nicht die Frage entschieden, ob wir Aristoteles einen Paternalismus zuschreiben sollen. Allerdings müssen wir auch hier differenzieren: Einerseits vertritt Aristoteles sicherlich sehr paternalistische Positionen, wobei dies besonders ausgeprägt in den Büchern VII und VIII der Politik geschieht. Hier greift die »Polis nach Wunsch« in vielen Bereichen sehr stark in das Privatleben ihrer Mitglieder ein, was wir als unnötige paternalistische Bevormundung empfinden. Andererseits können wir Aristoteles zugutehalten, dass es sich zumindest um eine abgeschwächte Form des Paternalismus zu handeln scheint: Schließlich fordert er für jede gute Regierungsform die Zustimmung der Untertanen. 321 Dagegen lässt sich natürlich wieder einwenden, dass die Akzeptanz solcher Regelungen den Paternalismus selbst nicht zum Verschwinden bringt. Da die Paternalismusdiskussion durchaus wichtig für die politische Philosophie ist, möchte ich hier gerne einige wichtige Positionen der Forschung knapp skizzieren und diskutieren: Horn verteidigt

320 Vgl. Popper 2003a, 135. Auch Barnes diagnostiziert in seiner Analyse der berühmt-berüchtigten einschlägigen Stellen des aristotelischen Werks einen Totalitarismus. Vgl. Barnes 1990, 249–263 (bes. 259 ff.). Sorabji 1990 zeigt hingegen in seinem Koreferat, dass Aristoteles weiter als Platon von einem Totalitarismus entfernt ist und dass er in ähnlichen Regelungen liberaler und weniger überwachend als Platon verfährt; auch Yack 1993, 83 kontrastiert Aristoteles mit der kompletten Kontrolle von Familie, Wirtschaft und Religion bei Platon. Ergänzend möchte ich hinzufügen, dass bei Platon die beste Verfassung bekanntlich morden und vertreiben darf (vgl. Politikos 293d). 321 Wobei diese Zustimmung wohl eine Gesamtbeurteilung der Regierung ist und nicht unbedingt eine Detailkritik jeder einzelnen Maßnahme.

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Aristoteles gegen den Vorwurf eines starken Paternalismus. 322 Dabei möchte er geltend machen, dass den Bürgern eine gewisse Freiheit zum Tun des Falschen gelassen wird und vor allem, dass Aristoteles tendenziell freiheitliche Denkrichtungen inspiriert hat. Miller darf möglicherweise das von ihm angeführte Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs im Sinne des moderaten Individualismus gelöst wissen. Jedoch entschuldigt er die auch von ihm zugegebenen paternalistischen Regelungen etwa des Fortpflanzungsverhaltens etwas vorschnell damit, dass sie dem Wohl des Einzelnen dienen sollen. 323 Letztlich behaupten aber auch totalitäre Regimes von ihren Maßnahmen, dass sie edlen Zielen dienen sollen. 324 Aber auch wenn die paternalistischen Regelungen tatsächlich dem Wohl des Einzelnen dienen und sein Glück befördern, handelt es sich nach wie vor um eine problematisch bleibende Bevormundung. 325 Nussbaum hingegen stellt sich in der Paternalismusfrage ausdrücklich gegen Aristoteles, dem sie einen Paternalismus vorwirft. Gleichwohl glaubt sie, dass er der aristotelischen Konzeption eigentlich nicht immanent sei. 326 Dagegen erhebt sich jedoch folgendes Bedenken: Die Legitimation des Rechts besteht – wie gezeigt – in der Beförderung der Tugend der einzelnen Bürger, wobei ich mich der moderat individualistischen Interpretation des Gemeinwohls anschließe. Insofern muss es eine Polisleitung geradezu als ihre Pflicht betrachten, sich in wichtigen Punkten in die Planung der Untertanen auf dem Weg zum Glück einzubringen und einzumischen. Daher ist der Paternalismus des Aristoteles auch keine zufällige Erscheinung, sondern im aristotelischen Gedankengut tief verwurzelt. Da Aristoteles die meisten Einwohner der damaligen Poleis für nicht geeignet hält, aus eigener Kraft vollumfänglich zur eigentlichen Tugend und zur eigentlichen Gerechtigkeit zu gelangen, hält er mehr oder weniVgl. Horn 2008, 7. Vgl. Miller 1997, 229. 324 Zu den Grenzen der Freiheit auch in der besten Verfassung siehe Miller 1997, 248 ff. 325 Everson 1988, 98 zeichnet nach, wie aristotelisch für einen Paternalismus argumentiert werden kann: Die Rationalität entscheidet über Freiheit oder Sklaverei, daher verhilft ein vernünftiger Paternalismus zur Ausbildung der eigenen Vernünftigkeit und somit zur wahren Freiheit. Gerade bei Kindern sei dies noch unproblematisch. Allerdings schränkt Everson später selbst ein, dass Aristoteles keine Theorie der Rechte gegenüber der Polis entwickle, da die menschliche Entwicklung von der Polis selbst abhänge (vgl. Everson 1988, 101). 326 Vgl. Nussbaum 1999a, 80. 322 323

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ger umfangreiche paternalistische Regelungen für unumgänglich, um ein gewisses Mindestmaß an Tugendhaftigkeit und Gerechtigkeit in einer Polis zu erreichen. Schließlich möchte er bestimmte Probleme gar nicht erst auftauchen lassen, die ansonsten sozusagen polizeistaatlich mit Zwang repariert werden müssten. So sind also viele paternalistische Regelungen als Präventionsmaßnahmen zu verstehen, da die Mehrheit der Poliseinwohner nicht zu wahrhaft tugendhaften und gerechten Handlungen imstande ist. Wenn sie aber angeleitet werden, sei die Ausgangsbasis für korrektes Verhalten besser gegeben. Insofern ist der Paternalismus für weite Teile der Bevölkerung in der Sicht des Aristoteles völlig gerechtfertigt und notwendig. Natürlich erschöpft sich – wie wir bereits im Kapitel über die Funktion der Rechtsordnung gesehen haben – die Rechtsordnung nicht in einer negativen Abwehr möglicher Gefahren, sondern möchte auch einen positiven Beitrag zur Erlangung der Tugend und der Glückseligkeit leisten. Gerade in dieser Gedankenführung kann Aristoteles tatsächlich als Vorläufer der republikanischen Sicht auf das Verhältnis Bürger-Staat betrachtet werden, wenn wir etwa die Beschreibung von Sandel heranziehen: Im Gegensatz zum Utilitarismus geht die republikanische Theorie nicht so vor, daß sie die Präferenzen der Menschen in ihrer jeweiligen Gegebenheit aufgreift und ihnen gerecht zu werden versucht. Vielmehr ist sie bestrebt, diejenigen Charakteranlagen der Staatsbürger zu fördern, die für das gemeinsame Gut der Selbstregierung unerlässlich sind. Insofern bestimmte Neigungen, Vorlieben und Bindungen der Durchsetzung einer autonomen Regierungsform wesentlich sind, wird der moralische Charakter von der politischen Theorie des Republikanismus nicht bloß als Privatsache angesehen, sondern als Sache von öffentlichem Interesse. 327

Jedoch dürfen die negativen Seiten des aristotelischen Paternalismus nicht verschwiegen werden: Aristoteles errichtet keine direkte Schranke, wie weit sich die Polis in das Privatleben einmischen darf. Stattdessen sind ihr nur indirekt Grenzen dadurch gesetzt, dass sie die Prinzipien des eigentlich Gerechten nicht verletzen darf. Insofern können wir nur dann von Rechten des Einzelnen (auch gegenüber der Polis) sprechen, wenn wir die aristotelischen Gedanken zu gerecht/ungerecht und Gemeinwohl mit Miller im Sinne eines moderaten Individualismus interpretieren. Anders formuliert: Aristoteles zieht keine juristische, in Verfassung oder Gesetze gegossene ausfor327

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Sandel 1995, 56.

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mulierte Grenze für Eingriffe der Regierung in die persönlichen Lebenspläne, 328 wohl aber soll einer tugendhaften Regierung diese Grenze sowieso bewusst sein. 329 Rosler wirft eine für die Paternalismusdiskussion bedeutsame Frage auf, nämlich nach dem Verhältnis der durch Gesetze evozierten Tugend und der wahren Tugend. Zwar gehört diese Frage letztlich eher zur Ethik, gleichwohl möchte ich ganz kurz darauf eingehen: Anders als Rosler 330 sehe ich keinen Widerspruch zwischen Stellen wie EN III, 8: 1116b2–3 oder EN IV, 1: 1120a23–4 und anderen Bemerkungen im Werke des Aristoteles. An diesen beiden genannten Stellen teilt uns Aristoteles mit, dass die wahre Tugend sich um des Edlen willen und nicht aus Zwang heraus betätigt. Dies würde – laut Rosler – im Widerspruch zur Tugendbeförderung durch die Gesetze stehen. Meines Erachtens besteht zwischen der Lehre der eigentlichen Tugend, die übrigens an anderen Stellen 331 prominenter herausgearbeitet wird, und der These von der Tugendbeförderung durch Gesetze nicht zwangsläufig ein Widerspruch. Zwar können wir nur dann von einer eigentlichen Tugend sprechen, wenn die entsprechenden Taten freiwillig-vernünftig gewählt worden, also einer echten prohairesis entsprungen sind. Jedoch schließt eine Erziehung gemäß den Tugendvorschriften des Gesetzes nicht von vornherein aus, dass die Gesetze einen Beitrag zur Heranbildung der wahren Tugend erbringen können. Anders formuliert: Laut Aristoteles leistet die Erziehung gemäß den Gesetzen im Idealfall einen wichtigen Beitrag, ist allerdings selbst nicht hinreichend für die Erlangung der wahren Tugend. Möglich ist diese tatsächliche positive Beeinflussung der eigenen Tugend durch die Gesetze im Sinne einer echten Sittlichkeit deswegen, weil wir die Normen im Idealfall als institutionalisierten logos auffassen dürfen. 332 Wieso aber sollte die Polis überhaupt ein Interesse an der Tugendentwicklung und den Glückseligkeitsvorstellungen ihrer Einwohner haben? Dies liegt in einem doppelten Sinne in ihrem eigenen Interesse: Einerseits darf und kann die Tüchtigkeit und Glückseligkeit

Insofern gebe ich Nussbaum 1998, 255 f. teilweise Recht. Ähnlich kritisiert Nussbaum, allerdings ohne Einschränkung. Vgl. Nussbaum 2001, xxi. 330 Vgl. Rosler 2005, 183–185. 331 Etwa EN VI, 13: 1144a13–20. 332 Vgl. EN X, 10: 1180a21 f. 328 329

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der Polis nicht von derjenigen ihrer Mitglieder getrennt werden; 333 andererseits spielen die Gesetze über die verfassungsmäßige Erziehung eine wichtige Rolle für die Stabilität der Polis und sind insofern für den Machterhalt der Regierung recht wichtig. Bekanntlich ist die herrschende Macht für Aristoteles nur dann gesichert, wenn sie über genügend Rückhalt in der Bevölkerung verfügt, wobei Miller ein Einmütigkeits- und ein Superioritätskriterium unterscheidet. 334 Wenn nun die Regierenden aufgrund komplett verschiedener Glückseligkeitsvorstellungen völlig an den Bürgern vorbeiregieren, kann es mitunter zu einer stasis kommen, so etwa wenn extreme Oligarchen eine Klientelpolitik zuungunsten der armen Bevölkerungsmehrheit betreiben. Daher ist eine entsprechende Erziehung der Bürger gemäß den eigenen Vorstellungen zu Glückseligkeit und Gerechtigkeit im ureigensten Interesse der Regierung. Insgesamt würde ich für eine differenzierte Betrachtung der Paternalismusdiskussion plädieren, die auch die historischen Umstände berücksichtigt. Definitiv gehört Aristoteles innerhalb des antiken Paradigmas zu den aufgeklärteren und toleranteren Denkern. Ebenso klar ist es allerdings, dass er moderne Ansprüche nicht erfüllen kann und in einigen Punkten paternalistisch wirkt. Sicherlich positiv zu beurteilen ist, dass Aristoteles der Versuchung widerstehen kann, aus manchen sehr ins Privatleben eingreifenden angeblichen Tugendpflichten gleich zwingende Rechtspflichten zu machen. So befürworten Platon wie Aristoteles eine strikte Geburtenpolitik, wobei Aristoteles jedoch vermutlich keine rechtlichen Sanktionen vorsieht. Nachdem wir nun die beiden für Aristoteles am höchsten zu bewertenden Verfassungen ausführlich geprüft haben, können wir Aristoteles zumindest teilweise in Schutz nehmen gegen den Vorwurf Krauts, dass Aristoteles eine Reihe von beachtenswerten Argumenten gegen diese Verfassungstypen brüsk beiseiteschiebe und Königtum und Aristokratie vor allem dogmatisch verteidige. 335 Auch wenn wir seine Positionen sicherlich nicht teilen, hat er durchaus einen erheblichen argumentativen Aufwand für sie getrieben. 333 Vgl. die Ausführungen im VII. Buch der Politik: Pol. VII, 1: 1323a13–17, Pol. VII, 2: 1324a5–13 bzw. a23–25, Pol. VII, 3: 1325b30–32, Pol. VII, 9: 1329a22–24 mit den Erwägungen zum Problem des guten Bürgers und des guten Menschen im III. Buch der Politik. 334 Vgl. Miller 2007a, 21 (zur Kritik der genaueren Interpretation, vgl. die entsprechenden Kapitel meiner Dissertation). 335 Vgl. Kraut 2002, 410.

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3.2.2 Der Typus der Politie 3.2.2.1 Die Politie als Mischverfassung oder Regierung der Mittleren? Oder: Zur bedenklichen soziologischen Zusammensetzung Griechenlands Bei welchem soziologischen Träger dürfen wir eine Verfassung als Politie bezeichnen? Wenn es sich um eine Regierung der Menge handelt, die sich gerecht am Gemeinwohl orientiert. 336 Trotz gewisser Ähnlichkeiten handelt es sich dennoch nicht um eine Demokratie, denn die Politie will zwar eine Regierung der Menge sein, lässt aber durch einen Zensus nur Männer ab einer bestimmten Vermögensklasse als Gleiche (und damit als stimmberechtigte Bürger) zählen. 337 Daher wird die Politie manchmal auch Timokratie genannt (abgeleitet von timêma). 338 Entsprechend handelt es sich bei ihr um eine Mischung 339 (mixis) zwischen Demokratie und Oligarchie; 340 genauer gesagt vermittelt sie zwischen deren Ansprüchen Reichtum und Freiheit 341 und ver-

Vgl. Pol. III, 7: 1279a37–39. Pangle dürfte solche Stellen übersehen haben, wenn er schreibt, dass Aristoteles die Politie nicht unter die gemeinwohlorientierten Verfassungen rechne. Vgl. Pangle 2003, 85. Dagegen überbetonen manche Interpreten die Gemeinsamkeiten zwischen Gesetzesdemokratien und Politien und übersehen dabei, dass nur die Gesetze der Politie auf das Gemeinwohl zielen, während die demokratischen Gesetze dies nicht tun. 337 Zu dieser Zensusschranke: vgl. EN VIII, 12: 1160b16–19 und EN VIII, 12: 1160a33–35. Allerdings ist dieses sozioökonomische Problem nicht der einzige Unterschied, der unsere Demokratie von der Politie trennt. Die übrigen Unterschiede behandle ich v. a. im Kapitel 3.2.2.3. Überdies werden wir sehen, dass die Politie im Gegensatz zur besten Demokratie nicht an einem soziologischen Ungleichgewicht leiden sollte und ihre normativen Ziele besser ausgemittelt sind – dies spricht meines Erachtens gegen die weitgehende Gleichsetzung von bester Demokratie und Politie durch Samaras 2015, 124–127. Nicht völlig klären lässt sich, ob die für die beste (Bauern-)Demokratie typische politische Indifferenz auch auf die Politie zutrifft, dies scheint allerdings etwas unwahrscheinlich, da es sich bei der Politie immerhin um eine gute Verfassung handeln soll. 338 Aristoteles identifiziert daher Timokratie und Politie in EN VIII, 10: 12: 1160a33– 35, wobei er selbst den Ausdruck »Timokratie« bevorzugt. Da jedoch der Name »Politie« gebräuchlicher ist, verwendet er in der Politik diese Bezeichnung. 339 Einen nach wie vor lesenswerten Einstieg in die Geschichte der Mischverfassungen in der Antike bietet Aalders 1968. 340 Vgl. als Beispiele etwa Pol. IV, 8: 1293b31–36 und Pol. IV, 9: 1294a30–35. 341 Vgl. Pol. IV, 8: 1294a15–17. 336

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sucht so die Extreme von Reich und Arm zu vermischen 342. Insofern charakterisiert Aristoteles die Politie in den Büchern IV–VI der Politik über die beiden Kriterien von Reichtum und Freiheit (man beachte, dass die aretê als Kriterium fehlt), interpretiert sie also wie gesagt als Mischung von Demokratie und Oligarchie, wobei die demokratische Seite etwas stärker betont ist. 343 Folgerichtig scheitern die Politien an unausgewogenen Mischungsverhältnissen von Demokratie und Oligarchie. 344 Was kann man eigentlich neben der Zensuseinschränkung an einer Politie oligarchisch nennen? Wenn die Ämter durch Wahl besetzt werden, denn Demokratien verlosen sie. 345 Somit würden Aristoteles und seine Zeitgenossen unsere Sicht auf das moderne Wahlrecht als urdemokratisch etwas kopfschüttelnd dahingehend korrigieren, dass dies vielmehr oligarchisch oder aristokratisch sei. Vgl. Pol. IV, 8: 1294a22 f. Vgl. die leicht verschiedenen Variationen in Pol. IV, 8: 1294a22–25, Pol. V, 7: 1307a7–16 und Pol. IV, 8: 1293b33 f. Insofern stimmt die Charakterisierung durch Dolezal nicht, der die Politie eher zur Oligarchie neigen lässt (vgl. Dolezal 1973, 44 f./73/110/172 f./179). Wobei die Mischung dann als besonders gut gilt, wenn man diese Verfassung genauso gut als Demokratie wie als Oligarchie bezeichnen kann (vgl. Pol. IV, 9: 1294b13–16). Schütrumpf sieht die Lehren von Pol. III, 7 in Pol. IV, 8 aufgegeben: Er begründet dies damit, dass in Pol. III, 7 die Demokratie und die Oligarchie eine Entartung der Politie bzw. der Aristokratie seien, aber im Buch IV (Ausnahme IV, 2) die Demokratien und Oligarchien die Gegebenheiten seien, aus denen man die sogenannten Aristokratien und Politien konstruiere (vgl. Schütrumpf 1996, 332). Hier gilt jedoch zu beachten, dass Demokratien und Oligarchien in Pol. III normative Abweichungen sind, während die Politie als in der Realität auftretende Verfassungsform eine faktische Mischung von demokratischen und oligarchischen Elementen ist. Diese Perspektiven bilden jedoch keinen logischen Gegensatz und müssen streng getrennt werden: Normativ fallen die Demokratien und Politien in den Büchern III–VI stets gegenüber den Politien ab (wie wir im Demokratiekapitel dieser Arbeit sehen werden, sind Demokratie und Oligarchie auch in den Büchern IV–VI normative Abweichungen); chronologisch waren die Typen der Demokratien und Oligarchien später als die Politien angesiedelt (vgl. Pol. III, 15: 1286b11–22 sowie die Entwicklung Athens seit den Tagen der Politie im alten Athen zur Demagogendemokratie in der Athênaiôn politeia); begrifflich hingegen kann die Politie tatsächlich als Synthese normativer Auffassungen von Demokraten und Oligarchen und entsprechend daraus fließender Institutionen beschrieben werden (was in Pol. III für die Politie weder behauptet noch bestritten wird, da dieser Aspekt dort nicht verhandelt wird; logisch jedoch widerspricht keiner der spärlichen Lehren über die Politie in Buch III dieser These). 344 Vgl. Pol. V, 7: 1307a5–18 mit Pol. IV, 9: 1294b34–40 und Pol. IV, 12: 1297a6 f. 345 Vgl. Pol. IV, 9: 1294b7–9. Davon sind allerdings einige Ämter ausgenommen, beispielsweise etwa die Strategen oder das Schatzmeisteramt. 342 343

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Während in den Büchern IV–VI der Politik meist die beiden Hauptkriterien des Gerechten und Gleichen von Reich und Arm zur Charakterisierung der Politie als Mischung verwendet werden, finden wir in Pol. II, 6 und Pol. III, 7 sowie in Pol. IV, 11 eine stärker soziologische Betrachtungsweise. So beschreibt Aristoteles in Pol. II, 6 und Pol. III, 7 die Politie vor allem als Regierung der Hopliten, 346 während er in Pol. IV, 11 die Regierung des Mittelstandes zur besten Regierungsform für die meisten Poleis erklärt. 347 Je nach Interpretationsstandpunkt heben manche Interpreten eher die institutionelle Definition 348 hervor oder eher die soziologische: So hebt etwa Yack hervor, dass Aristoteles ein »mixed regime« als Hauptabsicherung gegen staseis betrachtet habe. 349 Wie wir jetzt sehen werden, ist es jedoch problematisch, die institutionelle Lösung als die primäre Definition zu behandeln: Es erweist sich nämlich, dass dieser Unterschied zwischen der soziologischen Bestimmung der Politie als Regierung der Mittleren und der stärker institutionellen Charakterisierung der Politie als Mischung zwischen demokratischen und oligarchischen Regelungen in der harten politischen Wirklichkeit wichtig und bedeutsam ist. Wenn wir nämlich die beiden Definitionen der Politie näher auf ihr Verhältnis untereinander untersuchen, fällt im Laufe der Analyse ein wichtiger Unterschied auf: Während die »soziologische Politiedefinition« die »institutionelle Politiedefinition« mit umfasst – dies stimmt einerseits mit einer Grundthese vorliegender Arbeit zusammen, dass die Überzeugungen der Bürger in Hinsicht auf das Gute, Gerechte und Nützliche die Institutionen prägen und findet andererseits eine direkte Bestätigung in Pol. II, 6: 1265b26–29 350 – muss die institutionelle Lösung differenzierter betrachtet werden. Deutlich wird dies, wenn wir uns die möglichen Gründe für den tiefen Graben zwischen der prinzipiell verhältnismäßig einfachen normativen Erreichbarkeit der Politie und ihrer faktischen Seltenheit Vgl. Pol. III, 7: 1279a37–b4 und Pol. II, 6: 1265b26–29. Balot 2015, 109–111 argumentiert ausführlich für eine Deutung von Pol. IV, 11 als Politie. 348 Dabei ist die Politie timokratisch definiert, also als Mischung der demokratischen und oligarchischen Vorstellungen des Gerechten, Nützlichen und Gleichen. Meist stellt diese Definition eher die Ämterzugangsregelungen in den Vordergrund. 349 Vgl. Yack 1993, 231 ff. 350 Hier wird nämlich die Politie einerseits als Hoplitenbürgerschaft und andererseits als Mischung zwischen Demokratie und Oligarchie beschrieben. 346 347

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ansehen: Da viele Forscher die angebliche Unmöglichkeit der herausragenden Tugendhaften und gleichzeitig eine recht wahrscheinliche Möglichkeit für Politien behaupten, interessiert diese Frage nach der Häufigkeit der Politie natürlich besonders. Zwar beanspruchen laut Aristoteles die meisten Poleis eine Politie zu sein, 351 allerdings genügen die meisten Städte diesem Anspruch dann doch nicht. Tatsächlich sei diese Regierungsform nämlich recht selten, daher werde sie auch oft von Verfassungstheoretikern übersehen. 352 Weswegen klafft aber ein derartiger Abstand zwischen propagandistischem Verfassungsanspruch und tatsächlicher Verfassungswirklichkeit? Um diese Frage korrekt beantworten zu können, sollte zunächst zwischen der normativen Verwirklichungsmöglichkeit (Wie wahrscheinlich ist es eigentlich, dass Poleis die normativen Anforderungen an eine Politie erfüllen können?) und der faktischen Verfassungsrealität unterschieden werden (Wie viele Politien gibt es tatsächlich?). Tatsächlich ist die Politie der wahrscheinlichste normativ gute Verfassungstyp, da sie keine überrissenen Ansprüche an die Bürgerschaft stellt. Dies wird auch nicht dadurch widerlegt, dass es in der Verfassungswirklichkeit relativ selten echte Politien gibt. Nun nennt Aristoteles jedoch auch einen handfesten soziologischen Grund, warum Politien so rar sind. Wie wir gesehen haben, muss man nämlich begrifflich sauber zwischen der institutionellen und der soziologischen Seite trennen: Einerseits kann man ja die Politie institutionalistisch als Mischung demokratischer und oligarchischer Institutionen, Wahlmodi etc. beschreiben, und andererseits kennt Aristoteles auch eine Politie in soziologischer Hinsicht, die als Herrschaft des Mittelstandes aufzufassen ist. Dabei wird eine Politie vor allem dann dauerhaft bestehen, wenn der Mittelstand eines oder beide Extreme (Arm und Reich) überwiegt und somit eine der stärksten Gruppierungen in der Polis stellt. 353 Laut Aristoteles gehorcht ein Mittelstand eher dem logos als die Reichen und Armen, die stärker durch ihre Begierden beherrscht werden. 354 Leider – und dies ist sicherlich der Grund für das seltene Auftreten von Politien – ist aber eine solche Regierung des Mittelstandes selten zu finden, denn Vgl. Pol. IV, 8: 1294a15 f. Vgl. Pol. IV, 7: 1293a39–b1. Äußerst optimistisch setzt hingegen Knoll die Häufigkeit der Politien an. Vgl. Knoll 2011, 139. 353 Vgl. Pol. IV, 12: 1296b38–1297a6. 354 Vgl. Pol. IV, 11: 1295a25–1296a21. 351 352

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meist überwiegen die soziologischen Extreme von Arm und Reich und daher die entsprechenden Verfassungstypen der Oligarchie und Demokratie. 355 Unglücklicherweise ist der Mittelstand also meist eher schwach ausgeprägt, sodass entweder die Armen oder die Reichen die Herrschaft eigennützig ausüben können. 356 Dass der Mittelstand im klassischen Griechenland im Gegensatz zu den Extremen Arm und Reich kaum eine Rolle spielt, bestätigt auch die moderne althistorische Forschung. 357 Gschnitzer belegt dies u. a. am Beispiel des Zensus des Jahres 321 in Athen, der eigentlich nicht besonders hoch angesetzt ist und den dennoch vier Siebtel der Bürger nicht erfüllen können. 358 Meine Interpretation eines Auseinanderklaffens zwischen relativ unproblematischer normativer Möglichkeit und höchst problematischer faktischer Verwirklichung wird durch Aristoteles im 11. Kapitel des vierten Buches der Politik selbst gestützt. Dort bemerkt er, dass die mittlere Verfassung eigentlich von der Mehrzahl der Poleis erreicht werden könnte. In einem späteren Absatz muss er jedoch beklagen, dass die Politie kaum verwirklicht worden sei – abgesehen von ihrer Durchsetzung durch einen namenlos bleibenden tugendhaften Politiker. 359 Zusammenfassend bleibt also festzuhalten, dass eine rein institutionelle Betrachtungsweise (Politie als Mischung demokratischer und oligarchischer Institutionen) offensichtlich nicht stets für eine dauerhafte Stabilität ausreicht, sondern am besten auch die soziologische Basis eines starken Mittelstandes vorhanden sein sollte. Wie er355 Siehe Pol. V, 1: 1301b39–1302a4 und v. a. Pol. IV, 11: 1296a22–36. Entsprechend kann Aristoteles manchmal auch auf die Erwähnung des Mittelstandes verzichten, da dieser sowieso keine Rolle spielt (vgl. Pol. V, 11: 1315a31–33). 356 Klonoski 1996, 322 ist etwas optimistisch, wenn er der Politie im Allgemeinen zuschreibt, dass sie ihre eigene Diversität oder gemischte Natur liebe. Vor allem da er selbst ergänzt, dass dies nicht verschiedene Standpunkte in Bezug auf das Gemeinwohl inkludiere. 357 Vgl. Gschnitzer 1981, 137 f. 358 Vgl. Gschnitzer 1981, 138. Dies spricht gegen die Lesart von Barry Strauss, dass der Zensus von 322/1 zeige, dass Athen ausgeglichen auf die Interessen aller gesehen und nicht parteiisch die Interessen der Armen wahrgenommen habe; schließlich hätten 40 % der Bürger die Anforderungen einer Oligarchie erfüllt. Vgl. Strauss 1991, 227 f. Allerdings könnte man ebenso gut genau umgekehrt argumentieren, dass dieser Zensus nicht besonders hoch angesetzt gewesen ist und trotzdem die meisten Bürger herausgefallen sind. 359 Vgl. das ganze Kapitel Pol. IV, 11. Entsprechend werde sie häufig von Verfassungstheoretikern übersehen (vgl. Pol. IV, 7: 1293a40–b1)

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wähnt trifft dies am meisten auf eine Hoplitenbürgerschaft zu, die daher an manchen Stellen zum soziologischen Substrat der Politie erklärt wird. 360 Schließlich umfasst eine Hoplitenbürgerschaft in mittelständischer Weise sowohl das demokratische Kriterium der Freiheit als auch das oligarchische Kriterium eines gewissen Wohlstands, verwirklicht also im Gegensatz zu den Demokraten und Oligarchen diese Ansprüche nicht extrem, sondern gemäßigt und bestimmt die Vollbürger timokratisch über ein gewisses mittleres Steueraufkommen. 361 Insofern wird also eine Hoplitenbürgerschaft – wie oben beansprucht – die institutionelle Politiedefinition ebenfalls erfüllen. Wenn jedoch ein starker Mittelstand als Schiedsrichter fehlt, verunmöglicht die egoistische Grundtendenz der armen Demokraten und der reichen Oligarchen meist eine gütliche Einigung und Ausbalancierung ihrer Interessen: Schließlich beneiden die Armen die Reichen um deren Besitztümer, und die Reichen wachen eifersüchtig über ihre Reichtümer. 362 Wenn nun besagter Schiedsrichter des Mittelstandes fehlt, sind – wie wir bereits oben gesehen haben – die Armen und die Reichen versucht, »nicht eine [für beide] gemeinsame und ausgeglichene Verfassung einzurichten, sondern als Siegespreis bemächtigen sie sich ganz der Verfassung; diese schaffen eine Demokratie, jene eine Oligarchie«. 363 Auch die verhängnisvolle Rolle der demokratischen und oligarchischen Vormächte hat in der Vergangenheit immer wieder vor allem radikale Subtypen gefördert und ausgewogene Politien eher verunmöglicht. 364 Entsprechend fraglich ist es angesichts dieser verhetzten Atmosphäre, ob dêmos und oligoi tatsächlich kompromissbereit sind und versöhnlich miteinander umgehen. 365 Tatsächlich beobachtet Aristoteles nämlich, dass die zeitgenössischen Demagogen 366 häufig gegen die Reichen hetzen und Vermögen konfiszieren lassen und so die Rei360 Vgl. etwa das bereits zitierte Pol. II, 6: 1265b26–29. Diese Feststellung kann man daher gegen die These von Piepenbrink 2001, 50 f., dass die Politie gar keinen soziologischen Träger habe, sondern nur als Nomokratie gelten könne, geltend machen. 361 Um sich eine Hoplitenausrüstung leisten zu können, konnte man nicht arm sein, sondern musste über gewisse finanzielle Mittel verfügen (vgl. Pol. VI, 7: 1321a12 f.). 362 Vgl. Pol. IV, 11: 1295b29–32. 363 Pol. IV, 11: 1296a29–32 (Übersetzung des Verfassers, basierend auf Gigon). 364 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a32–b2. 365 Anders Balot 2015, 122, der den Bürgern einer Politie sehr optimistisch eine ziemliche Toleranz und ausgeprägte Identifikation mit der Mischverfassung zuschreibt. 366 Zum abweichend pejorativen Sprachgebrauch dieses Begriffs vgl. Zoepffel 1974, 80–82 bzw. 88.

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chen gegen sich aufbringen 367 oder sich die meisten zeitgenössischen Demokratien zumindest in der Beschreibung des Aristoteles selbst als radikaldemokratisch begreifen (also die Herrschaft des dêmos über die Gesetze anstreben); 368 dagegen treten viele Oligarchien zu despotisch auf 369 und schwört so mancher Oligarch gar Eide, das Volk zu hassen und ihm zu schaden, wo es angehe 370. Wer sich die in den Fußnoten genannten Stellen genauer ansieht, wird bemerken, dass Aristoteles diese Exzesse überhaupt nicht für selten hält, sondern, mit entsprechenden Häufigkeits- oder Verbreitungsangaben versehen, sogar eher zur Regel erklärt. Daher scheint es etwas zu optimistisch interpretiert, wenn Schütrumpf die Verrechnungslehre von Pol. IV, 12 so interpretiert, dass damit auf eine Bürgerschaft der Mitte hingewiesen würde. 371 In Pol. IV, 12 erläutert uns Aristoteles nämlich nur, dass die Quantitäten der verschiedenen Gruppen und ihre Qualitäten miteinander verrechnet werden sollen, womit er zum Beispiel die Herrschaft der Oligarchen erklären kann (wenn nämlich die Qualität der Reichen die Quantität der Armen übertrifft). Aufgrund der oben beschriebenen Probleme des meist eher nur sehr schwachen Mittelstands verbunden mit der häufigen Polarisierung oder gar Feindschaft zwischen Arm und Reich, scheint mir Pol. IV, 12 nicht den Schluss von Schütrumpf nahezulegen, dass damit auf die Bürgerschaft der Mitte gewiesen werde und reine Quantitätsherrschaften oder zahlenmäßig schwache Qualitätsregierungen eher verunmöglicht würden. 372 Wesentlich nüchterner liefert uns Pol. IV, 12 das Analysewerkzeug, um zu verstehen, warum vor allem Demokratien und Oligarchien in Griechenland vorherrschen 373. Geradezu eine Grundstelle zur Erklärung der politischen Landschaft Griechenlands ist Pol. V, 1: 1301b40–1302a2, denn hier erläutert Aristoteles uns den wichtigsten Grund für das Vorherrschen von Vgl. Pol. V, 9: 1310a2–5 und Pol. VI, 5: 1320a4–6, aber auch Pol. V, 5: 1304b20–25. Vgl. Pol. IV, 14: 1298b13–15. Allein diese Stelle widerlegt die Thesen von Schütrumpf und Newman, dass Aristoteles nur gemäßigten Demokratien eine Überlebenschance zugebilligt habe (vgl. Schütrumpf 1991b, 547) bzw. dass es kaum radikale oder extreme Demokratien gegeben habe (vgl Newman 2010a, 417). 369 Vgl. Pol. V, 6: 1306b3–5. 370 Vgl. Pol. V, 9: 1310a6–12. 371 So aber Schütrumpf 1980, 270 f. 372 Dies schließt jedoch Schütrumpf 1980, 271 aus Pol. IV, 12. 373 Dass vor allem diese beiden Verfassungstypen dominieren, dafür siehe Pol. IV, 11: 1296a22 f. und Pol. V, 1: 1301b39 f. 367 368

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Demokratien und Oligarchien sowie den Mangel an echten Aristokratien: »Es gibt nirgendwo hundert Adlige und Gute, Reiche [und Arme] dagegen an vielen Orten viele.« 374 Somit weisen nur Demokratien und Oligarchien überhaupt genügend Quantität auf, um eine reelle Chance auf Herrschaft in vielen Poleis haben zu können – dagegen sind die Tugendhaften stets eklatant in der Unterzahl 375. Sogar die sogenannten Aristokratien sind für die meisten Poleis unrealistisch, wie wir aus Pol. IV, 11: 1295a31–33 erfahren. Vermutlich noch problematischer sieht das Bild für die Entstehung von neuen Königtümern aus, da hier die normativen Maßstäbe noch höher gelegt werden. 376 Leider ebenso unerfreulich ist es – wie wir gerade gesehen haben – um die Chancen des Mittelstandes bestellt, denn auch dieser ist an Quantität den armen Demokraten und den reichen Oligarchen hoffnungslos unterlegen und kann seine bescheidene quantitative Verbreitung nicht durch seine höhere Qualität wettmachen. 377 3.2.2.2 Die normative Mittelmäßigkeit der Politie Weshalb rechnet Aristoteles die Politie zwar zu den guten Verfassungen, aber nicht gemeinsam mit Königtum und Aristokratie zu den allerbesten? Weil es schwierig ist, dass eine Menge wahrhaft tugendhaft ist und über die wichtigen Vollkommenheiten verfügt, »denn dass sich einer oder wenige an Tugend auszeichnen, ist möglich, dass aber viele allen Anforderungen der Tugend entsprechen, ist schwierig, am ehesten [ist es möglich] in der kriegerischen [Tugend]: diese kommt nämlich bei der Menge vor.« 378 Daher kann die Politie nicht zu den allerbesten Verfassungen gezählt werden, weil sie nicht hauptsächlich auf die Tugend im eigentlichen Sinn ausgerichtet ist und damit das eigentliche Ziel der menschlichen Gemeinschaft nicht erreichen kann. 379 Daher bestreite ich Interpretationen wie diejenige von Nichols, Pol. V, 1: 1302a1 f. Siehe auch Pol. V, 4: 1304b2–5. 376 Vgl. Pol. V, 10: 1313a3–10. Siehe unsere frühere Erkenntnis, dass damit aber nichts gegen bereits bestehende Königtümer gesagt wird. 377 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–32. 378 Pol. III, 7: 1279a39–b2. 379 Nicht alle korrekten Verfassungen zielen also auf einen in Übereinstimmung mit wahrer Sittlichkeit stehenden Charakter ihrer Bürger ab (so aber Bentley 2013, 10). Pol. IV, 8: 1293b23–27 rechnet die Politie aufgrund ihres Verfehlens der besten Polis gar in einem gewissen Sinne unter die Abweichungen, weswegen die Charakterisie374 375

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dass die Politie »simply best« sein solle. 380 Tatsächlich betrachtet Aristoteles nämlich die Politie aus den genannten Gründen normativ klar nur als zweite Wahl, womit jedoch nicht in Abrede gestellt wird, dass sie für die meisten Poleis die geeignetste Form ist 381. Sogar ganz ausdrücklich erklärt Aristoteles die Politie und die sogenannten Aristokratien in einer gewissen Weise zu Abweichungen der besten Verfassung. 382 Manchmal wird dagegen eingewandt, dass Aristoteles in Pol. IV, 11 doch die Regierung der Mittleren unter anderem dadurch legitimiere, dass er auf die Bedeutung des Mittleren in der Ethik verweise. Hier hat Schütrumpf darauf hingewiesen, dass diese Mitte relativiert werde durch den Zusatz »die für alle mögliche Mitte«; 383 daher verkörpert der Mittelstand also nicht das Ideal der mesotês-Lehre der Ethik. Allerdings spricht Schütrumpf dieser Lehre von der Mitte die ethische Dimension zu weitgehend ab: Sicherlich muss man einschränken, dass diese auf die Vermögensverhältnisse angewandt wird, aber daraus folgen für Aristoteles doch unmittelbar ethische Verhaltensweisen: Während Arme und Reiche mit ihren egoistischen Sonderinteressen die Polis zerreißen würden, sei ein Mittelstandsbürger weitgehend neidfrei, und daher werde eine mittelstandsdominierte Stadt relativ stabil sein können. 384 Obwohl eine Bezeichnung der mittelständischen Tugend als medioker wegen des pejorativen Beigeschmacks sicherlich zu hart gewählt wäre, bleibt bei allem Lob des Aristoteles für den Mittelstand zwischen den Zeilen ein deutlicher normativer Abstand zu den eirung der Politie als auf das wahre Gemeinwohl zielend (vgl. Knoll 2009, 61) etwas zu hoch greift. 380 Vgl. Nichols 1992, 98. Aubenque möchte in seiner Analyse unseren Philosophen die Politie als beste Verfassung auszeichnen lassen, weil sie die philia als Fundament habe und nur die Politie eine wahre Gemeinschaft zulasse und herstelle. Vgl. Aubenque 1993, 263 f. Sowohl Königtum als auch Aristokratie lassen für Aristoteles aber genug Raum für vernünftige Diskussionen (wobei diese im Gegensatz zur Politie die Gespräche unter wahrhaft tugendhaften Personen sind). Ebenso ist die philia nicht auf Massenherrschaften beschränkt (vgl. die Freundschaft der Bürger zum König oder die aristokratische Freundschaft, die ihr Pendant im Haushalt in der Beziehung zwischen Mann und Frau findet). 381 Vgl. Pol. IV, 11: 1295a25–31. 382 Vgl. Pol. IV, 8: 1293b23–27. 383 Vgl. Schütrumpf 1996, 352 Anm. 30,2. Halper 1995, 87 f. hingegen rückt die Tugend trotz gewisser Konzessionen zu sehr in die Nähe dieser Mitte und erklärt in gewisser Hinsicht die Politie sogar als dem Königtum und der Aristokratie überlegen. 384 Vgl. Pol. IV, 11: 1295b25–1296a5. Ordnung in der Polis

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gentlich Tugendhaften zu spüren: Auffälligerweise betont Aristoteles, dass die Tugend der Politie nicht überdurchschnittliches Maß verlange, 385 dass diese Mitte jeder erreichen könne, 386 und eine ihrer Haupttugenden besteht in der Neidfreiheit 387. Wenn wir im Vergleich dazu die Schilderungen wahrhaft Tugendhafter in der Nikomachischen Ethik lesen, fällt eine gewisse Biederkeit der Mittleren doch auf. Überdies sei daran erinnert, dass Aristoteles relativ elitär die echte Tugend nur bei wenigen findet 388 und der breiten Masse am ehesten kriegerische Tugenden zusprechen mag 389. Hierbei handelt es sich allerdings um untergeordnete Tugenden, da Aristoteles den Krieg eindeutig geringer als den Frieden schätzt und somit die kriegerischen Tugenden sicherlich nicht als die höchsten politischen Tugenden zu bewerten sind. Trotzdem darf diese etwas kleinbürgerlich anmutende Biederkeit in ihrer normativen Bedeutung für Aristoteles nicht unterschätzt werden: Während Arm und Reich in ihrem steten Kampf um Reichtümer die Polis an den Rande des Abgrunds bringen, ist die diesbezügliche Ruhe der Mittleren zwar nicht ausreichend für eine Qualifizierung als wahrhaft tugendhaft, erspart der Polis jedoch häufig dauernde Machtkämpfe. 390 Interessanterweise müssen wir bei der Politie eher indirekt erschließen, ob es sich bei ihr um eine »rule of law« oder eine »rule of man« handelt. Direkt äußert sich Aristoteles nämlich nicht dazu. 391 Allerdings gibt es einige Argumente, welche eine »rule of law« doch sehr nahelegen: So handelt es sich bei der Politie um eine politische Regierungsweise (im Gegensatz zur despotischen oder königlichen Regierungsweise), die durch eine Gesetzesherrschaft gekennzeichnet ist. Des Weiteren gehorchen die Mittleren im Vergleich zu den ReiVgl. Pol. IV, 11: 1295a26 f. Vgl. Pol. IV, 11: 1295a37–39 387 Vgl. Pol. IV, 11: 1295b29–33. 388 Vgl. Pol. V, 1: 1301b39–1302a4. 389 Vgl. Pol. III, 7: 1279a39–b2. Dies ist auch der Grund, wieso die Politie in Buch III vor allem als Hoplitenregierung in Erscheinung tritt. 390 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a7–10. Auch hier zeigt sich die moderne althistorische Forschung immer wieder kritisch gegenüber Aristoteles, was die Korrektheit seiner Analyse angeht. So hinterfragt Gehrke die angeblich alles in den Schatten stellende Rolle der sozioökonomischen Faktoren für das Ausbrechen von staseis (vgl. Gehrke 1985, 309–353 (besonders 321–325)). 391 Auch Piepenbrink 2001 kann ihre These, dass die Politie eine Nomokratie sei, nicht mit einem eindeutigen Beleg (in Form einer einschlägigen Textstelle) unterstützen. 385 386

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chen oder Armen am leichtesten der Vernunft, 392 was angesichts der weitgehenden Ablehnung gesetzesüberlegener menschlicher Herrschaft ebenfalls für eine »rule of law« in der Politie spräche. Axiologisch ist die Politie gut zu nennen, insofern sie auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist 393 – was wie erwähnt stark mit den gemäßigten Besitzverhältnissen der Mittleren zusammenhängt. So muss die mittlere Bürgerschicht nicht wie die Armen neidisch auf den Reichtum der Reichen schielen oder wie diese angsterfüllt mit Zähnen und Klauen den eigenen Wohlstand verteidigen; stattdessen wird sie in beiderlei Hinsichten keine echten Sicherheitsprobleme haben und so eher dem Gemeinwohl zuneigen können. Wie wir gesehen haben, verfehlen die geforderten Qualitäten eines Politiebürgers in der Mischung zwischen Freiheit (demokratisches Kriterium) und einem bestimmten Besitz (oligarchisches Kriterium) sicherlich die eigentliche Tugend, doch andererseits ermöglicht diese Ausrichtung der Politie auf beide Ziele eine normativ brauchbare Gemeinschaftsordnung. Zwar verfehlt die Politie durch ihren Mangel an wahrer Tugend die eigentlich glückseligkeitsbefördernde Gemeinschaftsordnung, aber immerhin trachtet sie wenigstens danach, die beiden anderen wichtigen Kriterien für eine gerechte Gemeinschaftsordnung zu erfüllen, und diskriminiert weder die breite Masse der Armen und verletzt ihre Rechte als Freie, noch übervorteilt sie die Reichen und mindert deren Besitz durch Beschlagnahmungen. Damit erreicht sie eine gewisse – vielleicht etwas biedere – Mäßigkeit, die gleichwohl grundsätzlich recht positiv zu bewerten ist. Anders formuliert: Vielleicht der wichtigste Beitrag der Politie zur Glückseligkeit der Polis ist das Fehlen oder zumindest die Abschwächung der normativen Extreme. Ebenso verwirklicht sie die positiven Ziele der Demokraten (Freiheit) und der Oligarchen (Besitz) und vereinigt damit die positiven Seiten dieser beiden Verfassungstypen. Schließlich ist die Verbindung der demokratischen und oligarchischen Ziele von Freiheit und Reichtum und ihre damit verbundene Mäßigung normativ begrüßenswert. Entgegen der entsprechenden Annahme von Robinson (»[…] for in terms of that he would be saying that a mixture of two bad constitutions with bad aims could produce one good constitution with a

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Vgl. Pol. IV, 11: 1295b4–6. Vgl. Pol. III, 7: 1279a37–39.

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good aim« 394) verletzt Aristoteles damit nicht die normativen Lehren von Pol. III. Hier gilt nämlich zu beachten, dass Demokratien und Oligarchien in Buch III deswegen als verfehlte Verfassungstypen gelten, weil sie an sich berechtigte Ansprüche verabsolutieren. Deswegen sind ihre Ziele jedoch nicht an sich schlecht, sondern nur in ihrer extremen Verabsolutierung einseitig. 395 Pol. IV, 9: 1294b17 f. erinnert in dieser Frage an wichtige Erkenntnisse der aristotelischen Ethik: Wie auch in der aristotelischen Ethik gilt in der Verfassungslehre des Aristoteles, dass in der normativ erstrebenswerten Mitte die für sich betrachtet verwerflichen Extreme sichtbar werden. Dies erklärt in den eigenen Worten des Aristoteles, warum Robinsons Einwand als bewältigbar gelten kann. Insofern können die an sich berechtigten Ansprüche Freiheit und Reichtum, wenn sie – wie in der Politie – nicht extrem durchgeführt sind, auch vom Standpunkt des Buches III aus ohne Probleme eine normativ gute Mischung ergeben, wenn auch nicht die beste. Insofern erledigt sich auch das Bedenken von Bates, dass die Politie keine wahre Regierungsform sein könne, da sie mit der erwähnten Kombination von Freiheit und Reichtum mehrere Ziele verfolge, entsprechend ihren Bürgern beide Ziele anpreise und dadurch schizophren werde. 396 Nussbaum beansprucht auf der anderen Seite für Aristoteles, dass die Frage der Gleichheit am besten in einer Politie gelöst sei. 397 Tatsächlich jedoch entscheiden in Politien nur die kombinierten Kriterien von demokratischer Freiheit und oligarchischem Reichtum über die Frage »Wer darf politisch gleichberechtigt sein?« So können also nur freie Bürger ab einer bestimmten Steuerklasse die politischen Rechte wahrnehmen. Dagegen spielt das für die gesamte Polis eigentlich besonders wichtige Kriterium der Gleichheit an wahrer Tugend in Politien keine Rolle. Daher kann Aristoteles im Zuge seiner Analyse nur den Schluss ziehen, dass die Politie nicht an die Güte der Königsherrschaft oder der (eigentlichen) Aristokratie heranreicht. Da ich bereits bei der Erwähnung der Aristokratie den anderen Typus einer Mischverfassung erwähnt habe, interessiert hier natür-

394 395 396 397

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Robinson 1995, 90. Ähnlich Schütrumpf 1980, 140 oder Samaras 2015, 131 f. Vgl. Pol. III, 9: 1280a7–25. Vgl. Bates 2003, 116. Vgl. Nussbaum 1999a, 69 f.

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lich ein Vergleich dieser beiden Typen: Wie sieht das Rangverhältnis zwischen Politie und sogenannter Aristokratie aus? Grundsätzlich gemeinsam ist beiden ihre militärische Ausrichtung, was zu einem gewissen Militarismus führt und ihnen die eigentlich sinnvolle und gerechte Regierungsfähigkeit im wahrsten und vollsten Sinne versagt. Entgegen einer häufigen Charakterisierung der aristotelischen politischen Philosophie als besonders politiefreundlich, muss bei allem Politielob des Aristoteles an dessen elitären Grundstandpunkt erinnert werden. Insofern erstaunt dann nicht weiter, dass er den aristokratischeren sogenannten Aristokratien wie Sparta den Vorzug gibt. 398 Somit würde Aristoteles also auch bei einer tatsächlichen Unmöglichkeit von Königtum und echter Aristokratie (welche die vorliegende Arbeit bestreitet) nicht die Politie als beste der übrig gebliebenen Verfassungen auszeichnen. Vielmehr wertet er die sogenannte Aristokratie höher. Wenn wir uns an die Friedensproblematik zurückerinnern und gleichzeitig einen Schritt weiterdenken, erweist sich auch hier der Vorrang der richtigen Verfassungen gegenüber den verfehlten Verfassungstypen. Wenn wir zunächst an eine friedliche Ordnung innerhalb einer Polis denken (also innenpolitisch), dann sind nämlich alle drei richtigen Verfassungstypen zu einer friedlichen Regelung der Gemeinschaft imstande. 399 Da Königtum und Aristokratie über die Tugend im eigentlichen Sinne verfügen, werden sie die höheren Friedenstugenden ebenso praktizieren können wie die (niedriger bewerteten) Kriegstugenden. Somit können sie sowohl Kriege gewinnen, als auch den Frieden danach sinnvoll bewahren (im Gegensatz zu den Spartanern). Ob dies in der aristotelischen Sicht ebenfalls auf

398 So begründet er jedenfalls den Vorrang der spartanischen Verfassung vor der Mischverfassung der Nomoi (vgl. Pol. II, 6: 1265b26–33). Insofern könnten die sogenannten Aristokratien nicht nur einen Anspruch darauf stellen, der Politie überlegen zu sein (so Mulgan 1977, 102 f.), sondern sie sind es tatsächlich auch. Mulgan weist jedoch nach, dass sich die sogenannte Aristokratie aber nicht als relativ beste Verfassung für die meisten Poleis eignet (ebenda). Überdies sind die Politien stabiler als die sogenannten Aristokratien (vgl. Pol. V, 7: 1307a12–14). 399 Das Königtum sorgt für einen gerechten Interessensausgleich (vgl. ausdrücklich v. a. Pol. V, 10: 1310b40–1311a1, sowie als Nebenbeleg EN VIII, 12: 1160b2–6), ebenso auch Aristokratie (hier implizit zu erschließen, da es sich um eine gerechte Ordnung handelt) und Politie (hier wieder ausdrücklich Pol. IV, 12: 1296b34–1297a7); dagegen tun dies durchaus einige Demokratien und Oligarchien nicht, und daher sind ihre Poleis gefährdet (vgl. Pol. V, 9: 1310a2–12).

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Politien zutrifft, muss offenbleiben, denn schließlich bestehen die Haupttugenden ihrer Bürger in den kriegerischen Fertigkeiten. 400 Da Aristoteles sich nicht ausdrücklich zu dieser Frage geäußert hat, lässt sich zumindest fragen, ob eine politieregierte Polis die Griechen dauerhaft einigen könnte. Dagegen ließe sich einwenden, dass die Politiebürger wie die (sogenannt-)aristokratisch-oligarchisch regierten Spartaner hauptsächlich über kriegerische Tugenden verfügen und so höchstens zur Erringung einer Hegemonie imstande wären. So wäre also eine politieregierte Polis zwar zu einer gewissen innenpolitischen Stabilität imstande (durchaus mit dem »bewährten« Mittel des Kriegführens nach außen, um den inneren Frieden zu bewahren), aber vielleicht nicht zu einer dauerhaften interpolitischen Friedensmacht. 401 Wobei ich diese Überlegungen ausdrücklich nur als mehr oder weniger plausiblen kühnen Denkanstoß für zukünftige Interpreten verstanden wissen möchte und nicht als ein gesichertes Interpretationswissen ausgebe. 3.2.2.3 Warum Politie und heutige Demokratie nicht wesensgleich sind – eine Auseinandersetzung mit Sternberger Bevor wir uns der Demokratie zuwenden, sollten wir allerdings noch einmal einen Vergleich zwischen der Politie und unserer heutigen Demokratie anstellen. Schließlich hat der einflussreiche Politikwissenschaftler Dolf Sternberger die heutige Demokratie in einem bestimmten Umfang und trotz manch zugegebener Unterschiede mit der aristotelischen Politie verglichen. 402 Eng verknüpft damit stellt sich natürlich die Frage: Sind die Mängel der aristotelischen politischen Philosophie eigentlich mehr oder weniger leicht ausmerzbare »Unfälle« oder liegen sie tatsächlich wesentlich im System des Aristoteles begründet und können daher nicht ohne gravierende systematische Veränderungen eliminiert werden? Wenn wir nun die Grundlinien unseres Vergleiches ziehen wollen, dann sind die entscheidenden Punkte sicherlich die Gedanken der Freiheit und Gleichheit. Warum plädiere ich dafür, unsere heutige Demokratie etwa in Vgl. Pol. III, 7: 1279a39–1279b2. Balot 2015, 115–121 stellt ebenfalls ein Militarismusdefizit der Mischverfassungen dar, betrachtet jedoch ebenda, 119 f. die militärischen Tugenden als den halben Weg zum eu zên. 402 Sternberger weist übrigens daraufhin, dass Carl Schmitt ebenfalls Politie und Weimarer Demokratie stark einander angenähert hat. Vgl. Sternberger 1990b, 193 ff. 400 401

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Deutschland nicht mit der Politie des Aristoteles in einen zu engen Zusammenhang zu bringen? Hauptsächlich deswegen, weil auch die Politie im Vergleich zu unserer Demokratie zu wenig Freiheit und Gleichheit gewährt. Schon allein das Zensuswahlrecht trennt die aristotelische Politie doch sehr weit von unserem allgemeinen Wahlrecht, welches das Recht zu wählen nicht nach ökonomischen Gesichtspunkten verteilt oder verweigert. 403 Ebenso drastisch ist natürlich die konsequente Einengung des Wahlrechtes in der Politie, wenn nur die männlichen Bürger (unter Ausschluss der Ausländer, der Metöken, der Knechte und vor allem auch der Frauen) politisch mitbestimmen dürfen. Dagegen bedenkt unser System viel weitere Kreise der Einwohnerschaft eines Staates mit dem Wahlrecht, denn (noch) sind nur ausländische Mitbürger vom Wahlrecht ausgenommen (abgesehen von kommunalen Stimmrechten von EU-Bürgern). Daran geknüpft ist eine weitere Kritik, da auch in der aristotelischen Politie nur die Bürger rechtlich gleichgestellt sind, während für die Metöken oder die Knechte ein eigenes Recht existiert. Dagegen herrscht bei uns keine getrennte Rechtsprechung und von einigen Staatsbürgersonderrechten abgesehen, gelten Gesetze für alle Einwohner eines Staates in gleicher Weise. Insofern ist bei uns die vielgerühmte Isonomie für breitere Bevölkerungsschichten verwirklicht als selbst im fortschrittlichen Athen. Auch in weiteren Qualitäten 404 der Polis unterscheiden sich antike Politie und heutige Demokratie. So verwirklicht unsere Gesellschaft besser eine gewisse Grundlebensqualität als die antike Polis es getan hat (Qualität: Reichtum). Ebenfalls sicherlich höher anzusetzen als etwa im alten Athen ist die Bildung der heutigen Bevölkerung (Qualität: Bildung). Damit verknüpft spielt tendenziell die Herkunft eine kleinere Rolle als in griechischen Poleis, da über das Leistungsprinzip ein Aufstieg leichter zu bewerkstelligen ist (Qualität: Adligkeit). Wobei unsere Gesellschaft nicht idealisiert werden Jedoch muss man hier mit Rawls daran erinnern, dass noch sehr lange kein allgemeines Wahlrecht geherrscht hat oder auch nur von liberalen politischen Theoretikern gefordert wurde. Vgl. Rawls 1979, 262 f. Dies trifft leider ebenfalls auf Kant zu, der Frauen, Tagelöhner (und überhaupt die abhängig Arbeitenden) ausschließt: vgl. § 46 der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten als auch Über den Gemeinspruch, A 245 ff. und die Kritik von Habermas 1999, 186–189. Sogar der frühe Verfechter des Frauenwahlrechtes John Stuart Mill möchte den gebildeten Schichten gerne ein mehrfaches Wahlrecht einräumen (vgl. das achte Kapitel der Betrachtungen über die repräsentative Demokratie). 404 Vgl. Pol. IV, 12: 1296b17 f. 403

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sollte: Auch in unserer Gesellschaft spielt etwa ein sozialer oder politischer Hintergrund nach wie vor eine gewisse Rolle. Gerade die Probleme von Gleichheit und Freiheit bilden jedoch das Herz der Verfassungsanalyse, womit die wesentlichen Unterschiede in dieser Frage die Vergleichbarkeit dieser beiden Politien schwer gefährden. Besonders bedenklich ist jedoch, dass Sternberger ausdrücklich den sozioökonomischen Charakter der aristotelischen Verfassungsanalyse ausblenden möchte. 405 Schließlich benützt Aristoteles genau diesen angeblich vernachlässigbaren Faktor zur Kennzeichnung von Demokratie, Oligarchie und Politie; somit entfernt sich also Sternberger völlig von der eigentlich intendierten Stoßrichtung des Aristoteles. Einseitig stellt er nur auf den Mischcharakter der Politien ab, was aber nur einen Teilaspekt dieses Verfassungstypus darstellt. Hier kommt Sternberger überdies zu recht eigenwilligen Ergebnissen, wenn er unsere heutige Demokratie ebenfalls als Mischverfassung auffasst. Auch diese neue Politie soll aus demokratischen und oligarchischen Elementen bestehen. Dabei betrachtet er das Wählervolk als demokratischen Faktor und die Parteien als oligarchischen Bestandteil. 406 Zwar würde ein athenischer Radikaldemokrat unsere heutige Demokratie tatsächlich nicht als völlig demokratisch in seinem Sinne betrachten, dennoch erheben sich einige Bedenken auch gegen diese sternbergersche Analyse: Letztlich missachtet er die pejorative Semantik, die sowohl Demokratie als auch Oligarchie bei Aristoteles erhalten. Wenn Sternberger ein gewisses Zusammenspiel und eine gewisse Entfernung von Volk und Elite beschreiben will, dann geht dies eigentlich auch ohne Rückgriff auf die bei Aristoteles ziemlich anders intendierten Analysen. Ebenfalls hinterfragenswert ist die Kennzeichnung der Parteien als oligarchisch. Damit akzentuiert Sternberger den Gegensatz von Eliten und Volk, übersieht aber, dass das von Parteien beschickte Parlament auch als Spiegel der Gesellschaft gelten kann und damit heute etwa in Deutschland Volk und Parteien nicht eine derartig tiefe Kluft trennt wie im Alten Griechenland oligarchische Clubs und dêmos. Letztlich verfolgt seine Parallelisierung eine zeitkritische Zielsetzung, da er den Parteienstaat BRD als zu oligarchisch befindet und sich mit dem Rückgriff auf die von ihm normativ so bewunderte Mischung für Vgl. Sternberger 1990a, 281. Vgl. Sternberger 1990b, 196/7 mit den Erläuterungen 199–210 (vgl. auch 229), Sternberger 1990a, 277 f. und 281 sowie Sternberger 1980, 51. 405 406

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direktdemokratische Elemente wie Bürgerentscheide, -begehren oder Volkswahl des Bundespräsidenten stark macht. 407 Gleichgültig wie man zu solchen Forderungen stehen mag, erweist sich die Bezugnahme auf die antike Politie auch hier wieder als bedingt sinnvoll. Jedoch beschränkt sich Sternberger nicht allein auf die kritische Gegenwartsanalyse mithilfe der Mischverfassungslehre, sondern erklärt die aristotelische Politie zum gerechteren und erstrebenswerteren Modell an politischer Bürgergleichheit und die heutige »Politie« als überlegen an allgemeiner Menschengleichheit. Anders ausgedrückt: Hier finden sich die Menschenrechte auf ihrem bisherigen Höchststand, dort erklommen die Bürgerrechte ihren Gipfel. 408 Da die angebliche Überlegenheit der antiken Politie an Bürgergleichheit eine starke These darstellt, lohnt sich ein näherer Blick darauf. Bald müssen wir dabei feststellen, dass Sternberger die angebliche politische Gleichheit der antiken Politiebürger in ein etwas zu günstiges Licht gerückt hat. Hauptsächlich liegt dies daran, dass Sternberger keinen Unterschied zwischen Einwohnern mit Bürgerrecht und den Vollbürgern macht. 409 Gerade diese Unterscheidung ist freilich sehr wesentlich – schließlich sind nur letztere mit den vollen politischen Rechten ausgestattet. Allerdings wird sie häufig auch von anderen Interpreten übersehen, was darin begründet liegen mag, dass Aristoteles vom Bürger spricht, aber häufig eigentlich nur den Vollbürger meint: Ehrenberg hat dies anhand der Definition des Bürgers gezeigt. 410 Deutlich lässt sich die fehlende Unterscheidung von Einwohnern mit Vgl. Sternberger 1990b, 214 und 221 f. Vgl. Sternberger 1990c, 141–148. Somit ist die finstere Rückseite des Janusgesichts des antiken Bürgerstaates die Despotie im Haus. Nicht Menschlichkeit, sondern Bürgerlichkeit beherrscht laut Sternberger das Feld und konstituiert den antiken Staat (vgl. Sternberger 1990c, 146). Obwohl natürlich der Vergleich hinsichtlich der Menschenrechte eindeutige Mängel der aristotelischen Philosophie aufzeigt, dürfen wir gemäß meiner Interpretation bei Aristoteles doch nicht von einem frühen Verfassungsstaat gänzlich ohne Menschenrechte ausgehen (vgl. Sternberger 1990a, 294 f.). 409 Keyt vermag eine häufig beklagte Inkonsistenz zwischen Pol. III, 4 und Pol. VII, 13 in der Frage nach der Identität von gutem Bürger und gutem Menschen in einer guten Polis aufzulösen, indem er zwischen einem weiten und einem engen Bürgerbegriff unterscheidet. Vgl. Keyt 2007, 225 f. 410 Vgl. Ehrenberg 1965, 50. Problematisch daher die Auskunft von Kallhoff: »Jeder, der dem Bürgerstand zugerechnet werden kann, hat gleichermaßen die Möglichkeit, an politischen Entscheidungen und politischen Ämtern teilzuhaben. Der Bürger nimmt an Versammlungen teil, in denen […] alle ein Stimmrecht haben.« (Kallhoff 2013, 57). Dies trifft jedoch nur auf Vollbürger zu, nicht aber auf alle freien Bürger und überdies hat auch nicht jeder Vollbürger die Möglichkeit, sämtliche Ämter zu 407 408

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Bürgerrecht und Vollbürgern im Buch Drei Wurzeln der Politik beobachten: In den Kapiteln 2 und 3 des Aristotelesteils unterscheidet Sternberger nur zwischen bloß Stimmberechtigten und Amtsträgern. 411 Da Sternberger die wichtige Differenz von Einwohnern mit Bürgerrecht und Vollbürgern nicht berücksichtigt, kommt er zu Annahmen wie folgender: Laut Sternberger sind in der Politie alle Bürger politisch gleich, was sie wesentlich von Aristokratien oder Oligarchien unterscheide. 412 Jedoch stimmt diese These auf keinen Fall. Einerseits können wir nur die Vollbürger betrachten, die aber auch in den Aristokratien oder Oligarchien als Gleiche anzusehen sind. Andererseits ist auch eine Analyse der politischen Rechte der Einwohner mit Bürgerrecht möglich: Hier ergibt sich indes auch für die Politie, dass die Zahl der Einwohner mit Bürgerrecht und die Menge der Vollbürger nicht identisch sind. 413 Schließlich herrscht in einer Politie ein Zensus, der somit die Einwohnerschaft in verschiedene Gruppen mit ungleichen Rechten spaltet. So können nur solche Bürger zu Vollbürgern gezählt werden, die in eine bestimmte Steuerklasse fallen. Damit ergibt sich freilich eine stärkere Gleichheit der Vollbürger in Aristokratien und Oligarchien als Sternberger dies unterstellt, und eine ausgeprägtere Ungleichheit zwischen Bürgern in Politien als er dies wahrnimmt. Obwohl Sternberger dies an den letztgenannten Stellen als aristotelische Lehre herausstellt, begreift Aristoteles das Königtum und die Aristokratie gerade nicht als despotische Herrschaftsverhältnisse. 414 Was Sternberger als Gemeinsamkeiten der alten und neuen Politie ausgibt, deckt sich also nicht mit der aristotelischen Charakterisierung der Politie bzw. manche Punkte der sternbergerschen Kriterien treffen für Aristoteles nicht allein auf Politien zu, sondern bekleiden. Einen Fingerzeig zum Unterschied zwischen Vollbürger und dem »normalen freien Bürger« erhalten wir in Pol. III, 5: 1277b33–1278a2. 411 Vgl. Sternberger 1978, 115–118 sowie 134. 412 Vgl. Sternberger 1990c, 138 und Sternberger 1990a, 260. 413 Ähnliche Probleme plagen Mulgan, der daher dem Aristoteles unbemerkte Konsequenzen seines Bürgerbegriffs vorwirft (vgl. Mulgan 1977, 60 f.). Da Mulgan ebenfalls nicht zwischen Vollbürgern und Einwohnern mit Bürgerrecht unterscheidet, kommt er ebenso wie Sternberger zur Annahme der Koextensionalität von »citizen body« und »supreme body« und bemängelt, dass in einer Oligarchie die Regierenden gar nicht als wenige angesprochen werden könnten, da nur die Angehörigen des »supreme body« überhaupt Bürger seien. 414 Vgl. dazu die Charakterisierung der despotischen Herrschaft durch Sternberger 1980, 46 f.

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kennzeichnen auch Aristokratien oder Königsherrschaften. Beispielhaft lässt sich dies abschließend noch einmal an einer Aufzählung angeblicher Parallelen des alten und neuen Politietypus zeigen: An einer Stelle 415 zieht Sternberger folgenden Vergleich: Beide Politietypen seien 1) politische Gemeinschaften, also nicht despotisch beherrschte Gebilde, 2) lebten die Politien nach vereinbarten Regeln, also Verfassungen, 3) handle es sich bei beiden Politien um Mischverfassungen, 4) beachteten sie das Prinzip der Gesetzlichkeit, 5) kennen sie einen Pluralismus und die Gleichheit in der Freiheit, d. h. die Bürgerlichkeit. Unstrittig erfüllen Aristokratie und Königtum für Aristoteles die Punkte 1 416, 2, 4; da Punkt 5 mit 1 zusammenhängt, trifft dies für unseren Denker wahrscheinlich auch auf die genannten Verfassungen zu (wobei dieser Punkt unter verschiedenen Interpreten des Aristoteles sicherlich umstritten sein kann). Bloß Punkt 3 decken Königtum und Aristokratien nicht ab, wenn es um eine Mischung zwischen verschiedenen Verfassungstypen geht. Somit zeigt sich an Sternberger exemplarisch die Schwierigkeit, die aristotelische Begrifflichkeit ohne Missverständnisse positiv auf die moderne Situation umzumünzen.

3.3 Despotische Polisordnungen 3.3.1 Der Typus der Demokratie 3.3.1.1 Die Demokratie als soziologisch disproportionierte Herrschaft der Armen Wenn wir uns nun der Demokratie zuwenden, interessiert zunächst wieder als Erstes die Frage nach ihrer soziologischen Charakterisierung. Dabei erlebt der moderne Leser rasch eine wichtige Überraschung. Bekanntlich sind wir gewohnt, unter der Demokratie die Herrschaft des ganzen Volkes (genauer gesagt der Gesamtheit der erwachsenen Staatsbürger abzüglich etwa der Unmündigen) zu verstehen. Demgegenüber gibt es jedoch im Alten Griechenland sowohl

Vgl. Sternberger 1990c, 154. Wobei natürlich ein Königtum zwar keine politische Regierungsform darstellt, sondern eine königliche, aber dennoch mit ihr darin übereinstimmt, dass es sich um eine freiwillig anerkannte und gerechte Gemeinschaftsordnung handelt. 415 416

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eine inklusive 417 als auch eine exklusive Lesart dieses Begriffes, der im ersten Fall die ganze Bürgerschaft meint, im zweiten Fall in meist pejorativer Bedeutung die Armen. 418 Hier schließt sich Aristoteles der antidemokratischen 419 Deutung an, denn bei ihm bedeutet dêmos nicht die Gesamtheit der Freien, sondern beschreibt nur einen wichtigen Teil. Insofern ist die Übersetzung der Demokratie mit Volksherrschaft in unserem Zusammenhang eher irreführend, da die meisten Leser dabei an die gesamte freie Bürgerschaft denken. Was meint Aristoteles aber genauer, wenn er die Demokratie als Herrschaft des dêmos beschreibt? 420 Wie bereits angedeutet, teilt er nicht die moderne Auffassung von Demokratie als Herrschaft aller Bürger: Stattdessen handelt es sich für ihn beim dêmos um einen Teil (und nicht die Gesamtheit) der Bürgerschaft, nämlich um die Armen. 421 Dabei stellen sie ebenso wie ihre reichen Gegenspieler ausdrücklich ein Extrem dar, und somit ist auch die Demokratie eine Herrschaft einer einseitig verfahrenden Teilgruppe. So ist jede Demokratie der soziologische Ausdruck eines Ungleichgewichts in der Gemeinschaft, denn sie entsteht, wenn die Zahl der Armen das rechte Maß überschreitet. 422 Dies unterscheidet sie auch in ihrer besten Form von der Politie; dies muss gegen Wood/Wood 423 und andere festgehalten werden: Schließlich überwiegt sogar in der besten Demokratie ein Teil des dêmos, nämlich die Bauern. 424 Demgegenüber ist die Politie ja als Herrschaft des Mittelstandes gekennzeichnet, wo417 Als Beispiel mag eine Rede von Demosthenes angeführt werden, in der dieser einen Reichen anklagt und über den Umweg der eingeschränkten Bedeutung (»Arme«) letztlich dann doch zum dêmos in seiner umfassenden Bedeutung zurückkehrt. Vgl. Mossé 2013, 262. Interessanterweise findet sich an einer Stelle bei Thukydides die partikulare Bedeutung von dêmos sogar auf eine nichtdemokratische »Partei« angewandt (darauf weist Gehrke 1985, 310 hin). 418 Vgl. Raaflaub 2013, 341. 419 Im Selbstverständnis der Demokraten war nämlich der dêmos tatsächlich die ganze Bürgerschaft (vgl. Hansen 1995, 128). 420 Etwa Pol. III, 6: 1278b11 f. 421 Dass der dêmos ein Synonym für die Armen darstellt, ergibt sich aus Pol. IV, 11: 1296a22–27 und Pol. V, 4: 1304a38–b1. Noch Alexis de Tocqueville fasst übrigens in seinem berühmten Werk Über die Demokratie in Amerika die Demokratie als Herrschaft der Armen auf. Vgl. de Tocqueville 1959, 241. 422 Vgl. Pol. IV, 12: 1296b24–31. Welche Gruppen soziologisch zum dêmos gehören, behandelt Aristoteles besonders erschöpfend in Pol. IV, 4: 1291b15–28. 423 Wood/Wood hingegen behaupten, dass die beste Demokratie und die beste Oligarchie dasselbe wie die Politie wären. Vgl. Wood/Wood 1978, 245. 424 Vgl. Pol. IV, 12: 1296b24–29.

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mit sie sich bereits soziologisch in einer wichtigen Hinsicht markant unterscheiden. An dieser Stelle sei gegen De Ste. Croix bemerkt, dass in den Büchern IV–VI zwar die Bedeutung soziologischer Betrachtungen höher ist als in den anderen Büchern, aber dies dennoch keine marxistischen Interpretationen zulässt. 425 So spielt der Antagonismus zwischen armem dêmos und reichen Oligarchen eine wichtige Rolle und faktisch-realpolitisch vermutlich sogar die wichtigste, dennoch betrachtet Aristoteles auch im V. Buch der Politik als den wichtigsten normativen Gegensatz in einer Polis den Gegensatz zwischen Tugend und Untugend und nicht denjenigen zwischen Reich und Arm. 426 Grundsätzlich lässt sich der dêmos dabei übrigens durch niedrige Geburt, Armut und Unbildung charakterisieren. 427 Anhand mehrerer Beispiele zeigt uns Aristoteles noch einmal nachdrücklich, inwiefern sich sein dêmos-Begriff vom modernen Volksbegriff unterscheidet: Wenn in einer Polis die herrschenden Reichen in der Mehrheit wären, würde laut Aristoteles trotzdem niemand diese Bürgerschaft als demokratisch bezeichnen. 428 Somit kann das wesentliche Kriterium für die Unterscheidung von Demokratie und Oligarchie nicht die quantitative Frage nach Mehrheit und Minderheit sein. 429 Daher definieren wir die Demokratie am besten dadurch, dass sie die Herrschaft der freien Armen ist, welche auch die Mehrheit der Bürgerschaft stellen. 430 An dieser Stelle könnte vielleicht eingewendet werden, ob die aristotelische Kennzeichnung der Demokratie nicht einfacher wiedergegeben werden kann: Handelt es sich bei der Demokratie nicht einfach um die Herrschaft der Mehrheit der Bürger? Tatsächlich geht dieser Einwand am aristotelischen Gedanken vorbei. Abgesehen davon, dass dadurch die für Aristoteles entscheidende soziologische Komponente verloren geht, übersieht er einen zentralen Punkt völlig: Vgl. De Ste. Croix 1981. Vgl. Pol. V, 3: 1303b15 f. Ähnlich Ober 1998, 331. 427 Vgl. Pol. VI, 2: 1317b40 f. 428 Vgl. Pol. IV, 4: 1290a30–b20. Übrigens ist dieser Fall nicht völlig ausgedacht, da Kolophon früher tatsächlich von einer reichen Mehrheit regiert wurde (vgl. Pol. IV, 4: 1290b14–17). Mulgan hält die Herrschaft einer armen Minderheit für einen Widerspruch zur arithmetischen Gleichheit als Vorbedingung für Freiheit, da bei Anwendung der arithmetischen Gleichheit die reiche Mehrheit zur Macht käme. Vgl. Mulgan 1991, 316 f. 429 Obwohl natürlich meist die Reichen in der Minderheit und die Armen in der Mehrheit sind (vgl. Pol. III, 8: 1279b31–1280a6). 430 Vgl. Pol. IV, 4: 1290b17–19. 425 426

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Auch in oligarchischen oder aristokratischen Regierungsformen entscheidet die Mehrheit der Vollbürger. 431 Möglich wird dieser auf den ersten Blick verwirrende Sachverhalt dadurch, dass bekanntlich die verschiedenen Regierungsformen verschiedene Anforderungen an Aktivbürger stellen. So gilt zwar in all diesen genannten Verfassungen, dass die Mehrheit der Aktivbürger die Politik lenkt. Jedoch unterscheiden sie sich darin, dass die Demokraten keine weiteren Ausschlusskriterien formulieren (oder nur leicht zu überwindende; etwa einen extrem niedrig bemessenen Zensus) und daher (fast) alle freien Bürger zu politisch gleichberechtigten Vollbürgern erklären 432. Dagegen kennen die Aristokratie (Schranke der Tugend) oder Oligarchie (Schranke des Reichtums) engere Ausschlusskriterien, sodass nicht alle freien Bürger tatsächlich regierungsberechtigte Vollbürger sind. 3.3.1.2 Die rechtstheoretische Kritik des Aristoteles an Radikalund Extremdemokratien Nachdem wir nun gesehen haben, dass für Aristoteles jede Demokratie durch ein Übergewicht des armen und in seinen Einzelteilen weitgehend qualifikationslosen dêmos gekennzeichnet ist, ist seine Einordnung der Demokratie unter die despotischen Verfassungstypen wohl zu einem guten Teil einsichtig geworden. Schließlich beschreibt er in der berühmten Schilderung der despotischen Verfassungstypen in Pol. III, 6+7 diese als eigennützig und keineswegs gemeinwohlorientiert: Wie wir bereits teilweise erarbeitet haben und in den nächsten Kapiteln auch für die Demokratie ausdrücklich bestätigt finden, ist der dêmos für Aristoteles eben von solch einem einseitigen Egoismus geleitet und beachtet die Ansprüche der anderen Gruppen nicht in gebührendem Ausmaße. Überdies werden wir nun in diesem und dem folgenden Kapitel sehen, dass er die Demokratie als Gegner einer Herrschaft des Rechts charakterisiert und somit die Demokratie die »rule of law« zugunsten einer »rule of man« abzulehnen scheint. Auf den ersten Blick scheint dieser Befund recht zweifelhaft zu sein: Hat nicht schon der bekanntVgl. Pol. IV, 8: 1294a11–14 und Pol. IV, 4: 1290a31 f. Pol. IV, 4: 1290b1 lässt daher dann eine Demokratie bestehen, wenn die Freien kyrioi sind: Gemeint ist damit – wie bereits erläutert – die Herrschaft der bloß Freien, die über keine weiteren Qualifikationen verfügen (vgl. die polemische Charakterisierung in Pol. III, 11: 1281b24 f.: toioutoi d’eisin hosoi mête plousioi mête axiôma echousin aretês mêde hen.) 431 432

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lich wenig demokratiefreundliche Platon immerhin eine gesetzliche von einer ungesetzlichen Demokratie unterschieden? Beharrt nicht Aristoteles selbst vehement gerade gegenüber seinem ehemaligen Lehrer darauf, dass es nicht nur einen Typus von Demokratie gebe? 433 Haben wir nicht bereits öfters gehört, dass es in fast allen 434 Subtypen einer Demokratie oder Oligarchie noch eine »rule of law« gibt – auch wenn natürlich gemäß den Lehren von Pol. III, 10 eingeschränkt werden muss, dass dies noch keine herausragende normative Güte garantiert? Entsprechend stehen uns nun mehrere Aufgaben bevor: Erstens müssen wir klären, inwiefern die radikalen und extremen Demokraten einer »rule of law« untreu werden (Kapitel 3.3.1.2); zweitens müssen wir dann im nächsten Kapitel die dringende Frage klären, welcher Subtypus überhaupt die Verfassung am besten wiedergibt und insofern für repräsentativ gelten kann (Kapitel 3.3.1.3): Nur wenn Aristoteles die radikalen oder extremen Demokratien als wahre Vertreter der Demokratie ansieht (und nicht etwa die besten Subtypen), nur dann dürfen wir dem Grundtypus der Demokratie die »rule of law« absprechen. Unabhängig von der Auflösung dieser Frage ist natürlich auch die Frage nach der normativen Ausrichtung, der Qualität ihrer normativen Ziele, entscheidend für ihre Bewertung als despotisch oder politisch (Kapitel 3.3.1.4). Last but not least darf die Demokratiekritik von Aristoteles nur dann als Kritik an den damals existierenden Demokratien gelten, wenn der Idealtypus auch tatsächlich der häufigste Subtypus ist (Kapitel 3.3.1.6). Besonders interessant für unsere erste Frage ist die Gegenüberstellung von Gesetzesdemokratien und reinen Abstimmungsdemokratien. Dabei stellt Aristoteles die Gesetzesdemokratien als bessere Formen der Demokratie dar, da sie durch die Gesetzesherrschaft immerhin über eine geregelte Verfassung verfügen und in ihr die besten Bürger die prohedria innehaben. 435 Hier muss allerdings noch einmal 433 Sokrates wird für ein derartiges Versäumnis gerügt (vgl. Pol. V, 12: 1316b25–27 und Pol. IV, 1: 1289a8–25). Demgegenüber weist Aristoteles dringlich darauf hin, dass es nicht nur eine Art von Demokratie gebe: Vgl. etwa stellvertretend Pol. IV, 1: 1289a8–10 und Pol. IV, 11: 1296b4 f. Verschiedene Aufzählungen der Demokratiesubtypen finden sich in Pol. IV, 4 (v. a. 1291b15–1292a38) sowie Pol. IV, 6: 1292b22– 1293a12. 434 Ausgenommen natürlich den schlimmsten Subtypus. 435 Vgl. Pol. IV, 4: 1292a7–9. Allerdings zeigt Pol. V, 8: 1309a27–32 deutlich, dass eine prohedria allein noch nichts Besonderes aussagen muss. Gerade für die beste Demo-

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daran erinnert werden, dass die Gesetzesgeleitetheit allein noch nicht für normative Güte bürgt. 436 Schließlich können gemäß der in der Fußnote angeführten Stelle in Pol. III, 10 auch demokratische Gesetze ungerecht sein. 437 Entsprechend können wir trotz ihrer Erträglichkeit die beste Demokratie – wie bereits hinreichend dargelegt – nicht mit der Politie gleichsetzen. In einem der nächsten Kapitel werden wir zudem sehen, dass das normative Ziel der Demokratie nicht ausreichend für das Erreichen des Gemeinwohls ist, womit sie sogar im günstigeren Fall der Gesetzesgeleitetheit dennoch normativ nicht im eigentlichen Sinne erstrebenswert ist. Insofern dürften Reihendienst und Gesetzesorientierung nicht ausreichend sein, um eine Polis vor den Privatinteressen der Regierenden zu bewahren. 438 Zwar ist die Gesetzesgeleitetheit ein positives Merkmal verglichen mit gesetzlosen Extremdemokratien, da sie weniger Raum für Willkür lässt und auch für mehr Rechtssicherheit sorgt. Jedoch ist nicht notwendigerweise jede gesetzesgeleitete Regierungsform normativ tatsächlich gut. Noch weitaus bedenklicher in der Sicht des Aristoteles sind natürlich die radikalen und extremen Demokratien, die er besonders prominent in Pol. IV, 4, Pol. IV, 6 und Pol. VI, 4 schildert: Wenn wir diese Stellen zusammenschauen, ergeben sich einige Haupt- und kratie gilt jedoch tatsächlich, dass sie normativ insofern erträglich ist, da in ihr die Besten tatsächlich auch in den höchsten Ämtern vertreten sind und sie somit einen gewissen Einfluss auf die Politik nehmen können (vgl. die Schilderung der bäuerlichen Demokratie in Pol. VI, 4): Jedoch ist dieser positive aristokratische Einfluss durch mehrere Faktoren gebremst: Zunächst sei daran erinnert, dass es sich immer noch um eine Demokratie handelt, womit also immer noch dem dêmos ein Übergewicht zugesprochen wird (und sei es in der Form eines schlafenden Riesen). Somit können zweitens aristokratische Vorstellungen bloß wesentlich vorsichtiger verwirklicht werden und ist damit die Ausrichtung der Polis eben nicht eine aristokratischdemokratische Mischverfassung; ebenso ist drittens daran zu denken, dass eine solche Demokratie als Demokratie den Ämtern kleinere Kompetenzen zugesteht und der ekklêsia mehr Macht einräumt (vgl. die gemeinschaftlichen Eigenschaften aller Demokratien in Pol. VI, 2). 436 Vgl. noch einmal das bereits häufig zitierte Pol. III, 10: 1281a34–39. 437 Ebenso sei daran erinnert, dass Pol. IV, 8: 1294a4–7 die eunomia nicht allein darin sieht, Gesetzen zu gehorchen, sondern guten Gesetzen (denn auch schlechten könne man gehorchen). Insofern ist Schütrumpf 1991b, 495 Anm. 66,35 vermutlich etwas optimistisch, wenn er für IV–VI das Faktum, dass Gesetze beachtet werden, zu einem positiven Qualitätsmerkmal erhebt. Man müsste vielleicht etwas vorsichtiger formulieren, dass damit die allerschlimmsten tyrannischen Auswüchse der verderbtesten Subtypen vermieden werden. 438 So aber Aubenque 1993, 260.

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Nebencharakteristika für eine radikale Demokratie. Besonders wichtig sind Aristoteles folgende vier Hauptkriterien, damit wir von einer radikalen Demokratie sprechen können: 1) Persönliche Herrschaft des dêmos bzw. der Demagogen statt der »rule of law«, kennzeichnend dafür ist die weitgehende Ablösung der Gesetze durch psêphismata, 2) Machtverlust der Ämter, stattdessen übergroße Macht der Volksversammlung, 3) Teilhabe aller an der Macht und 4) Ausbezahlung eines Tagesgeldes (misthos). 439 Als Nebenmerkmale scheint er eine relativ große, städtische Bevölkerung, ein laxes Bürgerrecht und die Bestellung der Ämterinhaber größtenteils durch Los aufzufassen. Wenn ich diese Punkte knapp resümieren möchte, handelt es sich bei einer radikalen Demokratie also in erster Linie um eine Machtstruktur, die in der Sicht des Aristoteles nicht mehr den Gesetzen die höchste Autorität zuordnet, sondern die Mehrheit der Bürger entscheiden lässt. Typisch und sehr verhängnisvoll ist die angebliche Tendenz der Radikaldemokratien, dass sie die allgemeinen Gesetze zugunsten einzelner Volksbeschlüsse (psêphismata) aufgibt. Gewissermaßen fällt mit der Allgemeinheit des Gesetzes auch die Vernünftigkeit in der Politik. Hand in Hand geht damit die zweite besonders wichtige Fehlentwicklung einer radikalen Demokratie: Sie entmachtet die Ämter weitgehend und setzt stattdessen besonders auf eine wichtige Rolle der Volksversammlung. Auch hier lässt sich also die für Aristoteles sehr problematische Machtverlagerung weg von den allgemein-vernünftigen unpersönlichen Gesetzen hin zu den problematischen, da emotionalen Einzelentscheidungen von Menschen beobachten. In der Beobachtung des Aristoteles entscheidet der dêmos indes häufig nicht unbeeinflusst, sondern ergibt sich immer wieder willig der Verführungskunst skrupelloser Demagogen. Diese Schwäche liegt wiederum in der soziologischen Zusammensetzung der Vollbürgerschaft begründet, denn die radikale Demokratie lässt – wie erwähnt – alle Bürger an der Macht teilhaben, und Aristoteles billigt dem großen Teil des Volkes (den »Beliebigen«) kaum ein eigenständiges Urteilsvermögen zu 440. Last but not least wird diese Teilhabe 439 Eine abweichende Liste von Hauptkriterien gibt Strauss 1991, 217: 1) Wichtiger Einfluss der Demagogen, 2) Herrschaft der gewöhnlichen arbeitenden Bürger (speziell der Ruderer), 3) staatliche Diäten und 4) das Volksgericht als Herr über Rat und Ämter. 440 Vgl. Pol. II, 9: 1270b28–30.

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aller an der Macht, die hier ja besonders in der Volksversammlung liegt, durch die Ausbezahlung eines Taggeldes, des sogenannten misthos, ermöglicht, was das vierte und letzte Hauptkriterium darstellt. Daneben beobachtet Aristoteles in den weniger wichtigen Nebenkriterien, dass die radikalen Demokratien häufig bevölkerungsreich und im Gegensatz zur besten bäuerlichen Demokratie städtisch geprägt seien. Überdies meint er, dass die radikalen Demokratien häufig ein eher laxes Bürgerrecht hätten, das nur ein einziges legitimes Vollbürgerelternteil für die Weitergabe des vollen Bürgerrechts fordere. Ebenso werden die Ämterinhaber größtenteils durch Los bestellt und nicht – wie es oligarchische Sitte sei – gewählt. 441 Verheerend sind für die Aristoteles die Konsequenzen solcher Radikaldemokratien: Hier seien also nicht mehr die Besten unter den Bürgern die Regierenden, sondern der Pöbel in seiner Gesamtheit reiße die Herrschaft an sich. Ungebremst von lästigen Gesetzen werde die Menge völlig maßlos und übe gar eine despotische Herrschaft über die Besten aus, so Aristoteles. Sehr bezeichnend ist die aristotelische Parallelisierung der extremen Demokratie mit der Tyrannis: So wie die Tyrannis die Willkürherrschaft eines Einzelnen darstelle, so sei eine Radikaldemokratie eben die Tyrannis vieler; die Volksbeschlüsse unterschieden sich kaum von tyrannischen Befehlen, die Demagogen 442 ähneln den Schmeichlern am Tyrannenhof, und die extremdemokratische Herrschaft führe ebenso wie das tyrannische Regime zu einer despotischen Herrschaft über die Besseren. 443 Mit dem Wegfall der rechtlichen Ordnung werde also die Macht des Pöbels ungebremst-grenzenlos und ebenso seine Ungerechtigkeit. Eindringlich warnt uns Aristoteles vor solchen Fehlentwicklungen der Ämterauflösung und der Gesetzesentmachtung in psêphis-

441 Man mag sich hier wundern, wieso Aristoteles dies nicht als Hauptkriterium auffasst, da er doch sonst Ämter für so wichtig hält: Hier liegt des Rätsels Lösung sicherlich darin, dass die Ämter in Radikaldemokratien ohnehin eher unwichtig sind, entsprechend ist die Art ihrer Bestellung nicht zentral. Dies zeigt sich auch in Pol. V, 5: 1305a28–32, da hier Aristoteles ohne Probleme eine extreme Demokratie (mit Herrschaft des Volkes über die Gesetze) beschreiben kann, welche die Beamten wählt. 442 Vgl. Pol. IV, 4: 1292a4–23, Pol. V, 11: 1313b38–41 und Pol. V, 10: 1312b34–38. 443 Neben der ausdrücklichen Schilderung der Herrschaft der Masse als despotisch in Pol. IV, 4: 1292a15–19 weisen bei Aristoteles die häufigen Parallelisierungen der extremen Demokratie mit der Tyrannis darauf hin. Neben der gerade behandelten Stelle geschieht dies etwa in Pol. V, 11: 1313b38–41 oder Pol. V, 10: 1312b5 f.

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ma-Demokratien 444. Da jedoch die Mindestkriterien für den Rechtsstatus »Verfassung« in Gesetzlichkeit (allgemeine Regeln) und Bürokratie (als Regler des Einzelnen) bestehen, müssen wir solchen Extremformen eigentlich den Rang einer Verfassung aberkennen. 445 Wenn jedoch von Aristoteles die Verfassung als Ordnung der Bürger bzw. der Polis bestimmt wird, 446 müsste daraus in einer gewissen Weise der Zusammenbruch der Gemeinschaftsordnung resultieren. Wie wir gesehen haben, hält Aristoteles ja eine gewisse Regelung des Verhaltens der Bürger durch juristische Normen für unumgänglich. Nun würde freilich ein überzeugter Parteigänger einer extremen Demokratie diese Charakterisierung sicherlich nicht akzeptieren und dagegen einwenden, dass es mit den psêphismata sehr wohl noch rechtlich verbindliche Normen gebe. Genau hier setzt die Kritik von Aristoteles an, denn gerade die psêphismata bilden für ihn das Grundübel der Extremdemokratien. Wenn nämlich der dêmos erstens mit diesen Abstimmungen alles zu regeln versucht und damit die Gesetze ersetzt sowie zweitens die Beamten entmachtet und sich selber an deren Stelle setzt, so dürfen wir dies nicht mehr als eine Verfassung ansprechen. Gerade die allgemeinen Regelungen der Gesetze und die Anwendung dieser allgemeinen Regeln auf den Einzelfall durch die Beamten betrachtet Aristoteles als notwendige Merkmale jeder Verfassung. 447 Somit kann man nicht mehr von einer Verfassung im eigentlichen Sinne sprechen, wenn diese Merkmale nicht zutreffen. Insofern kann man die Abstimmungsdemokratien laut Aristoteles also eben doch nicht mehr als Verfassungen charakterisieren. Schließlich müssen Verfassungen und Gesetze für Aristoteles notwendig allgemeine Regeln aufstellen, während die Abstimmungen ja stets nur Einzelnes betreffen. Hier hilft ein Rückblick auf die Diskussion rund um die Proble-

444 Ehrenberg kritisiert diese Gegenüberstellung von nomos und psêphisma als unzutreffend. Vgl. Ehrenberg 1965, 69. 445 Vgl. Pol. IV, 4: 1292a4–37. Leo Strauss unterschätzt etwas die Wichtigkeit der Gesetze für die Verfassungstheorie. Vgl. Strauss 1977, 140. 446 Zunächst führt er die politeia in Pol. III, 1: 1274b38 ganz allgemein als Ordnung der Gesamtheit aller Einwohner ein, schränkt sie aber sofort auf die für seine Zwecke allein wichtige Frage nach den Bürgern ein und bestätigt so, dass die Verfassung vorrangig als Ordnung der Bürger aufzufassen ist. In Pol. IV, 1: 1289a15–18 findet sich ebenfalls die Bestimmung der Verfassung als Grundordnung der Poleis. In Pol. VII, 4: 1326a29–33 werden die Gesetze ebenfalls als Ordnung bezeichnet. 447 Vgl. Pol. IV, 4: 1292a30–34.

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matik der Herrschaft der vollkommenen Gesetze versus Herrschaft des vollkommenen Mannes den Hintergrund dieser Lehre zu verstehen. Knapp zusammengefasst hält Aristoteles die Herrschaft der Gesetze deswegen für normativ höherstehend als die Herrschaft des Menschen, weil die Gesetze durch ihre Allgemeinheit idealerweise unparteiischer und im besten Fall als eine Art institutionalisierter logos aufzufassen seien, während der Mensch zwangsläufig von Gefühlen affiziert sei. Insofern bilde das Gesetz eine zuverlässigere Richtschnur als die willkürlicheren Entscheidungen des Menschen. 448 Gewissermaßen fällt mit der Allgemeinheit des Gesetzes auch die Vernünftigkeit in der Politik. Aus all diesen genannten rechtstheoretischen Gründen spricht Aristoteles der extremen Demokratie den Status als Verfassung ab. Damit findet er eine rechtstheoretisch elegantere Lösung, den Extremformen der verfehlten despotischen Verfassungen ihren Ordnungscharakter abzusprechen. Platon hingegen argumentiert in den Nomoi rechtstheoretisch bedenklicher damit, dass Demokratie, Oligarchie und Tyrannis als Parteienherrschaften zu verstehen seien, welche die ganze Macht an sich reißen und daher eine nicht freiwillige Gewaltherrschaft über die Unterlegenen ausüben. 449 Damit begründet er jedoch seine Haltung eher moralisch als rechtstheoretisch, was größeren Widerspruch hervorruft und argumentativ weniger überzeugt. Dagegen stimmen Platon und Aristoteles darin überein, dass sie die Extremformen der Demokratie für eine despotische Unterdrückung der eigentlich Besten halten, womit beide sie als Herrschaft der nackten Gewalt wider jedes Recht charakterisieren. Neben der ausdrücklichen Schilderung der Herrschaft der Masse als despotisch in Pol. IV, 4: 1292a15–19 weisen bei Aristoteles die häufigen Parallelisierungen der extremen Demokratie mit der Tyrannis darauf hin. 450 Schließlich übersteigern laut Aristoteles solche Exzesse die ohnehin vorhandene Schlagseite der verfehlten Herrschaftsformen, dass sie eine Herrschaft der Macht über das Recht darstellen: Anstelle

448 Zu diesem ganzen Abschnitt vergleiche Rhet. I, 1: 1354a31–b16, Pol. III, 15: 1286a17–20, Pol. III, 16: 1287a28–32, EN V, 10: 1134a35–1134b1 und Pol. II, 10: 1272b5 f. 449 Vgl. Nomoi VIII. Buch 832b–c mit Nomoi IV. Buch 715a–b. 450 Neben den bereits erwähnten Stellen (v. a. aus Pol. IV, 4+5) geschieht dies etwa in Pol. V, 11: 1313b38–41 oder Pol. V, 10: 1312b5 f. Entsprechend entsteht aus radikalen Demokratien leicht eine Tyrannis (vgl. Pol. IV, 11: 1296a3 f.).

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der Gesetze haben nun eben (schlechte) Menschen das kyrion inne. 451 Wenn nun sogar das Recht, verkörpert in den Gesetzen, fast völlig zur Seite gedrängt wird, dann herrscht schlussendlich die Willkür der mächtigen Masse. Somit kennzeichnet laut Aristoteles die extremen Varianten der verfehlten Verfassungen, dass sie die (im besten Fall) vernünftig-allgemeinen Gesetze tendenziell durch willkürliche Einzelentscheidungen ersetzen. 452 Daher zeigt die Problematik der extremen Verfassungssubtypen noch einmal deutlich, dass die Bürgerschaft wesentlich als Rechtsordnung aufzufassen ist. Wenn nämlich die Gemeinschaften auf die Gesetzlichkeit (als Rechtsmittel) verzichten, müssen wir ihnen laut Aristoteles den Status einer rechtlich geordneten Bürgerschaft (politeia) verweigern. Nun fällt mit der (juristisch-politischen) Rechtsordnung letztlich auch die (soziale) Gemeinschaftsordnung, wie die Auflösung der sozialen Strukturen in Extremdemokratie und Tyrannis nachdrücklich zeigt. So ähneln sich Tyrannis und extreme Demokratie etwa darin, dass sie ein Matriarchat im Haushalt und ein großzügiges Verhalten gegenüber den Sklaven bevorzugen. 453 Wie auch schon früher Platon wirft Aristoteles der vollendeten Demokratie also vor, dass sie angeblich natürliche Sozialbeziehungen umkehre und so die »natürliche Ordnung« auf den Kopf stelle. Aber nicht nur im kleinen Haushalt, sondern auch in der großen Gemeinschaft der Polis führt für ihn eine vollendete Demokratie zur Abweichung gegenüber der besten Ordnung: Damit lösen sich in Extremdemokratien sowohl die politisch-rechtliche Verfassungsordnung als auch die weitere soziale Gemeinschaftsordnung letztlich auf. Wie einige Überlegungen des Aristoteles zu Recht und Macht in der Demokratie zeigen, soll dies keineswegs zufällig sein. Vielmehr äußert sich für ihn in der berühmten Maxime »Leben können, wie

451 Vgl. etwa Pol. IV, 4: 1292a15–17 und Pol. IV, 6: 1293a9 f. bzw. 1293a30–34 ganz allgemein für die quasi-monarchistisch extremen Subtypen aller despotischen Verfassungsformen. 452 Kraut beleuchtet diesen Sachverhalt aus einer leicht anderen Perspektive, wenn er herausstellt, dass in den Extremformen die Gesetze keine Rolle mehr spielen, sondern nur noch Menschen regieren. Vgl. Kraut 2002, 106. 453 Vgl. Pol. V, 11: 1313b33–41 und Pol. VI, 4: 1319b27–32. So herrschen laut Aristoteles die Minderwertigen über diejenigen, die eigentlich regieren sollten. Allerdings scheint Aristoteles nicht bemerkt zu haben, dass er sich in dieser Frage selbst widerspricht: An einer anderen Stelle bemerkt er nämlich, dass die Armen ihre Frauen und Kinder als Knechte behandeln (vgl. Pol. VI, 8: 1323a5 f.).

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man will« eine anarchistische Grundtendenz der Demokraten. Somit betrachten sie Gesetz und Regierung als Einschränkung ihrer Freiheit, weswegen der aus Sicht des Aristoteles übersteigerte Egalitarismus und Freiheitsdurst der Demokraten im wahrsten Sinne des Wortes eine An-archie wünsche und sich ein echter Demokrat gegen Regierung überhaupt ausspreche. 454 Daher gibt eine solche Beschreibung schwerlich das Selbstverständnis der Demokraten richtig wieder. 455 Schließlich waren die Demokraten zwar stolz auf ihr Freiheitsverständnis, das sie aber keinesfalls derart anarchistisch gelesen wissen wollten. Vielmehr würden sie dies als eine ähnlich herabsetzende Karikatur ihrer Ideale betrachten wie die oben erwähnten platonischen Schmähungen im VIII. Buch der Politeia. Jedoch auch unserer modernen Auffassung von individueller Freiheit entspricht dieses »Leben können wie man will« sicherlich nicht, wie etwa Karagiannis/Wagner behaupten; 456 aus einem solchen modernen Missverständnis heraus wundert sich auch Irwin, dass Aristoteles dieser Maxime überraschend feindlich gegenüberstünde 457. Warum können wir nun weder den antiken Demokraten eine solche Ansicht zuschreiben noch gar unser modernes Lebensverständnis damit identifizieren? Weil Aristoteles das demokratische Freiheitsideal als völlig übersteigerte Absage an jegliche Regeln auffassen zu dürfen glaubt. Dagegen möchte er gegen die angeblich anarchistische Freiheitskonzeption eine wahre Autonomie und eine vernünftige Freiheitslehre setzen. Nachdrücklich weist er darauf hin, 454 Vgl. Pol. VI, 2: 1317b11–17. Schon Platon wittert in seiner Demokratiekarikatur einen anarchistischen Zug (vgl. Politeia VIII. Buch 563d: kein Zwang, keine Gesetze; in den Nomoi warnt er ebenfalls vor den angeblichen anarchistischen Freiheitsexzessen der Demokratie (vgl. Nomoi III. Buch 693e mit der ausführlichen Begründung in 698a–701c)). In seiner karikaturhaft verzerrten Sicht will die Demokratie Gleichen und Ungleichen Gleiches geben und ebnet durch völliges Übertreiben des Freiheitsaspekts sämtliche Unterschiede ein (nicht nur zwischen Obrigkeit und Volk, Eltern und Kindern, Lehrer und Schüler, Jung und Alt, Mann und Frau, sondern auch zwischen Herr und Knecht und sogar zwischen Halter und Tier (vgl. Politeia VIII. Buch 558c und 562b–563e)). In seinen Vergleichen von Haushalten und Verfassungen parallelisiert Aristoteles daher die Demokratie auch mit ungeordnet-anarchistischen Haushalten ohne echten Hausherren, in denen also jeder nach eigenem Gutdünken lebt und entgegen den von Aristoteles als natürlich betrachteten Haushaltsverhältnissen alle gleich sind (vgl. EN VIII, 12: 1161a6–9). 455 So aber Kamp 1990, 129 f. 456 Vgl. Karagiannis/Wagner 2013, 376. 457 Vgl. Irwin 1990, 420.

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dass ein Gehorsam gegenüber einer Verfassungsordnung keine Knechtschaft bedeuten muss. 458 Schließlich bedeutet seiner Ansicht nach eine recht verstandene Autonomie keineswegs das Fehlen jeglicher Gesetzlichkeit: Wie auch der Einzelne, so darf auch die Gemeinschaft nicht willkürlich gelenkt werden, sondern soll durch vernünftige Autonomie geprägt sein. Wenn wir uns auf die Lehren der aristotelischen Ethik besinnen, dann darf Freiheit für Aristoteles natürlich nicht als anarchistische und beliebige Willkür aufgefasst werden. Vielmehr ist ein Leben in und nach Freiheit bestimmt durch die Regeln der Vernunft. Sogar und gerade die Zwangsregeln einer (korrekten) Verfassung ermöglichen uns laut Aristoteles ein Leben der Freiheit. Global gesehen erweisen sich die Bestimmungen eines »perfekten« Rechts letztlich nicht dem heteronomen Zwang verdankt (auch wenn sie dies als Begleiterscheinungen tatsächlich mit sich führen), sondern sind als (von den Bürgern) autonom gegebene Gesetze der Ausdruck der wahren Freiheit. Wer sämtliche Gesetzesregeln, also ethische und politische, ablehnt, der wird durch diese uneigentliche Freiheit entweder von der gewalttätigen Willkür der anderen Menschen getäuscht oder von seinen eigenen Begierden 459 unterjocht: Nur die politischen Gesetze verhindern die Tyrannei anderer Mitmenschen, denn ohne den Schutz von Gesetzen sind wir gleichsam in einen gefährlichen Kampf wilder Tiere verstrickt. 460 Ähnlich in der Ethik: Nur die ethischen Vernunftgesetze ermöglichen uns ein Leben der steten Wahl und damit der Freiheit (wenn wir uns an die Begierden verlieren, dann verfestigt sich die Herrschaft der Lüste und determiniert unseren Charakter). Daher hält Aristoteles die von ihm diagnostizierte Gesetzesfeindlichkeit der Demokraten für ziemlich gefährlich. 461 So schildert 458 Vgl. Pol. V, 9: 1310a25–36. Sternberger sieht es als große Leistung des Aristoteles an, dass dieser die Dichotomie von Anarchie und Despotismus mit seinem Konzept des Verfassungsstaates überwunden habe (vgl. Sternberger 1980, 47 f.). Allerdings vernachlässigt Sternberger die demokratiekritische Seite dieses Gedankens, da er den aristotelischen Verfassungsstaat allzu sehr von der Politie her interpretiert und damit implizit dem Aristoteles ein zu positives Demokratiebild zuschreibt. 459 Rosler 2005, 161 verweist dafür auf die entsprechenden Passagen in der EN, in denen Aristoteles die breite Masse als Sklave ihrer Lüste bezeichnet. 460 Vgl. Pol. I, 2: 1253a31–38. 461 Trotz des Ausrutschers im Arginusenprozess trifft diese angebliche Gesetzesfeindlichkeit der Demokraten sicherlich nicht deren Selbstverständnis (vgl. die Gefallenenrede von Perikles).

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er die Vielen als solche, die lieber ungeordnet leben wollen (zên ataktôs) als besonnen (sôphronôs) zu sein. 462 Weil er den Plebs eben als nicht vernunftgesteuert betrachtet, handelt es sich für ihn bei der Demokratie um eine Herrschaft ungeregelter Leidenschaften. 463 Laut Aristoteles weiß der Pöbel aus Mangel an Tugend und Einsicht nicht, was er zu wollen hat und betreibt daher eine emotionale statt einer rational geleiteten Politik. 464 Entsprechend untergräbt die extreme Demokratie ihre eigenen Grundlagen: Die von Mulgan als liberal gelobte Seite des demokratischen »Leben können wie man will« 465 betrachtet Aristoteles also gar nicht als »liberale Autonomie«, sondern als anarchistische Selbstzerstörung. Solch ein radikaler Anarcho-Egalitarismus richtet sich in der Sicht des Aristoteles nämlich nicht nur gegen die angeblich verdiente Meritokratie von Königtum und Aristokratie und die Plutokratie der Oligarchie, sondern letztlich eben sogar anarchistisch gegen jegliche Herrschaft, also auch die demokratische: Wie Aristoteles in Pol. V, 9: 1309b18–1310a2 zeigt, richtet sich eine derart maßlos übersteigerte Extremdemokratie selbst zugrunde. Auch die antiken Philosophen sind sich der Bedeutung der Autonomie sehr wohl bewusst. Somit fehlt ihnen nicht der Gedanke der Vgl. Pol. VI, 4: 1319b31 f. Errington analysiert die wichtige Rolle der Demagogen, welche die athenischen Bürger in einem selbst erzeugten Klima des Hasses zu ziemlich irrationalen Entscheidungen getrieben hatten. Vgl. Errington 1986, 77 f. Auch mehr als zweitausend Jahre nach Aristoteles hält Madison die direkte, nichtrepräsentative Demokratie aus ähnlichen Gründen für problematisch, da sie eine Herrschaft der Leidenschaften bedeute (vgl. Federalist papers Artikel 10 und 55; Hamilton/Madison/Jay 1993, 97 ff. und 339 (»In allen Versammlungen mit sehr vielen Teilnehmern, aus welcher Art von Menschen sie sich auch zusammensetzen, gelingt es der Leidenschaft doch immer, der Vernunft das Szepter zu entreißen. Wäre auch jeder athenische Bürger ein Sokrates gewesen, so wäre doch immer noch jede Versammlung der Athener eine des Pöbels gewesen«)). So könnte Aristoteles der Charakterisierung der Demokratie als einer auf Argumentation beruhenden Verfassung (durch Demosthenes und ihm folgend Hansen) schwerlich zustimmen, da er in ihr eine Willkürherrschaft und nicht eine Vernunftherrschaft sieht (vgl. Hansen 1995, 317). Daher ist der von Aubenque gezeichnete Kontrast von athenischer Demokratie (welche die Politik als »affaire de jugement« betrachte) und moderneren Demokratietheorien (v. a. Rousseaus Lehre von der »volonté générale«, welche die Demokratie als »affaire de volonté« ansehe) für Aristoteles selbst kritisch zu hinterfragen. Vgl. Aubenque 1993, 263. 464 Man denke hier auch daran, dass die Vielen ein Leben der Lust wählen (vgl. EN I, 2: 1095b16 f.) und hauptsächlich für die epithymia leben (vgl. Pol. II, 7: 1267b3–5). 465 Vgl. Mulgan 1991, 320. 462 463

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Autonomie, wohl aber müssen wir Modernen ihre Anwendung als zu eng gefasst kritisieren. Letztlich liegt der Unterschied nicht in einem fehlenden Verständnis, was Autonomie bedeuten soll, sondern in der Einengung auf einen elitären Kreis weniger Bürger. Laut Aristoteles kann das gemeine Volk die Freiheit nicht vernünftig nützen und ist daher nicht tatsächlich autonom und deswegen von der Herrschaft fernzuhalten. Dagegen erweitert die moderne politische Philosophie den Kreis der für autonom gehaltenen Personen gegenüber Aristoteles beträchtlich. Da Freiheit sowohl für Aristoteles als auch für uns Heutige aufs engste mit der Vernünftigkeit verknüpft ist, scheiden sich hier die Geister: Wir lehnen die Restriktion der wahren Vernünftigkeit auf einige wenige ab. Somit folgt aus dem angeblich einseitig negativen demokratischen Verständnis der Freiheit als »Freiheit von« für Aristoteles die anarchistische Willkür als Kehrseite. Aristoteles versucht also gegenüber den von ihm diagnostizierten Willkürbestrebungen der verfehlten Verfassungen die Gesetzlichkeit zu rechtfertigen und gerade das (gerechte) Recht als Reich der Freiheit und Freiwilligkeit zu erweisen. Wahre Freiheit ist somit nicht Freiheit von Gesetzen, sondern Freiheit zu Gesetzen und auch ohne Gesetze nicht denkbar. Damit haben wir bei Aristoteles auch einen positiven Freiheitsbegriff gefunden, den Keyt vermisst. 466 Man darf Freiheit also keineswegs – wie es in der Interpretation des Aristoteles die Demokraten der reinen Lehre tun – als regellose, völlig beliebige Willkür missverstehen. So wird auch eine zunächst paradox klingende Bemerkung aus dem Buch Lambda der Metaphysik verständlich, dass gerade die Freien im Gegensatz zu Dienern und Tieren kaum willkürlich handeln dürfen. 467 Wenn Aristoteles mit seiner Analyse von Freiheit und Ordnung tatsächlich recht hätte, dann würde dies die Demokratietheorien sei-

466 Vgl. Keyt 1999, 142. Äußerst legalistisch jedoch die Formulierung von Newman: »The passage before us makes it probable that Aristotle would define freedom as obedience to rightly constituted law« (Newman 2010d, 411 Anm. zu 1310a27). Zur Problematik dieser Aussage siehe das Kapitel zu Moralität und Legalität. 467 Vgl. Met. XII, 10: 1075a19–22, v. a. in der diesbezüglich mustergültig klaren Übersetzung der von Jonathan Barnes herausgegebenen Revised Oxford Translation der Complete Works of Aristotle (Barnes 1995, 1699). Dies stellt somit keinen Widerspruch zur fehlenden Autonomie der Knechte dar, wie sie Aristoteles in Pol. VI, 2: 1317b12 f. beschreibt.

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ner Zeit empfindlich treffen. Schließlich betrachten die antiken Demokraten die Freiheit als ihr ureigenstes Kompetenzgebiet und Autonomie auch vorrangig bei ihnen verwirklicht. Rosler bemerkt dazu, dass Aristoteles demgegenüber geschickt die extremdemokratische Freiheit mit Sklaverei verknüpfe: »Aristotle would turn the tables on the extreme democrat and say that the extreme democratic liberty, the liberty of acting at random or on any whim someone might have, is actually fit for a slave and not for a free person.« 468 Vermutlich ist den meisten Lesern aufgefallen, dass ich am Anfang dieses Kapitels von radikal- und extremdemokratischen Subtypen gesprochen habe, wenn es um die Kritik des Aristoteles an der demokratischen Haltung gegenüber den Gesetzen geht, später jedoch die demokratische Lehre vom »Leben können wie man will« ohne jegliches Präfix erörtert habe. Tatsächlich ist dies kein Zufall, denn Aristoteles selbst hat in Pol. VI, 2 dieses Merkmal zu einem der beiden Hauptcharakteristika erhoben, das alle Demokraten teilen. 469 Allerdings scheint dies nahezulegen, dass Aristoteles den Grundtypus der Demokratie am ehesten im schlechtesten Grundtypus wiedererkennt und nicht im besten. Da diese These natürlich wichtige Auswirkungen auf die Interpretation der politischen Philosophie des Aristoteles hat, möchte ich sie im folgenden Kapitel auf ihre Richtigkeit prüfen. 3.3.1.3 Welcher Subtypus gibt den Grundtypus am besten wieder? Oder: Ändert Aristoteles seine Haltung gegenüber der Demokratie in Pol. IV–VI? Unzweifelhaft eindeutig ist die Haltung des Aristoteles gegenüber der Demokratie in Buch III der Politik, da sie hier als verfehlter Verfassungstypus gekennzeichnet wird und im Wettstreit der Verfassungstypen um den Titel der absolut besten Verfassung aufgrund ihrer normativen Verfehltheit nicht in Betracht kommt. Etwas differenzierter scheint auf den ersten Blick die Beurteilung in den Büchern IV–VI der Politik zu sein. So können wir etwa über den besten Subtyp der Demokratie in Pol. VI lesen: »Wenn sie auf diese Weise ihre poli-

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Vgl. Rosler 2005, 159. Vgl. Pol. VI, 2: 1317b10–12.

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tischen Verhältnisse ordnen, müssen sie sich einer guten politischen Ordnung erfreuen […]« 470 Revidiert Aristoteles also sein grundsätzliches Urteil über den Verfassungstypus Demokratie in Vergleich zu Buch III? Einige Forscher nehmen dies ausdrücklich an und berufen sich in der Regel gar nicht einmal auf diese Stelle, sondern stellen allgemein die These auf, dass Aristoteles aufgrund der Herrschaft des Gesetzes in den ersten drei Demokratiesubtypen die Demokratie insgesamt aufgewertet habe. Besonders weit geht hier Nichols, welche sogar die ersten vier Formen als Politien ansieht: »The first four forms of democracy as Aristotle defines them could be called polities, not only because they contain oligarchic elements, but also because they are regulated by law.« 471 Neben der Überbetonung der Mischung in der dritten bzw. vierten Demokratie schenkt Nichols dem Befund von Pol. III, 10 keine Beachtung, dass Gesetzlichkeit allein nicht zu einer politischen Herrschaft (p2) oder Politieregierung (p3) führt. 472 Damit nimmt sie nicht Notiz von der Möglichkeit despotischer Gesetzgebung, was ich anhand einer Beschäftigung mit Schütrumpf zeigen möchte. Daher ist nicht jede Gesetzesordnung politisch (p2). Demgegenüber ist jedoch jede politische Ordnung p2 (im Sinne des Gegensatzes zur despotischen Polisordnung) gesetzlich. Schütrumpf liest indes aus der Tatsache, dass bis auf die letzte Unterart der Demokratien und Oligarchien die anderen Subtypen als Gesetzesherrschaften beschrieben werden, eine normative Aufwertung gegenüber Buch III heraus. 473 Dagegen lässt sich allerdings einwenden, dass die Gesetzestreue der meisten Formen nicht eine Aufwertung des Grundtypus nötig macht. Stattdessen ist die Gesetzesherrschaft in mehrfacher Hinsicht nur eine Minimalbedingung, einerseits deskriptiv, um überhaupt von Verfassungen zu sprechen, und andererseits normativ, da eine Gesetzesherrschaft allein noch keine gute Regierung garantiert. 474 So kennt schon Buch III eine bedenkliche Herrschaft der Gesetze in Demokratien oder Oligarchien, wobei Aristoteles solche Regierungsformen an besagter Stelle aus470 Pol. VI, 4: 1318b32 f. in der Übersetzung von Schütrumpf (Hervorhebung durch Unterstreichung; B. L.). 471 Nichols 1992, 94. 472 Vgl. aber Nichols 1992, 138: »Aristotle associates law with political rule«. 473 Vgl. Schütrumpf 2011b, 116 f. bzw. Schütrumpf 1996, 134–136. 474 Vgl. Pol. III, 11: 1282b8–13; dass die Gesetze von der Verfassung abhängig sind, bestätigt auch Pol. IV, 1: 1289a13–15.

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drücklich nicht für normativ unbedenklich erklären will, nur weil demokratische oder oligarchische Gesetze statt oligarchischer oder demokratischer Menschen regieren. 475 Auch Buch V weist mehrfach auf einseitige Gesetzgebungen hin, sowohl konkret als auch auf der Metaebene. 476 Entsprechend scheint also Aristoteles auch in den Büchern IV–VI die Gesetzlichkeit allein noch nicht für ausreichend zu halten, um von einer guten Verfassungsform reden zu können. 477 Erst recht scheint sich dieser Eindruck zu bestätigen, wenn wir die Belege für die normative Minderwertigkeit der Demokratie im nächsten Kapitel meiner Arbeit aufmerksam mustern. Dabei bemerken wir, dass die meisten Stellen aus besagten Büchern IV–VI stammen. Somit vertritt Aristoteles auch in den Büchern IV–VI sichtlich weiterhin die Position, dass der Typus der Demokratie prinzipiell eine verfehlte Verfassungsform darstellt 478. Pol. IV, 11: 1296a22–36 zeigt ebenfalls, dass auch in Pol. IV die Demokratie und die Oligarchie immer noch als despotisch-eigensüchtig gelten, denn sie ordnen machtpolitisch die Verfassung ganz in ihrem Sinne und achten überhaupt nicht auf einen Ausgleich, ebenso wenig wie sie auch das Gemeinwohl suchen, sondern allein nach ihrem Vorteil trachten. Hier wie auch an anderen allgemein formulierten Stellen fällt auf, dass Aristoteles, wenn er ganz allgemein über Demokratie oder Oligarchie spricht, nach wie vor ein grundsätzlich negatives Urteil fällt. Wie lässt sich dies nun mit dem oben angeführten Lob der besten Demokratie vereinbaren? Unbefriedigend wäre die Lesart, diese Stelle gar nicht normativ aufzufassen, sondern nur in Hinblick auf die StaVgl. Pol. III, 10: 1281a34–39. Für letzteren Punkt siehe Pol. V, 9: 1310a1 f. 477 Anders jedoch Schütrumpf 1996, 153, Fußnote 2: »Befolgen von Gesetzen als das Merkmal der guten politischen Qualität von Staaten, das für Aristoteles in P o l. IV– VI so zentral ist […]« Damit müsste Schütrumpf also letztlich jede gesetzliche Ordnung zu einer guten gesetzlichen Ordnung erklären, denn die gute politische Qualität hängt ja – wie öfters nachgewiesen – an einer guten gesetzlichen Ordnung (vgl. dagegen die differenzierten Aussagen von Pol. IV, 8: 1293b42–1294a9, die für eunomia nicht allein Gesetzesgehorsam der Bürger fordern, sondern Gesetzesgehorsam gegenüber guten Gesetzen, da es eben auch schlechte Gesetzesordnungen gebe). 478 Dafür spricht auch, dass Aristoteles etwa in Pol. V, 1: 1301a28–36 allgemein über die Demokratie spricht (also keinen speziellen Subtypus nennt) und ihre Auffassung des Gerechten als einseitig tadelt. Wenn er nur die gesetzlose Demokratie für verfehlt hielte und den Typus Demokratie eigentlich im Vergleich zu Pol. III rehabilitieren würde, dann hätte Aristoteles diese und ähnliche Passagen nicht so formuliert. So geht Aristoteles also auch in den Büchern IV–VI nach wie vor von der normativen Minderwertigkeit des Typus Demokratie aus. 475 476

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bilität zu interpretieren. Einerseits kann das kalôs semantisch schwerlich seiner klar normativen Wertung beraubt werden, andererseits möchte ich an die oligarchische Herrschaft in Erythrai erinnern, der Aristoteles in Pol. V, 6: 1305b18–22 ebenfalls zubilligt, kalôs regiert zu haben, die jedoch aufgrund der Eifersucht des Volkes, nicht an den Ämtern beteiligt zu sein, gestürzt worden ist. Beide Gründe sprechen meines Erachtens überzeugend gegen derartige Versuche, diese Stelle unter Hinweis auf eine angebliche Verengung der Perspektive in Pol. IV–VI auf Stabilitätserwägungen wegzuerklären und derart eine Kohärenz in den aristotelischen Lehren herzustellen. Zwar könnte sich diese Deutung auf Pol. IV, 2 berufen, die in ziemlicher harscher Weise urteilt, dass die Oligarchie insgesamt verfehlt sei und keine Oligarchie besser als die andere genannt werden könne, höchstens weniger schlecht. 479 Fortenbaugh hat allerdings diese Stelle dahingehend interpretiert, dass Aristoteles damit darauf aufmerksam machen wolle, dass »besser« ja nichts über die Qualität aussage, da ja auch zwei schlechte Objekte verglichen werden können, wovon dann trotzdem eines besser genannt werden könne und damit seine Schlechtigkeit sprachlich nicht durchscheine. Mit seiner Qualifizierung der Oligarchie als »weniger schlecht« drücke Aristoteles also präziser aus, dass alle Oligarchien schlecht seien. 480 Tatsächlich dürfte diese Stelle eine solche Schlussfolgerung ziehen. 481 Daher akzentuiert er hier besonders die normative Minderwertigkeit der Oligarchie, und betont, dass dieser Typus unter keinen Umständen als wirklich gute Verfassung zählen könne. Schließlich ist die Oligarchie vom Leitziel des Reichtums angetrieben, der in seiner Einseitigkeit prinzipiell verfehlt ist. Wenn Aristoteles in Pol. IV, 8: 1293b23–27 sogar die Politie in einem gewissen Sinne als Abweichung betrachtet (insofern sie nämlich nicht an die beste Verfassung heranreicht 482), fühlt er sich in Pol. IV, 2 gezwungen, die normative Minderwertigkeit der Oligarchie erst recht zu betonen. Vgl. Pol. IV, 2: 1289b9–11. Vgl. Fortenbaugh 1991, 234 f. 481 Ebenso ist sie auch eine – etwas ungerechte Kritik an Platons Politikos. 482 Contra Destrée 2015, 208 handelt es sich bei richtigsten Verfassung nicht um diejenige von Pol. VII/VIII, sondern um Königtum und Aristokratie, da er hier Bezug nimmt auf seine allgemeine Verfassungstheorie, die in Pol. VII/VIII bekanntlich nur schwer Anwendung findet. Daher wird auch nicht die wahre Aristokratie als Abweichung bezeichnet, sondern – wie im Text ausdrücklich bestätigt – die eben angeführten sogenannten Aristokratien. 479 480

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Trotzdem müssen Pol. VI, 4: 1318b32 f. und andere einigermaßen wohlwollende Passagen in ihrem relativen Lob der besten Demokratie ernst genommen werden. Daher steht folgende Charakterisierung durch Susemihl/Hicks zumindest in der Gefahr einseitig interpretiert zu werden: »Thus in contrast to Plato’s procedure in the Politicus and the Laws he certainly regards even the first and most law-observing of these forms as already a degeneration, though it stands still very near to Polity.« 483 Zwar ist auch die beste Demokratie als Abweichung von der eigentlich besten Verfassungsform (und auch als Abweichung gegenüber der Politie) zu betrachten, jedoch ist »degeneration« in diesem Zusammenhang in Anbetracht des kalôs vermutlich zu stark gewählt. Sozusagen als vermittelnde Interpretation zwischen den beiden Extrempositionen, die jeweils die Belege für die Gegenposition ignorieren, dürfte sich anbieten, dass die besten Oligarchien und Demokratien von Aristoteles insgesamt als normativ brauchbar eingestuft werden. Somit genügen sie zwar nicht den höheren normativen Ansprüchen, die an korrekte Verfassungen in ihrer Orientierung an das Gemeinwohl gestellt werden, sind aber andererseits jedoch deutlich von den verfehlten Extremformen einer psêphisma-Demokratie oder einer Dynastenoligarchie abgegrenzt. Dadurch bieten sie für tugendhafte Menschen in gewisser Weise erträgliche Bedingungen, welche zwar nicht deren Tugendentwicklung aktiv fördern, allerdings auch nicht unnötig übermäßig hemmen. Da die besten Subtypen der Demokratie entgegen Susemihl/ Hicks’ Einschätzung in einer gewissen Weise doch als normativ erträglich beschrieben werden sollen, stellt sich die eingangs gestellte Frage erneut in aller Schärfe: Gibt Aristoteles in Pol. IV–VI sein eher negatives Urteil über die Demokratie aus Pol. III wieder auf? Wie bereits dargelegt, schildert er den Grundtypus der Demokratie auch IV– VI grundsätzlich nach wie vor eher negativ, kennt freilich aber auch normativ erträgliche Stufen. Wie lässt sich dies vereinbaren? 484 Meist wird entweder eher das negative Urteil hervorgehoben und die positiv klingenden Stellen heSusemihl/Hicks 1894, 450. Anders formuliert: Wir suchen eine Antwort auf die Frage von Schütrumpf 2011a, 257 f., wie denn Pol. III und Pol. IV–VI bei diesem Thema zu vereinbaren seien, da Pol. III eine negative Grundcharakterisierung trifft und Pol. IV–VI aber auch eine positivere Würdigung mancher Subtypen zulässt. 483 484

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runtergespielt (Susemihl/Hicks) oder umgekehrt die normative Erträglichkeit der besten Demokratie hervorgehoben und zum (neuen) Gesamturteil des Aristoteles über die Demokratie erklärt (Schütrumpf). Allerdings werden meines Erachtens beide Extremdeutungen der Differenziertheit des aristotelischen Textes nicht gerecht. Schließlich sollten beide Urteile (»Grundsätzlich handelt es sich bei der Demokratie um eine problematische Verfassungsform« und »Die besten Demokratien sind normativ gar nicht so übel«) berücksichtigt und die Vielfalt der Subtypen ernst genommen werden 485. Ansonsten würde man die Differenziertheit der Verfassungstypologie in problematischer Weise ziemlich verkürzen. Dies hängt auch mit problematischen Interpretationen des III. Buches bzw. der Bücher IV–VI zusammen: Wer die Demokratiecharakterisierung des Aristoteles einseitig negativ zeichnet, folgt damit einer verfehlten Interpretation von Buch III. Zwar wird dort die Demokratie als grundsätzlich normativ verfehlte Verfassungsform bezeichnet, jedoch wird ihr ein gewisses Recht dennoch zugestanden. Umgekehrt kann die Vielfalt der Demokratiesubtypen in Pol. IV–VI nicht bloß darauf reduziert werden, dass es nun normativ erträgliche Subtypen gebe und damit gegenüber der angeblich rein negativen Kennzeichnung in Pol. III (die meines Erachtens aber keine differenzierte Lektüre von Buch III bietet) nun die Position des Aristoteles wechsle. 486 Schließlich kritisiert Aristoteles den Typus auch in IV–VI Zur Vielfalt der Subtypen vgl. Pol. IV, 1: 1289a7–11. An einigen Stellen wirft er Zeitgenossen vor, dass sie nicht verschiedene Ausprägungen von Demokratie und Oligarchie unterscheiden: vgl. Pol. IV, 11: 1296b4 f. und Pol. V, 12: 1316b25–27. 486 Schütrumpf 1996, 136 Fußnote 2 verweist auf Oligarchien in Pol. V, 8 und V, 9, die dem Gemeinwohl dienen können und erklärt dies für Buch III für unmöglich. Allerdings muss beachtet werden, dass Buch III die Fragestellung nach der besten Verfassung erörtert (nicht umsonst verweist Pol. IV, 2: 1289a26–32 darauf, dass mit den vorhergehenden Erörterungen von Buch III die beste Verfassung erledigt sei) und daher bei den Verfassungen jeweils nur den eigentlich interessanten Grundtypus untersucht, während die Bücher IV–VI sich den anderen in Pol. IV, 1 angegebenen Fragen widmen. Nachdem jedoch die von Schütrumpf angeführten Oligarchien Mischtypen sind, liegt dies von vornherein außerhalb des Interesses von Buch III: Wenn daher aus Buch III keine Empfehlung von Oligarchie oder Demokratie abgeleitet werden kann, ist dies kein Defizit (anders Schütrumpf 1996, 128). Schließlich sind sie für Aristoteles nicht imstande, die beste politische Ordnung zu bilden, was den Fokus von III darstellt. Natürlich sollte seine politische Theorie auch für »schlechtere« politische Verhältnisse eine Empfehlung dafür nützlicher und angemessener Verfassungen geben können, was aber eben IV–VI leistet. Insofern entsteht aufgrund der wesentlich verschiedenen Fragestellungen kein Widerspruch zwischen III und IV–VI. 485

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nach wie vor als grundsätzlich verfehlt, indem er dessen Auffassung von gerecht/ungerecht prinzipiell für verfehlt hält. Um dieses Interpretationsproblem ohne Verkürzung aufzulösen, sollte daher gefragt werden, ob das Wesen einer Demokratie, Oligarchie oder Tyrannis sich am besten im besten Subtypus verkörpert oder sich am ehesten im normativ unerträglichsten Fall zeigt. Wenn sich herausstellen sollte, dass der Typus an sich in despotischen Verfassungsordnungen in den normativ schlechteren Formen stärker zur Geltung kommt, stellt sich natürlich erst recht die andere Frage, wie die besten Formen von Demokratie, Oligarchie und Tyrannis aufzufassen sind. Tatsächlich beantwortet Aristoteles diese Frage selbst in aller wünschenswerten Klarheit: Besonders deutlich wird sein Urteil in dieser Angelegenheit in Pol. V, 10, denn dort bemerkt er, dass die dritte und verfehlteste Form der Tyrannis am besten ihr Wesen ausdrücke. 487 In einem späteren Kapitel wird für die Oligarchie ebenfalls angemerkt, dass die tyrannischste Oligarchie die vollendete Oligarchie sei. 488 Jedoch auch für die Demokratie finden wir eine ähnliche Aussage, nämlich in Pol. IV, 14. 489 Neben diesem philologischen Beleg lässt sich vor allem auch philosophisch für die Subtypen der Demokratie zeigen, dass bei verfehlten Verfassungstypen nicht die besten Formen den Grundtypus am besten wiedergeben. Bereits wenn wir einen der zentralen Aspekte jeglicher Verfassungsordnung analysieren, nämlich die Frage, welche Bürger überhaupt als Vollbürger herrschen dürfen, bestätigt sich meine These. In Pol. VI, 2 charakterisiert Aristoteles die Grundzüge des Grundtypus der Demokratie ganz allgemein. Dabei fällt erst recht auf, dass die Merkmale der Demokratie den Besonderheiten einer radikalen Demokratie entsprechen: Verlosung der meisten Ämter statt Wahl der Besten, kaum Beschränkungen für den Ämterzugang, weitgehende Entmachtung der Ämter stattdessen überragende Rolle der Vgl. Pol. IV, 10: 1295a17–23. Vgl. Pol. V, 10: 1312b35. Auch Pol. IV, 11: 1296a2 legt diesen Befund nahe. 489 Vgl. Pol. IV, 14: 1298a31–33 wird die äußerste Demokratie, welche mit der dynastischen Oligarchie und der tyrannischen Alleinherrschaft verwandt ist, als teleutaia bezeichnet. Allerdings möchte ich – anders als Day und Chambers in ihrem Kommentar zur Athênaiôn politeia – damit keinen Einfluss der Naturphilosophie auf die Politik annehmen und Aristoteles ein deterministisches Verständnis eines natürlichen Ablaufs der Verfassungen zuschreiben. 487 488

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Volksversammlung, Einführung einer Besoldung (am besten für alle), etc. 490 Oberflächlich scheint hier Pol. VI, 5 diesem Befund zu widersprechen, wenn Aristoteles dort schreibt, dass man nicht glauben dürfe, am volksfreundlichsten sei dasjenige, was eine Polis am demokratischsten mache. Jedoch zeigt der nachfolgende Satz, dass es hier Aristoteles darum geht, dass eine solche extremdemokratische Regierung instabil sei. Damit liegt aber der Mangel nicht in einer falschen Beschreibung der reinen demokratischen Lehre, sondern in ihren fatalen Konsequenzen. 491 Hier zeigt sich wieder: Was der Demokratie am eigentümlichsten ist, nützt ihr nicht unbedingt am meisten. Entsprechend ist die Bemerkung von Schütrumpf, dass die reinste Form die instabilste und [machtpolitisch] schwächste ist, kein Einwand gegen die Lehre, dass die radikale Unterart die wahrste Form dieser Verfassung ist. 492 Meine bisherigen Analysen können sich übrigens dadurch bestätigt sehen, dass Aristoteles selbst feststellt, dass die radikale Variante (in der sich der dêmos zum Herrn über die Gesetze aufgeschwungen hat) zu seiner Zeit am ehesten als Vertreter der Demokratie aufgefasst werde. 493 Last but not least lässt sich auch aus der Semantik des Begriffs »Demokratie« zeigen, dass nicht die beste Form den Grundtypus am besten widerspiegelt. Bekanntlich sollte die Demo-kratie die Herrschaft des Volkes sein, tatsächlich aber zeigt sich sowohl in Pol. IV, 6 als auch in Pol. VI, 4, dass die besten Subtypen der Demokratie dem dêmos eine wesentlich kleinere Rolle zubilligen (worin Aristoteles übrigens auch den entscheidenden Vorteil dieses Subtypus gegenüber den anderen Demokratiesubtypen sieht …). Umgekehrt gewinnt der dêmos eine immer größere Rolle, je schlechter der Demokratiesubtypus wird, bis wir schließlich in der schlechtesten Extremvariante von einer echten Herrschaft des dêmos sprechen können. 494 490 Vgl. Pol. VI, 2: 1317b17–38. Newman bemerkt zwar interessanterweise, dass das »Tun können, was man will« in 1310a25 ein Kennzeichen der extremen Demokratie ist und in 1317b11 eines der allgemeinen Demokratie, jedoch sieht er darin einen Gegensatz und kommt daher nicht zur naheliegenden Schlussfolgerung, dass die radikale Demokratie den Typus am besten wiedergibt. Vgl. Newman 2010d, 411 Anm. zu 1310a25. 491 Vgl. Pol. VI, 5: 1320a2–4. 492 Vgl. Schütrumpf 1996, 134 Anmerkung 3. 493 Vgl. Pol. IV, 14: 1298b13–15. 494 Eucken hält die radikale Demokratie für die einzige volle Verwirklichung der Demokratie, da sie die Herrschaft der Armen voll realisiere. Vgl. Eucken 1990, 280 f. Darin stimmen wir natürlich überein, jedoch scheint mir damit der Nachweis noch

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Überdies darf nicht übersehen werden, dass der beste Demokratiesubtypus in der Forschungsliteratur nicht umsonst immer wieder in die Nähe der Politie gerückt wird, denn die beste Demokratie ist dadurch besonders ausgewogen und normativ erträglich, dass sie oligarchische Merkmale aufnimmt und etwa einen Zensus kennt oder bestimmte Ämter wählt. Damit erweist sie sich jedoch als Mischung und nicht als Verkörperung der reinen Lehre der Demokraten. 495 Daher lässt sich übrigens auch eine Ausgangsfrage des letzten Kapitels gegen Rosler negativ beantworten: Anders als dieser glaubt, ist die wahre Demokratie also keine Gesetzesherrschaft. 496 Bestätigt wird dies auch durch die zeitgenössische Eigeninterpretation, die den dêmos eben auch in radikaldemokratischer Weise zum Herrn über die Gesetze macht. 497 3.3.1.4 Die axiologische Minderwertigkeit der Demokratie Nachdem wir nun gesehen haben, dass die Demokraten laut Aristoteles ein eher problematisches Verhältnis zur Rechtsordnung haben, interessiert uns nun die Analyse ihrer normativen Auffassungen. Wie wir bereits gesehen haben, achtet die Demokratie angeblich

nicht völlig erbracht zu sein, sondern es bedarf der anderen beiden von mir zusätzlich genannten Argumentationsstrategien für ein völlig befriedigendes Ergebnis. Genau aus dem von Eucken genannten Grund (Demokratie als Herrschaft der Armen) bezweifelt Newman, dass die beste Demokratie in IV, 6 mit ihrer Vorherrschaft von Bauern und Leuten mit mäßigem Besitz überhaupt noch eine Demokratie darstelle. Vgl. Newman 2010d, XXXVIII. 495 Obwohl Schütrumpf meine These sicherlich nicht teilt, dass der schlechteste Subtypus eines verfehlten Typus dessen Wesen am besten ausdrückt, stimmen wir in der Beurteilung des besten Subtypus überein: »[…] bei Aristoteles ist die beste Demokratie nicht demokratisch« (Schütrumpf 1995, 290 Anmerkung 4; auch in der Besprechung des Ausgleichsmodells von Pol. VI, 3 legt Schütrumpf einen großen Wert darauf, dass ein angeblich demokratisches Prinzip die Demokratie aushöhle: Schütrumpf 1996, 624). Ebenso Hansen 1995, 68. Genau entgegengesetzt Newman 2010a, 496. Zoepffel 1974, 70 Anmerkung 6 behauptet hingegen, dass die erste Demokratie von 1291b30–39 das Grundprinzip der Demokratie am besten wiedergebe. 496 Rosler kann seine Behauptung auch nur indirekt daraus erschließen, indem er darauf verweist, dass die extreme Demokratie keine Verfassung mehr sei (vgl. Rosler 2005, 256). Da die beste Demokratie aber in einem gewissen Sinne keine eigentliche Demokratie mehr ist, dürfen wir ihre Wertschätzung auch nicht als Lob für den Grundtypus der Demokratie auffassen (so aber Schwaabe 2012, 168). 497 Vgl. Pol. IV, 14: 1298b13–15. Dass dies als historische Aussage – vorsichtig ausgedrückt – nicht völlig unbezweifelbar ist, ist ein anderes Thema.

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nicht auf das Gemeinwohl, sondern ist eine eigennützige Herrschaft der Armen und insofern quasi despotisch zu nennen. 498 Letztlich lebt das gemeine Volk in einer Demokratie laut Aristoteles – frei nach Max Weber – nicht für die Polis, sondern sogar von ihr – wie Schwaabe und ich unabhängig voneinander herausgestellt haben. 499 Deswegen rechnet Aristoteles die Demokratie prinzipiell unter die schlechten Verfassungen, wobei sie immerhin die beste der verfehlten sein soll. 500 Sowohl ihre grundsätzliche Defizienz als auch ihre relative Güte im Vergleich zu Oligarchie und Tyrannis beruhen beide auf der demokratischen Freiheitsliebe. Bekanntlich besteht das Ziel der Demokratie in der Freiheit: 501 Wenn wir uns an die in den vorangegangenen Kapiteln rekonstruierte Kritik des Aristoteles an der demokratischen Auffassung der Freiheit erinnern, ist unter den normativen Prämissen des Aristoteles dessen Kritik an der Demokratie verständlich. So ist die demokratische Freiheit als anarchistisches »Tun können was man will« angesichts der bereits mehrfach rekonstruierten charakterlichen und intellektuellen Mängel des dêmos eine normative Überforderung und führt für Aristoteles zu einer verfehlten Gemeinschaftsordnung: Da der dêmos abgesehen von seiner Freiheit keine nennenswerten weiteren Qualitäten mitbringt, die ihn zu einer vernünftigen Ziel- und Mittelwahl befähigen, entsteht bei einer tatsächlichen Herrschaft des Volkes für Aristoteles nichts Gutes. Schließlich vernachlässige die demokratische Auffassung das eigentlich relevante Ziel der Tugend und setze sich damit nicht das tatsächlich erstrebenswerte Letztziel des wahrhaften eu zên für die gesamte Polis. Dies folgt natürlich daraus, dass Aristoteles in der eudaimonia-Frage die Vielen für grundsätzlich fehlorientiert hält. 502 Wenig verwunderlich zielen die Vielen also im Rahmen ihrer gewünscht schrankenlosen Freiheit Vgl. etwa Pol. III, 7: 1279b8 f. und öfters. Vgl. Schwaabe 2012, 168. Ich habe dies unabhängig von ihm für einen Vortrag im Jahr 2011 über »Aristoteles und die Demokratie« im Rahmen des damaligen IX. ÖGPKongresses erarbeitet. 500 Die Demokratie als beste der verfehlten Verfassungen (vgl. Pol. IV, 2: 1289b4 f.). Die Demokratie als Perversion der Politie (vgl. Pol. III, 7: 1279b6 und Pol. IV, 2: 1289a29 f.). Dass Demokratie und Politie enger miteinander verwandt sind als die anderen Abweichungen mit ihrem guten Pendant, behauptet er in EN VIII, 12: 1160b16–21. 501 Vgl. Rhet. I, 8: 1366a4. 502 Die Vielen wählen ein Leben der Lust (vgl. EN I, 2: 1095b16 f.) und leben hauptsächlich für die epithymia (vgl. Pol. II, 7: 1267b3–5). 498 499

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nicht nur auf das verkehrte Ziel des Gewinns, 503 sondern sind auch egoistisch-selbstliebend im herkömmlichen Sinne und wollen lieber Gutes erfahren als Gutes tun. 504 Daher sind sie dann auch eigensüchtig und insofern quasi-despotisch (im Sinne der fehlenden Gemeinwohlorientierung) zu nennen. Insofern ist daher eine Demokratie für Aristoteles in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung klar unter die verfehlten Verfassungstypen zu rechnen. 505 Wenn es um die politische Macht geht, finden wir diesen Befund bestätigt: In einer Demokratie werden die Ämter ebenso nach dem Maßstab (bloß) der Freiheit vergeben, wie in Aristokratien nach der Tugend oder in der Oligarchie nach Reichtum 506. Zwar hält auch Aristoteles die Freiheit für ein hehres Gut, allerdings kritisiert er die freiheitsorientierte Gerechtigkeitslehre der Demokraten als zu gleichheitsfixiert und zu wenig würdigkeitsorientiert. Neben dem notwendigen Status als freier Bürger benötigt man in einer Demokratie nämlich für die meisten Ämter keine weiteren Zugangsqualifikationen, es werden also für den Zugang zur Macht keine zusätzlichen qualitativen Hürden aufgebaut, keine weiteren Würdigkeiten benötigt. Tatsächlich ist dies folgerichtig gedacht, da die von den Demokraten geforderte absolute Gleichheit der freien Bürger (und darin ist ja auch das Recht auf politische Mitbeteiligung enthalten) nicht durch etwaige andere Kriterien verletzt werden darf. Wenn aber weitere qualitative Richtschnüre fehlen, dann beginnt vor allem die Quantität an Leuten zu zählen. Daher beschreibt Aristoteles die demokratische Auffassung von gerecht/ungerecht auch als Gleichheit der Zahl 507, die sich in Mehrheitsentschlüssen äußert. 508 Weil nun Vgl. beispielsweise Pol. VI, 4: 1318b16 f. Vgl. EN VIII, 16: 1163b26 f. und EN IX, 7: 1167b27 f. EN VIII, 15: 1162b34–36 formuliert, dass alle oder die meisten das Schöne wünschen, aber das Nützliche vorziehen. 505 Verdross 1970 dagegen behauptet, dass das aristotelische politische Recht nur in den griechischen Demokratien gelte, die auf den Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit aller Bürger beruhen; das physei dikaion meine daher die allgemeinen und dauerhaften Grundsätze der griechischen Demokratien. Bereits Pol. III, 17: 1287b38–40 mit seiner Abwertung der verfehlten Verfassungstypen als naturwidrig hinterfragt eine solche Ansicht. Ebenso soll die ausgedehnte Argumentation bisher und im Folgenden diese Bewertung weiter plausibilisieren. 506 Vgl. Pol. IV, 8: 1294a10 f. 507 Vgl. Pol. VI, 2: 1317b3–7 508 Vgl. Pol. VI, 3: 1318a18 f. und Pol. VI, 2: 1317b5–11. 503 504

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die Armen faktisch stets bei weitem die Mehrheit stellen, resultiere aus der Gleichheit der Zahl die Herrschaft der Armen. Knapp zusammengefasst besteht die demokratische Auffassung des Gerechten in der Verteilung also für Aristoteles darin, dass die Gleichheit der Zahl nach verabsolutiert und die Gleichheit der Würde nach vernachlässigt wird. 509 Aus der Sicht des Aristoteles völlig verkürzt, verstehen die Demokraten unter der Würdigkeit »nur« die Freiheit und gewähren so allen Bürgern die Teilnahme an der Regierung. 510 Durch diese Fehlinterpretation werde aber die Gleichheit der Würdigkeit letztlich zur Gleichheit der Zahl uminterpretiert, da von der Selbstverständlichkeit des Besitzes des Bürgerrechts abgesehen keine weiteren Würdigkeiten verlangt werden. Zwar sei es richtig, dass sämtliche Bürger in ihrer Freiheit gleich seien; nur übertrage die Demokratie diese Gleichheit an Freiheit auf sämtliche anderen Bereiche und halte die Bürger fälschlicherweise in allen Belangen für absolut gleich. 511 Daran sei jedoch falsch, dass die Bürgerschaft nicht aus in allen Belangen gleichen Bürgern bestehe. Damit übersieht sie laut Aristoteles ein wesentliches Merkmal jeder Polis, nämlich dass sie aus in vielerlei Hinsichten Ungleichen aufgebaut sei. Wenn eine Polis tatsächlich aus wirklich Gleichartigen aufgebaut wäre, dann und nur dann wäre auch die demokratische Auffassung des Gerechten gerecht und zuträglich. 512 Allein unter diesen Bedingungen wäre die speziell demokratische Auffassung des Gerechten keine parteiische Ungerechtigkeit. Bates hingegen übersieht diese Kritik des Aristoteles, dass die Demokraten völlig verkürzt unter der Würdigkeit »nur« die Freiheit verstünden, und schreibt dem Aristoteles die Meinung zu, er habe die Demokratie für eine erstrebenswerte Verfassung gehalten, da sie den natürlichen Bedürfnissen der Mehrheit der Menschen entgegenkomme. 513 Dabei klammert Bates jedoch aus, dass Aristoteles auf-

Vgl. Pol. VI, 2: 1317b3–7. Vgl. EN V, 6: 1131a25–28 und Pol. VII, 9: 1328b32 f. bzw. Pol. V, 8: 1309a2. 511 Vgl. für diesen wichtigen Punkt: Pol. V, 1: 1301a28–36, Pol. III, 13: 1283a26–29 und Pol. III, 9: 1280a16–25. Auch Madison hält es für einen Fehlschluss, wenn eine direkte Demokratie aus der Gleichheit an politischen Rechten zu weitreichende Konsequenzen ziehen zu können glaubt und empfiehlt ein Repräsentativsystem als bessere Alternative (vgl. Artikel 10 der Federalist Papers: Hamilton/Madison 1993, 97). 512 Vgl. Pol. V, 8: 1308a11–13. 513 Vgl. Bates 1997, 205. 509 510

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grund seiner Kritik der Menge die demokratische Teilnahme aller 514 an der Regierung normativ nicht für wünschenswert hält. Schließlich führt die demokratische Auffassung des Gerechten für Aristoteles dazu, dass die Gleichheit von Menge und Elite 515 (insofern sie beide frei sind) unzulässig zu einer absoluten Gleichheit in allen Dingen verallgemeinert wird und dadurch die natürlichen Vorrechte der Tugendhaften gemindert werden. 516 Schließlich überstimmen die vielen Armen die Minderheit der Tüchtigen häufig. Weil nun die Armen faktisch stets bei weitem die Mehrheit stellen, resultiert aus der Gleichheit der Zahl die Herrschaft der Armen. Somit bedeutet die demokratische Gleichheitsregelung für Aristoteles nur eine ungerechte Nivellierung, die dem eigentlich Gerechten widerspricht. Daraus folgt nämlich eine ungerechte Bevorzugung der armen, ungebildeten Massen und nicht eine Orientierung am Gemeinwohl. Indem die Demokraten dies verkennen, sei Tür und Tor geöffnet für ein ungerechtes Hintansetzen der eigentlich Tüchtigen und nivelliere die Demokratie die Wert- und Leistungsunterschiede zwischen den Bürgern weg, 517 denn der nicht tugendhafte Pöbel kümmere sich nicht um die vernünftig begründeten Vorrechte der Besten. Daraus folge nämlich eine ungerechte, eigennützige Selbstbevorzugung der herrschenden armen, ungebildeten Massen und nicht eine Orientierung am Gemeinwohl. 518 Je nach Radikalität der Demokratie könne dies mitunter sogar tyrannische Züge annehmen: 519 In

Vgl. EN V, 6: 1131a25–28 und Pol. VII, 9: 1328b32 f. bzw. Pol. V, 8: 1309a2. Ober 1990 geht der Elitenfrage in Athen nach und deutet dabei Aristoteles als elitären Denker, der bei aller Demokratiekritik freilich nicht blind gegenüber manchen gerechtfertigten demokratischen Einwänden ist. 516 Vgl. Pol. V, 1: 1301a28–b4. Aus diesem Grund meine ich – contra Rosler –, dass 1308a11–13 nicht als Aufnahme von demokratischen Gedanken gelten kann. Vgl. Rosler 2005, 256 f. Obwohl es anders scheinen mag, trennt mich meines Erachtens nicht allzu viel von der Position Krauts in dieser Frage (zu dessen Position siehe Kraut 2002, 388–391): Gewisse Vorrechte sollen die Tugendhaften durchaus genießen, ansonsten liefe es ja auf einen – in der Sicht von Aristoteles – ungerechten, übersteigerten Egalitarismus hinaus. Nur darf diese Ungleichbehandlung – und ich glaube, dass dies die Pointe von Kraut sein soll – keine ungerechte Übervorteilung sein. 517 Auch hier setzt sich Aristoteles in einen Gegensatz zur Selbstdeutung der Demokratie, wie sich etwa in der Gefallenenrede des Perikles ausdrückt. Diese versteht sich nämlich nicht als Gegensatz zum Leistungsgedanken, sondern gerade als ihr Ausdruck. 518 Vgl. etwa Pol. III, 7: 1279b8 f. 519 Vgl. Pol. IV, 4: 1292a15–19. 514 515

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manchen Extremdemokratien kommt es sogar zu Verfolgungen der Tüchtigen 520 sowie Umverteilungsbestrebungen. Als recht gefährlich müssen auch wir Heutigen die radikaldemokratische Gepflogenheit bewerten, dass die meisten Ämter verlost und nicht gewählt werden, weil das Ziel der Wahl der Besten ein aristokratischer (oder oligarchischer) Zug wäre. 521 Stattdessen gewährleistet für die radikalen Demokraten nur das unparteiische Los eine gerechte Gleichheit und verletzt nur dies nicht die absolute Gleichheit der Polisbürger. 522 Somit darf die gleiche Bezeichnung »Demokratie« nicht über die wesentlichen Unterschiede zwischen der athenischen Radikaldemokratie und unseren heutigen modernen Demokratien hinwegtäuschen. Sowohl Aristoteles als auch ein athenischer Radikaldemokrat würden sich über unsere heutigen Demokratien ziemlich kritisch äußern. Einerseits würden beide das allgemeine Wahlrecht als viel zu großzügig geißeln, andererseits würde der athenische Radikaldemokrat unsere repräsentative Demokratie und die Wahl als Bestellungsmodus als Verrat an den eigentlich demokratischen Idealen empfinden. Schließlich treten die meisten modernen Demokratien als Repräsentativsysteme auf und bieten häufig nur wenig direktdemokratische Möglichkeiten. Damit kommt ein aristokratisches (im ursprünglichen Sinne des Wortes) Element in die Demokratiekonzeption. Aus heutiger Perspektive fehlt sicherlich auch die institutionell verankerte Sicherung der Minderheitenrechte. Nach all diesen normativen Schreckensmeldungen fragt man sich als Leser, wieso denn Aristoteles die Demokratie dennoch als beste der verfehlten Verfassungsformen annimmt und nicht etwa die Oligarchie ihr vorzieht. Zumal eben die Oligarchen immerhin die Qualität des Reichtums mitbringen, während die Armen nicht einmal dies tun. Warum also bevorzugt Aristoteles aus normativen Gründen die Demokratie gegenüber der Oligarchie, wenn die grundsätzlich höhere Stabilität der Volksherrschaft einmal außen vor gelassen wird? Hier sei ebenfalls in aller Kürze noch einmal an die zentralen Lehren aus Pol. III, 10 und Pol. III, 11 erinnert: Grundsätzlich sollte Vgl. Pol. V, 10: 1311a15–22. Vgl. Pol. IV, 9: 1294b7–9 und Pol. VI, 2: 1317b17–38. Wobei einige Ämter davon ausgenommen sind, wie etwa bestimmte militärische Funktionen. 522 Hansen 1995, 244 bestreitet diese aristotelische Interpretation und will unter der radikaldemokratischen Gleichheit keine absolute Gleichheit, sondern nur die Chancengleichheit verstanden wissen. 520 521

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kein gerechtfertigter Anspruch ignoriert werden, und die Freiheit ist nun mal die grundlegende Qualität eines Bürgers, die ihn von einem Knecht unterscheidet. Daher darf die Freiheit auf keinen Fall unberücksichtigt bleiben, weswegen die oligarchische Missachtung der freien Demokraten wesentlich schwerer wiegt als die demokratische Missachtung der reichen Oligarchen. Natürlich sollte keine der relevanten Bürgergruppen diskriminiert werden, aber das bouleutikon 523 des freien Menschen ist auf jeden Fall Rechtfertigung genug, damit auch die ansonsten relativ wenig würdigen und kaum tugendhaften Angehörigen des dêmos an der politischen Ordnung mitbeteiligt werden müssen – wobei dies für Aristoteles am besten durch eine verhältnismäßig passive Rolle der Vielen gewährleistet wird, nämlich die Wahl der Amtsinhaber und ihre Kontrolle und nicht hauptsächlich durch das aktive Gestalten von Poliszielen oder Gesetzesvorlagen. 3.3.1.5 Zur Stabilität radikaler und extremer Demokratien Warum sind nun trotz der von Aristoteles diagnostizierten Mängel die meisten Poleis seiner Zeit demokratisch regiert? Weil Tugend selten vorkommt, dagegen Reichtum und eine große Masse an Armen häufig zu finden sind; auch der Mittelstand ist in der Regel eher schwach ausgeprägt. 524 Besonders häufig kommt es allerdings zu dauerhaften Demokratien, da die Städte immer mehr vermassen und so sich leicht ein demagogenempfängliches Lumpenproletariat bildet. 525 Problematisch scheint nun jedoch die Frage, wieso gerade die städtischen Massendemokratien (also die radikalen Formen) sich trotz ihrer angeblichen Ungerechtigkeit recht stabil halten können. Schon seit Menschengedenken stellen sich viele die Frage, wie lange eigentlich ungerechte despotische Herrschaften überhaupt bestehen bleiben können: Scheitern sie nicht an ihrer eigenen Ungerechtigkeit und Gewalttätigkeit? Wenn die Analogie zur Tyrannis für jede radi523 Darin liegt der von Schütrumpf 1991b, 475 f. vermisste Beitrag zur Polis, denn dies zeichnet ja für Aristoteles den freien Mann aus und lässt ihn – bei Vorliegen der anderen nötigen Voraussetzungen – als politisch berechtigten Vollbürger sinnvoll an der Verfassungsordnung partizipieren. 524 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–32 und Pol. V, 1: 1301b39–1302a15. 525 Vgl. Pol. III, 15: 1286b15–20. Wieso sie stabiler als die Oligarchien sind, findet sich mit unterschiedlichen Erklärungen in Pol. VI, 6: 1321a1–3, Pol. IV, 11: 1296a13–16 und Pol. V, 1: 1302a8–15.

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kale Demokratie stimmen würde, dann wäre das Urteil des Aristoteles klar: Bekanntlich hält er die Tyrannis für eine der kurzlebigsten Verfassungsformen. 526 Aber gilt dies wirklich auch für alle radikalen Demokratien? Bekanntlich wird in Pol. IV, 4 die extreme Demokratie als despotisch und tyrannenähnlich gebrandmarkt, wobei dies in späteren Kapiteln durchaus mit einzelnen Maßnahmen belegt wird: In Pol. V, 10: 1311a15–22 schreibt Aristoteles manchen Demokratien die Verfolgung von Tüchtigen zu (wobei damit sicherlich extreme Demokratien gemeint sind); in Pol. V, 5: 1304b20–1305a7 prangert er zahlreiche Prozesse und Enteignungen in verschiedenen Städten an, die durch einen von Demagogen aufgehetzten dêmos ungerechterweise durchgeführt worden sind, genauso wie er den Demagogen in Pol. V, 9: 1310a2–5 die Spaltung der Polis in zwei Teile vorwirft, da sie die Reichen bekämpfen. Somit spräche das Sündenregister an Schandtaten gegenüber dem Gerechten anscheinend ziemlich eindeutig gegen radikale Demokratien, aber folgt daraus wirklich eine Kurzlebigkeit wie bei der Herrschaft von Tyrannen? Pol. VI, 4 scheint ausdrücklich einen solchen Schluss zu ziehen, wenn Aristoteles dort schreibt: »Da in der vollendeten Demokratie alle teilhaben, kann nicht jede Polis sie ertragen; und nicht leicht kann sie Bestand haben, wenn sie nicht durch Gesetze und Gewohnheiten gut zusammengehalten wird.« 527 Allerdings stutzen wir hier, wenn Vgl. Pol. V, 12: 1315b11 f. und 1315b38 f. Pol. VI, 4: 1319b1–4. Abseits der demokratiespezifischen Relevanz ist diese Stelle insofern besonders wichtig, da sie das anti-institutionalistische »rule of law«-Verständnis von Yack entscheidend in Frage stellt. Laut Yack 1993, 199 ist der aristotelische nomos in der »rule of law« nicht hauptsächlich institutionalistisch aufzufassen: Stattdessen gehe es hier um Respekt und Anwendung der Gewohnheitssitten und religiöser Normen. Dagegen lässt sich wieder einwenden, dass dann kaum die »rule of law« als eines der beiden Hauptrezepte gegen den desolaten Zustand der Poleis gelten könnte (so aber Yack 1993, 175): Schließlich herrscht gerade in sittlichen Fragen kein Konsens (wie beispielhaft die Diskussion der Lebensformen in der EN oder die Streitigkeiten um das Gerechte in der Politik zeigen). Die Nagelprobe können wir machen, wenn wir prüfen, was laut Yack ein »lawful regime« sein soll. Yack 1993, 200 schreibt dazu: »[…] a lawful regime is one in which there is a disposition among rulers to follow the community’s general rules, rather than one in which merely statutory and constitutional forms are respected.« Wenig später resümiert er (ebenda, 201): »Moral dispositions rather than political institutions define the Aristotelian rule of law«. Zur ersten Stelle lässt sich nicht nur noch einmal der erwähnte Einwand vorbringen, dass gerade die Sitten umstritten sind; richtig interessant wird vor allem ein Vergleich zwischen unserer Stelle Pol. VI, 4: 1319b1–4 und der Behauptung von Yack 526 527

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wir ein wichtiges Detail näher betrachten: Aristoteles spricht hier davon, dass Gesetze die radikale Demokratie zusammenhalten sollten. Ist es aber nicht gerade ein Kennzeichen der radikalen Demokratien, dass sie die Gesetze durch psêphismata ersetzen und die Masse sich zum Herrn über die Gesetze aufschwingt? Hier lohnt sich ein zweiter Blick auf die bereits erarbeiteten Ergebnisse und auf diese gerade zitierte Stelle. Sicherlich trifft der Wunsch nach einer Gesetzesenthobenheit auf die extremen Vertreter der demokratischen Lehre zu: »Von daher kam es, dass man sich nicht regieren lässt, am besten von überhaupt niemandem, oder wenn schon, dann nur abwechselnd.« 528 Nun umfasst dieser anarchistische Gedanke in der Interpretation des Aristoteles sicherlich auch die Freiheit von der Herrschaft des Gesetzes (»rule of law«). Dies lässt sich einerseits aus einer antidemokratischen Spitze erschließen, die sich in der mit Pol. VI einen methodos bildenden Untersuchung Pol. V findet; andererseits aus einer bekannten historischen Begebenheit: In Pol. V, 9: 1310a25–36 findet sich eine mit Pol. VI, 2 inhaltlich praktisch identische Charakterisierung der Merkmale der Demokratie. Ausdrücklich wird hier den Demokraten unterstellt, sie empfänden einen Gehorsam gegenüber der Verfassung als Knechtschaft. Da Pol. V und Pol. VI als ein methodos gelten und die zwei Merkmale der demokratischen Ideologie völlig miteinander übereinstimmen, kann man Pol. V, 9: 1310a25–36 gut als erläuternden Kommentar zu Pol. VI, 2: 1317b14–16 benützen. Auch historisch lässt sich ein Beispiel für eine zumindest momentan extreme Haltung gegenüber den Gesetzen finden: In einer berühmten Szene beschwert sich das athenische Volk im Arginusenprozess, dass es eine Zumutung sei, wenn es nicht so entscheiden könne, wie es wolle, 1993, 203: »It is a means of political rule, a particular way of exercising political power that is possible when a disposition to lawfulness is widely shared in a community.« Insbesondere unsere Stelle zeigt jedoch, dass die yacksche Gesamtaussage nicht zutreffen kann: Aristoteles beschreibt hier eine vollendete Demokratie, die er an einigen Stellen (z. B. Pol. IV, 6: 1293a) ausdrücklich der »rule of law« entgegensetzt; gemäß Yacks Definition dürften wir sie jedoch als ein »lawful regime« auffassen, da hier die Gesetze und Sitten ja von den Untertanen beachtet werden. Yack geriete an dieser Stelle also in einen Widerspruch zur ausdrücklichen Bewertung solcher Gemeinschaften als eben nicht von den Gesetzen beherrscht, solange er an seiner Auffassung festhält, dass Gesetzesgehorsam (vor allem auch im Sinne des Gehorsams gegenüber den ungeschriebenen Gesetzen der Sittlichkeit) ausreiche und die institutionelle Seite eine wesentlich kleinere Rolle spielte. 528 Pol. VI, 2: 1317b14–16 (Übersetzung des Verfassers, basierend auf Gigon und Schütrumpf).

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was in diesem Falle bekanntlich einen Verstoß gegen die Gesetze darstellt. 529 Andererseits schreibt Aristoteles an der zitierten Stelle von Pol. VI, 4 ausdrücklich von vollendeten Demokratien, die jedoch durch Gesetze zusammengehalten werden. Wie passt dies zusammen? Hilfreich ist es, wenn wir uns dabei an die Wahlheimat des Aristoteles erinnern, nämlich Athen. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, betrachtet Aristoteles diese Polis tatsächlich als radikale Demokratie. Freilich kann ihm nicht verborgen geblieben sein, dass es in Athen doch Gesetze gegeben hat und Athen überdies über eine recht stabile Verfassung verfügt hat. Hier bringt ein genauerer Blick auf die Charakterisierung der radikalen Demokratien in ihrem Verhältnis zu den Gesetzen interessante Ergebnisse: Genau genommen schreibt Aristoteles nämlich nirgends, dass es in dieser vollendeten letzten Demokratiestufe gar keine Gesetze mehr gebe. Stattdessen ist der dêmos nun Herr über die Gesetze, womit es also anscheinend doch noch welche geben muss. Nur ist ihre Rolle einerseits durch die psêphismata an den Rand gedrängt, andererseits entscheidet sich das Volk in manchen Fällen dazu, sich nicht an die Gesetze zu halten (»rule of psêphismata« kombiniert mit einer »rule by law«). Somit scheint der Schluss nahezuliegen, dass Aristoteles im Subtypus der vollendeten Demokratie zwischen einer radikalen Demokratie und extremen Demokratien unterschieden hat: Während in ersterer das Volk sich zwar immer wieder zum Herrn über die Gesetze aufschwingt und die meisten Entscheidungen in der Volksversammlung juristisch psêphismata sind, während kaum neue Gesetze erlassen werden bzw. die Ämter zwar noch existieren, aber ebenfalls nicht besonders wichtig sind, beseitigt die extreme Demokratie Ämter und Gesetze und wird deswegen rasch zugrunde gehen. Entsprechend möchte ich im nächsten Kapitel dafür plädieren, dass Aristoteles seine Wahlheimat Athen zwar als radikale, nicht jedoch als extreme Demokratie angesehen hat. Anders formuliert: Es gibt radikale Demokratien wie Athen, die das laufende Alltagsgeschäft größtenteils durch psêphismata regeln, aber immer noch Gesetze kennen, wobei das Volk sich manchmal anmaßt, die Gesetzeslage zu ignorieren und nach eigenem Gutdünken zu entscheiden. Wenn sich dies extrem steigert und die Gesetze völlig und praktisch

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Vgl. die Schilderung dieses Vorgangs in Xenophons Hellenika I, 7.

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immer missachtet werden, kommt es zu gesetzlosen Extremdemokratien, die dann kaum mehr lebensfähig sind. 530 3.3.1.6 Ist die aristotelische Kritik an der Demokratie eine Polemik gegen Athen? Vielleicht fragen sich manche Althistoriker, was denn ihr Fach durch eine derartige Analyse gewinne: Hier sei einerseits daran erinnert, dass bekanntlich Aristoteles immer wieder eine wichtige Quelle etwa für institutionengeschichtliche Fragen darstellt und daher eine Einordnung seiner allgemeinen Einstellung quellenkritisch durchaus interessant sein könnte. Umgekehrt fragen sich vielleicht manche Philosophen, ob denn diese historische Analyse für das Fach Philosophie überhaupt interessant sei. Hier möchte ich bemerken, dass wir in einer Demokratie leben und Athen bekanntlich als die Wiege der Demokratie gilt. Wenn nun Aristoteles gerade diese Polis implizit oder explizit wegen überstarker demokratischer Tendenzen angreift, sollte uns dies doch interessieren: Schließlich berufen sich auch heute immer wieder Politiker in Sonntagsreden auf die athenische Demokratie, meist in affirmativer Weise, manchmal in kritischer Hinsicht, um unsere heutige repräsentative Demokratie als angeblich undemokratische Parteienherrschaft zu brandmarken. Entsprechend lernen wir über eine Auseinandersetzung mit der Kritik des Aristoteles an der athenischen Demokratie unsere eigene Demokratie besser einzuschätzen. Grundsätzlich möchte ich meine Erörterungen in zwei Hauptfragen kleiden, nämlich ob die Darstellung der extremen Demokratie a) philosophisch konsistent auf Athen bezogen werden kann, b) historisch eine derartige Charakterisierung Athens im vierten Jahrhundert als Radikaldemokratie überhaupt rechtfertigbar ist. Dabei sollten wir diese zwei verschiedenen Fragen sorgfältig auseinanderhalten: Erstens: Hat Aristoteles die athenische Demokratie als radikale Demokratie betrachtet (was in meiner Sicht Philosophen vorrangig beschäftigt)? Zweitens: Falls Aristoteles tatsächlich die athenische Demokratie als Token des Typus der radikalen Demokratie ansieht, ist dies auch wirklich historisch gerechtfertigt (dies ist eine Frage, die für Historiker besonders relevant ist)? Nun werden diese Aspekte aber häufig vermischt und gegen die 530

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Vgl. das schon erwähnte Pol. VI, 4: 1319b1–4 sowie Pol. V, 9: 1309b18–39.

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Zuordnung der athenischen Zustände zur Radikaldemokratie etwa Einwände gemacht, dass dies ja nicht die damaligen Zustände korrekt wiedergebe. Nach den allgemeinen Erörterungen der letzten Kapitel stoßen wir also nun zur Frage vor, ob diese Schilderungen einer radikalen Demokratie überhaupt auf Athen gemünzt sein können. Zunächst möchte ich dabei die Frage erörtern, ob die erarbeiteten Hauptund Nebenkriterien innerhalb des Corpus Aristotelicum auf Athen angewendet werden können, also die Frage behandeln, ob Aristoteles seine Beschreibung der athenischen Demokratie mit derjenigen einer radikalen Demokratie zur Deckung bringen kann. Philologisch möchte ich dabei vorausschicken, dass ich – ebenso wie die meisten Interpreten – die Athênaiôn politeia mit gewissen Vorbehalten für echt halte. Manche Interpreten wie etwa Mulgan nehmen an, dass Aristoteles radikale Demokratien gar nicht in der politischen Wirklichkeit angesiedelt, sondern sie sozusagen nur als eine abstrakte Kategorie zur symmetrischen Abrundung des Gedankengebäudes geschaffen habe. 531 Daher sollte zuerst der Frage nachgegangen werden, ob Aristoteles überhaupt radikale und extreme Demokratien im Griechenland seiner Zeit ausgemacht hat. Tatsächlich ist diese Frage eindeutig beantwortbar: So beschreibt Aristoteles in Pol. V, 5 und Pol. IV, 6 die vollendete Variante der Demokratie als die neueste Erscheinungsform, womit sie eben doch in Wirklichkeit existieren muss. 532 Überdies kann er sich in Pol. IV, 14 sogar auf das angeblich dominierende Demokratieverständnis berufen, das unter einer Demokratie die Herrschaft des Volkes über die Gesetze verstehe. 533 Auch Pol. IV, 11 zeigt klar, dass die herrschenden Oligarchien und Demokratien nicht nur soziologisch von den Extremen Reich oder Arm beherrscht werden, sondern diese Gruppen die Verfassung extrem in ihrem Sinne und nicht etwa ausgeglichen gestalten. 534 Besonders interessant ist nun natürlich die Frage, welche Poleis Aristoteles denn konkret zu solchen extremdemokratischen Bürgerschaften zählt. Wie er es auch in anderen derartigen Fällen zu tun pflegt, gibt Aristoteles nicht besonders viele Beispiele. Sicherlich dürfen wir jedoch gemäß Pol. V, 3: 1302b27–33 Theben, Megara und 531 532 533 534

Vgl. z. B. Mulgan 1977, 75. Vgl. Pol. V, 5: 1305a28–32 und Pol. IV, 6: 1292b41–1293a10. Vgl. Pol. IV, 14: 1298b13–15. Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–32, besonders a27–32.

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Rhodos als Beispiele für extremdemokratische Regierungen ansehen, die wegen ihrer anarchia und ataxia gestürzt worden sind. 535 Letztlich bestätigen sich im Falle dieser extremen Demokratien wichtige Aussagen, die wir zu Beginn dieses Buches kennengelernt haben: Ohne eine Rechtsordnung fehlt es an der nötigen Stabilität, deswegen kommt es zu einem Zerfall der Ordnung auf mehreren Ebenen. Einerseits führt eine Unordnung im Rechtsbereich auch zu einer Unordnung im sozialen Bereich, andererseits kann eine gesetzlose Machtordnung letztlich auch nicht auf einen längeren Fortbestand hoffen. Nicht nur verkehrt die erwähnte despotische Herrschaft der Menge über die Besten die für Aristoteles eigentlich angebrachten sozialen und politischen Verhältnisse, 536 sondern begehen extreme Demokratien angeblich auch den verhängnisvollen Fehler, dass sie eine Hetze gegen die Reichen betreiben und sich gar in einen regelrechten Kampf gegen sie hineinsteigern. 537 Problematisch an dieser extremen Polarisierung ist, dass sie zu einer Spaltung der Polis führt und so die Gemeinschaft zerreißt. Wegen der Wechselwirkung zwischen der sozialen Stabilität und der politischen Stabilität werden extreme Verwerfungen im einen Bereich auch zum Untergang im anderen Bereich führen. Wie bereits erwähnt, hält Aristoteles daher gesetzlose Extremdemokratien für kaum lebensfähig. 538 Wie steht es aber mit Athen? Sogar in der Politik, die sich – wie erwähnt – eher über konkrete Fälle ausschweigt, lassen sich Hinweise dafür finden, dass Aristoteles gerade diese Polis für radikaldemokratisch gehalten hat. Eindeutig in diese Richtung äußert sich Pol. II, 12, da hier Aristoteles meint erkennen zu können, dass die solonischen Reformen die auf der Loswahl beruhenden Gerichte zu Herren über alles gemacht hätten und in der Folge man dem Volk wie einem Tyrannen geschmeichelt habe und dadurch die Verfassung in die nun bestehende Demokratie eingemündet wäre. 539 Wie wir bereits gesehen haben, ist die »jetzige Demokratie« für Aristoteles die radikalde535 Rein dem Buchstaben nach hat Strauss zwar Recht, wenn er schreibt, dass Aristoteles in der Politik keine Polis expressis verbis extremdemokratisch nenne (vgl. Strauss 1991, 216), aber der Zusammenhang rechtfertigt diese Zuschreibung deutlich. 536 Vgl. Pol. IV, 4: 1292a15–19. 537 Vgl. Pol. V, 5: 1304b20–1305a7 und Pol. V, 9: 1310a2–5. 538 Vgl. das schon erwähnte Pol. VI, 4: 1319b1–4 sowie Pol. V, 9: 1309b18–39. 539 Vgl. Pol. II, 12: 1274a3–7. Dass der Abschnitt über Solon im ansonsten fremdkompilierten Kapitel sicherlich Aristoteles zuzuschreiben ist, belegt Schütrumpf 1991b, 367.

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mokratische Variante und auch die Analogie zur Schmeichlerei bei Tyrannen beschreibt eindeutig eine radikaldemokratische Eigenart. Weiter gestützt wird diese augenfällige Charakterisierung Athens als Radikaldemokratie durch eine knappe Bemerkung zur Machtpolitik Athens und Spartas in Pol. IV, 11. Hier sehen wir, dass in Griechenland vor allem Demokratien und Oligarchien vorherrschen, die Aristoteles als radikal betrachtet, denn ihre Verfassungen kennzeichnet er als »ganz in ihrem Sinne geordnet« und nicht als »eine für beide gemeinsame und ausgeglichene Verfassung«. Dies hat einerseits innenpolitische Gründe, denn erstens ist der mäßigende Mittelstand meist leider ziemlich schwach vertreten, und zweitens führen die steten Kämpfe zwischen dêmos und oligoi nicht gerade zu einer Kompromissbereitschaft; andererseits – und dies ist in unserem Kontext besonders interessant – liegt ein weiterer Grund in den beiden langjährigen Führungsmächten Griechenlands, welche die Poleis in ihrem Einflussbereich stets in ihrem Sinne ordneten. 540 Wenn nun aber die abhängigen Demokratien schon als radikal gekennzeichnet werden, wird wohl die Ordnungsmacht Athen selber auch eine radikale Demokratie sein und nicht etwa eine gemäßigte. Damit hätten wir in der Politik nun Athen als radikaldemokratisch erkannt, was sich durch weitere schwache Indizien sowie zwei starke Belege endgültig legitimieren lässt. Wenn wir uns an die Nebenkriterien für eine radikale Demokratie erinnern, trifft sowohl der Volksreichtum der radikalen Demokratien und ihre Verstädterung (im Gegensatz zur besten Bauerndemokratie) unter allen Demokratien Griechenlands sicherlich am meisten auf Athen zu, das ja bekanntlich die größte Stadt Griechenlands gewesen ist, 541 wie auch die Bestellung der allermeisten Amtsinhaber 540 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–36. Zwar sind Athen und Sparta an dieser Stelle nicht genannt, aber es kann sich natürlich nur um sie handeln, was die Komplementärstelle in Pol. V, 7: 1307b22 f. übrigens auch direkt belegt. Bekanntlich beurteilt Aristoteles die außenpolitische Rolle Athens recht harsch: Ebenso wie Sparta achte Athen die Freiheit der anderen Griechen nicht, sondern behandle die anderen Poleis despotisch. Deshalb eigneten sich diese beiden Poleis nicht zur Führung Griechenlands, da sie an ihr eigenes Wohl und nicht an das griechische Gemeinwohl dächten (vgl. Pol. III, 13: 1284a38–41 sowie Pol. IV, 11: 1296a32–36 und Pol. V, 7: 1307b22 f.). Dagegen möchte Bellers Aristoteles zu einem Verfechter eines Suprematieanspruchs Athens machen. Vgl. Bellers 1996, 19. 541 Vgl. Pol. VI, 5: 1320a17 (Volksreichtum) sowie Pol. IV, 6 und VI, 4 (Bauerndemokratien im Gegensatz zu städtischen Radikaldemokratien). Dass Aristoteles den großstädtischen Athenern gerade eine bäuerliche Demokratie als positives Gegenbild vor-

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durch Los von Aristoteles als Kennzeichen der radikalen Demokratie aufgefasst wird und tatsächlich in Athen praktiziert worden ist. Wesentlich interessanter aber ist natürlich, ob wir die Hauptkriterien auf Athen anwenden können. Tatsächlich ist dies problemlos möglich, wie ein Blick vor allem in das vierte Buch der Politik zeigt, denn hier finden wir die Radikaldemokratie als misthos-Demokratie gekennzeichnet, in der alle Freien dank dieser Taggelder an der Macht teilhaben. 542 An einer anderen Stelle im vierten Buch macht er entsprechend den misthos entscheidend für die Machtübernahme der Volksversammlung verantwortlich: 543 Die Zahlungen für den Besuch der Volksversammlungen motivieren unglücklicherweise die Menge dazu, einem für sie nicht angebrachten Müßiggang zu frönen. 544 Gerade dieser Müßiggang ermögliche es der Masse jedoch, die Kontrolle in der Politik zu übernehmen und sich über die Gesetze zu stellen. Wenn nun aber der misthos derart konstitutiv für eine Radikaldemokratie ist und Athen bekanntlich einen misthos gezahlt hat, dürfen wir wohl mit Fug und Recht Aristoteles zuschreiben, Athen als eine solche Radikaldemokratie aufzufassen. Dies wird dadurch bestätigt, dass er die gängige athenische Praxis, alle über alles entscheiden zu lassen, während die Beamten nur Vorschläge machen dürfen, ebenfalls als radikaldemokratisch kennzeichnet. 545 Entsprechend erfüllt Athen in der Politik durch Textstellen belegbar sicherlich mindestens drei der vier wichtigen Kriterien, nämlich weitgehende Entmachtung der Ämter zugunsten der Volksversammlung, Teilhabe aller freien Bürger an der Macht und Bestehen einer Diätendemokratie. Somit bleibt nur noch die Frage offen, ob Aristoteles Athen in der Politik ein Abrücken von der »rule of law« zuschreibt. Eindeutig belegen oder widerlegen lässt sich dies jedoch nicht – wenn wir uns auf die Politik beschränken. Dafür spräche, dass

hält, kann von ihnen wohl nur als Provokation empfunden worden sein. Neben dem bereits erwähnten allgemeinen Urteil über den unedlen, armen und ungebildeten Demos und dem bereits erwähnten Vorzug der Bauernschaft, dass sie politisch weitgehend inaktiv ist, finden wir im VII. Buch der Politik eine spezielle »Würdigung« der Bauernschaft, die immerhin die Basis der besten Demokratie darstellen soll: Im VII. Buch soll sich die Bauernschaft aus den sonst so verachteten Knechten zusammensetzen (vgl. Pol. VII, 10: 1330a25–30). 542 Vgl. Pol. IV, 6: 1293a3–6. 543 Vgl. Pol. IV, 15: 1299b38–1300a4. 544 Vgl. Pol. IV, 6: 1293a1–10. 545 Vgl. Pol. IV, 14: 1298a28–33

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Aristoteles den Demokratien allgemein eine Gesetzes- und Verfassungsfeindlichkeit zuschreibt, wie sich vor allem in Pol. V, 9: 1310a25–36 und in Pol. VI, 2: 1317b11–17 zeigt. Hier meint nämlich Aristoteles nachweisen zu können, dass der demokratische Wunsch »Leben können wie man will« eine anarchistische Grundtendenz der Demokraten verrate. Überdies spielen im alten Athen bekanntlich sowohl die Demagogen als auch die psêphismata eine wichtige Rolle, wobei hier die Frage nach dem Ausmaß des Demagogeneinflusses sowie der Relevanz der psêphismata in ihrem Verhältnis zu den Gesetzen rein aufgrund der aristotelischen Politik natürlich nicht entscheidbar ist – entsprechend werde ich diese Frage am Ende des Kapitels diskutieren. Damit hat sich als Resultat unserer Betrachtung des aristotelischen Werkes Politik ergeben, dass Aristoteles in diesem Werk die Polis Athen sicher als radikaldemokratisch charakterisieren möchte. Erst recht eindeutig ist der Fall in der Athênaiôn politeia, denn hier spricht Aristoteles ausdrücklich und eindeutig Athen sämtliche vier Hauptkriterien für eine radikaldemokratische Polis zu: So hören wir etwa in der Frage nach der »rule of law« bzw. der »psephismatic rule of man« sowie in der Frage nach der Macht des Volkes gegenüber den Ämtern in Ath. Pol. 41,2 sehr eindeutig: »Denn das Volk hat sich selbst zum Herrn über alles gemacht und verwaltet alles durch Volksbeschlüsse und Gerichte, in denen das Volk die Macht hat. Sogar die Gerichtsbarkeit des Rats wurde auf das Volk übertragen.« 546 Wenig überraschend finden sich auch die Teilhabe aller freien Bürger an der Macht 547 und die Ausbezahlung eines Tagesgeldes (misthos) 548 problemlos wieder. Getreu der oben getroffenen Unterscheidung stellt sich jedoch nun die Frage, ob es sich bei der vollendeten Demokratie Athens nun um eine radikale oder um eine extreme Demokratie handle. Nachdem Athen eine verhältnismäßig recht stabile 549 Polis gewesen ist (während Aristoteles doch den tyrannenähnlichen Extremdemokratien genau wie der Tyrannis selbst 550 eine kurzlebige Instabilität prophezeit hat) und auch die demagogeninitiierten Umverteilungskämpfe gegen Ath. Pol. 41,2 in der Übersetzung von Martin Dreher. Vgl. Ath. Pol. 42,1. 548 Vgl. Ath. Pol. 41,3. 549 Leider gibt Roberts keinen Textbeleg für ihre These, warum Aristoteles Athen für instabil gehalten haben soll. Vgl. Roberts 1994, 71. 550 Zur Kurzlebigkeit der Tyrannis vgl. Pol. V, 12: 1315b11 f. und 1315b38 f. 546 547

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die Reichen von Pol. V, 5: 1304b20–1305a7, Pol. VI, 5: 1320a4–6 und Pol. V, 9: 1310a2–5 in Athen gar nicht stattgefunden haben, liegt die Charakterisierung als radikale Demokratie wohl bedeutend näher als eine Kennzeichnung als Extremdemokratie. Ist nun Athen für Aristoteles ein Beispiel für die äußerste und schlechteste Demokratie gewesen, wie etwa Keyt 551 annimmt? Wer die Instabilitätsstelle Pol. V, 3: 1302b27–33 und die Umverteilungsstelle Pol. V, 5: 1304b20–1305a7 vergleicht, bemerkt, dass weder für die Instabilität noch für die Umverteilungskämpfe Athen als Beispiel genannt wird. Und das ist kein Zufall, wie ein Blick in die Athênaiôn politeia zeigt: Natürlich ist sich Aristoteles der Stabilität der demokratischen Verfassung Athens sehr wohl bewusst, denn die oligarchischen Zwischenspiele rund um die Jahrhundertwende sind bekanntlich recht kurz gewesen bzw. behauptet er in Ath. Pol. 41,2 eine Konstanz der radikaldemokratischen Verfassung von 403/2 bis zum Zeitpunkt der Niederschrift der Athênaiôn Politeia (meist so gegen 335–322 angesetzt). Ebenso lobt er die restaurierte Demokratie von 403/2 in Ath. Pol. 40,2+3 dafür, dass sie pragmatisch klug nicht nur die Schulden der Oligarchen übernommen hätte, die diese im Kampf gegen die Demokraten bei Sparta aufgenommen hatten, sondern auch von jeglicher Umverteilung Abstand genommen hätte. Daher leidet Athen auch nicht unter der für die verfehltesten Extremdemokratien typischen extremen Polarisierung, die zu einer Spaltung der Polis führt und so die Gemeinschaft zerreißt. Entsprechend möchte ich die These vertreten, dass Aristoteles Athen als eine Radikaldemokratie betrachtet hat, allerdings nicht als eine nicht lebensfähige Extremdemokratie. Schütrumpf streicht in einer allgemeinen Betrachtung heraus, dass »Aristoteles in der Politik nicht als Historiker die Wechselfälle einer Verfassung in einem einzigen Staat untersucht oder darauf reagiert, sondern verallgemeinernd Schlüsse aus der historischen Erfahrung vieler Staaten zieht.« 552 Daher dürfen wir nicht – was jedoch angesichts der dürftigen Quellenlage über die anderen Demokratien in Griechenland verführerisch naheliegt – blind athenozentrisch sein und sämtliche Schilderungen der radikalen Demokratien ohne Prüfung von vornherein auf Athen beziehen. 553 Dazu noch einmal Schütrumpf: »Die 551 552 553

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Vgl. Keyt 1999, 214 und 223. Schütrumpf 1995, 280. Kraut 2002, 11, Fußnote 15 zitiert aus einem privaten Brief Hansens an Ober, dass

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Darstellung der letzten Form von Demokratie in Pol. 4, 4 hat durchaus Bezüge zur Realität Athens, darf aber nicht einfach als Aristoteles’ Bild des zeitgenössischen Athens verstanden werden.« 554 In Korrektur dieser Verzeichnung kann Schütrumpf herausstreichen, dass manche athenischen Einrichtungen sogar als Vorbild für andere radikale Demokratien angeführt werden. 555 Allerdings sehe ich seine These für fraglich, dass Aristoteles im Gegenteil Athen sogar eine gute gesetzliche Ordnung zubillige. 556 Wir wissen bereits aus anderen Kapiteln, dass nicht bloß gute gesetzliche Ordnungen für eine Stabilität der Polis sorgen. 557 Damit sind wir zur zweiten und für die Althistoriker besonders interessanten Frage vorgestoßen, nämlich der Frage, ob die radikaldemokratischen Charakteristika tatsächlich auf das historische Athen des vierten Jahrhunderts gepasst haben. Wir haben bisher gesehen, dass Aristoteles auf jeden Fall Athen als radikale Demokratie betrachtet hat, allerdings nicht als extreme. Haben nun die von Aristoteles angegebenen Merkmale einer radikalen Demokratie tatsächlich auf Athen zugetroffen? Oder hat Hansen recht, der meint, dass Philosophen zu allen Zeiten gerne Nestbeschmutzer gewesen seien? 558 Hier nehmen wir uns am besten wieder die vier Hauptkriterien für eine radikale Demokratie vor: 1) Persönliche Herrschaft des dêmos bzw. der Demagogen statt der »rule of law«; kennzeichnend dafür ist die weitgehende Ablösung der Gesetze durch psêphismata, 2) Machtverlust der Ämter stattdessen übergroße Macht der Volksversammlung, 3) Teilhabe aller an der Macht und 4) Ausbezahlung eines Taggeldes (misthos). Wenn wir uns zunächst Punkt 1 zuwenden, lässt sich über das Ausmaß der Rolle der Demagogen im alten Athen sicherlich trefflich streiten. Gerade zu Zeiten des Aristoteles hat es allerdings bekanntlich eine Reihe sehr wirkungsmächtiger Demagogen hüben wie drü-

sich nur etwa ein Neuntel der historischen Beispiele in der aristotelischen Politik auf Athen beziehen. 554 Schütrumpf 1995, 282. 555 Vgl. Schütrumpf 1996, 303. 556 Vgl. Schütrumpf 1996, 304. 557 Insofern kann die Stabilität der athenischen Demokratie nicht als Beleg für Wohlgesetzlichkeit gelten (so aber Schütrumpf 1996, 637 Anm. 98,16). 558 Vgl. Hansen 1995, 24. Ordnung in der Polis

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ben in Athen gegeben: Man denke hier nur an Demosthenes, Hypereides, Lykurgos, Demades, Aischines u. v. a. (oder an den durchaus auch einflussreichen Rhetoren Isokrates). Was die Herrschaft des Gesetzes angeht, so trifft Aristoteles – abgesehen von Ausrutschern wie dem Arginusenprozess – sicherlich nicht das Selbstverständnis des athenischen dêmos, der sich als gesetzestreu verstanden hat. 559 Nun ist aber bekanntlich ein Selbstverständnis nicht immer zutreffend: 560 Wie dem auch sei, juristisch verzeichnet Aristoteles das Bild sicherlich entscheidend, wenn er die Höherrangigkeit der Gesetze gegenüber den Volksabstimmungen nicht erwähnt und in der Politik die athenische graphê paranomôn verschweigt. 561 Ebenso übertrieben ist auf jeden Fall auch die plakative Aussage in Ath. Pol. 41, 2 (als konkrete Bestätigung von Pol. IV, 4: 1292a35 f. für Athen), dass in Athen alles in Volksabstimmungen und vom dêmos dominierten Gerichten geregelt werde. Entsprechend müssen wir Hansen recht geben, dass Aristoteles den juristischen Vorrang der Gesetze nicht korrekt wiedergegeben habe. 562 Zumindest rechtstheoretisch sind wir also gut beraten, hier Aristoteles nicht allzu sehr zu vertrauen. Wie hat dies realpolitisch ausgesehen? Interessanterweise haben die Athener nach einer gewissen Zeit derart hohe Hürden für neue Gesetze aufgebaut, dass zwischen 403 und 322 nur extrem wenige neue Gesetze erlassen worden sind (weniger als zehn), aber etwa 500 psêphismata; zu dieser Zahl kommen wenigstens moderne Althistoriker. 563 Ein wichtiger Teil des politischen Tages559 Viele antidemokratische Zeitgenossen haben die Athener dafür kritisiert, ihren Herrschern nicht gehorchen zu wollen, was laut Schütrumpf 1991b, 279 f. Anm. 33,41 meist auch den Vorwurf des Ungehorsams gegenüber der Gesetzesherrschaft umfasst habe. Konträr das athenische Selbstverständnis (vgl. Hansen 1995, 74 und Piepenbrink 2001, 150 ff.). 560 Dies sollte vielleicht gegen Barry Strauss eingewendet werden, der die Lobpreisungen der Gesetze durch die Demagogen bereits als Hinweis für die »rule of law« liest. Vgl. Strauss 1991 228. 561 Vermutlich tut er dies deswegen nicht, weil damit sein Bild des unbeschränkten Pöbels etwas hinterfragt wird. Zwar könnte er geltend machen, dass die graphê paranomôn eigentlich ziemlich stark als politische Waffe missbraucht wird (so wird etwa die klar gegen Gesetze verstoßende Kranzverleihung an Demosthenes trotz eines entsprechenden Antrages von Aischines nicht für gesetzwidrig erklärt. Vgl. Wolff 1970, 13). Jedoch haben dies nicht nur die demokratischen Demagogen als Machtmittel missbraucht, sondern gerade Vertreter der antidemokratischen und promakedonischen Richtung. Darauf weist jedenfalls Wolff 1970, 25 Anmerkung 56 hin. 562 Vgl. Hansen 1995, 176–180. 563 So Nippel 2008, 78 bzw. Hansen 1995, 12.

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geschäfts ist also durch Volksabstimmungen bestritten worden, was trotzdem natürlich nicht die unzulässige Generalisierung des Aristoteles entschuldigt. Wieso konnte Aristoteles vermutlich doch halbwegs reinen Gewissens diese Thesen über Athen aufstellen? Hier dürfen wir nicht vergessen, dass Aristoteles kein Philosoph im Elfenbeinturm war, sondern sich als Gegner der zeitgenössischen athenischen Demokratie verstand, wie über mehr als ein Jahrhundert hinweg viele Forscher wie Wilamowitz oder Kelsen festgestellt haben. 564 Entsprechend ist seine Sicht natürlich parteiisch gefärbt, was Historiker und Philosophen entsprechend vorsichtig machen sollte, wenn es um seinen Quellenwert geht. Letztlich behauptet Aristoteles, dass entgegen der Eigendarstellung der Demokraten gerade in der Demokratie der Mensch und nicht das Gesetz herrsche. Wenn Aristoteles die Herrschaft der athenischen Menge über das Gesetz anprangert, denkt er vermutlich an gesetzeswidrige Verhaltensweisen wie die Zuerkennung des Ehrenkranzes an Demosthenes durch die Volksrichter oder die häufigen politisch motivierten und nicht selten rechtsbeugenden Strafprozesse (eisangeliai). 565 Hier hat sich das athenische Volk tatsächlich nicht stets mit Ruhm bekleckert, wie auch Hansen mehrfach bemerkt. Wesentlich einfacher sind die restlichen Fragen zu beantworten: Wie Hansen und die meisten anderen modernen Althistoriker Aristoteles zugestehen, sind die Ämter in den radikalen Demokratien wie Athen tatsächlich weitgehend zugunsten der Volksversammlung entmachtet worden. 566 Strauss möchte dagegen die selbst auferlegten Einschränkungen der Macht der Volksversammlung anführen, nämlich die Tätigkeiten des Rats und der Nomotheten sowie die wichtige Rolle des Volksgerichts. Wie Hansen jedoch ausführt, ist selbst der unter den Ämtern noch wichtigere Rat in Athen relativ machtlos 567 und ist die ekklêsia 340–338 wieder so allmächtig wie früher in radi564 Kritisch bespricht solche Interpretationen, die Aristoteles monarchistisch-antidemokratisch lesen, Schütrumpf 1991b, 556 Anm. 81,17. 565 Zu den eisangeliai in Athen gibt Hansen 1995, 224–226 reichlich Aufschluss. Die Volksgerichte sind – was nicht nur Aristoteles – notiert, hauptsächlich von den Armen dominiert (vgl. Hansen 1995, 190 f.; contra Strauss 1991, 225 und 228), was gegen die angeblich herabgesetzte Attraktivität des Volksgerichts für die Menge spricht, welche Strauss 1991, 221 beobachten will. 566 Vgl. Hansen 1995, 236. 567 Vgl Hansen 1995, 256.

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kaldemokratischen Zeiten 568. Ebenso kann das Fehlen der Nomotheten bei Aristoteles laut Hansen dadurch erklärt werden, dass er sie im Begriff dikastêria mitgedacht habe. 569 Wie wir bereits aus Ath. Pol. 41,2 ersehen haben, gehört das Volksgericht für Aristoteles ebenfalls zur kyrion-Rolle des dêmos und ist daher kein Gegeneinwand gegen die Macht des dêmos. Völlig unbestritten ist natürlich die Teilnahme aller freien Bürger an der Vollbürgerschaft sowie die Ausbezahlung des Taggelds 570. Auch bei den Nebenkriterien scheint die Sachlage relativ unumstritten: Die ekklêsia wird hauptsächlich von Städtern, nicht von Bauern beherrscht, 571 die Bestellung der meisten Ämter erfolgt durch Los 572. Lediglich das Bürgerrecht ist seit dem Gesetz des Perikles (451/450) nicht radikaldemokratisch lax, sondern lässt Kinder aus Ehen mit nur einem athenischen Elternteil nicht als Vollbürger gelten. Dennoch darf diese Bestimmung in ihrer Bedeutung nicht übertrieben werden, wenn es um die Frage geht, ob Aristoteles Athen als Radikaldemokratie bezeichnet. Rosler hingegen bestimmt die Polis Athen nur aufgrund der perikleischen Abstammungsbestimmungen als Vertreter des dritten 573 Demokratietypus. 574 Ein Blick auf Pol. V, 5: 1305a29–32 hätte Rosler davor bewahrt, ein einziges Merkmal zum Prüfstein zu machen, ob eine Verfassung einem bestimmten Typus oder gar Subtypus entspricht. Hier stellt sich nämlich heraus, dass die Wahl von Beamten durch das Volk (welche in Pol. IV, 9: 1294b7– 9 als primär oligarchisch gekennzeichnet wird) unter bestimmten Umständen sogar zu einer extremen Demokratie mit ihrer Herrschaft des Volkes über die Gesetze führen kann. Entsprechend genügt für das Charakterisieren einer Verfassung nicht das Heranziehen nur eines einzigen Merkmals. Überdies charakterisiert Aristoteles in der Ath. Pol. die athenische Demokratie klar als radikal, gibt jedoch ohne Probleme in Ath. Pol. 26, 3 die Bürgerrechtsregelung des Perikles Vgl. Hansen 1995, 156. Vgl Hansen 1995,182. 570 Wobei in Athen Diäten für Gerichte, Rat und Volksversammlung, nicht aber nicht für Magistrate gezahlt werden (vgl. Hansen 1995, 249). 571 Vgl. Hansen 1995, 130; contra Yack 1993, 75, der Athen als bäuerliche Demokratie zeichnet. 572 Vgl. Hansen 1995, 239 und 244. 573 Vgl. Pol. IV, 4: 1292a2. 574 Vgl. Rosler 2005, 258. Hansen jedoch hält auch in der Bürgerrechts-Frage Athen für eine extreme Demokratie (vgl. Hansen 1995, 97). 568 569

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wieder, ohne dass dies ihm sichtliche Vereinbarkeitsprobleme mit seiner sonstigen Einschätzung Athens als Radikaldemokratie verursacht. Auch in weiteren Punkten kritisiert Aristoteles athenische Einrichtungen: so tadelt er den Ostrakismos, der meist nur für Fraktionskämpfe missbraucht worden ist und so der Polis eher Schaden zugefügt hat. 575 Zwar hat Keyt recht, dass Aristoteles den Ostrakismos nicht rein negativ beschreibt und ihn in der langen Passage Pol. III, 13: 1284a17–b22 sogar für die besten Verfassungen zulässt. 576 Jedoch gesteht Aristoteles dem Ostrakismos nur ein gewisses Recht zu (»echei ti dikaion politikon«), beschreibt ihn aber nicht als »a perfectly acceptable method« 577, sondern hält ein Vermeiden des Ostrakismos ausdrücklich für besser. Überdies bemängelt Aristoteles, dass der Ostrakismos in den Poleis faktisch nur ein Parteiwerkzeug gewesen sei. Dieser Vorwurf wird sich vermutlich auch auf Athen beziehen, wenn auch nicht nur. 578 Last but not least wird sich Aristoteles mit folgender Bewertung einerseits wenig Freunde in Athen gemacht haben, und andererseits dürfen wir dies sicherlich zu den antiathenischen Spitzen rechnen, dass Aristoteles die Demokratie zu den verfehlten Verfassungen rechnet. Man bedenke nämlich, dass die Demokratia 333/2 in Athen sogar einen eigenen Kult bekommt. 579 Welches Resümee können wir nun ziehen? Vermutlich hängt dies von der Gewichtung der verschiedenen Faktoren ab.580 Auf jeden Fall war die athenische Demokratie nicht derart verkommen, wie es ihre antiken Gegner gerne zeichneten. 581 Auch Aristoteles können Vgl. Pol. III, 13: 1284a17–b25. Vgl. Keyt 1999, 81 577 Ebenda. 578 Interessanterweise spricht Aristoteles in Pol. V, 2: 1302b18 f. davon, dass der Ostrakismos in Athen üblich sei. Dabei ist er zu den Lebzeiten des Aristoteles schon längst nicht mehr angewandt worden. 579 Nippel vermerkt das bezeichnende Faktum, dass sowohl 410/409 als auch 337/336 die Athener gesetzlich regeln, dass Verschwörer gegen die Demokratie und Amtsträger von darauf folgenden, nichtdemokratischen Verfassungen von jedem Bürger straflos umgebracht werden dürfen. Vgl. Nippel 2008, 76 sowie Fußnote 74. 580 Auch Gehrke betrachtet Athen als radikale Demokratie, was er an der Verlosung der Ämter und v. a. an der Zahlung von Taggeldern festmacht (vgl. Gehrke 1985, 313 ff.). Rosler dagegen meint, Aristoteles habe die athenische Demokratie als weit weg von radikaldemokratischen Zuständen beurteilt (vgl. Rosler 2005, 256). 581 Übrigens ist es sehr bemerkenswert, wie weit Platon in seinem Furor gegenüber der athenischen Demokratie geht: Hier ist besonders ein Vergleich mit der persischen Herrschaft bemerkenswert. Bekanntlich steigen die Galionsfiguren der athenischen 575 576

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wir einen derartigen Vorwurf nicht ersparen, tendenziös die Lage zu verzeichnen. 582 Grundsätzlich entscheidet sich die Frage, wie wohlgeordnet Aristoteles Athen wohl betrachtet haben mag, vermutlich darüber, wie er das Ausmaß ihrer »rule of law« beurteilt hat. Demokratie wie Perikles bei Platon sehr schlecht aus, dagegen lobt er im VII. Brief den persischen Herrscher Dareios als Muster eines guten Königs und Gesetzgebers (in den Nomoi führt er aus, dass Dareios sogar bis zu einem gewissen Punkt für eine Gleichheit sorgte), ebenso wie er auch Kyros als maßvollen und klugen König bewertet. Erst durch die Maßlosigkeit mancher Nachfolger sei das persische Reich zum heutigen Despotismus mit der willkürlichen Herrschaft des tyrannischen Königs und der Knechtschaft des Rests degeneriert. Besonders unverschämt muss auf die Demokratenpartei gewirkt haben, dass Platon zwischen der vollendeten persischen Tyrannis und der vollendeten athenischen Demokratie in gewisser Weise keine großen Unterschiede im Resultat sehen möchte. Vgl. für diesen Absatz VII. Brief 332b mit Nomoi III. Buch 694a–698a sowie Nomoi III. Buch 693d–694a mit Nomoi III. Buch 699e. Wie Aristoteles den Perikles beurteilt hat, bleibt aufgrund der Quellenlage nicht völlig klar: In Pol. II, 12: 1273b35–1274a21 (zur Textlage und zur Frage nach dem Verfasser des Kapitels II, 12 siehe Schütrumpf 1991b, 362–379) muss dieser sich dafür tadeln lassen, dass er ein Wegbereiter der heutigen Zustände gewesen sei. Wobei diese Kritik des Aristoteles an Perikles wesentlich milder ausfällt als bei Platon (man denke nur an die lange Tirade gegen die athenische Demokratie in Gorgias 503b–519d). Falls diese Ansicht tatsächlich genuin aristotelisch ist, entstünde ein kleineres Kohärenzproblem mit EN VI, 5: 1140b7–11: Dort billigt Aristoteles dem Perikles immerhin eine gewisse phronêsis zu. Wie lassen sich diese zwei Äußerungen miteinander vereinbaren? Vermutlich ähnlich wie in der Verfassung der Athener: Schlimm wirkten sich die Maßnahmen des Perikles unter seinen Nachfolgern aus bzw. schritten diese noch weiter voran auf diesem angeblich verhängnisvollen Weg. 582 MacIntyre ist voll und ganz beizupflichten, wenn er schreibt: »Eines der Hindernisse dabei war für uns die hartnäckig unhistorische Behandlung der Moralphilosophie durch zeitgenössische Philosophen – sowohl in ihren Schriften als auch in ihrer Lehre. Noch immer behandeln wir allzu oft die Moralphilosophen der Vergangenheit als Teilnehmer an einem einzigen Streitgespräch mit einem relativ gleichbleibenden Thema, behandeln Plato, Hume und Mill, als wären sie Zeitgenossen von uns und auch untereinander gewesen. Das führt zu einer Abhebung dieser Autoren von der kulturellen und sozialen Umgebung, in der sie lebten und dachten […]« (MacIntyre 1988, 25). Umso unverständlicher ist es, wenn er ausgerechnet den vornehmen Athener zum aristotelischen Paradigma menschlicher Vortrefflichkeit erklärt (vgl. MacIntyre 1988, 244) und erläutert: »Aristoteles ist nicht der Meinung, daß er eine Darstellung der Tugenden erfindet, sondern daß er eine Darstellung artikuliert, die implizit im Denken, Reden und Handeln eines gebildeten Atheners enthalten ist. Er versucht, die rationale Stimme der besten Bürger des besten Stadtstaates zu sein […]« (MacIntyre 1988, 199; Hervorhebung B. L.). Ähnlich lauten die Urteile von Ward: »In comparison with other nations, or even other Greek cities, Aristotle thinks that Athens represents the highest level of political society.« (Ward 2002, 30) und Bellers (Aristoteles billige Athen einen gewissen Suprematieanspruch zu; vgl. Bellers/Porsche-Ludwig 2011, 17).

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3.3.2 Der Typus der Oligarchie 3.3.2.1 Die Oligarchie als einseitige Herrschaft der Reichen Wie charakterisiert Aristoteles die Oligarchie? 583 Anders als der Name vermuten lässt nicht hauptsächlich über die Anzahl der Herrscher. Zwar ist es ein quantitatives Merkmal dieser Verfassung, dass nur wenige Regierende vorhanden sind. Trotzdem handelt es sich nicht um das wesentliche Merkmal, um von einer Oligarchie zu sprechen. Stattdessen ist auch diese Verfassung vor allem durch ihre Qualität als Herrschaft der Reichen gekennzeichnet – so wie die Demokratie als Herrschaft der Armen. Damit ist die Zahl als bloß akzidentell zu betrachten. 584 Natürlich finden wir in der Regel wenige Reiche und viele Arme, insofern decken sich Quantität und Qualität tatsächlich meist. 585 Entscheidend ist jedoch – wie gesagt –die Qualität. Daraus wird auch ersichtlich, inwiefern sich Aristokratie und Oligarchie unterscheiden: Zwar sind beide die Herrschaft weniger, allerdings ist ihr Kriterium völlig verschieden: Während die Aristokratie das Ziel der Tugend verfolgt und entsprechend auch die Ämter besetzen möchte, verfolgt die Oligarchie das Ziel des Reichtums und achtet auch bei der Ämtervergabe nur darauf. Ebenso haben wir bereits gesehen, dass die Aristokratie eine Herrschaft des Rechts (»rule of law«) ist. Wie bereits in der Auseinandersetzung mit der Demokratie dargelegt, zeigen bei den verfehlten Verfassungstypen die schlechtesten Subtypen am besten deren Wesen. Insofern zeigt die reine Oligarchie der Dynastenherrschaft, die Aristoteles in Pol. V, 10: 1312b35–37 auch als tyrannischste und vollendete Oligarchie beschreibt, in Pol. IV, 6: 1293a30–34 in ihrer Präferenz für die Herrschaft der Menschen und in ihrer Ablehnung der »rule of law« auch die wahre Haltung des oligarchischen Grundtypus in dieser Frage. Während Aristoteles jeEine ausführliche Studie zum Thema der Oligarchie bei Aristoteles und seinen Vorgängern stellt Ostwald 2000 dar. 584 Wenn Kamp kritisiert, Aristoteles habe dies in der Bezeichnung nicht kenntlich gemacht, sondern nach wie vor die falsche Assoziation hergestellt, dass die Quantität der Regierenden entscheidend sei (vgl. Kamp 1985, 355), so könnte sich Aristoteles sicherlich dadurch »entschuldigen«, dass dieser Begriff bereits lange vor ihm fest eingebürgert war und er ihn also nicht einfach übergehen konnte. 585 Vgl. Pol. IV, 4: 1290a30–b20. und Pol. III, 8: 1279b31–1280a6. Als Faustregel gilt: Wenn die Reichen an Qualität wettmachen, was sie an Quantität der Anzahl weniger sind, entsteht eine Oligarchie (vgl. Pol. IV, 12: 1296b31–34). 583

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doch die Demokratie in dieser Hinsicht noch eine intensive Auseinandersetzung wert ist, ist dies bei der Oligarchie nicht mehr der Fall. 3.3.2.2 Die axiologische Minderwertigkeit der Oligarchie Besonders hart urteilt Aristoteles über die Verfassung der Oligarchie, dass keine Oligarchie besser zu nennen sei, sondern höchstens weniger schlecht. 586 Wie wir diese Stelle auffassen dürfen, haben wir schon oben gesehen, aber woraus erklärt sich diese vehemente Ablehnung? Obwohl Aristoteles sowohl die Demokratie als auch die Oligarchie scharf kritisiert, sind sie allerdings normativ nicht gleichwertig bzw. gleich verfehlt. Entgegen der These von Wood/Wood bevorzugt Aristoteles keineswegs die Oligarchie gegenüber der Demokratie. 587 Da die Reihung des Sechserschemas deutlich normativ gemeint ist, sieht Aristoteles sicherlich den Typus der Demokratie als legitimer an und nicht die Oligarchie. Überdies vermerkt er in Pol. IV, 2: 1289b4 f. ausdrücklich den normativen Vorrang der Demokratie gegenüber der Oligarchie. Wie können wir uns diese normative Bevorzugung der Demokratie gegenüber der Oligarchie erklären? Eigentlich gehört doch zu den Voraussetzungen eines tugendhaften Menschen ein gewisser Wohlstand, und überdies macht Aristoteles immer wieder keinen Hehl aus seiner elitären Haltung, dass er die breiten Massen nicht unbedingt politisch entscheiden lassen möchte. Wenn dies Argumente gegen die Herrschaft der Armen sein sollen, dann stimmt ihnen Aristoteles auf jeden Fall zu, doch folgt daraus nicht, dass er deswegen die alleinige Herrschaft der Reichen befürwortet. Einerseits problematisiert er in Pol. IV, 11 die allzu Reichen genauso wie die allzu Armen und spricht sich daher für die Regierung des Mittelstandes und nicht der Reichen aus, was gegen die allzu hervorgehobene Rolle des Reichtums bei Wood/Wood spricht 588. Andererseits kritisiert AristoVgl. Pol. IV, 2: 1289b9–11. An einigen Stellen wirft er Zeitgenossen vor, dass sie nicht verschiedene Ausprägungen von Demokratie und Oligarchie scheiden, sondern quasi von einer einzigen Form von Demokratie/Oligarchie ausgehen (vgl. Pol. IV, 1: 1289a8–10 und Pol. IV, 11: 1296b4 f.). Auch Sokrates wird für ein derartiges Versäumnis gerügt (vgl. Pol. V, 12: 1316b25–27). Aristoteles selbst bespricht verschiedene Varianten der Oligarchie an mehreren Stellen (vgl. Pol. IV, 5: 1292a39–b10, Pol. IV, 6: 1293a12–34 und Pol. VI, 6+7). 587 Vgl. Wood/Wood 1978, 239. 588 Vgl. Wood/Wood 1978, 221–223 mit Pol. IV, 11: 1295b5–24. 586

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teles zwar eine Herrschaft der Armen, aber wenn es um die eigentliche Tugend geht, ist ein echter Oligarch einem waschechten Demokraten keineswegs überlegen: Während die Aristokratie bekanntlich die Tugend zum Hauptgesichtspunkt erklärt, beharrt die Oligarchie auf dem Reichtum als Maß und Ziel 589 und setzt so Reichtum und Macht anstelle von Tugend 590. Zwar benötigt eine Polis natürlich wohlhabende Steuerzahler 591 und hat der Anspruch der Oligarchen auf politische Beteiligung aufgrund des Reichtums also eine gewisse Berechtigung, 592 trotzdem findet ihr einseitiger Standpunkt in Anbetracht der extremen Durchführung keine Gnade vor Aristoteles’ Augen. Besonders an der oligarchischen eudaimonia-Konzeption findet Aristoteles kaum ein gutes Haar: Bekanntlich streben Oligarchen nach dem Reichtum, der im Corpus Aristotelicum jedoch mehrfach harsch als falsches Ziel im Hinblick auf ein gutes Leben kritisiert wird: Immer wieder stellt Aristoteles heraus, dass der Reichtum selbst gar kein Endzweck sein könne, sondern vielmehr selbst nur ein Mittel darstelle. 593 Daher ist eine widernatürliche Erwerbskunst, die Reichtum als Selbstzweck betrachtet und kein Maß mehr kennt, auch in der Politik das Ziel scharfer Attacken 594. Darin erschöpft sich die normative Kritik des Aristoteles allerdings nicht, denn auch den Charakter der Oligarchen unterzieht er öfters schonungsloser Kritik. Anders als die vernünftigen Tugendhaften lassen die Oligarchen ihr Leben nicht von Vernunft, 595 sondern von epithymia prägen 596. Daher kann eine von großen Reichtumsgegensätzen geplagte Polis ihr Heil auch nicht hauptsächlich in der Symptombekämpfung des Vermögensausgleiches suchen, sondern sollte das Übel an der Wurzel packen und die Begierden reduzieren. 597 Dabei meint Aristoteles beobachten zu können, dass die Menschen aufgrund von Begierde nach Übermaß mehr Unrecht tun als auf-

589 590 591 592 593 594 595 596 597

Vgl. Rhet. I, 8: 1366a5. So bereits schon EN VIII, 12: 1161a2 f. Vgl. Pol. III, 12: 1283a17 f. Als Beispiele mögen Pol. III, 9: 1280a21–24 und Pol. III, 13: 1283a29–33 dienen. Vgl. EN I, 3: 1096a5–7. Vgl. dazu besonders Pol. I, 9. Vgl. Pol. IV, 11: 1295b7–11. Vgl. Rhet. I, 10: 1369a11–15. Vgl. Pol. II, 7: 1266b28–30.

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grund von Begierde nach Notwendigem. 598 Deswegen hält er folgerichtig die pleonexia der Oligarchen für schlimmer als diejenige des dêmos. 599 Besonders verderblich ist als durchaus kennzeichnendes Charakterdefizit der Reichen ihre Hybris 600 und die damit einhergehende sowohl normativ als auch pragmatisch (Stabilitätsprobleme!) nicht anzuratende Demütigung der Nicht-Reichen. Wenig verwunderlich widmet Aristoteles in der Rhetorik den verderblichen Charakterdeformationen der Reichen mit Rhet. II, 16 ein ganzes Kapitel und zieht er auch in EN VIII, 12 ein vernichtendes Resümee ihrer Haltung in Fragen des Gerechten in der Verteilung: Der Übergang von der Aristokratie zur Oligarchie geschieht durch die Schlechtigkeit der Herrschenden, die das, was der Polis gehört, entgegen der Würdigkeit der Menschen verteilen, alle oder die meisten Güter sich selbst zuteilen und die Ämter immer denselben geben, wobei sie den Reichtum am höchsten schätzen. Dann herrschen wenige und schlechte Menschen anstelle der Besten. 601

Sowohl aus normativen Gerechtigkeitsüberlegungen als auch aus pragmatischen Stabilitätserwägungen heraus, sollte die Oligarchie eigentlich auf solch despotische Unterdrückung und völlige Entrechtung der doch immerhin freien Personen des dêmos verzichten. Gerade diesen Fehler begehen jedoch die Oligarchien recht häufig. 602 Bekanntlich ist die Bürgerschaft eine Gemeinschaft von Freien: Wenn nun die Oligarchen die breite Masse der armen freien Bürger politisch entrechten, ist dies wesentlich despotischer als die bloße Majorisierung der Reichen in einer Demokratie (mitstimmen und mitwählen dürfen die Reichen in einer Demokratie ja trotzdem). 603 Demgegenüber sind in Oligarchien immer wieder größere Teile von Vgl. Pol. II, 7: 1267a12–14. Vgl. Pol. IV, 12: 1297a11–13. 600 Vgl. etwa die Ausführungen in EN IV, 8: 1124a20–b2, Pol. IV, 11: 1295b8–11, Pol. V, 7: 1307a19 f. und Rhet. II, 5: 1383a2 f. mit den Schilderungen etwa in Rhet. II, 2. Eine Abgrenzung der elitären Haltung der Tugendhaften gegenüber der hybris der Reichen und Mächtigen unternimmt Langmeier 2016, 16 f. 601 EN. VIII, 12: 1160b12–16 (in der minim veränderten Übersetzung von Wolf). 602 Vgl. Pol. IV, 11: 1295b19–24 und Pol. V, 6: 1306b3–5. 603 Daher betrachte ich anders als Kraut 2002, 425 nicht die höhere Stabilität als den in den Augen von Aristoteles entscheidenden Pluspunkt der Demokratie gegenüber der Oligarchie. Stattdessen beruht ihre Überlegenheit auf dem normativen Gesichtspunkt, dass sie weniger despotisch verfährt, indem sie anders als die Oligarchie wenigstens die Freiheit der Freien nicht aushebelt. Kraut 2002, 445 ergänzt die stärkere Mittelschicht. 598 599

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freien Bürgern gar nicht zur Teilnahme an der Politik zugelassen, was ihre Rechte gröber verletzt. Schließlich sieht Aristoteles in einer despotischen Unterdrückung von eigentlich Freien eines der größten Übel in einer Gemeinschaft. Nur die Tyrannis und die Oligarchie missachten den doch so wichtigen Anspruch der Freien auf politische Mitwirkung. 604 Entsprechend wirkt sich der Eigennutz der Reichen normativ verheerender aus als der Eigennutz der Armen. An sich ist die Oligarchie also wesentlich despotischer. Daraus erklären sich auch die normative Nähe zur Tyrannis und die Differenz zur Aristokratie: Damit dürfen wir also der gemeinnützig-politischen Aristokratie die eigennützig-despotische Herrschaft der Reichen entgegensetzen; die Oligarchie ist nur etwas besser als eine Tyrannis, aber meilenweit von der Güte der echten Aristokratie entfernt. 605 Nicht überraschend nennt Aristoteles die Extremvariante der Oligarchie eine Tyrannis einiger. 606 Auch hier gilt nämlich die nackte Macht einiger weniger Personen und nicht ein vernünftiges Recht. Wie die Demokratie verabsolutiert auch sie einen an sich richtigen Teilaspekt des Gerechten und beantwortet so die Frage nach dem Gerechten in einer ungerechten Art und Weise. Während die Demokraten laut Aristoteles wegen der Gleichheit an Freiheit fälschlicherweise die Gleichheit in allen Dingen postulieren, schließen die Oligarchen aus der Ungleichheit an Reichtum unrichtigerweise auf eine

Dabei tritt die Tyrannis die logos-Sozialität weitaus am stärksten mit Füßen und ist daher am wenigsten als Verfassung zu betrachten, da sie so am meisten gegen die Natur der Polis verstößt (so Cherry/Goerner 2006, 581). 605 Vgl. Pol. III, 7: 1279b5–10 und Pol. IV, 2: 1289b3 f. Wie oben bereits angedeutet, gibt es allerdings auch die sogenannten Aristokratien (darunter auch Mischverfassungen, die eher zur oligarchischen Seite neigen). Dadurch erklärt sich, wieso Aristoteles an manchen Stellen aristokratische Verfassungen oligarchisch nennt (vgl. Pol. V, 7: 1306b24–27 und Pol. IV, 3: 1290a16 f. und Pol. V, 7: 1307a22–27). Dass diese oligarchischen Mischverfassungen trotz Fehlens der eigentlichen Tugend als (sogenannt-)aristokratisch bezeichnet werden, begründet Aristoteles damit, dass Wohlstand oft mit Adel und Bildung verknüpft ist: vgl. Pol. IV, 8: 1293b36–42. Jedoch zeigt ein Vergleich mit den Definitionsstellen der sogenannten Aristokratien, dass Aristoteles diesen Subtyp der sogenannten Aristokratie nicht als ihren Hauptvertreter ansieht, da er im eigentlichen Sinne die Aristokratie als Herrschaft der Besten versteht und in diesem letzten Subtypus der sogenannten Aristokratie unter den aristoi letztlich die Adligen und nicht die Besten zu verstehen sind. Entsprechend handelt es sich wohl auch um die normativ schlechteste Form einer so genannten Aristokratie. 606 Vgl. Pol. V, 10: 1312b34–38. Schließlich stellen die Ämterinhaber ihre persönliche Willkür über die Gesetze (vgl. Pol. IV, 5: 1292b5–7). 604

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Ungleichheit in allen Dingen. 607 Damit verzerren beide Parteien wesentlich das Gerechte, indem sie eigentlich teilberechtigte Auffassungen verabsolutieren. 608 Schließlich nennen die Oligarchen gerecht, was sie als Reiche befürworten; ebenso koppeln sie Verdienst, Würde und Qualifikation hauptsächlich an den Wohlstand. 609 Daher handelt es sich beim Typus der Oligarchie auch nicht um eine gerechte und maßvolle Herrschaft. Dass die Oligarchen die Prinzipien der Würdigkeit verzerrt interpretieren und nur auf den Reichtum schauen, sehen wir laut Aristoteles u. a. daran, dass in Oligarchien auch Banausen in Ämter gelangen können (dies im Gegensatz zu den Aristokratien). 610 Entsprechend ignoriert die oligarchische Politik sowohl die berechtigteren Ansprüche der Tugendhaften auf die Regierung als auch die (eingeschränkten) politischen Mitspracherechte der freien Armen. Somit handelt es sich bei Oligarchien – plakativ ausgedrückt – häufig um die egozentrische Herrschaft von raffgierigen Geldsäcken, die dem schalen Ziel des Reichtums hinterherlaufen und die Polis mit einem nepotistischen Filz einer egoistischen und hermetisch abgeschlossenen Oberschicht verderben. Zusammenfassend können wir sagen: Demokratie und Oligarchie verfehlen in der Sicht des Aristoteles zwar beide das Gemeinwohl, aber die Demokraten betreiben zumindest eine Politik zugunsten der breiten Massen und missachten nicht die Freiheit weiter Teile der Bürgerschaft. Wie wir allein schon aus solchen Bewertungen ersehen, ist Aristoteles also keineswegs ein Anhänger von gemäßigtoligarchischen Ideen, wie dies etwa Dolezal behauptet. 611 Insofern ist die oligarchische Hinordnung einer politischen Gemeinschaft auf Reichtum und eine entsprechende Ausrichtung der Verfassung und Gesetze als normativ besonders verfehlt zu betrachten.

607 Vgl. Pol. III, 9: 1280a16–b5 und Pol. V, 1: 1301a25–36. So liegt hauptsächlich in dieser extremen und unausgewogen-unvernünftigen Position der Grund dafür, dass diese Verfassungen verfehlt zu nennen sind (vgl. Pol. III, 13: 1283a26–29). 608 Mit Schütrumpf bleibt festzuhalten, dass die Behauptung von Pol. IV, 4: 1291b12 f. [u. ä.] (Demokratie und Oligarchie als die zwei Verfassungsgrundtypen) keineswegs die aristotelische Ansicht wiedergibt, sondern dass hier eine fremde Meinung referiert wird. Vgl. Schütrumpf 1980, 92 f. 609 Vgl. Pol. VI, 3: 1318a20 f. und EN V, 6: 1131a25–28. Daher wählen sie die Beamten hauptsächlich nach dem Kriterium des Wohlstandes aus: vgl. Pol. IV, 15: 1299b25 f., Rhet. I, 8: 1365b31–33 und Pol. IV, 8: 1294a11. 610 Vgl. Pol. III, 5: 1278a6–25. 611 Vgl. Dolezal 1973, 98 und 125.

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Entsprechend dieser despotischen Grundtendenz 612, die weite Teile der Bürgerschaft vor den Kopf stößt, handelt es sich bei der Oligarchie meist um eine recht kurzlebige Herrschaft. 613 Nur wenn sie die Armen entweder materiell 614 in Ruhe arbeiten lässt oder gar verwöhnt oder politisch wenigstens ein bisschen mitbeteiligt, 615 kann sie ihre Chancen auf Herrschaftsbewahrung erhöhen. Ebenfalls problematisch ist die häufige Tendenz der Oligarchien, sogar innerhalb der eigenen Schicht egoistisch nur auf den eigenen Vorteil zu achten, so sogar die Standesgenossen zu verprellen und durch diese Uneinigkeit ein leichtes Umsturzziel abzugeben. 616 Wie verbreitet sind Oligarchien? Gemeinsam mit der Demokratie gehört sie zu den verbreiteteren Regierungsformen; die meisten Städte werden entweder demokratisch oder oligarchisch regiert. Laut Aristoteles finden sich nur selten genügend Tugendhafte und Edle für eine Aristokratie, und meist hofft man leider vergeblich auf einen starken Mittelstand (für eine Politie). 617 Während zu den Zeiten des Aristoteles aufgrund der fortschreitenden Vermassung hauptsächlich Demokratien herrschen, hat man früher wegen der geringen Bevölkerungszahl nicht nur mehr Königsherrschaften, sondern auch mehr Oligarchien finden können. 618 Ein weiterer Vorteil der Demokratie liegt in ihrer größeren Stabilität, denn Oligarchien sind – wie erwähnt – ziemlich umsturzgefährdet. 619 Leider findet sich die engstirnige Eigennützigkeit der Oligarchen nicht nur im Bereich der Innenpolitik, sondern auch in den Beziehungen zu anderen Poleis: So hat mit Sparta die wichtigste oligarchische Macht stets immer nur an ihren eigenen Vorteil gedacht und nicht an das griechische Gemeinwohl. Überall haben die Spartaner nur Oligarchien eingesetzt und bevorzugt athenfreundliche Demokratien abgesetzt. 620 Auch hier sollten wir uns daran zurückerinnern, dass Aristoteles mit solchen Bewertungen von Sparta und Athen wohl kaum als Aristoteles spricht in Pol. V, 6: 1306b3–5 vielen Oligarchien ausdrücklich einen solchen Despotismus zu. 613 Vgl. Pol. V, 12: 1315b11 f. 614 Vgl. Pol. V, 8: 1308b31–36, Pol. IV, 13: 1297b6–8 und Pol. VI, 7: 1321a31–40. 615 Vgl. Pol. V, 8: 1308a3–8, Pol. VI, 7: 1321a26–31 sowie Pol. V, 8: 1309a20–32. 616 Vgl. Pol. V, 6. 617 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a22–27 und Pol. V, 1: 1301b39–1302a15. 618 Vgl. Pol. IV, 13: 1297b25–28. 619 Vgl. Pol. V, 12: 1315b11 f. Für weitere Stellen abseits der oben genannten siehe Pol. V, 1: 1302a2–15, Pol. IV, 11: 1296a13–16 und Pol. V, 6. 620 Vgl. Pol. IV, 11: 1296a32–36 und Pol. V, 7: 1307b22–24. 612

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apolitischer Denker bezeichnet werden kann. 621 Sowohl die philosophische Kritik an Oligarchie und Demokratie als auch der politische Tadel der athenischen und spartanischen Machtgier lassen sich schwerlich abstrakt von seiner Lebenswelt trennen. 622 Übrigens zieht Aristoteles auch bei der Oligarchie eine Analogie zu einer möglichen Situation im Haushalt: Wenn Mann oder Frau das Gerechte im Verhältnis der Geschlechter nicht beachten und dem anderen nicht seinen legitimen Platz lassen, sondern über alles befehlen, dann herrscht im Haushalt eine Art Oligarchie. 623

3.3.3 Der Typus der Tyrannis 3.3.3.1 Die Tyrannis als »rule of the worst man« Nun beschließen wir mit der Tyrannis die Besprechung der verschiedenen Verfassungstypen bei Aristoteles. Dabei folgen wir in der Kürze der Darstellung dem aristotelischen Vorbild, denn über diese verfehlte Herrschaft gibt es laut einem harschen Urteil in Pol. IV, 10 nicht viel zu sagen. Zwar ist die reine Tyrannis ebenso wie die pambasileia die absolute Herrschaft eines Einzelnen, aber normativ trennen sie Welten – zumindest in der Sichtweise des Aristoteles: Grundsätzlich lässt sie sich als verfehltes Gegenteil der Königsherrschaft charakterisieren und ist daher die schlechteste Regierungsform im Gegensatz zur ersten und göttlichsten Verfassung der basileia. 624 Schließlich handelt es sich bei der Tyrannis um die höchst minderwertige Form einer Alleinherrschaft; dies zeigt sich in vielerlei Hinsichten. Besonders gut sehen wir dies wiederum einerseits an der Frage nach der Herrschaft des Rechts und andererseits an den normativen Zielen. Zunächst zur ersten Frage: Während nämlich die Königsherrschaft einer taxis folgt, ist die Tyrannis eine schranken- und regellose Vgl. dagegen die Beurteilung von Dolezal 1973, 112 Anmerkung 395. Trotz eigentlich halbwegs guter Voraussetzungen (Sparta wird in Pol. IV, 9 für eine gute Mischung gelobt) haben die Spartaner eine verfehlte Politik betrieben. 623 Vgl. EN VIII, 12: 1160b35–1161a3. 624 Vgl. Pol. IV, 2: 1289a38–b3 und EN VIII, 12: 1160a36 f. Während der König sich in seinen Handlungen nach dem eigentlich Gerechten richtet, verstößt der Tyrann dagegen. Auch bei Platon finden wir diesen Gegensatz, dass eine königlich regierte Stadt die glücklichste und tugendhafteste und eine tyrannisch beherrschte die unglücklichste und schlechteste ist (siehe Politeia IX. Buch 576d–e). 621 622

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Regierung. 625 Damit stellt die schlimmste Form der Tyrannis den absoluten Gegensatz zur besten Regierungsform (nämlich dem Universalkönigtum) dar: So handelt es sich bei ihr nicht um eine logos-geleitete Regierung des gemeinnutzorientierten nomos empsychosKönigs, sondern um die willkürliche, eigennützige und selbstsüchtige Despotie eines Einzelnen. 626 Im Gegensatz zum König folgt der Tyrann nämlich nicht dem allgemeinen logos, sondern den eigenen Begierden und Lüsten. Anders formuliert: Im Kapitel über das Königtum haben wir gesehen, dass – trotz der Lehre der Gesetzesenthobenheit des Königs – für Aristoteles gerade das Königtum als höchste Herrschaft des Rechts gelten kann. Genau entgegengesetzt verfährt die Tyrannis, welche wie ihre Pendants der extremen Demokratien und extremen Oligarchien die »rule of law« beiseiteschiebt und durch die Willkür der eigenen Person ersetzt und insofern als »absolute rule of the worst man« zu gelten hat. 627 Entsprechend parallelisiert Aristoteles auch die epitagmata des Tyrannen mit den psêphismata des dêmos. 628 Hier wie dort entscheiden Menschen von Fall zu Fall statt die unparteiischeren Regelungen der allgemeinen Gesetze regieren zu lassen. Wenn dies extrem durchgeführt wird, ist die Tyrannis gemäß unseren bisherigen Einsichten keine Verfassung mehr. 629 Hier müssen wir uns jedoch daran erinnern, dass die schlimmste Tyrannis am besten den Typus wiedergibt, 630 also zum Beispiel der als moderat gelobte Peisistratos 631 den Typus des Tyrannen nicht am bes625 Vgl. Rhet. I, 8: 1366a1 f. Schon Platon sieht den Tyrannen in einem äußersten Gegensatz zu logos und nomos: Der Tyrann flieht nomos und logos und lebt für seine Lüste (Politeia IX. Buch 587c). 626 Vgl. v. a. Pol. IV, 10: 1295a17–23. Nebenbelege für Teilaspekte stellen Pol. III, 7: 1279b4–7 und EN VIII, 12: 1160a36–b9 dar. 627 Dies ergibt sich auch aus Pol. IV, 5: 1292b5–9. 628 Vgl. Pol. IV, 4: 1292a19 f. Auch zur äußersten Oligarchie zieht Aristoteles einen ähnlichen Vergleich: vgl. Pol. IV, 5: 1292b4–8. 629 Vgl. Pol. IV, 8: 1293b27–29 und Pol. II, 6: 1266a1–4. 630 Vgl. Pol. IV, 10: 1295a17 f. 631 In der Athênaiôn Politeia lobt Aristoteles den Peisistratos gar dafür, dass dieser die Polis mehr zum Nutzen der Allgemeinheit verwaltet habe (Ath. Pol. 13,3 und Ath. Pol. 16,2). Im 16. Kapitel dieses Buches hebt Aristoteles (?) mehrfach die Menschenfreundlichkeit, Milde und Volksfreundlichkeit dieses Herrschers hervor, der sogar gemäß den Gesetzen agiert und einer Vorladung vor den Areopag Folge leistet. Sichtlich implizit zustimmend zitiert er die Meinung vieler, dass Peisistratos Athen ein goldenes Zeitalter beschert habe (Ath. Pol. 16,7) und erklärt aus dessen Wohltaten auch die verhältnismäßig lange Regierungsdauer (Ath. Pol. 16,9; zu der für Tyrannen langen Regierungsdauer siehe Pol. V, 12: 1315b29–34).

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ten verkörpert. Allerdings gibt es wie auch bei den anderen verfehlten Verfassungstypen Mischtypen, weswegen es – contra Yack – auch gesetzliche Tyrannisherrschaften geben kann. 632 Dies wird auch direkt durch Pol. IV, 10 belegt, das sehr wohl gesetzliche Varianten nennt. 3.3.3.2 Die axiologische Minderwertigkeit der Tyrannis Wenig verwunderlich ist die Tyrannis mehrfach als normativ übelste Verfassung beschrieben. 633 Dies erstaunt keineswegs, da sie an Sinn und Zweck der politischen Gemeinschaft völlig vorbeigeht: Während Demokratie und Oligarchie immerhin noch ein interessanteres normatives Ziel verfolgen (Freiheit bzw. Reichtum) und auch in einem bestimmten Umfang zur Polis beitragen, besitzt die Tyrannis keine derartigen Vorteile. Schließlich bezweckt sie nur die Lustbefriedigung des Tyrannen 634 bzw. müssen wir sogar wesentlich basaler schlicht und ergreifend den Selbstschutz des Tyrannen als Hauptziel dieser Herrschaft annehmen 635. Entsprechend handelt es sich bei der Tyrannis auch um die axiologisch am niedrigsten zu bewertende Verfassung, da der tyrannische Herrscher nur an den eigenen Vorteil (im Sinne der eigenen Lust) denkt. 636 Während eine Demokratie oder eine Oligarchie »immerhin« noch einen Gruppenegoismus darstellt und »immerhin« einen teilweise berechtigten Anspruch verabsolutiert und zum gemeinsamen Zweck für alle (v)erklärt, denkt die Tyrannis gar nicht mehr an die Allgemeinheit, es sei denn, dies nützt dem Tyrannen 637. Eine solche Selbstsucht des Tyrannen ist daher auch ein bestimmendes Merkmal dieser Herrschaft und reiht sie selbstverständlich unter die despoti-

632 Vgl. Yack 1993, 106 mit dem in der letzten Fußnote zitierten gesetzestreuen Peisistratos. 633 Beispielsweise die bereits zitierten Pol. IV, 2: 1289a38–b3 und EN VIII, 12: 1160a36 f. 634 Vgl. Pol. V, 10: 1311a4. 635 So jedenfalls eine Stelle in der Rhetorik, denn dort wird das Ziel der Tyrannis lediglich mit dem (Selbst-)Schutz angegeben (vgl. Rhet. I, 8: 1366a6.). Gewissermaßen eine Kombination der genannten Aspekte gibt Pol. V, 10: 1311a8–11 an, denn hier zielt die Tyrannis auf den Reichtum ab, da nur so Sicherheit und Schwelgerei finanziert werden können. 636 Vgl. Pol. III, 7: 1279b6 f. mit Pol. V, 10: 1311a2–4 und Pol. IV, 10: 1295a20–22. 637 Vgl. Pol. V, 10: 1311a2–4.

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schen Herrschaftsarten ein. 638 Während eine gute und gerechte Verfassung die Freiheit und Gleichheit der Bürger garantieren sollte, ist der autokratische Tyrann der einzige Machthaber und benimmt sich als alleiniger Herr über seine Untertanen wie ein Herr gegenüber seinen Knechten. 639 In gewisser Weise vereint die Tyrannis dabei die schlechtesten Seiten von Demokratie und Oligarchie, da sie wie die Demokraten die Tüchtigen verfolgt und wie die Oligarchen vor allem Reichtum erstrebt und die Masse verachtet. 640 Weil der Tyrann also die Rechte praktisch aller seiner Untertanen völlig mit Füßen tritt, stellt er somit auch aus deren Sicht den Gipfelpunkt der Ungerechtigkeit dar und besitzt in der Regel keine Freunde. 641 Schon am äußerlichen Merkmal der Leibwache lässt sich der krasse Gegensatz zum Königtum leicht ablesen: Während der König seine Bewacher aus den freiwillig und freudig dazu bereiten Bürgern wählen kann, muss der Tyrann seinen Schutz vor den unwilligen Untertanen gedungenen Söldnern überantworten. 642 Gemäß einer Leitthese dieser Arbeit ist die normative Einheit im besonderen Maße durch die politische Freundschaft gewährleistet, und aus diesem fehlenden Rückhalt des Tyrannen in der Bürgerschaft erklärt sich dann auch die stete Gefährdung seiner Herrschaft. Auch hier zeigt sich wieder die aristotelische Annahme, dass extrem ungerechten Verfassungen keine besonders lange Dauer beschieden sein dürfte. Weil sich in den Verfassungen der Wille der Gemeinschaft

638 Dies wird öfters bekräftigt, so zum Beispiel Pol. III, 8: 1279b4–7, Pol. IV, 10: 1295a17–23 und EN VIII, 12: 1160a36–b9. 639 Vgl. Pol. III, 8: 1279b16 f. 640 Vgl. Pol. V, 10: 1311a8–22; daneben Pol. V, 10: 1310b3–7 und Pol. IV, 11: 1296a1– 5. Letztlich ist für Aristoteles vermutlich sogar die Demokratie der Tyrannis ähnlicher, da in der Sicht des Aristoteles früher die Tyrannen meist zuerst Demagogen gewesen sind, sich also an die Spitze reichenfeindlicher Umtriebe gestellt haben (vgl. Pol. V, 5: 1305a7–28). Historisch sieht er also die Tyrannis näher dem dêmos als den Wenigen zugewandt (vgl. auch Pol. V, 10: 1310b12–16). Entsprechend parallelisiert er die extreme Demokratie etwas häufiger als die extreme Oligarchie mit der Tyrannis und betrachtet sie als eine Art feindliche Zwillinge (vgl. Pol. V, 10: 1312b4–6). Ähnlich daher auch die sozialen Konsequenzen für Frauen und Knechte (vgl. die bereits im Demokratiekapitel zitierte Stellen Pol. V, 11: 1313b33–41 und Pol. VI, 4: 1319b27– 32). 641 Vgl. EN VIII, 13: 1161a32–34 und 1161b8 f. 642 Vgl. Pol. III, 14: 1285a24–29 mit Pol. V, 10: 1311a7 f.

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äußert, können sich Tyrannenherrschaften gegen den Willen der Bevölkerung kaum lange halten. Anders als Heuss meint, befördert auch – und erst recht – beim Tyrannen eine möglichst reine Durchführung der »Verfassungsidee« die Zerstörungsanfälligkeit dieser Herrschaft. Heuss begründet seine Skepsis damit, dass im Tyrannen die maximale Macht läge. 643 Tatsächlich jedoch handelt es sich für Aristoteles bei der Tyrannis um eine der kurzlebigsten Regierungsformen. 644 Schließlich kann sich seine Herrschaft auf keinerlei vernünftige Herrschaftsrechtfertigung stützen, sondern ist eine despotische Herrschaft über eine eigentlich politisch zu regierende Gemeinschaft von Freien. 645 Anders ausgedrückt: Heuss verwechselt hier maximale Gewalt mit größter Macht; nur in oberflächlicher Betrachtung verfügt der Tyrann über größte Macht, denn die eigentliche Macht entsteht nicht allein durch nackte Gewalt, sondern ein gewisser Rückhalt in der Bevölkerung ist auch für die skrupellosesten Gewalttäter nötig. Entgegen einer häufigen Interpretationsmeinung sehen wir hier, dass die Meinung der Bürger legitimatorisch eine wichtige Rolle spielt: Wenn die Bürger einem König die Unterstützung aufsagen, dann ist er fortan als Tyrann zu betrachten. 646 Nur der König kann also als einziger Alleinherrscher wirklich Anspruch auf die willentliche Anerkennung durch die Bürger erheben, während der Tyrann meist auf den erbitterten Widerstand der Bürger stoßen wird. 647 Eine schwierige Interpretationsfrage bleibt allerdings, ob der Widerstand auch bis zum Tyrannenmord gehen darf. 648 Problematisch an Stellen wie Pol. II, 7: 1267a14–16 oder Pol. V, 11: 1314a19–23 ist, dass wir hier nichts über die explizite Meinung des Aristoteles erfahren. Dies scheint mir gegen eine explizite Inanspruchnahme dieser Stelle entgegenzustehen. Letztlich glaube ich zwar auch, dass Aristoteles diese Ansichten wahrscheinlich unterstützt; textlich lässt sich dies jedoch nicht sicher belegen. Aufgrund dieser Gefahr steter Umsturzversuche reagieren die meisten Tyrannen in althergebrachter Weise, nämlich durch Betrug Vgl. Heuss 1971, 44. Vgl. Pol. V, 12: 1315b11 f. und 1315b38 f. 645 Vgl. Pol. III, 8: 1279b16 f. und Pol. IV, 10: 1295a19 f. 646 Vgl. Pol. V, 10: 1313a14–16. 647 Siehe als ein Beispiel unter vielen: Pol. V, 10: 1313a5–9. 648 Kraut lässt Aristoteles gewaltsame Erhebungen gegen Tyrannen befürworten. Vgl. Kraut 2002, 373 f. 643 644

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Despotische Polisordnungen

und Gewalt: 649 Hauptsächlich versucht der Tyrann dabei, keine politische Freundschaft entstehen zu lassen, die Bürger zu knechten und sie machtlos zu halten. 650 Freiwillig werde nämlich kein Freigeborener die wahre Tyrannis ertragen, so Aristoteles. 651 Wenig verwunderlich also, dass zu den Zielen eines solchen Tyrannen die Zerstörung der Gesellschaftsordnung und des Individuums gehört, wie namentlich Heuss herausgearbeitet hat. 652 Umstritten bleibt in der Forschung zu diesen Ratschlägen aus Pol. V, 10, ob Aristoteles in »machiavellistischer Weise« den Tyrannen amoralische Ratschläge zur Stabilisierung ihrer Herrschaft gebe. So behauptet etwa Jordović, dass Aristoteles der Tyrannis eine Radikalisierung nahelege. 653 Dazu möchte ich bemerken, dass Aristoteles in Pol. V, 10 die Schandtaten der Tyrannen zunächst nüchtern beschreibt, sie aber am Ende der Erörterungen moralisch eindeutig verwirft. Polansky bemerkt dazu: »He indicates his preference for the other approach and he shows that extreme tyrannies have had quite brief existences.« 654 Wenn Aristoteles solche Praktiken beschreibt, kann ihm dies auch schwerlich zum Vorwurf gemacht werden: Wohl kein Tyrann dieser Welt benötigt Aristoteles’ Pol. V, 10 als Handbuch für die Herrschaftsstabilisierung. Überdies zeigt Aristoteles im Anschluss an die angeblich »machiavellistischen« Passagen einen zweiten Weg auf, den die Tyrannen seiner Meinung nach beschreiten sollten, nämlich die stärkere Annäherung ihrer Herrschaft an eine königliche. 655 Wie häufig finden wir laut Aristoteles zu seiner Zeit tyrannische Herrschaften? Zwar entstehen sie in Griechenland häufiger als Königsherrschaften, allerdings legt man im Zeitalter der Massen die Macht seltener in die Hände eines Einzelnen. 656 Dagegen ähneln in der Sicht unseres Philosophen durchaus einige ausländische KönigsVgl. Pol. V, 10: 1313a9 f. Vgl. Pol. V, 11: 1313a34–1314a29. 651 Vgl. Pol. IV, 10: 1295a22 f. 652 Heuss 1971, 20–22. 653 Vgl. Jordović 2011, 36. 654 Polansky 1991, 342; ähnlich Schütrumpf 1996, 170. Meister 1977, 37 f. belegt dies auch philologisch, denn die gängige Tyrannenpraxis des ersten Teils schreibt Aristoteles im Indikativ, den zweiten Teil bestreitet er häufig mit Sollensformulierungen. 655 Vgl. Pol. V, 11: 1314a29–1315b10. 656 Vgl. Pol. V, 10: 1313a3–10 mit Pol. V, 5: 1305a15 f. Früher begannen übrigens die meisten Tyrannen ihre Laufbahn als Demagogen im Kampf gegen die Oligarchen: vgl. Pol. V, 10: 1310b14–31. 649 650

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Deskriptive Merkmale und normative Bewertung

herrschaften einer Tyrannis, obwohl sie eigentlich legal-vererbte Regierungen sind: Hier liegt der tyrannische Zug nicht in der gewalttätigen Usurpation, sondern in der Haltung gegenüber den Untertanen bzw. in der angeblich knechtischen Grundhaltung der Beherrschten. 657 Hansen stellt übrigens fest, dass Aristoteles die Häufigkeit von tyrannischen Herrschaften unterschlägt und es auch mehr oligarchische Poleis gegeben habe, als Aristoteles uns als Stimmungsbild vermittle. 658

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Vgl. Pol. III, 14: 1285a16–29. Vgl. Hansen 2006, 112.

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IV. Schlussbetrachtungen

Nachdem nun also die Grundzüge der aristotelischen politischen Philosophie im Wesentlichen erarbeitet sind, soll dieses letzte Kapitel einige abschließende Betrachtungen anstellen: Zunächst soll dabei erkundet werden, ob Aristoteles für die Grundfrage seiner Zeit, dem Problem einer stabilen und normativ befriedigenden Ordnung, auch überzeugende Antworten gefunden hat. Danach kann in einem zweiten Schritt in sehr knappen Überlegungen erörtert werden, ob und in welcher Form die aristotelische politische Philosophie vielleicht auch heute noch anschlussfähig sein kann. Bereits in der Einleitung dieser Arbeit haben wir gesehen, dass Aristoteles das Kernproblem seiner Zeit, die instabilen und/oder normativ unbefriedigenden politischen Ordnungen, korrekt identifiziert hat. Damit tun sich für ihn sowohl machtpolitische als auch normative Problemfelder auf, die einer Lösung zugeführt werden müssen. Allerdings sind diese Themenkomplexe für Aristoteles nicht stets strikt zu trennen, sondern hängen sogar häufig miteinander zusammen: Alle Bürger einer Polis streben nach dem guten Leben (eu zên) und können dies gemäß den Ausführungen des ersten Buches der Politik auch nur in der politischen Ordnung erreichen. Da sich jedoch die aristotelische politische Anthropologie mitnichten als naiv-optimistisch herausgestellt hat, steht daher der aristotelische Bürger in der Regel vor dem Problem, dass seine Vorstellungen eines guten Lebens zum einen nicht von allen anderen Bürgern geteilt werden und zum anderen diese häufig auch der Verwirklichung seiner Wünsche und Ziele im Wege stehen und/oder sie sogar aktiv behindern. So wird etwa ein oligarchisch gesinnter Bürger feststellen müssen, dass seine Auffassung des eu zên als Leben des Gelderwerbs von demokratischen oder aristokratischen Mitbürgern nicht geteilt wird und diese andere Lebensformen bevorzugen. Daher betreibt eine demokratische Bürgerschaft häufig eine anti-oligarchische Politik oder opponieren bei einer oligarchischen Regierung immer wieder die demokratisch gesinnten Bürger in friedlicher oder gewalttätiger Weise. Oftmals Ordnung in der Polis

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Schlussbetrachtungen

stoßen also Bürger mit ihren normativen Zielen auf machtvollen Widerstand, da sich ihnen andere Bürger mit abweichenden normativen Vorstellungen in den Weg stellen. Anders ausgedrückt: ein guter Teil der Instabilität der politischen Ordnungen lässt sich für Aristoteles auf einen »clash of normative conceptions« zurückführen: Nicht nur im III. Buch der Politik, sondern auch und gerade in den Büchern IV–VI haben wir gesehen, dass die staseis vielfach auf Streitigkeiten über das Gerechte und Gleiche zurückzuführen sind. 1 Demnach kann Aristoteles nicht aus Stabilitätserwägungen heraus von normativer Güte absehen: Wenn Aristoteles lediglich das Ausspielen von Stärke empföhle und lediglich an das gerissene Eigeninteresse der Machthaber appellierte, nicht allzu ungerecht zu sein, aber keiner der Gruppierungen ein genuin normatives Interesse zugestände, 2 so verzeichnet eine solche Beschreibung die aristotelische politische Philosophie mehrfach: Nicht nur beraubt eine solche Analyse die Polis ihres normativen Fundaments, sondern sie verkennt auch die Eigenwahrnehmung der jeweiligen Gruppierungen, die sich sicherlich nicht bloß als machtgierig unter Absehung normativer Ziele beschreiben werden. Überdies käme es in Poleis mit sehr eindeutigen Machtverhältnissen (oder allzu passiver Opposition) zu keiner Kritikmöglichkeit an quasi-despotischen Verhältnissen, da ein Entgegenkommen dann nicht nötig wäre. Somit käme in solchen Fällen ein antiker, in den Kategorien Schütrumpfs denkender Politiker, der normativen Erwägungen wenig Beachtung schenkt und sich stattdessen auf die Stärke seiner Gruppierung verlässt, für Aristoteles wohl nicht in Frage, wenn es um die (Wieder-)Herstellung einer stabilen Ordnung 3 ginge – von der normativen Güte dieser Verfassung ganz zu schweigen. Dies sei gegenüber der Interpretation von Schütrumpf hervorgehoben, der in seiner Interpretation von Pol. IV–VI dazu neigt, sogar für das Thema der stasis normative Aspekte so weit wie möglich an den Rand zu drängen. 2 Abgesehen vielleicht von den machtpolitisch ohnmächtigen Tugendhaften. 3 Da das Fundament der Polis wesentlich auf normativen Gesichtspunkten aufruht, wird ein bloß machttaktisch vorgehender Politiker bloß kurzfristig an der Macht bleiben können, da er 1) relativ kurzsichtig auf tagespolitische Stärke achtet, aber 2) nicht bedenkt, dass eine nicht normativ auf das gute Leben ausgerichtete Politik rasch Unzufriedenheit hervorruft (auch bei der eigenen Anhängerschaft, denn ein radikales Absehen von normativen Fragen (und Schütrumpf leugnet für Demokratien oder Oligarchien normative Ziele!) bedeutet auch eine Missachtung der Wünsche in Bezug auf das gute Leben: Wenn aber nicht einmal für die eigenen Anhänger der Nutzen (in Form der Verwirklichung der eigenen Vorstellungen des guten Lebens) gegeben ist, 1

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Ebenso wenig erfolgreich wird jedoch auch sein Fred Miller folgender Kollege sein, der Stabilitätsprobleme auf verfehlte Interpretationen des Gerechten an sich zurückführt und daher die Instabilität der politischen Ordnung durch gerechtere Politik zu beheben gedenkt. Damit scheiterte er nämlich an der normativen Blindheit der meisten Bürger, die nicht zum Gerechten an sich vorstoßen, sondern stattdessen nur relativ gerechte Standpunkte einnehmen. Entsprechend haben wir gesehen, dass gerade die von Aristoteles als besonders gerecht angesehenen Verfassungen in der politischen Wirklichkeit nur selten vertreten sind – anders als Miller postuliert, konstruiert Aristoteles also keinen Zusammenhang in der Form »Je (wahrhaft) gerechter, desto stabiler«. Hier macht die Verrechnungslehre von Pol. IV, 12 in Kombination mit dem realistischen aristotelischen Menschenbild solch einseitig normativ orientierten Politikern einen dicken Strich durch die Rechnung. Deshalb muss die aristotelische Empfehlung sowohl eine einseitig machtpolitische als auch eine einseitig normative Schlagseite vermeiden – oder anders formuliert: beide Aspekte integrieren. Angesichts der »janusköpfigen Natur« des Menschen, die der politischen Ordnung sowohl eine normative Ausrichtung als auch einen machtpolitischen Realismus abfordert, muss Aristoteles sein Heil in einer Anlage der politischen Ordnung finden, welche also sowohl genügend normative Binde- und Überzeugungskraft bereitstellt als auch machtpolitisch ausreichend stabilisiert ist. Hier konnte diese Arbeit zeigen, dass diese politische Ordnung für Aristoteles aufgrund der erwähnten Probleme der Herrschaft von Menschen (»rule of men«) unbedingt zu einer »rule of law« führen muss. Entsprechend verfehlt die vorherrschende Standardauffassung, 4 dass Aristoteles die Verfassung primär als Distributionsordnung begreife, eines seiner zentralsten Anliegen. Schließlich bestimmt zum einen eine distributive Lesart letztlich die normative Ausrichtung der politischen Ordnung unter, denn sie verengt Fragen der politischen Ordnung auf das – durchaus sehr wichtige – Spezialproblem der Verteilung von Ämtern und Gütern und betont so einseitig den Aspekt der Machtordnung. Ebenso stellt ja gerade diese unterschreitet eine solche Position sogar die normative Stärke despotischer Verfassungsformen. 4 Dominant etwa in Keyt/Miller 1991 oder Knoll 2009, aber auch in stärker forschungsüberblicksreferierenden Darstellungen wie Deslauriers/Destrée 2013, 4. Ordnung in der Polis

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Schlussbetrachtungen

Konkurrenz in der Verteilung das tief verwurzelte Problem dar und kann daher nicht die Lösung darstellen: Entweder wird das Verteilungsproblem despotisch aufgelöst, dann befriedigt die normative Qualität jedoch nicht und fordert – wie gezeigt – häufig den Widerstand der Bürger heraus. Oder die Verteilung soll dem Gerechten an sich entsprechen, aber dies scheitert an der machtpolitischen Ohnmacht der Tugendhaften. Somit lässt sich resümieren, dass die Herrschaft von Menschen über Menschen genau die oben beschriebenen Ordnungsprobleme hervorruft und daher Aristoteles einen anderen Weg finden muss, um dieser ordnungspolitischen Zwickmühle zu entkommen. Diese Arbeit argumentierte nun dafür, dass wir Kapitel wie Pol. III, 3 mit ihrer Identifizierung der Polisordnung mit der Verfassungsordnung oder das Ende von Pol. III, 11 mit seiner ausdrücklichen Zuweisung des kyrion tês poleôs an die Gesetze (in Überordnung über die Menschen) in ihrer ganzen Tragweite ernst nehmen müssen. Aber auch schon das Ende von Pol. I, 2 weist darauf hin, dass der Mensch in zweierlei Hinsichten dringend auf die als Rechtsordnung verstandene Polisordnung angewiesen ist: Ohne Rechtsordnung ist der Mensch schlechter als die wildesten Tiere, unter dem Einfluss einer guten Rechtsordnung dürfen wir ihn jedoch als das beste sublunare Lebewesen ansprechen. Daher umfasst die Rechtsordnung den wesentlichen normativen Aspekt genauso wie den machtvollen: Ebenfalls am Ende von Pol. I, 2, aber auch schon in EN X, 10 sahen wir nämlich, dass die meisten Menschen im Rahmen des realistischen aristotelischen Menschenbildes eben auf den Zwang der Gesetze angewiesen sind und diesen Zwang der Gesetze auch bereitwilliger akzeptieren als einen von Menschen ausgeübten Zwang. Damit beansprucht Aristoteles desgleichen, dass diese aristotelische »erste Fahrt« der Gesetze sowohl deskriptiv als auch normativ und erst recht machtpolitisch der platonischen »ersten Fahrt« der Herrschaft der besten Menschen überlegen ist: Erstens vermeidet Aristoteles die rechtstheoretisch unerwünschte Konsequenz der platonischen Lehren, normativ unliebsame Verfassungen deskriptiv ihres Verfassungsstatus zu berauben; zweitens missachtet die platonische Herrschaft der besten Menschen die gerechtfertigten Ansprüche der nicht-tugendhaften Freien weitgehend und leidet folgerichtig deswegen auch an Stabilitätsproblemen. Allerdings erhebt rund zweitausend Jahre später Thomas Hobbes 450

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den gewichtigen Einwand, dass die aristotelische »rule of law« mitnichten als machtpolitisch gelungene Lösung betrachtet werden könne: Wer fürchte sich denn schon vor der Macht eines Fetzen Papiers? Politische Ordnung könne nur das Schwert herstellen, Recht ohne dahinterstehende absolute Macht sei bloß ein zahnloser Papiertiger. Hier gibt die vorliegende Arbeit die aristotelische Sichtweise wieder, dass die Rechtsordnung sich sowohl aus der politischen Freundschaft herleiten lässt als auch dass sie darin ihren machtpolitischen Rückhalt findet. Damit hebt Aristoteles die tragende Rolle dieser speziellen Nutzenfreundschaft in doppelter Weise hervor: Schließlich entsteht die Rechtsordnung der Polis sowohl genetisch aus dieser Übereinstimmung in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen als auch ist ihre Stabilität diesem normativen Fundament zu verdanken: Die Verfassung als Leben der Polis ist eben das Produkt einer Übereinstimmung der (meisten) Bürger in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen und insofern eine in Institutionen gegossene normative Einigkeit, womit also das Recht einen machtvollen Rückhalt in der Bürgerschaft genießt. Selbstverständlich könnte man auch den despotischen Weg von Thomas Hobbes einschlagen, dies zieht allerdings für Aristoteles normativ unerwünschte Konsequenzen nach sich; überdies bezweifelte er wohl dessen machtpolitische Stabilität. Während Aristoteles für sein eigenes Modell wohl einerseits die normativen Vorteile der nicht-despotischen Herrschaftsweise herausstriche, würde er vermutlich auch auf dessen machtpolitischer Überlegenheit gegenüber Hobbes’ Vorschlag beharren: So kann die aristotelische Theorie nicht nur auf diesen »Verfassungspatriotismus« der verfassungstreuen Bürger bauen (wobei dies über die Verrechnungslehre von Pol. IV, 12 ab- und eingeschätzt werden kann), sondern auch eine solche normative Unterstützung dadurch befördern, indem sie eine Erziehung gemäß der Verfassung vorschreibt. Damit kann Aristoteles ein normatives Fundament für machtpolitische Stabilität legen und so einerseits den normativen Charakter der politischen Gemeinschaft bewahren und betonen; andererseits vermeidet er damit den bereits bekanntlich schon von John Locke kritisierten Despotismus der hobbesschen Lösung. Somit entrechtet er also nicht weite Teile der Bürgerschaft, was den Unmut der solcherart der Atimie Verfallenen provozieren würde. Da die politische Freundschaft – trotz ihres anthropologisch äußerst optimistische Lesarten nahelegenden Namens – nicht auf Tugendhafte beschränkt ist und somit keine normative Überforderung Ordnung in der Polis

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der Bürger darstellt, vermag sie also auch die Stabilität politischer Gebilde unter nicht idealen Verhältnissen zu erklären. Insgesamt kann also Aristoteles beanspruchen, dass die Grundstrukturen, wie sie im ersten Abschnitt dieser Dissertation erarbeitet worden sind, als durchdachte Umrisslösungen der drängenden Grundprobleme seiner Zeit gelten können. Entgegen der vorherrschenden Standardinterpretation setzt Aristoteles seinen Schwerpunkt also nicht darin, auf die alte Frage des distributiv Gerechten »Wer soll herrschen?« eine andere Antwort als die Zeitgenossen zu geben. Vielmehr erinnert er gegenüber seiner vermachteten Zeit daran, dass die politische Gemeinschaft wesentlich eine normative Ordnung ist und daher eine bloße Neuorganisation der Machtordnung nicht hinreichend ist. Daher setzt meine Arbeit dabei an, dass bereits Aristoteles die politische Ordnung als Rechtsordnung erkannt hat und dadurch sowohl Stabilitäts- als auch Normativitätsfragen besser als in dem ihm gemeinhin zugeschriebenen Modell gelöst werden können. Aber auch das Thema der politischen Freundschaft ist in der bisherigen Forschungsdiskussion nicht in seinem vollen Potential erkannt worden: Schließlich kann sie durch die geteilten Auffassungen in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen sowohl die Genese der Verfassung erklären als auch für ihre Stabilität sorgen. Im Gegensatz zu Interpretationen, welche politische Freundschaft als Tugendfreundschaft auffassen, 5 ist sie als Nutzenfreundschaft in Abgrenzung zur homonoia jedoch nicht auf Tugendhafte eingeschränkt und kann somit auch die Normativität und Stabilität nicht-idealer Verfassungen beschreiben und erklären. Natürlich kommt es aber für einen Politiker der damaligen Zeit wesentlich auf die inhaltliche Füllung dieser Umrisse an, wofür der zweite Abschnitt dieser Arbeit die Kriterien bereitstellt. Grundsätzlich steht Aristoteles zu Beginn dieser Überlegungen vor dem Problem, dass er im Gegensatz zu Platons normativ überstarker Rechtstheorie sämtlichen positiven Rechtsordnungen ihren juristischen Status als Verfassung belässt 6 und ihnen allen ein gewisses Ausmaß an Gerechtem zuspricht: Um ein normatives »anything goes« zu vermeiden und einen Maßstab für die Beurteilung der normativen Güte zu erhalten, stellt er dem positiven Recht ein »Naturrecht« gegenüber. Als »naturrechtlich« gerechtfertigt erweisen sich hierbei Ver5 6

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Besonders einschlägig Cooper. Wenn sie eben mit einer »rule of law« und einer Beamtenschaft verknüpft ist.

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fassungstypen, welche sich als vernünftige Ordnung beweisen, also dabei in normativer Hinsicht die Natur der Polis zu verwirklichen suchen, nämlich das gute Leben zu befördern, und in einer machtpolitischen Spezialperspektive die Partizipation an der Verfassung in normativ zufriedenstellender Weise sicherzustellen. Entsprechend lauten die drei wesentlichen Kriterien also 1) »rule of law«, 2) Herrschaft des Gemeinwohls, 3) nicht-despotisch geregelte Partizipation an der Verfassung. Schließlich ist eine naturrechtlich als gut zu bezeichnende Verfassung dadurch gekennzeichnet, dass sie in einer Herrschaft des Gesetzes den gemeinsamen Nutzen des guten Lebens für die gesamte Bürgerschaft sucht (eu zên/eudaimonia als Beförderung des Wohlergehens aller Bürger und damit Verwirklichung der Natur der Polis) und dabei den Pluralismus in der Bürgerschaft geschickt und gerecht integriert. Diese Berücksichtigung des in jeder Polis vorkommenden Pluralismus an Ansichten über das gute Leben, das Gerechte und Nützliche verhilft zum einen zu größerer Stabilität, da alle relevanten Gruppierungen der Freien, Reichen – und in besonders guten Fällen auch der Tugendhaften – wenigstens in einem bestimmten Umfang an der Verfassung beteiligt werden; zum anderen ist dies nicht nur aus Stabilitätsgründen anzuraten, sondern schlicht normativ gerechter als der (beinahe) allerorten herrschende Despotismus. Dabei kann Aristoteles diese Lehren von einem (seiner Ansicht nach) ausgewogenen Gleichheitsgedanken herleiten, der sowohl die verschiedenen Gleichheiten und Ungleichheiten nach Würdigkeit angemessen beachtet als auch die Gleichheit der Zahl nach würdigt. Indem er beide Gleichheiten in einem bestimmten Umfang berücksichtigt und in seiner Analyse der Gleichheit nach Würdigkeit nicht bloß eine einzige Gleichheit als gerechtfertigt anerkennt, gesteht er allen freien Bürgern einen gewissen Anteil an der Verfassung und damit am politischen Leben zu. So hofft Aristoteles die Polarisierungen seiner Zeit zu entschärfen (Stabilität) und auch einen gerechteren Gegenentwurf zu den vorherrschenden Verfassungen zu bieten (normativer Aspekt). Sicherlich besonders hervorzuheben ist dabei freilich, dass er äußerst kontextsensibel vorgeht und die Verwirklichungsmöglichkeiten seiner normativen Ansätze so stets im Blick haben möchte: Aristoteles ist weit entfernt davon, dem Himmel der normativen Ideen lediglich einen weiteren besonders hell leuchtenden, aber den irdischen Verhältnissen völlig entrückten Stern hinzuzufügen. Statt unbeirrt für alle politischen Konstellationen stets nur die Verwirklichung der Ordnung in der Polis

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absolut besten normativen Vorstellungen zu fordern und somit einen für die Praxis letztlich doch irrelevanten, da unverwirklichbaren, Maßstab anzulegen, sollte ein an Aristoteles orientierter Politiker kontextsensibel die jeweiligen Verhältnisse berücksichtigen. Insofern können manche Verfassungen für Aristoteles an sich gebotener sein, aber für bestimmte Poleis sei trotzdem z. B. eher eine Oligarchie oder Demokratie anzuraten. Auf jeden Fall sind allein schon aus stabilitätstechnischen Erwägungen heraus die normativen Vorstellungen der Bürger dringend mit zu berücksichtigen. Schließlich weiß schon Aristoteles, dass eine gerechte Verfassung keineswegs aufgrund ihrer Gerechtigkeit für stabil zu halten ist. Deutlich wird dies etwa am Faktum, dass ausgerechnet die von Aristoteles für besonders gerecht gehaltenen Verfassungstypen des Königtums und der Aristokratie nur selten in der politischen Wirklichkeit anzutreffen sind und die wenigen Tugendhaften aufgrund ihrer weitgehenden machtpolitischen Ohnmacht sich selten auflehnen. Umgekehrt sind die als ungerecht bezeichneten Verfassungstypen der Demokratie und Oligarchie bei weitem die vorherrschenden, während die vergleichsweise gerechte Politie ebenfalls nur selten anzutreffen ist. In diesem zweiten Abschnitt habe ich nachgewiesen, dass sich Aristoteles weder vulgär-positivistisch an die jeweiligen Kontexte verliert noch vulgär-idealistisch die Umstände gar nicht berücksichtigt. Abschnitte wie »Legalität versus Moralität?« oder »Das Verhältnis von gutem Bürger und gutem Menschen« zeigen exemplarisch, wie Aristoteles diese Gratwanderung meistert. Noch deutlicher wird dies freilich nach Erarbeitung der Maßstäbe des Gerechten und Gleichen in der abschließenden Abgleichung der normativen Vorstellungen der Bürger mit den aristotelischen »Ideal«-Vorstellungen: Hier muss Aristoteles weder angesichts der rauen politischen Wirklichkeit resigniert auf einen festen Maßstab zur Kritik bestehender Verfassungen verzichten und sich auf eine deskriptiv-soziologische Beschreibung faktisch bestehender Machtverhältnisse beschränken, noch darf er die normativen Vorstellungen der Bürger komplett ignorieren und von der Lebenswelt abstrahierend sich ein normatives Luftschloss reiner Gerechtigkeit erbauen. Im dritten Großabschnitt dieser Dissertation treffen die in den ersten beiden Abschnitten erarbeiteten Grundstrukturen und -kriterien auf die berühmten sechs Verfassungstypen. Dabei werden Königtum, Aristokratie, Politie, Demokratie, Oligarchie und Tyrannis 454

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daraufhin befragt, wer den jeweiligen Verfassungstypus soziologisch stützt, ob der Grundtypus zur »rule of law« oder zur »rule of men« neigt, welche normativen Ziele dieser Typus anstrebt, ob das koinon sympheron für die gesamte Bürgerschaft gesucht wird und schließlich, welche Kriterien eine Verfassung für eine Teilhabe an der Verfassung anlegt. Dieser dritte Abschnitt kann nachweisen, dass Aristoteles mit diesen Kriterien einerseits jeden Verfassungstypus deskriptiv angemessen beschreiben kann, andererseits dienen diese Kriterien auch gut für eine normative Evaluation und Kritik. Damit erhält das aristotelische Verfassungsdenken handfeste und nachprüfbare Kriterien und kann somit – zumindest in einer aristotelisierenden Binnensicht – den Vorwurf einer gedanklichen Nachlässigkeit (um die eigenen ideologischen Vorurteile zu bestätigen) entkräften. So erhalten wir dabei nicht allein eine präzise soziologische Darstellung der jeweiligen Verfassung in Hinsicht auf die sie tragende Bürgerschicht und eine zutreffende Schilderung ihrer normativen Vorstellungen, sondern damit kann Aristoteles recht einleuchtende Erläuterungen geben, wieso bestimmte Verfassungstypen dominieren oder eher selten auftreten. Darüber hinaus legt er sowohl implizit als auch explizit normative Verbesserungsvorschläge vor, die gemäß seiner Praxisrelevanzund Kontextorientierung zwar die normative Situation verbessern und die Stabilität der betreffenden Verfassung erhöhen sollen, dabei jedoch durchaus realistisch im Sinne des rationalen Eigeninteresses der Politiker argumentieren und sie normativ nicht überfordern. Auch hier schafft Aristoteles also wiederum Raum für verschiedene Lösungen: Entsprechend fragt er nicht nur nach der absolut besten Verfassung, sondern sucht nach den für die jeweiligen Kontexte angemessenen Verfassungen oder solchen, die für die meisten Poleis nützlich sind. Im Rahmen seiner Beschreibung und Bewertung der verschiedenen Verfassungstypen gelangt Aristoteles zu einigen interessanten Ergebnissen im Detail. Gemäß den in den ersten beiden Abschnitten erarbeiteten Ergebnissen überrascht das Gesamtbild des dritten Abschnitts wohl wenig: Während die als gemeinwohlorientiert gelobten Verfassungen nur selten verwirklicht sind, dominieren die verfehlten Verfassungstypen eindeutig. Während im deutschen Sprachraum die beiden besten Verfassungstypen des Königtums und der Aristokratie aufgrund ihrer angeblich fast unmöglich zu nennenden WahrscheinOrdnung in der Polis

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lichkeit nur selten ausführlicher besprochen werden, 7 legt diese Arbeit Wert auf eine detaillierte Analyse: Wie sieht es mit der Stabilität, politischen Verwirklichbarkeit und der normativen Güte dieser beiden politischen Ordnungen aus? Besonders umstritten ist in der gesamten Forschung das Königtum: Häufig wird bestritten, dass Aristoteles das Königtum angesichts seiner normativ extrem hohen Ansprüche an den König überhaupt als verwirklichbare Option angesehen habe. In Übereinstimmung mit einigen Forschern argumentiere ich für eine solche Realisierbarkeit dieser Verfassung, die ich jedoch anders begründe. Letztlich steht Aristoteles vor dem Problem, wie er die absolut überragende Tugend des Königs mit der politischen Ordnung der Bürgerschaft vereinbaren kann: Hier wählt Aristoteles den Ausweg, dass der König als solch un (ver)gleich(lich)e Figur eben auch nicht zur politischen Ordnung (als Ordnung der Freien und Gleichen) gehört, sondern ausdrücklich außerhalb von ihr steht. Damit wird jedoch nicht die Existenz der politischen Ordnung aufgehoben, weswegen auch die Bürger im Rahmen der »Bürokratie« Ämter einnehmen können und somit durchaus in politische Prozesse eingebunden sind. Vor allem jedoch können sich die Bürger trotz der überragenden Macht und absoluten Gestaltungsmöglichkeit über ihre Anerkennung der normativen Korrektheit des Königtums und der daraus resultierenden machtpolitischen Akzeptanz des Königtums hinaus insofern mit dieser Verfassung identifizieren, da in meiner Lesart Aristoteles für ein Wahlkönigtum plädiert. Deutlich wird dies nicht allein an der allgemeinen Präferenz eines Wahlkönigtums gegenüber Erbmonarchien, sondern vor allem auch darüber, dass ein König wider den Willen der Bürgerschaft von Aristoteles zu einem stürzbaren Tyrann erklärt wird und insofern die freiwillige pambasileia von der unfreiwilligen Tyrannis geschieden wird. Daher kann eine politische Freundschaft auch im Falle des Königtums die Stabilität der Regierung sichern, denn von einer Freundschaft der Bürger zum König aufgrund dessen Wohltaten den Untertanen gegenüber spricht Aristoteles ausdrücklich. 8 Normativ zeichnet sich die aristotelische Lösung dadurch aus, Knoll 2009 bildet mit seinem Schwerpunkt auf der Aristokratie eine gewisse Ausnahme, billigt aber dem Königtum keine besondere Relevanz zu. 8 Vgl. EN VIII, 13: 1161a10–20. Ein sichtbares äußeres Zeichen ist die freiwillige Bewachung des Königs durch die Bürgerschaft (im Gegensatz zu den gedungenen Söldnern des Tyrannen); vgl. Pol. III, 14: 1285a24–29 und Pol. V, 10: 1311a7 f. 7

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dass sie nicht nur auf die außergewöhnliche und überragende persönliche Tugend des Königs abstellt, sondern diese soweit steigert, dass sie der Regularität des Gesetzes gleichkommt. 9 Diese Lehre des Königs als nomos empsychos sichert zwar auf der einen Seite die Kohärenz der aristotelischen politischen Philosophie, da damit auch ein solches Königtum eine »rule of law« darstellt, systematisch scheint diese Vereinigung personaler und transpersonal-gesetzlicher Vollkommenheit für uns jedoch sicherlich relativ fragwürdig. Noch komplizierter stellt sich die Lage bei der Aristokratie dar: Relativ unproblematisch dürfte der Nachweis sein, dass Aristoteles von einer Leistungsaristokratie und nicht von einem Erbadel ausgeht. Normativ scheint die Aristokratie insofern von Aristoteles problemlos gerechtfertigt werden zu können, da sie das eigentliche Ziel des guten Lebens durch paideia und Gesetze anpeilt und somit als Verwirklichung der eunomia gelten kann. Damit scheint sie diejenigen Anforderungen, die diese Arbeit als aristotelische Maßstäbe für eine gelungene politische Ordnung identifiziert, problemlos zu erfüllen. Insofern müsste eine absolute Herrschaft der Aristokraten für Aristoteles doch ein Gebot der Stunde sein. Tatsächlich jedoch wäre eine solche absolute Herrschaft der Aristokraten für Aristoteles eine Tugendtyrannis, denn auch die Ansprüche der Demokraten oder Oligarchen sind in einem bestimmten Umfang legitim, und daher darf ihnen die Beteiligung an der Verfassung nicht völlig verwehrt werden. Hier entsteht ausgehend von Pol. III, 10 10 sowie der Kritik an der radikal durchgeführten platonischen Aristokratie die von mir so bezeichnete »oligarchische Gefahr für die Aristokratie«: Bisher wurde diese oligarchische Gefahr in der Forschungsliteratur zum allergrößten Teil nicht wahrgenommen. Lediglich Eckart Schütrumpf hat in seiner genetisch-analytischen Lesart die Schwierigkeiten von Pol. III, 10 aufgezeigt und daraus interpretatorische Konsequenzen gezogen. Sowohl die aristotelische Kritik an Platon als auch Pol. III, 10 zeigen deutlich die beiden grundlegenden inhaltlichen Probleme, die mit einer absoluten Herrschaft der Aristokraten verbunden wären: Erstens wäre eine solche absolut herrschende Aristokratie, in der die Tugendhaften Herren über alles sind und die »bloß« Freien sowie die Reichen keinen Anteil an der Verfassung haben, normativ eine oligarVgl. für eine Analyse der Regularität in der Ethik Hoffmann 2010. Anders als Schütrumpf dies rekonstruiert, beschreibt Aristoteles in Pol. III, 10 also auch objektive Verstöße gegen das Gerechte und betrachtet dies als Problem.

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chisch zu nennende Despotie; zweitens scheiterte eine solche Radikalaristokratie stabilitätstechnisch an dieser Atimie praktisch der gesamten Bürgerschaft. Soll nun in normativer Hinsicht ein Kurswechsel hin zu einer Politie oder Demokratie erfolgen? Oder spielt ab Pol. III, 10 in einer generellen Trendwende eigentlich nur noch die Stabilität als einzige Leitfrage eine wesentliche Rolle und normative Überlegungen treten völlig in den Hintergrund, wie Schütrumpf annimmt? Insofern erschöpft sich die Bedeutung der Interpretation dieser Kapitel Pol. III, 9 – Pol. III, 13 nicht in ihren Binnenkonsequenzen für die Aristokratie, sondern die genannten Fragen weiten sich unversehens zu einer äußerst ernstzunehmenden Bedrohung für das unitarische Projekt aus. Schließlich sollte gerade eine unitarische Auslegung erklären können, inwiefern Aristoteles Pol. III, 10 und die Vor- sowie die Nachfolgekapitel vereinen kann: Wenn Pol. III, 11 im Sinne einer Befürwortung einer Politie oder Demokratie gelesen wird, muss eine unitarische Deutung das Problem lösen, dass Pol. III, 9 eine Herrschaft der Aristokraten nahezulegen scheint, Pol. III, 10 die Aristokratie als oligarchisch enttarnt, aber ab Pol. III, 13 wiederum Königtum und Aristokratie sichtlich in unproblematischer Manier als beste Verfassungen gewürdigt werden. Lediglich der genetisch-analytische Ansatz von Schütrumpf kann mit diesem scheinbaren Widerspruch zwischen Pol. III, 9 und Pol. III, 12–18 auf der einen Seite und Pol. III, 10 und Pol. III, 11, die eine andere Lösung zu favorisieren scheinen, interpretatorisch umgehen, indem er hier verschiedene Ansätze der aristotelischen politischen Philosophie entdeckt, die in Pol. III, 11 als Konsequenz der Überlegungen von Pol. III, 10 sowohl eine aristokratisch-demokratische Mischverfassung als auch eine generelle Wende zu Stabilitätsfragen als Resultate ergeben. Anders formuliert: Die bisherige unitarische Forschung hat die Relevanz von Pol. III, 10 vernachlässigt und ist in ihrer derzeitigen Gestalt daher nicht imstande, die daraus entwickelten Bedenken der genetisch-analytischen Richtung auszuräumen. Demgegenüber möchte meine unitarische Deutung im Rahmen einer Analyse dieser genannten Kapitel nachweisen, dass bereits Pol. III, 9 keine absolute Herrschaft der Aristokraten mit Entrechtung des Rests propagiert, Pol. III, 10 uns nur die Konsequenzen einer Radikalaristokratie besonders deutlich vor Augen führt und Pol. III, 11–13 in einer damit verträglichen konsequenten Weise eine wahre Aristokratie nichtradikalen Zuschnitts präsentiert. 458

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Meiner Lesart gemäß meistert die aristokratische Ordnung der Polis durch eine eingeschränkte Mitbeteiligung der anderen Gruppen (wie sie Pol. III, 9 und 12–13 grundsätzlich begründen und Pol. III, 11 demonstriert) sowohl die normative als auch die stabilitätstechnische Herausforderung, sodass eine solch wahre Aristokratie weder ungerechterweise den anderen Gruppierungen die (Teil)-Erfüllung ihrer (teil-)gerechtfertigten Ansprüche verwehrt noch an der stabilitätstechnischen Klippe des Unmuts der von der Atimie Betroffenen zerschellt. Indem Pol. III, 11 sich sowohl durch den Kompetenzumfang der Menge als auch die allgemeine normative Ausrichtung (sichtbar etwa am Tugend-Maßstab der Ämterverteilung) und last but not least die Charakterschilderungen des dêmos als Aristokratie (und nicht als Massenherrschaft) herausstellt, bleibt der inhaltliche Zusammenhang von Pol. III, 9–13 problemlos gewahrt. 11 Somit kann auch eine unitarische Deutung in dieser Lesart einerseits sowohl die normativen und stabilitätstechnischen Probleme von Pol. III, 10 bewältigen, als auch andererseits durch diese konsequent aristokratische Lesart der genannten Kapitel das Problem des sonst auftretenden Verfassungswiderspruchs (Welche Verfassung empfiehlt Aristoteles denn?) vermeiden; überdies ist sie gegenüber der genetisch-analytischen Deutung in der Lage nachzuweisen, dass nicht erst Pol. III, 10 und 11 Stabilitätserwägungen einen gewissen Platz einräumen und diese damit letztlich zur reifen Philosophie von Pol. IV–VI mit ihrem realistischen Stabilitätsparadigma (anstelle der angeblichen normativen Träumerei von Pol. III) überleiten. In der Gesamtschau vermag Aristoteles also erwägenswerte und durchdachte Vorschläge für eine Renaissance der Aristokratie zu geben: Indem er normative und stabilitätstechnische Defizite der früheren Aristokratien behebt, hätten seine Vorschläge eigentlich dieser Verfassungsform eventuell wieder mehr »ideologischen Rückhalt« geben können. Dass die tatsächliche Entwicklung in eine andere Richtung gegangen ist, steht wiederum auf einem anderen Blatt geschrieben. Wer hingegen Pol. III, 11 im Sinne einer nicht-aristokratischen Massenherrschaft liest, der muss angesichts des deutlich aristokratischen Umfelds von Pol. III, 9 sowie Pol. III, 12–18 (sowie der nach wie vor auch in den Büchern IV–VI bestehenden Einschätzung des Königtums und der Aristokratie als besten Verfassungen) deutlich machen, wie Pol. III, 11 diesen Einschätzungen entgegentreten kann. Unitarisch kann eine Lösung eigentlich nicht sinnvoll erzielt werden, wenn sie nicht eben aristokratisch erfolgt.

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Indem er die Politie als guten Verfassungstypus beschreibt, beweist Aristoteles wiederum seine ausbalancierte Sichtweise auf Politik. Zwar handelt es sich bei dieser politischen Ordnung nicht mehr um einen der absolut besten Verfassungstypen, 12 aber dennoch um einen guten. Vor allem jedoch kann diese Verfassungsform insofern als recht attraktiv gelten, da sie im Vergleich zu den normativ ausgezeichneten Verfassungstypen des Königtums und der Aristokratie eigentlich leichter verwirklichbar wäre. Als Mischung von (demokratischer) Freiheit und (oligarchischem) Reichtum ist sie normativ wesentlich weniger anspruchsvoll als die besten Verfassungsformen und daher für die Mehrzahl der Poleis leichter erreichbar, da sie ja auch wesentlich unmittelbarer die Interessen dieser beiden wichtigsten Machtfaktoren bedient. Somit wäre die Politie letztlich für die meisten Poleis die am nächsten liegende politische Ordnung, um den Stabilitäts- und Normativitätsproblemen der Zeit zu entrinnen. Jedoch zeigt Aristoteles auch in diesem Kapitel, dass seine normativen Wunschvorstellungen nicht seinen machtpolitischen Blick trüben: Obwohl die Politie noch die am einfachsten verwirklichbare Verfassung wäre, ist sie tatsächlich nur selten verwirklicht. Gerade diese eigenartige Kluft zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit dieser Ordnung sollte eigens thematisiert werden: Um dieses in der bisherigen Forschung nicht gemeisterte Problem zu lösen, unterscheidet meine Analyse zwischen einer institutionellen und einer soziologischen Verwirklichung der Politie, wobei angesichts der häufig bestehenden Feindseligkeiten zwischen Demokraten und Oligarchen vor allem die soziologische Verwirklichung der Politie als Herrschaft des Mittelstandes eine stabile politische Ordnung gewährleisten wird. Unglücklicherweise ist der Mittelstand im Alten Griechenland nur schwach ausgeprägt, was also die beklagenswerte Kluft zwischen trister Verfassungswirklichkeit und hoffnungsgebender Verfassungsmöglichkeit erklärt. Relativ vorteilhaft präsentiert sich die aristotelische Analyse im Vergleich zur platonischen, wenn es um die despotischen Verfassungstypen geht: Anders als dem stellenweise doch recht polemisch vorgehenden Platon gelingt Aristoteles sicherlich halbwegs die Gratwanderung, trotz vorhandener politischer Sympathien und Antipathien die jeweilige Verfassungsform nicht zu einer Karikatur ihrer selbst verkommen zu lassen. Daher kann er sowohl bei Demokraten 12

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als auch bei Oligarchen berechtigte Anliegen identifizieren und würdigen und sie folgerichtig nicht derart in Bausch und Bogen verdammen, dass er nicht auch gemäßigte Subtypen anerkennt, die schon auf dem Weg zur gemäßigten Politie sein können. Insofern bricht er die Brücken zu diesen Verfassungsformen nicht völlig ab, kann also zwar normative Kritik an ihnen üben, ihnen aber dennoch sine ira et studio sinnvolle Ratschläge für die normative und stabilitätstechnische Verbesserung erteilen. Selbst aus seiner Sicht radikale Demokratien wie Athen vermag er trotz seiner Kritik in bestimmten Hinsichten für erfolgreiche Politik zu loben. In gewisser Weise besonders relevant an der aristotelischen Taxonomie der Verfassungen sind die Beschreibung und Bewertung der Demokratie und der Oligarchie, denn schließlich handelt es sich bei ihnen um die damals verbreitetsten Verfassungstypen: Aristoteles meint, viele der Probleme sowohl in normativen als auch in stabilitätstechnischen Hinsichten an den Eigentümlichkeiten von Demokratie und Oligarchie festmachen zu können. Höchst problematisch an beiden Verfassungstypen ist zum einen ihre unvernünftige Bevorzugung der »rule of men«, sowie zum anderen die einer politischen Freundschaft völlig entgegenwirkende Spaltung der Bürgerschaft in feindselige Teile: Grundsätzlich lässt sich der Grundtypus jeweils am reinen Subtypus ablesen: Im Laufe der Analysen erweist sich, dass dieser die »rule of law« zugunsten einer despotisch-eigennützigen »rule of men« verabschiedet und damit persönlich-egoistische Willkür einer bestimmten Teilgruppe der Bürgerschaft unter Abblendung berechtigter Würdigkeiten 13 zu Despotismusproblemen in der politischen Ordnung führt. Damit werden in beiden Fällen berechtigte normative Ansprüche ignoriert oder gar vergewaltigt, wobei dies in der Oligarchie mit der tyrannisähnlichen politischen Entrechtung der Freien noch wesentlich schlimmer ausfällt. Dementsprechend lässt sich ein guter Teil der machtpolitischen Unordnung auf eine solche normativ »unordentliche« Politik zurückführen, da die betroffenen Bürger der anderen Fraktionen sich der Verfassung nicht verpflichtet fühlen können. Besonders problematisch ist dies für die Oligarchie, denn sie kann sich nur auf eine geringe Quantität an Unterstützern verlassen In einer radikalen Demokratie äußert sich dies für Aristoteles nicht nur in einem angeblich weitgehenden Absehen von Qualifikationsanforderungen an zukünftige Amtsinhaber, sondern auch in der Verlosung der allermeisten Ämter.

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und ist daher häufig eine recht kurzlebige Verfassung. Demgegenüber profitiert die Demokratie von der zahlenmäßigen Stärke des gemeinen Volkes und ist aufgrund dieser numerischen Übermacht meist wesentlich stabiler. Obwohl Aristoteles die demokratische Ordnung für normativ attraktiver hält als die oligarchische, bezeichnet er die extreme Abstimmungsdemokratie ebenso wie die vollendete Oligarchie als mehrteilige Tyrannis. Wie diese ignorieren sie für Aristoteles berechtigte Würdigkeitsmaßstäbe und teilen mit ihr auch – wie erwähnt – das Abgehen von der »rule of law«: Speziell bei der Demokratie diagnostiziert Aristoteles eine mit der Abkehr von der Rechtsordnung einhergehende Auflösung der Sozialordnung im Sinne einer Verkehrung der angeblich »natürlichen Verhältnisse«. Während dies bei der Tyrannis einem machtpragmatischen Nutzenkalkül entspringt, folgt dieselbe Konsequenz für Aristoteles bei den Demokraten aus der normativen Grundüberzeugung, dass jeder leben können solle, wie er wolle. Damit verknüpft äußert Aristoteles die grundsätzliche Kritik an der Demokratie, dass diese nicht nur eine Herrschaftslosigkeit im Sinne einer Befreiung von der Herrschaft anderer Menschen anstrebe, sondern auch von Gesetz und Verfassung frei sein wolle. Somit ist klar, wie Aristoteles das damals dringliche Ordnungsproblem lösen wollte. Sicherlich kann er beanspruchen, für seine Zeit bedenkenswerte Vorschläge erarbeitet zu haben, aber wie sieht es mit seiner Aktualität heute aus? Können wir heute noch etwas mit der aristotelischen politischen Philosophie anfangen? 14 Natürlich kann man diese Frage ohne zu zögern positiv beantworten, denn mit Aristoteles kann man auf jeden Fall als Klassiker der politischen Ideengeschichte etwas anfangen. Allerdings kann eine solche philosophiegeschichtliche Auskunft selbstverständlich nicht die endgültige Antwort darstellen, denn Philosophiegeschichte ist ja kein Selbstzweck. Damit soll natürlich keinesfalls die Disziplin der Philosophiegeschichte abgewertet werden, schließlich bin ich ja selbst Philosophiehistoriker und ist diese Arbeit grundsätzlich philosophiehistorisch orientiert (wenn sie dies auch unter systematischen Gesichtspunkten aufzuarbeiten sucht). Warum sollte man also angesichts der heutigen wesentlich pluBeispielsweise Gerson 1995, 46 bestreitet dies: »Aristotle’s ethic is a subject of lively interest among scholars and philosophers today. What he says about politics is of lesser interest […]«.

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ralistischeren und globaleren Politik überhaupt noch einen »dead white old man« wie Aristoteles studieren? Warum sollte man ihn nicht einfach in die Rumpelkammer nicht mehr benötigter Denker des Museums für veraltete Gedanken schicken? Auch hier könnte man wieder eine nur vorläufig befriedigende Antwort dadurch geben, dass heutige politische Philosophinnen und Philosophen sicherlich von der Durchdringung der komplexen Gedanken philosophisch profitieren: An der Tiefe der aristotelischen Überlegungen kann man also gewissermaßen sein eigenes philosophisches Niveau gut schulen. Jedoch kann man sich bei einer solchen Auskunft mit Recht fragen, wieso man ausgerechnet der Stimme des Aristoteles im Gespräch der Geistesgiganten über die Jahrtausende hinweg lauschen soll, denn etwa Immanuel Kant kann sicherlich ein vergleichbares philosophisches Niveau anbieten und hat zudem den Vorteil, dass einige von ihm behandelte Probleme in der politischen Philosophie auch heute noch Fragen sind, die uns umtreiben: Man denke hier nur an die wichtigen gedanklichen Weichenstellungen, die Kant in Hinsicht auf einen Völkerbund wie die UNO geleistet hat. Angesichts der im Vergleich zum Alten Griechenland doch wesentlich veränderten politischen Landschaft sind indessen nicht nur manche kantischen Fragen unseren eigenen doch wesentlichen näher, sondern auch und vor allem gerade die Antworten. Insofern scheinen wir durch eine gründliche Beschäftigung mit aristotelischer politischer Philosophie Gefahr zu laufen, am Mast vorneuzeitlicher Gedanken hängend den gefährlichen Sirenengesängen der Vormoderne allzu sehr zu lauschen und so emanzipatorische Fortschritte der Moderne preiszugeben. Dass sich namhafte Kritiker der Moderne auf Aristoteles berufen und ihn gegen die Moderne positioniert haben, passt dann nur allzu gut ins Bild. Wie kann man sich also den positiven Errungenschaften der Moderne verpflichtet fühlen und dennoch aristotelische politische Philosophie studieren? Sicherlich könnte man hier darauf verweisen, dass gerade die prämodernen Elemente seiner Gedanken unseren Widerspruch hervorrufen und uns damit helfen, in einer solchen Abgrenzung unsere eigene Position besser konturieren zu können. Allerdings meine ich, dass über eine solche negative Abgrenzungsbewegung hinaus Aristoteles uns auch in einem positiven Sinne einige Ressourcen bereitstellt, mit denen wir das Projekt der Moderne verteidigen und manche bisherigen Einseitigkeiten auch korrigieren können. Nicht umsonst verstehen sich auch einige moderne PhilosoOrdnung in der Polis

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phinnen und Philosophen, die sich selbst als progressiv begreifen, als Neoaristoteliker, so etwa Martha Nussbaum. 15 Worin bestehen nun solche positiv aktualisierbaren Aspekte der aristotelischen politischen Philosophie? Wie bereits oben angedeutet, überzeugen wohl weniger bestimmte Details seiner Überlegungen, 16 sondern vielmehr gewisse Grundrissüberlegungen. Dabei möchte ich ebenfalls an die obigen Überlegungen anschließen, dass unser moderner Rechtsstaat wohl kaum direkt positive Aktualisierungen aus aristotelischen Überlegungen in Hinsicht auf den substantiellen Rechtsstaat erfahren wird. Was inhaltlich gerecht genannt werden und wie das gute Leben aller Menschen in einem Staat oder gar in der Welt befördert werden kann, darauf wird uns Aristoteles’ politische Philosophie in Ermangelung universeller Menschenrechte sowie der Verneinung der allgemeinen Menschenwürde grundsätzlich nicht viel Brauchbares zu sagen haben. 17 Keineswegs handelt es sich bei der Diskriminierung von Sklaven, Frauen und Barbaren oder der Ablehnung der Demokratie um leider auftretende, aber letztlich in der normativen Bilanz schnell ad acta zu legende Kollateralschäden. 18 Dass die aristotelischen Auffassungen in ihrem perfektionistischen Inhalt sehr problematisch sind und seine Ausführungen zum Gerechten und Gleichen mit ihrer Ablehnung einer Gleichheit aller Menschen an Würde höchst problematisch sind, möchte ich kurz an den oberflächlich anscheinend doch so fortschrittlichen Lehren von Pol. III, 11 demonstrieren: Leicht kann man sich selber auf falsche Fährten locken, wenn man dieses Kapitel als Urahn unserer heutigen Allein die Philosophie von Nussbaum zeigt also, dass jemand sich selbst als NeoAristoteliker begreifen und sehr wohl an emanzipatorischer Wirkung interessiert sein kann (ausdrücklich in Nussbaum 1998, 256). 16 Allein schon deswegen, weil unsere politischen Gemeinschaften im Detail völlig anders aussehen als die antiken Polisordnungen. 17 Vgl. Horn 2005 und Horn 2012 zur Problematik der Menschenrechte bei Aristoteles. 18 Schütrumpf 2012b, 30 bemerkt dazu: »Versuche, die aristotelische Theorie der Sklaverei als einer naturgemäßen Herrschaftsform als eine vielleicht bedauernswerte und eher peinliche Entgleisung auf etwas mehr als zwei Seiten in Bekkers griechischem Text in einer sonst beachtenswerten politischen Philosophie zu verharmlosen und zu minimalisieren, verkennen die Tatsache, dass sie notwendiger Bestandteil des Kerns einer philosophischen Herrschaftstheorie ist, mit der sich Aristoteles gegen die lediglich quantifizierende und damit für ihn äußerliche Differenzierung von Formen von Gemeinschaft und der Bezeichnung der Regierenden wandte, wie er sie bei Platon fand (I 1).« 15

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Demokratie betrachtet. Auf den ersten Blick scheint es vermeintlich ja durchaus berechtigt, Pol. III, 11 als Vorläufer unserer heutigen Demokratie zu betrachten: 19 Schließlich darf die gesamte Bürgerschaft die politischen Ämter in Wahlen bestellen und in einer Rechenschaftsprüfung ihre Amtsführung kontrollieren. Allerdings tun sich mehrere Problemfelder auf, wenn sowohl die damalige Demokratietheorie als auch eine heutige Kritik an unserer repräsentativen Demokratie mitbedacht sowie die Ergebnisse des Kapitels 3.2.1.3 berücksichtigt werden: Im antiken Griechenland galt die Wahl als aristokratischer Bestellungsmodus, nicht als demokratischer. Gut, könnte man sagen, dies betrifft nur das Label »demokratisch«, bei dem wir tatsächlich vielleicht dem Bestellungsmodus von Pol. III, 11 näherstehen als dem in der Antike als demokratisch angesehenen Losverfahren. Vielleicht – so könnte man diese Argumentationslinie weiter fortsetzen – haben wir aus den bekannten Fehlern einer athenischen Demokratie gelernt und ist dieses »aristokratische« Element der Wahl eine sinnvolle Korrektur der allzu radikalen antiken Demokratie: Im Gegensatz zur allzu beliebigen Bestellung des politischen Personals durch Losverfahren erfordert Politik doch tatsächlich eine sachliche Kompetenz und persönliche Integrität; und hier scheint eine Auswahl der uns am besten Scheinenden in einer Wahl doch ein vernünftigerer Modus zu sein (die Wahl als Auswahl der Besten). Jedoch liegt genau hier ein entscheidender Unterschied zum oberflächlich demokratisch scheinenden Kapitel Pol. III, 11 verborgen: Aristoteles glaubt für seine Besten (aristoi) noch objektive Merkmale angeben zu können und verwehrt daher dem allergrößten Teil der Bürgerschaft von Pol. III, 11 das passive Wahlrecht für die höchsten Ämter. Dies wäre in etwa so, als verweigerte man heutzutage allen Bürgerinnen und Bürgern, welche nicht zu einer anerkannten Leistungselite gehören, die Möglichkeit, Spitzenpolitiker zu werden. Nun kann man diese Verweigerung des passiven Wahlrechts für die höchsten Ämter aber nicht einfach als einen heute nicht mehr zeitgemäßen und schlicht auf damalige Vorurteile zurückführbaren »Unfall« der aristotelischen politischen Philosophie abtun und nach Korrektur dieses bedauerlichen Malheurs das aristotelische Politikverständnis für rehabilitiert halten: Ein solches Vorgehen setzte ja voraus, dass die Gewährung des passiven Wahlrechts an alle Bür-

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Lane 2013, 269 scheint mir in diese Richtung zu gehen.

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gerinnen und Bürger an der aristotelischen politischen Philosophie nichts Wesentliches änderte. Hier möchte ich jedoch einhaken und darauf hinweisen, dass ein solches Verwehren des passiven Wahlrechts für die höchsten Ämter in der aristotelischen politischen Philosophie tief verankert ist und uns somit ein grundsätzlicher tiefer Graben von der aristotelischen politischen Anthropologie trennt: 20 Erstens: Da Aristoteles in perfektionistischer Weise die Tugend privilegiert, befürwortet er ein um dêmos-Rechte erweitertes aristokratisches Gemeinschafts-Modell. Anders formuliert: Der stark ausgeprägte ethische Perfektionismus führt zu einem politischen Paternalismus, in welchem dem dêmos das aktive Vertreten der eigenen Positionen in den höchsten Ämtern verwehrt wird und stattdessen das Wohl der breiten Bevölkerungsmasse von den aristokratischen Herrschern wahrgenommen werden sollte. 21 Zweitens würdigt Aristoteles nicht die zentrale Rolle der Öffentlichkeit, da er die Vernunftfähigkeit und echte Autonomie der Masse nicht wirklich anerkennt. Letztlich denkt Aristoteles noch zu herrschaftlich, wenn er die Interessen des Volkes durch Aristokraten wahrnehmen lassen will und die Meinungsbildung der breiten Öffentlichkeit in ihrer wichtigen Rolle nicht gleichermaßen würdigt. So aber kann der Gesellschafts-Pluralismus nicht in einen echten Meinungs-Pluralismus übersetzt werden. 22 Aristoteles geht ja anders als wir davon aus, dass ein bestimmter politischer Player, die aristoi, auch über eine besondere politische Leistungsfähigkeit und -tauglichkeit verfügt und insofern politisch zu privilegieren ist. So würde Aristoteles also einwenden, dass er die Möglichkeiten für eine echt pluralistische Öffentlichkeit gar nicht gegeben sieht. Schließlich hält er die breiten Massen nicht für vernünftig genug, um eine gleichberechtigte Rolle in der Politik spielen zu dürfen. Daher könnte er sich mit dem habermasschen Leitmotiv: »Die Norm-Adressaten sollen sich auch als ihre Urheber verstehen können« nicht in vollem Umfang anfreunden, da er dies für eine Überforderung der Masse hielte. Höchstens die bereits erwähnte sehr Noch einmal sei also betont, dass eine Verengung aristotelischer politischer Philosophie auf Distributionsfragen zu einer systematischen Unattraktivität führt. 21 Horn 2013, 239 bezeichnet dies als monistische Form eines Perfektionismus. 22 Von der Problematik ganz zu schweigen, dass Aristoteles das komplizierte Wechselspiel zwischen Öffentlichkeit und der »vierten Gewalt« (den Medien) noch nicht kennen konnte. Bekanntlich stellt dies für eine Demokratietheorie eine ganz eigene Herausforderung dar. 20

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schwache Autonomie im Sinne der Zustimmung oder Ablehnung der Regierungsprojekte sowie die Auswahl der geeigneten Aristokraten gesteht er ihr zu. Aber darauf, wer denn diese Besten (aristoi) sind, darf sich nicht – wie heute – die gesamte Bürgerschaft in einem politischen Meinungsbildungsprozess einigen, sondern aus der festen Gruppe der Aristokraten wird der geeignetste Kandidat ausgewählt. Wenn wir heute anders verfahren und aus der gesamten Bürgerschaft das politische Spitzenpersonal rekrutiert werden kann, dann tun wir dies vor dem Hintergrund der Annahme, dass nicht bestimmten soziologischen Gruppen von vornherein bestimmte Würdigkeiten und damit politische Tüchtigkeit zu- oder abgesprochen werden kann. Natürlich kann hier der vermeintlich realistische Einwand gemacht werden, dass heute lediglich in der grauen Theorie das politische Spitzenpersonal aus allen Bürgergruppen kommen könne. Stattdessen beschicke auch in der heutigen politischen Realität eine relativ abgeschlossene Elite die höchsten Ämter und würden die Interessen breiter Bevölkerungsschichten zugunsten der Eigeninteressen der Elite vernachlässigt. So oder ähnlich lauten heute gängige Vorwürfe an unser heutiges Repräsentativsystem. Insofern gerät unser heutiges Demokratiemodell unversehens in den Ruch einer neuen Oligarchie mit demokratischem Deckmantel. Zumindest in Deutschland scheint diese Diagnose nicht völlig berechtigt zu sein: Hier gibt es noch keine regelrechten Dynastien von Amtsträgern oder entscheidet nicht beinahe ausschließlich der Reichtum der eigenen Familie über den Erfolg oder Misserfolg der jeweiligen politischen Ambitionen. Zumindest in dieser Hinsicht scheint der Vorwurf einer neuen Oligarchie also unbegründet. Heutzutage beschränkt sich der von manchen Gruppierungen erhobene weitergehende inhaltliche Vorwurf einer fehlenden Gemeinwohlorientierung häufig nicht allein auf die Empfehlung, man möge die eigene Partei wählen und somit die alten Eliten ablösen. Stattdessen lässt sich in vielen Ländern beobachten, dass eine solche Kritik radikal vorgetragen und ein grundlegender Systemwechsel angestrebt wird. Manchmal wird dies auch in den Slogan gepackt, eine neue Republik sei notwendig. Zumeist wird hier natürlich nicht an einen Wechsel zum alt-athenischen Losverfahren gedacht, 23 sondern Insofern stellt der jüngst erhobene entsprechende Vorschlag von David Van Reybrouck eher ein akademisches Kuriosum dar.

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wollen sogenannt populistische Strömungen die heutige Demokratie umgestalten. Nachdem dies vielerortens explizites Programm solch populistischer Bewegungen und nicht etwa bloß polemische Abwehrbehauptungen der sogenannten Altparteien ist, kann ganz neutral die Diagnose getroffen werden: Viele heutige demokratische politische Gemeinschaften unterliegen dem Problem einer Krise der althergebrachten Demokratie. Unversehens sind wir trotz gewaltiger Unterschiede im Detail dennoch an einen ähnlichen Punkt im Grundsatz angelangt, der sowohl für die aristotelische politische Philosophie als auch für heutige Diagnosen einer Krise der Demokratie entscheidend ist: In beiden Fällen wird die Stabilität der existierenden politischen Ordnung durch grundsätzliche Unzufriedenheit in normativen Fragen – und nicht etwa bloß in Detailfragen – in Frage gestellt. Hier liegt es nahe, bei Aristoteles eine Antwort zu suchen und das Konzept der politischen Freundschaft wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. Sogar wenn man dieses Konzept für anschlussfähig hält, dann muss sicherlich die Mahnung von Miller beherzigt werden: »In the end, however, a neo-Aristotelian theory will have to stand on its own two legs – philosophical argument and empirical evidence – and not fall back on quotations from Aristotle.« 24 Wie wir gesehen haben, trifft dies auf jeden Fall auch auf die politische Freundschaft zu: Schließlich geht sie in ihrer speziell aristotelischen Variante nicht mit einem normativen Pluralismus einher. Tatsächlich jedoch können wir hier – ohne eklektizistisch zu werden – dennoch ein von Aristoteles inspiriertes Ergebnis für unsere Tage fruchtbar machen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der Gedanke einer aristotelischen politischen Freundschaft keineswegs eine Akzeptanz aristotelischer Tugendethik mit sich bringt, sondern sie auch unter anderen normativen Vorzeichen adaptierbar ist. Schließlich ist die politische Freundschaft nicht eine Tugendfreundschaft. Welchen Nutzen soll nun eine aristotelisch inspirierte politische Freundschaft für heutige Verhältnisse bringen? Zum einen lenkt sie in normativer Hinsicht unseren Blick auf zentrale Sachverhalte, die derzeit außer Blick zu geraten drohen: Politik ist wesentlich ein normatives Projekt in grundsätzlichen Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen, und daher sollten die Programme und nicht die Personen 24

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im Vordergrund stehen. Natürlich ist die Frage, wer denn herrschen soll, durchaus ein entscheidender und wichtiger Gesichtspunkt: Dennoch sollte sich Politik für die Bürger nicht in einer alle vier oder fünf Jahre stattfindenden Wahl erschöpfen, sondern von einer lebendigen Diskussion über eben die genannten normativen Fragen geprägt sein. Letztlich hängt die Lebendigkeit einer Demokratie ja davon ab, wie intensiv eine sachliche Auseinandersetzung in den wesentlichen Fragen geführt wird. Selbstverständlich widerspricht diese Forderung der Realität unserer heutigen Mediendemokratie, in der einfach vermittelbare Personalisierungen und nicht komplizierte Sachfragen die relevanten Quoten garantieren; daher sind alle Parteien in ihrer Eigenwahrnehmung dazu gezwungen, Politik personalisiert zu »verkaufen«. Allerdings erschöpft sich die Relevanz dieses Konzepts nicht in den bisherigen Überlegungen: Gerade die häufig zu beobachtende Konzentration auf Personen statt Programmen birgt nämlich große Gefahren für die Demokratie: So ist ein starker Personalismus anfälliger für einen Autoritarismus. Beispielhaft sehen wir dies an der Entwicklung in einigen mitteleuropäischen Staaten, in denen der Rechtsstaat derzeit wieder stärker unter Beschuss kommt, indem die Gewaltenteilung unterhöhlt wird und Institutionen wie der Verfassungsgerichtshof entmachtet werden. Insofern erlangen eine aristotelische Forderung nach einer »rule of law« 25 und eine Warnung vor allzu distributiven Lesarten der Politik eine traurige Aktualität. Auch heute sehen wir, dass extrem personalistisch ausgerichtete Bewegungen die Politik stärker emotionalisieren und – auch im Rahmen solcher personalen Zuspitzung – eine Unterdrückung oder mindestens Diskriminierung und politische Ausschaltung von Minderheiten auch wieder stärker en vogue kommen. Gerade aus der aristotelischen Einsicht in das Wesen der politischen Ordnung als normativem Projekt heraus sollte zum anderen eine vorsichtige Korrektur am gängigen Selbstverständnis heutiger liberaler Gesellschaften erfolgen. Heute erleben wir wieder eine Situation, in der in durchaus einigen bisher demokratischen Staaten kein Grundkonsens in allergrundsätzlichsten Grundsatzfragen in Hinsicht auf einen formalen wie auch auf einen substantiellen Rechtstaat mehr gilt. Stattdessen erstarken politische Kräfte, die in radikaAllerdings muss das normative Fundament des modernen Rechtsstaates auf den Menschenrechten aufruhen, was einen wesentlichen Unterschied zu den aristotelischen Überlegungen ausmacht.

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ler Opposition zum bisher geltenden normativen Minimalkonsens stehen, den bei allen Differenzen in der Ausgestaltung die meisten politischen Mitbewerber bisher problemlos teilten. Ebenso radikalisiert sich die politische Auseinandersetzung, insofern die neuen autoritären Bewegungen vorgeben, das wahre Volk zu vertreten und somit den tatsächlich existierenden Pluralismus in der Gesellschaft leugnen. Hier sind übersteigerte Freund-Feind-Dichotomien nicht mehr allzu weit, was Gift für eine faire und problem- und sachorientierte politische Auseinandersetzung ist. Insofern sollten die politischen Parteien sensibel einschätzen, welche ihrer politischen Mitbewerber tatsächlich einen normativen Pluralismus bejahen und wertschätzen. 26 Gewissermaßen machtpolitisch sollte aus Aristoteles’ Empfehlungen die Lehre gezogen werden, dass eine stets überwältigende Mehrheit hinter dem Geist etwa des Grundgesetzes stehen sollte. Dabei – und dies ist eine weitere, auf jeden Fall diskutierenswerte Anleihe aristotelischen Denkens – sollte dieser dahinterstehende normative Konsens nicht einfach passiv erhofft werden, sondern auch durch Erziehung gemäß der Verfassung befördert werden. 27 Schließlich benötigt jede politische Gemeinschaft einen gewissen Konsens in den ganz grundlegenden normativen Fragen, wobei dies sicherlich nicht in eine derart übergriffige und paternalistische Ordnung wie Pol. VII/VIII münden darf. Dagegen haben sich heutige Staaten vielleicht zu wenig darum gekümmert, einen solchen normativen Minimalkonsens aktiv zu befördern und zu verteidigen. Selbstverständlich soll damit nicht die moderne Errungenschaft einer Akzeptanz und Toleranz verschiedener Wege in Fragen des Guten, Gerechten und Nützlichen, kurz des pluralismusfreundlichen Staates, zunichtegemacht werden. Grundsätzlich sollte sich der Staat nicht allzu tief in die normativen Belange der Bürgerinnen und Bürger einmischen und auf keinen Fall bestimmte Wege des guten Lebens mehr oder weniger verpflichtend vorschreiben. Obwohl Aristoteles selbst kein echter Pluralist war, gibt uns seine politische Philosophie immerhin die Einsicht mit, dass es nicht »ein Volk« mit einheitlichen normativen Zielen und Wünschen gibt. Stattdessen sind unsere heutigen Bürgerschaften durch einen Pluralismus normativer Ansichten geprägt, der Alleinvertretungsansprüchen bestimmter politischer Gruppierungen ab ovo eine Absage erteilt. 27 Zwar haben verschiedene Bundesländer entsprechende normative Ziele in ihrer Landesverfassung verankert, aber im Schulalltag spielt dies nicht die erforderlich wichtige Rolle. 26

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Jedoch gilt diese prinzipielle weltanschauliche Neutralität sinnvollerweise nicht, wenn es um die normativen Grundlagen der Gemeinschaftsordnung geht: Meiner Meinung nach sollte ein Staat sehr wohl die demokratische Gesinnung und die Achtung der Menschenrechte aktiv mit einer entsprechenden Erziehung im Rahmen eines verbindlichen Schulfachs Ethik befördern. Selbstverständlich darf in einem demokratiepolitischen Unterricht keine Parteipropaganda zugunsten einer bestimmten Gruppierung betrieben werden, wohl aber muss Kindern und Jugendlichen Wesen und Wert der Demokratie näher gebracht werden; ebenso sollte im Ethikunterricht im engeren Sinne kein bestimmter Lebensentwurf privilegiert, sondern Akzeptanz und Wertschätzung der heutigen pluralen Gesellschaft befördert und so der Geist der Allgemeinen Menschenrechtserklärung transportiert werden. Sicherlich ist eine heutige Politik oder die derzeitige Gesellschaft wohl aus Sicht keiner Gruppe perfekt zu nennen, jedoch liegt vielleicht auch gerade darin eine Stärke und ein Vorzug unserer heutigen Gemeinschaft: Ganz wesentlich ist sie dynamisch und ein Kompromiss zwischen verschiedenen Lebens- und Politikentwürfen und nicht ein despotisches Durchsetzen der eigenen Minderheits- oder Mehrheitsmeinung. Natürlich kann und darf am heutigen Zustand der Politik oder Gesellschaft scharfe Kritik geübt werden, aber dies sollte zu einem zivilgesellschaftlichen Engagement in Parteien oder NGOs führen, nicht jedoch zu einer gefährlichen Absage an den Pluralismus überhaupt. Bekanntlich ist es eine Binsenweisheit, dass offene Gesellschaften ihre eigenen normativen Fundamente eben nicht despotisch allein mit Zwang durchsetzen können; ebenso steht uns das warnende Beispiel der Weimarer Republik vor Augen. Eine freiheitlich demokratische Grundordnung muss ihre eigene Stabilität verteidigen können und insofern wehrhaft sein, aber hier sollte eine Demokratie gegenüber radikalpopulistischen und religiös-fundamentalistischen Gruppierungen nicht allein auf Verbotsgesetze vertrauen müssen, sondern es sollte ihr auch möglich sein, ihre eigenen normativen Grundlagen durch entsprechende Erziehung im Sinne der Grundsätze der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu sichern. In diesem Sinne kann trotz der uneingeschränkt einzuräumenden Defizite der aristotelischen politischen Philosophie in Hinsicht auf den substantiellen Rechtsstaat Aristoteles dennoch als Denker gelten, dessen Gedanken zur Politik in einigen Hinsichten auch heute noch von systematischem Interesse sind. Ordnung in der Polis

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Literaturverzeichnis

1. 1.1.

Primärliteratur Werke des Aristoteles

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