Der Tod der Gemeinschaft: Ein Topos der politischen Philosophie 9783050060378, 9783050051956

Spätestens seit der Lehre vom Naturzustand, die Thomas Hobbes auf so folgenreiche Weise ausgearbeitet hat, steht die Tod

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German Pages 382 [384] Year 2012

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Der Tod der Gemeinschaft: Ein Topos der politischen Philosophie
 9783050060378, 9783050051956

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Leander Scholz Der Tod der Gemeinschaft

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung

Sonderband

33

Leander Scholz

Der Tod der Gemeinschaft Ein Topos der politischen Philosophie

Akademie Verlag

Diese Publikation ist im Rahmen des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie der Bauhaus-Universität Weimar entstanden und wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. Dieser Sonderband 33 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie ist zugleich Band 12 der Schriften des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2012 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Frank Hermenau, Kassel Einbandgestaltung: hauser lacour Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005195-6 E-Book: ISBN 978-3-05-006037-8

„Alles Interessante ereignet sich im Dunkeln, ganz ohne Zweifel. Die wirkliche Geschichte der Menschen ist nicht bekannt.“ Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht

Inhaltsverzeichnis

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I.

Einleitung: Theodizee und Thanatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Erster Teil: Politische Theologie/Politische Ökonomie II.

Die Institution des Imaginären (Hobbes) 1. Die Urszene der Selbstreferenz . . . 2. Der doppelte Körper des Königs . . 3. Die Gleichheit des Todes . . . . . . 4. Die Gewalt der ersten Gestalt . . . . 5. Die Spaltung des Subjekts . . . . . . 6. Die Selbstpräsenz der Menge . . . .

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III. Das Gesetz der Gesetzmäßigkeit (Kant) . 1. Die Pflicht des Lebens . . . . . . . . 2. Die intelligible Ordnung der Dinge . 3. Das Gefühl der Selbstachtung . . . . 4. Der unhintergehbare Kontrakt . . . . 5. Der Selbstmord des Staates . . . . . 6. Die Immunität des Gesetzes . . . . . 7. Der symbolische Nullpunkt . . . . .

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IV. Der Haushalt des Todes (Hegel) . . 1. Die Ganzheit des Staates . . . 2. Die Exzentrik des Bewusstseins 3. Der Mangel des Gesetzes . . . 4. Der Kampf um Anerkennung . 5. Das Begehren des Todes . . . . 6. Die Signifikation durch Nichts

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I 7. Die Spaltung des Kollektivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

V.

Die Gesamtmetamorphose (Marx) . 1. Die polizeiliche Aufsicht . . . . 2. Die Anatomie des Elends . . . . 3. Das Ungenügen einer Revolution 4. Die Produktion des Mangels . . . 5. Der doppelte Körper der Dinge . 6. Die Ewigkeit des Kapitals . . . .

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VI. Exkurs: Die Geschichte nach ihrem Ende 1. Das Versprechen der Freiheit . . . . 2. Das Problem des unendlichen Endes 3. Der Selbstgenuss der Menschen . . . 4. Der entzifferte Wunsch der Moderne

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Zweiter Teil: Politische Ökonomie/Politische Ökologie VII. Das Werden der Unschuld (Nietzsche) 1. Die Austreibung des Jenseits . . . 2. Die Tragödie der Geburt . . . . . . 3. Die Aneignung der Ganzheit . . . 4. Die Ökonomie der Schuld . . . . . 5. Der Idiot der Gemeinschaft . . . . 6. Verdrängung und Verwerfung . . .

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VIII. Vorstöße ins Reale (Heidegger) . 1. Die Oberfläche der Existenz . . 2. Die Macht des Realen . . . . . 3. Der Tod und die Seinsfrage . . 4. Weltarm und Weltreich . . . . 5. Das traumatische Ding . . . . . 6. Das Verbergen der Leere . . . 7. Das Vermögen der Sterblichen

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IX. Der Exzess des Todes (Bataille) . 1. Die ozeanische Stimmung . . 2. Das souveräne Unbewusste . 3. Therapie der Verschwendung 4. Ökonomie und Ökologie . . . 5. Das ursprüngliche Verbot . .

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Die Umwelt des Systems (Luhmann) 1. Techniken der Entlastung . . . . 2. Die Macht der Ohnmacht . . . . 3. Evolutionäre Lernprozesse . . . . 4. Der Tod der Gemeinschaft . . . .

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X.

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5. Die ökologische Bedrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 6. Abschied vom Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 XI. Exkurs: Jenseits des Liberalismus . . . . 1. Die theoretische Figur des Barbaren 2. Die theoretische Figur des Feindes . 3. Das Humane und das Animalische . 4. Die Politik des Naturzustandes . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

Danksagung

Für intellektuelle Anregungen und den manchmal auch nötigen persönlichen Beistand bei der Arbeit an dieser Habilitationsschrift möchte ich mich ganz besonders bei Friedrich Balke, Iris Därmann, Lorenz Engell, Harun Maye, Christoph Menke, Maria Muhle, Katrin Pahl, Bernhard Siegert und Andreas Ziemann bedanken. Meinen Kolleginnen und Kollegen am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie sowie an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar danke ich für die ausgezeichnete Arbeitsatmosphäre, die vieles erleichtert hat. Für die Unterstützung bei der Einrichtung des Manuskripts bin ich Karoline Weber und Moritz Gleich noch etwas schuldig. Gewidmet ist das Buch meiner geliebten Frau Nadja Scholz.

I

Einleitung: Theodizee und Thanatologie

„Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache.“ – Diese beiden Sätze benennen gleich im ersten Eintrag das existentielle Thema, das Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) durchgängig verfolgen. Nicht, wie man lebt, ist entscheidend, sondern allein der Umstand, dass man überhaupt lebt, und zwar möglichst lange, was aus der Perspektive des Protagonisten bedeutet, den sich ankündigenden und drohenden Tod so weit als möglich hinauszuzögern. Das Leben gewinnt seine Gestalt nicht aus sich selbst, sondern von einer Grenze her, die unüberschreitbar ist und die deshalb möglichst weit nach hinten verschoben und somit als absolute Grenze zumindest weniger sichtbar werden soll. Nicht ohne Grund beginnt die Beschreibung des modernen, großstädtischen Lebens daher mit einem prägnanten Ort, an dem dieses Hinauszögern konkret geschieht: „So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler.“1 Das Krankenhaus wird nicht nur als medizinischer Ort geschildet, an dem es um die Produktion von Gesundheit geht, sondern an dem der Tod nur noch die Rolle eines Abfallprodukts spielen kann. Dass man im Krankenhaus stirbt, kann im Rahmen moderner Lebenssteigerung lediglich als Folge einer misslungenen Behandlung aufgefasst werden. – Rainer Maria Rilke inszeniert den Ekel seines Protagonisten vor einem Leben, das vor allem überhaupt leben will, in erster Linie entlang des medizinischen Diskurses, weil dem Leser hier ein „fabrikmäßig“ organisierter Lebenswille vor Augen geführt werden kann, dem keine spezifische Qualität des Lebens mehr abzulesen ist und der daher im Gegenzug als besonders verachtenswert erscheinen muss: „Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand.“2 Zum Symptom für die moderne Unfähigkeit geworden, dem quantitativen Leben kein qualitatives mehr vorziehen zu können, stellt der medizinische Diskurs den hervorragenden Schauplatz dar, an 1 2

Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt/M. 1982, S. 9. Ebd. S. 13.

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dem ein ausschließlich dem Weiterleben verpflichtetes Leben den damit einhergehenden Verlust an der existentiellen Frage nach einer möglichen Lebensqualität offenbart. Ein Leben, das sich vollständig dem Imperativ seiner quantitativen Steigerung verschrieben hat, kann zuletzt kein „eigenes Leben“ mehr sein, weil es sich im unbestimmten Lebenswillen einer „fabrikmäßig“ auf Masse hin angelegten Produktion verliert: „Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben.“3 Dieser Entindividualisierung des Lebens steht ein historischer Diskurs entgegen, der von einer vergangenen Zeit berichtet, in dem der Tod noch groß war und als solcher gestorben wurde. Aus der Sicht des frühen 20. Jahrhunderts gab es zumindest früher noch einen ordentlichen Tod, der seine Qualität in sich selbst hatte und der sich daher auch in seiner ganzen Fülle erfassen ließ: „Früher wußte man (oder vielleicht man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen einen großen. Die Frauen hatten ihn im Schooß und die Männer in der Brust. Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde und einen stillen Stolz.“4 Früher, als das Leben noch nicht „fabrikmäßig“ organisiert war, war auch das Sterben noch ein individuelles. Der Tod war dem Leben nicht äußerlich, sondern in jeden Lebenslauf von Anfang an derart eingeschrieben, dass er dessen innersten „Kern“ bilden konnte und nicht als möglichst weit hinauszuschiebende Grenze der unmittelbaren Sichtbarkeit entzogen werden musste. Mit dem Verschwinden der „eigentümlichen Würde“ und dem „stillen Stolz“, den diese Art der Todesbeziehung dem individuellen Leben verliehen hat, drohen auch die Würde und der Stolz des Lebens insgesamt zu verschwinden. Im Anschluss an derartige Narrative ist vielfach die Behauptung aufgestellt worden, dass der Tod in der modernen „Massengesellschaft“ als solcher verdrängt wird, was die Einzelnen dazu zwingt, „vor dem Tod Scham zu empfinden, mehr Scham als Abscheu, und so zu tun, als ob es ihn gar nicht gäbe“.5 Die Erosion der Rituale des Sterbezimmers und die Abschiebung des Sterbenden ins Krankenhaus werden dabei als Hinweise auf eine grundsätzliche Unfähigkeit im Umgang mit dem Tod genommen. Verantwortlich für diese Unfähigkeit wird häufig der Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts gemacht, der den Tod in „wissenschaftliche Laboratorien und Kliniken einschloß, wo für Gefühle kein Platz ist“.6 Wie überzeugend diese Einschätzung im Einzelnen auch immer sein mag, irritierend auffällig daran ist, dass auf die Diagnose der Verdrängung meist unmittelbar der therapeutische Vorschlag einer Anerkennung des Todes folgt. Wenn der Tod, der früher anerkannt wurde, heute verdrängt wird, dann liegt es selbstverständlich nahe, wieder auf die frühere Erfahrung zurückzugreifen, um der Unfähigkeit im Umgang mit dem Tod entgegenzuwirken. Weil jedoch die Bedingungen, die es früher erlaubt haben sollen, den Tod anzuerkennen, zugleich als nicht mehr gegeben konstatiert werden, 3 4 5 6

Ebd. S. 13. Ebd. S. 14. Philippe Ariès: Geschichte des Todes, übers. v. Hans-Horst Henschen u. Una Pfau, München 2005, S. 787. Ebd. S. 786.

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gelangen solche Vorschläge meist nicht über kulturkritische Analysen hinaus, die mit der Verfallsgeschichte der Sterberituale zugleich auch eine Verfallsgeschichte kollektiver Erfahrungen insgesamt diagnostizieren: Das Verschwinden der Sterberituale bedeutet ebenfalls ein Verschwinden der Gemeinschaft, die diese Sterberituale getragen hat. Das heißt, selbst wenn man sich die Ohnmacht angesichts des Todes tatsächlich eingestehen würde, könnte dies unter den gegebenen Bedingungen des Verlustes einer „starken“ und „stabilen“ Gemeinschaft trotzdem nicht mehr zu einer Anerkennung des Todes führen, sondern lediglich zu einem umfassenden Verstummen: „[...] weder das Individuum noch die Gemeinschaft sind stark und stabil genug, den Tod anzuerkennen.“7 – Das zeitliche Schema von früher und später, das jede Verfallsgeschichte kennzeichnet, begünstigt eine derartige Sicht insofern, als es dadurch möglich wird, die gerade abgelaufene Vergangenheit als intakt im Verhältnis zur Gegenwart zu beschreiben, sodass sich die Chronologie des Verfalls, die den Sterbenden in die lange Geschichte des „homo clausus“8 einträgt, stets noch um einen weiteren Verfall ergänzen lässt. Der Sterbende wird gewissermaßen immer einsamer. Auf die Scheinheiligkeit angesichts der hässlichen Realität des Todes folgt der Ekel vor dem Sterbenden – bis hin zur Scham und letztendlich zum Schweigen, in dessen vielfältigen Ausdrucksweisen sich die Verdrängung des Todes zunehmend vollendet. Rückt man hingegen die psychoanalytische Dimension des Begriffs der Verdrängung in den Vordergrund, lässt sich die Geschichte des Todes nicht mehr allein aus der Perspektive einer Verfallsgeschichte der Sterberituale erfassen, die vor allem ein zunehmendes Verschwinden früherer Praktiken registriert. Denn damit etwas im psychoanalytischen Sinne verdrängt werden kann, muss es zunächst einmal derart zum Problem werden und zumindest für einen begrenzten Augenblick derart überdeutlich sein, dass es überhaupt verdrängt werden muss. Weil das, was verdrängt wird, weder vergessen, noch als Problem gelöst ist und daher auch als Verdrängtes noch auf eine spezifische Weise anwesend und wirksam ist, kann der Vorgang der Verdrängung zu keiner Zeit abgeschlossen sein. Das Verdrängte kehrt wieder und provoziert den wiederholten Vorgang der Verdrängung. Und vor allem kann das Verdrängte selbst zum Gegenstand eines heimlichen Begehrens werden, bei dem das Verdrängte als Verdrängtes zum Faszinosum wird. Allein schon aus diesem Grund kann sich eine Geschichte des Todes nicht auf eine narrative Chronologie verlassen, die auf dem zeitlichen Schema von früher und später beruht. Die Vorstellung, dass es früher noch eine aktive Beziehung zum Tod gab, die im Zuge der „Massengesellschaft“ dann immer mehr verschwunden ist, kann der Effekt einer späteren Zeit sein, die sich einen großen Tod wünscht, gerade weil der Tod das Verdrängte darstellt. Was als früher erscheint, ist dann ganz und gar der Gegenwart geschuldet, die ein zumeist politisches Interesse an einer aktiven Beziehung zum Tod hat. Weil es die als intakt erscheinende Zeit stets nur im Nachhinein geben kann, wird der Versuch eines Rückgriffs auf die frühere Erfahrung häufig zu einem phantasmatischen Rückgriff. Die Forderung nach Anerkennung des Todes drückt sich dann in einer maßlosen Übersteigerung einer vermeintlich als aktiv 7 8

Ebd. S. 788. Vgl. dazu Norbert Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt/M. 1983, S. 88–100 (hier: S. 100).

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erscheinenden Todesbeziehung aus, die nicht auf einer Anerkennung basiert, sondern im Gegenteil auf einer verschärften Verkennung der eigenen Ohnmacht. – Das gleiche gilt für die Frage nach der Sichtbarkeit: Gerade weil der Tod als absolute Grenze nicht allzu sichtbar sein soll, kann es aufgrund dieser Abschiebung in die Unsichtbarkeit auch ein ambivalentes Bedürfnis nach einer spezifischen Sichtbarkeit geben, hinter der sich das Unbehagen maskieren lässt.9 Dann verweist die Sichtbarkeit nicht unbedingt auf eine Auseinandersetzung mit der Tatsache der Verdrängung, sondern gehört vielmehr dem heimlichen Begehren nach dem Verdrängten an, das zur Stabilisierung der Verdrängung beiträgt, obwohl es auf den ersten Blick der Abschiebung in die Unsichtbarkeit entgegenwirkt. Vor allem im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts finden sich zahlreiche literarische und theoretische Diskurse, die von diesem heimlichen Begehren getragen werden und dabei vorgeben, etwas Vergessenes lediglich wieder zur Kenntnis zu bringen. Unter der Bedingung, dass das Verdrängte als solches zu einem Faszinosum geworden ist, gibt es jedoch nicht einfach nur ein Mehr oder Weniger an Sichtbarkeit in Korrespondenz zu einer schwächeren oder stärkeren Verdrängung, sondern kann gerade auch die Intensität, mit der das heute vermeintlich Verdrängte heraufbeschworen wird, gesteigerte Konstellationen der Verdrängung produzieren. Die Frage, die sich eine Geschichte des Todes stellen muss, die ihre Aufmerksamkeit vor allem auf das Verhältnis von Tod und Gemeinschaft richtet und sich in diesem Sinne als politische Geschichte versteht, lautet daher, wie mit der Verdrängung des Todes zugleich auch das Bedrohliche des Todes als das, was verdrängt werden muss, stets derart vor Augen gestellt wird, dass sich der Zwang zur Verdrängung beständig reproduziert. In seinem Aufsatz mit dem programmatischen Titel Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie (1984) hat Odo Marquard die These aufgestellt, dass das Problem der Theodizee, wie es zuerst von Gottfried Wilhelm Leibniz aufgeworfen wurde, auch wenn die Frage einem „uralt“ erscheinen mag, spezifisch neuzeitlich ist: „[...] wo Theodizee ist, ist Neuzeit; wo Neuzeit ist, ist Theodizee.“10 Der Rechtfertigungsdruck, unter dem die klassischen metaphysischen Größen zunehmend stehen, kann demnach erst unter postreligiösen Bedingungen derartige Ausmaße annehmen, dass die Vernunft der Menschen zum Tribunal einer Anklage aufsteigt. Zu den Gründen der Anklage gehört dabei neben dem malum morale, dem Bösen, und dem malum physicum, dem Leiden, auch das malum metaphysicum, die Endlichkeit. Während diese stets gegebenen Übel vorneuzeitlich durch „intakte Religionen“ zumindest „entschärft“ waren, erscheinen sie nun als zwingender Ausgangspunkt für eine neue Rechtfertigung, worum es in der philosophischen Theodizee der Neuzeit schließlich geht. Unabhängig davon, ob man der These von Marquard in allen Einzelheiten folgt, kann man ihr darin zustimmen, dass das malum metaphysicum zunächst einmal in seiner ganzen Deutlichkeit präsent und als solches erfahrbar sein muss, bevor man das Bedürfnis verspüren kann, es ausführlich zu rechtfertigen. Um sich mit der Endlichkeit 9 10

Zu dieser Problematik vgl. die Beiträge bei Thomas Macho/Kristin Marek (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007. Odo Marquard: Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie, in: ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 11–32 (hier: S. 14).

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der eigenen Existenz arrangieren und die Vorstellung des eigenen Todes verdrängen zu können, muss diese Vorstellung schon derart unerträglich geworden sein, dass sich das Problem einer Rechtfertigung überhaupt stellt. Erst dann kann man auf die spezifisch neuzeitliche Lösung kommen und feststellen, dass das Übel auch sein Gutes hat. Denn diese „Malitätsbonisierung“, die Marquard als den entscheidenden Zug der neuzeitlichen Theodizee ansieht, setzt das Erlebnis eines mächtigen Zwangs voraus, der einen dazu drängt, noch der unerträglichsten Vorstellung etwas Gutes abzulesen. Um das malum in diesem Sinne dauerhaft in ein bonum verwandeln zu können, reicht es aber nicht aus, der Unerträglichkeit des Übels einen Sinn zu unterstellen, sondern mit der Umwandlung muss auch der Zwang zur Umwandlung und damit die Intensität des malum metaphysicum erneuert werden. Damit das malum auch weiterhin in ein bonum umgewandelt wird, muss es nach wie vor in irgendeiner Weise als malum erfahrbar bleiben. – Diese spezifisch neuzeitliche Lösung, bei der aus der Verschärfung des Übels dessen Gutes hervorgeht, hat Ludwig Feuerbach programmatisch ausformuliert, wenn er die Kürze des Lebens als Bedingung für dessen Intensität versteht: „Je kürzer unser Leben ist, je weniger wir Zeit haben, gerade desto mehr haben wir Zeit; denn der Mangel an Zeit verdoppelt unsre Kräfte, konzentriert uns nur auf das Notwendige und Wesentliche, flößt uns Geistesgegenwart, Unternehmungsgeist, Takt, Entschlossenheit ein, es gibt darum keine schlechtere Entschuldigung als mit dem Mangel an Zeit.“11 Je intensiver man sich die Kürze des Lebens vor Augen führt, desto stärker wird man demnach an ein zeitlich begrenztes Moment des Lebens gebunden, das sich allerdings gerade aufgrund dieser Bindung auszudehnen vermag. Die Lösung besteht also nicht darin, dass der Tod einfach an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt wird, sondern die Verdrängung findet in einer derartigen Weise statt, dass es dadurch zu einer enormen „Daseinsverdichtung“12 kommt. Die Vorstellung des eigenen Todes, die aufgrund ihrer Unerträglichkeit verdrängt werden muss, bildet deshalb zugleich ein ungeheures Reservoir zur Steigerung des Lebens: Je intensiver man sich das Übel der Endlichkeit präsent macht, desto intensiver geht damit auch das Gefühl eines Zwangs einher, dieses Übel in etwas Gutes zu verwandeln. Vor dem Hintergrund dieser Lösung, bei der sowohl die Verdrängung als auch der Anlass der Verdrängung in den Zusammenhang einer wechselseitigen Steigerung gebracht werden, lässt sich die Verdrängungsthese dahingehend modifizieren, dass, gerade weil der Tod seit der Neuzeit zum verschärften Problem wird, mit der Verdrängung des Todes eine Todesobsession einhergeht, die sich im Wechselspiel von Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten zeigt. Im Unterschied zu einer Geschichte des Todes, die vor allem nach den Gründen für die Erosion der Sterberituale fragt, orientiert sich diese Perspektive an der erhöhten Aufmerksamkeit, die der Todesproblematik in der modernen politischen Philosophie entgegengebracht wird. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass dem malum metaphysicum gerade aufgrund seiner geringeren Eindämmung durch „intakte Religionen“ eine ambivalente Dignität zugesprochen wird. Die Bedrohlichkeit des Todes erscheint nicht nur als ein Schicksal, das die Menschen hinzunehmen haben und dessen ausge11 12

Ludwig Feuerbach: Kleinere Schriften III (1846–1850), Gesammelte Werke, Bd. 10, hg. v. Werner Schuffenhauer, Berlin 1990, S. 166. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Erneuerte Ausgabe, Frankfurt/M. 1999, S. 519.

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sprochene Härte durch keine Jenseitsfiktionen mehr zu mildern ist, sondern das gerade aufgrund seiner Unausweichlichkeit als eine besondere Auszeichnung des Menschen gelten kann. So grenzt etwa Jean-Jacques Rousseau den Menschen vom Tier durch das Todesbewusstsein ab und bindet dessen historisches Auftreten an das Wissen um den Schrecken des Todes: „[...] denn niemals kann ein Tier wissen, was Sterben ist und die Kenntnis vom Tod mit seinem Schrecken ist eine der ersten Errungenschaften, die der Mensch bei seiner Entfernung von dem tierhaften Zustand gemacht hat.“13 In dem Moment, in dem der Tod als äußerst problematisch erfahren wird, scheint er auch den Rang einer erhabenen Größe einnehmen zu können, sodass die damit verbundene Erhöhung die Umwandlung des malum in ein bonum zumindest begünstigt. Was den Menschen vom „tierhaften Zustand“ entfernt und für immer vom Glück des Nichtwissens abschneidet, kommt als Erfahrung allein ihm zu. Dass der Tod als eine absolute Grenze gewusst wird, steigert die Einzigartigkeit sowohl der Gattung als auch des Individuums. Der Dignität des Todes korrespondiert die Dignität des Menschen. – Geradezu gegenläufig zur Erosion der Sterberituale steigt der Tod zu einem einsamen Singular auf, dem alle Menschen unbarmherzig ausgeliefert sind, dessen absolute Herrschaft jedoch dem menschlichen Leben ungeahnte Steigerungsmöglichkeiten eröffnet. Voraussetzung für diese Herrschaft ist nicht zuletzt die Annahme, dass die Toten endgültig tot sind und nicht mehr eingebettet in einen kosmischen Kreislauf, der die Lebenden zur Sorge um das Wohlergehen der Toten als solcher nötigt. Erst wenn die Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten keinen wirkmächtigen Horizont mehr abgibt, kann der Tod zu einer entscheidenden Bedingung für die Gemeinschaft der Lebenden werden, die jeden gleichermaßen auf ein durch den Tod bestimmtes Überleben verpflichtet: „Der Tod als universelle menschliche Bedingung existiert erst, seit es eine gesellschaftliche Diskriminierung der Toten gibt.“14 Nicht mehr die Frage nach dem Schicksal der Toten steht von nun an im Mittelpunkt der Todesproblematik, sondern was es für die Lebenden bedeuten kann, dass ihr Lebenslauf durch die absolute Grenze des Todes bestimmt wird. Selbst wenn man also zugesteht, dass die Verdrängungsthese im Kern zutreffend ist, so lässt sich gerade aufgrund der Diagnose der Verdrängung eine damit einhergehende obsessive Todesbeziehung rekonstruieren, insofern erst unter dem Zwang zur Verdrängung zugleich auch der Tod als Tod im Singular offengelegt wird. Im Gegensatz zur Verdrängungsthese kann diese Perspektive, die sich von den impliziten Thanatologien moderner politischer Philosophien leiten lässt, auch die enormen Mobilisierungen des Todes für die Steigerung des Lebens in den Blick nehmen, die vor allem im 20. Jahrhundert in den Massenvernichtungen bis hin zur Möglichkeit einer atomaren Auslöschung der gesamten Menschheit ihren immer noch kaum vorstellbaren Ausdruck gefunden haben. Gerade weil mit der Verdrängung des Todes ein ungeheures Reservoir für die Lebenssteigerung zur Verfügung gestellt wird, kann die Mobilisierung des Todes derart übersteigerte Ausmaße annehmen: „Kriege werden nicht mehr im Na13

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Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft/Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, Französisch-Deutsch, übers. u. hg. v. Kurt Weigand, Hamburg 1995, S. 135. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, übers. v. Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke u. Ronald Voullié, München 1991, S. 227.

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men eines Souveräns geführt, der zu verteidigen ist, sondern im Namen der Existenz aller. Man stellt ganze Völker auf, damit sie sich im Namen der Notwendigkeit ihres Lebens gegenseitig umbringen. Die Massaker sind vital geworden.“15 Mit der Einführung des Volksheers, gesteigert bis hin zum Volkssturm, wird Krieg „im Namen der Existenz aller“ geführt. Die Fähigkeit zu töten ist nicht mehr nur etwas, das einen besonderen Stand angeht, sondern gehört unter bestimmten Umständen zur politischen Aufgabe eines jeden erwachsenen und männlichen Staatsbürgers. Ganze Völker sollen nicht nur bekämpft und besiegt sondern ausgelöscht werden, um die Lebenskraft eines bestimmten Volkes zu erhöhen. Sowohl die Potenz zu töten als auch das Risiko, getötet zu werden, sollen dabei die Gemeinschaft, der man angehöhrt, intensiv erfahrbar machen. – Diese Beziehung von Tod und Gemeinschaft bildet bei G. W. F. Hegel insofern den Hintergrund seiner Ansicht über die Sittlichkeit des Krieges, als der kollektiven Todeserfahrung zugetraut wird, der modernen Individualisierung und dem damit einhergehenden Zerfall des Gemeinwesens die Erinnerung an die „Kraft des Ganzen“ entgegensetzen zu können: „Um sie [die sich isolierenden Systeme] nicht in dieses Isolieren einwurzeln und festwerden, hierdurch das Ganze auseinanderfallen und den Geist verfliegen zu lassen, hat die Regierung sie in ihrem Innern von Zeit zu Zeit durch die Kriege zu erschüttern, ihre sich zurechtgemachte Ordnung und Recht der Selbständigkeit dadurch zu verletzen und verwirren, den Individuen aber, die sich darin vertiefend vom Ganzen losreißen und dem unverletzbaren Fürsichsein und der Sicherheit der Person zustreben, in jener auferlegten Arbeit ihren Herrn, den Tod, zu fühlen zu geben.“16 Unter den Bedingungen moderner Ausdifferenzierung und der entsprechenden Fliehkräfte gesellschaftlicher Individualisierung erscheint die Todeserfahrung als eine letzte Bastion der Gemeinschaft, die den Einzelnen ihre Unselbständigkeit zu erfahren gibt und das Bewusstsein dafür schafft, dass sie ihr Leben dem Ganzen zu verdanken haben. Die Radikalität, mit der dabei die Gemeinschaft in letzter Hinsicht auf den Tod bezogen wird, verweist umgekehrt darauf, wie sehr der Tod im Sinne einer absoluten Grenze als Ausgangspunkt eines Lebens verstanden wird, das sich unter dem Druck der Todesdrohung zu verdichten und zu entfalten vermag. Auch wenn der Tod zunächst als ein Übel erscheinen mag, das es an den Rand der Wahrnehmung zu verdrängen gilt, so zeigt sich im weiteren Wechselspiel von Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten die ungeheure Produktivität, die von dieser Konstellation ausgeht. – In diesem Sinne ist auch der Titel zu verstehen, unter dem die folgenden Studien zur politischen Philosophie zusammengefasst sind: Der Tod der Gemeinschaft. Die Auflösung der Gemeinschaft und die kollektive Todeserfahrung als letzte Hinsicht dieser Gemeinschaft sind dabei unmittelbar aufeinander bezogen. Mit dem Tod der Gemeinschaft im Sinne der Frage, wie die Erfahrung des Todes und die Stiftung von Gemeinschaft miteinander verbunden werden, geht es zugleich auch um ein Verschwinden der Gemeinschaft, das vermeintlich allein durch den Horizont einer kollektiven Todesdrohung aufgehalten werden kann. Denn bis in die Gegenwart hinein, die vor allem angesichts ökologischer Katastrophen zunehmend auf eine weltweite 15 16

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt/M. 1983, S. 163. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke in 20 Bd. auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, Bd. 3, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, S. 335.

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Verständigung angewiesen zu sein scheint, wird dabei bezüglich der Ausbildung eines „menschheitlichen Wir-Gefühls“ besonders drastischen Szenarien realer oder imaginärer Todesdrohungen immer noch die wirkungsvollste Einigungskraft unterstellt: „[...] die Abschaffung von Kriegen zwischen Teilgruppen der Menschheit und die Entwicklung eines menschheitlichen Wir-Gefühls wären sicherlich einfacher, wenn die Menschheit durch Außenstehende mit Vernichtung, mit der Auslöschung ihrer Existenz bedroht wäre.“17 Ganz im Sinne der neuzeitlichen Logik, die das Leben im Horizont eines absoluten Todes in erster Linie auf ein Überleben verpflichtet, werden die günstigsten Bedingungen für eine weltweite Gemeinschaft in einer weltweiten Bedrohung gesehen. Während mit der Erosion der Sterberituale zugleich die Erosion der Gemeinschaft einhergeht, die diese Sterberituale getragen hat, scheint im gleichen Moment mit dem Zerfall gemeinschaftlicher Bindungen der Tod zum geheimen Zentrum der Gemeinschaft aufzusteigen. Die Absolutheit des Todes erscheint nicht nur als Bedrohung der menschlichen Ordnung, sondern zugleich auch als das, was sie aufrecht erhält. In seinem Buch Der Tod als Thema der Kulturtheorie (2000) hat Jan Assmann die kulturelle Verwaltung der Grenze von Leben und Tod als Urproblem der menschlichen Existenz bezeichnet: „Alle Kulturen lösen dieses Urproblem der menschlichen Existenz auf ihre Weise, und es gibt gewiß keine Kultur, die sich nicht als Lösung dieses Problems verstehen und auf diese Kernfrage hin analysieren ließe. Die jeweiligen Lösungen aber sind grundverschieden. Hier gibt es keine Universalien.“18 In diesem Sinne versteht Assmann seine Analyse von altägyptischen Todesbildern und Todesriten als Beitrag zu einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, die nicht anders als kulturkomparatistisch verfahren kann. Für die altägyptische Kultur stellt die Todeserfahrung nach Assmann das „heiligste Weltgeheimnis“ dar, um das sich mythische Erzählungen vom Einbruch des Todes in die menschliche Ordnung und deren Wiederherstellung anlagern: „Der Tod ist der Inbegriff des Heiligen, die Urform des Göttlichen. Er ist Ursprung und Ziel alles Lebendigen, Alpha et Omega, ultimate reality.“19 In der altägyptischen Thanatologie wird der Tote als Toter in die „Ordnung des Seins und des Lebens“ integriert, indem er als Mitglied der Gesellschaft symbolisch aufbewahrt wird, sodass das Unrecht des Todes wieder geheilt werden kann: „Die Toten fallen aus ihr [der Gesellschaft] heraus, aber sie lassen sich reintegrieren, indem sie durch die Totenriten in den Status eines verklärten Geistes überführt werden.“20 Besonders plastisch ist diese Thanatologie, bei der die kulturelle Kontinuität durch die Wiederversammlung eines „soziopolitischen Körperbildes“ gewährleistet wird, in der gewaltigen Architektur der Pyramiden geworden, deren eindrucksvolle Macht der Memorierung bis heute ein Faszinosum darstellt und die kulturtheoretische Frage nach dem Grabmal strukturiert.

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Norbert Elias: Wandlungen der Wir-Ich-Balance, in: ders.: Die Gesellschaft der Individuen, hg. v. Michael Schröter, Frankfurt/M. 2003, S. 209–315 (hier: S. 305). Jan Assmann: Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten, Frankfurt/M. 2000, S. 16. Ebd. S. 47. Ebd. S. 22.

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Mit dieser Verwaltung der Grenze von Leben und Tod im Rhythmus einer durch die Todeserfahrung ausgelösten Krise und deren Bewältigung durch die Wiederherstellung der menschlichen Ordnung entlang einer soziopolitischen Erinnerungskultur steht die altägyptische Thanatologie in deutlichem Gegensatz zur jüdisch-christlichen Tradition, bei der die Macht eines allmächtigen Gottes darin gesehen wird, dass dieser in der Lage ist, die Todesdrohung aufzuheben. Weil die Sterblichkeit des Menschen weder als von Natur aus gegeben angesehen wird, noch im Rahmen einer ewigen Ordnung des Kosmos verstanden wird, sondern sich das Leben der Menschen allein Gott zu verdanken hat, der es ihnen geben und auch wieder nehmen kann, verweist die Gewalttätigkeit des Todes in letzter Konsequenz immer auf die Macht des Schöpfergottes. Für den Apostel Paulus, der in der messianischen Tradition steht, bei der die geschaffene Welt insgesamt als vergänglich erscheint,21 stellt der Tod daher nur eine vorübergehende Drohung dar, die mit dem heilsgeschichtlichen Ende der Welt ihre Macht einbüßen wird: „Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod.“ (1 Kor 15, 26) Besonders anschaulich wird der Unterschied zwischen der christlichen und der altägyptischen Auffassung des Grabmals im leeren Grab Christi, in dem die Lehre von der Auferstehung am Ende der Zeiten auf verdichtete Weise symbolisiert ist.22 Denn in dieser sichtbaren Leere ist das Schicksal der Welt sowohl im Hinblick auf die diesseitige Existenz aller Menschen als auch auf ihre zukünftige im Jenseits vorgezeichnet, insofern das leere Grab die Annahme einer jenseitigen Existenz nahelegen soll: „Wenn Tote nicht auferweckt werden, dann lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot.“ (1 Kor 15, 32) Mit der christlichen Auffassung eines allmächtigen Schöpfergottes, der die absolute Macht besitzt, prinzipiell alle Menschen einem ewigen Leben zuzuführen und damit von der Todesdrohung zu erlösen, geht daher der Versuch einher, zwei fundamental verschiedene Ordnungen zu unterscheiden, nämliche eine irdische und eine himmlische, denen die Existenz des Menschen auf je unterschiedliche Weise unterstellt ist, was später in der christlichen Theologie als ZweiReiche-Lehre firmieren wird: „Der Erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde; der Zweite Mensch stammt vom Himmel.“ (1 Kor 15, 47) Mit der Passion und dem Opfertod Christi ist das himmlische Reich allen Menschen offenbart worden und dessen eschatologische Herrschaft antizipiert. Jeder weitere Märtyrertod, der eine imitatio Christi darstellt, bezeugt deshalb, dass das irdische Reich zugunsten des kommenden himmlischen Reiches vergänglich sein muss. – Eine vergleichbare Figur der Zeugenschaft findet sich bereits in Platons Dialog Phaidon, der vom Tod des Sokrates berichtet und im Rahmen dieser tragischen Erzählung eine Reihe von philosophischen Argumentationen entfaltet, die alle die Unsterblichkeit der Seele beweisen sollen, theoretisch aber unbefriedigend bleiben und ihre Beweiskraft letztlich aus der Haltung des Sokrates angesichts des drohenden Todes beziehen: „Also um deswillen muß ein Mann guten Mutes sein seiner Seele wegen, der im Leben die andern Lüste, die es mit dem Leibe zu tun 21

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Vgl. Jacob Taubes: Die politische Theologie des Paulus. Vorträge, gehalten an der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, 23.–27. Februar 1987, hg. v. Aleida u. Jan Assmann in Verbindung mit Horst Folkers, Wolf-Daniel Hartwich u. Christian Schulte, München 2003, S. 14ff. Vgl. dazu Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an: Zur Metapsychologie des Bildes, übers. v. Markus Sedlaczek, München 1999, S. 19ff.

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haben, und dessen Schmuck und Pflege hat fahren gelassen, als etwas ihn selbst nicht Angehendes und wodurch er nur Übel ärger zu machen befürchtete, jener Lust hingegen an der Forschung nachgestrebt und seine Seele geschmückt hat nicht mit fremdem, sondern mit dem ihr eigentümlichen Schmuck, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Edelmut und Wahrheit, so seine Fahrt nach der Unterwelt erwartend, um sie anzutreten, sobald das Schicksal rufen wird.“ (114 d–115 a) Weil die körperliche Existenz eine vollständige Erkenntnis der ewigen Ordnung des Kosmos unmöglich macht, kann diese nur sowohl vor als auch nach dem Tod und damit jenseits der körperlichen Existenz gegeben sein.23 Der zum Tode verurteilte Sokrates entzieht sich seiner Strafe nicht, sondern bezeugt durch die freiwillige Unterwerfung unter eine womöglich ungerechte Strafe gerade die Wahrheit der ewigen Ordnung des Kosmos, die durch seinen Tod erst ihre, über die argumentative Dimension hinausgehende, rhetorische Kraft der Überzeugung erhält. Die inszenierte Entkoppelung der Meinung des Sokrates von seiner existentiellen Situation wird so zum stärksten Argument für die Wahrheit dieser Meinung, insofern diese selbst noch angesichts der Todesdrohung unverändert bleibt. Was alle diese Thanatologien trotz ihrer deutlichen Unterschiede gemeinsam haben, ist die Vorstellung einer überzeitlichen Ordnung, die angesichts der Todeserfahrung in Frage gestellt ist und daher verteidigt oder wiederhergestellt werden muss. Im Unterschied dazu rückt in der neuzeitlichen Anthropologie das malum metaphysicum zu einem zentralen Ausgangspunkt menschlicher Ordnungsstiftung auf, dessen existentielle Dimension ebenso die Grundlage der Wahrheit menschlicher Meinungsbildung darstellt. Voraussetzung dafür ist ein Abbau der religiösen Einhegung des Todes, der die Rückhaltlosigkeit dieser existentiellen Dimension allererst zum Vorschein bringen kann. So hat etwa Baruch de Spinoza in seinem Theologisch-Politischen Traktat (1670) anhand einer Bibelkritik vor allem des Alten Testaments das kulturelle Modell des Stammbaums und der Nachkommenschaft ins Zentrum eines symbolischen Weiterlebens gestellt, das in erster Linie an der körperlichen Existenz des Menschen orientiert ist und daher ohne Jenseitsfiktionen auskommt. Dass sich diese Vorstellung eines Weiterlebens in den Nachkommen gegen die christliche Vorstellung eines ewigen Lebens richtet, wird besonders deutlich, wenn Spinoza den Ausdruck „die Herrlichkeit Gottes wird dich zu sich nehmen“ als einen „Hebraismus“ versteht, der „die Zeit des Todes“ bezeichne und letztlich bedeute: „zu seinem Volk versammelt werden“.24 Aus dieser Sicht reproduziert sich die Gemeinschaft aufgrund einer Sterblichkeit, die nicht mehr bloß als Mangel der Endlichkeit erscheint und durch Jenseitsfiktionen kompensiert werden muss, sondern die es möglich macht, die Kräfte des Vitalen in ihrer vollumfänglichen Potenz freizusetzen: „Die Fische z. B. sind von Natur bestimmt zu schwimmen, die großen die kleinen zu fressen, und darum bemächtigen sich die Fische mit dem höchsten natürlichen Recht des Wassers und fressen die großen die kleineren. Denn es ist gewiß, daß die Natur an sich betrachtet das höchste Recht zu allem hat, was sie vermag, d. h. daß sich das

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Zu dieser Problematik vgl. Richard M. Hare: Platon. Eine Einführung, übers. v. Christiana Goldmann, Stuttgart 1990, S. 93–102. Baruch de Spinoza: Theologisch-Politischer Traktat, übers. v. Carl Gebhardt, hg. v. Günter Gawlick, Hamburg 1984, S. 81, Anmerkung.

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Recht der Natur so weit erstreckt, wie sich ihre Macht erstreckt.“25 Dem Abbau religiöser Einhegungen des Todes korrespondiert die Freilegung eines Naturzustandes, dessen Unbarmherzigkeit die Menschen zwar rückhaltlos ausgeliefert sind, der sie aber aus eben diesem Grund dazu zwingt, ihre eigenen Machtpotentiale auszuschöpfen. – Diese Wechselseitigkeit einer zugleich gesteigerten Erfahrung von Macht und Ohnmacht kommt am radikalsten in der Konstruktion des Naturzustandes zum Ausdruck, die Thomas Hobbes seiner politischen Philosophie zugrunde gelegt hat. Einer der zentralen Sätze aus seinem Hauptwerk Leviathan (1651) lautet: „Außerhalb von Staatswesen herrscht immer ein Krieg eines jeden gegen jeden.“26 Es sind nicht nur Parteien, Familien oder Stämme, die miteinander in einem unausweichlichen Konflikt liegen, wenn die staatliche Ordnung nicht in der Lage ist, dies zu verhindern. Sondern die phantasmatische Vorstellung einer absoluten Auflösung des Gemeinwesens führt einen Naturzustand vor Augen, in dem von jedem für jeden anderen eine tödliche Bedrohung ausgeht. In diesem Zustand bestehen nicht einmal mehr die minimalsten Bindungen, die in der traditionellen politischen Philosophie der Familie zugeschrieben werden.27 Die massive Präsenz des Todes, die diesen Zustand absoluter Auflösung kennzeichnet, ist dabei nicht bloß der analytischen Methode von Resolution und Komposition geschuldet, der sich Hobbes zur Explikation der Bedingungen seiner Vertragstheorie bedient. Denn um das Individuum als das entscheidende Element der Gesellschaft auffassen zu können, das nicht weiter zergliedert werden kann, muss dieses nicht nur von allen Bindungen mit den Lebenden getrennt werden, sondern darf ebenfalls auch keine wirkmächtige Verbindung mehr zu den Toten unterhalten. Nicht nur aus diesem Grund findet sich bei Hobbes eine umfassende Kritik der überlieferten Verehrungspraxis der Toten, die sowohl die heidnische als auch die christliche Tradition einbezieht und die in der berühmten Aussage kulminiert, dass die römische Kirche mit ihren Herrschaftsansprüche auf einem Glauben beruht, der mit den „englischen Altweibermärchen von Gespenstern und Geistern“ verglichen werden muss: „Und wenn jemand den Ursprung dieses großen kirchlichen Herrschaftsbereichs betrachtet, wird er leicht bemerken, daß das Papsttum nichts anderes ist als das Gespenst des toten römischen Reiches, das gekrönt auf dessen Grab sitzt. Denn so erhob sich das Papsttum plötzlich aus den Trümmern jener heidnischen Macht.“28 Um die Möglichkeit derartiger Wiedergänger unterbinden zu können, müssen die Lebenden ausschließlich auf eine Gegenwart verwiesen sein, die durch eine absolute Grenze gerahmt wird und in diesem Sinne für alle gleich ist. Auf gleiche Weise von der Todesdrohung durchdrungen zu sein und die Gewissheit des Todes verinnerlicht zu haben, erscheint daher als maßgebliche Voraussetzung einer zu erwartenden Verlässlichkeit, mit der die Menschen ihre Vernunft gebrauchen und sich ihre Meinungen bilden. In der Konstruktion dieses jederzeit gegebenen Naturzustandes nimmt die Todesdrohung die Stelle solcher Ursprungsphantasien und Schöpfungsberichte ein, mit denen das Sosein der sozialen 25 26 27 28

Ebd. S. 232. Thomas Hobbes: Leviathan, oder, Die Materie, Form und Macht eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, übers. v. Jutta Schlösser, hg. v. Hermann Klenner, Hamburg 1996, S. 104. Vgl. dazu Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/M./New York 1993. Hobbes, Leviathan (Anm. 26), S. 586.

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und politischen Existenz erklärt wird.29 Insofern jedoch im Unterscheid zu traditionellen Erklärungen des Ursprungs in diesem Fall jeder die gleiche Nähe zum Ursprung hat, kann dem schrecklichen Zustand, in dem jeder jeden mit dem Tod bedroht, zugleich eine positive Seite abgewonnen werden, die das malum in ein bonum verwandelt: „Deshalb sind alle Menschen von Natur einander gleich.“30 Ausgehend von dieser Konstruktion des Naturzustandes wird im ersten Teil der folgenden Studien am Leitfaden impliziter Thanatologien politischer Philosophien der historische Umbau der Perspektive einer politischen Theologie zur Perspektive einer politischen Ökonomie nachgezeichnet. Hierbei steht vor allem das Wechselspiel von Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten im Zentrum der Untersuchung, das nun die Bedingung für die Dauerhaftigkeit der sozialen und politischen Ordnung darstellt, die bis dahin durch einen Garanten der Ewigkeit gewährleistet wurde. Die ungeheure Produktivität, die mit dieser Konstellation einhergeht, verdankt sich dabei dem Umstand, dass der Ausgangspunkt der menschlichen Ordnung nicht als solcher positiv gegeben ist, sondern gerade aufgrund seiner Negativität wirksam wird. Wie jeder Einzelne im phantasmatischen Zustand einer absoluten Auflösung des Gemeinwesens von der Todesdrohung durchdrungen und deshalb dazu gezwungen ist, seinen Lebenswillen zu formieren, so entfaltet auch das aus diesem Zustand hervorgegangene Kollektiv seine ökonomische Produktivität entlang einer Selbstbehauptung, in deren Zwanghaftigkeit sich die Negativität des Ausgangspunkts bewahrt, die sich allerdings politisch vor allem in der Vorstellung ausdrückt, dass die Gemeinschaft in letzter Hinsicht durch die Todesbeziehung zusammengehalten wird. Um diese Konstellation beschreiben zu können, wird auf das theoretische Instrumentarium der Psychoanalyse zurückgegriffen, für deren Theoriebildung der Umstand einer unaufhebbaren Spannung zwischen der psychischen Existenz einerseits und der körperlichen Existenz andererseits zentral ist. So geht Jacques Lacan im Anschluss an Sigmund Freud davon aus, dass die Körperlichkeit als das „Reale“ der Psyche sich dieser prinzipiell entzieht und nur im Modus einer Abschirmung zu Bewusstsein kommen kann. Was als Realität wahrgenommen wird, ist stets auch das ambivalente Ergebnis einer „primären Abwehr“, wie Lacan im Hinblick auf die Psychoanalyse bei Freud schreibt: „Die Realität ist prekär. Und eben in dem Maße, wie der Zugang zur Realität prekär ist, sind die Gebote, die seinen Weg bahnen, tyrannisch. [...] Noch das Fortschreiten desselben vollzieht sich zunächst nur auf dem Wege einer primären Abwehr. Die tiefe Ambiguität der vom Menschen geforderten Annäherung ans Reale schreibt sich zunächst in Termen der Abwehr ein. Abwehr, die da ist, noch bevor sich die Bedingungen der eigentlichen Verdrängung formulieren.“31 Im Unterschied zu dem, was Lacan als das Reale versteht, 29 30 31

Zu dieser Problematik vgl. Philip Manow: Politische Ursprungsphantasien. Der Leviathan und sein Erbe, Konstanz 2011, S. 11ff. Thomas Hobbes: Vom Menschen/Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, übers. v. Max Frischeisen-Köhler, hg. v. Günter Gawlick, Hamburg 1994, S. 80. Jacques Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch VII (1959– 60), übers. v. Norbert Haas, hg. v. Norbert Haas u. Hans-Joachim Metzger, Weinheim/Berlin 1996, S. 41.

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ist die wahrgenommene Realität immer schon sowohl durch die narzisstische Perspektive eines Selbst geprägt, als auch durch die Gesamtheit der Regeln und Normen bestimmt, die in der Gemeinschaft herrschen, der dieses Selbst angehört. Diese beiden Modi der Abschirmung des Realen hat Lacan im kritischen Anschluss an die etablierte Unterscheidung der psychischen Instanzen Ich und Über-Ich als das „Imaginäre“ und das „Symbolische“ bezeichnet. Im Modus des Imaginären erscheint sich das Selbst als solitäres Zentrum und wird so von der Dezentrierung abgeschirmt, die vom Realen ausgeht. Im Modus des Symbolischen sind es die Regeln und Normen, die das Selbst davon abhalten, dem Realen vollständig ausgeliefert zu sein. Beide Modi sind nach Lacan stets gegeben, können aber auf unterschiedliche Weise die Wahrnehmung von Realität dominieren. Das Reale selbst kann sich dagegen nur in einer „Erfahrung der Zerrissenheit“ zeigen, die sich nicht ohne Grund häufig in schockartigen Wahrnehmungen der körperlichen Existenz manifestiert, wie Lacan ebenfalls im Hinblick auf Freud festhält: „Es gibt da eine schreckliche Entdeckung, die des Fleisches, das man niemals sieht, den Grund der Dinge, die Kehrseite des Gesichts, des Antlitzes, die Sekreta par excellence, das Fleisch, aus dem alles hervorgeht, aus der tiefsten Tiefe selbst des Geheimnisses, das Fleisch, insofern es leidend ist, insofern es unförmig ist, insofern seine Form durch sich selbst etwas ist, das Angst hervorruft.“32 Die Dezentrierung des Selbst, die mit einer solchen Wahrnehmung und einer dementsprechend gesteigerten Angst einhergeht, versteht Lacan als ein blitzartiges Bewusstwerden der Kluft zwischen der psychischen und der körperlichen Existenz: „Du bist dies, was am weitesten entfernt ist von dir, dies, welches das Unförmigste ist.“33 Im Normalfall eingedämmt durch das Imaginäre und das Symbolische, kann das Reale als solches nur in einem zeitlich begrenzten Moment auftauchen, der einen Riss in der Realität markiert. Es liegt nahe, diese Erfahrung der Zerrissenheit mit dem Naturzustand in Verbindung zu bringen, der durch die absolute Auflösung des Gemeinwesens gekennzeichnet ist und in dem eine maßlose Todesangst herrscht. Denn dieser Zustand, wie Hobbes ihn konstruiert hat, kann ebenfalls kein Zustand von Dauer sein, sondern soll schließlich der Ausgangspunkt für die Gründung des Gemeinwesens in einem Vertrag sein, den jeder aufgrund seiner Todesangst mit jedem anderen schließt. Weil es sich bei diesem Zustand jedoch um einen von Natur aus gegebenen Zustand handeln soll, kann das Resultat dieses Vertrags nicht darin bestehen, den Naturzustand vollständig verlassen zu haben. Auch im status civilis bleibt der status naturalis jederzeit latent anwesend und sucht das Gemeinwesen heim. Der Horror des Naturzustandes kann bei jeder sich bietenden Gelegenheit wieder blitzartig auftauchen. Zwischen dem status naturalis und dem status civilis findet kein Prozess eines langsamen Übergangs statt, etwa im Sinne einer Kultivierung, sondern der Naturzustand ist eine Kluft, die sich jederzeit öffnen kann.

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Jacques Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch II (1954–55), übers. v. Hans-Joachim Metzger, hg. v. Norbert Haas, Weinheim/Berlin 1991, S. 199f. Ebd. S. 200.

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Auch Giambattista Vico, der als Begründer der modernen Kulturtheorie gilt, verfährt in diesem Sinne antithetisch, wenn er die Kultur nicht aus der Natur ableitet, sondern dem status civilis einen „tierischen Zustand“ jenseits jeglicher Kultur entgegenhält, dessen Vorstellung erschreckend sein soll: „Um schließlich zu begreifen, welch ein großes Prinzip der Humanität die Bestattungen sind, so stelle man sich einen tierischen Zustand vor, in dem die menschlichen Leichname unbestattet auf der Erde liegen blieben, um eine Speise der Raben und Hunde zu werden; [...].“34 – Dass der status naturalis jederzeit die abzuwehrende Grundlage des status civilis bildet, lässt sich jedoch nicht nur mit dem in Verbindung bringen, was Lacan das Reale nennt. Denn insofern die Todesdrohung, die in diesem Zustand herrscht, zugleich den Gebrauch der Vernunft zwingend in Gang setzt, rückt der Tod auf die Position eines „großen Anderen“ vor, der nach Lacan die symbolische Ordnung ins Leben ruft und deren dauerhaftes Bestehen garantiert. Die Position des „großen Anderen“ lässt sich dabei sowohl entwicklungspsychologisch als auch kulturtheoretisch verstehen: Für Kinder sind es in der Regel die Eltern, die diese Position einnehmen; in einer monotheistischen Kultur ist es Gott. Der „große Andere“ repräsentiert in beiden Fällen die Instanz, die sowohl den Ursprung als auch die Autorität der Regeln und Normen verkörpert, die in einer Gemeinschaft herrschen. Wenn das Gemeinwesen, wie bei Hobbes, durch eine Todesdrohung ins Leben gerufen wird, die jeden auf die gleiche Weise betrifft, dann wird das Reale des Naturzustandes dadurch eingedämmt, dass der Tod im Singular zur entscheidenden Größe für die Begründung der symbolischen Ordnung wird und in diesem Sinne für die Gemeinschaft die Position des „großen Anderen“ einnimmt. Das unvermeidbare Paradox, das mit dieser Inthronisierung des Todes einhergeht, wird vor allem dadurch deutlich, dass Hegel den Tod als „absoluten Herrn“ bezeichnet.35 Denn im Unterschied zu anderen Herrschaftsverhältnissen kann man diesem Herrn nicht gehorchen. Weil von diesem „großen Anderen“ keine Botschaft zu vernehmen ist, außer dessen Negativität, kann man es diesem Herrn nicht recht machen. Man kann sich ihm nicht unterordnen, seine Anerkennung verdienen und zu seiner Rechten sitzen. Und trotzdem soll dieser Tod im Singular der „absolute Herr“ sein, der auch dann noch über das Leben gebietet, wenn sich das Gemeinwesen als solches im status civilis durch die Verdrängung der massiven Präsenz des Todes im status naturalis konstituiert hat. Ausgehend von dieser Problematik und den politischen und ökonomischen Dynamiken, die diese im Kern paradoxe Herrschaftsbeziehung auslöst, wird im zweiten Teil der folgenden Studien die Umformung der Perspektive einer politischen Ökonomie zur Perspektive einer politischen Ökologie rekonstruiert. Hierbei steht vor allem die Formierung eines Lebenswillens im Vordergrund, der nicht mehr bereit ist, die Verinnerlichung der Todesdrohung als letzten Horizont seiner Selbstbehauptung anzuerkennen. An die Stelle des komplexen Wechselspiels von Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten, mit dem der Tod als „absoluter Herr“ sowohl offengelegt als auch verhüllt wird, tritt dabei ein Lebenswille, der sich nicht mehr in der Abwendung von der Todesdrohung 34 35

Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. u. hg. v. Vittorio Hösle u. Christoph Jermann, Hamburg 1990, 337, S. 146. Vgl. dazu die Problematisierung bei Benedetto Croce: Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie, übers. v. Karl Büchler, Heidelberg 1909, S. 64–81.

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seiner Zwanghaftigkeit versichert, sondern im Sterben anderer seine eigene Lebenskraft potenziert. Es ist nicht mehr der eigene Tod, auf den man bezogen ist und von dem man sich zugleich abwenden muss, sondern die Tatsache, dass andere sterben, bezeugt die eigene Lebenskraft. Unter den Bedingungen einer für alle gleichen Todesdrohung im Inneren sowohl jedes Einzelnen als auch der Gemeinschaft lokalisiert, wird der Tod nun zu den äußeren „Widerständen des Lebens“ gezählt, die zur Selektion von mehr oder weniger intensiven Lebenswillen antreiben, wie es etwa Oswald Spengler programmatisch formuliert hat: „Aber zu einer starken Rasse gehört nicht nur eine unerschöpfliche Geburtenzahl, sondern auch eine harte Auslese durch die Widerstände des Lebens, Unglück, Krankheit und Krieg. Die Medizin des 19. Jahrhunderts, ein echtes Produkt des Rationalismus, ist von dieser Seite betrachtet ebenfalls eine Alterserscheinung. Sie verlängert jedes Leben, ob es lebenswert ist oder nicht. Sie verlängert sogar noch den Tod.“36 Der Tod erscheint nicht mehr in erster Linie als absolute Grenze des Lebens, die es so weit als möglich hinauszuschieben gilt, sondern als eine Herausforderung des Lebens, die weder gemildert noch verdrängt werden darf, sondern zu den zentralen Quellen einer gesunden Lebenskraft gehört. Zur Voraussetzung dieser Binnendifferenzierung, bei der Leben gegen Leben steht, lebenswert gegen lebensunwert, gehört nicht nur der Abbau von religiösen sondern auch von staatlichen Autoritäten, die sich als Verwaltung der Grenze von Leben und Tod etabliert haben. Damit an deren Stelle andere Größen treten können, wie etwa die der Rasse, muss die Verkörperung des „absoluten Herrn“ durch die staatlichen Autoritäten zugunsten eines Lebensstroms in den Hintergrund treten, für den nicht mehr der Tod im Singular der maßgebliche Ausgangspunkt darstellt, sondern der sich im Sterben der einen auf das Leben der anderen bezieht. Dazu trägt nicht zuletzt eine Reformulierung traditioneller Lehren des politischen Körpers aus lebenswissenschaftlicher Sicht bei, die sich gegen die Vertragskonstruktion als „typischer Ausdruck des modernen Denkens“ richtet und den Vorteil der „überlieferten Lehren“ darin sieht, dass „[...] sie die Gebilde des sozialen Lebens als organische zu begreifen versuchen; dem biologischen Wissen der Zeit gemäß kann das nur in unklarer Weise geschehen, und nur vermöge des Dualismus von Leib und Seele.“37 Mit dem Rückgriff auf traditionelle Lehren des politischen Körpers steht daher zugleich – „dem biologischen Wissen der Zeit gemäß“ – deren Modernisierung an, die das 20. Jahrhundert tiefgreifend prägen wird. – Sicherlich lassen sich auch andere Traditionsstränge finden, die den untersuchten widersprechen, zumal die folgenden Studien lediglich exemplarisch vorgehen können, um die Wirkmächtigkeit einer Problematik, nämlich die Beziehung von Tod und Gemeinschaft, für die moderne politische Philosophie herauszustellen. Dass sich diese Problematik bis in die Gegenwart auswirkt und heute vor allem im Paradigma individualisierter Lebenssteigerung auftritt, lässt sich an einer Aussage von Gary Stanley Becker ablesen, der zu den Urhebern der Theorie des Humankapitals gehört und für dessen Anspruch, alle Phänomene des menschlichen Verhaltens ökonomisch zu erklären, das malum metaphysicum einen besonderen Prüfstein 36 37

Oswald Spengler: Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1980, S. 206. Ferdinand Tönnies: Thomas Hobbes, der Mann und der Denker, Leipzig 1912, S. 216.

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darstellt: „Entsprechend dem ökonomischen Ansatz sind daher die meisten (wenn nicht alle!) Todesfälle bis zu einem gewissen Grade ‚Selbstmorde‘, in dem Sinne, daß man sie hätte hinausschieben können, wenn man mehr Ressourcen in die Lebensverlängerung investiert hätte.“38

38

Gary Stanley Becker: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, übers. v. Monika u. Viktor Vanberg, Tübingen 1993, S. 9.

Erster Teil: Politische Theologie/ Politische Ökonomie

II Die Institution des Imaginären (Hobbes)

Dass die politische Philosophie des Thomas Hobbes nicht „extrem genug gefaßt“ sein könnte, um auch auf den heutigen Leser noch eine starke Faszination auszuüben, wird sicher niemand behaupten wollen. Elias Canetti, der sich die kritische Frage gestellt hat, warum die Hobbessche Philosophie ihn derart fasziniere, dass er sich noch über den „falschesten Gedanken“ freue, „wenn er nur extrem genug gefaßt“ sei, beantwortet die eigene Irritation wenige Zeilen später mit einer Alleinstellung des Denkers, deren ausschlaggebendes Merkmal das Wissen um ein Geheimnis darstellt, das allen späteren Denkern verborgen geblieben ist und vielleicht auch verborgen bleiben musste: „Er ist der einzige Denker, den ich kenne, der die Macht, ihr Gewicht, ihre zentrale Stellung in allem menschlichen Gebaren nicht verhüllt; er verherrlicht sie aber auch nicht, er läßt sie einfach stehen.“1 Hobbes’ Einzigartigkeit besteht darin, ein Geheimnis aufgedeckt zu haben, das die „zentrale Stellung“ der Macht „in allem menschlichen Gebaren“ betrifft, und zwar derart, dass dieses Geheimnis auch nach dieser Aufdeckung seine dunkle Kraft nicht eingebüßt hat: er lässt sie einfach stehen. Bei Roberto Esposito kann man lesen: „Ein kurzer, aphoristischer Text Canettis führt mitten hinein ins geheime Herz des hobbes’schen Denkens, mehr als all die aberhundert Bücher, die seine unüberschaubare offizielle Bibliographie füllen [...].“2 Hobbes, das philosophische Herz der Finsternis, durchdringt das Geheimnis der Macht, ohne es zu verhüllen oder zu verherrlichen. Und doch hat das nicht zur Folge, dass dieses Geheimnis verschwindet oder sich auflöst: „Er weiß, was Angst ist; seine Rechnung enthüllt sie. Alle Späteren, die von Mechanik und Geometrie herkamen, sahen weg von der Angst; so mußte diese wieder dorthin zurückfließen, wo sie ungestört und ungenannt im Dunkel weiter wirkte.“3 Die Art und Weise, wie Hobbes das Geheimnis der Macht benannt und begriffen hat, muss folglich selbst etwas damit zu tun haben, dass dieses Geheimnis wieder geheim werden und im Dunkeln 1 2 3

Elias Canetti: Die Provinz des Menschen, München 1973, S. 150. Roberto Esposito: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, übers. v. Sabine Schulz u. Francesca Raimondi, Zürich/Berlin 2004, S. 37. Canetti: Die Provinz des Menschen (Anm. 1), S. 150.

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weiterwirken konnte. Die Ambivalenz der Faszination, die Canetti beschreibt und die sich durch einen großen Teil der Hobbes-Forschung zieht,4 lässt sich daher nur verstehen, wenn man die Form des Wissens, in der sich das Geheimnis der Macht bei Hobbes präsentiert, als einen zentralen Baustein seiner politischen Theorie begreift. Die Art und Weise, wie die Macht zum Sprechen gebracht wird und ihr Geheimnis preisgibt, von wo aus sie spricht und wo sie sich befindet, nachdem sie gesprochen hat, ist dem, was sie sagt oder gesagt hat, nicht äußerlich, gerade weil das Geheimnis der Macht, um wirksam sein zu können, jederzeit ins Dunkle und Ungestörte zurückfließen können muss. Das Geheimnis muss sich stets auf der Schwelle befinden; es muss, um als Geheimnis vernommen werden zu können, ein offenes Geheimnis sein. Wie Canetti gesagt hat: Hobbes verhüllt die Macht nicht; er verherrlicht sie aber auch nicht, er lässt sie einfach stehen. Was man als kalten, zynischen oder analytischen Blick auf die Macht begreifen könnte und auch begriffen hat, ist möglicherweise die entscheidende Form, in der das Wissen über die Macht und damit diese Macht selbst wirksam werden kann. Die ambivalente Faszination zwischen Bewunderung und Abscheu, an der sich der theoretische Diskurs über Hobbes immer wieder entzündet hat, lässt sich deshalb auf die Ambivalenz genau derjenigen Äußerungsakte beziehen, die Hobbes im Leviathan (1651) als die Erscheinungsweise des neuen Souveräns bürgerlicher Prägung bestimmt hat. Denn das Spezifische dieser Erscheinungsweise besteht darin, dass es sich bei aller Machtfülle des Hobbesschen Souveräns doch in erster Linie um eine Schutzmacht handelt, die zugleich ihr eigenes Verschwinden denkt und daher vor allem als Bedingung ihrer eigenen Abwesenheit auftritt.5 Die Macht zeigt sich nicht um ihrer selbst willen, sie tritt nicht in Erscheinung, um sich selbst zu verherrlichen. Ihre Todesdrohung spricht sie nur aus, um ein Leben zu ermöglichen, das nicht mehr von der Präsenz des Todes beherrscht ist. Sie droht mit dem Tod, um dem Tod zu drohen. – Der imaginäre Komplex, um den die Wendungen vom schwarzen oder kalten Denker Thomas Hobbes kreisen, bezieht sich auf eine Form des Wissens, die das Wissen, das alle insgeheim teilen, zugleich als nicht gewusst weiß, und das deshalb niemand teilen kann. Das Wissen, das alle teilen, muss selbst die Form eines Unwissens annehmen, damit es überhaupt teilbar wird: es muss ungewusst werden können.6 Denn der Kern der politischen Philosophie des Thomas Hobbes basiert auf einem Paradox, das sich um das Denken des Todes anordnet, der 4

5

6

Vgl. dazu die Zusammenfassung bei Bernard Willms: Tendenzen der gegenwärtigen Hobbes-Forschung, in: Udo Bermbach/Klaus Kodalle (Hg.): Furcht und Freiheit: Leviathan-Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes, Opladen 1982, S. 232–243. In diesem Sinne hat Leo Strauss in Hobbes den „Begründer des Liberalismus“ gesehen, der „in viel höherem Grad als etwa Bacon Urheber des Ideals der Zivilisation“ sei, insofern es ihm darum ging, „angesichts des Naturstandes den Naturstand“ zugunsten eines „status civilis“ zu überwinden. Vgl. Leo Strauss: Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: ders.: Hobbes’ politische Wissenschaft, Neuwied/Berlin 1965, S. 161–181 (hier: S. 168f). Jacques Rancière hat in dieser spezifischen Form des Wissens, dessen Struktur sich bis zur Psychoanalyse verfolgen lässt, den Grund für die Prominenz des Ästhetischen im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert gesehen: „Was ich soeben als ästhetische Revolution bezeichnet habe, ist eben dies: die Abschaffung eines geordneten Ganzen von Beziehungen zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren, Wissen und Handeln, Aktivität und Passivität.“ Jacques Rancière: Das ästhetisch Unbewußte, übers. v. Ronald Voullié, Zürich/Berlin 2006, S. 19.

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einerseits als absolut und unvermeidlich erscheint, dessen Vermeidbarkeit aber der neue Staat seine gesamte Existenz verdankt. Die grausame Notwendigkeit und unhintergehbare Absolutheit des Todes bilden bei Hobbes den Hintergrund der staatsbürgerlichen Gemeinschaft, deren gemeinschaftliches Leben jedoch durch die Abwesenheit des Todes bestimmt ist. Hobbes führt die Kontingenz und den Einbruch des Todes weder einer tragisch-heroischen noch einer religiösen Lösung zu. Es gibt nichts über den Tod hinaus über diesen Tod zu sagen. Der Tod markiert eine absolute Grenze, die nicht überschreitbar ist und auf die das gesamte Leben bezogen bleibt. Und doch lässt sich das Leben unter dem garantierten Schutz des neuen Staates so leben, als wäre es nicht auf den Tod bezogen, als wäre der Tod etwas, das jenseits des Lebens stattfinden würde, als ließe sich eine souveräne Linie ziehen zwischen der Sphäre des Todes und der Sphäre des Lebens, die beide bis auf Weiteres voneinander trennt. Der im Souverän verkörperte Tod beschenkt die Untertanen mit einem Leben, das sich ganz der Vermeidung des Todes widmen und im Nichtwissen des Todes auf sich selbst beziehen kann. Die Lösung, der Hobbes das Paradox eines unvermeidlichen-vermeidbaren Todes zuführt, ist eine imaginäre Lösung,7 die sich sowohl von einer tragisch-heroischen als auch von einer christlich-religiösen Lösung unterscheidet. Im Folgenden soll zu zeigen versucht werden, dass die Souveränität neuen Typs, die Hobbes von den Herkunftslinien einer Königswürde ablöst und als eine ursprungslose Herrschaftsform im Sinne eines Aktes der Selbstsetzung konzipiert, sich auf dieser imaginären Linie zwischen der Sphäre des Todes und der des Lebens konstituiert.

1.

Die Urszene der Selbstreferenz

Leo Strauss hat Hobbes den „Vater der modernen Politik“ genannt, weil er, „ohne irgendwelche zweideutigen Anleihen bei einem natürlichen oder göttlichen Gesetz“ zu machen, das Naturrecht als Grundlage der Politik bestimmt habe.8 Während jede politische Ordnung, die sich von einem natürlichen oder göttlichen Gesetz ableitet, immer durch die Nähe der Hüter dieser Ordnung zum Maß des Gesetzes geprägt und insofern hierarchisch ist, als die Nähe zum Ursprung die Struktur der Souveränität vorgibt, ergibt sich nach Strauss in einer auf dem Recht gegründeten Gemeinschaft das Problem der Souveränität aus einer entgegengesetzten Ausgangslage: „Weil also die Vernunft wesentlich ohnmächtig ist, darum genügt die Auskunft nicht, daß der Ursprung und Sitz der Herrschaft die Vernunft sei; darum wird es von Grund auf fraglich, welche von den untereinander gleichen Menschen über die anderen herrschen können und dürfen, und unter welchen Bedingungen und innerhalb welcher Grenzen sie einen Anspruch auf Herrschaft haben; darum kommt es zum Problem der Souveränität. Weil alle Menschen 7

8

Zur Begriffsgeschichte des Imaginären vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M. 1991. Im Folgenden wird der Begriff im Anschluss an Cornelius Castoriadis verwendet, der das Imaginäre nicht als eine Abbildrelation im Sinne Platons, sondern als eine „indeterminierte Schöpfung“ versteht, die Abbildungsverhältnisse erst zu instituieren vermag. Vgl. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, übers. v. Host Brühmann, Frankfurt/M. 1990, S. 12. Strauss: Hobbes’ politische Wissenschaft (Anm. 5), S. 150.

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gleich ‚vernünftig‘ sind, darum muß willkürlich, als künstlicher Ersatz für die fehlende natürliche Vernunft-Überlegenheit eines oder mehrerer die Vernunft eines oder mehrerer beliebigen Individuen zur maßgebenden Vernunft gemacht werden [...].“9 Die Willkür und die Beliebigkeit, die mit der Umstellung vom Maß des Gesetzes auf das maßgebliche Recht in die moderne politische Philosophie Einzug halten, ist die Kontingenz einer neuen Variablen, nämlich die Willkür und die Beliebigkeit aller.10 Das Recht, das sich nicht mehr von einem natürlichen oder göttlichen Gesetz herleitet, dessen Ursprung nur wenige vernehmen können, ist von Anfang an mit dem komplexen Problem der unvernünftigen Menge verbunden. Denn die Vernunft, die nichts anderes als das privilegierte Vernehmen eines Ursprungs darstellt, ist ohnmächtig geworden; sie ist zum Vernehmen aller geworden – ein Vernehmen, in dem die Menge sowohl den Ausgangs- als auch den Zielpunkt des Vernommenen bildet und das deshalb zugleich das Problem der Maßlosigkeit der neuen Macht und die entgrenzte Herrschaft dieser Macht begründet: „Aus dem selben Grund, aus dem die Ersetzung der Vernunft durch die souveräne Gewalt notwendig wird – nämlich weil die Vernunft ohnmächtig ist – verliert nun aber auch das vernünftige ‚Law of nature‘ seine Dignität, tritt an seine Stelle das zwar vernunftmäßige, aber nicht eigentlich von der Vernunft, sondern von der Todesfurcht diktierte ‚Right of nature‘. Der Bruch mit dem Rationalismus ist also die entscheidende Voraussetzung sowohl des Souveränitätsbegriffs als auch der Verdrängung des ‚Gesetzes‘ durch das ‚Recht‘, d. h. der Verdrängung des Primats der Verpflichtung durch den Primat des Anspruchs.“11 Der Bruch mit dem Rationalismus ist der Bruch mit der Verpflichtung. Die Hüter der Ordnung zeichnen sich nicht mehr durch eine besondere Qualität aus, durch die sie mit der vernünftigen Ordnung dieser Welt verbunden sind. Der moderne Souverän liest der Welt keine Verpflichtung mehr ab, sondern ist von nun an allein dem Anspruch der Untertanen verpflichtet, der immer der maßlose Anspruch der Menge sein wird. Aus dem Vernehmen eines natürlichen Gesetzes ist das Diktat eines Anspruchs geworden, in dessen Zentrum das Begehren der Menge steht, aus dem der moderne, künstliche Souverän hervorgeht. Für Strauss beginnt mit der Philosophie des Thomas Hobbes die Phase der Verrechtlichung des Politischen, die sowohl die Idee einer zivilen, bürgerlichen Welt ermöglicht, als auch den Staat der Gefahr aussetzt, zum botschaftslosen Apparat der Macht zu werden, der vor keiner Form des Totalitarismus mehr geschützt ist.12 Wenn auch aus anderer Perspektive, so gilt dieser Befund ebenfalls für Carl Schmitts Auseinandersetzung mit Hobbes, insofern sich die spezifisch moderne Totalität des Staates aus dem Bruch mit jeder politischen Theologie ergibt: „Für Hobbes kommt es darauf an, durch den Staat die Anarchie des feudalen, ständischen oder kirchlichen Wider9 10

11 12

Ebd. S. 153. Zur Diskussion um die damit verbundene Legitimitätsproblematik der Neuzeit als Selbstermächtigung vgl. Jacob Taubes: Das stählerne Gehäuse und der Exodus daraus oder ein Streit um Marcion, einst und heute, in: ders. (Hg.): Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 2: Gnosis und Politik, München 1984, S. 9–15, sowie Odo Marquard: Das gnostische Rezidiv als Gegenneuzeit. Ultrakurztheorem in lockerem Anschluß an Blumenberg, in: ebd., S. 31–36. Strauss: Hobbes’ politische Wissenschaft (Anm. 5), S. 153. Zum Versuch bei Strauss, gegen diese Verrechtlichung an die politische Philosophie der Antike anzuschließen, vgl. Thomas Gutschker: Aristotelische Diskurse. Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 2002, S. 93–129.

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standsrechts zu überwinden und dem mittelalterlichen Pluralismus die rationale Einheit eines berechenbar funktionierenden, zentralistischen Staates entgegenzusetzen. Wenn man hier von Totalität sprechen will, so ist zu beachten, daß der Totalität dieser Art staatlicher Macht immer auch die totale Verantwortlichkeit für Schutz und Sicherheit der Staatsbürger entspricht, und daß der Gehorsam sowie der Verzicht auf jedes Widerstandsrecht, den dieser Gott verlangen kann, nur das Korrelat des wirklichen Schutzes ist, für den er garantiert. Hört der Schutz auf, so hört auch jede Gehorsamspflicht auf und gewinnt das Individuum seine natürliche Freiheit wieder. Die ‚Relation von Schutz und Gehorsam‘ ist der Angelpunkt der Staatskonstruktion des Hobbes.“13 Der moderne Staat ist für Schmitt im Wesentlichen ein Staat der Verhältnisse, nur ein „Korrelat“ von Verzicht und Garantie, eine „Relation“ von Schutz und Gehorsam. Darüber hinaus gibt es keinen Grund zur Pflicht und keine Vereinnahmung der individuellen Freiheit, sodass der „Mechanisierungsprozeß“ durch den absoluten Souverän des Leviathan „nicht nur nicht aufgehalten, sondern sogar erst vollendet“ wird.14 Der Naturzustand, dessen zentrales Merkmal Hobbes in der Todesfurcht aller gesehen hat, bleibt auch dann die Basis dieses Verhältnisstaates, wenn die Bürger unter dem Schutz des Staates leben. Sobald dieser Schutz nicht mehr garantiert ist, gibt es keine andere Quelle, die über die gemeinsame Todesfurcht hinaus eine Beziehung zum Staat aufrecht erhält. – Sowohl für Leo Strauss als auch für Carl Schmitt ist die Ableitung des modernen Staates aus der Überwindung der Todesfurcht, die alle gleichermaßen betrifft, der entscheidende Punkt, der eine historische Entwicklung in Gang setzt, die unaufhaltsam jede andere Möglichkeit einer Fundierung des Staates aufzuzehren scheint. Mit der Furcht aller scheint die Furchtlosigkeit der Wenigen irreversibel überboten zu sein. Während sich unter den historischen Bedingungen der politischen Theologie das privilegierte Vernehmen des Ursprungs entlang einer besonderen Beziehung der Ordnungshüter zum Tod konstituiert hat, gründet sich der moderne Staat nun entlang einer Beziehung zum Tod, die alle betrifft. Sowohl für Strauss als auch für Schmitt und eine ganze Reihe von Theoretikern ist deshalb die Anthropologie, unter deren Titel das Begehren und die Leidenschaften der Menge summiert werden, das eigentliche Zentrum und vor allem das eigentliche Problem der modernen politischen Philosophie, die sich von jedem metaphysisch, theologisch oder kosmologisch fundierten Ordnungsmodell zugunsten einer reinen Immanenz der menschlichen Verhältnisse verabschiedet hat. Die Skepsis, die beide Denker dieser Verabschiedung entgegenbringen, gilt der vermeintlichen Autonomie eines Selbst, das sich allein durch die Immanenz der Verhältnisse bestimmt sieht und diese Verhältnisse hervorbringen soll. Denn im Unterschied zur Berufung auf natürliche oder göttliche Gesetze können die Aussagen der Anthropologie als postreligiöse Wahrheiten gelten, unter die alle Menschen fallen und die alle Menschen gleichermaßen angehen. Für solche, die sich selbst Realisten nennen, besteht daher das Geheimnis der politischen Philosophie von Hobbes darin, die Abgründe des Menschen erraten und die dunkle Wahrheit seiner 13

14

Carl Schmitt: Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Band XXX (1936/37), S. 622–632 (hier: S. 627). Zu Schmitts komplexem Verhältnis zur Programmatik der Leviathan-Symbolik vgl. Friedrich Balke: Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996, S. 317–374. Schmitt: Der Staat als Mechanismus (Anm. 13), S. 629.

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Leidenschaften ausgesprochen zu haben, die zwar nicht immer alle wahrhaben wollen, aber mit denen man zu jeder Zeit rechnen sollte. Allerdings kann eine solche Auffassung nicht erklären, warum gerade diejenige Anthropologie, die Hobbes im ersten Teil des Leviathan seiner eigentlichen Theorie des neuen Gemeinwesens vorangestellt hat und die häufig auf die Formel gebracht wird, dass der Mensch dem Menschen als Wolf gegenübertritt, in der Lage gewesen ist, auf so folgenreiche Weise das Fundament des modernen Staates abzugeben.15 Denn auch die empirische Beobachtung, die zu einem solchen Wissen des historisch Invarianten geführt haben soll, hat ihre geschichtlichen Voraussetzungen in der Lösung derjenigen Probleme, die sich in den Diskussionszusammenhängen der politischen Theologie des Mittelalters gestellt haben. Die lange Verabschiedung der politischen Theologie, die Strauss und Schmitt auf jeweils unterschiedliche Weise diagnostizieren und die bis heute das große durchgängige Thema ist, mit dem der theoretische Diskurs über die Autonomie des Politischen immer wieder zu Hobbes zurückkehrt,16 entzündet sich an der zentralen Frage, ob mit dem Leviathan die Sphäre der Staatlichkeit von der Sphäre des Religiösen endgültig geschieden ist und damit die Sphäre des Religiösen keine wirkmächtige Rolle mehr für das Selbstverständnis der Moderne spielt, oder aber ob der moderne Staat, wie Hobbes ihn als Antwort auf die konfessionellen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts entworfen hat, selbst religiöse Züge trägt bzw. das Verhältnis von Religion und Staat eher noch verschärft als entkoppelt. Jacob Taubes hat, einen ikonologischen Hinweis von Hans Barion zum Titelbild des Leviathan aufnehmend, anhand des Vergleichs des „sterblichen Gottes“, wie Hobbes den neuen Souverän ehrfürchtig nennt, mit Jesus Christus als „sterblichem Gott“ dieses Problem zugespitzt formuliert: „Man braucht nur Schwert und Bischofsstab des magnus homo zu vertauschen, also ihm den Bischofsstab in die Rechte und das Schwert in die Linke zu geben, so gewinnt man eine perfekte Symbolisierung der mittelalterlich-theokratischen Lehre von der societas christiana als einem einzigen Corpus, dessen Haupt Christus ist und dem beide Gewalten, die geistliche wie die weltliche, unterstehen.“17 Diese Umkehrung, die Taubes in der Darstellung des Leviathans am Werk gesehen hat, eröffnet mehrere Möglichkeiten der Deutung: Man kann der Auffassung sein, dass die Religion für den Staat von nun an nur noch die untergeordneten Rolle eines Herrschaftsinstruments spielt und somit zum Medium staatlicher Propaganda wird; oder aber, dass Hobbes, um dem neuen Staat eine Form geben zu können, bestimmte Elemente wie die Lehre vom corpus Christi übernehmen musste und gezwungen war, aus den historischen Gegebenheiten seiner Zeit heraus zu argumentieren und an diese Zeit entsprechende Zugeständnisse zu machen; oder als dritte und vielleicht radikalste Deutung, dass Hobbes die weltliche und die geistliche Gewalt zu einem einzigen Gebil15

16 17

Zur problematischen Begründungsleistung der Anthropologie für das Hobbessche Politikverständnis vgl. Gideon Stiening: Psychologie und Handlungstheorie im Leviathan. Neue Anmerkungen zum sogenannten ‚Strauss-Problem‘, in: Dieter Hüning (Hg.): Der lange Schatten des Leviathan. Hobbes’ politische Philosophie nach 350 Jahren, Berlin 2005, S. 55–105. Vgl. dazu Horst Bredekamp: Von Walter Benjamin zu Carl Schmitt, via Thomas Hobbes, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jahrgang 46, Heft 6 (1998), S. 901–916. Jacob Taubes: Statt einer Einleitung: Leviathan als sterblicher Gott. Zur Aktualität von Thomas Hobbes, in: ders. (Hg.): Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München 1983, S. 9–15 (hier: S. 13).

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de zusammenschließt, sodass die lange Geschichte der politischen Theologie keineswegs abgeschlossen und zurückgelassen, sondern im Gegenteil allererst ihrer Vollendung zugeführt wird.18 Der neue Souverän, der das bedrohte Leben in ein garantiertes Leben umwandelt, würde dann an die Stelle des christlichen Erlösers treten. Alle diese Deutungen sind nicht unberechtigt, aber im Folgenden soll einer Möglichkeit nachgegangen werden, bei der die Differenz von geistlicher und weltlicher Gewalt weder zugunsten einer weltlichen Immanenz entschieden, noch in einer Synthese beider aufgehoben wird, sondern bei der die unauflösliche Antinomie dieser Differenz den Ausgangspunkt ihrer imaginären Gleichzeitigkeit bildet. Der Widerstreit von religiöser und weltlicher Gewalt wird bei Hobbes auf eine Weise transformiert, dass er zwar als Widerstreit zwischen zwei unterschiedlichen Ansprüchen der legitimen Machtausübung aufgelöst wird, wie etwa zwischen den Räumen der Kirche und den territorialen Ansprüchen des Staates, aber dennoch als Widerstreit für die neue Konstitution der legitimen Macht wirksam bleiben muss. Bei Hobbes geht der Staat weder in einer reinen Funktionalität auf, wie Schmitt und Strauss skeptisch befürchtet haben, noch ist dieser Staat selbst religiös begründet. Die Antinomie zwischen der Sphäre der auf Funktionalität abstellenden Selbsterhaltung und der religiösen Sphäre, in der sich die Souveränität durch ihre privilegierte Beziehung zum Tod auszeichnet, führt Hobbes einer imaginären Lösung zu, bei der die Antinomie dadurch verschärft wird, dass ihre absolute Unauflösbarkeit zum festen Zeichen einer Begründung werden kann. – Was eine unauflösliche Antinomie ist, hat Martin Luther in unnachahmlicher Klarheit ausgedrückt, wenn er in seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) das Verhältnis des weltlichen und des geistlichen Reiches in der Form eines unvermittelbaren und extrem scharfen Widerspruchs definiert: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“19 In dieser scheinbar widersprüchlichen Formulierung, die sich auch nicht mit dem Hinweis auf die Differenz zwischen einer inneren und einer äußeren Freiheit auflösen lässt, ohne weitere Fragen zu provozieren, ist die schroffe Unvermitteltheit, mit der die beiden Sätze nebeneinander stehen, der produktive Kern einer untilgbaren Differenz und ihrer imaginären Gleichzeitigkeit. Imaginär meint dabei, dass es keinen anderen Ort als die Vorstellung gibt, in der beide Momente der Differenz unauflöslich und unentscheidbar nebeneinander existieren können. Diese Unentscheidbarkeit muss, um zum festen 18

19

Vgl. dazu Thomas Schneider: Thomas Hobbes’ Leviathan. Zur Logik des politischen Körpers, Springe 2003, S. 190–213. Erich Voegelin hat Hobbes den „großen Theologen“ der „gottesunmittelbaren Ekklesia“ genannt, bei der die von Gott ausgehende Hierarchie zu den einzelnen Personen, „welche die Ränge der Ekklesia besetzt halten“, in der politisch-theologischen „Gemeinschaft als einer Kollektivperson“ aufgehoben wird. Vgl. Erich Voegelin: Die politischen Religionen, Stockholm 1939, S. 42–49 (hier: S. 43f). Zum Konzept der politischen Religion bei Voegelin vgl. Michael Ley: Zur Theorie der politischen Religionen. Der Nationalismus als Paradigma politischer Religiosität, in: ders./Heinrich Neisser/Gilbert Weiss (Hg.): Politische Religion? Politik, Religion und Anthropologie im Werk von Eric Voegelin, München, 2003, S. 77–85. Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7, hg. v. Hermann Böhlau u. a., Weimar/Graz 1966, S. 12–38 (hier: S. 21). Zur Politik des absoluten Gehorsams bei Martin Luther und Johannes Calvin vgl. Franz Neumann: Behemoth: Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Köln/Frankfurt/M. 1977, S. 116–125.

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Zeichen einer Begründung dienen zu können, die Form einer katastrophalen Gewalt annehmen.20 Und diese katastrophale Gewalt einer unentscheidbaren Situation stellt die Urszene einer Selbstreferenz dar, über die sich moderne Gesellschaften im Sinne eines Aktes der Selbstsetzung definieren.

2.

Der doppelte Körper des Königs

Vor allem anhand der Darstellung des Titelblattes ist in der jüngeren Forschung die Frage nach dem Verhältnis von Hobbes zur politischen Tradition des Mittelalters, insbesondere zur politisch-theologischen Lehre von den zwei Körpern des Königs, neu aufgeworfen worden. In seiner umfangreichen Studie The King’s Two Bodies (1957) hat Ernst Kantorowicz die Entwicklung der politischen Theologie des Mittelalters aus der christologischen Doppelnatur des Mensch gewordenen Gottes rekonstruiert. Aus der Vorstellung einer gemischten Person Christi hat sich die juristische Fiktion vom doppelten Körper des Königs herausgebildet, der zugleich einen natürlichen und das heißt sterblichen Körper und einen übernatürlichen, ewigen Körper besitzt. Diese Fiktion regelt einerseits die Ewigkeit des Königs im Sinne eines politischen Körpers und zugleich die begrenzte Zeit eines jeden Amtsinhabers, der sterben kann, ohne dass der politische Körper ebenfalls stirbt. Jeder König ist insofern nur ein interrex des himmlischen Königs und in diesem Sinne nur ein König von Gottes Gnaden. Um die Unterscheidung zwischen den beiden Körpern über die instabile Phase des interregnum aufrecht zu erhalten, musste sich der faktische Körper des Königs tatsächlich verdoppeln und zwar in einen natürlichen und in ein bildliches oder figurales Double, dessen separate Bestattung die Königswürde im gleichen Moment von diesem König löst und weitergibt. Auf diese Weise stirbt und lebt der König zugleich. – Im Anschluss an Kantorowicz, der die Wirksamkeit dieser Lehre auf die frühe Neuzeit beschränkt sah, hat Horst Bredekamp die These aufgestellt, dass „der Leviathan, dieses Grundbuch der modernen Staatstheorie, für manche Historiker das bedeutendste Werk der politischen Wissenschaften überhaupt, ohne diese effigiale Praxis und ihre staatstheoretische Begleitung kaum zu denken ist; weder als Ganzes noch auch in seinem zentralen Motiv, der Auffassung des Staates als eines lebendigen Automaten“.21 Der Kompositkörper des neuen Staates, gebildet aus der Menge der Untertanen, die sich zu einem künstlichen Automaten in der Gestalt ei20

21

Walter Benjamin hat die historische Entwicklung der modernen Souveränitätsproblematik vor der barocken „Idee der Katastrophe“ gedeutet, die sich aus der Spannung zwischen einem gehäuften Diesseits und einem entleerten Jenseits ergibt. Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt/M. 1978, S. 47–50. Vgl. dazu Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, übers. v. Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt/M. 2004, S. 66–71. Horst Bredekamp: Politische Zeit. Die zwei Körper von Thomas Hobbes’ Leviathan, in: Wolfgang Ernst/Cornelia Vismann (Hg.): Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz, München 1998, S. 105–118. Vgl. dazu ausführlich Horst Bredekamp: Thomas Hobbes’ visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des modernen Staates, Berlin 1999. Vgl. dazu auch die kulturkomparatistische Untersuchung von Burkhard Schnepel: Twinned Beings. Kings and Effigies in Southern Sudan, East India and Renaissance France, Göteborg 1995.

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nes großen Menschen vereinen,22 verdankt sich demnach einer Bestattungspraxis, bei der die majestätischen Scheinleiber die Statthalter der königlichen Ewigkeit darstellen. Insofern kann man sagen, dass das Double des Königs nun zum Double der Menge geworden ist, und genau so, wie das Double dem sterbenden König eine künstliche Ewigkeit verliehen hat, macht nun dieses neue Double die sterbende Menge unsterblich. Bredekamp hat daraus gefolgert, dass sich die Konstruktion des modernen Staates einer „Zeitverschiebung“ verdankt, indem die instabile Phase des interregnum – die Situation der Ausnahme – auf Dauer gestellt wird: „Was in der Monarchie als Antwort auf eine Ausnahmesituation gedacht war, wird bei Hobbes zum Bollwerk gegen einen Dauerzustand. Er zieht den Augenblick des Interregnums in die Spanne des Zeitlosen.“23 Der Scheinleib des sterbenden Königs wird zum Scheinleib der Menge, die damit im gleichen Moment als sterbende und als unsterbliche Menge in Erscheinung tritt. Im Titelbild des Leviathan ist die Menge der Untertanen als sterblicher Gott dargestellt; sie ist, zugespitzt formuliert, im Moment eines Begräbnisses versammelt. Noch einmal Bredekamp: „Der Leviathan macht die effigiale Überwindung des Momentes höchsten Legitimationsverfalls, des Todes des Souveräns, zur Grundlage der gesamten Staatenordnung.“24 Was auf Dauer gestellt wird, ist sowohl die Situation der Ausnahme als auch die Abwehr dieser Ausnahme. Hobbes setzt der Gewalt des Bürgerkriegs nicht dadurch ein Ende, dass er der Situation der Ausnahme bloß eine antithetische Ordnung entgegensetzt, sondern indem er analog zum Tod des Königs nun den Tod des neuen Souveräns – die sich im Bürgerkrieg verzehrende Menge – zum Ausgangspunkt einer neuen Ordnung macht.25 Die Lehre von den zwei Körpern des Königs, die sich um das Überleben des sterbenden Königs anordnet, wird folglich auf eine Weise ausgeweitet, dass sich die Souveränität von nun an aus demjenigen Leben herleitet, das aus dem Tod aller hervorgeht. Allerdings deutet auch Bredekamp diese „Zeitverschiebung“ so, dass „die relativ kurze Phase zwischen Ableben des Souveräns und Einsetzung eines Nachfolgers, der herrschaftslose Zustand der Leere des Throns,“ für Hobbes die „Grundbestimmung der menschlichen Existenz“ darstellt.26 In der instabilen Phase des interregnum zeigt 22

23 24 25

26

Vgl. dazu Horst Bredekamp: Zur Vorgeschichte von Thomas Hobbes’ Bild des Staates, in: HansJörg Rheinberger/Michael Hagner/Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 23–37, sowie Horst Bredekamp: Die Brüder und Nachkommen des Leviathan, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 26 (1998), S. 159– 183, und Reinhardt Brandt: Das Titelblatt des Leviathan und Goyas El Gigante, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 15 (1987), S. 164–186. Bredekamp: Politische Zeit (Anm. 21), S. 117. Ebd. S. 117. Louis Althusser hat dieses Motiv, dass der auf Dauer gestellte Konflikt im Zentrum des Staates notwendig ist für dessen Machtsteigerung, als den Grundzug der modernen politischen Philosophie seit Niccolò Machiavelli angesehen und begrifflich als „Klassenkampf“ bestimmt: „Machiavelli vertritt den allen etablierten Wahrheiten seiner Zeit widersprechenden, skandalösen Gedanken, daß der Konflikt der Temperamente, der Mageren und der Fetten – kurzum, der Klassenkampf – für ein Erstarken und eine Vergrößerung des Staates absolut unabdingbar sind.“ Louis Althusser: Die Einsamkeit Machiavellis, in: ders.: Machiavelli – Montesquieu – Rousseau. Zur politischen Philosophie der Neuzeit, Schriften, Bd. 2, übers. v. Henning Ritter u. Frieder Otto Wolf, hg. v. Peter Schöttler u. Frieder Otto Wolf, Berlin 1987, S. 13–29 (hier: S. 19). Bredekamp: Politische Zeit (Anm. 21), S. 117.

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sich demnach die existentielle Dimension der Menge, die unhintergehbare Relation, in der sich alle auf alle beziehen, die aus dem Grund, weil sie existentiell ist, auch durch die Unterwerfung unter die staatliche Souveränität nicht aufgehoben, sondern nur eingedämmt werden kann. Der Körper der Menge, der in der Darstellung des Leviathans zu einem großen Menschen geformt wird, erscheint in der Permanenz des Bildraums wie ein Selbstschutz vor der eigenen existentiellen Dimension: „Mit dieser Allianz von Bild und Dauer beerbt der moderne Staat Hobbesscher Prägung die Zeitspaltung und Zeitüberwindung, die The King’s Two Bodies zu eigen waren.“27 Dem Einbruch der Zeit in den Anspruch der Herrschaft antwortet die „Allianz von Bild und Dauer“ in Form einer Zeitstasis, mit der die der Zeit inhärente Kontingenz abgewehrt wird. Wie die Scheinleiber die Königswürde auf Dauer stellen, so ist es jetzt die bildliche Gefasstheit der Menge, mit der die Transformation eines kontingenten und herrschaftslosen Zustands in die Herrschaft eines der Zeit enthobenen Körpers bewerkstelligt werden soll.28 Was der Staat Hobbesscher Prägung beerbt, ist folglich die politisch-theologische Zumutung der Dauer an die Bildlichkeit dieser Dauer. – Das Bildproblem, das Hobbes im vierten Teil des Leviathan unter der Überschrift Vom Königreich der Finsternis entfaltet, ist jedoch durch die Abwendung von jeder Theologie des Bildes und damit von jenen Bildpraktiken geprägt, die dem Bild jenseits des Wahrnehmbaren eine Substantialität zusprechen.29 Denn unter dem Titel Vom Königreich der Finsternis sind vor allem solche Praktiken zusammengefasst, mit denen die magische Präsenz eines Abwesenden angerufen wird. „Ein Bildnis (im strengen Sinne des Wortes)“, formuliert Hobbes dagegen programmatisch, „ist das Ebenbild von etwas Sichtbarem.“30 Was keine unmittelbare Beziehung zum Reich des Sichtbaren hat, gehört daher in das Reich der Phantasmen, die für Hobbes nur deshalb entstehen können, weil die Relation zwischen dem Urheber und dem abwesenden Objekt solcher Phantasmen unzureichend geklärt ist. Es gibt Götzen, Idole, Phantasmen und Erscheinungen aller Art, und es gibt die menschliche Einbildungskraft, die nun als geheime Ursache dieser Erscheinungen eingesetzt wird, für die wie für alle Erscheinungen gilt, „daß man sich aus einem unsichtbaren Gegenstand kein Bildnis macht oder machen kann“.31 Für Hobbes kann es kein Bildnis ohne Referenz auf etwas Sichtbares geben, sondern nur eine mangelhafte 27 28

29

30 31

Ebd. S. 118. Zur Zeitvorstellung des doppelten Körpers vgl. Uwe Hebekus: „Enthusiasmus und Recht“. Figurationen der Akklamation bei Ernst H. Kantorowicz, Erik Peterson und Carl Schmitt, in: Jürgen Brokoff/Jürgen Fohrmann (Hg.): Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jahrhundert, Paderborn 2003, S. 97–113 (hier: S. 110): „Die Dualität von aeternitas und tempus wird aufgebrochen durch die Hinzufügung des aevum, einer irdischen Unendlichkeit, die im Gegensatz zur aeternitas als nunc semper stans in sich gegliedert ist, weil sie Vergangenheit und Zukunft enthält.“ Bis in die Formel vom „sterblichen Gott“ hinein richtet sich Hobbes’ Bildpolitik gegen die consecratio-Praxis des römischen Kaiserkults und dessen doppelte Bestattung in corpore und in effigie, die den Magistraten in einen „unsterblichen Gott“ verwandelte und die Hobbes noch in den politisch-theologischen Praktiken der katholischen Kirche am Werk sah. Vgl. Elias Bickermann: Die römische Kaiserapotheose, in: Archiv für Religionswissenschaft, 27. Band (1929), S. 1–34. Thomas Hobbes: Leviathan, oder, Die Materie, Form und Macht eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, übers. v. Jutta Schlösser, hg. v. Hermann Klenner, Hamburg 1996, S. 545. Ebd. S. 546.

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oder fehlende Referenz. Diese fehlende Referenz herzustellen, ist das bildpolitische Programm, das Hobbes systematisch gegen das Königreich der Finsternis aufbietet, das geradezu böswillig auf solchen Bildnissen beruht, die jeder Sichtbarkeit entzogene Ungestalten zeigen, insofern eine Gestalt durch „eine in jeder Weise festgelegte Quantität“ bestimmt ist.32 Dass die Anrufungsszene der Menge als große Menschengestalt, die das Titelbild darstellt, selbst in eine gefährliche Nähe zu jenen Ungestalten rücken könnte, die Hobbes aus dem Gemeinwesen zu verbannen empfiehlt, ist das komplexe Problem, das es nötig macht, die Allianz von Bild und Dauer auf eine andere Weise zu lösen als durch eine Zeitüberwindung in der Permanenz des Bildes. Die Restriktion und Disziplinierung jeder Bildlichkeit auf Prozesse der Wahrnehmung, die Hobbes im letzten Teil des Leviathan postuliert, basiert daher auf einer Einbeziehung der Zeit in die Dauer des Bildes und nicht auf einer Entgegensetzung. Das Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit, das den doppelten Körper des Königs ermöglicht hat, wird nicht zugunsten einer Anwesenheit und Sichtbarkeit der neuen Akteure entschieden. Auch die Menge, aus deren Formierung der neue Souverän hervorgeht, ist zugleich anwesend und abwesend und droht jederzeit als nicht repräsentierte Unmenge in die repräsentierte Menge einzubrechen. Die Frage, die sich Hobbes stellt, kann daher nicht einfach nur lauten, welche Bilder illegitime Ungestalten zeigen, sondern wann das Bild der Menge selbst zur Ungestalt zu werden droht. Mit der Überbietung der Furchtlosigkeit der Wenigen durch die Todesfurcht aller ändert sich deshalb auch die zeitliche Dauer der Bildlichkeit, mit der die Lösung des Paradoxes vom unvermeidlichen-vermeidbaren Tod in Szene gesetzt wird. Denn während der Tod im doppelten Körper des Königs zugleich anschaulich und gebannt wird, erscheint im Naturzustand der Tod in Gestalt eines jeden Einzelnen und muss deshalb auf eine andere Weise gebannt werden als durch einen übernatürlichen Körper, dessen ewiger Fortbestand auch den Tod zu überdauern vermag.

3.

Die Gleichheit des Todes

In seiner Interpretation dessen, was Hobbes den Naturzustand nennt, hat Michel Foucault diesen Zustand als eine Situation der „ungenügenden Differenz“ beschrieben.33 Keine der Differenzen, die den Naturzustand kennzeichnen, ist in der Lage, eine Markierung abzugeben, auf die sich derart Bezug nehmen ließe, dass daraus eine gemeinschaftliche 32

33

Zur Rezeption der von Leon Battista Alberti formulierten Kompositionsprinzipien bei Hobbes vgl. Friedrich Balke: Tumulto. Regime des Bildes in Hobbes’ Leviathan, in: Jean-Babtiste Joly/ Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hg.): Bildregime des Rechts, Stuttgart 2007, S. 62–82. Zur Wirklichkeitskonstruktion der Linearperspektive bei Alberti vgl. Bernhard Siegert: Der Blick als Bild-Störung. Zwischen Mimesis und Mimikry, in: Claudia Blümle/Anne von der Heiden (Hg.): Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, Zürich/Berlin 2005, S. 103– 126. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, übers. v. Michaela Ott, Frankfurt/M. 2001, S. 105–138 (hier: S. 110). Vgl. dazu Friedrich Balke: Die Maske des Kriegers. Foucault, Dumézil und das Problem der Souveränität, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 80. Jahrgang (2006), S. 128–170.

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Ordnung hervorgehen könnte. Alle Differenzen beziehen sich so aufeinander, dass jede Ordnung sofort wieder kollabiert. Foucault spricht daher von einer „Anarchie kleiner Differenzen“, die das Aufkommen jeder großen Differenz unterminiert. Es gibt weder einen einzelnen Starken noch eine Gruppe von Starken, die stark genug wären, um eine große Differenz begründen zu können, von der aus das Gemeinwesen seinen Anfang nehmen könnte. Aus dem gleichen Grund sind jedoch ebenfalls die Schwachen nicht derart schwach, dass sich aus der Position ihrer Schwäche heraus eine Ordnung des Gemeinwesens ableiten ließe: „Denn was die Körperkraft betrifft, so hat der Schwächste genügend Kraft, den Stärksten zu töten, entweder durch einen geheimen Anschlag oder durch ein Bündnis mit anderen, die sich in derselben Gefahr wie er befinden.“34 Auch der Schwächste hat noch genügend Kraft, um im entscheidenden Augenblick stark sein zu können. Er ist nicht absolut, sondern nur relativ schwach. Und selbst wenn er ein Bündnis eingeht, dann nicht mit anderen, ebenso absolut Schwachen, sondern nur mit solchen, die in einer bestimmten Situation wie er selbst relativ schwach sind. Jeder ist zugleich stark und schwach. Es gibt keine von Natur aus durchgängig bestimmte Differenz zwischen Starken und Schwachen. Der „üble Zustand“, in den die Natur den Menschen versetzt hat, ist eine unentscheidbare Situation, ein Gewimmel von Differenzen, die sich gegenseitig verschlingen und hervorbringen. In dieser Situation sind alle Menschen gleich, und zwar nicht weil den Menschen von Natur aus ein gleiches Maß oder eine Gleichheit der Schöpfung zuteil geworden wäre, sondern weil ihr Gemeinsames in etwas Abwesendem besteht. Der Naturzustand ist durch einen Mangel gekennzeichnet, den alle gemeinsam teilen.35 Weder sind im Aristotelischen Sinne von Natur aus die einen zur Herrschaft und die anderen zur Unterwerfung bestimmt, noch sind im christologischen Sinne alle gleich, weil sie vor dem einen Herrn gleich sind. Die Gleichheit des Naturzustandes erscheint bei Hobbes als ein Problem: „Die einander Gleiches tun können, sind gleich. Aber die, die das Größte vermögen, nämlich zu töten, können Gleiches tun.“36 Weil es nichts gibt außer den Zufall des Todes, auf das man sich im Naturzustand verlassen könnte, handelt es sich um eine problematische Gleichheit. Was sich als Wille konstituieren könnte, droht jederzeit durch den Einbruch des Todes in die Ordnung dieses Willens zunichte gemacht zu werden. Es gibt keine souveräne Macht, die dem Tod entgegensteht, keinen übernatürlichen Körper, der den Tod überdauert und um den sich die Gemeinschaft anordnen könnte. In der gleichen Nähe zum Tod sind alle Menschen gleich. Weil die Menschen in diesem Zustand nichts anderes außer ihrer gleichen Nähe zum Tod verbindet, erscheint der Naturzustand, wie Hobbes ihn konstruiert hat, zunächst als eine vollständige Antithese zu jedem gesellschaftlichen Zustand: „In solchem Zustand 34 35

36

Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 102. Zur Problematik des Mangels im Naturzustand, und zwar sowohl im konkreten Sinne, dass die zu verteilenden Güter prinzipiell zu knapp sind, als auch im metaphysischen Sinne, dass es keine der Welt zugrunde liegende Ordnung mehr gibt, vgl. Günther Nonnenmacher: Die Ordnung der Gesellschaft. Mangel und Herrschaft in der politischen Philosophie der Neuzeit: Hobbes, Locke, Adam Smith, Rousseau, Weinheim 1989, S. 19–28. Thomas Hobbes: Vom Menschen/Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, übers. v. Max Frischeisen-Köhler, hg. v. Günter Gawlick, Hamburg 1994, S. 80.

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gibt es keinen Platz für Fleiß, denn seine Früchte sind ungewiß, und folglich keine Kultivierung des Bodens, keine Schiffahrt oder Nutzung der Waren, die auf dem Seeweg importiert werden mögen, kein zweckdienliches Bauen, keine Werkzeuge zur Bewegung von Dingen, deren Transport viel Kraft erfordert, keine Kenntnis über das Antlitz der Erde, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Bildung, keine Gesellschaft, und, was das allerschlimmste ist, es herrscht ständige Furcht und die Gefahr eines gewaltsamen Todes; und das Leben des Menschen ist einsam, armselig, widerwärtig, vertiert und kurz.“37 Zwar räumt Hobbes ein, dass ein solcher Zustand, in dem sich jeder mit jedem im Krieg befindet, wahrscheinlich zu keiner Zeit eine weltweite Gegebenheit war und auch nie sein wird, verweist aber drauf, dass es hinreichend viele Beispiele für die Vergegenwärtigung eines derartigen Zustands gibt: „die wilden Völker in vielen Teilen Amerikas“, die „vertierte Lebensweise“ während eines Bürgerkriegs, aber auch das zwischenstaatliche Verhältnis, in dem eine souveräne Person zu jeder Zeit gegen eine andere steht. Welche Beispiele man jedoch auch immer heranziehen oder ablehnen mag, Hobbes verhehlt die Fiktivität dieser Erzählung vom herrschaftslosen Zustand keineswegs, der seine Wirksamkeit vor allem darin entfaltet, dass er von nun an stets als Drohung eines katastrophisch Anderen über der staatlichen Ordnung schweben wird.38 – Die Ursprungserzählung, die Hobbes an die Stelle von solchen Ursprungsszenen setzt, bei denen am Anfang eine Transzendenz des Todes steht, die wie im Fall des doppelten Körpers des Königs durch den Bezug auf die Ewigkeit Gottes anschaulich werden können muss, unterscheidet sich dadurch, dass dieser Ursprung keine Transzendenz des Todes verkündet, von der sich ein Anspruch auf Herrschaft ableiten ließe. Es handelt sich um einen abgeschnittenen Ursprung, in dem alle gleichermaßen ursprungslos sind und diesen Mangel einer Anschaulichkeit der Transzendenz in der Todesfurcht teilen. Aus diesem Grund kann sich der Ausgangszustand ausschließlich aus der Negation des Gesellschaftszustands ergeben. Der Naturzustand geht dem Jetztzustand nicht im Sinne einer genealogischen Erzählung voraus, sondern ist das Andere des Jetztzustands, das als vorgängig nur im Nachhinein aus dem Jetztzustand konstruiert werden kann. Denn für den Naturzustand gibt es keine Quellen und darf es auch keine geben, etwa im Sinne einer historischen Überlieferung, aus der sich privilegierte Herrschaftsansprüche ableiten ließen. Weil den Naturzustand alle teilen können müssen, darf es keine positiven Merkmale geben, die auf eine genealogische Zeit vor dem Jetztzustand schließen lassen könnten. Schon an dieser paradoxen Denkfigur, bei der etwas Vorgängiges zugleich als Antithese des Jetztzustands und als Grund dieses Zustands aus diesem heraus abgeleitet wird, macht deutlich, wie Hobbes den komplexen Prozess der Selbstreferenz in Gang setzt, der von Anfang an mit dem Problem des anderen Zustands unauflöslich ver37 38

Ebd. S. 105. Dazu, dass die Antithese des Naturzustandes die Abwesenheit jeder politisch-theologischen Ordnung darstellt, insofern es im Naturzustand keinen Gott und keine religiöse Macht gibt, während der Naturzustand in der Negation bürgerlich-ökonomischer Werte jedoch auf dieselben bezogen bleibt, vgl. Manfred Riedel: Zum Verhältnis von Ontologie und politischer Theorie bei Hobbes, in: Reinhart Koselleck/Roman Schnur (Hg.): Hobbes-Forschungen, Berlin 1969, S. 103–118. Zur historischen Genese des neuzeitlichen Individualismus vgl. Roman Schnur: Absolutismus und Individualismus. Zur politischen Theorie vor Thomas Hobbes (1600–1640), Berlin 1963, S. 76–85.

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knüpft ist. Die „Anarchie kleiner Differenzen“, das diffuse Dunkel ungenügender und kurzlebiger Beziehungen, ist das vollkommen Andere, die absolute Heterogenität jeder möglichen Ordnung, deren Homogenität auf eine Priorität bestimmter Differenzen angewiesen ist. Insofern ist der Naturzustand nicht nur ein besonders „übler Zustand“, sondern der andere Zustand schlechthin, haltlos und kurzlebig, weil diesen Zustand nichts anderes als das Übel der vollständigen Abwesenheit jeder möglichen Ordnung kennzeichnet.39 Wie von jedem Anfang einer Ursprungserzählung geht allerdings auch von diesem eine heimliche Faszination aus. Im Unterschied jedoch zu solchen Ursprungserzählungen, deren Anfang durch eine unaufhebbare Ambivalenz gekennzeichnet ist, bei der die erste Tat, die das Leben stiftet und damit alle weiteren Unterscheidungen, selbst weder gut noch böse ist oder beides zugleich, ist der Anfangszustand, den Hobbes als Naturzustand beschrieben hat, ein Zustand, der alle betrifft. Die Relation, in der alle zueinander stehen, ist daher die Relation, in der bis dahin ausschließlich die erste Gestalt des Ursprungs stand, nämlich die Relation der Grenze von Leben und Tod. Der Krieg, in dem sich jeder mit jedem befindet, meint deshalb bei Hobbes nicht nur die reale Schlacht und den realen Kampf und auch nicht bloß die permanente Drohung und die permanente Bereitschaft zu einer realen Schlacht und zu einem realen Kampf, sondern die symbolische Position der Indifferenz, in der es keine privilegierte Differenz gibt und die alle gleichermaßen teilen. Die Relation der Grenze von Leben und Tod ist die Relation eines Zustands der Differenzen und eines anderen Zustands, der alle Differenzen absorbiert. Insofern ist die Todesfurcht nicht die konsekutive Folge eines Krieges, sondern der Krieg ist der Ausdruck dieser symbolischen Position der ersten Gestalt, die am Anfang des Gemeinwesens steht und die in diesem Fall alle einnehmen. Hobbes’ Naturzustand lässt sich in diesem Sinne als eine Umschrift der ersten Gestalt begreifen, die nicht erst in dem Moment gegeben ist, da die Menge im Bild des großen Menschen versammelt ist, sondern die noch vor der Konstitution des Souveräns das bestimmt, was Hobbes unter dem Titel der Anthropologie dieser Menge zuschreibt. Der Akt der Selbstsetzung, mit dem die moderne Staatstheorie beginnt, bedeutet daher kein Verzicht auf Ursprungserzählungen, sondern im Gegenteil, dieser Akt geht mit einer drastischen Ausweitung der Ursprungsszene einher, insofern sich nun alle an diesem Ursprung befinden und die gleiche Nähe zu derjenigen Öffnung teilen, die der Tod darstellt. Jeder Einzelne wird überhaupt erst zu einem Individuum, insofern er sich am Ursprung befindet und als Einzelner dieser Ursprung selbst ist.40 Aus diesem Grund trägt jeder Einzelne nun diejenigen Merkmale, die 39

40

Vgl. dazu Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt/M. 1999, S. 251f, der den „Fortschritt des Denkens am Beginn der Neuzeit“ darin begründet sieht, „daß man begann, über die Unordnung Aussagen zu machen und ihr ohne das Eingreifen eines transzendenten Faktors eine Gesetzlichkeit der Selbstregulation zuzuschreiben“. Weil „Nullpunkt des Ordnungsschwundes“ und „Ansatzpunkt der Ordnungsbildung“ identisch sind, wird die „Nachahmung der Schöpfung (imitare creationem)“ und die „Erneuerung der schöpferischen Ursituation gegenüber dem ungeformten Stoff“ zur „Funktion der Philosophie“. Dazu dass sich das Gemeinwesen bei Hobbes nicht über ein Gemeinsames konstituiert, von dem aus das Gemeinwesen abgeleitet wird, sondern über die Immunisierung gegen das gemeinsame Teilen der Todesnähe und damit der Todesfurcht, vgl. Esposito: Communitas (Anm. 2), S. 37–66 (hier: S. 44): „Der Staat hat nicht die Aufgabe, die Angst zu eliminieren, sondern sie ‚gewiß‘

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ansonsten ausschließlich der ersten Gestalt zukommen, und hat Anteil an einem Schöpfungsakt, der den überlieferten kosmologischen oder theologischen Schöpfungsberichten in nichts nachsteht und den Hobbes mit „jenem Fiat oder Lasset uns Menschen machen“ vergleicht, „das Gott bei der Schöpfung aussprach“.41 Für diesen Schöpfungsakt, der nicht mehr von einem übernatürlichen Körper ausgeht, sondern von jedem Einzelnen, ist die Einnahme der symbolischen Position der Indifferenz im Naturzustand die Voraussetzung. Denn was sich im Naturzustand offenbart, ist das vollständige Fehlen eines „großen Anderen“, der in der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans insofern die symbolische Ordnung garantiert, als er den Ort besetzt, „wo sich das Ich konstituiert“.42 Im Unterschied zu solchen symbolischen Ordnungen, in denen die Abwesenheit des „großen Anderen“, der gerade dadurch, dass er außerhalb der symbolischen Ordnung steht, diese Ordnung zu begründen vermag, durch einen übernatürlichen Körper der Ewigkeit veranschaulicht wird, erscheint dieses Fehlen im Naturzustand unmittelbar. Um es etwas zugespitzt zu formulieren, könnte man sagen, dass der „große Andere“, um dessen Substitution sich bis dahin die Hierarchie der Gemeinschaft angeordnet hat, nun unmittelbar als der Tod eines jeden Einzelnen offen gelegt wird. In diesem Sinne stellt die gleiche Nähe zum Tod das zentrale Kriterium einer aus der Menge abgeleiteten Souveränität dar, bei der im Unterschied zu einer Souveränität der Wenigen sich die symbolische Ordnung nicht mehr durch eine Substitution des „großen Anderen“ ergibt, sondern im Gegenteil durch seine radikale Verdrängung. Denn der Hobbessche Souverän substituiert nicht wie in der politisch-theologischen Lehre von den zwei Körpern des Königs die Abwesenheit des „großen Anderen“ durch den Bezug auf die Ewigkeit Gottes, sondern entsteht als Folge der Offenlegung des „großen Anderen“ als der Tod eines jeden Einzelnen. Der Souverän Hobbesscher Prägung ist kein Stellvertreter Gottes, sondern ein Stellvertreter des Fehlens Gottes. Denn wenn sich die Souveränität von nun an nicht mehr dadurch legitimieren soll, dass sie sich auf den Herrensignifikanten „Gott“ bezieht, sondern durch die Verdrängung des „großen Anderen“, dann ist das nur möglich, weil der Tod zunächst an die Stelle des göttlichen Herrensignifikanten getreten ist und somit den symbolischen Ort des Ursprungs besetzt, der die erste Gestalt des Gemeinwesens bestimmt.

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zu machen. Diese Schlußfolgerung öffnet eine Perspektive von außergewöhnlicher Tiefe auf das gesamte Paradigma der Moderne: daß nämlich der moderne Staat nicht nur die Angst, aus der er ursprünglich entstanden ist, nicht eliminiert, sondern sich geradezu auf ihr gründet, derart, daß er sie zum Motor und zur Garantie des eigenen Funktionierens macht.“ Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 6. Jacques Lacan: Die Psychosen. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch III (1955–56), übers. v. Michael Turnheim, hg. v. Jacques-Alain Miller, Weinheim/Berlin 1997, S. 322. Zur Unterscheidung zwischen dem „kleinen anderen“, in dem sich das Subjekt zu spiegeln vermag, und dem „großen Anderen“, der die Symmetrie des Spiegelns erst als solche ermöglicht, vgl. Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, übers. v. Gabriella Burkhart, Wien 2002, S. 38–40.

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4.

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Die Gewalt der ersten Gestalt

In seiner Studie Das Heilige und die Gewalt (1972) hat René Girard die erste Gestalt anhand von Ursprungserzählungen so genannter primitiver Gesellschaften als einen „monströsen Doppelgänger“ analysiert. In der ersten Gestalt ist die Gründungsgewalt, die am Anfang jeder Gemeinschaft steht, sowohl erinnert als auch gebannt. Ohne die Diskussion um die Ambivalenz des Heiligen und der komplexen Transformationen dieser Ambivalenz nachzeichnen zu können,43 sei an dieser Stelle nur auf die Merkmale der ersten Gestalt verwiesen, wie Girard sie herausgearbeitet hat: „Die Vereinigung von bösartig und gutartig stellt selbstverständlich die erste und wesentliche Monstrosität dar: Das übermenschliche Wesen absorbiert den Unterschied zwischen guter und böser Gewalt, also den grundlegenden Unterschied, dem alle anderen untergeordnet zu sein scheinen.“44 Das Spiel der Gewalt, dessen Bedingungen der Eindämmung Girards Studie gewidmet ist, hat in den monströsen Doppelgängerfiguren des Anfangs seinen eingehegten Raum. In der ersten Gestalt, ob es sich nun um „mythische Helden“, „sakrale Könige“, „Götter“ oder „vergöttlichte Ahnen“ handelt, durchkreuzen sich Unterscheidungen wie zwischen Mensch und Tier, gut und böse oder Segen und Fluch, die als starke Differenzen die Ordnung der Gemeinschaft bestimmen. Insofern kann man sagen, dass diese Anfangsgestalten einen symbolischen Nullpunkt der Ordnung darstellen. Aus diesem Grund kann die erste Gestalt für Girard nicht der souveräne „Herrscher über das Spiel“ sein, von dem ein „privilegierter Eingriff“45 ausgehen könnte, sondern symbolisiert den Ort der gleichzeitigen Unterschiedenheit und Ununterschiedenheit der gestifteten Differenzen: „Die Gründungsgewalt ermitteln heißt verstehen, daß das Heilige alle Gegensätze in sich vereinigt – und zwar nicht deshalb, weil es sich von der Gewalt unterscheidet, sondern weil die Gewalt sich von sich selbst zu unterscheiden scheint: bald stellt sie in ihrem Umkreis die Einmütigkeit wieder her, um Menschen zu retten und Kultur zu stiften, bald bemüht sie sich im Gegenteil verbissen darum, das von ihr Gestiftete wieder zu vernichten.“46 Die Gründungsgewalt ist weder gut noch böse, sondern die Schwellensituation dieser Differenzierung, sodass die Sphäre des Heiligen, die Girard mit dieser Schwellensituation identifiziert, im gleichen Moment sowohl Verehrung als auch Abscheu hervorrufen kann: „Die Verehrung der Gläubigen gilt nie der Gewalt selbst, sondern immer der Gewaltlosigkeit. Gewaltlosigkeit erscheint als unentgeltliche Gabe der Gewalt [...].“47 Weil die erste Gestalt selbst alle Gegensätze in sich vereint, kann sie auch alle Gegensätze ineinander transformieren und zugleich als gut 43

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45 46 47

Vgl. dazu die kritische Diskussion zum Theorem der Ambivalenz des Heiligen von William Robertson Smith über Émile Durkheim, Marcel Mauss, Rudolf Otto, Sigmund Freud bis zu Roger Caillois und Georges Bataille bei Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt/M. 2002, S. 81–96. René Girard: Das Heilige und die Gewalt, übers. v. Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt/M. 1999, S. 369. Eine stringente Zusammenfassung von Girards Theorie der Gewalt gibt Konrad Thomas: René Girard: Ein anderes Verständnis von Gewalt, in: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, S. 325–338. Girard: Das Heilige und die Gewalt (Anm. 44), S. 377. Ebd. S. 379. Ebd. S. 378.

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und als böse erscheinen: „Im Inneren der Gemeinschaft ist das Heilige böse; es wird wieder gut, sobald es sich nach außen wendet.“48 Für Girards Analyse der Gründungsgewalt ist keine spezifische Qualität der ersten Gestalt – etwa im Sinne einer göttlichen Gabe – ausschlaggebend, sondern allein der Umstand, dass die Sphäre des Heiligen in der Figur der ersten Gestalt dadurch eingrenzbar ist, dass die Gefahr der Ansteckung, die jederzeit von der Gründungsgewalt ausgeht, nach bestimmten Regeln und in wiederholender Korrespondenz des rituellen Opfers zur Figur der ersten Gestalt eingedämmt werden kann. Der Ambivalenz der Ursprungsfigur entspricht deshalb auch die Ambivalenz des Opfers, das im gleichen Moment erhöht und erniedrigt ist.49 Wie für die erste Gestalt, so gibt es auch für die Rolle des Opfers kein spezifisches Kriterium, durch das sich das Opfer in besonderer Weise auszeichnen würde: „Außer dem versöhnenden Opfer spielen alle Mitspieler die gleiche Rolle, aber jeder kann die Rolle des versöhnenden Opfers übernehmen.“50 Für die stets nur vorübergehende Transformation der bedrohlichen Ambivalenz der Gründungsgewalt in die eindeutige Gabe der Gewaltlosigkeit bedarf es deshalb der Figur eines ausgesonderten Dritten, dessen Exklusion von der Gemeinschaft die Gemeinschaft mit sich selbst versöhnt. Mit dieser Figur des Dritten – des Sündenbocks – bleibt Girards Analyse dem Modell des Tragischen verpflichtet, das seine Analyse auf eben solche Gesellschaftsformationen einschränkt, die sich entlang einer Ritualisierung des versöhnenden Opfers beschreiben lassen.51 Eine der Konsequenzen, die Girard in seinem Buch Das Heilige und die Gewalt aus seiner Analyse gezogen hat, liest sich daher selbst wie ein tragischer Satz, der das unendliche Fortleben des Tragischen konstatiert: „Die Menschen sind ja nur dann zur Versöhnung fähig, wenn diese auf Kosten eines Dritten geht. Die bestmögliche Leistung der Menschen in Sachen Gewaltlosigkeit ist die Einmütigkeit minus eins des versöhnenden Opfers.“52 Setzt man die Hobbessche Szene des Naturzustandes mit der Figur der ersten Gestalt in Beziehung, dann fällt zunächst auf, dass bei der Transformation des Naturzustandes in den Gesellschaftszustand die Figur des Dritten keine Rolle spielt. Im Unterschied zur tragischen Lösung scheint die imaginäre Lösung des Paradoxes vom unvermeidlichenvermeidbaren Tod über die Relation hinaus, in der sich die Gemeinschaft zu sich selbst in Beziehung setzt, auf jede weitere Beziehung zu einer dritten, Einheit stiftenden Position verzichten zu können. Die Transformation der sich im Naturzustand verzehrenden Menge in die Gestalt eines großen Menschen, die Hobbes als performative Übertragung des Regierungsrechts auf einen souveränen Willen konzipiert hat, geht weder von einem dritten Agenten aus, der den Konsens der Menge herbeiführt, noch versöhnt sich die Gemeinschaft auf Kosten eines ausgeschlossenen Dritten. Hobbes betont, dass die Transformation jedes einzelnen Willens „zu einem einzigen Willen“ mehr ist als „Zustimmung 48 49

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Ebd. S. 378. Zum Motiv des doppelten Ursprungs am Beispiel der römischen Gründungserzählung vgl. Albrecht Koschorke: Götterzeichen und Gründungsverbrechen. Die zwei Anfänge des Staates, in: Neue Rundschau, Heft 1 (2004): Facetten des Heiligen, S. 40–55. Girard: Das Heilige und die Gewalt (Anm. 44), S. 377. Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit René Girard bei Burkhardt Wolf: Die Sorge des Souveräns. Eine Diskursgeschichte des Opfers, Zürich/Berlin 2004, S. 9–19. Girard: Das Heilige und die Gewalt (Anm. 44), S. 380.

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oder Eintracht“.53 Zwischen der Präsenz der Versammlung aller und der Repräsentation aller in einer von der Versammlung ermächtigten Person liegt kein vernünftiger Diskurs, der die Relation des Krieges in eine gemeinsame Ordnung überführt. Der simultane Satz, den alle im gleichen Moment sagen sollen, um eine „wirkliche Einheit von ihnen allen in ein und derselben Person“ zu schaffen, ist kein diskursiver Satz, der eine Einigung zur Folge hätte, sondern ein gleichsam magischer Ritualsatz, der die Relation der Todesfurcht, in der sich alle auf alle beziehen, in die Relation eines Vertrags umwandelt, der es dann erst ermöglicht, eine gemeinsame Ordnung mittels eines legitimen Zwangs zu erzeugen. Der Vertrag, durch den „jeder von ihnen sich zum Urheber all dessen erklärt, was derjenige, der so ihre Person vertritt, in bezug auf Frieden und Sicherheit der Allgemeinheit tun oder veranlassen wird“,54 ist kein Vertrag, der mit dem Souverän geschlossen wird, sondern ein Vertrag, den jeder unter der Bedingung mit jedem anderen schließt, dass jeder andere dies ebenfalls tut. Die implizite Selbstrelation, die den gesamten Akt der staatlichen Selbstsetzung bestimmt, ist also von Anfang eine gespiegelte Relation, die dadurch aus der Heterogenität der Differenzen im Naturzustand eine homogene Ordnung schafft, dass die Selbstreferenz in die Fremdreferenz eingetragen wird. Die Relation des Selbst zu sich selbst wird nicht von einer Fremdreferenz abgeleitet, sondern an die Stelle dieser Ableitung tritt eine unendliche Verweiskette, die das Fremde immer schon als das Eigene ausweist und die Präsenz des Fremden in die Repräsentation des Eigenen überführt.55 Die „wirkliche Einheit“ verdankt sich einer ästhetischen Prozedur, die auf eine Zeit angewiesen ist, die schon vorbei ist. Bei Hobbes heißt es: „als ob jeder zu jedem sagte“. Die Präsenz der Versammlung hat keine Zeit, sie ist immer nachträglich. Der performative Satz, der die Struktur eines Schwurs der Unterwerfung hat, muss immer schon als ausgesprochen erscheinen können, ohne die Präsenz seines Aktes einbüßen zu dürfen: „Ich gebe diesem Menschen oder dieser Versammlung von Menschen Ermächtigung und übertrage ihm mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihm ebenso dein Recht überträgst und Ermächtigung für alle seine Handlungen gibst.“56 Die Präsenz des Ich gebe, in der sich jeder jedem zuwendet, unter der Bedingung, dass sich jeder jedem zuwendet, kann immer nur im Nachhinein als Repräsentation einer schon gegebenen Zuwendung erscheinen. Die simultane Übertragung des Rechts, „mich zu regieren“, auf eine Person, die diesen Akt als den Akt aller personifiziert, kann immer nur ein Resultat einer Operation sein, die stattgefunden haben muss, weil es das Resultat gibt. Das „als ob“ des Ich gebe kehrt die Kausalität des Unterwerfungsschwurs um: Der Schwur begründet nicht die präsentische Unterwerfung 53 54 55

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Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 145. Ebd. S. 145. Susanne Lüdemann hat den Vertrag als eine „Strukturphantasie“ bezeichnet, „weil er nicht vom Ursprung dieser oder jener konkreten Gesellschaft berichtet, sondern vom Einfügen einer im radikalsten Sinne gesellschaftsbegründenden Symbolik ins Reale des Naturzustands, und zwar mittels eines Szenarium des Imaginären, das vorgibt, sich dieses Einfügens wieder zu bemächtigen“: „Die Zirkularität dieses Verfahrens ist weder absichtlich noch zufällig, sondern unvermeidlich. Trägt doch einzig sie der Nachträglichkeit jeder Selbstrepräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft gegenüber ihrem Immerschon-Angefangenhaben Rechnung.“ Susanne Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München 2004, S. 170f. Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 145.

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unter einen Souverän, den es im Moment des Schwurs gibt und vor dessen Antlitz der Schwur zu leisten ist, sondern der souveränen Personifikation muss die Urheberschaft aller abgelesen werden können, was es ermöglicht, den Schwur als ein vergangenes Geschehen im Sinne einer Voraussetzung der gestifteten Souveränität anzunehmen. Weil der Schwur keine gegenwärtige Adresse hat und es nur einen zukünftigen Souverän gibt, der mit denen identisch sein soll, die den Schwur leisten, muss aus dem Performativ des Schwurs eine theatralische Szene werden.57 Louis Althusser hat die unmögliche Lösung des theoretischen Widerspruchs, den ein Vertrag mit sich selbst darstellt, im Zusammenhang mit der Konstruktion des Gesellschaftsvertrags bei Jean-Jacques Rousseau daher einen „fiktionalen Triumph“ genannt.58 Was sich nicht mehr im Rahmen einer konsekutiv-kausalen Ordnung der Ableitung formulieren lässt, muss einer ästhetischen Lösung zugeführt werden, mittels derer die Zeitverhältnisse umgekehrt werden. Die Bedingung, die der performative Satz Ich gebe für das Hervorgehen des Souveräns aus der Menge darstellt, ist als theatralische Szene eine Folge dieses Hervorgehens, die nur vorgängig ist, insofern sie als vorgängige nachträglich aufgeführt wird.59 Auf die erste Person des Ich gebe, die sich an die zweite Person Du gibst wendet, kann nur im Nachhinein aus der dritten Person geschlossen werden, in der beide Personen enthalten sind. In der dritten Person verweist die eigene Urheberschaft auf eine fremde; und jede fremde verweist auf die eigene Urheberschaft. Auch wenn das Titelbild des Leviathan einen Kompositkörper darstellt, der aus einer Menge von Elementen ein Ganzes formt, so ist die dazu nötige Prozedur der Formierung der gleiche Akt, mit dem vom Ganzen ausgehend erst die Elemente dieses Ganzen hergestellt werden. Die „wirkliche Einheit“ unterscheidet sich von einer summarischen Einheit dadurch, dass die Elemente, auf denen das Ganze basiert, ohne dieses Ganze nicht existieren. Die wechselseitige Relation von Teil und Ganzem ist den Elementen auf eine Weise eingeschrieben, dass ihr Status als Elemente ein Produkt der Formierung ist. Deshalb kann die Hervorbringung des großen Menschenkörpers niemals als abgeschlossen erscheinen, sondern erfordert einen ständigen Prozess der Staatsbildung, bei dem der Konflikt zwischen den Teilen und dem Ganzen auf Dauer gestellt ist.60 Die 57

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Zur Inszenierung des kontraktualistischen Ursprungs vgl. Joseph Vogl: Gründungstheater. Gesetz und Geschichte, in: Armin Adam/Martin Stingelin (Hg.): Übertragung und Gesetz. Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen, Berlin 1995, S. 31–39. Louis Althusser: Über Jean-Jacques Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“, in: ders.: Machiavelli – Montesquieu – Rousseau. Zur politischen Philosophie der Neuzeit, Schriften, Bd. 2, übers. v. Henning Ritter u. Frieder Otto Wolf, hg. v. Peter Schöttler u. Frieder Otto Wolf, Berlin 1987, S. 133–172 (hier: S. 172). Jacques Derrida hat den Fall eines aufgeführten Performativs, den John L. Austin in How to Do Things with Words (1962) als eine Ausnahme der Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Sätzen behandelt, als ein jede Kommunikation bedingendes Moment analysiert, bei dem die Iterierbarkeit des Performativen die „reine Einmaligkeit des Ereignisses“ von sich selbst spaltet und dadurch das Ereignis erst im Nachhinein hervorbringt. Vgl. Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, übers. v. Gerhard Ahrens, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 291–314 (hier: S. 309). Vgl. dazu auch Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, übers. v. Katharina Menke u. Markus Krist, Berlin 1998. Auch wenn Hobbes den Staat als eine große Maschine konstruiert, geht dieser nicht in einer bloßen Apparatur auf, sondern bedarf auch für Hobbes noch einer „Beseelung“. Vgl. dazu Harun Maye:

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„wirkliche Einheit“ ist in diesem Sinne eine imaginäre Einheit und zeichnet sich dadurch aus, dass die Homogenität ihre Präsenz nicht im Bild als das Bild aller hat, sondern in der Perspektive, die das Bild ermöglicht und die insofern immer eine Perspektive des Widerstreits ist. – Das Titelbild des Leviathan stellt nicht nur einen Kompositkörper dar, sondern ein Bild der Blickregime: Die im großen Körper des Leviathans versammelten Menschen richten ihren Blick auf den Körper, dessen Teil sie sind. Die komplexe Frage der Urheberschaft, die Hobbes im vierten Teil des Leviathan unter der philosophischen Hinsicht einer Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie erneut aufnimmt, ist deshalb unmittelbar bezogen auf das bildpolitische Programm, dem sich die „wirkliche Einheit“ des neuen Staates verdankt. Der Zusammenhang von Bild und Dauer ergibt sich daher nicht aus einem der Ewigkeit fähigen Bild der Einheit, in dem die Menschen wie im corpus Christi unter dem Herrensignifikanten „Gott“ versammelt sind, sondern aus der Abwendung des Blicks von der Präsenz des Todes, die den Ursprung des Gemeinwesens im Naturzustand massiv beherrscht, und der Zuwendung dieses Blicks auf sich selbst, auf die im Körper des Souveräns Lebenden bzw. Überlebenden. Während der „sterbliche Gott“ Jesus Christus im Sterben den Tod überwindet, ist der Leviathan deshalb ein „sterblicher Gott“, weil er von einem Tod herkommt, der absolut und unvermeidlich ist. Wenn der Hobbessche Souverän kein Stellvertreter Gottes mehr sein soll, sondern ein Stellvertreter des Fehlens Gottes, dann beruht das Geheimnis seiner Macht auf der Fähigkeit, dieses Fehlen und damit sein eigenes Herkommen von einem Tod, der absolut ist, zu verhüllen. – Nicht ohne Grund entfaltet Hobbes vor den eigentlichen Kapiteln seiner Vertragstheorie den Begriff der Person anhand der Bedeutung, die ihm im Bereich des Schauspiels zukommt.61 Noch vor der juristischen Bedeutung im Sinne von „Repräsentant, Statthalter, Vikar, Anwalt, Abgeordneter, Sachwalter, Beauftragter“ bezeichnet „persona im Lateinischen die Verkleidung oder äußere Erscheinung eines auf der Bühne dargestellten Menschen“ und „zuweilen im engeren Sinne jenen Teil davon, der das Gesicht verbirgt, wie eine Maske oder ein Visier“.62 Die Identifikation mit dem Souverän und die Wiedererkennung aller in der souveränen Personifikation ihrer selbst ist insofern eine Identifikation mit einem Verbergen, als der Souverän die Maske des Realen darstellt, das im Naturzustand offen gelegt ist. Wenn die symbolische Ordnung durch die Verdrängung dieses Realen in Gang gesetzt wird, dann besteht die Instituierung des Imaginären in der Identifizierung mit dieser Verdrängung, in der sich die Menschen ausschließlich als gegenwärtig Lebende wahrnehmen sollen.

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Der Leviathan von Thomas Hobbes zwischen Metaphorik und Maschinenbau. Zur medialen Latenz eines politischen Gemeinwesens, in: Jörn Ahrens/Stephan Braese (Hg.): Im Zauber der Zeichen. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Mediums, Berlin 2007, S. 58–74. Vgl. dazu Iris Därmann: Die Maske des Staates. Zum Begriff der Person und zur Theorie des Bildes in Thomas Hobbes’ Leviathan, in: Mihran Dabag/Kristin Platt (Hg.): Die Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch sich selbst als Subjekt der Geschichte entdeckt, München 2006, S. 72–92. Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 135.

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5.

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Die Spaltung des Subjekts

Das Paradox, das ein Vertrag darstellt, den jeder mit jedem schließt, um eine Rechtsinstanz ins Leben zu rufen, der die Autorität zukommen soll, die Einhaltung dieses Vertrags zu gewährleisten, basiert auf einer Selbstbeziehung, in der jeder Einzelne zu sich selbst in Differenz treten muss, um die Gewalt des Todes, die am Ursprung des neuen Gemeinwesens steht, von sich selbst abzusondern. Weil in der Personifikation des Souveräns die gestiftete Instanz mit denjenigen identisch sein soll, die diese Instanz stiften, setzt der moderne Akt der staatlichen Selbstsetzung, der nach Hobbes auf keine transzendente Macht mehr angewiesen sein soll, notwendig eine Spaltung der Menge voraus. Im Anschluss an die Arbeiten von Jacques Lacan hat Louis Althusser diese Spaltung als ein ideologisches Spiegelstadium begriffen, das aus der Menge der Einzelnen allererst sprechende und ansprechbare Subjekte formt, die ihr Selbstverständnis einer Platzanweisung in der symbolischen Ordnung verdanken. Für Althusser ist die symbolische Ordnung prinzipiell zentriert, weil sie sich auf ein „absolutes SUBJEKT“ bezieht, das „den einzigen Platz des Zentrums einnimmt und um sich herum die unendliche Zahl der Individuen als Subjekte anruft“.63 Sowohl für Lacan als auch für Althusser ist das hervorragende Beispiel für die ordnungsstiftende Leistung, die von diesem „absoluten SUBJEKT“ ausgeht, das christologische Gottesverständnis: „Gott entzweit sich selbst und schickt seinen Sohn auf die Erde als ein von ihm ‚verlassenes‘ einfaches Subjekt [...]; Subjekt aber SUBJEKT, Mensch aber Gott – [...].“64 Nur weil das „absolute SUBJEKT“ als ein in sich schon gespaltenes „Subjekt-SUBJEKT“ zugleich anwesend und abwesend ist, vermag es demnach eine Spiegelrelation zu instituieren, aufgrund der sich die „einfachen“ Subjekte vermittelt über das „absolute SUBJEKT“ wechselseitig ineinander spiegeln können. In diesem Modell des Ursprungs besetzt das „absolute SUBJEKT“ den Ort, von dem aus die einfachen Subjekte angerufen und erst als solche konstituiert werden. Die politisch-theologische Lehre von den zwei Körpern des Königs entspricht insofern genau der Spaltung des „absoluten SUBJEKTS“ in ein „SubjektSUBJEKT“, als sie sich um die Verdoppelung des Königskörpers in einen sterblichen und einen unsterblichen anordnet. Im Unterschied dazu erscheinen die einfachen Subjekte im Hobbesschen Naturzustand allesamt als „verlassene“ Subjekte. Der Ort, von dem aus die einfachen Subjekte angerufen werden, ist leer.65 Weil das „absolute SUBJEKT“ fehlt, ist im Naturzustand jeder ein verlassenes Subjekt und kann sich nur auf sich selbst beziehen. Denn der Herrensignifikant dieser Verlassenheit ist der Tod. In diesem Modell des Ursprungs steht am Anfang das Fehlen des „absoluten SUBJEKTS“, 63

64 65

Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, übers. v. Rolf Löper, Klaus Riepe u. Peter Schöttler, Hamburg/Berlin 1977, S. 147. Dazu dass es sich dabei nicht um eine Ideologie der Herrschenden handelt, vgl. Étienne Balibar: Das NichtZeitgenössische, in: ders.: Für Althusser, übers. v. Renate Nentwig, Mainz 1994, S. 53–81 (hier: S. 75): „Die herrschende Ideologie in einer gegebenen Gesellschaft ist immer eine spezifische Universalisierung des Imaginären der Beherrschten [...].“ Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anm. 63), S. 147. Vgl. dazu auch Leander Scholz: Anrufung und Ausschließung. Zur Politik der Adressierung bei Martin Heidegger und Louis Althusser, in: Michael Cuntz/Barbara Nitsche/Isabell Otto/Marc Spaniol (Hg.): Die Listen der Evidenz, Köln 2006, S. 283–297.

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was es erst nötig macht, ein solches künstlich ins Leben zu rufen. Das Entscheidende an der neuen Form der Spaltung bei Hobbes ist, dass diese Spaltung nicht von einem „Subjekt-SUBJEKT“ ausgeht und wie im Fall des Sündenbocks auf einer wiederholenden Absonderung des Opfers basiert, sondern dass diese Spaltung als Selbstdifferenz jeden Einzelnen zum Subjekt einer Selbstreferenz macht. Giorgio Agamben hat diesen Zusammenhang von Spaltung und Selbstreferenz in der logischen Form des Banns gedeutet, der den Verbannten sich selbst überlässt, indem er diesen aus dem eingeschlossenen Bereich ausschließt: „Der Bann ist wesentlich die Macht, etwas sich selbst zu überlassen, das heißt die Macht, die Beziehung mit einem vorausgesetzten Beziehungslosen aufrechtzuerhalten.“66 Zwischen der Menge, die sich im Naturzustand verzehrt, und der Menge, die sich in der Personifikation des Souveräns wiedererkennen soll, findet keine Identität stiftende Gemeinschaftsbildung statt. Dass der Souverän nicht an einen Vertrag mit denen gebunden ist, die ihn ermächtigt haben, sie zu regieren, bedeutet daher auch, dass der Vertrag, den die Menge mit sich selbst schließt, keine Selbstidentität dieser Menge produziert, in der sich das Subjekt der Selbstreferenz auf sich selbst bezieht. Der Übergang von der ungeordneten zur geordneten Menge schließt im Gegenteil ein Moment der konstitutiven Fremdheit eines jeden sich selbst gegenüber ein, deren unmögliche Aneignung den Prozess der Selbstreferenz in Gang hält. Agamben hat diese Nicht-Beziehung als eine Form des Zugriffs beschrieben, für die nicht die Identifizierung, sondern die Absonderung maßgeblich ist: „Dasjenige, was unter Bann gestellt wird, ist der eigenen Abgesondertheit überlassen und zugleich dem ausgeliefert, der es verbannt und verläßt, zugleich ausgeschlossen und eingeschlossen, entlassen und gleichzeitig festgesetzt.“67 Die Platzanweisung in der symbolischen Ordnung basiert demnach nicht auf einer Arretierung eines jeden Einzelnen, die dem Subjekt der Selbstreferenz einen festen Platz in der Ordnung der Gemeinschaft zuweist, sondern auf einer Spaltung, die aus der „Anarchie kleiner Differenzen“ eine politische Ordnung hervorbringt, indem jeder Einzelne zu sich selbst in Differenz tritt.68 Die Situation der ungenügenden Differenz im Naturzustand wird nicht dadurch überwunden, dass sie von einer starken und alles beherrschenden Differenz überdeterminiert und als ungeordnete Vielheit auf eine übergeordnete Einheit bezogen wird. Das neue Gemeinwesen entsteht nicht durch eine Subsumtion der Einzelnen unter eine souveräne Macht, sondern dadurch, dass der Spaltung der Menge, die den Vertrag als Selbstadressierung der Menge überhaupt erst möglich macht, die Spaltung eines jeden Einzelnen vorausgehen muss. Während in der Lehre von den zwei Körpern des Königs das „absolute SUBJEKT“ den Ursprung besetzt, von dem sich die Hierarchie der Gemeinschaft ableitet, entsteht das 66 67 68

Agamben: Homo sacer (Anm. 43), S. 119. Ebd. S. 119. Zum Problem des „Rechtsverzichts“ vgl. Wolfgang Kersting, der den Gesellschaftsvertrag als einen „rationalen Entstehungsgrund des Staates“ interpretiert, ohne jedoch die historischen Grundlagen dieser „Rationalität“ zu berücksichtigen. Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1994, S. 63: „Der begünstigende Rechtsverzicht hebt die Konkurrenz der iura in omnia et omnes auf und setzt ein ius-in-omnia-et-omnes an seine Stelle. [...] Souveränität und Herrschaftsrecht verdanken sich also keiner genuinen rechtsschöpferischen Aktion.“ Vgl. dazu auch Wolfgang Kersting (Hg.): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Berlin 2008.

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neue Gemeinwesen durch die Absonderung des Ursprungs, an dem jeder Einzelne eine unmittelbare Beziehung zum Tod hat. Denn der Tod als Herrensignifikant macht keine konkurrierende Ableitung mehr möglich, sondern bindet alle so an seine Macht, dass sie sich selbst überlassen sind. Was der „sterbliche Gott“ Leviathan zugleich verbirgt und bewahrt, ist die Absolutheit eines Todes, der nicht mehr durch einen übernatürlichen Körper gebannt werden kann, sondern im Gegenteil nun zur dauerhaften Grundlage der symbolischen Ordnung wird. Nicht als ein Unsterblicher ruft der „große Andere“ die Einzelnen an, sondern als ihre eigene Sterblichkeit. Dementsprechend geht auch die Verdoppelung nicht mehr von einem anfänglichen „Subjekt-SUBJEKT“ aus, sondern von jedem Einzelnen, der nun selbst zum Ausgangspunkt eben dieser Verdoppelung werden muss. Denn dass im Naturzustand jeder potentiell in der Lage ist, jeden anderen zu töten, heißt, dass zunächst jeder für jeden anderen in der Position des Souveräns erscheint und jeder jeden anderen aus sich ausschließt und ebenso von jedem anderen ausgeschlossen wird.69 Im Naturzustand gibt es weder einen Gott noch einen anderen übernatürlichen Körper. Der Tod erscheint ausschließlich in der Gestalt des anderen. Dieser andere ist daher nicht nur eine potentielle Bedrohung, sondern auch die einzige Repräsentation des Todes und damit der Kontingenz, die der Tod als Einbruch in die menschliche Ordnung darstellt. Insofern sich jeder für jeden anderen in der Position des Souveräns befindet, ist jeder in der Beziehung auf den anderen und ebenso sich selbst gegenüber im Zustand der Überlassenheit. Jeder ist dadurch auf alle anderen bezogen, dass er von allen anderen ausgeschlossen wird, und bezieht sich auf alle anderen, indem er alle anderen aus sich ausschließt. Aus dem gleichen Grund, aus dem sich keiner dauerhaft über alle anderen erheben kann, weil der Unterschied, wie Hobbes sagt, „zwischen Mensch und Mensch nicht so beträchtlich ist, daß ein Mensch daraufhin irgendeinen Vorteil für sich fordern kann, auf den ein anderer nicht so gut wie er Anspruch erheben könnte“,70 schließt jeder jeden anderen im gleichen Maß aus sich aus. Das Gemeinsame der Menschen im Naturzustand besteht nicht in einem gleichen Maß, das alle von Natur aus teilen, sondern in der Gleichheit des Maßes, in dem sich alle gemeinsam ausschließen. Alle beziehen sich durch eine Nicht-Beziehung aufeinander, die alle teilen und die alle teilt. Jeder ist dem anderen im gleichen Maß fremd und sich selbst nur dadurch gegeben, dass er allen anderen fremd ist.71 Bei dieser Fremdheit handelt es sich deshalb nicht nur um die Fremdheit eines Fremden, der wie in der antiken Figur des Barbaren aus der Gemeinschaft des Gemeinsamen ausgeschlossen ist, sondern zugleich um eine Selbstfremdheit, 69

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Die Konflikthaftigkeit des Naturzustandes resultiert deshalb aus dem rechtslogischen Widerspruch, dass es keine andere als die private Rechtsdistribution gibt und somit jeder zum Richter in eigener Sache wird. Vgl. dazu Georg Geismann/Karlfriedrich Herb (Hg.): Hobbes über die Freiheit, Würzburg 1988, Anm. 220, S. 132: „Das Skandalon des nichtstaatlichen Zustandes liegt nicht in dem natürlichen Recht des Einzelnen auf Selbsterhaltung, sondern in dem naturzuständlichen Modus, die Grenzen dieses Rechts nach Maßgabe der je eigenen Rechtsvernunft zu bestimmen und mit dem je eigenen Schwert zu sichern.“ Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 102. Zur Interpretation dieser wechselseitigen Relation im Sinne einer modernen Konkurrenzgesellschaft vgl. Crawford B. Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke, übers. v. Arno Wittekind, Frankfurt/M. 1967.

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da es keine Gemeinschaft gibt, von der sich die eigene Identität ableiten ließe. Als Referenzrahmen gibt es nur die von allen geteilte Nicht-Gemeinschaft.72 Da jeder jedem als Fremder gegenübertritt, tritt sich auch jeder selbst als Fremder gegenüber. – Insofern lässt sich Carl Schmitts polemisch gemeinter Feststellung zustimmen: „Der Vertrag wird ganz individualistisch aufgefaßt; alle Bindungen und Gemeinschaften sind aufgelöst; atomisierte Einzelne finden sich in ihrer Angst zusammen, bis das Licht des Verstandes aufleuchtet und ein Konsens zustande kommt.“73 Der Konsens jedoch, den Schmitt hier in denunziatorischer Absicht dem Licht der Aufklärung zurechnet, setzt nicht erst mit einer diskursiven Übereinstimmung ein, sondern hat seinen ersten Akt in der Gestalt der Menge als „atomisierte Einzelne“. Noch vor der Übertragung des Rechts, „mich zu regieren“, müssen die Subjekte der Übertragung schon als isolierte Vertragssubjekte gegeben sein. Schmitts resignierende Schlussfolgerung, dass der Vertrag bei Hobbes „kein eigentlicher Staats- sondern nur ein Gesellschaftsvertrag“74 sei, diagnostiziert deshalb zugleich die vollständige Dissoziation der Gemeinschaft, die der modernen Vertragskonstruktion zugrunde liegt. Der Staat erscheint lediglich als Funktion einer Gesellschaft, deren Fundament in der Unmöglichkeit eines Gemeinsamen besteht. Der Naturzustand, in dem Hobbes den Bürgerkrieg nicht nur als eine historische, sondern vor allem als eine systematische Voraussetzung seiner politischen Theorie begriffen hat,75 bestimmt die Gewalt, an der jeder Anteil hat und die jeder Einzelne auszuüben fähig ist, als die treibende Kraft, die den neuen Staat bürgerlicher Prägung hervorbringt. Aber es ist nicht die Entscheidungskraft dieser Gewalt, die der Souveränitätskonzeption des Leviathan zugrunde liegt, sondern die absolute Unentscheidbarkeit, die mit dieser Gewalt gegeben ist. Der Bürgerkrieg, den Hobbes vor Augen hat, ist keine politische Auseinandersetzung, der die Kämpfenden im Verlauf der Austragung des Kampfes an eine gemeinsame Sache bindet.76 Sondern es ist das Verzehren, das Verschlingen und das Sterben der Menge, das die Verunmöglichung der Entscheidungskraft einer von allen geteilten Gewalt zur Folge hat und den neuen Gesellschaftskörper in Gestalt „atomisierter Einzelner“ schafft. Dieses unentscheidbare Nebeneinander einer von allen geteilten Gewalt stellt die im Bürgerkrieg zu einem festen Zeichen gewordene Ursprungsszene der Selbstreferenz 72

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Schon Ferdinand Tönnies hat in diesem Sinne von einer „privatrechtlichen Konstruktion des Staates“ gesprochen, bei der sich das Problem des personifizierten Staates aus „seiner zugleich privatrechtlichen Persönlichkeit als Fiskus“ ergebe. Vgl. Ferdinand Tönnies: Thomas Hobbes, der Mann und der Denker, Leipzig 1912, S. 217f: „In der modernen Entwicklung aber können wir die Isolierung der Individuen gegeneinander, und die des Staates gegen die Individuen, deutlich verfolgen. Diese Prozesse bestehen in der Konzentrierung des öffentlichen Rechts, das aus den mannigfachen gemeinschaftlichen Sphären gleichsam aufgesogen wird: der Staat absorbiert es, indem er alle korporativen Bildungen, die nicht einen ausgesprochen privatrechtlichen Charakter haben, zerstört, unterdrückt, oder von sich abhängig macht.“ Schmitt: Der Staat als Mechanismus (Anm. 13), S. 628f. Ebd. S. 629. Vgl. dazu ausführlich Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/M. 1973, S. 11–32. Zur gegenteilig gelagerten Problematik des Bürgerkriegs in der griechischen Polis vgl. Nicole Loraux: Das Band der Teilung, in: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 31–57.

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dar. Jeder ist ausschließlich auf sich selbst verwiesen, insofern alle von allen anderen ausgeschlossen sind. Im Naturzustand kann sich jeder daher nur so auf jeden beziehen, dass er sich dabei zugleich auf sich selbst bezieht.77 Die historische „Einrichtung“ moderner Selbstreferenz hat Niklas Luhmann vor dem Hintergrund des Übergangs von einer stratifikatorisch geordneten zu einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft wie folgt beschrieben: „Selbstreferentielle Autonomie auf der Ebene der einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme wird erst im 17./18. Jahrhundert eingerichtet. Vorher hatte die religiöse Weltsetzung diese Funktionsstelle besetzt. Vielleicht kann man sagen, daß der allem Erleben und Handeln zugedachte Bezug auf Gott als heimliche Selbstreferenz des Gesellschaftssystems fungierte. Man sagte etwa, ohne den Beistand von Gott könne kein Werk gelingen. Damit waren zugleich gesellschaftliche und moralische Anforderungen fixiert. Die religiöse Semantik war jedoch nicht als Selbstreferenz der Gesellschaft, sie war (und ist auch heute) als Fremdreferenz, als Transzendenz formuliert.“78 Der Unterschied zwischen der heimlichen Selbstreferenz einer auf Gott hingeordneten Gemeinschaft und der transparenten Selbstreferenz moderner Gesellschaften liegt jedoch möglicherweise nicht im Übergang von einem Denken der Transzendenz zu einem Denken der Immanenz. Auch Gott kann, wie Luhmann selbst zugibt, als eine Gestalt der Immanenz verstanden werden, zumal wenn diese in Form einer politischen Theologie wirksam wird.79 Umgekehrt verschwindet das Problem der Transzendenz in modernen Gesellschaften nicht, die ebenfalls mit Transzendenzerfahrungen konfrontiert sind, auch wenn sie diese als Selbsterfahrung zu verstehen versuchen. Der Unterschied besteht vielmehr in der Ausweitung des Referenzrahmens: Während im ersten Fall Gott einen exzentrischen Ort der Gemeinschaft beschreibt, der das Zentrum dieser Gemeinschaft stiftet, an dem Fremdreferenz in Selbstreferenz umgewandelt wird, erscheint im zweiten Fall nun die gesamte Gesellschaft als der Ort dieser Transformation. Die religiöse Weltsetzung in Gott wird nicht durch die Selbstsetzung der Gesellschaft substituiert, sondern der exzentrische Ort, an dem das Selbst der Gemeinschaft aus der Erfahrung des Fremden abgeleitet wird, erscheint nun als das Zentrum dieser Gemeinschaft. In der „selbstreferentiellen Autonomie“ wird sich die Gemeinschaft zur ersten Gestalt ihrer selbst. Wie Gott als Ort der Transformation alle Differenzen in sich vereinigt, so muss daher jetzt die Gesellschaft zum Ort der Gesamtheit aller Differenzen werden. – Die Ursprungserzählung vom Naturzustand, die Hobbes gegen jede metaphysische, theologische oder kosmologische Herleitung der Ordnung aufbietet, ist in diesem Sinne die erste Erzählung, in der die Gesamtheit der Gemeinschaft zur Selbstreferenz 77

78 79

In diesem Sinne lässt sich die Hobbessche Konstruktion des Naturzustandes als eine Theorie moderner Subjektivität verstehen. Vgl. Bernard Willms: Die Angst, die Freiheit und der Leviathan. Staatsmechanismus oder politische Dialektik?, in: Udo Bermbach/Klaus Kodalle (Hg.): Furcht und Freiheit: Leviathan-Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes, Opladen 1982, S. 79–90. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1987, S. 624. Castoriadis hat darauf hingewiesen, dass die „primären oder zentralen Bedeutungen“ einer Gesellschaft „über gar keinen Referenten verfügen oder, wenn man lieber will, ihr eigener Referent sind“. In dieser Hinsicht macht die Selbstreferentialität von Gott oder Gesellschaft keinen Unterschied. Vgl. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution (Anm. 7), S. 596f.

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wird. Die Transzendenz, die sich in Gott verkörpert und die als exzentrischer Teil der Gemeinschaft das Zentrum dieser Gemeinschaft stiftet, findet nun im Zentrum der Gemeinschaft statt. Jeder stellt für jeden den Tod dar und verkörpert insofern eine Transzendenz, die nicht mehr der Gemeinschaft als Gesamtheit, sondern jedem Einzelnen gegenüber exzentrisch ist. Luhmann hat diesen neuen Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft, bei dem die Gemeinschaft nicht mehr das Zentrum darstellt, um das sich die Individuen anordnen, auf die systemtheoretische Formel gebracht, dass das „psychische System“ und das „soziale System“ wechselseitig „füreinander Umwelt“ sind.80 Insofern im Naturzustand jeder für jeden anderen den Tod darstellt, rückt aber auch jeder für jeden anderen an die systematische Stelle einer politischen Theologie, an der die Position der Souveränität bislang durch ihre privilegierte Beziehung zum Tod markiert war. Dementsprechend transformiert der Übergang vom Natur- zum Gesellschaftszustand bei Hobbes den Menschen-Wolf in einen Gott-Menschen, sodass die politisch-theologischen Linien von der Vertikale des Königskörpers in die Horizontale des Untertanen verschoben erscheinen: „Nun sind aber beide Sätze wahr: Der Mensch ist ein Gott für den Menschen, und: Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen; jener, wenn man die Bürger untereinander, dieser, wenn man die Staaten untereinander vergleicht.“81 Dass jeder Mensch für jeden anderen Menschen als ein Gott erscheinen kann, heißt, dass sich das neue Gemeinwesen genau an der Schließung derjenigen Öffnung situiert, die bis dahin die Religion geschlossen hat.82 Während jedoch bei einer religiösen Weltsetzung die exzentrische Position Gottes der zwangsläufigen Exzentrik eines jeden Selbstverweises entspricht, muss diese Exzentrik dann die gesamte Gesellschaft erfassen, wenn diese zur ersten Gestalt ihrer selbst wird. Dass sich in der souveränen Personifikation alle sich repräsentierend verdoppeln müssen, indem sie sich im Souverän als Urheber ihrer eigenen Verdoppelung ansehen, lässt sich daher als eine Folge der von Hobbes geleisteten Umschrift der ersten Gestalt begreifen, die im Sinne René Girards als Gründungsgewalt am Anfang jeder Gemeinschaft steht und den zentralen Unterschied zwischen guter und böser Gewalt absorbiert. Denn auch im Naturzustand gibt es keine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, kein Mein 80

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Niklas Luhmann: Individuum und Gesellschaft, in: Universitas, Jahrgang 39 (1984), S. 1–11 (hier: S. 9): „Lassen wir also das Leben und andere Vorbedingungen [...] beiseite; dann kann man sehr wohl die Meinung vertreten, daß die These des für sich selbst seienden Individuums nichts anderes besagt als die in sich verschlossene, geradezu ‚blinde‘ Autopoiesis des Bewußtseins. [...] Soziale Systeme und psychische Systeme wären dann als getrennte, jeweils selbstreferentiell-geschlossene Systeme zu begreifen, die wechselseitig füreinander Umwelt sind.“ Hobbes: Vom Menschen/Vom Bürger (Anm. 36), S. 59. Zum neuzeitlichen Zusammenhang dieses theologischen Satzes im historischen Kontext der Idolekritik bei Francis Bacon vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre (Anm. 7), S. 182ff. Vgl. dazu Claude Lefort: Fortdauer des Theologisch-Politischen?, übers. v. Hans Scheulen u. Ariane Cuvelier, Wien 1999, S. 45, der die Wirksamkeit des Theologisch-Politischen in der Exzentrik eines Selbstverweises begründet sieht, die mit jeder gesellschaftlichen Selbstreferenz einhergeht: „Daß die menschliche Gesellschaft nur eine Öffnung auf sich selbst hat, indem sie in eine Öffnung hineingenommen wird, die sie nicht erzeugt, genau das sagt jede Religion [...].“

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und kein Dein. Und weil es kein Gesetz und kein Verbot gibt, kann es auch keine Sünde und keine Schuld geben: „Das Verlangen und die anderen Gemütsbewegungen des Menschen sind an sich keine Sünde. Ebenso wenig sind es die Handlungen, die aus diesen Gemütsbewegungen hervorgehen, bis sie ein Gesetz kennen, das sie verbietet – was die Menschen nicht wissen können, bis Gesetze gemacht werden; und es kann auch kein Gesetz gemacht werden, bis sie sich über die Person geeinigt haben, die es machen soll.“83 Ohne eine symbolische Instanz, die es ermöglicht, alle diese Unterscheidungen zu fixieren, gibt es nur Körper und die Selbstpräsenz des Verlangens. Die Macht, die von diesen Körpern und ihrem Verlangen ausgeht, ist eine unschuldige Macht, da sie allein durch die Stärke und die Lust der Machtausübung bestimmt ist. In sich und durch sich selbst ist sie in keiner Hinsicht gehemmt. Es gibt keine Einschränkung im Sinne eines Verbots, etwas nicht zu tun, außer der körperlichen Unmöglichkeit, es tatsächlich tun zu können: „Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind keine körperlichen oder geistigen Fähigkeiten. Wenn sie es wären, könnten sie bei einem Menschen, der sich allein auf der Welt befände, ebenso vorkommen wie seine Empfindungen und Gemütsbewegungen. Sie sind Qualitäten, die mit den Menschen in der Gesellschaft verbunden sind, nicht in der Einsamkeit.“84 In der einen Hinsicht kann der Naturzustand also als ein locus amoenus erscheinen, wie im Paradies gibt es kein Gesetz und keine Schuld, bevor die Menschen in den Stand des Wissens versetzt werden; in der anderen Hinsicht ist der Naturzustand jedoch ein locus terribilis, insofern jeder einsam und der Willkür aller anderen ausgeliefert ist.85 Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist nicht dadurch außer Kraft gesetzt, dass sie einfach wegfällt, sondern indem die Gegensätze – wie der zwischen Paradies und Hölle – zusammenfallen. Das gleiche gilt für die Unterscheidung von Leben und Tod. Der Naturzustand kann einerseits als Ausdruck eines vollen Lebens verstanden werden. Jeder hat Anspruch auf alles und kann sich das aneignen, was er imstande ist, sich anzueignen. Jeder ist ausschließlich der Lust und der Zukunft dieser Lust verpflichtet, die das Verlangen als unendlich steigerbar erscheinen lässt. Andererseits ist das Leben im Naturzustand „kurz“; überall herrscht die Präsenz des Todes, der jeden Zustand seiner Dauer beraubt. Aber beides liegt zugleich auf gesteigerte Weise vor: das Leben und auch der Tod. In der ersten Gestalt steigert das Leben den Tod, und der Tod steigert das Leben. Dass jeder in der Lage ist, jeden anderen zu töten, erhöht und verkürzt das Leben eines jeden Einzelnen. Nicht aus der Abwesenheit, sondern aus der Präsenz des Todes geht das Leben hervor, sowie der Tod nicht von außen das Leben abbricht, sondern die unmittelbare Folge des Lebens ist. Die Gewalt, die im Naturzustand herrscht, ist weder gut noch böse, sondern beides zugleich. Das Leben schenkt den Tod; und der Tod schenkt das Leben. In dieser Gewalt ist der Unterschied zwischen guter und 83 84 85

Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 105. Ebd. S. 107. In analoger Weise hat Sigmund Freud das Unbewusste als zeitlosen Ort konstruiert, an dem es „nichts Negatives, keine Verneinung“ gibt: „Gegensätze fallen in ihm zusammen“. Das Unbewusste ist der Naturzustand eines jedes Einzelnen, an dem, wie Freud sagt, der „Urmensch“, der „Mensch der Vorzeit“ unverändert fortlebt. Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Studienausgabe, Bd. IX, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, Frankfurt/M. 1989, S. 35–60 (hier: S. 56). Zu den systematischen Parallelen bei Hobbes und Freud vgl. Elmar Waibl: Gesellschaft und Kultur bei Hobbes und Freud, Wien 1980.

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böser Gewalt ununterscheidbar, sodass diese Gewalt sowohl abstoßend als auch anziehend wirken kann. Während im tragischen Fall des Sündenbocks diese Heterogenität der ersten Gestalt wiederholt und abgesondert wird, um die indifferente Gewalt in eine gute und eine böse zu transformieren, weist der Hobbessche Naturzustand die Ursprungsgewalt als die Gewalt aller aus.86 Deshalb muss die Transformation dieser Gewalt auch von allen ausgehen und alle in die Transformation einbeziehen können. Der monströse Doppelgänger des Anfangs erscheint aus diesem Grund nun als ein dauerhafter Zustand des neuen Gemeinwesens. Die sich im Naturzustand verzehrende Menge muss sich selbst repräsentieren, um die Gewalt von sich selbst zu unterscheiden. Der monströse Doppelgänger, als den Hobbes den neuen Staat in der Figur des Leviathans begriffen hat, ist die Verdoppelung der Menge, mit der sich die Gründungsgewalt aller von allen absondert.87 Die Gründung der Gemeinschaft in der Gewalt der Menge zwingt diese Menge zur Selbstdifferenz in der Repräsentation ihrer selbst. Jeder muss sich in der Personifikation des Souveräns selbst verdoppeln, um die katastrophale Gewalt von sich selbst abzusondern. In dieser Hinsicht sind „die Voraussetzungen bei einer Monarchie und einer Demokratie gleich“.88 Der Absolutheit der von allen geteilten Ursprungsgewalt entspricht die Absolutheit der Absonderung dieser Gewalt in der Personifikation des Souveräns. Deswegen handelt es sich bei der Repräsentation der Menge durch den Souverän nicht um eine Stellvertretung, die von oben an die Stelle der Menge tritt und deren Institution die Präsenz der Menge absorbiert, sondern in der sich die Menge selbst darstellt. Die Gewalt der Menge unterscheidet sich von sich selbst, indem sie sich im Souverän selbst präsentiert. In diesem Sinne ist das politische Problem der Repräsentation eine Folge der Begründung des modernen Staates in der Gewalt aller. Die Korrespondenz zwischen der ersten Gestalt und der Figur des Opfers fällt dabei insofern zusammen, als sie der imaginären Lösung ihrer Gleichzeitigkeit zugeführt wird. Erst die Verdoppelung der Menge erlaubt es, der Menge in der Gestalt des Souveräns den Tod zuzurechnen, der das Leben der Menge in der Gestalt der Untertanen dieses Souveräns schenkt. In der Personifikation des Souveräns erscheint jeder als von der Gewalt des Todes mit dem Leben beschenkt.89 Während 86

87 88 89

G. W. F. Hegel hat das deutlich gesehen, wenn er das „Chaos im Sittlichen“ als den absoluten Anfang im neuzeitlichen Naturrecht aufdeckt. G. W. F. Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, Werke in 20 Bd. auf der Grundlage der Werke von 1832– 1845, Bd. 2, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, S. 434–530 (hier: S. 444f). In diesem Sinne kann der Souverän dann als ein einziger „übriggebliebener Wolf“ erscheinen. Vgl. Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1961, S. 174. Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 149. Elias Canetti hat den „Augenblick der Macht“ mit dem „Augenblick des Überlebens“ identifiziert, in dem der Lebende den liegenden Toten gegenübertritt: „Hilflos liegen die Toten, unter ihnen steht aufgerichtet er, und es ist, als wäre die Schlacht geschlagen worden, damit er überlebt. Der Tod ist von ihm auf die anderen abgelenkt worden. Nicht daß er die Gefahr gemieden hätte. Mitten unter seinen Freunden hat er sich dem Tod gestellt. Sie sind gefallen. Er steht und prahlt.“ Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt/M. 1980, S. 268. In der Gestalt des großen Menschen, die das aus Menschen gebildete Leviathan-Monster darstellt, sehen sich alle als Überlebende.

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im Naturzustand das eigene Leben unmittelbar aus dem Tod des anderen hervorgeht, geht nun das Leben aller aus der Gewalt aller hervor. In der imaginären Gleichzeitigkeit der Menge als Untertanen, die ihr Leben ohne die Präsenz des Todes führen, und der Menge als Souverän, der die Todesmacht repräsentiert, ist das Paradox vom unvermeidlichen-vermeidbaren Tod, das dem politischen Denken bei Hobbes zugrunde liegt, durch die Verdoppelung der Menge entzerrt. Bei der souveränen Linie zwischen der Sphäre des Todes und der Sphäre des Lebens handelt es sich daher um die gleiche mediale Linie, die den doppelten Körper der Menge beschreibt. Im Unterschied zur politisch-theologischen Lehre von den zwei Körpern des Königs geht diese Verdoppelung nicht mehr von einer im Königskörper sichtbaren Transzendenz aus, sondern von der Ermöglichung einer Perspektive, in der sich die Menge selbst in der Position der Allmacht wiedererkennen kann,90 die es vermag, den jederzeit drohenden Tod in zukünftiges Leben umzuwandeln. Weil jeder als Urheber des Souveräns erscheinen soll, muss schließlich auch jeder selbst zum Urheber des zweiten Körpers der Menge werden können. Die Souveränität bürgerlicher Prägung ist deshalb maßgeblich von einer Bildpolitik abhängig, die sich nicht mehr in der Inszenierung eines den Tod überdauernden Königskörpers erschöpfen kann, sondern die solche Prinzipien der Wahrnehmung generieren muss, anhand derer sich jeder als Urheber des Gemeinwesens begreifen kann. Diese in Form einer Theorie der Wahrnehmung instituierte Bildpolitik muss ein Verhältnis der Untertanen zu sich selbst ermöglichen, das jeden in die Lage versetzt, sich im Souverän als Urheber seiner selbst ansehen zu können: „Aber durch diese Gründung eines Gemeinwesens ist jeder einzelne Urheber aller Handlungen des Souveräns; und wer sich über Unrecht von seiten seines Souveräns beschwert, beschwert sich folglich über etwas, dessen Urheber er selbst ist, und sollte deshalb niemanden als sich selbst anklagen und sich selbst auch nicht, weil es unmöglich ist, sich selbst Unrecht zuzufügen.“91 Das Selbstverhältnis jedes Einzelnen, das die perzeptive Verdoppelung der Menge erzeugt, ist daher erst dann wieder aufgelöst, wenn die souveräne Linie zwischen der Sphäre des Todes und der Sphäre des Lebens nicht mehr gezogen werden kann: „Wenn deshalb der Souverän einem (zwar gerechterweise verurteilten) Menschen befiehlt, sich selbst zu töten, zu verletzen oder zu verstümmeln oder jenen, die ihn angreifen, keinen Widerstand zu leisten oder auf Nahrung, Luft, Arznei oder etwas anderes Lebensnotwendiges zu verzichten, hat dieser Mensch doch die Freiheit, nicht zu gehorchen.“92 In dem Moment, in dem sich der Untertan in der souveränen Personifikation nicht mehr als mit dem Leben beschenkt sehen kann, wird die imaginäre Lösung des Paradoxes vom unvermeidlichenvermeidbaren Tod sofort unwirksam. Der Einzelne befindet sich dann wieder unmittelbar im Naturzustand, und die herrschende Macht, die ihn bedroht, tritt ihm als eine fremde Gewalt gegenüber. Wo vorher der Souverän als ein Wandler der Sphäre des Todes 90

91 92

Vgl. dazu Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft (Anm. 55), S. 177: „Besteht das zu lösende Problem in der Sistierung narzißtischer Rivalität, des unentscheidbaren Kampfs um die imaginäre Position der Allmacht, so besteht der Gesellschaftsvertrag vorrangig in der kollektiven Übertragung dieses für jedes Subjekt individuellen Bezugs zur Allmacht auf einen fiktiven Dritten, der sich erst durch diese und in dieser Übertragung als souveräne Macht konstituiert.“ Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 149f. Ebd. S. 184.

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in die Sphäre des Lebens erschien, tritt die gleiche Macht nun wieder als eine bloße Herrschaftsgewalt in Erscheinung. In diesem Moment gibt es zwischen der Gründungsgewalt und der im Souverän abgesonderten Gewalt keinen Unterschied mehr.93 – Das bildpolitische Programm, das Hobbes in Frontstellung zur Inszenierungspolitik einer politischen Theologie formuliert, bestimmt deshalb den Bildraum als einen szenischen Raum der mentalistischen Wiedererkennung, in dem sich jeder wie in einem Spiegel als sich selbst gegenwärtiger Urheber einer Erscheinungswelt zu betrachten hat, die zugleich fremd und vertraut ist. Weil die Entscheidung über die Souveränität in letzter Instanz die Entscheidung über die Selbstpräsenz der Menge ist,94 kommt der Bildpolitik die komplexe Aufgabe zu, die Gewalt, an der jeder Anteil hat und die der Grund dafür ist, dass in solchen Gemeinwesen, in der jeder auf diesem Anteil besteht, auch jeder „gleichsam ständig am Rande der Schlacht“95 lebt, im Souverän von sich selbst zu unterscheiden. Denn sobald sich diese Gewalt nicht mehr mittels der medialen Verdoppelung absondern lässt, erscheint die Gründungsgewalt sofort wieder als eine Gewalt, die weder gut noch böse ist.

6.

Die Selbstpräsenz der Menge

Weil sich das Geheimnis der Macht nicht mehr in einem übernatürlichen Körper manifestiert, aus der sich die Legitimität der Herrschaft ableitet, sondern im Gegenteil auf einer Verdrängung des Ursprungszusammenhangs beruht, kann Hobbes die konsequente Behauptung aufstellen, dass es für die Prinzipen der Wahrnehmung dieser Macht letztlich keinen Unterschied macht, ob das Gemeinwesen durch Einsetzung oder aber durch Aneignung zustande gekommen ist. In beiden Fällen geht es darum, die Fremdheit der Gewalt in eine Intimität der Macht umzuwandeln. Erst durch die Anerkennung der Herrschaft wird aus der Gewalt eine souveräne Macht. In beiden Fällen wird die Legitimität der Herrschaft nicht von den Linien der Herkunft abgeleitet, sondern erst von der Wiedererkennung der Untertanen in der souveränen Macht generiert.96 Am scheinbar einfachsten Verhältnis, das Hobbes zu den Fällen der Aneignung rechnet, nämlich am Verhältnis zwischen Vater und Kind, am Beispiel der Familie, wird das besonders 93

94

95 96

Vgl. dazu ebd., Kapitel XIV, S. 117: „Ein Vertrag, mich gegen Gewalt nicht mit Gewalt zu verteidigen, ist immer nichtig. [...] Denn obgleich ein Mensch vereinbaren kann: Wenn ich dies oder jenes tue, töte mich, kann er nicht vereinbaren: Wenn ich dies oder jenes tue, will ich keinen Widerstand leisten, wenn du mich tötest.“ Vgl. dazu Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft (Anm. 33), S. 113, der die Frage, worüber die Menschen im Gesellschaftsvertrag entscheiden, aus imagologischer Sicht beantwortet: „Weniger darüber, ob sie jemandem – oder mehreren – einen Teil ihrer Rechte oder ihrer Macht abtreten. Sie entscheiden im Grunde nicht einmal darüber, ob sie jemandem – der auch mehrere oder eine Versammlung sein kann – das Recht, sie zu repräsentieren, vollständig und integral zugestehen. Es geht nicht um ein Verhältnis des Überlassens oder Abtretens von etwas, das den Individuen gehört, sondern um die Selbstrepräsentation der Individuen.“ Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 151. Zum imagologischen Problem der Wiedererkennung vgl. Leander Scholz: Die Position des Subjekts (Sichtbarkeit/Sagbarkeit), in: Wilhelm Voßkamp/Brigitte Weingart (Hg.): Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse, Köln 2005, S. 46–70.

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deutlich: „Und es ist nicht so sehr von der Zeugung abgeleitet, als ob der Vater deshalb die Herrschaft über das Kind besitzt, weil er es gezeugt hat, sondern von der Zustimmung des Kindes, entweder ausdrücklich oder durch andere hinreichende Zeichen.“97 Erst in dem Moment, in dem das Kind „ausdrücklich oder durch andere hinreichende Zeichen“ der Macht des Vaters zustimmt, wird aus der Gewalt eine souveräne Macht. Herrschaft wird nicht durch die Überlegenheit der Stärke erworben, sondern durch die Zustimmung des Unterworfenen, der „den Anfang macht“, indem er „sich dem Sieger unterwirft“.98 Nicht der Besitz eines Kindes, eines Sklaven oder eines Gefangenen verleiht Macht, sondern die Erklärung des Unterlegenen zum Untertanen dieser Macht.99 Auf welche Weise die Herrschaft auch immer in der Vergangenheit zustande gekommen sein mag, souverän wird sie erst durch die Präsenz „hinreichender Zeichen“. Die mediale Inszenierung der Macht gilt nicht mehr ihrer Legitimation durch den Nachweis ihrer rechtmäßigen Herkunft, sondern ihrer Erzeugung durch die Wahrnehmung ihrer Zuwendung. Im Unterschied zu Aristoteles kann Hobbes deshalb die Herrschaft über eine Familie mit der Herrschaft über ein Königreich vergleichen und die Familie „eine kleine Monarchie für sich“100 nennen. Was einem Königreich und der Familie gemeinsam ist, betrifft nicht das Hervorgehen des Königreichs aus der Familie, sondern den Umstand, dass beide in gleicher Weise künstlich sind. Weil es außerhalb der durch die intime Gegenwart der Macht gestifteten Ordnung überhaupt keine natürliche Ordnung gibt, existiert für Hobbes selbst die Familie nur innerhalb dieser Gegenwart. – Im Naturzustand gibt es Frauen, die Kinder gebären und besitzen, oder Männer, die Kinder in ihren Besitz bringen, aber keine Familien: „Wenn ein Sohn seinen Vater getötet hat, hat er dann an dem Vater nicht Unrecht getan? Ich habe geantwortet, daß man von einem Sohnesverhältnis im Naturzustande nicht sprechen kann, da, sobald jemand geboren ist, er in der Gewalt und unter der Herrschaft dessen ist, dem er seine Erhaltung verdankt, also entweder unter der Herrschaft seiner Mutter oder seines Vaters oder dessen, der ihm Unterhalt gibt, [...].“101 Die Familie ist für Hobbes keine natürliche Gemeinschaft, sondern verdankt sich der Wirkung einer Selbstrepräsentation, in der sich die Rollen von Vater und Kind spiegelbildlich ableiten. Das Kind wird erst dadurch zum Kind, dass sich der Vater ihm zuwendet; und umgekehrt wird der Vater erst dadurch zum Vater, dass sich das Kind ihm zuwendet. Die Person des Vaters ist in der des Kindes enthalten, und die Person des Kindes in der Person des Vaters. Die „hinreichenden Zeichen“ bedeuten, dass die eigene Präsenz in die Präsenz des anderen eingetragen wird, sodass die Selbstrepräsentationen des Kindes im Vater und des Vaters im Kind allererst das „Sohnesverhältnis“ stiften. Mit der Geschlossenheit dieser medialen Szene wird das Zu97 98 99

100 101

Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 169. Ebd. S. 151. Friedrich Nietzsche hat in diesem Sinne nicht die Situation der Macht, sondern die der Ohnmacht als „Mutterschoß idealer und imaginativer Ereignisse“ analysiert: „Was wäre denn ‚schön‘, wenn nicht erst der Widerspruch sich selbst zum Bewußtsein gekommen wäre, wenn nicht erst das Häßliche zu sich selbst gesagt hätte: ‚ich bin häßlich‘? ...“. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 326. Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 173. Hobbes: Vom Menschen/Vom Bürger (Anm. 36), S. 82, Anm.

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standekommen der Herrschaft von ihrer Legitimität vollständig entkoppelt. Solange sich beide in einem gemeinsamen Bildraum sehen können, ist die künstliche Gemeinschaft sichergestellt. Ein anderes aufschlussreiches Beispiel ist die Unterscheidung zwischen Sklave und Knecht, die Hobbes im Zusammenhang einer durch Aneignung erworbenen Herrschaft diskutiert: „Und diese Herrschaft erwirbt der Sieger dann, wenn der Besiegte, um den sofortigen Todesstoß zu vermeiden, ausdrücklich oder durch andere hinreichende Zeichen des Willens mit ihm übereinkommt, daß der Sieger, solange ihm sein Leben und die Freiheit seines Körpers zugestanden wird, davon nach Belieben Gebrauch machen soll. Und nach Abschluß solches Vertrages ist der Besiegte Knecht und nicht vorher; [...].“102 Um den „sofortigen Todesstoß“ zu vermeiden, erklärt sich der Besiegte zum Knecht und erhält dafür im Gegenzug sein durch den Herrn bedingtes Leben. Die „hinreichenden Zeichen“ binden den Knecht derart an den Herrn, dass sich der Besiegte in der Anerkennung des Herrn als seinen Herrn selbst erhält. Mit dieser Eintragung des Knechts in den Herrn verwandelt sich die Todesdrohung in eine Lebensstiftung durch denselben: „Daher verleiht nicht der Sieg das Recht auf Herrschaft über den Besiegten, sondern dessen eigener Vertrag.“103 Hobbes verweist in Klammern auf eine möglicherweise bestehende etymologische Verwandtschaft von „servire, dienen“ und „servare, retten“, was zumindest indirekt noch einmal nahe legen soll, dass die Rettung nicht von der Gnade des Herrn ausgeht, sondern von der Selbstpräsenz des Knechts im Herrn: „Denn dieser hat sein Leben von seinem Herrn durch den Vertrag des Gehorsams erhalten, das heißt, daß er alle Handlungen seines Herrn als seine eigenen anerkennt und ihm dafür Ermächtigung gibt.“104 Während der Vertrag die Todesdrohung des Herrn maskiert, ist die Situation des Sklaven vollkommen verschieden. Zwar ist auch der Sklave dem „sofortigen Todesstoß“ entgangen, da er „in Gewahrsam oder in Ketten gehalten wird“. Aber im Unterschied zum Knecht unterwirft sich der Sklave lediglich der überlegenen Gewalt des Herrn: „Denn Sklaven, die in Gefängnissen oder in Ketten arbeiten, tun das nicht, weil sie dazu verpflichtet sind, sondern um der Grausamkeit ihrer Aufseher zu entgehen.“105 In beiden Fällen stellt die Todesdrohung die Existenzbedingung des weiteren Lebens dar. Während der Sklave jedoch im Realen dieser Existenzbedingung lebt, hat der Knecht im Sinne von Althusser ein „imaginäres Verhältnis“ zu seinen „realen Existenzbedingungen“.106 Das Leben des Knechts ist insofern maßgeblich von 102 103 104 105 106

Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 171. Ebd. S. 172. Ebd. S. 172. Ebd. S. 172. Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anm. 63), S. 133. Zu Althussers Auseinandersetzung mit der Anerkennungs-Problematik bei Hegel und den jeweiligen Differenzen vgl. Robert Pfaller: Althusser. Das Schweigen im Text. Epistemologie, Psychoanalyse und Nominalismus in Louis Althussers Theorie der Lektüre, München 1997, S. 98–106. Robert Pfaller hat im Anschluss an Althusser zwei gesellschaftliche Formen der phantasmatischen Selbstaneignung unterschieden, bei denen auf retroaktive Weise der uneinholbare Ursprung der Gesellschaft, die stets schon vor ihren Gründungsakten als solche Bestand hat, besetzt wird: „Möglicherweise können hier zwei Typen dieses Phantasmas unterschieden werden: Der Typ ‚So wie jetzt war es immer schon und wird es immer sein‘, der für traditionale Gesellschaften charakteristisch scheint, und

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diesem imaginären Verhältnis bestimmt, als dieser allein dadurch zu einem Subjekt der symbolischen Ordnung wird, während „solche Menschen“, die man Sklaven nennt, „keinerlei Verpflichtung“ haben, sondern „gerechterweise ihre Ketten oder ihr Gefängnis aufbrechen und ihre Herren töten oder gefangen nehmen und verschleppen“ können.107 In beiden Fällen geht es um die Anordnung des Lebens um den Herrensignifikanten „Tod“, dessen imaginäre Verdrängung im Falle des Knechts diesen keineswegs beseitigt, sondern einhüllt. Denn auch für den Knecht stellt die Todesdrohung den realen Hintergrund seiner Existenz dar. Ob im Falle des Kindes, das sich nicht selbst erhalten kann,108 oder im Falle des Besiegten, der den Sieger als seinen Herrn anerkennt, oder im Falle des Gemeinwesens durch Einsetzung, immer scheint der Vertrag dazu zu dienen, die Todesdrohung, die am Anfang aller dieser Formen der Gemeinschaft steht, auf eine imaginäre Weise aufzuheben. Immer geht die Einsetzung der symbolischen Ordnung von der Position der Ohnmacht aus, die mittels einer imaginären Identifikation mit der Position der Macht in diese eingetragen wird. In allen diesen Fällen instituiert der Vertrag ein Spiegelverhältnis, durch das die Position der Ohnmacht in der Position der Macht repräsentiert wird.109 Egal auf welche Weise das Gemeinwesen tatsächlich zustande gekommen ist, am Anfang des Gemeinwesens steht stets die Gewaltsamkeit des Todes, die auch dann noch als das Reale der Gemeinschaft wirksam bleiben muss, wenn der Ursprung dieser Gemeinschaft in der Identifikation mit seiner imaginären Verdrängung abgesondert erscheint. Die Souveränität besetzt den Herrensignifikanten „Tod“ auf eine Weise, dass sie sich nicht wie im Falle des Herrensignifikanten „Gott“ davon ableitet und dementsprechend wie Gott die Macht über Leben und Tod ausübt, sondern indem sie in der Verdrängung dieses Herrensignifikanten die Identifikation mit einer Macht ermöglicht, in der sich jeder selbst sein Leben zu geben fähig ist. Aber gerade in dieser Verdrängung bleibt das Subjekt der symbolischen Ordnung insofern auf das Reale dieser Ordnung bezogen, als es, den wirklichen Hintergrund seiner Existenz abschirmend, sich selbst als autopoietisch wahrnehmen können muss. Diese Abschirmung basiert auf einer Bildpolitik, die die Urheberschaft der Bilder ausschließlich in der Vorstellungswelt

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der Typ ‚Wir haben uns selbst durch harte Arbeit der Übereinkunft aus der Barbarei des Naturzustandes befreit‘, kennzeichnend für die bürgerliche Gesellschaft.“ (S. 244, Anm.) Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 171. Auch für Lacans Konstruktion des entwicklungspsychologischen Spiegelstadiums ist die „motorische Ohnmacht und Abhängigkeit“ des Kindes die entscheidende Voraussetzung für die „beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung“. Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: ders.: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, übers. v. Rodolphe Gasché, Norbert Haas, Klaus Laermann u. Peter Stehling, Weinheim/Berlin 1986, S. 61–70 (hier: S. 64). Zu Lacans Bildtheorie unter den Prämissen von Macht und Ohnmacht vgl. Claudia Blümle/ Anne von der Heiden: Blickzähmung und Augentäuschung. Einleitung, in: dies. (Hg.): Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacan Bildtheorie, Zürich/Berlin 2005, S. 7–42. Vgl. dazu die grundsätzliche Kritik an Lacan bei Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution (Anm. 7), S. 12: „Das Imaginäre geht nicht vom Bild im Spiegel oder im Blick des anderen aus. Vielmehr ist der ‚Spiegel‘ selbst, seine Möglichkeit, der andere als Spiegel, erst Wirkung des Imaginären, das eine Schöpfung ex nihilo ist. [...] Das Imaginäre, von dem ich spreche, ist kein Bild von. Es ist unaufhörliche und (gesellschaftlich-geschichtlich und psychisch) wesentlich indeterminierte Schöpfung von Gestalten/Formen/Bildern, die jeder Rede von etwas zugrunde liegt. Was wir ‚Realität‘ und ‚Rationalität‘ nennen, verdankt sich überhaupt erst ihnen.“

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derjenigen Subjekte zu lokalisieren lehrt, die im gleichen Moment den Existenzbedingungen des Realen unterworfen sind. Wenn der „natürliche Keim“ der Religion dort zu suchen ist, wo nach der ersten Ursache und nach den letzten Dingen gefragt wird, dann darf diese Frage für das neue Gemeinwesen deshalb keine Rolle mehr spielen, weil die Antwort darauf auf einen anderen Urheber führen könnte als auf die Autopoiesis der gleichermaßen dem Realen angehörenden Subjekte. Was die Römer „imagines und umbrae“ genannt haben, kann für Hobbes daher nichts anderes sein als „Geschöpfe ihrer Einbildung“,110 die nicht mehr auf „unsichtbare Urheber“, sondern auf die Subjekte dieser Einbildung verweisen. Bevor Hobbes im letzten Teil des Leviathan seine mentalistische Bildtheorie entfaltet, die das Subjekt der symbolischen Ordnung in den autopoietischen Augenblick seiner Identifikation mit dieser Ordnung einschließt, muss er daher zunächst sicherstellen, dass die Gegenwart dieser Ordnung von keinem anderen Realen bestimmt wird als von der Herrschaft des Todes. In der Zeit der göttlichen Offenbarung mag es ein „Königreich Gottes“ gegeben haben, das sich unmittelbar auf den Herrensignifikanten „Gott“ beziehen konnte, aber dieses Königreich wird erst wieder anbrechen, wenn Christus ein zweites Mal auf die Erde kommt: „Da dieses zweite Kommen noch nicht stattgefunden hat, ist das Königreich Gottes noch nicht gekommen, und wir unterstehen jetzt keinen anderen Königen durch Vertrag als unseren staatlichen Souveränen; [...].“111 So lange das „Königreich Gottes“ suspendiert und auf das Ende aller Zeiten verschoben ist,112 ist das Jetzt, in dem wir leben, ein Jetzt, in dem Gott fehlt und ein Tod herrscht, der endgültig ist. Sowohl die Vergangenheit einer göttlichen Offenbarung als auch ihre mögliche Zukunft darf für das Jetzt der Lebenden keine Rolle spielen. Denn auch wenn Gott am Ende aller Zeiten die Toten wieder zum Leben erwecken wird, dann nur aufgrund seiner Macht und nicht weil es ein „ewiges Leben“ oder eine „Unsterblichkeit der Seele“ gibt: „Diese ganze Lehre ist nur auf einige der weniger verständlichen Stellen des Neuen Testaments begründet, die dennoch, wenn man das gesamte Ziel der Schrift in Betracht zieht, in anderem Sinne klar genug und unnötig für den christlichen Glauben sind. Denn angenommen, daß, wenn ein Mensch stirbt, nichts von ihm bleibt als sein Kadaver, kann Gott, der unbelebten Staub und Lehm durch sein Wort zu einer lebendigen Kreatur erweckte, nicht ebenso leicht einen toten Kadaver zum Leben erwecken und ihn ewig am Leben erhalten oder ihn durch ein anderes Wort wieder sterben lassen? Die Seele bezeichnet in der Heiligen Schrift stets entweder das Leben oder die lebendige Kreatur und Körper und Seele zusammen den lebendigen Körper.“113 Im Jetzt der Zwischenzeit tritt an die Stelle der Unterscheidung von Leben und Tod, die in der Ewigkeit Gottes sowohl ihre Differenz als auch ihre Einheit hat, eine Unterscheidung zwischen den lebendigen Körpern und den toten Kadavern, bei der die Lebenden im Körper des Souveräns auf absolute Wei110 111 112

113

Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 90. Ebd. S. 511. Vgl. dazu ausführlich Klaus-Michael Kodalle: Thomas Hobbes – Logik der Herrschaft und Vernunft des Friedens, München 1972, S. 98: „Seine ganze differenzierte Bibelkenntnis wird von Hobbes aufgewandt, um zu belegen, daß die Königsherrschaft Christi erst mit dem Ende aller Zeiten, dem biblischen Jüngsten Gericht, anbricht.“ Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 518.

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se von den Toten außerhalb dieses Körpers geschieden sind, sodass die Toten die Toten bleiben und die Lebenden nicht mehr heimsuchen können. Für jede andere Verbindung zwischen dem Reich der Toten und dem Reich der Lebenden hat Hobbes nur den Namen der „Dämonologie“ übrig, die von der heidnischen Religion der Antike bis hin zur katholischen Kirche die Anbetungs- und Verehrungspraxis der Bilder beherrscht: „Aber beide sind sich einig über ihre allgemeine Bezeichnung als Dämonen. Als ob die Toten, von denen sie träumten, nicht Bewohner ihres eigenen Hirns wären, [...].“114 Da den Bildern jedoch kein anderes Sein mehr zukommen soll als das, was der Selbstbeziehung der Subjekte entspringt, muss die Anwesenheit der Toten auf die Erinnerung und das zunehmende Verblassen dieser Erinnerung eingeschränkt werden. Bilder sind deshalb für Hobbes zunächst Abbilder von etwas Sichtbaren, die nur dadurch zu Vorstellungen werden, dass „das Objekt abwesend“ ist.115 Die komplexe Problematik dieser Abwesenheit besteht allerdings darin, Bilder auch dann noch als „allein von unserer Phantasie abhängige Dinge“ verstehen zu können, wenn diese etwas zeigen, was in keinerlei direktem Zusammenhang mehr mit einer Sichtbarkeit steht. Deswegen sieht sich Hobbes genötigt, die Definition des Bildes um eine zeichentheoretische Dimension zu erweitern, die es erlaubt, Bilder auch in einem solchen Fall noch als Abbilder zu begreifen, wenn diese nicht mehr auf etwas unmittelbar Sichtbares referieren: „Und so ist ein Bildnis im weitesten Sinne entweder ein Ebenbild oder die Repräsentation von etwas Sichtbarem oder beides zusammen, wie es meistens geschieht.“116 Die Präsenz, die Bilder repräsentieren, soll allein die Präsenz von solchen Vorstellungen sein, die sich auf ein Subjekt dieser Vorstellungen zurückführen lassen.117 An die Stelle jeder magischen Aufladung dieser Präsenz zu einer Selbstpräsenz der Bilder muss deshalb ein durchgängig bestimmter Verweiszusammenhang treten: „Die Worte Das ist mein Leib entsprechen den Worten Das bedeutet oder repräsentiert meinen Leib; und es ist eine gewöhnliche Redefigur: aber es wörtlich aufzufassen ist ein Mißbrauch; und wenn man es schon so auffaßt, kann es sich nicht weiter erstrecken als auf das Brot, das Christus mit eigenen Händen weihte.“118 Die nach dem eucharistischen Modell aufgeladenen Kultbilder müssen daher durch solche wahrnehmungstheoretisch eingehegten Bilder ersetzt werden, in denen die Urheberschaft durch ein Subjekt gegeben ist, das sich in seiner eigenen Vorstellung als einer Vorstellung von etwas immer selbst präsent ist.119 Damit die Intimität einer Macht, die allein auf der Selbstrepräsentation der ge114 115 116 117

118 119

Ebd. S. 537. Ebd. S. 546. Ebd. S. 547. Zur bildtheoretischen Problematik, dass sich diese Selbstreferenz dem Fetisch-Status eines Bildraums im Sinne von Sigmund Freud verdankt, der keinen unmittelbaren Referenten hat, sondern etwas sowohl erinnert als auch abwehrt, vgl. das Kapitel Das „moy premier“ als Fetisch bei Friedrich Balke: Figuren der Souveränität, München 2009, S. 323–333 (hier: S. 332): „Der Leviathan ist jenes Bild, auf das immer wieder zurückgegriffen werden kann, um sich über den Mangel an guter oder natürlicher Ordnung hinwegzutrösten. Er verspricht ja nichts Geringeres, als die Ordnung unter den Bedingungen ihrer grundsätzlichen, ontologischen Abwesenheit zu garantieren.“ Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 516 Vgl. dazu Bernd Ludwig: Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Zu Thomas Hobbes’ philosophischer Entwicklung von De Cive zum Leviathan im Pariser Exil 1640–1651,

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genwärtig Lebenden in der Präsenz der souveränen Macht basieren soll, sichergestellt werden kann, müssen alle anderen Quellen der Repräsentation, die auf eine andere Weise in die Gegenwart der Subjekte hineinreichen könnte, zurückgewiesen werden. Die Anrufungsszene der Menge als große Menschengestalt muss alle anderen Formen der Repräsentation besetzen, die in Konkurrenz zu derjenigen Autorität treten könnten, in der sich die Subjekte als Urheber ihrer selbst wiedererkennen sollen. Das eigenmächtige Sein der Bilder darf nicht mehr durch den ihnen innewohnenden Herrensignifikanten „Gott“ als verbürgt angesehen werden, was Hobbes als „Götzendienst“ diffamiert, sondern muss zu einem ausschließlich durch die Wahrnehmung gestifteten Sein werden,120 das in letzter Instanz auf einer Selbstwahrnehmung der ihrer Endlichkeit ausgelieferten Subjekte beruht: „Aber Gott verehren, weil er solch Bildnis oder solchen Ort beseele oder bewohne, das heißt eine unendliche Substanz an einem endlichen Ort verehren, ist Götzendienst; [...].“121 Wie die Logik des Gesellschaftsvertrags, der sich nicht mehr von einem natürlichen oder göttlichen Gesetz ableitet, eine notwendige Selbstwahrnehmung der Einzelnen als rückhaltlos Sterbliche impliziert, so basiert das Programm einer mentalistischen Reduktion der Bilder, in dem Hobbes den erkenntnistheoretischen Vorgaben von René Descartes folgt, auf einer Gewissheit, die nicht mehr auf einem unbezweifelbaren Herrensignifikanten „Gott“ gegründet ist. – Richard Rorty hat die „Erfindung des Mentalen“, die sich unter der philosophischen Hinsicht einer Erkenntnistheorie im 17. Jahrhundert ereignet, als Zuschreibung der Gewissheit zu einer neuen Instanz rekonstruiert, „für die Unbezweifelbarkeit nicht mehr Merkmal des Ewigen ist, sondern etwas kennzeichnet, für das die Griechen keinen Namen hatten – Bewußtsein“.122 Während im Anschluss an Platon bis dahin die traditionelle Auffassung Gültigkeit besaß, „nur das Ewige könne mit Gewißheit erkannt werden, substituierte Descartes für ‚Unbezweifelbarkeit‘ als einem Merkmal ewiger Wahrheiten das Merkmal der ‚klaren und deutlichen Wahrnehmung‘, d. i. jener nichtverworrenen Erkenntnis, die man im Durchgang durch einen Prozeß der Analysis erwarb“: „Hierdurch konnte Unbezweifelbarkeit allererst zum Kriterium des Mentalen werden.“123 Während eine solche Gewissheit, die auf der Ewigkeit Gottes basiert, im doppelten Körper des Königs evident werden muss, verkörpert der „sterbliche Gott“ Leviathan die Gewissheit des Todes, in der sich die Sterblichen auf eine Weise selbst präsent sind, indem sie sich im Leviathan von diesem

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Frankfurt/M. 1998, S. 50–62 (hier: S. 165), der die Hobbessche Wahrnehmungstheorie als ein „sensualistisches (bzw. phaenomenalistisches) Substitut“ der aristotelischen Ontologie im Hinblick auf die Transzendentalphilosophie Immanuel Kants rekonstruiert: „Sie ist die Lehre von den (Namen der) Vorstellungen, die – als Teilvorstellungen – in jeder Vorstellung von Dingen enthalten sind, kurz: die Lehre von den Vorstellungen als Vorstellungen von etwas.“ Zur politisch-theologischen Umschrift des eucharistischen Modells der Repräsentation zugunsten einer absolutistischen „Macht der Repräsentation“ vgl. ausführlich Louis Marin: Das Porträt des Königs, übers. v. Heinz Jatho, Zürich/Berlin 2005, S. 14f.: „Unsere Arbeit versucht, in diesem philosophischen Rahmen, ein Porträt des Königs (eine Repräsentation der Macht) herzustellen, ein Porträt, welches der Monarch selbst wäre (die Macht als Repräsentation).“ Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 549. Richard Rorty: Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, übers. v. Michael Gebauer, Frankfurt/M. 1987, S. 72. Ebd. S. 73.

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Tod abwenden. Die Macht des Leviathans besteht daher nicht darin, die Todesdrohung aufzuheben, sondern sie auf diese Weise gewiss zu machen, sodass es außerhalb seines Körpers kein Überleben gibt. Nicht nur in diesem Punkt geht Hobbes weit über die Souveränitätskonzeption von Jean Bodin hinaus, der den gewalttätigen Anfang des Staates im rivalisierenden Kampf einzelner Familien begründet sieht und deshalb ein vorstaatliches Leben im Familienbund voraussetzen muss: „Und wie das Fundament für sich ohne das Haus bestehen kann, so kann auch eine Familie ohne Bürgergemeinde oder Staat existieren [...].“124 Im Gegensatz dazu besteht die Gewissheit des Todes, die der Leviathan verkörpert, darin, dass niemand außerhalb seines Körpers dauerhaft existieren kann. Auf dieser imaginären Gleichzeitigkeit, in der die Selbstgewissheit eines jeden Einzelnen zugleich aus dem Bezug auf den eigenen Tod und der Abwendung von diesem Tod im Leviathan resultiert, gründet sich das neue Wissen der Macht, das alle teilen und das, um wirksam sein zu können, die Form eines Unwissens annehmen muss. Aus diesem Grund kann Hobbes eine Vertragstheorie formulieren, in der sich jeder als Urheber der Gesellschaft wissen soll, und zugleich dem Leser mitteilen, dass es „kaum ein Gemeinwesen auf der Welt gibt, dessen Anfänge sich vor dem Gewissen rechtfertigen lassen“.125

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Jean Bodin: Über den Staat, übers. u. hg. v. Gottfried Niedhart, Stuttgart 1976, S. 14. Hobbes: Leviathan (Anm. 30), S. 593.

III Das Gesetz der Gesetzmäßigkeit (Kant)

In seiner berühmten Abhandlung Was ist der Dritte Stand? von 1789 beschreibt Emmanuel Joseph Sieyès das Gesetz einer ständelosen Gesellschaft, in der es keine Privilegierten mehr vor diesem Gesetz geben soll, anhand eines prägnanten Bildes, das die politische Ordnung mit einer solchen geometrischen Ordnung analogisiert, die ausschließlich von Gesetzmäßigkeiten beherrscht wird: „Ich stelle mir das Gesetz als Mittelpunkt einer gewaltigen Kugel vor; zu ihm befinden sich alle Bürger auf der Kugeloberfläche ausnahmslos in derselben Entfernung und nehmen dort gleiche Plätze ein; alle sind sie gleichermaßen vom Gesetz abhängig, alle übertragen sie ihm den Schutz ihrer Freiheit und ihres Eigentums; und diese bei allen gleichen Rechte sind es, was ich die gemeinsamen Bürgerrechte nenne.“1 Im Zentrum der politischen Ordnung steht kein Souverän, dessen übernatürlicher Körper die Ewigkeit des Gesetzes garantiert. Sondern im Bild einer kugelförmigen Anordnung der Einzelnen um das Zentrum dieser Kugel wird das Gesetz zugleich als eine Gesetzmäßigkeit entfaltet, an der jeder im gleichen Maß Anteil hat.2 Die konsequente Gleichheit, die das neue Gesetz in diesem Bild verkörpert, ist nicht nur eine Gleichheit vor dem Gesetz, sodass alle die gleiche „Entfernung“ zum Gesetz haben; das Gesetz herrscht nicht nur im Zentrum der Kugel, indem es von diesem Zentrum ausgeht und alle unterschiedslos in seine Geltung einbezieht. Sondern die Konstruktion der Kugel selbst ist das Gesetz, das dafür sorgt, dass alle die „gleichen Plätze“ einnehmen, und somit erst die Form der Kugel hervorbringt, in deren Zentrum das Gesetz herrschen kann.3 Im Bild der 1

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Emmanuel Joseph Sieyès: Was ist der Dritte Stand?, in: ders.: Politische Schriften 1788–1790, übers. u. hg. v. Eberhard Schmitt u. Rolf Reichardt, Darmstadt/Neuwied 1981, S. 117–195 (hier: S. 188f). In diesem Sinne hat Jacques Derrida die Frage nach der Herrschaftsform der Demokratie als Problematik einer „Metrik“ der Gleichheit aufgeworfen. Vgl. Jacques Derrida: Das Recht des Stärkeren (Gibt es Schurkenstaaten?), in: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt/M. 2003, S. 15–158 (hier: S. 66–83). Zur europäischen Vorgeschichte der „metaphysischen Globalisierung“ vgl. Peter Sloterdijk: Globen, Sphären II, Frankfurt/M. 1999, S. 47: „Im Zeichen der geometrisch vollendeten Rundform,

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Kugel ist das Gesetz zugleich als ein Zentrum gedacht, auf das sich die Gesamtheit der Gesellschaft im Sinne eines für alle gleichermaßen geltenden Rechts beziehen kann, und als eine Gesetzmäßigkeit, bei der die kugelförmige Anordnung des Gesellschaftskörpers allererst die Möglichkeit eines Mittelpunkts hervorbringt, der von jedem Punkt dieses Körpers gleich weit entfernt ist. Das Gesetz manifestiert sich deshalb sowohl im Mittelpunkt der Kugel im Sinne einer zentralen Instanz der Gesetzgebung als auch in jedem Einzelnen auf der Kugeloberfläche als ein Subjekt, das diese zentrale Instanz ins Leben ruft. Indem das Bild der Kugel jede Exzentrik einer möglichen Positionierung dem Gesellschaftskörper gegenüber vermeidet, entwirft es das Gesetz als eine Beziehung, in der jeder so auf jeden anderen bezogen ist, dass die Linien zwischen den Einzelnen auf der Kugeloberfläche durch den Mittelpunkt des Gesetzes verlaufen. Die gesetzmäßige Beziehung, die jeder zu jedem anderen auf der Kugeloberfläche hat, ist zugleich eine Selbstbeziehung des Gesetzes, die sich der Gesetzmäßigkeit der Kugel verdankt, insofern jeder auf jeden ausschließlich durch das Gesetz bezogen ist. Denn im Mittelpunkt der Kugel steht kein souveräner Gesetzgeber, unter dem sich die gegebenen Subjekte gemeinsam versammeln. Sondern allein dadurch, dass die Subjekte die „gleichen Plätze“ einnehmen und somit die Kugelgestalt hervorbringen, werden sie selbst zu unmittelbaren Trägern einer Gesetzesmacht, die ihre eigenen Subjekte zugleich zu ihren Objekten hat.4 Aus diesem Grund kann Sieyès sagen, dass der Wille des Dritten Standes der allgemeine Wille ist, der als ein Wille der „Nichtprivilegierten“ die Fähigkeit besitzt, das Allgemeine der Gesellschaft hervorzubringen: „Es steht also fest, daß nur die Nichtprivilegierten die Fähigkeit besitzen, Wähler und Abgeordnete der Nationalversammlung zu werden. Der Wille des Dritten Standes wird für die Allgemeinheit der Bürger stets gut sein; der Wille der Privilegierten aber wäre immer schlecht, sofern sie nicht ihr Eigeninteresse aufgeben und wie einfache Bürger, also wie der Dritte Stand selbst stimmen würden; der Dritte Stand reicht also für alles aus, was man von einer Nationalversammlung erwarten kann; er allein ist somit in der Lage, all den Nutzen zu stiften, den man sich von den Generalständen versprechen darf.“5 Das Allgemeine der Gesellschaft wird nicht mehr der privilegierten Position eines weisen Gesetzgebers oder eines die allgemeinen Interessen überwachenden Standes anvertraut, sondern einem Stand, der sich dadurch auszeichnet, dass er kein Stand im Sinne von Privilegien ist. Während im Bild der Kugel jede exzentrische Position eines Privilegierten als ein Fremdkörper erscheinen muss,6 der keinen Beitrag zur Hervor-

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die wir bis heute mit den Griechen Sphäre, doch mehr noch mit den Römern Globus nennen, entfaltet und erschöpft sich die Affäre der okzidentalen Vernunft mit dem Weltganzen.“ Giorgio Agamben hat den politischen Übergang vom Untertanen zum Bürger darin gesehen, dass von nun an jeder Einzelne qua Geburt als unmittelbarer Träger der Souveränität angesehen wird. Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt/M. 2002, S. 137: „Das Prinzip der Nativität und das Prinzip der Souveränität, die im Ancien régime (wo die Geburt bloß das Vorhandensein des sujet, des Untertans, markierte) getrennt waren, vereinigen sich nun unwiderruflich im Körper des ‚souveränen Subjekts‘, um das Fundament des neuen Nationalstaates zu bilden.“ Sieyès: Was ist der Dritte Stand? (Anm. 1), S. 195. Michel Foucault hat das Auftauchen der Normalisierungsmacht daher anhand der „Problematisierung der Figur des Königs“ als Fremdkörper im Bevölkerungskörper während der Französischen

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bringung der Kugelgestalt leistet, zeichnen sich die Nichtprivilegierten dadurch aus, dass sie aufgrund ihrer gesetzmäßigen Anordnung in der Lage sind, sowohl die Kugel selbst hervorzubringen, als auch ihren Bestand zu garantieren. Denn das Bild der kugelförmigen Anordnung legt nicht nur die Gleichheit des Gesetzes nahe, sondern dass das Gesetz allein in seinem geordneten Funktionieren Bestand hat. In der Kugelgestalt lebt das Gesetz kreisförmig aus sich selbst und für sich selbst; es bedarf keiner Ableitung von einer transzendenten Macht oder von einem außerhalb der Kugel gelegenen Ursprung, aus deren jeweiliger Nähe sich erst die Privilegien der privilegierten Stände ergeben. Die Kugelgestalt selbst ist das in sich geschlossene Funktionieren des Gesetzes. In diesem Sinne ist der Dritte Stand für Sieyès kein Stand, dem eine besondere Aufgabe zukommt, wie etwa die Feldarbeit, die Handarbeit, das Gewerbe oder auch die Administration und die Organisation; sondern alle diese Leistungen, die dem Dritten Stand aufgebürdet werden, ohne dass ihm die entsprechende Anerkennung zuteil wird, sind die entscheidenden Leistungen, die zur Aufrechterhaltung der Gesellschaft notwendig sind. Der Dritte Stand ist daher der transzendentale Stand, der es erst ermöglicht, dass die Gesellschaft existiert, und von dessen Vermögen der gesellschaftliche Fortbestand abhängig ist: „Also, was ist der Dritte Stand? Alles, aber ein gefesseltes und unterdrücktes Alles. Was wäre er ohne den privilegierten Stand? Alles, aber ein freies und blühendes Alles. Nichts kann ohne ihn gehen; alles ginge unendlich besser ohne die anderen.“7 Wenn das Hervorbringen und das Aufrechterhalten der Gesellschaft immer schon die Leistung des Dritten Standes gewesen ist, dann muss nur noch gezeigt werden, dass alle anderen Leistungen, die man den anderen Ständen zurechnen könnte, entweder keine Leistungen sind oder aber genauso gut durch den Dritten Stand zustande gebracht werden können. Denn der kugelförmige Gesellschaftskörper hat kein Haupt, keine Glieder und auch keine Schamteile; die Plätze auf der Kugeloberfläche sind alle durch die gleiche Art der Funktionalität gekennzeichnet. Dass der Dritte Stand beanspruchen kann, „Alles“ zu sein, wie Sieyès immer wieder in seiner Abhandlung betont, heißt dementsprechend, dass die kugelförmige Welt des Gesetzes allein durch die Fähigkeiten und die Vermögen der arbeitenden Bürger hervorgebracht wird. In den verschiedenen Ständen, die in dieser Welt keine besondere Stellung mehr haben sollen, stehen sich deshalb nicht nur verschiedene Interessen gegenüber, die sich in einem gemeinsamen Kompromiss ausgleichen lassen könnten, sondern verschiedene Prinzipien der Welterzeugung.8 In der kugelförmigen Welt des Gesetzes ist keine Möglichkeit mehr für eine andere Art der Welterzeugung vorgesehen als die, die durch die Einnahme der „gleichen Plätze“

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Revolution analysiert. Vgl. Michel Foucault: Die Anormalen, übers. v. Michaela Ott, Frankfurt/M. 2003, S. 108–142 (hier: S. 127): „Das erste Monster ist der König. Der König gibt das große allgemeine Modell vor, von dem sich vermittels ganzer Reihen davon ausgehender Verschiebungen und Transformationen, welche die Psychiatrie und Rechtspsychiatrie des 19. Jahrhunderts bevölkern, all die unzähligen kleinen Monster herleiten.“ Sieyès: Was ist der Dritte Stand? (Anm. 1), S. 123. In diesem Sinne hat Jacques Rancière das Wesen der Politik nicht in einem Interessenkonflikt gesehen, sondern in der Einschreibung „eines Anteils der Anteilslosen“, das diesen Konflikt überhaupt erst als solchen konstituiert und vor allem sichtbar werden lässt. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, übers. v. Richard Steurer, Frankfurt/M. 2002, S. 54: „Die Politik ist nicht aus Machtverhältnissen, sie aus Weltverhältnissen gemacht.“

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schon vollständig beschrieben ist. Die Gleichheit vor dem Gesetz meint deshalb zugleich die Universalität eines Prinzips der Welterzeugung. Das zukünftige Gemeinwesen muss sich restlos aus den Prinzipien ableiten lassen, für die bislang der Dritte Stand als ein besonderer Stand der ökonomischen Hervorbringung gestanden hat.9 Das „Alles“, das der Dritte Stand als der transzendentale Stand des Staates beansprucht, muss sich von nun an allein seinen ökonomischen Fähigkeiten verdanken, sodass diese besonderen Fähigkeiten nicht mehr als gegebene Voraussetzungen des Gemeinwesens erscheinen, sondern als eine Grundlage, die in der Gesamtheit des Staates zum Tragen kommen muss. Michel Foucault hat bei Sieyès eine Umkehrung der Argumentationslinien gesehen, wenn die Frage nach der legitimen Existenz des Staates nicht mehr von seinen geschichtlichen Gründungsakten her beantwortet wird, sei es im Sinne eines vornehmen Rechts eines privilegierten Standes oder aber im Sinne einer vertragstheoretischen Übereinkunft, bei der sich alle zum Urheber der souveränen Macht erklären, sondern im Rekurs auf die Fähigkeit, sein zukünftiges Bestehen zu garantieren. Was den Staat am Leben erhält und bislang als Fundament vorausgesetzt worden ist, wird deshalb nun zum Prinzip dieses Staates selbst: „Die Nation wird nicht durch eine horizontale Beziehung zu anderen Gruppen charakterisiert (durch andere Nationen, feindselige, entgegengesetzte oder nebengeordnete Nationen). Was die Nation ausmacht, ist im Gegenteil eine vertikale Beziehung, die von diesem Körper der Individuen, die in der Lage sind, einen Staat zu bilden, zur effektiven Existenz des Staates verläuft.“10 Die Nation umschreibt die Gesamtheit der Faktoren, die das Leben des Staates bedingen, und ist insofern sein Nährboden, als kein Staat ohne diesen Nährboden zu einer historischen Existenz gelangen könnte. Sowohl der Priesterstand als auch der Adelsstand können ohne den Dritten Stand nicht leben, aber umgekehrt kann der Dritte Stand sehr wohl ohne diese beiden anderen aus sich selbst heraus existieren.11 Deswegen kann für Sieyès allein der Dritte Stand eine vollständige Nation bilden und nur ein Staat, der aus dieser Allgemeinheit des Dritten Standes hervorgegangen ist, mit der Nation identisch sein: „Der Dritte Stand umfaßt also alles, was zur Nation gehört; und alles, was nicht der Dritte Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation ansehen.“12 Während der Dritte Stand die „Grundelemente der Nation“ darstellt, erscheinen die privilegierten Stände neben denjenigen, „die wegen Gebrechlichkeit, Unfähigkeit, unheilbarer Trägheit oder der Flut schlechter Sitten keinen Anteil an den Arbeiten der Gesellschaft haben“, als eine Ausnahme von der Regel, die sich gleich einer „Schmarotzerpflanze“ an die aus sich selbst heraus existierende 9

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Zur politischen Aufwertung der ökonomischen Hervorbringung in der Neuzeit und dem damit verbundenen Vorrang des oíkos vor der pólis vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, S. 98–160. Zu Arendts folgenreicher Analyse der neuzeitlichen Depotenzierung des Politischen zum Sozialen vgl. Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/M. 1996, S. 150–156. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, übers. v. Michaela Ott, Frankfurt/M. 2001, S. 255–281 (hier: S. 264). Dazu dass zu dieser Selbstproduktion auch die Produktion eines politisch-ökonomischen Wissens „vom arbeitenden und produzierenden, vom lebenden und begehrenden, vom konsumierenden und sich selbst verzehrenden Menschen“ gehört, vgl. ausführlich Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich/Berlin 2004. Sieyès: Was ist der Dritte Stand? (Anm. 1), S. 125.

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Nation gehängt hat: „Eine solche Klasse ist ohne Frage der Nation fremd durch ihre totale Untätigkeit.“13 Damit der Gesamtwille aus den Einzelwillen heraus leben kann und umgekehrt die Einzelwillen an diesem Gesamtwillen ihre Existenzmöglichkeit finden können, muss das Gesetz in jedem Einzelwillen gleichermaßen wirksam sein, sodass jeder Einzelne durch seine Beziehung zum Gesetz auch zur transzendentalen Bedingung der Kugelgestalt werden kann. Das Gesetz, das im Zentrum der Kugelgestalt herrscht, ist deshalb nicht bloß ein Gesetz im juridischen Sinne, sondern im gleichen Moment eine Gesetzmäßigkeit der Hervorbringung im ökonomischen Sinne. – Während der Adelsstand seine privilegierte Position einer vergangenen und in der Möglichkeit des Kampfes jederzeit aktualisierbaren Beziehung zur Macht des Todes verdankt und der Priesterstand seine Privilegien aus der religiösen Bindung dieser Macht des Todes ableitet, stellt der Dritte Stand eine Lebensmacht dar, die schon gegeben sein muss, bevor die beiden anderen Stände ihre privilegierte Position behaupten können. In der vertikalen Beziehung des Dritten Standes auf die effektive Existenz des Staates erscheint die von den beiden anderen Ständen repräsentierte Macht des Todes wie ein Parasit derjenigen Lebensmacht, die den Staat allererst ins Leben zu rufen vermag. Aus dieser transzendentalen Position heraus ist nicht die pólis das Erste, sondern der oíkos, von dem her die pólis überhaupt erst zu leben vermag und dementsprechend ihre Gesetze im Sinne einer politischen Ökonomie empfängt.14 Wo vorher der übernatürliche Körper eines Souveräns die Ewigkeit des die Zeit überdauernden politischen Körpers garantierte, stehen jetzt die ökonomischen Gesetze der Hervorbringung dieses Körpers, sodass die Zumutung der Dauer nun an jedes einzelne Subjekt ergeht, das im Bild der kugelförmigen Anordnung zur transzendentalen Bedingung dieser Kugelgestalt wird, indem alle die „gleichen Plätze“ der Hervorbringung einnehmen.

1.

Die Pflicht des Lebens

Kein Philosoph hat die theoretische Figur des Transzendentalen so sehr ins Zentrum seines Denkens gestellt wie Immanuel Kant. Und kein Philosoph hat das Gesetz und das Denken des Gesetzes derart radikal mit dem Leben der Gemeinschaft selbst identifiziert, sodass dieses Leben aus der Perspektive des Transzendentalen als eine Pflicht verstanden werden muss. Wenn jeder Einzelne unmittelbar zum Träger eines Gesetzes wird, das die dauerhafte Hervorbringung des Gesellschaftskörpers garantieren soll, dann muss sich auch jeder Einzelne selbst als transzendentales Subjekt dieser Hervorbringung begreifen können. In jedem Einzelnen müssen schon die vollständigen Prinzipien wirksam 13 14

Ebd. S. 124. Zur historischen Analyse der politisch-ökonomischen Rationalität des homo oeconomicus anhand von Adam Smith’s An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, übers. v. Jürgen Schröder, hg. v. Michel Sennelart, Frankfurt/M. 2004, S. 367–393 (hier: S. 387): „Die Ökonomie ist eine atheistische Disziplin; die Ökonomie ist eine Disziplin ohne Gott; die Ökonomie ist eine Disziplin ohne Totalität; die Ökonomie ist eine Disziplin, die nicht nur die Nutzlosigkeit, sondern die Unmöglichkeit einer souveränen Perspektive manifestiert, der Perspektive des Souveräns auf die Gesamtheit des Staates, den er zu regieren hat.“

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sein, welche die Reproduktion des Gesellschaftskörpers als ganzen bestimmen. Als Gegenstand der praktischen Philosophie bestimmt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) daher nicht die „Handlungen und Bedingungen des menschlichen Wollens überhaupt, welche größtenteils aus der Psychologie geschöpft werden“, sondern „die Prinzipien eines möglichen reinen Willens“, der „ohne alle empirischen Beweggründe“ allein aus sich selbst heraus zu existieren vermag und sich daher als Wille auf sich selbst bezieht.15 Im Unterschied zum „menschlichen Wollen“, dessen vielfältige Gründe und Ziele außerhalb der Fähigkeit zu wollen liegen, reproduziert sich der „reine Wille“ dadurch, dass er sich in jedem Akt selbst will und folglich immer nur ein Wille im Singular sein kann. Der reine Wille kann deshalb weder aus der „Natur des Menschen“ noch aus den „Umständen der Welt“ abgeleitet werden, sondern allein aus den transzendentalen Bedingungen eines Gesellschaftskörpers, der sich aus sich selbst erhält. – Theodor W. Adorno hat den berühmten ersten Satz der Grundlegung, dass „überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich“ ist, „was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein GUTER WILLE“ dahingehend gedeutet, dass „der Wille selber, insofern er das rein aus Vernunft gelenkte Begehrungsvermögen ist, das Gute sei; und daß eigentlich das Böse das ist, was keinen Willen habe: das Willenlose, das Diffuse, das, was sich dieser zentralisierenden und ordnenden Instanz gegenüber treiben läßt“.16 Das Gute eines Willens, der ausschließlich auf sich selbst bezogen ist, kann in keinem anderen Zweck bestehen als im Selbstzweck dieses Willens. Die politische Ordnungsstiftung, die von diesem kreisförmigen Willen ausgeht, hat nach Adorno das „bürgerliche Prinzip der Naturbeherrschung“ zur Voraussetzung, weil im transzendentalen Gesetz eines sich selbst wollenden Willens die Natur sowohl im Sinne einer inneren Natur des Menschen als auch im Sinne einer der politischen Ordnungsstiftung vorausgehenden äußeren Natur ausgeschlossen ist. Indem Kant den Willen aus der Zufälligkeit von solchen Begründungen herauslöst, die ein von Natur aus gegebenes Streben des Menschen nach Selbsterhaltung, Wohlergehen oder Glückseligkeit annehmen, und diesem Willen als einem reinen die „absolute Notwendigkeit“ in sich selbst beimisst, tritt an die Stelle eines politischen Körpers, der sich um den übernatürlichen Körper eines Souveräns angeordnet hat, ein sich aus sich selbst reproduzierender Gesellschaftskörper, in dem jeder Einzelne zugleich als sterblich und unsterblich erscheinen können muss. Denn im Unterschied zu der unüberschaubaren Vielfältigkeit des menschlichen Wollens, das auf der Verschiedenheit und Kurzlebigkeit der menschlichen Neigungen basiert, ist der reine Wille ein sich selbst gleicher und in diesem Sinne unsterblicher Wille, der sich in jedem Subjekt dann manifestiert, wenn dieses als transzendentales den notwendigen Willen als seinen eigenen hervorbringt.17 15

16 17

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. v. Theodor Valentiner, Stuttgart 1984, S. 24 (AA IV 390). Zur Einordnung der Grundlegung in Kants Gesamtwerk vgl. Dieter Henrich: Die Deduktion des Sittengesetzes. Über die Gründe der Dunkelheit des letztes Abschnittes von Kants ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘, in: Alexander Schwan (Hg.): Denken im Schatten des Nihilismus, Darmstadt 1975, S. 55–112. Vgl. Theodor W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie, hg. v. Thomas Schröder, Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 10, Frankfurt/M. 1996, S. 187–201 (hier: S. 193). Zum mentalen Status des „unbedingten Führwahrhaltens“, in dem der Einzelne überhaupt erst als ein transzendentales Subjekts erscheint, vgl. Josef Simon: Kategorien der Freiheit und der

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Diesem unsterblichen Willen entsprechend zu handeln, bedeutet für Kant, nicht nur in zufälliger Übereinstimmung mit dem reinen Willen zu sein, sondern sich selbst als dessen Quelle verstehen zu können. Denn erst in dieser Zurechenbarkeit kann das Subjekt auch als Quelle solcher Handlungen erscheinen, die sich keiner anderen Dynamik als der Selbstidentität des reinen Willen verdanken: „Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen; widrigenfalls ist jene Gemäßheit nur sehr zufällig und mißlich, weil der unsittliche Grund zwar dann und wann gesetzmäßige, mehrmals aber gesetzwidrige Handlungen hervorbringen wird.“18 Wenn nichts uneingeschränkt für gut gehalten werden kann als ein guter Wille, dann kann es kein höheres Gut geben als die Selbsterhaltung eines Willens, der mit sich selbst identisch ist. Aus diesem Grund reicht es nicht aus, dass die eigenen Neigungen mit dem reinen Willen übereinstimmen und die Sittlichkeit des Handelns zufällig mit einem „unsittlichen Grund“ zusammenfällt. Das Fundament der Sittlichkeit besteht nicht darin, dass alle die gleichen Neigungen teilen und aufgrund dieser Gemeinsamkeit den Gesellschaftskörper hervorbringen, sondern dass die Bedingungen eines Gesellschaftskörpers, in dem jeder die gleiche Beziehung zum Gesetz hat, auch die Bedingungen eines jeden Einzelnen sind. – Im Zentrum der Sittlichkeit steht eine Gemeinsamkeit, die darauf basiert, dass sowohl der Gesamtwille mit den Einzelwillen identisch sein soll als auch die Einzelwillen mit dem Gesamtwillen zusammenfallen. Denn insofern jeder die gleiche Beziehung zum Gesetz hat, verdankt sich sowohl das Gesetz dieser gleichen Beziehung als auch jeder Einzelne dem gleichen Bezug zum Gesetz. Das heißt, dass der Gesamtwille weder eine Gesamtheit der Einzelwillen darstellt noch außerhalb der Einzelwillen existiert. Was die angenommene Identität von Gesamtwillen und Einzelwillen garantieren soll, ist die Zirkularität ihrer wechselseitigen Hervorbringung. Die Hervorbringung eines Gesamtwillens, der den Einzelwillen gegenüber keine übergeordnete Existenz haben soll, ist dabei an solche Einzelwillen gebunden, die nur das wollen können, was die Hervorbringung eines Gesamtwillens zur Folge hat, der ihnen gegenüber keine übergeordnete Existenz hat. Die zirkuläre Identität von Gesamtwillen und Einzelwillen geht somit nicht von einem vorab gegebenen Streben nach einer Selbsterhaltung der Einzelwillen als solcher aus, sondern versteht die Selbsterhaltung der Einzelwillen aus dem Gesamtwillen heraus und leitet umgekehrt die Hervorbringung und auch den Bestand des Gesamtwillens aus jedem einzelnen Willen ab, sodass die Selbsterhaltung eines jeden Einzelnen an die Selbsterhaltung aller anderen gebunden ist.19 Während sich der Einzelne in seiner gegebenen

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Natur. Zum Primat des Praktischen bei Kant, in: Dietmar Koch/Klaus Bort (Hg.): Kategorie und Kategorialität, Würzburg 1990, S. 107–130 (hier: S. 129), der im „Gebrauch aller Kategorien die Signalisierung des Zustandes der sie gebrauchenden und darin etwas als bestimmt ansehenden Personen das Grundlegende“ der kritischen Philosophie Kants sieht. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 15), S. 23 (AA IV 390). Terry Eagleton hat daher das „moralische Gesetz“ bei Kant auf das der „Warenform“ zurückgeführt, das die Unterschiede der „Bedürfnisse und Begierden“ aufhebt und um ein ästhetisches ergänzt werden muss, damit sich das „menschliche Subjekt in einer imaginären Beziehung zu einer ihm entgegenkommenden, zweckmäßigen Wirklichkeit“ zentrieren kann, „denn dem Ästhetischen liegt die Vorstellung einer Gesellschaft zugrunde, bei der jeder konstituierende Teil des Ganzen die Voraussetzung für die zweckmäßige Existenz eines jeden anderen ist und in dieser geglückten

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Neigung nur vorübergehend auf sich selbst bezieht, wird er als transzendentales Subjekt zum dauerhaften Reproduktionsort des Gesamtwillens, indem dieses sich in einer Weise auf sich selbst bezieht, dass es sich dabei zugleich auf alle anderen beziehen muss. Wie im Bild der Kugel die Beziehung zu jedem anderen auf der Kugeloberfläche durch den Mittelpunkt des Gesetzes führt, so erscheinen die Einzelnen in diesem Selbstbezug als Quelle ihrer selbst, indem sie zugleich zur Quelle aller anderen werden. Erst in der Identität mit dem Gesamtwillen produzieren die Einzelnen ihre eigene Selbstidentität und sind in der Lage, die Reproduktion einer „immerwährenden“ Gesellschaft zu leisten. Analog zum Bild der Kugel, bei dem das Gesetz durch die gesetzmäßige Anordnung der Subjekte um den Mittelpunkt der Kugel ins Leben gerufen wird, besteht das Gesetz der Gesetzmäßigkeit bei Kant nicht in einer vorab gegebenen Vorschrift eines über dem Gesetz stehenden Gesetzgebers, sondern im Akt seiner Hervorbringung durch eben die Beziehung, die jeder zu jedem anderen vermittelt über ein Gesetz hat, das aus dieser Beziehung entspringt. Was das Gesetz hervorbringt, ist für Kant deshalb kein „Antrieb“, der außerhalb des Gesetzes steht, sondern allein die Gesetzmäßigkeit der Beziehung eines jeden zu jedem anderen, die sich aus der transzendentalen Bedingung eines Gesellschaftskörpers von Nichtprivilegierten ergibt, in der jeder nur insofern zum transzendentalen Subjekt der Hervorbringung werden kann, als jeder andere dies ebenfalls werden kann. – Als Grundlage des Gesetzes kann deshalb keine andere Vorschrift dienen als die Selbsterhaltung dieser wechselseitigen Beziehung: „Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgendeines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip dienen soll, d. i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.“20 Indem in jeden einzelnen Willensakt die Selbsterhaltung der Beziehung zu jedem anderen als Selbsterhaltung jedes Einzelnen eingeschrieben wird, tritt jeder Einzelne an die Stelle eines potentiellen Gesetzgebers.21 Die politische Position, die bislang die Figur eines souveränen Gesetzgebers innehatte, wird daher nun von einer „allgemeinen Gesetzmäßigkeit“ ausgefüllt, in der sich jeder Willensakt solchen Vorschriften unterwirft, die es ihm ermöglichen, sich in der Beziehung auf alle anderen auch selbst als

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Ganzheit die Grundlage seiner eigenen Identität“ findet. Vgl. Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie, übers. v. Klaus Leiermann, Stuttgart/Weimar 1994, S. 73–106 (hier: S. 104). Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 15), S. 40 (AA IV 402). Der politisch-historische Umstand, dass das Sittengesetz aus diesem Grund bei Kant auf einem juridischen „Verfahren der Verallgemeinerung“ beruht, das die Verinnerlichung der gesetzgeberischen Kompetenzen verlangt und an die „Mündigkeit“ des Subjekts delegiert, findet bei KantInterpreten, die wie Otfried Höffe in Kants kategorischem Imperativ „letzte Verbindlichkeiten“ sehen, allerdings wenig Beachtung. Vgl. Otfried Höffe: Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 31, Heft 1 (1977), S. 354–384 (hier: S. 370): „Der kategorische Imperativ untersucht, ob der in einer Maxime gesetzte subjektive Sinnhorizont auch als objektiver Sinnhorizont, als vernünftige Einheit einer Gemeinschaft von Personen, gesetzt werden kann. Aus der bunten Vielfalt subjektiver Grundsätze werden auf diese Weise die vernünftigen bzw. die widervernünftigen ausgesondert.“ Das Problem wird dann zu entscheiden, wer „mündig“ und damit Subjekt des Verfahrens der Aussonderung sein kann.

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ein sich selbst wollender Wille zu erhalten. Dass die moderne Sittlichkeit ihre Grundlegung nicht in der Rückführung auf ein „bestimmtes Gesetz“ erfährt, sondern allein im Rekurs auf ein „Prinzip des Willens“, das die Grundlage einer aus sich selbst heraus existierenden Sittlichkeit überhaupt erst herstellen soll, macht aus den juridischen Gesetzen ein politisch-ökonomisches Prinzip der Hervorbringung aller im konkreten Vollzug zu gebenden Gesetze. In der Kritik der praktischen Vernunft (1788) definiert Kant die praktische Philosophie nicht durch ein vom Theoretischen unterschiedenes Gebiet des Praktischen, sondern durch den „praktischen Gebrauch“ der Vernunft.22 Die Vernunft ist als praktische nicht eine andere als die theoretische, sondern kommt in ihrem praktischen Gebrauch allererst zu sich selbst, insofern sie im Gebrauch ihrer selbst sich selbst zur Kausalität wird: „In diesem [Gebrauch] beschäftigt sich die Vernunft mit Bestimmungsgründen des Willens, welcher ein Vermögen ist, den Vorstellungen entsprechende Gegenstände hervorzubringen oder doch sich selbst zur Bewirkung derselben (das physische Vermögen mag nun hinreichend sein oder nicht), d. i. seine Kausalität, zu bestimmen.“23 Der praktische Gebrauch der Vernunft ist dann mit der reinen Vernunft identisch, wenn der Wille keinen Bestimmungsgrund außerhalb seiner selbst hat und somit von nichts anderem abhängig ist als von dem Gesetz, das er sich selbst gibt und das ihn zugleich trägt: „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.“24 In diesem Gesetz stellt sich der Wille insofern als sein eigener Bestimmungsgrund dar, als er keinen anderen Gegenstand außer sich selbst hat.25 Und nur in diesem Gebrauch ist die Vernunft ganz bei sich und von keinem äußeren Gegebenen abhängig: „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten; alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen.“26 Noch bevor der Wille etwas will, muss er sich zunächst selbst wollen, und deshalb jedes etwas so wollen, dass er sich dabei zugleich selbst will. Die „Autonomie des Willens“ meint nichts anderes, als dass die Existenz des Willens den Vorrang vor dem hat, was der Wille will. Ein guter Wille ist nicht durch das Gut des Gewollten bestimmt, sondern durch das Gut des Willens. Wie Sieyès argumentiert, dass der Dritte Stand schon das Gemeinwesen zur Existenz gebracht haben muss, bevor andere sich anmaßen können, das Gemeinwesen zu regieren, 22

23 24 25

26

Zu Kants Begriff der Praxis im Sinne einer Poiesis als „Bewirkung eines Zwecks“, die „aufgrund einer Vorstellung von bestimmten Verfahren, ihn zu bewirken, erfolgt“, vgl. Dieter Henrich: Ethik der Autonomie, in: ders.: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982, S. 6–56 (hier: S. 11). Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg 1985, Einleitung, S. 16 (AA V 15). Ebd. S. 37 (AA V 31). Zu der komplexen Problematik, dass die innere Paradoxie des Ausdrucks „Bestimmung des Willens“ bei Kant darin besteht, dass dieser sowohl eine Lesart im Sinne eines genitivus subjectivus als auch im Sinne eines genitivus objectivus ermöglicht, vgl. Christoph Horn: Wille, Willensbestimmung, Begehrungsvermögen (§§ 1–3, 19–26), in: Otfried Höffe (Hg.): Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 2002, S. 43–61. Ebd. S. 39 (AA V 33).

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und dass daher das Prinzip der Hervorbringung in der Gesamtheit des Gemeinwesens zum Tragen kommen muss, so leitet Kant die Gesetze, die der Wille geben soll, nicht aus einem jenseits des Willens Gegebenen ab, sondern aus der Existenz des Willens selbst. Und wie für Sieyès die Nation die existentielle Bedingung des Staates ist, die mit dem Staat selbst identisch werden soll, so besteht das Gesetz der Gesetzmäßigkeit in der Durchdringung aller konkret zu gebenden Gesetze seitens der existentiellen Bedingung des gesetzgebenden Willens: „Wenn daher die Materie des Wollens, welche nichts anderes als das Objekt der Begierde sein kann, die mit dem Gesetz verbunden wird, in das praktische Gesetz als Bedingung der Möglichkeit desselben hineinkommt, so wird daraus Heteronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgendeinem Antrieb zu folgen, und der Wille gibt sich nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgung pathologischer Gesetze; [...].“27 Während jede äußere Abhängigkeit das Sichselbstwollen des Willens dezentriert und somit „pathologische“ Abweichungen produziert, kann sich der reine Wille nur in solchen Gesetzen zentrieren, die auch die „Bedingung der Möglichkeit desselben“ als Gesetzgeber reproduzieren. An die Stelle, die in der neuzeitlichen Tradition des Naturrechts die Naturgesetze innehaben,28 tritt bei Kant nur noch ein einziges Gesetz, das als Gesetz der Gesetzmäßigkeit alle möglichen Gesetze an die Fähigkeit der Gesetzgebung zurückbindet.

2.

Die intelligible Ordnung der Dinge

Michel Foucault hat die kritische Philosophie Kants als „die Schwelle unserer Modernität“ bezeichnet, weil sie den Rückzug des Denkens und des Wissens aus dem „Raum der Repräsentation“ vollziehe: „Dieser wird dann in seiner Grundlage, in seinem Ursprung und seinen Grenzen in Frage gestellt: dadurch erscheint das unbegrenzte Feld der Repräsentation, das das klassische Denken eingeführt hatte, das die Ideologie schrittweise diskursiv und wissenschaftlich hatte durchlaufen wollen, als eine Metaphysik.“29 Kants kritische Philosophie befragt den sich selbst wollenden Willen nicht danach, welches Sein ein solcher Wille repräsentieren könnte. Es geht nicht darum, der Erscheinung des Willens eine Wahrheit des Seins abzulesen. Der reine Wille repräsentiert nichts, was es gibt und zu dem es entlang seiner Repräsentation einen Zugang gäbe. Der Ort der Wahrheit liegt nicht in der Ordnung der Welt, sondern in den Prinzipien ihrer Hervorbringung. Deshalb eröffnet die kritische Philosophie zugleich „die Möglichkeit einer anderen Metaphysik, die zum Gegenstand hat, außerhalb der Repräsentationen alles das 27 28

29

Ebd. S. 39 (AA V 33). Im Unterschied zu den „Naturgesetzen“, aus denen sich die moralischen Gesetze des neuzeitlichen Naturrechts ableiten, erscheint das „Sittengesetz“ bei Kant deshalb notwendigerweise als ein Gesetz im Singular. Zum historischen Übergang von der Pluralität der Gesetze zum singulären Gesetz der Autonomie vgl. Lewis White Beck: Kants Kritik der praktischen Vernunft. Ein Kommentar, übers. v. Karl-Heinz Ilting, München 1985, S. 121–124. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt/M. 1974, S. 299. Vgl. dazu auch Paul de Man: Phänomenalität und Materialität bei Kant, in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, übers. v. Jürgen Blasius, hg. v. Christoph Menke, Frankfurt/M. 1993, S. 9–38.

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zu erforschen, was ihre Quelle und ihr Ursprung ist“.30 Das Gesetz eines reinen Willens, der nichts empirisch Gegebenes voraussetzt, kann keinen anderen Ursprung als die Vorstellungswelt selbst haben. Es kann nicht der Welt der Phänomene und der Repräsentationen angehören, die stets auf etwas anderes als sie selbst zurückführen. Während die in der „sinnlichen Natur“ vorfindbare Ordnung der Dinge jederzeit unter „empirisch bedingten Gesetzen“ steht, gehört der reine Wille einer „intellegiblen Ordnung der Dinge“ an, deren „übersinnliche Natur“ auf nichts anderes verweist als auf die Vorstellung selbst: „Und da die Gesetze, nach welchen das Dasein der Dinge von der Erkenntnis abhängt, praktisch sind, so ist die übersinnliche Natur, soweit wir uns einen Begriff von ihr machen können, nichts anderes, als eine Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft.“31 Innerhalb der sinnlichen Natur mag der Mensch fremden Gesetzen unterworfen sein, die sein Handeln von anderen Mächten abhängig machen, aber in seiner Vorstellung kann er sich selbst als frei vorstellen, und zwar auch und gerade dann, wenn alle Naturerkenntnis das Gegenteil dieser Freiheit nahezulegen scheint. Die Vorstellungswelt bietet eine irreduzible Quelle der Selbstwahrnehmung, die sich dann unter allen Umständen der äußeren Gegebenheiten auf Dauer stellen lässt, wenn daraus eine politische Ordnung abgeleitet werden kann, die das Imaginäre nicht mehr nur in sporadischen Akten der Vorstellung in Anspruch nimmt, sondern einen systematischen Gebrauch von dieser Vorstellungswelt macht.32 Das moralische Gesetz der Autonomie verdankt sich nicht solchen Regeln, welche der Natur und der Repräsentation dieser Natur abgelesen werden, sondern die sich der imaginären Möglichkeit entnehmen lassen, sich selbst anders vorzustellen, als es in einer adäquaten Entsprechung zu den Naturgesetzen möglich wäre. Die Regel, die sich aus der Imagination seiner selbst ableiten lässt, muss deshalb zugleich eine Regel der Imagination sein. Erst eine geregelte Imagination macht aus den einzelnen Akten der Vorstellung eine systematische Vorstellungswelt, die als autonome Quelle der Hervorbringung neben den Naturgesetzen einen dauerhaften Bestand haben kann.33 In diesem Sinne hängt die tatsächliche Wirksamkeit des moralischen Gesetzes vor allem anderen davon ab, ob sich eine Vorstellungswelt vorstellen lässt, die aus sich selbst heraus die Regel ihrer eigenen Dauerhaftigkeit zu erzeugen vermag. Auf dem Grund der Dinge liegt aus der Perspektive der kritischen Philosophie nicht das Geheimnis der Natur und ihrer Gesetze verborgen, sondern eine ganz andere Natur, die von keinem Gesetz der äußeren Natur berührt wird und deren Autonomie zugleich die Voraussetzung dafür ist, dass die Gesetze der Natur überhaupt erst erkannt wer30 31 32

33

Foucault: Die Ordnung der Dinge (Anm. 29), S. 299. Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 23), S. 52 (AA V 43). Zur konstitutiven Rolle der Phantasie bei Kant vgl. Josef Simon: Phantasie und Wirklichkeit, in: Tilman Borsche/Johann Kreuzer/Christian Strub (Hg.): Blick und Bild im Spannungsfeld von Sehen, Metaphern und Verstehen, München 1998, S. 115–130. Martin Heidegger hat in diesem Sinne von einer die neuzeitliche Epistemologie kennzeichnenden Praxis des „vorstellenden Herstellens“ gesprochen. Vgl. Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in: ders.: Holzwege, Frankfurt/M. 1994, S. 75–113 (hier: S. 94): „Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das Wort Bild bedeutet jetzt: das Gebild des vorstellenden Herstellens. In diesem kämpft der Mensch um die Stellung, in der er dasjenige Seiende sein kann, das allem Seienden das Maß gibt und die Richtschnur zieht.“

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den können: „Das Gesetz dieser Autonomie aber ist das moralische Gesetz; welches also das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt ist, deren Gegenbild in der Sinnenwelt, aber doch zugleich ohne Abbruch der Gesetze derselben existieren soll.“34 In der sinnlichen Natur, die jederzeit empirischen Gesetzen gehorcht, gibt es demnach das „Gegenbild“ einer übersinnlichen Natur, deren Gesetze von nichts anderem abhängig sind als von ihrer eigenen Gesetzgebung. Zwar hat die Sinnenwelt ihre empirischen Gesetze, die unumstößlich sind, aber es gibt ein Prinzip der Hervorbringung dieser Sinnenwelt, dessen Ursprung sich nicht auf die sinnliche Natur zurückführen lässt, sondern allein auf die Vorstellungswelt: „Man könnte jene die urbildliche (natura archetypa), die wir bloß in der Vernunft erkennen, diese aber, weil sie die mögliche Wirkung der Idee der ersteren als Bestimmungsgrundes des Willens enthält, die nachgebildete (natura ectypa) nennen.“35 Jenseits der Welt der Repräsentationen und Erscheinungsweisen des Seins gibt es eine „urbildliche“ Welt, in der die Vorstellung nicht auf etwas anderes außerhalb ihrer selbst verweist, sondern ganz bei sich selbst ist und in diesem Beisichsein eine eigenständige Quelle der Nachahmung darstellt. – Noch bevor man sich in den Stand versetzen kann, die äußere Natur als zweckmäßig für ihre Beherrschung anzusehen, muss man sich daher der gegebenen Natur gegenüber in einer solchen Vorstellungswelt zentrieren, die es erlaubt, die Inbesitznahme der Natur als einer äußeren allererst gedanklich zu leisten.36 Diese imaginäre Zentrierung wird durch die Vorstellung eines reinen Willens bewerkstelligt, dessen höchstes Gut darin besteht, sich als sein eigenes Gesetz auf sich selbst zu beziehen: „Denn in der Tat versetzt uns das moralische Gesetz der Idee nach in eine Natur, in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen würde, und bestimmt unseren Willen, die Form der Sinnenwelt, als einem Ganzen vernünftiger Wesen, zu erteilen.“37 Noch bevor es das angemessene physische Vermögen gibt, das höchste Gut hervorzubringen, muss dieses schon in der Vorstellungswelt „der Idee nach“ vorstellbar sein. Das höchste Gut wird nicht anhand der vorfindbaren Möglichkeiten in der Natur oder entlang der Repräsentationen des Seins aufgedeckt, sondern in einer übersinnlichen Natur, in die uns die reine Vernunft versetzt und in der es überhaupt keine Referenzen auf etwas anderes geben kann, weil das imaginäre Zentrum dieser Natur in einer Selbstreferenz besteht. Um von der Vorstellungswelt einen systematischen Gebrauch machen zu können, muss man sich eine höchste Vorstellung vorstellen können, deren urbildlicher Status zugleich auch die Regeln für ihr Gegenbild in der sinnlichen Welt enthält. Wenn Kant daher sagt, dass „überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich“ sei, „was ohne Einschränkung für 34 35 36

37

Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 23), S. 52 (AA V 43). Ebd. S. 52 (AA V 43). Dazu, dass Kant in seiner Rechtsphilosophie im Unterschied zur naturrechtlichen Tradition das Eigentumsrecht nicht aus dem physischen Besitz oder aus der Aneignung durch Arbeit ableitet, sondern aus einem „intelligiblen Besitz“, vgl. Wolfgang Kersting: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin/New York 1984, S. 113–171 (hier: S. 119), der in der Deduktion des „intelligiblen Besitzes“ aus dem System der Verstandesbegriffe „eine transzendentalphilosophische Version der alttestamentarischen Weisung Gottes an den Menschen“ sieht, sich die Erde untertan zu machen: „[...] die Dingwelt ist ein Gegenstand der freien Willkür.“ Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 23), S. 52 (AA V 43).

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gut könnte gehalten werden, als allein ein GUTER WILLE“, dann wird die Ordnungsstiftung an die Möglichkeit einer solchen Vorstellung gebunden, die nicht nur ihr eigener Referent sein kann, sondern deren Selbstreferentialität auch in der Lage ist, eine selbstreferentielle Ordnung zu erzeugen. Eine solche Vorstellung ist nicht nur urbildlich, weil sie nicht weiter auf andere Vorstellungen zurückgeführt werden kann, sondern weil sie als imaginäre Quelle zur Instituierung einer gesellschaftlichen Ordnung dienen kann, in der sich jeder selbst als Schöpfer dieser Ordnung verstehen soll. Denn im Unterschied zu solchen Urbildern, die wie im Falle einer Gottesvorstellung den exzentrischen Ursprung der gemeinschaftlichen Ordnung markieren, beschreibt die urbildliche Vorstellung eines selbstgesetzgebenden Willens einen Schöpfungsvorgang, an dem prinzipiell jeder Anteil haben kann. Dass es sowohl innerhalb als auch außerhalb der Welt nichts Höheres geben kann als ein Wille, der sich selbst zum Gesetz wird, heißt, dass die Vorstellung eines sich selbst erhaltenden Schöpfungsvorgangs umfassender ist als die Vorstellung eines göttlichen Schöpfers. Während die Vorstellung eines göttlichen Schöpfers der geschöpften Welt gegenüber zwangsläufig eine exzentrische Position einnehmen muss, kann sich die Vorstellung in der Imagination einer sich selbst bestimmenden und erhaltenden Kausalität vollständig zentrieren.38 Diese imaginäre Zentrierung in einem selbstgesetzlichen Schöpfungsvorgang ist gegenüber der Vorstellung eines göttlichen Schöpfers insofern umfassender, als sie diese in sich einzuschließen vermag: „Es [das Prinzip der Sittlichkeit] schränkt sich also nicht bloß auf Menschen ein, sondern geht auf alle endlichen Wesen, die Vernunft und Willen haben, ja schließt sogar das unendliche Wesen, als oberste Intelligenz, mit ein.“39 Auch das unendliche Wesen kann demnach nicht anders vorgestellt werden als ein reiner Wille, der sich selbst sein Gesetz gibt. Der Unterschied zwischen den endlichen und dem unendlichen Wesen besteht nicht darin, dass dieses der Schöpfer ist und jene die geschöpften Wesen sind, sondern dass beide auf unterschiedliche Weise durch die Vorstellung einer sich selbst regelnden Vorstellung bestimmt sind: „Im ersteren Falle“, das heißt bei den endlichen Wesen, „aber hat das Gesetz die Form eines Imperativs, weil man an jenem zwar als vernünftigem Wesen einen reinen, aber als mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen affiziertem Wesen keinen heiligen Willen, d. i. einen solchen, der keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maximen fähig wäre, voraussetzen kann.“40 Im Unterschied zu einem unendlichen Wesen, bei dem das Gesetz unmittelbar wirksam wird, müssen sich die endlichen Wesen selbst „nötigen“ und in die „Pflicht“ nehmen, um ihr eigenes Gesetz erfüllen zu können. Während das unendliche Wesen 38

39 40

Jacques Derrida hat die „unbedingte Allgemeinheit des kategorischen Imperativs“ als „evangelisch“ bezeichnet, insofern die Abwesenheit eines eingreifenden Gottes bei Kant die Voraussetzung für das Sittengesetz darstellt: „[...] um moralisch zu handeln, muß man letztlich so tun, als würde es Gott nicht geben oder als würde er sich nicht um unser Heil kümmern. Genau dieses ist moralisch und folglich christlich, zumindest dann, wenn es einem Christen obliegt, moralisch zu sein: nicht an Gott sich zu wenden in dem Augenblick, in dem man im Sinne des guten Willens handelt, sich so zu verhalten, als hätte Gott uns verlassen.“ Jacques Derrida: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der „Religion“ an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: ders./Gianni Vattimo: Die Religion, Frankfurt/M. 2001, übers. v. Alexander García Düttmann, S. 9–106 (hier: S. 23). Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 23), S. 37 (AA V 32). Ebd. S. 38 (AA V 32).

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immer schon um die Heiligkeit des Willens zentriert erscheint, zentrieren sich die endlichen, „mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen affizierten“ Wesen durch einen Imperativ, den sie an sich selbst richten. Die endlichen Wesen müssen also in der Lage sein, einem Befehl zu gehorchen, den sie selbst ausgesprochen haben. Um „ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen“,41 müssen sich die sterblichunsterblichen Subjekte daher zugleich als Absender und als Empfänger eines Befehls verstehen können, dessen Befohlenes sich auf den Befehlenden bezieht. Um zu dieser Selbststeuerung fähig zu sein, bei der das Subjekt sowohl oberhalb als auch unterhalb des Befehls auftaucht, muss sich dieses in ein endlich-empirisches und ein unendlichtranszendentales Selbst verdoppeln, von dem aus es sich allererst als eine rekursive Adresse der Gesetzgebung einrichten kann.42 Denn mit der Selbstaneignung, die durch die imaginäre Zentrierung in einer intelligiblen Ordnung gewährleistet werden soll, geht zwangsläufig auch eine Selbstdezentrierung einher, insofern das Subjekt jederzeit ebenso der empirischen Ordnung angehört. Um mich imaginär zentrieren zu können, muss ich mich zunächst außerhalb meiner selbst lokalisieren, sodass der zentrierende Bezug auf die Heiligkeit des Willens zu einem auf Dauer gestellten Prozess der uneinholbaren Selbstaneignung wird: „Diese Heiligkeit des Willens ist gleichwohl eine praktische Idee, welche notwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht, und welche das reine Sittengesetz, das darum selbst heilig heißt, ihnen beständig und richtig vor Augen hält, von welchem ins Unendliche gehenden Progressus seiner Maximen und Unwandelbarkeit derselben zum beständigen Fortschreiten sicher zu sein: d. i. Tugend, das Höchste ist, was endliche praktische Vernunft bewirken kann, die selbst wiederum wenigstens als natürlich erworbenes Vermögen nie vollendet sein kann, weil die Sicherheit in solchem Falle niemals apodiktische Gewissheit wird und als Überredung sehr gefährlich ist.“43 Als sterblich und unsterblich zugleich gehört das sich selbst adressierende Subjekt im gleichen Moment der Welt der sinnlichen Endlichkeit und der intelligiblen Welt der Unendlichkeit an, von der aus es allein die Gewissheit seiner selbst empfangen und die deshalb zu keiner Zeit völlig gewiss sein kann, weil es niemals in der Lage sein wird, sie vollständig zu empfangen. Wenn sich das Subjekt nur durch einen systematischen Gebrauch seiner Vorstellungswelt selbst bestimmen kann, dann muss der Befehl der Selbstbestimmung, der von dieser Vorstellungswelt ausgeht, ein sinnlich gegebenes Subjekt, das niemals vollständig seiner Vorstellungswelt angehören kann, notwendiger-

41 42

43

Ebd. S. 37 (AA V 33). Zum Zusammenhang von Kants berühmter Antwort auf die Frage Was ist Aufklärung? (1784), die insofern einen „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ darstellen soll, als „Unmündigkeit“ dem „Unvermögen“ geschuldet ist, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, und den preußischen Verwaltungsreformen des Aufgeklärten Absolutismus im Sinne einer leistungsstärkeren „Steuerung durch Selbststeuerung“ vgl. Heinrich Bosse: Der geschärfte Befehl zum Selbstdenken. Ein Erlaß des Ministers v. Fürst an die preußischen Universitäten im Mai 1770, in: Friedrich A. Kittler/Manfred Schneider/Samuel Weber (Hg.): Diskursanalysen 2: Institution Universität, Opladen 1990, S. 31–62. Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 23), S. 38 (AA V 32f).

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weise auch verfehlen.44 – Michel Foucault hat die konstitutive Rolle des Menschen in der modernen Anthropologie daher als die einer „empirisch-transzendentalen Dublette“ beschrieben: „Weil er empirisch-transzendentale Dublette ist, ist der Mensch auch der Ort des Verkennens, jenes Verkennens, das sein Denken stets dem aussetzt, daß es durch sein eigenes Sein überbordet wird, und das ihm gleichzeitig gestattet, sich von dem ihm Entgehenden aus zu erinnern.“45 Um sich seiner selbst gewiss und damit mächtig zu sein, muss für das Subjekt auch die Erfahrung seiner Ungewissheit und fremdbestimmten Ohnmacht eine dauerhafte sein, die es immer wieder dazu aufruft, sich selbst als selbstgesetzgebend anzueignen.

3.

Das Gefühl der Selbstachtung

Wie im Bild der kugelförmigen Anordnung der Einzelnen um den Mittelpunkt des Gesetzes, bei dem sich das Gesetz in jedem Einzelnen verkörpert, indem es im Zentrum herrscht, manifestiert sich das Gesetz bei Kant in jedem Einzelnen so, dass sich dessen Subjektstatus dem Gesetz aufgrund der Unmöglichkeit verdankt, mit dem Gesetz identisch sein zu können. Dass der Mittelpunkt der Kugel leer ist und von keinem Einzelnen eingenommen werden kann, ist die Voraussetzung für die gleiche Anordnung der Einzelnen. Alle nehmen nicht nur den gleichen Platz ein, insofern sie vor dem Gesetz gleich sind, sondern indem sie sich um ein Zentrum versammeln, von dem sie angezogen werden und das sie niemals erreichen können.46 Die Gleichheit geht dem Gesetz nicht als etwas voraus, das den Einzelnen von Natur aus gegeben ist, sondern resultiert erst aus dieser Anordnung um ein leeres Zentrum. Man muss das Thema der Freiheit, das an der Schwelle der modernen politischen Philosophie steht, mit der freigewordenen und freigelassenen Stelle des Zentrums in Verbindung bringen. Denn im Zentrum der Kugel herrscht eine Leere, die den verwaisten Platz des Herrensignifikanten auf eine Weise instituiert, dass diese Leere als solche wirksam werden kann und daher leer bleiben muss. Es ist der leere Platz des Königs, das Fehlen Gottes und die Abwesenheit des Vaters, die ein Gesetz ermöglichen, das sich einer Unmöglichkeit verdankt. Wenn der „große Andere“ der modernen politischen Philosophie der Tod ist und das Leben der Gemeinschaft 44

45 46

Mit Heinz Dieter Kittsteiner kann man in diesem Problemkomplex der Selbstverfehlung den theoretischen Ursprung der Geschichtsphilosophie sehen, die auf die historische Erfahrung reagiert, dass sich der Mensch nicht nach seinem eigenen Plan entwerfen kann, indem sie das „zugleich des ‚Machen‘ und ‚Nicht-Machen-Können‘ der Geschichte in ihre Kategorien“ aufnimmt. Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner: Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1980, S. 153–221 (hier: S. 154). Foucault: Die Ordnung der Dinge (Anm. 29), S. 389. Zum Denken der Gemeinschaft bei Kant vgl. Roberto Esposito: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, übers. v. Sabine Schulz u. Francesca Raimondi, Zürich/Berlin 2004, S. 97– 119 (hier: S. 119): „Die einzige [Gemeinschaft], die die Menschen erfahren können, wenn sie ihr Gesetz akzeptieren: das Gesetz ihrer eigenen Endlichkeit, und das heißt einmal mehr, von deren Unmöglichkeit. Das ist es, was sie miteinander teilen: sie sind zusammengebracht durch die Unmöglichkeit der Gemeinschaft, jene Unmöglichkeit, die ihr gemeinsames munus ist. Sie sind vereint von einem ‚nicht‘, das sie durchzieht und überschreitet als ihr unerreichbares OBJEKT.“

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aus der Verdrängung dieses Todes hervorgeht, indem die Figuren der Souveränität diese Verdrängung gewährleisten, dann muss in einer Gemeinschaft, in der es keine privilegierte Position mehr geben soll, der Tod für jeden Einzelnen selbst zum Undenkbaren werden. Während sowohl der Priesterstand als auch der Adelsstand ihre privilegierte Position ihrer besonderen Beziehung zur Macht des Todes verdanken, definieren sich die Subjekte der Selbstgesetzgebung ausschließlich durch ihre Beziehung zur Vorstellung eines unerschöpfbaren Schöpfungsvorgangs.47 Die Abwesenheit des Todes in dieser imaginären Zentrierung und die Leerstelle des Zentrums, um die sich die Gemeinschaft als Nicht-Gemeinschaft anordnet, stehen deshalb in einem unmittelbaren Zusammenhang. Denn einerseits ist der Tod das, was zwangsläufig außerhalb der Vorstellung eines selbstgesetzgebenden Willens steht, andererseits markiert der Tod gerade deshalb den unmöglichen Ort, von dem aus das Subjekt aufgerufen ist, sich selbst anzueignen und seiner selbst mächtig zu werden. Was die Menschen vereint und niemals vollständig vereinen kann, ist ein Herrensignifikant, der als durchgestrichener zugleich abwesend und anwesend ist. Die Beziehung zu diesem Herrensignifikanten muss deshalb im gleichen Moment aufrecht erhalten und getrennt werden, sodass an dessen Stelle die Vorstellung eines sich auf sich selbst beziehenden Lebens treten kann. Denn insofern nun jedem Einzelnen als einem potentiellen Gesetzgeber die ehemals souveräne Umwandlung der Endlichkeit in das unendliche Leben der Gemeinschaft zugemutet wird, muss sich jeder Einzelne genau von der durch den Tod markierten Erfahrung der Ohnmacht abschneiden, die den systematischen Gebrauch der Vorstellungswelt allererst in Gang setzt. Als empirisch-transzendentales steht das Subjekt außerhalb und innerhalb des Gesetzes der Gesetzmäßigkeit, weil es zu seiner Sterblichkeit nur als zu einem Außen seiner Unsterblichkeit einen Zugang hat. Im Mittelpunkt der Kugel steht kein Gott, kein transzendenter Ursprung, keine übernatürliche Macht, sondern eine die Gemeinschaft stiftende Abwesenheit, die zugleich auch die Abwesenheit eines Gemeinsamen ist. Das „selbstgewirkte Gefühl“, das sich dann einstellt, wenn sich das Subjekt in der Vorstellung eines selbstgesetzgebenden Willens zentriert, nennt Kant das Gefühl der Achtung. Dieses Gefühl beschreibt exakt die Anordnung der Subjekte um den Mittelpunkt eines Gesetzes, auf das alle gleichermaßen bezogen sind und das niemals mit einem einzelnen, endlichen Subjekt zusammenfallen kann. Denn im Unterschied zu einer Handlung aus einem Gefühl der Furcht oder der Neigung heraus, die Kant beide von dem Gefühl der Achtung abgrenzt, entspricht die Justierung, die mit diesem Gefühl einhergeht, der inneren Paradoxie einer sowohl zentrierenden als auch dezentrierenden 47

Vgl. dazu Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1994, S. 137–149 (hier: S. 139), der im Zusammenhang mit der Lehre vom pouvoir constituant bei Sieyès von einer schöpferischen „Urkraft“ gesprochen hat, die sich, um eine solche bleiben zu können, niemals in einer Schöpfung erschöpfen kann: „Die Vorstellung des Verhältnisses von pouvoir constituant zu pouvoir constitué hat ihre vollkommene systematische und methodische Analogie in der Vorstellung des Verhältnisses der natura naturans zur natura naturata, und wenn diese Vorstellung auch in dem rationalistischen System Spinozas übernommen ist, so beweist sie doch gerade dort, daß dieses System nicht nur rationalistisch ist. [...] Das Volk, die Nation, die Urkraft alles staatlichen Wesens, konstituiert immer neue Organe. Aus dem unendlichen, unfaßbaren Abgrund der Macht entstehen immer neue Formen, die sie jederzeit zerbrechen kann und in denen sich ihre Macht niemals definitiv abgrenzt.“

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Selbstadressierung. Kant definiert das Gefühl der Achtung zunächst als unmittelbare Beziehung zum Gesetz: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“48 Im Gegensatz dazu steht eine Handlung aus Furcht oder Neigung, bei denen die Motivation der Handlung außerhalb der Handlung selbst stehen würde. Während die Position der Neigung auf die antike Naturrechtstradition verweist, bei welcher der Grund der Vergesellschaftung in einer von allen geteilten Neigung außerhalb der Gesellschaft liegt, und die Position der Furcht sich mit der neuzeitlichen Naturrechtstradition identifizieren lässt, bei welcher der Grund der Vergesellschaftung in einer von allen geteilten Furcht der Gesellschaft selbst ebenso vorausgeht, soll mit dem Gefühl der Achtung die Autopoiesis der Gesellschaft markiert werden.49 Auf den möglichen Einwand, dass das Befolgen des Gesetzes auf ein Gefühl angewiesen ist, von dem Kant Mühe hat nachzuweisen, dass es dem Gesetz nicht voraus sondern mit diesem einher geht, antwortet Kant: „Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch unterschieden.“50 Im Unterschied zu den Gefühlen der „ersteren Art“ ist das Gefühl der Achtung daher keine Ursache, sondern eine Wirkung der pflichtgemäßen Handlung. Das Subjekt zentriert sich folglich in einem Gefühl, das es selbst hervorruft, indem es einem Gesetz gehorcht, das in seiner Reinheit allein in der Imagination einer sich selbst regelnden Vorstellungswelt existieren kann. Um näher zu erläutern, auf welche Weise dieses Gefühl ein selbstgewirktes sein kann, greift Kant in einem zweiten Schritt jedoch noch einmal auf die beiden Gefühle der „ersteren Art“ zurück: „Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz und zwar dasjenige, das wir uns selbst und doch als an sich notwendig auferlegen. Als Gesetz sind wir ihm unterworfen, ohne die Selbstliebe zu befragen; als uns von uns selbst auferlegt, ist es doch eine Folge unseres Willens und hat in der ersten Rücksicht Analogie mit Furcht, in der zweiten mit Neigung.“51 Das Gefühl der Achtung hat sowohl mit dem Gefühl der Furcht als auch mit dem Gefühl der Neigung etwas Analogisches. Insofern das Subjekt als Absender des Befehls mit dem Gesetz identisch ist, entspringt der Befehl seiner eigenen Neigung; insofern es aber zugleich auch Empfänger des Befehls und dementsprechend nicht mit dem Gesetz identisch ist, basiert das Gehorchen auf der Furcht vor dem Gesetz. Im Gefühl der Achtung werden also die beiden Gefühle der Neigung und der Furcht so zusammengezogen, dass sich das Subjekt im gleichen Moment als Befehlender und Gehorchender zur Kenntnis nimmt und damit überhaupt erst als ein Selbst konstituiert, das sich seiner selbst in seiner Selbstwahrnehmung versichert. Während die Gefühle der „ersteren Art“ einer pflichtgemäßen 48 49

50 51

Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 15), S. 38 (AA IV 400). Im Gefühl der Achtung hat Heidegger bei Kant daher einen solchen Zugang zum Gesetz gesehen, durch den sich das Subjekt selbst als dessen Urheber fühlen kann. Vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929, S. 148–152 (hier: S. 150f): „In der Achtung vor dem Gesetz muß demnach das achtende Ich sich selbst zugleich in bestimmter Weise offenbar werden, und dies nicht nachträglich und zuweilen, sondern die Achtung vor dem Gesetz – diese bestimmte Art des Offenbarmachens des Gesetzes als des Bestimmungsgrundes des Handelns – ist in sich ein Offenbarmachen meiner selbst als des handelnden Selbst.“ Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 15), S. 40 (AA IV 401). Ebd. S. 40 (AA IV 401).

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Handlung gegenüber exzentrische Motivationen markieren, in denen sich das Subjekt im Gefühl der Neigung oder der Furcht selbst evident ist, bringen sich in der „Achtung fürs Gesetz“ Furcht und Neigung auf wechselseitige Weise hervor, indem sich das empirischtranszendentale Subjekt in einer Rückkopplungsschleife selbst steuert.52 Furcht und Neigung stellen deshalb keine exzentrischen Motivationen mehr dar, sondern erscheinen jetzt als Momente eines „selbstgewirkten Gefühls“ der Achtung, die jeweils die beiden äußersten Positionen innerhalb der Rückkopplungsschleife eines auf sich selbst angewendeten Befehls beschreiben. Die Gleichzeitigkeit der Identität und der Nicht-Identität des Subjekts mit dem Gesetz kommt dabei auch in der doppelten Semantik von Achtung im Sinne von Aufmerksamkeit und im Sinne von Respekt zum Ausdruck. Im Moment der Neigung ist sich das Subjekt als Befehlender selbst präsent, während es im Moment der Furcht vor sich selbst als dem Befehlenden Respekt hat. Die Achtung geht deshalb weder wie die Neigung des antiken Naturrechts noch wie die Furcht des modernen dem Gesetz voraus, sondern beschreibt die Justierung des Subjekts um den Mittelpunkt des Gesetzes, die zugleich eine Zentrierung und eine Dezentrierung zur Folge hat. Weil das Subjekt sowohl in der Aufmerksamkeit auf das Gesetz vom Gesetz angezogen als auch im Respekt vor dem Gesetz von demselben auf Distanz gehalten wird, ist das Gefühl der Achtung nicht dessen Ursache, sondern die Wirkung des Gesetzes. Während das Subjekt im Gefühl der Furcht zuletzt von der Furcht vor dem Tod bestimmt und im Gefühl der Neigung von einem dieser Neigung entsprechenden Leben abhängig wäre, affirmiert es sich im Gefühl der Achtung als sein eigener Zweck. Die „Achtung fürs Gesetz“ schließt das Subjekt in den dauerhaften Augenblick seiner selbstgestifteten Existenz ein und ist deshalb für Kant in letzter Konsequenz immer Selbstachtung, bei der die „Persönlichkeit, d. i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur“ dadurch gewährleistet wird, dass „die Person also als zur Sinnenwelt gehörig ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, sofern sie zugleich zur intelligiblen Welt gehört“.53 In der „Selbstbilligung“, die das Zentrum der „Achtung fürs Gesetz“ ausmacht, erfährt sich das Subjekt als Quelle seiner eigenen Existenz, ohne mit dieser Quelle identisch zu sein. Es partizipiert darin an den Attributen der Heiligkeit, die das unendliche Wesen kennzeichnen, ohne allerdings selbst heilig zu sein.54 Denn im Unterschied zu einem 52

53 54

Vgl. dazu Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, übers. v. Heinz Jatho, Frankfurt/M. 2002, S. 13–69 (hier: S. 16), der das moderne Problemfeld der Aufmerksamkeit aus der Unmöglichkeit rekonstruiert, sich selbst in seiner Wahrnehmung präsent zu sein: „Ich behaupte jedoch, daß die Aufmerksamkeit nur aufgrund der historischen Tilgung der Möglichkeit, die Idee der Präsenz in der Wahrnehmung zu denken, zu einem spezifisch modernen Problem wird; erst im Gefolge dieser Tilgung wird die Aufmerksamkeit zu einer Simulation von Präsenz und zugleich zu einem Notbehelf, zu einem pragmatischen Ersatz angesichts deren Unmöglichkeit.“ Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 23), S. 101 (AA V 87). Das Postulat von der Unsterblichkeit der Seele im Sinne einer „ins Unendliche fortdauernden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens“ stellt daher die endlose Brücke zwischen der Endlichkeit dar, aus der heraus das Gesetz unerfüllbar erscheinen muss, und der Unendlichkeit, aus der heraus das Gesetz immer schon erfüllt ist. Vgl. dazu Friedo Ricken: Die Postulate der reinen praktischen Vernunft (122–148), in: Otfried Höffe (Hg.): Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 2002, S. 187–202.

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unendlichen muss das endliche Wesen auf die ihm innewohnende Unendlichkeit im Gefühl der Achtung erst aufmerksam werden, um vor seiner eigenen Unendlichkeit Respekt empfinden zu können. Daher spricht Kant von einem „leichteren Eingang“ des Gesetzes der Pflicht „durch die Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit“.55 Das sich selbst regelnde Subjekt muss sich in der Selbstachtung entgegen seiner ihm stets voraus laufenden Sinnlichkeit als übersinnliches Wesen unablässig einholen. Denn die Quelle seiner Existenz ist weder die Angst vor dem Tod noch eine mit dem Leben verbundene Lust, sondern die Macht des Imaginären, aus sich selbst heraus die Ewigkeit der symbolischen Ordnung zu stiften, mit dem die Wirksamkeit dieser Macht auf Dauer gestellt werden soll.56 Daher kann Kant sagen, dass der letzte Grund der Existenz weder das Leben noch die Angst vor dem Tod ist, sondern die „Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz“, mit der in „Vergleichung und Entgegensetzung das Leben vielmehr mit aller seiner Annehmlichkeit gar keinen Wert“ hat.57 Besonders deutlich wird die Paradoxie der Selbstunterwerfung, die mit der Instituierung der symbolischen Ordnung aus dem systematischen Gebrauch der Vorstellungswelt einhergeht, wenn Kant die Grundlage der Selbsterhaltung nicht als eine von Natur aus gegebene Neigung, sondern als eine Pflicht versteht, die sich erst dann zeigt, wenn die Neigung dazu verschwunden ist. Am Beispiel der Selbstmordproblematik hat Kant anschaulich gemacht, was es heißt, dass die Persönlichkeit des Subjekts über der empirischkonkreten Person desselben steht: „Dagegen sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und überdem hat jedermann dazu noch eine unmittelbare Neigung. Aber um deswillen hat die oft ängstliche Sorgfalt, die der größte Teil der Menschen dafür trägt, doch keinen inneren Wert und die Maxime derselben keinen moralischen Gehalt. Sie bewahren ihr Leben zwar pflichtgemäß, aber nicht aus Pflicht.“58 Sein Leben aus Pflicht zu bewahren, heißt dagegen, auch dann noch der Erhabenheit der eigenen Existenz Rechnung zu tragen, „wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben; wenn der Unglückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet als kleinmütig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus Pflicht; alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt“.59 Wenn die Quelle der Existenz weder das Leben noch die Angst vor dem Tod ist, sondern die Ewigkeit der symbolischen Ordnung, dann kann das Subjekt aus dieser Ewigkeit heraus seinen eigenen Tod nicht wollen können. Aus dieser Perspektive hat jeder Selbstmord zwangsläufig pathologische Gründe und kann somit niemals der Entschluss eines freien Willens sein.60 Weil die 55 56

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Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 23), S. 184 (AA V 161). Bernhard H. F. Taureck hat darauf hingewiesen, dass die „Fassung der Unsterblichkeit“ bei Kant deshalb ein Novum darstellt, weil sie von allen Todesbezügen absieht, während vor Kant die „Unsterblichkeit stets mit dem Tod verknüpft und dabei verschiedenen Bewertungen ausgesetzt“ wurde. Vgl. Bernhard H. F. Taureck: Philosophieren: Sterben lernen? Versuch einer ikonologischen Modernisierung unserer Kommunikation über Tod und Sterben, Frankfurt/M. 2004, S. 108. Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 23), S. 103 (AA V 88). Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 15), S. 34 (AA IV 397f). Ebd. S. 35 (AA IV 398). Vor diesem Hintergrund konstituiert sich die im 19. Jahrhundert entstehende Disziplin der Soziologie um die „kollektive Krankheitserscheinung“ der statistisch erfassbaren Selbstmordrate als

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Autonomie des Subjekts aus der Autonomie der Vorstellungswelt abgeleitet wird, kann der Entschluss, sich selbst das Leben zu nehmen, nicht aus der gleichen Vorstellungswelt abgeleitet werden, ohne mit dieser in Konflikt zu geraten: „Also kann ich über den Menschen in meiner Person nicht disponieren, ihn zu verstümmeln, zu verderben, oder zu töten.“61 Im Entschluss zum Selbstmord würde sich das Subjekt nicht mehr in dem Bild wiedererkennen können, das es selbst von sich als ein solches Wesen hervorgebracht hat, das sich selbst hervorbringt: Das Leben gehört sich nur selbst, insofern es dem Gesetz gehört. – Die Paradoxie dieser Selbstunterwerfung resultiert aus dem Umstand, dass Kant die symbolische Ordnung aus dem Imaginären ableitet, in dem es keine fremde Macht und keinen Tod gibt. Ein Wille, der „nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen“ ist, dass er „auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden“62 kann, ist ausschließlich in der Vorstellungswelt möglich. Wenn keine andere Größe als das Imaginäre die Quelle der Freiheit sein kann, dann muss die symbolische Ordnung jede andere Referenz ausschließen und das Subjekt so auf diese Quelle beziehen, dass diese zum virtuellen Herkunftsort seines Lebens wird und sein Dasein zu einer permanenten Abweichung davon, bei der das Datum des Todes nur die größtmögliche darstellt.

4.

Der unhintergehbare Kontrakt

Aus diesem Kontext heraus wird verständlich, warum der Gesellschaftsvertrag im Denken Kants nicht wie in der politischen Philosophie des Thomas Hobbes als ein historisch-fiktionales Geschehen, sondern als eine „bloße Idee“ aufgefasst werden muss. Während der Gesellschaftsvertrag bei Hobbes die Instituierung des Imaginären als Verdrängung eines Realen gewährleistet, das als Todesdrohung alle gleichermaßen angeht, leitet Kant die legitime Existenz des Gemeinwesens aus dem Vermögen des Imaginären her, sich eine „bloß rechtliche Gesetzgebung“ vorzustellen, die weder auf dem Streben nach Glückseligkeit basiert noch aus der Angst vor dem Tod resultiert, sondern von nichts anderem abhängig ist als von der Möglichkeit dieser Vorstellung. Deshalb kann der „ursprüngliche Kontrakt“ kein historischer Akt sein und nicht als ein solcher überliefert werden: „Allein dieser Vertrag (contractus originarius oder pactum sociale genannt), als Coalition jedes besondern und Privatwillens in einem Volk zu einem gemeinschaftlichen Willen (zum Behuf einer bloß rechtlichen Gesetzgebung) ist keineswegs als ein

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gesellschaftspolitische Diagnose einer pathologischen „Störung des sozialen Gleichgewichts“. Vgl. Émile Durkheim: Der Selbstmord, übers. v. Sebastian u. Hanne Herkommer, Frankfurt/M. 1983, S. 32 u. 466. Zu den theoretischen Aporien der von Durkheim getroffenen Unterscheidung zwischen einer normalen und anormalen Selbstmordrate vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997, S. 258–267. Zur philosophiegeschichtlichen Problematik des Selbstmords insbesondere bei Kant vgl. Friedhelm Decher: Die Signatur der Freiheit. Ethik des Selbstmords in der abendländischen Philosophie, Lüneburg 1999, S. 101–107. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 15), S. 80 (AA IV 429). Ebd. S. 82 (AA IV 431).

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Faktum vorauszusetzen nötig (ja als ein solches gar nicht möglich); [...].“63 Gerade weil der Gesellschaftsvertrag kein Geschehen, sondern eine „bloße Idee“ ist, kann sich seine „unbezweifelte (praktische) Realität“ derart entfalten, dass er nicht mehr zu den Einzelnen als ein historisch-fiktionales Geschehen hinzutritt, sondern unmittelbar aus diesen hervorgeht.64 Während die Einzelnen bei Hobbes nur so lange an den Gesellschaftsvertrag gebunden sind, wie der aus allen Einzelnen konstituierte Wille des Souveräns in der Lage ist, diese Einzelnen zu schützen, sind die Einzelnen bei Kant zu jeder Zeit an den Gesellschaftsvertrag gebunden, insofern sich dieser unmittelbar aus ihrer Vorstellungswelt als empirisch-transzendentale Subjekte ableitet. Der „ursprüngliche Kontrakt“ wird nicht auf den Überlebenswillen derjenigen zurückgeführt, die den Kontrakt angesichts der Todesdrohung ins Leben rufen, sondern auf den von ihrem besonderen Wollen unabhängigen Status der Einzelnen als Subjekte. Dementsprechend geht die mediale Verdoppelung dieser Einzelnen nicht mehr von der im Modell der Repräsentation gestifteten Wiedererkennung der Einzelnen im Souverän aus, bei der die Einzelnen die Ursprungsgewalt der Gemeinschaft in der Identifikation mit der Macht des Souveräns von sich selbst absondern. Vielmehr stellt die Regierung eines Staates im „bürgerlichen Zustand“ die gleiche symbolische Ordnung dar, der die Einzelnen ihren Status als empirisch-transzendentale Subjekte verdanken.65 Die Souveränität der Regierung repräsentiert daher nicht mehr die Gesamtheit aller Einzelwillen, sondern verkörpert eine symbolische Ordnung, an der jeder einzelne Wille insofern partizipiert, als dieser sich überhaupt nur entlang dieser Partizipation als Einzelwille affirmieren kann. Die mediale Verdoppelung, mittels derer sich die Einzelnen in der symbolischen Ordnung wiedererkennen können, wird nicht mehr von der Ursprungsgewalt der Gemeinschaft in Gang gesetzt, sondern erscheint schon in jedes einzelne Subjekt als ein empirisch-transzendentales eingeschrieben. Während für Hobbes im Realen des Naturzustandes ein Außen 63

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65

Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis/Zum ewigen Frieden, hg. v. Heiner F. Klemme, Hamburg 1992, S. 29 (AA VIII 297). Hannah Arendt hat in diesem Sinne bei Kant einen weltbürgerlichen Imperativ aus der Idee der Menschheit zu rekonstruieren versucht: „Kraft dieser in jedem einzelnen Menschen vorhandenen Idee der Menschheit sind die Menschen menschlich, und sie können zivilisiert oder human in dem Maße genannt werden, in dem diese Idee zum Prinzip nicht nur ihrer Urteile, sondern auch ihrer Handlungen wird. [...] Der gleichsam kategorische Imperativ für das Handeln könnte dann wie folgt lauten: Handle stets nach der Maxime, durch die dieser ursprüngliche Vertrag in einem allgemeinen Gesetz verwirklicht werden kann.“ Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, übers. v. Ursula Ludz, hg. v. Ronald Beier, München/Zürich 1985, S. 100f. Dieser Argumentationslinie von Kant folgend hat Hans Kelsen alle rechtsphilosophischen Auffassungen des Staates zurückgewiesen, die einen Unterschied zwischen Staats- und Rechtslehre in dem Sinne machen, dass die jeweils eine „logische oder zeitliche Voraussetzung“ der jeweils anderen sein soll, und die Vorstellung, dass der Staat etwas Überindividuelles sei, als das Primitive der modernen Rechtsphilosophie bezeichnet. Vgl. Hans Kelsen: Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie. Mit besonderer Berücksichtigung von Freuds Theorie der Massen, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Heft VIII.2 (1922), S. 97–141 (hier: S. 139): „Ist in diesem Punkte die moderne Staatestheorie primitiv, so ist eben das totemistische System die Staatstheorie der Primitiven.“

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wirksam ist, dessen Verdrängung die Aufrichtung der symbolischen Ordnung geschuldet ist, kann es für Kant kein denkbares Außen einer symbolischen Ordnung geben, die sich ausschließlich aus dem systematischen Gebrauch der Vorstellungswelt des Subjekts herleiten lässt. In dieser Hinsicht tut der sich selbst regierende Einzelne nichts anderes als die Regierung eines Staates im bürgerlichen Zustand, deren Gesetze stets so gegeben werden sollen, als „sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können“.66 Demnach ist ein Gesetz dann gerecht, wenn die bloße Möglichkeit besteht, dass jeder Einzelne diesem Gesetz prinzipiell zustimmen kann: „Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes. Ist nämlich dieses so beschaffen, daß ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte (wie z. B. daß eine gewisse Klasse von Untertanen erblich den Vorzug des Herrenstandes haben sollten), so ist es nicht gerecht; ist es aber nur möglich, daß ein Volk dazu zusammen stimme, so ist es Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten; gesetzt auch, daß das Volk jetzt in einer solchen Lage, oder Stimmung seiner Denkungsart wäre, daß es, wenn es darum befragt würde, wahrscheinlicherweise seine Beistimmung verweigern würde.“67 Zwischen dem Sichselbstwollen der Einzelnen und dem Sichselbstwollen des Gemeinwesens besteht eine Kontinuität hinsichtlich ihrer zirkulären Hervorbringung, die weder ein Gut des Einzelnen noch ein Gut des Gemeinwesens voraussetzt.68 Das Sichselbstwollen des Gemeinwesens leitet sich weder von einem souveränen Willen ab, der dem Gemeinwesen ein Gut vorschreibt, noch leitet es sich aus dem Gut eines jeden Einzelnen ab, der ansonsten nur dann dem Gut des Gemeinwesens zustimmen könnte, wenn es sich mit seinem Gut decken würde. Wie das Sittengesetz den Willen eines jeden Einzelnen an den Willen aller anderen bindet, so bezieht das Rechtsprinzip die Selbständigkeit eines jeden Einzelnen derart auf die Selbständigkeit des Gemeinwesens, dass die Selbständigkeit eines jeden Einzelnen durch die Selbständigkeit des Gemeinwesens gewährleistet wird und im Gegenzug die Selbständigkeit des Gemeinwesens durch die Selbständigkeit eines jeden Einzelnen: „Wenn die oberste Macht Gesetze gibt, die zunächst auf die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger, die Bevölkerung u. dergl.) gerichtet sind: so geschieht dieses nicht als Zweck der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung, sondern bloß als Mittel, den rechtlichen Zustand vornehmlich gegen äußere Feinde des Volkes zu sichern.“69 Der Zweck der „Errichtung einer bürgerlichen Verfassung“ ist nicht, das Volk „gleichsam wider seinen Willen glücklich zu machen, sondern nur zu machen, daß es als gemeinsames Wesen existiere“.70 Wie für das Sittengesetz hat auch 66 67 68

69 70

Kant: Über den Gemeinspruch (Anm. 63), S. 29f, (AA VIII 297). Ebd. S. 29f (AA VIII 297). Zur historischen Ablösung des bürgerlichen Staatsdenkens von jeglicher politisch-theologischer Mission vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, übers. v. Claudia Brede-Konersmann u. Jürgen Schröder, hg. v. Michel Sennelart, Frankfurt/M. 2004, S. S. 414–448 (hier: S. 421): „Der Staat richtet sich nur nach sich selbst, er sucht sein eigenes Gut und hat keinen äußeren Zweck, d. h. er braucht in nichts anderes als sich selbst zu münden. Er muß weder nach dem Heil des Souveräns noch nach dem ewigen Heil der Menschen, noch nach irgendeiner Form der Vollendung oder der Eschatologie streben.“ Kant: Über den Gemeinspruch (Anm. 63), S. 31 (AA VIII 298). Ebd. S. 31 (AA VIII 298f).

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für das Rechtsprinzip die Existenz des Willens den Vorrang vor dem, was der Wille will. Kant unterscheidet daher zwischen einer „väterlichen“ Regierung, die auf „dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder“ basiert und bei der die „Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind“, und einer „vaterländischen“ Regierung, welche „allein für Menschen, die der Rechte fähig sind, zugleich in Beziehung auf das Wohlwollen des Beherrschers gedacht werden kann“.71 Bei einer solchen Regierung behandelt „der Staat selbst (civitas) seine Untertanen zwar gleichsam als Glieder einer Familie, doch zugleich als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbständigkeit“, sodass „jeder sich selbst besitzt, und nicht vom absoluten Willen eines anderen neben oder über ihm abhängt“.72 Während in einer väterlichen Regierung alles vom „Urteile des Staatsoberhaupts“ abhängt, lebt eine vaterländische Regierung aus dem Vermögen der Einzelnen, „Mitgesetzgeber“ des Staates zu sein, und das heißt, selbst Urteile fällen zu können. Die bürgerliche Ordnung verlangt von jedem, sich in Beziehung zum Gesetz setzen zu können, und eröffnet im Unterschied zur väterlichen Regierung zwangsläufig eine neue Form der Exklusion: Wer nicht in der Lage ist, den einzelnen Fall unter das allgemeine Gesetz zu bringen und die symbolische Ordnung zu produzieren, kann nicht als vollständiger Bürger gelten.73 Damit der „Actus eines öffentlichen Willen“ ein solcher Akt sein kann, bei dem „alle über alle, mithin ein jeder über sich selbst beschließt“,74 muss die Selbständigkeit der Bürger der Selbständigkeit des Gemeinwesens entsprechen, sodass das politischökonomische Vermögen des Gemeinwesens, tatsächlich zu existieren, und das individuelle Vermögen der Bürger, ihre politisch-ökonomische Existenz zu sichern, wechselseitig voneinander abhängen. An die leer gewordene Stelle des Vaters tritt daher die politische Einheit des Vaterlandes, die alle gemeinsam hervorbringen und der sich jeder Einzelne als solcher verdankt. „Eigner seiner selbst zu sein“, heißt deshalb nicht nur ein Eigentum zu haben, das die Selbständigkeit des Einzelnen in ökonomischer Hinsicht ermöglicht, sondern dieses Eigentum so zu haben, dass dieses Haben nur aufgrund der politischen Einheit des Vaterlandes möglich ist.75 Im Unterschied zur Figur des Vaters kann das Vaterland keinem Einzelnen mehr zugerechnet werden: „Patriotisch ist nämlich die Denkungsart, da ein jeder im Staat (das Oberhaupt nicht ausgenommen) das gemeine Wesen als den mütterlichen Schoß, oder das Land als den väterlichen Boden, aus und auf dem er selbst entsprungen, und welchen er auch so als ein teures Unterpfand hinterlassen 71 72 73

74 75

Ebd. S. 22 (AA VIII 291). Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten. Erster Teil, hg. v. Bernd Ludwig, Hamburg 1986, S. 133 (AA VI 317). Vgl. dazu ausführlich Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt/M. 1996, S. 463: „Jetzt, da er mit dem Wahnsinn zu tun hat, übt der Bürger eine fundamentale Gewalt aus, die ihm gestattet, zugleich ‚Mensch des Gesetzes‘ und ‚Mensch der Regierung‘ zu sein. Als alleiniger Souverän des bürgerlichen Staates ist der freie Mensch zum ersten Richter über den Wahnsinn geworden.“ Kant: Über den Gemeinspruch (Anm. 63), S. 26 (AA VIII 294). Zur historischen Entstehung des modernen Nationenverständnis im Sinne einer „imaginären Gemeinschaft“ vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, übers. v. Benedikt Burkard, Frankfurt/M./New York 1988.

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muß, betrachtet, nur um die Rechte desselben durch Gesetze des gemeinsamen Willens zu schützen, nicht aber es seinem unbedingten Belieben zum Gebrauch zu unterwerfen sich für befugt hält.“76 Und trotzdem hält die politische Einheit des Vaterlandes die Leere, die das Verschwinden der Vaterfigur hinterlassen hat, derart offen, dass die politische Frage, wer „patriotisch“ genannt werden kann und damit zu dieser Einheit gehört, niemals abschließend beantwortet werden kann: „Derjenige nun, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt Bürger (citoyen, d. i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois). Die dazu erforderlichen Qualität ist außer der natürlichen (daß es kein Kind, kein Weib sei) die einzige: daß er sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin irgend ein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk oder schöne Kunst oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d. i. daß er in den Fällen, wo er von Andern erwerben muß, um zu leben, nur durch Veräußerung dessen, was sein ist, erwerbe, nicht durch Bewilligung, die er anderen gibt, von seinen Kräften Gebrauch zu machen, folglich daß er niemanden als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Worts diene.“77 Zu denen, die nicht in der Lage sind, dem Gemeinwesen zu dienen, rechnet Kant die, welche bloß „operarii“ und nicht „artifices“ sind und daher nur einem fremden und nicht dem eigenen Befehl unterstehen: „Der Hausbediente, der Ladendiener, der Taglöhner, selbst der Friseur sind bloß operarii, nicht artifices (in weiterer Bedeutung des Worts) und nicht Staatsglieder, mithin auch nicht Bürger zu sein qualifiziert.“78 Diesen kommen zwar auch die Freiheit und die Gleichheit der bürgerlichen Verfassung als Menschen zugute, weil es ihnen aber an der Selbständigkeit mangelt, können sie lediglich als „passive Staatsbürger“ gelten. Auch wenn Kant diese Einschränkung der „bürgerlichen Persönlichkeit“ immer nur als eine temporäre denkt, weil sich jeder „aus diesem passiven Zustand zu dem aktiven emporarbeiten“79 können muss, ist sie als diese temporäre dennoch konstitutiv für die faktische Existenz des Gemeinwesens. Denn während das aus der Vorstellungswelt abgeleitete Vermögen der Selbstbestimmung jedem Menschen zugestanden werden muss, kann die tatsächliche Kraft eines Menschen, von diesem Vermögen auch Gebrauch machen zu können, immer nur konstatiert werden.80 „Es ist, ich gestehe es“, räumt Kant ein, „etwas schwer die Erfordernis zu bestimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein eigener Herr ist, Anspruch machen zu können“.81 Dass der Stand des Menschen als ein Wesen, das sich selbst als frei vorstellen und aus dieser Vorstellung heraus seine Freiheit realisieren kann, stets heimgesucht wird von einer Einschränkung, in der diese Freiheit als noch nicht gegeben konstatiert werden muss, stellt keine Inkonsistenz dar, sondern resultiert aus dem Umstand, dass die Differenz zwischen der vorgestellten und der tatsächlichen Ordnung zu keiner Zeit vollständig verschwinden kann. Was Kant nicht denken kann, wenn er die symbolische Ordnung aus 76 77 78 79 80

81

Kant: Über den Gemeinspruch (Anm. 63), S. 22 (AA VIII 291). Ebd. S. 27f (AA VIII 295). Ebd. S. 27 (AA VIII 295). Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (Anm. 72), S. 132 (AA VI 315). Zur damit notwendigen Ergänzung der Bestimmung des Menschen durch die Pragmatik einer Anthropologie bei Kant am Beispiel der Geschlechter- und Klassenproblematik vgl. Ute Frietsch: Michel Foucaults Einführung in die Anthropologie Kants, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie, Band 11, Heft 2 (2002), S. 11–37. Kant: Über den Gemeinspruch (Anm. 63), S. 27 (AA VIII 295).

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dem systematischen Gebrauch der Vorstellungswelt ableitet, ist die historische Welt der Kräfte, die niemals mit der symbolischen Ordnung übereinstimmen kann und doch die faktische Existenz derselben bedingt.

5.

Der Selbstmord des Staates

Weil der Gesellschaftsvertrag kein historisch-fiktionales Geschehen darstellt, kann seine Geltung auch nicht von historischen Umständen abhängen, sondern muss diesen Umständen auch dann unterstellt werden, wenn aus der bestehenden Ordnung nicht auf einen zugrunde liegenden Gesellschaftsvertrag geschlossen werden kann. Der Selbstmordproblematik im Rahmen des Sittengesetzes entspricht daher die Widerstandsproblematik im Rahmen des Rechtsprinzips. Wie das empirische Leben immer nur als eine Abweichung vom gesetzmäßigen Leben erscheint, kann auch die tatsächliche Ordnung nur als eine Abweichung von der vorgestellten Rechtsordnung aufgefasst werden. Aus dem gleichen Grund, warum der Selbstmord nicht als Akt eines freien Willens aus dem Sittengesetz abgleitet werden kann, lässt sich auch ein Widerstandsakt gegen die tatsächliche Ordnung nicht aus der vorgestellten Ordnung eines Rechtszustands herleiten, um diesen Rechtszustand als einen faktischen allererst herzustellen. Wie der Selbstmord für das Sittengesetz den äußersten Gegensatz zur Autonomie der Selbstbestimmung darstellt, so ist der Widerstandsakt für das Rechtsprinzip „das höchste und strafbarste Verbrechen“ im „gemeinen Wesen“, weil „alle Widersetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Macht, alle Aufwiegelei, um Unzufriedenheit der Untertanen tätlich werden zu lassen, aller Aufstand, der in Rebellion ausbricht“, dessen „Grundfeste zerstört“.82 Wenn das Rechtsprinzip wie das Sittengesetz auf dem Vorrang der Existenz des Willens vor dem Gut des Willens beruht, dann kann aus der Existenz des Willens kein Recht gegen diese Existenz deduziert werden, ohne ein Gut des Willens in Anspruch zu nehmen. Weil Kant den Gesellschaftsvertrag unmittelbar aus dem Imaginären ableitet, ist die reale Gewalt, der sich das Zustandekommen der Gemeinschaft tatsächlich verdankt, der faktischen Rechtsordnung immer äußerlich, sodass diese Rechtsordnung unabhängig vom Zustandekommen ihre Geltung beanspruchen kann: „[...] wenn eine Revolution einmal gelungen und eine neue Verfassung gegründet ist, so kann die Unrechtmäßigkeit des Beginnens und der Vollführung derselben die Untertanen von der Verbindlichkeit, der neuen Ordnung der Dinge sich, als gute Staatsbürger, zu fügen, nicht befreien, und sie können sich nicht weigern, derjenigen Obrigkeit ehrlich zu gehorchen, die jetzt die Gewalt hat.“83 Aus dem gleichen Grund, warum die Rechtsordnung blind sein muss gegenüber ihrem tatsächlichen Zustandekommen, kann es auch kein Recht auf Widerstand gegen diese Rechtsordnung geben.84 Denn ein Recht auf Widerstand ließe sich allein aus einem der Existenz des Willens übergeordneten „Prinzip der Glückseligkeit“ herleiten, 82 83 84

Ebd. S. 32 (AA VIII 299). Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (Anm. 72), S. 145 (AA VI 322f). Vgl. dazu Klaus Steigleder: Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, Stuttgart/Weimar 2002, S. 198–215 (hier: S. 214): „Die herausgestellte Dignität einer faktischen staatlichen Ordnung ist unabhängig von der Geschichte ihres Zustandekommens. Kant geht davon aus, dass der tatsächliche Ursprung staatlicher Ordnungen vermutlich stets in der An-

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das für Kant „keines bestimmten Prinzips“ fähig ist und daher im Staatsrecht nur „Böses“ anrichtet, „so wie es solches in der Moral tut, auch selbst bei der besten Meinung, die der Lehrer desselben“ beabsichtigt: „Der Souverän will das Volk nach seinen Begriffen glücklich machen und wird Despot; das Volk will sich den allgemeinen menschlichen Anspruch auf eigene Glückseligkeit nicht nehmen lassen und wird Rebell.“85 Wie der Selbstmord aus freiem Willen für das Sittengesetz zwangsläufig ein Widerspruch sein muss, so würde ein Recht auf Widerstand einen Widerspruch des Rechtsprinzips mit sich selbst erzeugen, weil es sich genau gegen den Rechtszustand wenden müsste, dem es sich als Recht gegen diesen Zustand überhaupt erst zu verdanken hätte. Während die Gewalt des Realen, die am Anfang des Gemeinwesens steht, bei Hobbes ein stets präsentes Außen der Gemeinschaft darstellt, das als Ursprung der Gemeinschaft maskiert und in diesem Sinne ungewusst werden muss, wird die „Unrechtmäßigkeit des Beginnens“ bei Kant zum undenkbaren Außen eines imaginären Inneren, das sich allein aus der Vorstellung seiner selbst als autopoietisch verstehen darf. Aus diesem Grund nennt Kant einen Anschlag auf das „gesetzgebende Oberhaupt“ einen Hochverrat, bei dem der Verräter als jemand angesehen werden muss, der „sein Vaterland umzubringen versucht“,86 und zwar auch dann, wenn der Anschlag aufgrund eines vorhergehenden Machtmissbrauchs dieses Oberhaupts geschieht: „Der Grund der Pflicht des Volkes einen, selbst den für unerträglich ausgegebenen Machtmißbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen, liegt darin: daß sein Widerstand wider die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden muß.“87 Im Zusammenhang mit dem „Schicksal Karls I. oder Ludwigs XVI.“ spricht Kant daher auch von einer „Umkehrung des Verhältnisses zwischen Souverän und Volk (dieses, was sein Dasein nur der Gesetzgebung des ersteren zu verdanken hat, zum Herrscher über jenen zu machen)“, durch welche die „formale Hinrichtung“ als ein „vom Staate an ihm verübter Selbstmord“ erscheint.88 Was Kant erschaudern lässt bei der Erinnerung an die Hinrichtung Karls I. oder Ludwigs XVI.,89 ist nicht in erster Linie der Mord selbst, sondern das „rechtliche Verfahren“, mit dem die Rechtsordnung dann in einen „Alles ohne Wiederkehr verschlingenden Abgrund“ gestürzt wird, wenn dem Oberhaupt der Gesetzgebung selbst der Prozess gemacht wird: „Man hat also Ursache anzunehmen, daß die Zustimmung zu solchen Hinrichtungen wirklich nicht aus einem vermeint-rechtlichen Prinzip, sondern aus Furcht vor Rache des vielleicht dereinst wiederauflebenden Staats am Volk herrührte, und jede Förmlichkeit nur vorgenommen worden, um jener Tat den Anstrich von Bestrafung, mithin eines

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wendung von Gewalt zu suchen ist, so dass sich die neue Ordnung von der alten in dieser Hinsicht nicht unterscheiden dürfte. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass die neue und die alte Ordnung als (faktische) Rechtsordnungen dem Naturzustand überlegen sind. Deshalb darf dieser auch nicht durch den Versuch riskiert werden, die alte Ordnung wiederherzustellen.“ Kant: Über den Gemeinspruch (Anm. 63), S. 31 (AA VIII 302). Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (Anm. 73). S. 142 (AA VI 320). Ebd. S. 142 (AA VI 320). Ebd. S. 145 (AA VI 322). Zur Problematik des Regizids im Zuge der Französischen Revolution vgl. Friedrich Balke: Wie man einen König tötet oder: Majesty in Misery, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 75. Jahrgang (2001), S. 657–679.

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rechtlichen Verfahrens (dergleichen der Mord nicht sein würde) zu geben, welche Bemäntelung aber verunglückt, weil eine solche Anmaßung des Volkes noch ärger ist, als selbst der Mord, da diese einen Grundsatz enthält, der selbst die Wiedererzeugung eines umgestürzten Staates unmöglich machen müsste.“90 Weil der Gesellschaftsvertrag für Kant kein historisch-fiktionales Geschehen ist, sondern unmittelbar aus der Vorstellungswelt hervorgeht, darf auch die daraus resultierende Rechtsordnung von keinem historischen Geschehen abhängig sein und muss sich gegen die tatsächliche Gewalt, aus der sie hervorgegangen ist, gleichgültig verhalten. Deshalb kann es keinen Übergang zwischen einer vergangenen und einer bestehenden Ordnung geben, der sich rechtlich erfassen ließe. Eine „Staatsumwälzung“ kann nicht anders als außerrechtlich vor sich gehen. Zwischen einer vergangenen und einer bestehenden Ordnung herrscht stets eine Gewalt ohne Gesetz, der im Hinblick auf den Vorrang der Existenz des Willens vor dem Gut des Willens jede gesetzmäßige Gewalt überlegen ist. Dem Oberhaupt der Gesetzgebung selbst den Prozess zu machen, bedeutet für Kant ein vom Staat an ihm selbst „verübter Selbstmord“, weil ein solcher Prozess den Versuch darstellen würde, den außerrechtlichen Übergang selbst zu verrechtlichen, und somit das Recht der Gefahr aussetzt, sich am Realen der Gewalt zu infizieren. Aufgrund dieser Gefahr darf es nicht das „mindeste Recht“ geben, ein Oberhaupt „wegen der vorigen Verwaltung zu strafen“: „[...] weil alles, was er vorher in der Qualität eines Oberhaupts tat, als äußerlich rechtmäßig geschehen angesehen werden muß, und er selbst, als Quell der Gesetze betrachtet, nicht unrecht tun kann.“91 Weil die Konfrontation mit dem Ursprung der Gemeinschaft zu einer gesetzlosen Gewalt führen würde, die sich der rechtmäßigen Unterscheidung von guter und böser Gewalt entzieht, ist der „Ursprung der obersten Gewalt für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich“.92 Nach dem Ursprung zu fragen, hieße die Geltung des Rechts von seinem Zustandekommen abhängig zu machen und damit letztlich jener ununterscheidbaren Gewalt auszuliefern, die den Staat in einen „Alles ohne Wiederkehr verschlingenden Abgrund“ stößt. Während bei Hobbes die Frage nach dem Ursprung so lange suspendiert ist, wie der Souverän die Untertanen zu schützen vermag und sich die Untertanen in der Position der Allmacht wiedererkennen können, ist die Frage nach dem Ursprung für Kant unmittelbar verbunden mit dem Subjektstatus.93 Weil die Hobbessche Konstruktion des Vertrags als historisch-fiktionales Geschehen diejenigen, die diesen Vertrag ins Leben rufen, voraussetzen muss, kann sich die Instituierung der symbolischen Ordnung nicht anders als in Form einer imaginären Aneignung des Ursprungs durch die Verdrängung des realen Gründungsgeschehens vollziehen. Im gleichen Maß, wie sich diese Instituierung einer vorgängigen Verdrängung verdankt, bleibt jedoch auch der Zugang zum realen Gründungsgeschehen offen. Im Unterschied dazu wird die Frage nach dem Ur90 91 92 93

Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (Anm. 73), S. 145 (AA VI 322). Ebd. S. 143 (AA VI 321). Ebd. S. 140 (AA VI 318). Zur damit verbundenen Verschiebung der Auffassung vom Verbrecher als einem sündigen Menschen zu einem „inneren Feind“, der „innerhalb der Gesellschaft den theoretisch geschlossenen Gesellschaftsvertrag“ bricht, vgl. Michel Foucault: Die Wahrheit und die juristischen Formen, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt/M. 2003, S. 78–101 (hier: S. 80).

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sprung bei Kant zu einer unmöglichen Frage, die, wenn sie trotzdem gestellt wird, den Subjektstatus des Fragenden in Frage stellt: „Ob ursprünglich ein wirklicher Vertrag der Unterwerfung unter denselben (pactum subiectionis civilis) als ein Faktum vorhergegangen, oder ob die Gewalt vorherging, und das Gesetz nur hinternach gekommen sei, oder auch in dieser Ordnung sich habe folgen sollen: das sind für das Volk, das nun schon unter dem bürgerlichen Gesetz steht, ganz zweckleere, und doch den Staat mit Gefahr bedrohende Vernünfteleien; denn, wollte der Untertan, der den letzteren Ursprung nun ergrübelt hätte, sich jener jetzt herrschenden Autorität widersetzen, so würde er nach den Gesetzen derselben, d. i. mit allem Recht, bestraft, vertilgt oder als vogelfrei (exlex) ausgestoßen werden.“94 Weil es kein denkbares Außen eines Gesellschaftsvertrags gibt, der unmittelbar aus der Vorstellungswelt der Einzelnen hervorgeht, muss die politische Grenzziehung von Inklusion und Exklusion auch als Grenze einer Vorstellungswelt wirksam werden, die ihre Identität ausschließlich der imaginären Zentrierung um die Vorstellung einer Selbstgesetzgebung verdankt: „Ein Gesetz, das so heilig (unverletzlich) ist, daß es, praktisch, auch nur in Zweifel zu ziehen, mithin seinen Effekt einen Augenblick zu suspendieren, schon ein Verbrechen ist, wird so vorgestellt, als ob es nicht von Menschen, aber doch von einem höchsten tadelfreien Gesetzgeber herkommen müsse, und das ist die Bedeutung des Satzes: ‚Alle Obrigkeit kommt von Gott‘, welcher nicht einen Geschichtsgrund der bürgerlichen Verfassung, sondern eine Idee, als praktisches Vernunftprinzip, aussagt: der jetzt bestehenden gesetzgebenden Gewalt gehorchen zu sollen; ihr Ursprung mag sein, welcher er wolle.“95 Für die Selbstbehauptung einer Ordnung, die sich allein aus ihrer Selbstidentität heraus zu begründen versucht, muss die Gründungsgewalt zu ihrer eigenen Umwelt werden, die von der Begründungslogik der Selbstidentität her nicht mehr einsehbar ist. Diese Grenze der Vorstellungswelt, deren Effekt nicht „einen Augenblick“ suspendiert werden darf, macht die politische Legitimität von einer Symbolproduktion abhängig, mittels derer sich jeder in den Moment der Selbstidentität einschließen können muss.

6.

Die Immunität des Gesetzes

Während sowohl die Kritik der reinen als auch die der praktischen Vernunft an der juridischen Form des Urteils orientiert sind, steht im Zentrum der Kritik der Urteilskraft (1790) der Abgrund zwischen der Möglichkeit und der Unmöglichkeit, überhaupt ein Urteil fällen zu können. Denn die Möglichkeit eines Urteils und damit der Subsumtion eines Einzelnen unter ein Allgemeines setzt voraus, dass dieses Einzelne noch vor dem Urteil schon als subsumierbar erscheinen können muss. Kant definiert die „Urteilskraft“ in diesem Sinne als ein Vermögen, „das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“.96 Damit ein wirksames Urteil gefällt werden kann, muss die Reichweite der urteilenden Kraft schon ausgewiesen sein.97 Im Unterschied zur Kritik sowohl der 94 95 96 97

Ebd. S. 140 (AA VI 318f). Ebd. S. 140 (AA VI 319). Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg 1990, S. 15 (AA V 179). Vgl. dazu Leander Scholz: Das Symbol als Medium der Einheitsbildung, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 29. Jahrgang, Heft 1 (2004), S. 3–18.

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reinen als auch der praktischen Vernunft, die den Vermögen die ihnen entsprechenden Gebiete zuteilt und deren Grenzen festlegt, geht es der Kritik der Urteilskraft nicht um die Erschließung eines zusätzlichen Gebietes neben den Kategorien der Natur und den Kategorien der Freiheit, sondern um die Frage der Erreichbarkeit dieser Gebiete durch die urteilende Kraft.98 Was die Analytik der ästhetischen Urteilskraft aufdeckt, ist die jedem Urteil vorgängige Notwendigkeit, dass die empirischen Dinge und die tatsächlichen Personen, auf die sich das Urteil beziehen soll, so erscheinen können müssen, dass sie diesem Urteil entgegenkommen, und zwar gerade, weil man keinen Einblick in das empirische und zufällige Gegebensein der zu beurteilenden Gegenstände haben kann. Um von der Autonomie der Vorstellungswelt aus die empirische Welt der konkreten und vielfältigen Einzelheiten adressieren zu können, die sich jeder Schematisierung entziehen, bedarf es eines ästhetischen Modus der Darstellung, in dem sich das Gegebene „zugleich objektiv als zufällig“ zeigen kann: „Diese Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird von der Urteilskraft, zum Behuf ihrer Reflexion über dieselbe nach ihren empirischen Gesetzen, a priori vorausgesetzt; indem sie der Verstand zugleich objektiv als zufällig anerkennt, und bloß die Urteilskraft sie der Natur als transzendentale Zweckmäßigkeit (in Beziehung auf das Erkenntnisvermögen des Subjekts) beilegt; weil wir, ohne diese vorauszusetzen, keine Ordnung der Natur nach empirischen Gesetzen, mithin keinen Leitfaden für eine mit diesen nach aller ihrer Mannigfaltigkeit anzustellende Erfahrung und Nachforschung derselben haben würden.“99 Noch bevor die Urteilskraft bestimmend wirksam werden kann, muss schon die Bestimmbarkeit des zu beurteilenden Gegenstandes sichergestellt sein, in der sich der Gegenstand als zweckmäßig für seine Beurteilung zeigen kann: „Denn Zweckmäßigkeit ist eine Gesetzmäßigkeit des Zufälligen als eines solchen.“100 Aus diesem Grund steht im Zentrum der Kritik der Urteilskraft nicht die nach einem allgemeinen Schema „bestimmend“ verfahrende Urteilskraft, sondern eine sich selbst „reflektierende“ Urteilskraft, die ihre Arbeit schon getan haben muss, bevor den urteilenden Vermögen ihre entsprechenden Gebiete tatsächlich korrespondieren können. Denn in der Reflexion ihrer selbst muss sich die Urteilskraft allererst der Kraft versichern, der sie die Anwendbarkeit des Urteils verdankt, indem sie den Gegenständen eine solche Möglichkeit ihrer Beurteilung als objektiv unterstellt, die objektiv nicht gegeben ist. – Im Unterschied zur „Erklärung einer Erscheinung, die ein Geschäft der Vernunft nach objektiven Prinzipien ist“ und die, weil sie einen kausalen Zusammenhang behauptet, „mechanisch“ heißt, nennt Kant die „Beurteilung“ desselben Gegenstandes „nach subjektiven Prinzipien der Reflexion“ 98

99 100

Vgl. dazu Gilles Deleuze: Die Idee der Genese in Kants Ästhetik, in: ders.: Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, hg. v. David Lapoujade, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt/M. 2003, S. 82–106 (hier: S. 85): „Das heißt, daß die Kritik der Urteilskraft in ihrem ästhetischen Teil die beiden anderen nicht einfach ergänzt: in Wirklichkeit begründet sie diese. Sie entdeckt eine freie Übereinstimmung der Vermögen als den von den beiden anderen Kritiken vorausgesetzten Urgrund. Jede bestimmte Übereinstimmung verweist auf die unbestimmte freie Übereinstimmung, die sie allgemein ermöglicht.“ Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 96), S. 22 (AA V 185). Immanuel Kant: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, hg. v. Gerhard Lehmann, Hamburg 1990, S. 24 (AA XX 217).

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über denselben „technisch d. i. zugleich als Kunst“.101 Dieser technische Zugriff erlaubt es, die unabsehbaren Zufälligkeiten, die jedes empirische Urteil heimsuchen, dadurch zu übergehen, dass das Gegebene als zweckmäßig vorgestellt wird, ohne auf „an sich zweckmäßige Naturformen“ schließen zu müssen. Die Notwendigkeit, die sich in der Analytik der ästhetischen Urteile offenbart und die sich nur auf den ersten Blick auf ein sorgfältig abgegrenztes Gebiet der Kunst zu beziehen scheint, besteht darin, dass jedem empirischen Urteil eine ästhetische Erschließung seines gegebenen Gegenstandes vorausgehen muss.102 Die Überbrückung des Abgrundes zwischen der Möglichkeit und der Unmöglichkeit, überhaupt ein wirksames Urteil fällen zu können, hängt daher davon ab, ob sich die subsumierende Urteilskraft in einem „ästhetischen Reflexions-Urteil“ ihrer eigenen Anwendbarkeit vergewissern kann. Josef Simon hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Analytik des Schönen und die Analytik des Erhabenen nicht als zwei prinzipiell verschiedene Arten der ästhetischen Reflexionsurteile verstanden werden dürfen, sondern als zwei konstitutive Momente einer ästhetischen Reflexion des Bestimmungsvermögens, die sich nicht unabhängig voneinander begreifen lassen: In der Erfahrung des Schönen erscheint ein Gegenstand als immer weiter bestimmbar und in diesem Sinne als zweckmäßig für das Vermögen der Bestimmung, was daher mit Lust und einer harmonischen Stimmung des Subjekts verbunden ist; andererseits impliziert diese unabschließbare Bestimmbarkeit zugleich die Zweckwidrigkeit einer prinzipiellen Unbestimmbarkeit, die mit Unlust verbunden zunächst die Erfahrung des Erhabenen ausmacht: „Man kann von einem ‚Umschlagen‘ des einen Gefühls in das andere sprechen, weil die Natur in ihrer Unbestimmbarkeit zugleich Lust und Unlust auslöst: Lust an der in allem Ansehen als bestimmt weiteren Bestimmbarkeit als einer ‚Möglichkeit‘ und Unlust wegen der darin begründeten ‚Unmöglichkeit‘ definitiver Erkenntnis.“103 In der Erfahrung des Schönen kommt der Gegenstand dem Vermögen der Bestimmung entgegen; er stellt sich so dar, dass er schon dem Bereich des Gesetzes angehört, noch bevor das Gesetz als Gesetz aufgetreten ist. Die Erfahrung des Schönen eröffnet die Möglichkeit der Anwendung des Gesetzes vor seiner Anwendung.104 Das ästhetische Urteil als „Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes in Beziehung auf die freie Gesetzmäßigkeit der Einbildungskraft“105 liest dem 101 102

103 104

105

Ebd. S. 24 (AA XX 217). Vgl. dazu Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hg. v. Maria Muhle, übers. v. Maria Muhle, Clemens Krümmel u. Jürgen Link, Berlin 2006, S. 35–49 (hier: S. 40), der ein „repräsentatives Regime“ von einem „ästhetischen Regime“ der Künste um 1800 unterschieden hat, das sich nicht mehr durch die „Hierarchie seiner Gegenstände“ auszeichnet, sondern durch eine Technik der Sichtbarmachung auf jeden beliebigen Gegenstand beziehen und diesen in die Ordnung des Sinnlichen einschließen kann. Josef Simon: Erhabene Schönheit. Das ästhetische Urteil als Destruktion des logischen, in: Herman Parret (Hg.): Kants Ästhetik, Berlin/New York 1998, S. 246–274 (hier: S. 265). In diesem Sinne hat Johann Heinrich Trede den systematischen Ort des „ästhetischen Prinzips nicht als Nebenordnung eines ‚irrationalen‘ Bereichs außerhalb der Funktionen diskursiven Urteilens“ verstanden, sondern als „deren Voraussetzung“. Vgl. Johann Heinrich Trede: Ästhetik und Logik. Zum systematischen Problem in Kants Kritik der Urteilskraft, in: Hans-Georg Gadamer (Hg.): Das Problem der Sprache, München: Fink 1967, S. 169–182 (hier: S. 170). Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 96), S. 82 (AA V 240).

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zufällig Gegebenen eine Gesetzmäßigkeit ab, sodass sich eine „Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz“ einstellt, bei der sich das Gegebene als „von selbst gesetzmäßig“ zeigt.106 Im Gegensatz dazu geht die Erfahrung des Erhabenen von einer Gesetzwidrigkeit aus, die außerhalb des Anwendungsbereichs des Gesetzes herrscht und in der das Gegebene als „zweckwidrig für unsere Urteilskraft“, „unangemessen unserem Darstellungsvermögen“ und „gleichsam gewalttätig für die Einbildungskraft“ erscheint.107 Während das Schöne, in dem sich die Urteilskraft reflektieren kann, indem sie sich ihrer eigenen Kraft wie in einem Spiegel versichert, „directe ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich führt“, kommt es bei der Erfahrung des Erhabenen zu einer „augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkeren Ergießung derselben“, was Kant als eine „indirecte“ oder „negative Lust“ bezeichnet.108 Desto stärker der sowohl faszinierende als auch abstoßende Anblick der „wildesten, regellosesten Unordnung und Verwüstung“ die Einbildungskraft erregt, umso heftiger wendet sich der Blick von dieser Gesetzwidrigkeit und der darin enthaltenen Todesdrohung ab und nimmt sich selbst als der Autonomie seiner Vorstellungswelt zugehörig zur Kenntnis. Im ersten Fall gefällt sich die Lebenskraft in ihrem eigenen Anblick, während sich im zweiten Fall diese Lebenskraft an dem Anblick und in der Abwendung des Blicks von der drohenden Möglichkeit des Todes steigert. Während das Schöne einen Beispielbereich der Gesetzmäßigkeit noch vor dem Auftritt des Gesetzes symbolisiert, wird im Erhabenen ein Ausnahmebereich symbolisiert, der zum Einsatz des Gesetzes aufruft: „[...] denn das eigentlich Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft, welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen läßt, rege gemacht und ins Gemüt gerufen werden.“109 Beide Momente der sich im ästhetischen Urteil reflektierenden Urteilskraft, die symbolisierte Identität und die symbolisierte Nicht-Identität, konstituieren den Blick entlang einer anziehenden Spiegelung und einer abstoßenden Gegenspiegelung als seiner selbst sicher. Die Erfahrung des Schönen und die des Erhabenen beschreiben daher die beiden entscheidenden Techniken der Selbstjustierung, auf die eine politische Ordnung, die sich allein aus ihrer Selbstidentität heraus zu begründen versucht, angewiesen ist, um diese Selbstidentität herstellen zu können. Was symbolisiert werden muss, um das Zutrauen zur „Realität unserer Begriffe“ und das Versprechen einer Korrespondenz zwischen der „inneren Möglichkeit des Subjektes“ und der „äußeren Möglichkeit einer damit übereinstimmenden Natur“110 anschaulich und damit erfahrbar zu machen, betrifft nicht nur die Möglichkeit des Entgegenkommens beider, die das Schöne als „Symbol der Sittlichkeit“ stiftet, sondern auch die Angst und das Entsetzen vor einem diese Sittlichkeit bedrohenden Außen, das im Erhabenen zugleich vergegenwärtigt und auf Distanz gehalten wird: „Denn was ist das, was selbst dem Wilden ein Gegenstand der größten Bewunderung ist? Ein Mensch, der nicht erschrickt, der sich nicht fürchtet, also der Gefahr nicht weicht, 106 107 108 109 110

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

S. S. S. S. S.

83 (AA V 241). 88 (AA V 245). 88 (AA V 245). 89 (AA V 245). 214 (AA V 353).

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zugleich aber mit völliger Überlegung rüstig zu Werke geht.“111 Das Symbol, das auch dort eine „indirekte Darstellung“ erlaubt, wo keine unmittelbare Schematisierung möglich ist, indem die Vorstellung eines Schemas projiziert wird, gewährleistet nicht nur den Übergang von der Autonomie der Vorstellungswelt zur Gesetzmäßigkeit des empirisch und zufällig Gegebenen, sondern schirmt auch die Ohnmacht ab, die von einer gesetzlosen Gewalt ausgeht.112 In dieser doppelten Funktion verwaltet das Symbol die Grenze der politischen Ordnung, indem es unter der Hinsicht des Schönen die Projektion eines sich selbst sicheren Inneren auf ein Außen erlaubt und unter der Hinsicht des Erhabenen das Innere gegen ein bedrohliches Außen immunisiert. Deshalb darf es nicht verwundern, dass Kant den Krieg, „wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird“, als ein hervorragendes Erhabenes ansieht, insofern dieser „die Denkungsart des Volkes, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener [macht], je mehreren Gefahren es ausgesetzt war und sich mutig darunter hat behaupten können; dahingegen ein langer Frieden den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen und die Denkungsart des Volkes zu erniedrigen pflegt“.113 Im Unterschied zur Gesetzlosigkeit einer revolutionären Gewalt herrscht im geordneten Krieg eine Gewalt, angesichts der sich die Ordnung behaupten kann, da sie sich nicht an der Gewalt infiziert und doch mit ihr in Kontakt steht. Im Hinblick auf die „Hochachtung“ ist für Kant der „Feldherr“ auch im „allergesittetsten Zustande“ dem „Staatsmann“ jederzeit vorzuziehen; er vermag die Berührung der Gewalt auszuhalten, ohne seiner Furcht zu erliegen und ohne der Gewalt anheim zu fallen: „Daher mag man noch soviel in der Vergleichung des Staatsmanns mit dem Feldherrn über die Vorzüglichkeit der Achtung, die einer vor dem anderen verdient, streiten; das ästhetische Urteil entscheidet für den letzteren.“114 Während für die Kritik sowohl der reinen als auch der praktischen Vernunft das ordnungspolitische Chaos, das am Anfang der modernen politischen Philosophie steht, undenkbar ist, hält das ästhetische Urteil mit diesem anfänglichen Chaos einen untergründigen Kontakt, indem es einerseits im Schönen dieses Chaos in die Ordnung einbezieht, insofern dem Chaos eine Ordnung unterstellt wird, und andererseits im Erhabenen das Chaos zur Geltung bringt, von dem sich die Ordnung als solche distanziert. Die gesetzlose Gewalt, deren Verdrängung sich bei Hobbes die politische Ordnung der Gemeinschaft verdankt und die im Inneren der Ordnung als eine die Gemeinschaft erhaltende Gewalt wiederkehrt, die 111

112

113 114

Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 96), S. 108 (AA V 262). Zum Zusammenhang der Beispiele in der Analytik des Erhabenen und des Schönen mit der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts vgl. Gernot Böhme: Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht, Frankfurt/M. 1999. Der von Odo Marquard vertretenen These, dass Kants „Wende zur Ästhetik“ aus der Einsicht in die „Ohnmacht der wissenschaftlichen Vernunft“ resultiert, lässt sich insofern zustimmen, als damit auch die Einsicht in die Unmöglichkeit einer vollständigen Verrechtlichung des Politischen einhergeht. Wenn Marquard in dieser Wende jedoch lediglich die Kompensation einer enttäuschten Hoffnung der Aufklärung sieht, die an die Stelle der „Realisierung“ die „Symbolisierung des guten Seins“ setzt, scheint er den politischen Einsatz der Ästhetik zu unterschätzen. Vgl. Odo Marquard: Kant und die Wende zur Ästhetik, in: ders.: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 1989, S. 21–34 (hier: S. 31). Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 96), S. 109 (AA V 263). Ebd. S. 108f (AA V 262f).

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an kein vorgängiges Gesetz gebunden ist, erscheint in Kants Denken eines immer schon gegebenen Gesetzes der Gesetzmäßigkeit an den äußersten Rand der Ordnung gedrängt, zu der diese Ordnung trotzdem eine sich unablässig abschneidende Verbindung unterhalten muss, um sich ihrer selbst in der Immunisierung gegen ihren Ursprung in einer gesetzlosen Gewalt vergewissern zu können. Der sensus communis kann daher die Gemeinschaft niemals sich selbst zu erfahren geben, sondern diese im ästhetischen Urteil nur „ansinnen“, insofern die Existenz der Gemeinschaft dem Umstand geschuldet ist, dass ihr Ursprung nicht gewusst werden kann.

7.

Der symbolische Nullpunkt

In seinem Buch Die Legitimität der Neuzeit (1966) hat Hans Blumenberg die historische Loslösung der modernen Ordnungspolitik von jeglichem kosmologischen oder theologischen Ursprung als Aufdeckung eines Nullpunktes beschrieben, an dem der Mangel an vorgegebener Ordnung zugleich zum Ausgangspunkt der autopoietischen Ordnungsstiftung wird: „Der Nullpunkt des Ordnungsschwundes und der Ansatzpunkt der Ordnungsbildung sind identisch; das Minimum an ontologischer Disposition ist zugleich das Maximum an konstruktiver Potentialität.“115 Die moderne Selbstbehauptung, die Blumenberg unter der Überschrift Kosmogonie als Paradigma der Selbstkonstitution als eine programmatische Nachahmung der „schöpferischen Ursituation“ rekonstruiert hat, basiert auf der Vorgängigkeit eines Nullpunktes, der die Möglichkeit einer „konstruktiven Potentialität“ allererst freisetzt: „Die Welt muß als produzierbar angesehen werden, wenn nicht sicher ist, daß sich mit dem Gegebenen auskommen läßt.“116 Die Voraussetzungslosigkeit, in der die moderne Ordnung ihren Gründungsakt situiert, verdankt sich einer Grenzziehung, mit der jede gegebene Ordnung sowohl im Sinne einer Überlieferung als auch im Sinne einer natürlichen Ordnung als Umwelt derjenigen Welt erscheint, die sich diesseits der Grenze befinden soll. Insofern markiert der Nullpunkt sowohl die Scheidung zwischen einer mangelhaften Umwelt und einer zu produzierenden Welt als auch den Ort, von dem aus die zu stiftende Ordnung erst zur Aneignung ihrer Selbstidentität aufgerufen ist. Mit der Geste der Voraussetzungslosigkeit wird demnach nicht nur die Möglichkeit einer konstruktiven Potentialität freigesetzt, sondern auch auf eine Voraussetzung rekurriert, die in der Voraussetzungslosigkeit selbst nicht noch einmal als solche vorkommen kann.117 Die Identität von Ordnungsschwund und Ordnungsbildung in Form eines Nullpunktes unterhält eine Verbindung zu dem, was sie in der Voraussetzungslosigkeit ausschließt, gegenüber der sie sich jedoch zugleich abschotten muss, um sich in sich selbst zu stabilisieren. Bevor das Selbst der Selbstbehauptung sich als ein Selbst behaupten kann, muss es eine Erfahrung des Zwangs zur Behauptung 115 116 117

Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Erneuerte Ausgabe, Frankfurt/M. 1999, S. 251. Ebd. S. 239. Zur Diskussion dieser Problematik im Zusammenhang mit Blumenbergs These, dass erst die Neuzeit im Stande war, die adäquate Antwort auf die spätantike Herausforderung der gnostischen Weltfremdheit zu geben, vgl. Odo Marquard: Das gnostische Rezidiv als Gegenneuzeit. Ultrakurztheorem in lockerem Anschluß an Blumenberg, in: Jacob Taubes (Hg.): Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 2: Gnosis und Politik, München 1984, S. 31–36.

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machen, von der allerdings das Selbst der Behauptung nicht abhängig sein kann, wenn seine Behauptung in der Identität dieses Selbst bestehen soll. Diese Form des Nullpunktes, die sich weder als ein Anfang noch als eine Negation beschreiben lässt,118 hat Blumenberg anhand der Auseinandersetzung von René Descartes mit der bedrohlichen Möglichkeit eines deus malignus in den Meditationes de prima philosophia (1641) verdeutlicht. An einem bestimmten Punkt des methodischen Zweifels taucht der weitreichende Verdacht auf, dass die Urheberschaft des Wahrgenommenen, des Empfundenen und selbst des Gedachten nicht dem Ich der Wahrnehmung, des Empfindens und des Denkens, sondern einem bösen Schöpfergott zugerechnet werden könnte, dessen uneingeschränkte Macht auch die Macht einer absoluten Manipulation umfasst. Die berühmte Antwort, die Descartes auf diesen Verdacht gegeben hat, lautet: „Nun, wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, daß ich bin. Er täusche mich, so viel er kann, niemals wird er doch fertig bringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei.“119 Dieser Satz artikuliert jedoch nicht nur die Begründung des Selbst in seiner Selbstgewissheit, sondern führt den komplexen Zusammenhang von vollständiger Fremdbestimmung und unhintergehbarer Selbstbestimmung auf eine gegenläufige Weise vor. In einer einzigen Bewegung wird die Aufdeckung des Selbstseins zunächst an die Vorstellung einer vollständigen Fremdbestimmung als Ausgangspunkt dieser Bewegung gekoppelt, um sogleich wieder davon gelöst zu werden und im Gegenzug das Selbstsein als Ausgangspunkt der gleichen Bewegung zu bestimmen: „Ich bin, ich existiere, das ist gewiß. Wie lange aber? Nun, so lange ich denke. Denn vielleicht könnte es sogar geschehen, daß ich, wenn ich ganz aufhörte zu denken, alsbald auch aufhörte zu sein.“120 In dieser gegenläufigen Bewegung verläuft die Richtung zunächst von der Vorstellung einer Manipulation, die selbst noch diese Vorstellung beherrscht, zur Entdeckung eines Vorstellenden, der selbst noch in der Vorstellung einer Manipulation vorkommen muss, und dann umgekehrt von einem Vorstellenden, der sich selbst als manipuliert vorzustellen versucht und dabei feststellen muss, dass diese Vorstellung in genau dem Moment, in dem er sie hat, immer noch seine Vorstellung bleibt. In dieser Bewegung werden zwei Perspektiven eingenommen, die sich darin unterscheiden, dass sich der Verdacht der absoluten Manipulation zwar als Vorstellung vorstellen lässt, aber dass, sobald dieser Verdacht einem Vorstellenden zugerechnet wird, es sich nicht mehr um eine absolute Manipulation handeln kann. So erscheint die bedrohliche Vorstellung, ich könnte nicht ich selbst sein, sondern nur der Effekt einer fremden Allmacht, einerseits als der Weg zur Entdeckung meines unhintergehbaren Selbstseins und andererseits als eine unmögliche Vorstellung, sobald ich diesen Weg zurückgelegt habe.121 Die Grenzziehung zwischen diesen beiden Perspektiven ist die Grenze zwischen dem, 118

119 120 121

Brian Rotman hat daher den Vorschlag gemacht, die Einführung der Null als „Meta-Zeichen“ für einen „fehlenden Ursprung“ zu interpretieren. Vgl. Brian Rotman: Die Null und das Nichts. Eine Semiotik des Nullpunkts, übers. v. Petra Sonnenfeld, Berlin 2000, S. 141–168. René Descartes: Meditationes de prima philosophia/Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, hg. v. Lüder Gäbe, übers. v. Artur Buchenau, Hamburg 1959, S. 43. Ebd. S. 47. Zur systematischen Problematik der Möglichkeit eines bösen Schöpfergottes bei Descartes und der damit verbundenen Loslösung seines im Gottesbeweis entfalteten Begriffs eines allmächtigen Wesens vom christlichen Offenbarungsglauben vgl. Walter Schulz: Der Gott der neuzeitlichen Me-

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was sich als Vorstellung vorstellen lässt, und dem, was sich als Vorstellung eines Vorstellenden vorstellen lässt. Was diese gegenläufige Bewegung leistet, ist die Einführung einer paradoxen Fremdreferenz, mit der die Möglichkeit einer Ableitung des Selbstseins unmöglich wird und die gerade aufgrund dieser Unmöglichkeit das Selbstsein erzwingt. Auf diese Weise beschreibt die Referenz auf eine fremde Allmacht sowohl einen Bruch als auch eine Verbindung mit dieser, insofern die Selbstreferenz als solche seitens der unmöglichen Fremdreferenz eingesetzt worden ist und die Fremdreferenz als unmögliche in dieser Selbstreferenz nicht mehr vorkommen kann. – Während Blumenberg in dieser theoretischen Szene die historische Ablösung von einer politisch-theologischen Ordnung zugunsten einer selbstreferentiellen Ordnung gegeben sieht, bei der sich die Legitimität der Neuzeit als ein Übergang von der „Not der Selbstbehauptung“ zu einer „Souveränität der Selbstbegründung“ erweist,122 lässt sich diese gegenläufige Bewegung deutlicher fassen, wenn man sie mit einer theoretischen Szene in Verbindung setzt, bei der die spezifische Form der Abhängigkeit der Selbstreferenz von einer unmöglichen Fremdreferenz im Vordergrund steht. Jacques Lacan hat die Antwort von Descartes mit der ebenso berühmten Formel von Sigmund Freud in Zusammenhang gebracht: wo es war, soll Ich werden.123 Diese Formel vertieft die Problematik dieser Gegenläufigkeit, bei der die unmögliche Fremdreferenz, die mich auf meine eigene Gewissheit führt, zugleich bestätigt und ausgeklammert wird, indem sie die Ersetzungslogik des fremden Es durch das eigene Ich als eine zeitliche ausstellt, die in beide Richtungen wirksam sein muss.124 Denn wenn erst der Verdacht, ich könnte nicht ich selbst sein, mich auf mich selbst führt, dann muss ich immer wieder zu diesem Verdacht zurückkehren, um auf mich selbst zurückzukommen. Die Gegenläufigkeit der Bewegung endet nicht bei einer „Souveränität der Selbstbegründung“, die sich erst im Nachhinein als Ausgangspunkt der Bewegung herausstellen kann, sondern muss mit dieser Nachträglichkeit der Selbstreferenz auch der unmöglichen Fremdreferenz ihren Ort in der Bewegung der Selbstbegründung wiedergeben. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) nennt Kant die Ohnmacht, die „auf einen Schwindel (einen schnell im Kreise wiederkehrenden und die Fassungskraft übersteigenden Wechsel vieler ungleichartiger Empfindungen) zu folgen pflegt“, ein „Vorspiel von dem Tod“.125 Was die Ohnmacht des Schwindels mit der Vorstellung

122 123

124

125

taphysik, Stuttgart 1957, S. 31–56 (hier: S. 53): „Der Gott des Descartes hat in seiner souveränen und unverstehbaren Allmacht mich zu mir in meiner Endlichkeit ermächtigt.“ Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit (Anm. 115), S. 209. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI (1964), übers. u. hg. v. Norbert Haas, Weinheim/Berlin 1987, S. 48–58. Zu Lacans und auch Michel Foucaults kritischer Diagnose einer Korrespondenz zwischen Descartes und Freud bezüglich des Subjektbegriffs vgl. Jacques Derrida: „Gerecht sein gegenüber Freud“. Die Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Psychoanalyse, in: ders.: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, übers. u. hg. v. Hans-Dieter Gondek, Frankfurt/M. 1998, S. 59–127. Vgl. dazu ausführlich Leander Scholz: Gnosis und Globalisierung. Legitimationsparadoxien bei Hans Blumenberg, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaft, 53. Jahrgang, Heft 3 (2007), S. 340–359. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. v. Reinhard Brandt, Hamburg 2000, S. 60 (AA VII 166).

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des Todes gemeinsam hat, ist die Übersteigung der Fassungskraft. Zwar kann ich mir den Tod als Vorstellung vorstellen, aber diese Vorstellung kann nicht meine Vorstellung sein. Die Vorstellung des Todes gehört stets einem anderen an als demjenigen, der sie gerade als seine Vorstellung zu haben versucht. Wie der Schwindel eine physische Ohnmacht erzeugt, so führt die Vorstellung des eigenen Todes in eine abgründige Vorstellungswelt, die sich nicht mehr als Vorstellung eines Vorstellenden vorstellen lässt. Weil von dieser Vorstellungswelt kein Weg zu einem Vorstellenden führt, geht im Unterschied zur Macht des Imaginären, sich selbst zu zentrieren, von der Vorstellung des eigenen Todes eine bedrohliche Dezentrierung aus. Wenn der Tod keine Transzendenz mehr markiert, von der aus der „große Andere“ die symbolische Ordnung diesseits dieser Transzendenz einsetzt, sondern lediglich eine Grenze darstellt, über die sich nichts weiter sagen lässt, als dass sie unser Fassungsvermögen übersteigt, dann wird der „große Andere“ zu einem leeren Ort, von dem aus derjenige, der die Vorstellung seines eigenen Todes hat, sich als anderer seiner selbst dazu aufruft, sich in seiner eigenen Vorstellungswelt als jetzt Lebender wiederzuerkennen. – Kant beschreibt die Angst, die mit der Vorstellung des Todes einhergeht, in diesem Sinne nicht als „ein Grauen vor dem Sterben“, sondern vor dem „Gedanken, gestorben (d. i. tot) zu sein; den also der Kandidat des Todes nach dem Sterben noch zu haben vermeint, indem er das Kadaver, was nicht mehr er selbst ist, doch als sich selbst im düsteren Grabe oder irgend sonst wo denkt“.126 Was dem „Kandidaten des Todes“ also tatsächlich Angst macht, ist nicht der Tod selbst, sondern die Vorstellung einer Situation der Ohnmacht, in der aus der Möglichkeit, sich selbst als frei vorzustellen, keine entsprechende Macht resultiert, diese Freiheit auch zu realisieren.127 Das Bewusstsein des Kadavers, eingeschlossen im „düsteren Grabe“, das im Gedanken, schon gestorben zu sein, sich immer noch selbst denkt, ohne diesem Selbst mehr zu einer Existenz verhelfen zu können, erscheint so als die gespenstische Heimsuchung eines Bewusstseins, das sich seiner Existenz allein im Selbstdenken zu vergewissern versucht. Kant deutet diese Heimsuchung unmittelbar aus der „Natur des Denkens“ als eines „Sprechens zu und von sich selbst“.128 Denn obgleich die transzendentalphilosophische Argumentation bemüht ist, die theoretische Szene des cogito von allen substantialistischen Annahmen einer res cogitans bei Descartes zu befreien, so geht es auch Kant um die Frage, wie eine Vorstellungswelt beschaffen sein muss, damit jede Vorstellung einem Vorstellenden zugerechnet werden kann.129 Zwar kann man nicht von einem vorgestellten Ich auf die Existenz eines vorstellenden Ichs schließen, weil sich das vorstellende 126 127

128 129

Ebd. S. 60 (AA VII 167). Vgl. dazu Reinhardt Brandt: „Den Tod aber statuire ich nicht“, in: Konrad Paul Liessmann (Hg.): Ruhm, Tod und Unsterblichkeit, Wien 2004, S. 20–42 (hier: S. 42): „Der Gedanke des eigenen Todes ist somit das Gegen- und Spiegelbild des ‚cogito sum‘; der letztere erzwingt seine eigene Wirklichkeit, der erste kann nur gesagt, aber nicht gedacht werden.“ Ebd. S. 60 (AA VII 167). Zu Kants Auseinandersetzung mit Descartes vgl. Otfried Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2003, S. 142–145 (hier: S. 144). Höffe nennt Kants Ich denke eine „Vorstellung exklusiv eigener Art“, die „im Gegensatz zum gewöhnlichen einzelnen in keiner Anschauung gegeben ist“ und mit der die „Erste-Person-Synthesis“ geleistet wird, ohne dabei das „zugleich“ von „In-mir“ und „Für mich“ weiter zu problematisieren: „Das Begleitenkönnen des ‚Ich denke‘ meint den einfachen und doch so grundlegenden Umstand,

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Ich niemals im vorgestellten Ich erfassen lässt, aber man kann eine Zäsur einführen zwischen solchen Vorstellungen, die sich als Vorstellungen eines Vorstellenden vorstellen lassen, und solchen, zu denen sich kein Vorstellender vorstellen lässt: „Der Gedanke Ich bin nicht kann gar nicht existieren; denn bin ich nicht, so kann ich mir auch nicht bewußt werden, daß ich nicht bin.“130 In einer Vorstellungswelt, in der jede Vorstellung auf einen Vorstellenden zurückführbar sein soll, kann der Gedanke Ich bin nicht folglich nicht vorkommen. Denn insofern allein ein systematischer Gebrauch der Vorstellungswelt es erlaubt, sich entlang der Vorstellung einer Selbstgesetzgebung dauerhaft zu zentrieren, muss diese Vorstellungswelt so beschaffen sein, dass sich jeder Vorstellung die Möglichkeit eines Vorstellenden ablesen lässt, sodass Kant schlussfolgern kann: „[...] aber in der ersten Person sprechend das Subjekt selbst verneinen, wobei alsdann dieses sich selbst vernichtet, ist ein Widerspruch.“131 Der berühmte Satz zur „Einheit der transzendentalen Apperzeption“ aus der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) liest sich daher wie eine Aufforderung, sich selbst zu verdoppeln, um in der Verdoppelung die Nachträglichkeit einer vorgängigen Urheberschaft begreifen zu können: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.“132 Mit dem Imperativ, sich jede Vorstellung so vorzustellen, dass sie als Akt eines Vorstellenden vorgestellt werden kann, wird ein retroaktiver Prozess in Gang gesetzt, durch den die Zurechenbarkeit der Vorstellungen zu einem zugrunde liegenden Vorstellenden entlang einer durchgängigen Verknüpfung aller Vorstellungen zugleich als Ursprung und als Effekt der Verknüpfung sichergestellt wird.133 Retroaktiv ist dieser Prozess insofern, als die Uneinholbarkeit des Vorstellenden im Akt der Vorstellung mittels der Effekte einer solchen Vorstellungswelt eingeholt wird, in der jede Vorstellung auf einen Vorstellenden verweisen können muss. Ausgangspunkt dieser Retroaktivität ist weder die Vorgängigkeit eines Vorstellenden noch die Vorstellung eines Vorstellenden, in der sich ein zugrunde liegender Vorstellender wiedererkennen könnte, sondern die Durchgängigkeit der Verknüpfung selbst, die wie ein Spiegel zugleich etwas zu sehen gibt und etwas abschirmt. Erst wenn die Vorstellung meines eigenen Todes niemandem mehr zugerechnet werden kann und „wenigstens für mich“ nichts bedeutet, kann die Vorstellung, ich selbst zu sein, zur maßgeblichen

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daß Vorstellungen nicht kraft des vorgestellten Inhalts meine Vorstellungen sind, sondern nur deshalb, weil ich sie mir vorstelle, das heißt: weil ich sie, indem ich sie denke, ‚vermeinige‘.“ Kant: Anthropologie (Anm. 125), S. 61 (AA VII 167). Ebd. S. 61 (AA VII 167). Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 1998, S. 178 (AA III 108). Zur eigentümlichen Syntax dieses Satzes, mit der die Zirkularität der Aussage eingehüllt wird, vgl. Hans-Dieter Gondek: Angst Einbildungskraft Sprache. Ein verbindender Aufriß zwischen Freud – Kant – Lacan, München 1990, S. 121–133 (hier: S. 124): „Wäre das Ich denke wörtliche Rede, so wäre der Doppelpunkt angebracht und verständlich. Desgleichen bestünde zwischen der mit dem Komma eingeführten Zäsur und der Satzaussage keinerlei Diskrepanz, würde der Satz mit einem ‚Daß‘ anheben. [...] Aber zusammen lassen sie sich nicht realisieren, nicht in der Gestalt eines in Aussage, Grammatik und Syntax eindeutigen Satzes.“

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Vorstellung meiner Vorstellungswelt werden. Denn die theoretische Szene des cogito kann erst dann ihre Evidenz gewinnen, wenn der Tod als der „große Andere“, vom dem die Einsetzung der symbolischen Ordnung ausgeht, zu einem leeren Ort geworden ist und die symbolische Ordnung als immer schon eingesetzt erscheint. Aus dem gleichen Grund, aus dem ich mich selbst als ein Sterblicher nichts angehe, insofern ich meine Existenz allein der Identifikation mit der symbolischen Ordnung verdanke, geht mich auch jeder andere nichts in seiner zufälligen und endlichen Existenz an. – In dem kurzen und äußerst prägnanten Text Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797) argumentiert Kant, dass ich auch dann nicht lügen darf, wenn mir oder einem anderen daraus ein „noch so großer Nachteil“ erwachsen würde. Selbst wenn jemand vor meinem Haus steht, der offensichtlich die Absicht hat, jemanden zu töten, der sich in meinem Haus aufhält, darf ich auf die Frage, ob er sich dort befindet, nicht die Unwahrheit sagen: „Denn sie [die Lüge] schadet jederzeit einem anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.“134 Wenn ich lügen würde, um den anderen vor dem drohenden Tod zu retten, würde ich mich außerhalb der symbolischen Ordnung stellen und nicht im Sinne der „Menschheit überhaupt“ handeln, sondern als ein zufälliges und sterbliches Wesen, das mit seinen Neigungen immer schon in die historische Welt der Kräfte verstrickt erscheint.135 Nur wer auch in einer solchen Situation „strenge bei der Wahrheit“ bleibt, kann sich vor der Berührung mit der gesetzlosen Gewalt bewahren und den Tod, den der andere möglicherweise erleidet, einer Macht überantworten, die jenseits einer das Leben vollständig in sich aufgenommenen Welt des Gesetzes herrscht: „Er selbst tut also hiermit dem, der dadurch leidet, eigentlich nicht Schaden, sondern diesen verursacht der Zufall.“136

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Immanuel Kant: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: ders.: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg 1964, S. 202 (AA VIII 426). Zum historischen Kontext der Diskussion zu einem Recht auf Lüge vgl. Georg Geismann/Hariolf Oberer (Hg.): Kant und das Recht der Lüge, Würzburg 1986. Jacques Lacan hat das Sittengesetz bei Kant daher als „Begehren im Reinzustand“ gedeutet, das sich über die Negation des Objekts als rein zu erhalten versucht: „[...] jenes Begehren also, das auf das Opfer eigentlich all dessen hinausläuft, was Gegenstand der Liebe in ihrer menschlichen Zärtlichkeit werden kann – ich sage ausdrücklich, daß es sich nicht nur um die Verstoßung des pathologischen Objekts, sondern um dessen Opfer und Tötung handelt. Aus diesem Grund schrieb ich Kant mit Sade.“ Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (Anm. 123), S. 290. Kant: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (Anm. 143), S. 205 (AA VIII 428).

IV Der Haushalt des Todes (Hegel)

Im „wahren Naturzustand“, „in unserem primitiven Zustand“, schreibt Jean-Jacques Rousseau in seiner Abhandlung Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755), kann die Selbstsucht nicht vorkommen: „Da jeder Mensch als einzelner sich allein zum Zuschauer hat, der ihn beobachtet, als das einzige Wesen im Universum, das sich für ihn interessiert, als der einzige Richter über seine eigenen Verdienste, kann unmöglich ein Gefühl in seiner Seele keimen, das seine Quelle in Vergleichen hat, die über seinen Horizont hinausgehen.“1 Im Naturzustand Rousseauscher Prägung kann es keinen Hass und keine Rachsucht geben, weil jede Form von Kränkung und Beleidigung dann unmöglich ist, wenn jeder nur sich selbst zum Zuschauer hat und in seinem eigenen imaginären Horizont lebt. Wenn jeder Mensch als Einzelner für sich selbst das einzige Wesen im Universum darstellt, das sich für ihn interessiert, dann kann es weder ein anderes Wesen geben, in dem man sich spiegeln könnte, noch eine übergeordnete Instanz, mittels der die Konflikte, die damit einhergehen, geregelt werden. Denn wenn die Quelle der Selbstsucht, wie Rousseau sagt, allein in Vergleichen besteht, die über den eigenen Horizont hinausgehen, kann diese Quelle nicht existieren, wenn es keinen anderen als diesen Horizont gibt.2 Daher tritt die Gewalt, die im „wahren Naturzustand“ herrscht, nicht im Rahmen einer symbolischen Ordnung auf, sondern wie ein Naturereignis: „[...] da jeder Mensch seines gleichen kaum anders denn als Tiere einer anderen Art ansieht, kann er dem schwächeren die Beute rauben oder dem stärkeren die seine überlassen, ohne in diesen Räubereien anderes vor Augen zu haben als Naturereignisse, ohne die geringste Bewegung von Frechheit oder Ärger 1

2

Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft/Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, Französisch-Deutsch, übers. u. hg. v. Kurt Weigand, Hamburg 1995, S. 171. Zur damit einhergehenden Verzeitlichung des Theodizeeproblems vgl. Jean Starobinski: Rousseau. Eine Welt von Widerständen, übers. v. Ulrich Raulff, München 1988, S. 36–74 (hier: S. 38): „Rousseau indes braucht die Geschichte nur, weil sie ihm die Erklärung des Bösen liefert. [...] Der Mensch ist nicht von Natur aus schlecht; er ist es geworden.“

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und ohne eine andere Leidenschaft als Schmerz oder Freude über guten und schlechten Erfolg.“3 Wenn jeder jeden anderen „kaum anders denn als Tiere einer anderen Art ansieht“ und in diesem Sinne allein existiert, kann es auch keinen symbolisierbaren Konflikt geben, sondern nur die Unmittelbarkeit von Körpern und ihren Fertigkeiten. Denn um einen Konflikt zu haben, bei dem ein imaginärer Einsatz auf dem Spiel steht, der den eigenen Horizont überschreitet, muss man schon in einer gemeinschaftlichen Ordnung leben. – Der Naturzustand hingegen, den Rousseau zum Ausgangspunkt seiner Lehre vom contrat social gemacht hat, ist nicht deshalb ein glücklicher Zustand, weil es von Natur aus überhaupt keinen Mangel gäbe, sondern weil der Mangel nicht als solcher wahrgenommen werden kann, wenn jeder Mensch als Einzelner sich allein zum Zuschauer hat. Aus den gleichen Prämissen, die den Naturzustand in der politischen Philosophie des Thomas Hobbes als einen Kriegszustand erscheinen lassen, zieht Rousseau die gegenteilige Schlussfolgerung, dass ein Konflikt immer nur ihm Rahmen einer schon bestehenden symbolischen Ordnung existieren kann: „Beim Nachdenken über die von ihm [Hobbes] zugrundegelegten Prinzipien, mußte dieser Autor sagen, daß der Naturzustand, in dem ja die Sorge um unsere Erhaltung am wenigsten der anderer nachteilig ist, deshalb der am meisten dem Frieden eigentümliche Zustand war und am meisten dem Menschengeschlecht entsprach.“4 Wenn die unmittelbaren Bedürfnisse des Körpers und die Sorge um die Selbsterhaltung nicht der Grund der gewalttätigen Konflikte sind, sondern das „relative“ und „künstliche“ Gefühl der Selbstsucht, das jedes Individuum dazu verleitet, „von sich mehr Aufhebens als von jedem anderen zu machen“,5 dann setzt jeder wahrnehmbare Konflikt schon die Wahrnehmung eines gleichartigen anderen voraus und gehört folglich dem Gesellschaftszustand an.6 Gerade weil Rousseau sich mit Hobbes darin einig ist, dass die Grundlage der politischen Ordnung in der Überführung der sterblichen Existenz der Körper in eine über diese Sterblichkeit hinausgehende Instanz des Symbolischen besteht, von der die Grenze zwischen Leben und Tod verwaltet wird, setzt der Hobbessche Kriegszustand in den Augen Rousseaus schon voraus, dass der imaginäre Selbstbezug eines jeden Einzelnen von dem eines jeden anderen abhängig sein muss, damit der Kriegszustand als ein solcher erscheinen kann und nicht wie ein Naturereignis wahrgenommen wird. Was Rousseau gegen Hobbes einwendet, betrifft die Vorgängigkeit einer Gründungsgewalt, über die sich jenseits ihrer Symbolisierung nichts anderes sagen ließe, als dass es sich um eine Naturgewalt handeln würde. Der Naturzustand, den Rousseau dagegen als den anderen Zustand der Gesellschaft konstruiert und der als der „am meisten dem Frieden eigentümliche Zustand“ durch den Gesellschaftsvertrag wieder angeeignet werden soll, kann nicht anders als glücklich sein, weil er sich einer Vorstellungswelt verdankt, die ganz bei sich selbst ist. Denn wenn das, was als Gründungsgewalt erscheint, 3 4 5 6

Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit (Anm. 1), S. 171. Ebd. S. 167. Ebd. S. 169. Dazu dass sowohl für Hobbes als auch für Rousseau im Unterschied zum klassischen Naturrecht der Mensch von Natur aus nicht als immer schon vergesellschaftet und somit als ungesellig erscheint, vgl. ausführlich Iring Fetscher: Rousseaus Politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Neuwied am Rhein/Berlin 1968, S. 296–342.

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von der Wahrnehmung der Gewalt als solcher abhängt, dann kann die Gründung der Gesellschaft nicht von einem vorgängigen Realen ausgehen, sondern muss im Imaginären situiert werden. In G. W. F. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) wird Rousseau daher das Verdienst zugerechnet, ein Prinzip aufgestellt zu haben, das „nicht nur seiner Form nach“, sondern „dem Inhalte nach Gedanke ist, und zwar das Denken selbst ist“, nämlich „den Willen als Prinzip des Staates“.7 Im Unterschied etwa zur „göttlichen Autorität“ oder zum „Triebe des Wohlwollens, der Hilfeleistung, der Geselligkeit“ oder auch zum „Bedürfnis der Sicherheit des Eigentums“ ist der Wille als „Gedankenprinzip“ ein „Inwendiges“, das ganz bei sich selbst ist und seine Gewissheit daher in nichts anderem haben kann: „Der Wille ist frei nur, insofern er nichts Anderes, Äußerliches, Fremdes will, denn da wäre er abhängig, sondern nur sich selbst – den Willen will. Der absolute Wille ist dies, frei sein zu wollen.“8 Womit Rousseau aus der Perspektive Hegels anfängt, wenn er den Naturzustand des Menschen als einen Zustand konstruiert, in dem jeder Einzelne sich als Einziger beobachtet, ist eine vollständige Freisetzung der Imagination, die durch keine Autorität gebunden ist, weder durch eine menschliche noch durch eine göttliche oder durch die Autorität der Natur: „Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut.“9 Wenn die Gewissheit der Welt nicht in der Verlässlichkeit der Sonne und der sie umkreisenden Planeten besteht, sondern im Kopf erzeugt wird, kann der Mangel in der so erzeugten Wirklichkeit erst dann auftauchen, wenn es viele Köpfe gibt, deren Gleichheit in der ihnen jeweils eigenen Freiheit besteht: „[...] denn die Gleichheit ist durch die Vergleichung Vieler, aber eben diese Vielen sind Menschen, deren Grundbestimmung dieselbe ist, die Freiheit.“10 Aus dem gleichen Grund, aus dem für Hegel die Gleichheit „vor dem Gesetz“ unmittelbar der Freiheit als „natürlichem Recht“ folgen muss, wenn sich der Mensch auf den Kopf gestellt hat, kann für Rousseau die Ungleichheit keine von Natur aus gegebene sein, sondern nur als Effekt gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden werden: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: ‚Das ist mein‘ und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.“11 Während es im „wahren Naturzustand“ keinen Mangel geben kann, weil es keinen anderen gibt, der diesen Mangel symbolisieren könnte, setzt die Gesellschaft mit eben dieser Symbolisierung ein, indem der andere das symbolisiert, was mir fehlt. Da es für Rousseau von Natur aus keine Gemeinschaft gibt, entsteht die Gemeinschaft im gemeinsamen Teilen eines Mangels. Was mich mit dem anderen verbindet, insofern ich nur dann ganz bei mir bin, wenn ich mich als Einziger beobachte, ist nichts Gemeinsames, sondern das Bedrohliche eines frem7

8 9 10 11

G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke in 20 Bd. auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, Bd. 7, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, S. 400. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. 12, S. 524. Ebd. S. 529. Ebd. S. 525f. Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit (Anm. 1), S. 191.

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den Blicks, dem ich dann ausgeliefert bin, wenn es keine Möglichkeit gibt, dem anderen aus dem Weg zu gehen. Während ich im Naturzustand das einzige Wesen bin und daher frei und glücklich sein kann, bin ich im Gesellschaftszustand unter den Blicken der anderen aufgeteilt und unfähig, mich selbst in diesen unzähligen Blicken einzuholen. In diesem Zustand der Zerrissenheit herrscht deshalb Unfreiheit und Ungleichheit, weil ich von jedem anderen auf jeweils andere Weise abhängig bin: in der Teilung der Erde, der Erzeugnisse, der Arbeit und in der Teilung meiner selbst. Was der contrat social daher leisten muss, um die ursprüngliche Freiheit wieder herzustellen, ist die Schaffung eines einzigen Gemeinwesens mit einem einzigen Gemeinwillen, der als volonté générale in der Lage ist, jedem sich selbst ganz zurückzugeben, weil sich jeder ihm ganz hingibt.12 Der Gesellschaftsvertrag stellt die imaginäre Ganzheit, die im „wahren Naturzustand“ gegeben ist, dadurch wieder her, dass er aus den vielen sich begrenzenden einen einzigen unbegrenzten Willen macht, der wie im „wahren Naturzustand“ nur sich selbst zum Zuschauer hat. – Was Hegel an Rousseau kritisiert, ist nicht die Gewalt selbst,13 die dazu nötig ist, um eine symbolische Ordnung zu instituieren, in deren Blick sich jeder wiedererkennen kann, sondern die Unabschließbarkeit dieser Gewalt, wenn diese Instituierung erst dann als abgeschlossen gelten kann, wenn sich jeder vollständig mit dieser Ordnung identifiziert: „Allein indem er [Rousseau] den Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens (wie nachher auch Fichte) und den allgemeinen Willen nicht als das an und für sich Vernünftige des Willens, sondern nur als das Gemeinschaftliche, das aus diesem einzelnen Willen als bewußtem hervorgehe, faßte, so wird die Vereinigung der Einzelnen im Staate zu einem Vertrag, der somit ihre Willkür, Meinung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung zur Grundlage hat, und es folgen die weiteren bloß verständigen, das an und für sich seiende Göttliche und dessen absolute Autorität und Majestät zerstörenden Konsequenzen.“14 Dass Rousseau nicht den „objektiven Willen“ als das „an sich in seinem Begriffe Vernünftige“ zum Ausgangspunkt gemacht hat, „ob es von Einzelnen erkannt und von ihrem Belieben gewollt werde oder nicht“, sondern die Identität eines jeden mit diesem, ist für Hegel der Grund dafür, dass der Versuch, „ganz von vorne und vom Gedanken anzufangen“ zur „fürchterlichsten und grellsten Begebenheit“ geworden ist.15 Und doch ist die Gewalt der Französischen Revolution, die Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts das „erste ungeheure Schauspiel“ nennt, 12

13

14 15

Vgl. dazu Louis Althusser: Über Jean-Jacques Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“, in: ders.: Machiavelli – Montesquieu – Rousseau. Zur politischen Philosophie der Neuzeit, Schriften, Bd. 2, übers. v. Henning Ritter u. Frieder Otto Wolf, hg. v. Peter Schöttler u. Frieder Otto Wolf, Berlin 1987, S. 133–172 (hier: S. 145): „Im Zustand totaler Entfremdung (aliénation) bietet die totale Entäußerung (aliénation) die Lösung. [...] Diese totale Entfremdung läßt sich nur durch die totale Entfremdung, die diesmal jedoch bewußt und gewollt ist, auflösen.“ Dazu dass für Hegel das Ereignis der Französischen Revolution unmittelbar auf Rousseau verweist, vgl. Thomas Petersen: Subjektivität und Politik. Hegels ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘ als Reformulierung des ‚Contrat Social‘ Rousseaus, Frankfurt/M. 1992, S. 57–73 (hier: S. 57): „Die Gestalt Rousseaus ist für ihn [Hegel] untrennbar mit der Französischen Revolution verbunden. In ihr ist der ‚Contrat Social‘ Geschichte geworden, und deshalb sind durch sie auch die Bedingungen gegeben, unter denen Hegel an Rousseau anknüpfen kann.“ Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 7), S. 400. Ebd. S. 400.

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in dem „die Verfassung eines großen wirklichen Staates“ und alles „Bestehende und Gegebene“ umgestürzt worden ist, der systematische Ausgangspunkt für seine Entfaltung einer symbolischen Ordnung, die deshalb behaupten kann, das Ganze zu sein, weil darin jeder so dieser Ordnung angehören soll, dass er sich dabei zugleich selbst angehört. Damit jeder sein Imaginäres in die symbolische Ordnung eintragen kann, muss der Krieg eines jeden gegen jeden, der bei Hobbes als unaufhebbare Differenz des Anfangs und daher als eine katastrophale Gewalt erscheint, auf eine Weise in diese Ordnung einbezogen werden, dass die Dynamik dieser Differenz innerhalb der symbolischen Ordnung bewahrt bleibt und dennoch diese Ordnung nicht zerstören kann. Worin Hegel daher grundlegend über das Gesetzesdenken der kritischen Philosophie Immanuel Kants hinausgehen muss, in dem jeder mit jedem identisch erscheint, betrifft das Absehen von der eigenen Sterblichkeit, das diese Identität allererst ermöglicht. Im Unterschied zu Kant, für dessen Gesetzesdenken der eigene Tod zwangsläufig undenkbar bleiben muss, insofern jeder seine Existenz allein der Übereinstimmung mit der symbolischen Ordnung zu verdanken hat, indem die von jeder vorgängigen Autorität freigesetzte Imagination der Selbstachtung zugeführt und in dieser still gestellt werden soll, geht es Hegel darum, die Sterblichkeit und die von dieser Sterblichkeit ausgehende Dynamik als das zentrale Moment der modernen Ordnungsstiftung zu begreifen.

1.

Die Ganzheit des Staates

In einem Fragment von 1798 aus dem Umkreis der theologisch-politischen Frühschriften hat Hegel die Frage nach dem ganzen Menschen anhand der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Religion aufgeworfen: „Hat der Staat das Prinzip des Eigentums, so ist seinem Gesetze das Gesetz der Kirche zuwider. Sein Gesetz betrifft durchaus bestimmte Rechte, den Menschen sehr unvollständig als einen habenden gedacht, dahingegen in der Kirche der Mensch ein Ganzes ist und der Zweck der Kirche als der sichtbaren, die handelt und Anstalten macht, dahin geht, ihm das Gefühl dieser Ganzheit zu geben und zu erhalten.“16 Die Kirche spricht den Menschen als ganzen an, weil der Mangel der Sterblichkeit in der sichtbaren und fühlbaren Anwesenheit eines „großen Anderen“ aufgefüllt erscheint. Ein Staat hingegen, zu dem sich die Menschen per Vertrag zusammenschließen, weil jeder die Ganzheit des anderen bedroht, wenn diese Ganzheit jenseits der Anwesenheit eines „großen Anderen“ nur dann gegeben sein kann, insofern sich jeder allein zum Zuschauer hat, kann sich im „Prinzip des Eigentums“ nur dadurch legitimieren, dass er dem Gefühl der Ganzheit der einzelnen Vertragspartner entgegensteht. Die von Hobbes ausgehende Begründung des liberalen Staates, die Hegel als einen atomistischen und mechanistischen „Verstandesstaat“ bezeichnet, muss stets in Konkurrenz zur Religion als das Begrenzende auftreten: „Entweder ist es dem Bürger 16

G. W. F. Hegel: [Fragmente historischer und politischer Studien aus der Berner und Frankfurter Zeit], Werke, Bd. 1, S. 428–448 (hier: S. 444). Zur Auseinandersetzung mit den englischen Theoretikern der politischen Ökonomie in Hegels Frühschriften vgl. ausführlich Georg Lukács: Der junge Hegel. Über die Beziehung von Dialektik und Ökonomie, Bd. 1, Frankfurt/M. 1973, S. 273–376.

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nicht mit seinem Verhältnis zum Staat oder nicht mit dem zur Kirche ernst, wenn er in beiden ruhig bleiben kann.“17 Wenn der Staat jedoch beanspruchen will, das Ganze zu sein, dann kann seine Legitimation nicht von einzelnen Vertragspartnern ausgehen, aus deren wechselseitiger Begrenzung erst das Gemeinschaftliche hervorgeht, sondern muss sich umgekehrt das Gefühl der Ganzheit, das dieser Staat ermöglicht, indem sich jeder als ein Individuum verstehen können soll, von der Ganzheit des Staates ableiten lassen. Die Lösung, der Hegel die Ableitung des Staates aus dem Prinzip eines allgemeinen Willens, der die Vielzahl der Einzelwillen zulässt, ohne sie als solche zu seiner Voraussetzung zu haben, in den Grundlinien der Philosophie des Rechts zuführt, besteht in der Einheit der Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und modernem Staat.18 Im Unterschied zur Vertragstheorie sind es nicht die einzelnen Menschen, die angesichts der Todesdrohung gezwungen sind, eine symbolische Ordnung allererst ins Leben zu rufen, sondern die symbolische Ordnung, die es möglich macht, dass die Menschen überhaupt einzeln für sich sein können, ist dieser Möglichkeit selbst vorgängig. Während bei Kant der Mensch nur insofern Mensch ist, als er sich im Sinne der Menschheit verhält und an ihr Anteil hat, kann der Mensch für Hegel daher gerade nur dort Mensch sein, wo er sich selbst als Individuum wahrnimmt und in diesem Sinne sein einziger Beobachter ist: Im Recht wird der Einzelne als „Person“ gefasst, im „moralischen Standpunkt“ als „Subjekt“, in der Familie als „Familienmitglied“; nur in der bürgerlichen Gesellschaft erscheint der Einzelne als ein Bürger im Sinne von bourgeois, der sich selbst in seinen Bedürfnissen sein besonderer und endlicher Zweck ist, sodass für Hegel „erst hier und eigentlich nur hier vom Menschen“ gesprochen werden kann.19 – Die sich zum „Verstandesstaat“ zusammenschließenden Einzelnen können daher aus der Perspektive Hegels nichts anderes als der Effekt einer symbolischen Ordnung sein, die schon gegeben sein muss, bevor die Einzelnen sich als Einzelne wahrnehmen können. Weil der Einzelne nur im Rahmen einer symbolischen Ordnung als ein solcher erscheinen kann, kann dieser Einzelne nicht zugleich die Grundlage derselben darstellen.20 Was Hegel gegen das liberale Staatsverständnis einwendet, betrifft nicht das spezifisch moderne Moment der Ordnungsstiftung, nämlich dass der Staat die Einzelnen in ihrer Individualität erfasst, sondern dass es schon einen Staat geben muss, bevor dieser Staat in diesem Sinne als 17 18

19 20

Hegel: [Fragmente historischer und politischer Studien] (Anm. 16), S. 444. Vgl. dazu ausführlich Manfred Riedel: Bürgerliche Gesellschaft und Staat bei Hegel. Grundproblem und Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie, Neuwied/Berlin 1970, S. 39–79 (hier: S. 78), der allerdings darin, dass Hegel die „Privatperson“ nicht zum politischen „Staatsbürger“ erhebe, eine Rückname der „geschichtlich vorausgesetzten Emanzipation“ der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat sieht, insofern „damit die politische Konsequenz des liberalen Prinzips umgangen werden kann“, ohne auf die entscheidende Problematik einzugehen, dass aus der Perspektive Hegels der Einzelne niemals das Element der politischen Ordnung sein kann. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 7), S. 348. Zur Aktualität dieser Diskussion um den Vorrang von Intersubjektivität vor einer von den „sozialen Formen ihres Ausdrucks“ und den „gesellschaftlich lizensierten Arten ihrer Realisierung“ scheinbar losgelösten Subjektivität, vgl. Lutz Wingert: Der Grund der Differenz: Subjektivität als ein Moment von Intersubjektivität. Einige Bemerkungen zu Manfred Frank, in: Micha Brumlik/ Hauke Brunkhorst (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993, S. 290–305 (hier: S. 290).

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ein liberaler auftreten kann. Aus diesem Grund hat Rolf-Peter Horstmann die Versuche, bei Hegel einen „liberalen Teil“ als Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft und einen „extrem konservativen Teil“ als Lehre von der Regierung und dem Staat abzutrennen, zum Scheitern verurteilt: „Das Ziel also auch der reifen und politischen Philosophie Hegels besteht in dem Versuch des Nachweises der Notwendigkeit des über alles Besondere Macht habenden Allgemeinen, und das heißt des Staates. Die Lehre von dem durch das Prinzip der Besonderheit ausgezeichneten Bereich der bürgerlichen Gesellschaft hat innerhalb der Hegelschen Theorie die systematische Funktion, diesen Nachweis zu ermöglichen. Sie ist insofern nur Mittel zum Zweck, keineswegs selbst der Zweck seiner politischen Philosophie.“21 Wenn der Staat das Ganze sein soll, dann dürfen die Menschen nicht „sehr unvollständig“ allein als habende, sondern müssen umgekehrt ebenso als gehabte gedacht werden. Das „Prinzip der Subjektivität“ gründet daher für Hegel in einem „Prinzip der modernen Staaten“, die „Besonderheit“ zuzulassen und in die „substantielle Einheit“ zurückzuführen: „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.“22 Im Unterschied zu den „Staaten des klassischen Altertums“, bei denen sich zwar schon die „Allgemeinheit“ findet, aber die „Partikularität“ noch nicht „losgebunden“ und „freigelassen“ ist, besteht das „Wesen des neuen Staates“ darin, dass „das Allgemeine verbunden sei mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen“, sodass einerseits das „Allgemeine des Zwecks“ nicht realisiert werden kann ohne „das eigene Wissen und Wollen der Besonderheit“ und andererseits die „Verwirklichung der Freiheit nicht nach subjektivem Belieben“, sondern nach dem „Begriffe des Willens, d. h. nach seiner Allgemeinheit und Göttlichkeit“ geschieht.23 Hegel betont immer wieder, dass „beide Momente“ gegeben sein müssen, sowohl der Staat als auch die Individuen als ihr jeweiliger Selbstzweck, damit sich das „Wesen des neuen Staates“ vollständig entfalten kann. Und obwohl es für Hegel daher keine Frage ist, dass der moderne Staat ein Staat der Individuen zu sein hat, ist es für ihn ebenso keine Frage, dass der Staat nicht das Mittel sein kann, mit dem die Einzelnen ihr Leben erhalten und sich vor ihrer wechselseitigen Bedrohung schützen. Denn einerseits braucht der allgemeine Wille, der nur sich selbst zum Objekt hat, die vielen einzelnen Willen, die sich jeweils ihr eigenes Objekt suchen, um sich zu konkretisieren und in diesen gegenwärtig zu sein, sodass der allgemeine Wille erst durch die Beziehung auf die einzelnen Willen als ein solcher zur Erscheinung kommen kann, indem er sich so auf die Objekte dieser Willen bezieht, dass er selbst als sein eigenes Objekt mit keinem dieser einzelnen Objekte zusammenfällt. Und anderseits können die einzelnen Willen nur als solche in ihrer besonderen Vielfalt existieren und sich ihr jeweiliges Objekt des Begehrens suchen, weil es einen allgemeinen Willen gibt, der diese Bewegung des Su21

22 23

Rolf-Peter Horstmann: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie, in: Hegel-Studien, hg. v. Friedhelm Nicolin u. Otto Pöggeler, Bd. 9, Bonn 1974, S. 211–240 (hier: S. 239). Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 7), S. 407. Ebd. S. 407.

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chens und Begehrens dadurch ermöglicht und auf Dauer stellt, dass er als allgemeiner Wille, der nur sich selbst zum Objekt hat, den Objektstatus aller anderen Objekte garantiert.24 Wenn der Wille auf der einen Seite nur frei ist, insofern er sich selbst zum Gegenstand hat, aber auf der anderen Seite überhaupt nur dadurch ein konkreter Wille sein kann, dass er etwas will, kann der Gegenstand des Staates nur die bürgerliche Gesellschaft sein, insofern der allgemeine Wille allein in der Gleichzeitigkeit des Bezugs auf die einzelnen Willen und der Abgrenzung von diesen einzelnen Willen zu existieren vermag. – Während in der bürgerlichen Gesellschaft der Subjektstatus und der Objektstatus auseinanderfallen, ist der Staat sowohl Subjekt als auch Objekt und daher, wie Hegel im Anschluss an Hobbes ehrfurchtsvoll formuliert, die „absolute Macht auf Erden“.25 Der Staat garantiert die Freiheit des Willens, an der jeder Einzelne partizipiert, indem er sich durch die vielfältigen Besonderungen des Willens in der bürgerlichen Gesellschaft hindurch selbst will. Denn während sich in der bürgerlichen Gesellschaft die vielen einzelnen Willen an ebenso viele einzelne Güter verlieren, kennt der Staat kein anderes Gut als sich selbst, weder ein von Natur aus gegebenes noch ein durch die Gesellschaft festgelegtes, und kann sich daher nicht an ein bestimmtes Gut verlieren. Der Staat ermöglicht die „Freiheit der Besonderheit“ und das „Wohlergehen der Individuen“, indem er einen Willen verkörpert, der in keinem besonderen Gut aufgeht und vor dessen Hintergrund erst die einzelnen Willen in ihrer Besonderung als solche erscheinen können. Denn nur weil es einen unendlichen Willen gibt, der sich selbst will, können alle anderen Willen zu endlichen Willen werden, die alle etwas Bestimmtes wollen, ohne in diesem Bestimmten jemals vollständig aufzugehen. Umgekehrt heißt das, dass diese vielen Einzelwillen nur deshalb gleichzeitig als jeweils besondere existieren können, insofern sie im Unterschied zum unsterblichen Willen des absoluten Staates, der nach Hegel wie ein „Irdisch-Göttliches“26 verehrt werden muss, sterbliche Willen sind. Die Beziehung, in der die bürgerliche Gesellschaft derart zum Gegenstand des Staates wird, dass dieser sich darin selbst zum Objekt haben kann, muss die einzelnen Willen allererst zu sterblichen Willen machen. In der Gleichzeitigkeit des positiven Bezugs auf die 24

25 26

Zu Hegels Kritik an Kants Unterscheidung von Personen- und Sachenrecht, die sich für Hegel beide aus dem Prinzip der Persönlichkeit herleiten, vgl. Michael Quante: „Die Persönlichkeit des Willens“ als Prinzip des abstrakten Rechts. Eine Analyse der begriffslogischen Struktur der §§ 34– 40 von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Ludwig Siep (Hg.): G. W. F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 2005, S. 73–94. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 7), S. 498. Ebd. S. 434. Zu den „Prädikaten des Göttlichen“ bei Hegel vgl. Ludwig Siep: Vernunftrecht und Rechtsgeschichte. Kontext und Konzept der Grundlinien im Blick auf die Vorrede, in: ders. (Hg.): G. W. F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 2005, S. 5–29 (hier: S. 25f), der darin insofern ein antikes Motiv sieht, als der Staat bei Hegel mehr als „ein Verband zum Schutz der subjektiven Rechte“ sei, sondern vielmehr einen „Raum des öffentlichen Lebens“ darstelle, in dem der Einzelne „seine Beschränkung aufs Private überschreiten und sich durch die Mitgliedschaft in einer zeitüberdauernden Institution ‚verewigen‘ kann“. Der entscheidende Punkt jedoch besteht darin, dass jeder einzelne Bürger in der Schuld der Gemeinschaft steht, sodass selbst das Opfer des eigenen Lebens „als Bestätigung der Bürgerschaft“ anzusehen ist und „im unbedingt notwendigen Staat des Rechts“ noch als „‚substantielles‘ Interesse des Bürgers“ gedeutet werden muss.

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einzelnen Willen und der negativen Abgrenzung von diesen muss der unsterbliche Wille diesen ihre Sterblichkeit als solche zu erfahren geben. Die Differenz zwischen dem unsterblichen und den sterblichen Willen, die sich bei Kant in der Spaltung des Subjekts in ein transzendentales und ein empirisches manifestiert und die im „selbstgewirkten Gefühl“ der Achtung möglichst gänzlich zum Verschwinden gebracht werden soll, ohne dass dieses Verschwinden jemals gänzlich gelingen kann, ist daher für Hegel die entscheidende Differenz, anhand der sich die Dynamik des modernen Staates begreifen lässt. Was bei Kant als Pathologie der Neigung erscheint, die einer vollständigen Identifikation mit der symbolischen Ordnung jederzeit entgegensteht und von der das Subjekt deshalb soweit als möglich gereinigt werden muss, um an der Unsterblichkeit eines sich selbst wollenden Willens partizipieren zu können, ist für Hegel gerade die maßgebliche Beziehung, der sich die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft verdankt, deren „Unsittlichkeit“ allerdings nur aus dem Grund von der „Sittlichkeit“ des Staates ertragen werden kann, weil sie als unumgängliche Folge einer Vielzahl von endlichen Willen ebenso endlich ist. Während für Kant der eigene Tod undenkbar sein muss, geht es für Hegel gerade darum, die Sterblichkeit des Individuums zu denken und eine umfassende Austauschbeziehung zwischen dem unsterblichen und den sterblichen Willen zu formulieren. Denn erst die „wahrhafte“ Unendlichkeit, in der sich der unsterbliche Wille des Staates auf sich selbst als sein eigenes Objekt bezieht, ermöglicht für Hegel die „schlechte“ Unendlichkeit, in der die Subjekte auf ein jeweiliges Objekt ihres Willens bezogen sind, ohne diesem Objekt vollständig anheim fallen und damit den Subjektsstatus verlieren zu können. Der unsterbliche Wille des Staates, der die Freiheit garantieren soll, führt zwischen das Subjekt und das Objekt jene Leere ein, die im Zentrum des Gesetzes herrscht, und stellt auf diese Weise sicher, dass die Einzelnen als endliche Subjekte niemals vollständig bei sich sein können.27 – Die Neigung, die bei Kant als natürliche der Erfüllbarkeit des Gesetzes entgegensteht, wird bei Hegel daher als ein historisches Produkt der Beziehung verstanden, die das Subjekt an ein Gesetz bindet, mit dem kein Einzelner vollständig konform sein kann. Aus dieser Perspektive erscheint die Neigung nicht als etwas von Natur aus Gegebenes, das die Autonomie des Subjekts als empirisches von außen beeinträchtigt, sondern als ein inneres Begehren, das erst von der Unerfüllbarkeit des Gesetzes in Gang gesetzt und aufrecht erhalten wird. Denn im Unterschied zur Neigung gehört das Begehren, das sich im Begehrten selbst begehrt, einer „zweiten Natur“ an, in der das Subjekt nicht mehr unmittelbar seinen natürlichen Neigungen ausgeliefert ist. Die 27

Zur Radikalisierung des Kantischen Ding an sich bei Hegel vgl. Slavoj Žižek: Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, Teil I: Der erhabenste aller Hysteriker, Teil II: Verweilen beim Negativen, übers. v. Isolde Charim u. Lydia Marinelli, Wien 2008, S. 297–325 (hier: S. 325). Während das Ding an sich bei Kant die Aufteilung zwischen den Phaenomena und den Noumena als „zwei positive Domänen, getrennt durch eine Grenzlinie“ organisiert, sieht Hegel die uneinholbare Fülle eines transzendenten Ding an sich allein dem Umstand geschuldet, dass hinter dem „phänomenalen Vorhang“ nichts ist. Das „Feld der Phänomene“ verdankt sich der Vorgängigkeit einer Grenzziehung zu einem leeren Jenseits: „Wir gelangen nicht von Kant zu Hegel, wenn wir den leeren Ort des Dings ausfüllen, sondern nur dann, wenn wir diese Leere als solche in ihrer Priorität gegenüber jeder positiven Entität, die bestrebt ist, sie auszufüllen, affirmieren.“

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Grundlage dieser „zweiten Natur“ ist insofern das unerfüllbare Gesetz, als das Begehren im Unterschied zur Neigung auf einer Leerstelle basiert, die der Staat als Freiheit des Subjekts im Begehren desselben offen halten muss. Die Freiheit, die der Staat ermöglicht, indem er sich durch die Besonderungen der bürgerlichen Gesellschaft hindurch selbst will, wird nicht dadurch zu einer konkreten und dementsprechend auch erfahrbaren Freiheit, dass das Subjekt von seinen zufälligen und endlichen Neigungen soweit als möglich absieht, sondern dadurch, dass die Endlichkeit dieser Neigungen erst durch die Beziehungen auf die Unendlichkeit des Staates zu einem endlosen Begehren wird. Insofern verdankt sich die konkrete Freiheit der einzelnen Willen der Unmöglichkeit, vollständig mit dem Gesetz übereinstimmen zu können, sodass die „Unsittlichkeit“ der bürgerlichen Gesellschaft zu jeder Zeit an die „Sittlichkeit“ des Staates gebunden bleibt. Wenn der Staat in dem Sinne das Ganze sein soll, dass er die Einzelnen nicht nur in ihrer Identität, sondern ebenso in ihrer Nicht-Identität mit dem allgemeinen Willen erfasst und somit im Unterschied zu den „Staaten des klassischen Altertums“ in ihrer individuellen Sterblichkeit zu registrieren vermag, dann stellt der Staat die absolute Instanz dar, die den Einzelnen nicht nur ihr Leben, sondern auch ihren Tod gibt.28 – Denn die Sterblichkeit, die bei Hobbes den entscheidenden Ausgangspunkt des Gesellschaftsvertrags als Einsetzung einer symbolischen Ordnung markiert, die sich von jedem Bezug auf ein natürliches oder göttliches Gesetz losgelöst hat, muss schon als solche symbolisiert sein, damit der Gesellschaftsvertrag, mit dem die Einzelnen ihr Leben schützen und erhalten wollen, überhaupt zustande kommt. Die Symbolisierung des Todes, die bei Hobbes der Ordnungsbegründung selbst vorausgeht und bei Kant am äußersten Rand der Ordnung zum Verschwinden gebracht werden soll, erscheint bei Hegel derart in das Innere der symbolischen Ordnung einbezogen, dass diese Ordnung deshalb beanspruchen kann, das Ganze zu sein und nicht mehr in Konkurrenz zur Religion zu stehen, weil sie einen vollständigen Haushalt von Leben und Tod darstellt. In diesem Haushalt erscheint der Tod nicht mehr als ein Mangel der Sterblichkeit, der in der sichtbaren und fühlbaren Anwesenheit eines „großen Anderen“ aufgefüllt werden muss. Im Gegenteil, die Symbolisierung der Sterblichkeit durch die Instanz des Staates macht es erst möglich, dass sich die Individuen als Individuen verstehen, sodass der Mangel nicht als Mangel erscheint, sondern diese Individuen konstituiert, weil sie nur insofern Individuen sein können, als sie sterblich sind. Wenn der Staat als absolute Instanz, wie Hegel sagt, die Welt ist, „die der Geist sich gemacht hat“, und „hoch“ über dem „physischen Leben“ steht, bedeutet das im Gegenzug, dass Leben und Tod keine natürlichen Größen sind, sondern als solche der kulturellen Bedeutungsproduktion angehören. Die Sterblichkeit des Individuums ist ebenso wenig gegeben wie die religiöse Verwaltung eines Jenseits, sondern muss von 28

Alexandre Kojève hat Hegels Philosophie daher eine „Philosophie des Todes (oder was dasselbe ist: des Atheismus)“ genannt, insofern sie auf der „rückhaltosen Hinnahme der Tatsache des Todes“ basiere und aus der „Existenz dieser Tatsache alle, selbst die fernliegenden, Folgerungen“ ziehe. Vgl. Alexandre Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, übers. v. Iring Fetscher u. Gerhard Lehmbruch, hg. v. Iring Fetscher, Frankfurt/M. 1975, S. 217–268 (hier: S. 227f): „Er begriff, daß der Mensch ein geschichtlich freies Individuum nur unter der Voraussetzung sein könne, daß er sterblich im eigentlichen und strengen Sinn des Wortes, d. h. in der Zeit endlich und seiner Endlichkeit bewußt sei.“

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einer Instanz symbolisiert und als solche gewusst werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, „daß wenn es schwer ist, die Natur zu begreifen, es noch unendlich herber ist, den Staat zu fassen“.29

2.

Die Exzentrik des Bewusstseins

Die Theorie des Selbstbewusstseins, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807) entwickelt, zeichnet sich dadurch aus, dass das Bewusstsein in eben der Welt, auf die es sich in seiner Wahrnehmung und seinen Erklärungen bezieht, selbst als solches vorkommt.30 Im Unterschied zum Bewusstsein und den korrespondierenden Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts lässt sich daher die phänomenologische Figur des Selbstbewusstseins nicht mehr ausschließlich dem Bereich einer theoretischen Philosophie zuordnen, sondern muss als ein praktisches Verhalten aufgefasst werden, das sich für Hegel darin verdichtet, „Begierde überhaupt“31 zu sein. Während das Bewusstsein, das sich im Denken sein eigenes Gesetz gibt, scheinbar körperlos ist, erfährt das Selbstbewusstsein in der Begierde seine eigene Körperlichkeit in der Verbindung zu den Gegenständen, auf die es sich im praktischen Verhalten bezieht. Hegel identifiziert das Selbstbewusstsein zunächst mit der „Begierde überhaupt“, weil es nicht lediglich um ein bestimmtes körperliches Bedürfnis geht, sondern um die strukturelle Weise, wie sich das Selbstbewusstsein in der Welt verhält, die es als Bewusstsein wahrnimmt und als Erscheinung unter das Gesetz seines Denkens zu bringen versucht. Dass sich diese strukturelle Weise im Begehren als ein derartiges Bedürfnis erweist, das, indem es befriedigt wird, sich wiederum neu erzeugt, hängt insofern mit dem Bewusstsein des Selbst zusammen, das in dem Versuch, alle Erscheinungen unter das Gesetz zu bringen, scheitern muss. Denn es bleibt stets ein Rest übrig, der sich der Selbstidentität des Gesetzes entzieht: „Dies Reich der Gesetze ist zwar die Wahrheit des Verstandes, welche an dem Unterschiede, der in dem Gesetz ist, den Inhalt hat; es ist aber zugleich nur seine erste Wahrheit und füllt die Erscheinung nicht aus. Das Gesetz ist in ihr gegenwärtig, aber es ist nicht ihre ganze Gegenwart; es hat unter immer anderen Umständen eine immer andere Wirklichkeit.“32 Auch im Selbstbewusstsein ist also noch die gleiche Voraussetzung des Bewusstseins wirksam, nämlich im Selbstdenken bei sich selbst zu sein, und das heißt, sich imaginär zu zentrieren, auch wenn das damit verbundene Vorhaben, alle Erscheinungen unter das Gesetz des Denkens zu subsumieren, gescheitert ist. – Dass sich das Selbstbewusstsein für Hegel in der Struktur des Begehrens zeigt, meint daher 29 30

31 32

Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 7), S. 434. Zum Übergang von der Wahrnehmung des Bewusstseins zur Selbstbeobachtung des Selbstbewusstseins und der damit verbundenen Theorie moderner Sittlichkeit vgl. Christian Iber: Selbstbewußtsein und Anerkennung in Hegels Phänomenologie des Geistes, in: Andreas Arndt/ Ernst Müller (Hg.): Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ heute, Berlin 2004, S. 98–117. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, S. 139. Ebd. S. 120. Zu den naturwissenschaftlichen Kontexten von Hegels Auseinandersetzung mit dem Gesetzesdenken Kants vgl. Thomas Kalenberg: Die Befreiung der Natur. Natur und Selbstbewusstsein in der Philosophie Hegels, Hamburg 1997, S. 26–45.

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kein von Natur aus gegebenes anthropologisches Begehren, das zu jeder Zeit die menschlichen Bedürfnisse bestimmt,33 sondern muss als Folge der Unerfüllbarkeit des Gesetzes gesehen werden, insofern die „Begierde überhaupt“ an das „Gesetz überhaupt“ gebunden bleibt. Denn in der Struktur des Begehrens setzt das Selbstbewusstsein das Projekt der Selbstgesetzgebung fort, wenn auch unter der Bedingung seines Scheiterns. Es ist Begehren überhaupt, nicht weil es dieses oder jenes begehrt, das heißt, sich anzueignen und einzuverleiben wünscht, sondern weil es die gesamte Natur, als innere und als äußere, restlos unter das Gesetz zu bringen versucht und damit als selbständige vernichten möchte. Nur in dem untilgbaren Rest, der diesem Versuch jederzeit widersteht, erfährt das Bewusstsein die praktische Dimension der theoretischen Betrachtung seines Selbst, nämlich dass die „Negation“ das „wesentliche Moment des Allgemeinen“ ist und dass sich dieser „allgemeine Unterschied“ im Gesetz als dem „beständigen Bild der unsteten Erscheinung“ manifestiert: „Die übersinnliche Welt ist hiermit ein ruhiges Reich von Gesetzen, zwar jenseits der wahrgenommenen Welt, denn diese stellt das Gesetz nur durch beständige Veränderung dar, aber in ihr ebenso gegenwärtig und ihr unmittelbares stilles Abbild.“34 Damit die Welt vollständig darin aufgehen könnte, ein „stilles Abbild“ des Gesetzes zu sein, müsste diese Welt still gestellt und alles in ihr dem Gesetz geopfert werden.35 Das „ruhige Reich“ der Gesetze könnte nur dann vollständig realisiert werden, wenn die Gegenwart des Gesetzes in den Erscheinungen die „ganze Gegenwart“ dieser Erscheinungen wäre. Das heißt, es gibt immer etwas in der Erscheinung, das vom Gesetz gerade dadurch, dass es als Erscheinung des Gesetzes aufzufassen versucht wird, vom Gesetz ausgeschlossen ist. Was in der Erscheinung stets mehr ist als das Gesetz, kann demnach überhaupt nur als irreduzible Singularität wahrgenommen werden, weil es bei dem Versuch, vom Gesetz erfasst zu werden, nicht erfasst wird. Singulär ist etwas folglich nur im Horizont des „allgemeinen Unterschieds“, den das Gesetz macht, sodass jedes Einzelne lediglich als Resultat dieses Unterschieds in den Blick kommen kann. Das „wesentliche Moment des Allgemeinen“, in dem jedes Einzelne auf dieses Allgemeine bezogen ist, kann daher für Hegel keine andere Beziehung als die der Negation sein, welche dann, wenn sie restlos wäre, jedes Einzelne als solches vernichten würde. Das Selbstbewusstsein kommt in der Welt, auf die es sich in seiner Wahrnehmung und seinen Erklärungen bezieht, demnach so vor, dass es diese Welt negiert, weil es sie als Bewusstsein auf sein Gesetz des Denkens zu reduzieren versucht. Das Begehren, das 33

34 35

So sieht etwa Eugen Fink in der Begierde einen „Ur-Trieb“, von dem das Selbstbewusstsein „durchwaltet“ sei, ohne nach der historischen Verwaltung des Mangels zu fragen. Vgl. Eugen Fink: Hegel. Phänomenologische Interpretation der „Phänomenologie des Geistes“, Frankfurt/M. 1977, S. 168–174 (hier: S. 170): „Das Selbstbewußtsein ist Begierde, es ist durchwaltet von einem Drang, einem Ur-Trieb; es ist der Trieb des Geistes, sich zu suchen. Denn er ist nicht schon, was er sein kann; er ist durch einen Ausstand, einen Mangel, einen Fehl gekennzeichnet, [...].“ Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 120. Zur historischen Transformation des christlichen Selbstopfers im kategorischen Imperativ, der in seiner Habitualisierung als Vollzug einer Pflicht zuletzt genau diejenigen rituellen Züge annimmt, die Kant an der Opferpraxis vor allem der katholischen Kirche kritisiert, vgl. Iris Därmann: Rituelles und moralisches Opfer bei Kant, in: Friedrich Balke/Harun Maye/Leander Scholz (Hg): Ästhetische Regime um 1800, München 2009, S. 203–219.

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sich aufgrund dieser Konstellation als Struktur des Selbstbewusstseins ergibt, steht dem Gesetz folglich nicht entgegen, sondern als ein reines Begehren wäre es das Gesetz, das keinen Gegenstand mehr hätte, sondern ganz bei sich selbst sein und nur sich selbst als solches begehren würde. Aber auch als ein dezentriertes Begehren, das sich im Begehrten einzuholen versucht, bleibt das Begehren ein Begehren des Gesetzes, das sich nur deshalb nicht einholen kann, weil es immer etwas gibt, das dem Gesetz zu widerstehen scheint. Der Mangel, der das Begehren auf Dauer stellt, kann daher kein Mangel sein, der von außen zur Struktur des Selbstbewusstseins hinzukäme, weil das Begehrte von Natur aus mangelhaft wäre und wie im Naturzustand Hobbesscher Prägung stets zu knapp ist. Vielmehr herrscht der Mangel, den das Begehrte in der Struktur des Selbstbewusstseins symbolisiert, tatsächlich im Zentrum des Gesetzes selbst, insofern das Allgemeine des Gesetzes leer ist: „Dieser Mangel des Gesetzes muß sich an ihm selbst ebenso hervortun. Was ihm zu mangeln scheint, ist, daß es zwar den Unterschied selbst an ihm hat, aber als allgemeinen, unbestimmten. Insofern es aber nicht das Gesetz überhaupt, sondern ein Gesetz ist, hat es die Bestimmtheit an ihm; und es sind damit unbestimmt viele Gesetze vorhanden. Allein diese Vielheit ist vielmehr selbst ein Mangel; sie widerspricht nämlich dem Prinzip des Verstandes, welchem als Bewußtsein des einfachen Innern die an sich allgemeine Einheit das Wahre ist.“36 Weil dem Gesetz immer etwas widersteht, muss es sich in viele Gesetze aufteilen, deren Vervielfältigung allerdings dem Versuch geschuldet bleibt, die Vielfalt der „immer anderen Wirklichkeit“ der Erscheinung auf das Wesen des Gesetzes zurückzuführen. In dieser Verunreinigung jedoch des einen Gesetzes durch die „unbestimmt vielen Gesetze“ zeigt sich der Mangel nicht mehr als ein Mangel der Erscheinung, sondern als ein Mangel des Gesetzes, der für die Anwendbarkeit des Gesetzes konstitutiv ist.37 Denn dadurch wird die Beziehung, die das „ruhige Reich“ der Gesetze auf die Erscheinung als „deren unmittelbares Abbild“ hat, allererst explizit, insofern der „Wandel und Wechsel, der vorhin außer dem Inneren nur an der Erscheinung war, in das Übersinnliche selbst eingedrungen“ ist.38 Wenn der Mangel nicht als konstitutiver Mangel des Gesetzes begriffen würde, müsste sich das Gesetz endlos vervielfältigen, bis es die mangelhafte Erscheinung endlich eingeholt und damit als solche vernichtet hätte. Die Grenze, die dem Begehren des Gesetzes innewohnt, kann daher für Hegel keine äußerliche Grenze sein, sondern muss aus der Beziehung hervorgehen, die das Einzelne an das Allgemeine des Gesetzes bindet und die dann nicht mehr bestehen würde, wenn es sich um eine vollständige Einbeziehung handeln würde. Insofern es aber niemals eine Negation geben kann, die restlos wäre,39 lässt sich die damit verbunde36 37

38 39

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 121. Vgl. dazu Jacques Derridas Analyse der Aporien der „Gesetzeskraft“, die niemals eine „Rechenmaschine“ sein kann, weil jeder Richterspruch eine Rechtsdeutung impliziert. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt/M. 1991, S. 7–59 (hier: S. 48): „Jeder Fall ist anders, jede Entscheidung ist verschieden und bedarf einer vollkommen einzigartigen Deutung, für die keine bestehende, eingetragene codierte Regel vollkommen einstehen kann und darf.“ Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 126. Ansonsten könnte es keine „Bewegung des Begriffs“ geben, die Hegel ins Zentrum seiner Wissenschaft der Logik (1812–16/1831) gestellt hat und die keinen anderen „Grund“ haben kann, in dem die Bewegung selbst noch einmal „begründet“ wäre, als die Negation selbst. Vgl. dazu ausführlich

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ne Drohung des Scheiterns des Projektes der Selbstgesetzgebung nur abwenden, indem das, was nicht vollständig einbezogen werden kann, so an das Gesetz gebunden wird, dass es als Ausgeschlossenes an das Gesetz angeschlossen erscheint. Was mehr ist in der Erscheinung als die Gegenwart des Gesetzes und sich nur deshalb als solches zeigen kann, weil es sich dem Gesetz entzieht, ist der Unterschied, in dem das Gesetz wirksam wird, insofern es diesen Unterschied nur gibt, weil es das Gesetz gibt. Was für das „ruhige Reich“ der Gesetze stets ein untilgbar Fremdes bleiben muss, erscheint so nur insofern als fremd, als es das „Andere“ des Gesetzes ist: „Ich stelle wohl das Gegenteil hierher und dorthin das Andere, wovon es das Gegenteil ist; also das Gegenteil auf eine Seite, an und für sich ohne das Andere. Eben darum aber, indem ich hier das Gegenteil an und für sich habe, ist es das Gegenteil seiner selbst, oder es hat in der Tat das Andere unmittelbar an ihm selbst.“40 Das „Andere“ ist so an das Gesetz angeschlossen, dass es als solches nur erscheinen kann, weil es vom Gesetz ausgeschlossen ist. Die Beziehung zwischen dem Gesetz und „seinem Anderen“ ist die Unterscheidung, die das Gesetz „in der Tat“ selbst stiftet. Im anderen seiner selbst ist das Gesetz „außer sich“, insofern die gestiftete Beziehung nichts anderes als das Unterscheiden von sich selbst ist, indem das Gesetz den Unterschied macht. In dieser Beziehung kann das andere nicht als es selbst erscheinen, sondern nur als etwas anderes, weil es vom Gesetz ausgeschlossen ist; und insofern es vom Gesetz ausgeschlossen ist, kann es nicht anders als das andere des Gesetzes in den Blick kommen, das „in der Tat das Andere unmittelbar an ihm selbst“ hat. – Was Hegel formuliert, wenn er diese Beziehung der Negation in der „gedoppelten Bedeutung“ von „Aufheben“ und „Aufbewahren“ versteht, ist die Einsicht, dass es keine restlose Negation gibt, sondern immer nur „ein Negieren und ein Aufbewahren zugleich“.41 Würde sich das, was als das andere des Gesetzes erscheint, von sich aus zeigen, wäre es nicht durch die Beziehung der Negation auf das Gesetz bezogen. Und wäre es umgekehrt in dieser Beziehung vollständig negiert, wäre es nicht mehr da, sondern aufgelöst. Die Verneinung ist die Beziehung, in der das Gesetz auf das bezogen ist, was mehr ist in der Erscheinung als die Gegenwart des Gesetzes und das aufgrund der Verneinung als Erscheinung des Gesetzes wiederkehrt.42 Weil die Verneinung stets unvollständig ist, produziert das Gesetz in der Verneinung die Erscheinung dessen, was es verneint. Aus diesem Grund kann Hegel darauf bestehen, dass die Beziehung der Negation „zugleich“ negativ und positiv ist und dieses „zugleich“ das entscheidende Moment ist, in dem das Gesetz gerade dadurch, dass es repressiv ist, produktiv wirksam wird.

40 41 42

Josef Simon: Die Bewegung des Begriffs in Hegels Logik, in: Hegel-Studien, hg. v. Friedhelm Nicolin u. Otto Pöggeler, Beiheft 18, Bonn 1978, S. 63–73. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 131. Ebd. S. 94. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Jacques Lacan seine „Dialektik des Begehrens“ an Hegel entwickeln und zugleich den Vorwurf erheben kann, dass das Begehren bei Hegel an die Identität des Bewusstseins gebunden bleibt, während die Psychoanalyse von einer uneinholbaren Nichtidentität ausgeht. Vgl. Jacques Lacan: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten, übers. v. Chantal Creusot u. Norbert Haas, in: ders.: Schriften II, hg. v. Norbert Haas, Weinheim/Berlin 1991, S. 165–204. Vgl. dazu Wolfram Bergande: Dialektik und Subjektivität. Zu Jacques Lacans posthegelianischer Theorie der Psyche, in: Andreas Arndt/Ernst Müller (Hg.): Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ heute, Berlin 2004, S. 83–97.

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Was Kant aus der Perspektive Hegels nicht denken kann, wenn er der sinnlichen Welt eine übersinnliche derart gegenüberstellt, dass die sinnliche lediglich als eine uneinholbare Abweichung erscheinen muss, betrifft die Produktivität der Verneinung, in der sich das Gesetz auf das bezieht, was es verneint: „So hat die übersinnliche Welt, welche die verkehrte ist, über die andere zugleich übergegriffen und [hat] sie an sich selbst; sie ist für sich die verkehrte, d. h. die verkehrte ihrer selbst; sie ist sie selbst und ihre entgegengesetze in einer Einheit. Nur so ist sie der Unterschied als innerer oder Unterschied an sich selbst oder ist als Unendlichkeit.“43 Die Differenz zwischen der übersinnlichen und der sinnlichen Welt, die sich bei Kant in der Spaltung des Subjekts in ein transzendentales und ein empirisches manifestiert, kann für Hegel nichts anderes als die Selbstbeziehung des Gesetzes sein. Während bei Kant dem „ruhigen Reich“ der Gesetze auf der anderen Seite ein unüberschaubarer Bereich der menschlichen Neigungen gegenübersteht, deren unendliche Verschiedenheit und Kurzlebigkeit sich nicht fassen lässt und die daher das Gesetz nichts angehen können, geht es bei Hegel darum, diesen Bereich gerade durch die Beziehung der Negation als konstituiert zu fassen. Denn erst durch den Versuch des Bewusstseins, die Welt der Wahrnehmung, in der es selbst nicht vorzukommen scheint, auf das Gesetz seines Denkens zu reduzieren, kann das, was für Kant als scheinbar natürliche Neigung einfach gegeben ist, sich erst als das zeigen, was diesem Versuch entgegensteht. – Weil im Zentrum des Gesetzes keine Vaterfigur steht und weil es keinen Gott gibt, auf den es sich zurückführen ließe, weil das Gesetz nicht garantiert wird von einem übernatürlichen Körper des Königs, sondern weil im Zentrum des Gesetzes eine Leere herrscht, kann das Gesetz als ein leeres Allgemeines nur darin seine Wirksamkeit entfalten, dass es als Verneinung produktiv wird, indem es sich in dem, was es verneint, zugleich auf sich selbst bezieht.44 Wäre das Gesetz in „seinem Anderen“ nicht „außer sich“ und auf diese Weise „bei sich“, sondern würde es sich als solches erfüllen, müsste es alles in eben der Welt, in der es herrscht, vernichten und damit genau der Leere angleichen, die es verkörpert. Weil das Gesetz als Selbstbeziehung leer ist und diese Selbstbeziehung einen Mangel einfasst, begehrt es sich in seiner Erscheinung selbst, indem es sich in der Verneinung auf das bezieht, was es verneint und sich dadurch auf sich selbst bezieht. Produktiv ist das Gesetz als Selbstbeziehung also gerade deshalb, weil es sich von keiner vorgängigen Autorität mehr ableitet, weder von einer göttlichen noch von einer natürlichen, sondern weil es sich auf die gegebene Welt, in der es herrscht, als vollständige Verneinung beziehen muss, die niemals vollständig realisiert werden kann. Während bei Kant der Mangel in der sinnlichen Welt 43 44

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 131. Michel Foucault hat die Totalität der modernen Vernunft- und Machtmechanismen daher vor allem an solchen Einrichtungen wie dem Gefängnis oder der Psychiatrie rekonstruiert, deren Produktivität sich als Einschließung der Ausgeschlossenen entfaltet. Vgl. dazu Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seiter, Frankfurt/M. 1994, S. 220–249 (hier: S. 249): „Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer ‚ideologischen‘ Vorstellung der Gesellschaft; es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen Machttechnologie der ‚Disziplin‘ produziert worden ist. [...] Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnisse sind Ergebnisse dieser Produktion.“ Zu Foucaults Vernunft- und Machtkritik vgl. Thomas Schäfer: Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik, Frankfurt/M. 1995.

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lokalisiert wird, sodass das Gesetz deshalb als unerfüllbar erscheint, weil es in einer mangelhaften Welt herrscht, ist für Hegel die Unerfüllbarkeit des Gesetzes der Grund dafür, dass die sinnliche Welt überhaupt erst als Abweichung und Unterschied zum Gesetz produziert wird. Das Gesetz herrscht als der Unterschied, den es macht; es existiert als Beziehung, die das Ganze ist, weil auch das, was vom Gesetz ausgeschlossen ist, noch an das Gesetz angeschlossen erscheint: „Durch die Unendlichkeit sehen wir das Gesetz zur Notwendigkeit an ihm selbst vollendet und alle Momente der Erscheinung in das Innere aufgenommen.“45 Im Inneren des Gesetzes herrscht nicht die Unendlichkeit eines Gottes oder einer ewigen Natur, sondern allein die Unendlichkeit des Todes. Damit aus dieser Unendlichkeit, die als solche leer ist, etwas anderes hervorgehen kann, muss die „ungeheure Macht des Negativen“ aufgeschoben, in Bewegung gebracht und auf einen langen Umweg geschickt werden. Um vor dem Tod Zeit zu gewinnen und dem Tod Zeit zu geben, muss man diesem Tod im Inneren des Gesetzes einen Ort geben, der ihn festhält und von dem aus im Gegenzug das Leben festgehalten werden kann.46 Deshalb kann Hegel sagen, dass der Tod das „Furchtbarste“ ist und es die „größte Kraft“ erfordert, „das Tote festzuhalten“, und dass daher die „Macht des Geistes“ genau dann offenbar wird, wenn dieser „dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt“: „Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es [das Negative] in das Sein umkehrt.“47

3.

Der Mangel des Gesetzes

Die „Negativität“, die das Selbstbewusstsein als „Begierde überhaupt“ verkörpert, markiert in der Phänomenologie des Geistes nicht nur den Übergang von einem theoretischen Verhältnis des Wahrnehmens und Erklärens zur Reformulierung desselben als ein praktisches Tun, sondern stellt die Einsicht dar, dass sich das moderne Ordnungsdenken einem Ausgangspunkt verdankt, der nicht als solcher positiv gegeben ist, sondern nur positiv wirksam werden kann, insofern er negativ ist. Denn im Unterschied zu solchen symbolischen Ordnungen, die auf der anwesenden Abwesenheit eines „großen Anderen“ beruhen, der als sichtbarer und fühlbarer Herrensignifikant „Gott“ diese Ordnung garantiert, kann man nicht die Vorstellung haben, bei oder in diesem „großen Anderen“ zu leben, wenn dieser „große Andere“ der Tod ist. Die Dynamik, die der Tod als der „große Andere“ in Gang setzt, besteht darin, dass die Ordnungsstiftung nicht von einem ersten oder anfänglichen Sein ausgeht, das alles Seiende miteinander in Beziehung setzt, sondern von der Abstoßung bedingt ist, die von diesem „großen Anderen“ zwangsläufig ausgehen muss. In dieser Ordnung wird die Welt der Dinge, Personen und Zeichen nicht 45 46

47

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 131. In einem anderen Zusammenhang ist Derrida der Hypothese nachgegangen, dass im verborgenen Inneren einer kulturellen Ordnung immer ein „lebendiger Toter“ aufbewahrt wird. Vgl. Jacques Derrida: FORS, in: Nicolas Abraham/Maria Torok: Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfmanns, übers. v. Werner Hamacher, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1979, S. 5–58 (hier: S. 20): „Der Bewohner einer Krypta ist immer ein lebendig Toter, ein Toter, den man am Leben halten möchte, aber als Toten, den man bis in seinen Tod bewahren will unter der Bedingung, daß man ihn bewahrt, nämlich in sich, sicher erhält, ausgenommen also am Leben.“ Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 36.

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dadurch zusammengehalten, dass sich auf ihrem Grund überall der Hinweis auf eine ursprüngliche Gabe finden lässt, die allem, was es in dieser Welt gibt, ihr gemeinsames Sein gegeben hat. Sondern im Zentrum steht eine unmögliche Referenz, eine abstoßende Beziehung, die alles in dieser Welt der Dinge, Personen und Zeichen dadurch aufeinander bezieht, dass sie als „Negativität“ wirksam wird. Nicht aufgrund einer vorgängigen Identität eines sich selbst begründenden Bewusstseins, sondern aufgrund dieser unmöglichen Referenz kann das Selbstbewusstsein nur „schlechthin für sich“ sein und in der Welt, die es als Bewusstsein beobachtet, selbst nur als diese Beziehung vorkommen, indem es „seinen Gegenstand unmittelbar mit dem Charakter des Negativen bezeichnet oder zunächst Begierde ist“.48 – Das Ich kann daher für Hegel weder eine denkende Substanz sein noch eine selbstgenügsame Identität, die sich durch den Rückbezug auf sich selbst definiert, sondern nur „der Inhalt der Beziehung und das Beziehen selbst“: „[...] es ist es selbst gegen ein Andres, und greift zugleich über dies Andere über, das für es ebenso nur es selbst ist.“49 Die Problematik und die Dynamik, die mit dieser Einsicht in die Struktur des Begehrens verbunden ist, nämlich dass sich das Selbstbewusstsein einerseits nur „gegen ein Anderes“ als „es selbst“ zeigen kann, andererseits aber aus dem gleichen Grund in dem Moment, in dem es auf dieses andere übergreift, dieses andere ebenso „nur es selbst“ ist, liegt in dem prekären Status dieses „Anderen“. Denn wenn die an das „Gesetz überhaupt“ gebundene „Begierde überhaupt“ in letzter Instanz ein Begehren zu leben ist, insofern dieses sich im Begehrten selbst als existierend begehrt, aber etwas zu begehren gleichzeitig bedeutet, dieses etwas, das begehrt wird, dem Tod auszusetzen, dann kann sich die Struktur des Begehrens nur entfalten, wenn zwischen dem Begehren und dem Begehrten ein Aufschub möglich ist, in dem sich das andere zugleich als selbständig und unselbständig zeigen kann. Gäbe es nichts anderes als das Selbstbewusstsein, würde umgekehrt auch das Selbstbewusstsein nicht existieren können, weil es sich seiner Existenz nur „gegen ein Anderes“ vergewissern kann. In diesem Fall wäre das Selbstbewusstsein gänzlich beziehungslos und würde einen Tod verkörpern, aus dem kein Leben hervorgehen könnte. Wäre aber das, worauf das Selbstbewusstsein bezogen ist, vollkommen selbständig, dann könnte es sich in diesem anderen nicht selbst begehren, sondern wäre vielmehr dem, worauf es bezogen ist, als einem unmittelbar Gegebenen ausgeliefert. Aus diesem Grund muss die Negativität, die das Selbstbewusstsein verkörpert, auf eine Weise produktiv werden, dass die Investition des Todes das Leben hervorbringt.50 Denn was das Gesetz im Inneren beherbergt, wenn es von keiner anderen 48

49 50

Ebd. S. 139. Vgl. auch G. W. F. Hegel: Jenaer Systementwürfe I: Das System der spekulativen Philosophie, hg. v. Klaus Düsing, Hamburg 1975, S. 288: „Der erste Act, wodurch Adam seine Herrschafft über die Thiere constituirt, ist, daß er ihnen Nahmen gab, d. h. sie als seyende vernichtete und sie zu für sich ideellen machte.“ Zur Arbitrarisierung des Körpers bei Hegel vgl. Leander Scholz: Das Gesicht der „zweiten Natur“: Hegels Anthropologie, in: Leander Scholz/Petra Löffler (Hg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation, Köln 2004, S. 80–109. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 138. Judith Butler hat daher von einem „ontological exile“ des Selbstbewusstseins gesprochen, das nur überwunden werden kann, indem es sich als ein „agent of nothingness“ in Bewegung setzt: „Thematisizing the presumed conditions of its own identity, this subject dramatizes its despair. Instead of a dead being, it becomes an agency of death.“ Judith Butler: Subjects of Desire. Hegelian Reflections in Twentieth-Century France, New York 1999, S. 24–59 (hier: S. 37). Aus diesem Grund

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Instanz mehr hergeleitet wird, weder von Gott noch von der Natur, ist der Mangel der eigenen Existenz. Was das Selbstbewusstsein begehrt, wenn es „sein Anderes“ begehrt, ist seine eigene Hervorbringung. In der weiteren Explikation dieses prekären Status des „Anderen“ tritt an die Stelle der Erscheinung, in der sich der nicht auf das Gesetz zu reduzierende Rest manifestiert, deshalb nun ein „Gegenstand“, dem sich das Selbstbewusstsein als einem selbständigen gegenüber sieht, den es als Unterschied jedoch selbst gemacht hat. Was sich aus der Perspektive des Bewusstseins nur als ein Rest, als eine Abweichung vom Gesetz zeigen kann, der „für das Bewußtsein selbst zugleich nichtig“51 ist, nimmt für das Selbstbewusstsein daher die „Gestalt des Seins“ an, die allerdings im Unterschied zu einem unmittelbar Gegebenen als „seiend gesetzt“ ist: „Was das Selbstbewußtsein als seiend von sich unterscheidet, hat auch insofern, als es seiend gesetzt ist, nicht bloß die Weise der sinnlichen Gewissheit und der Wahrnehmung an ihm, sondern es ist in sich reflektiertes Sein, und der Gegenstand der unmittelbaren Begierde ist ein Lebendiges.“52 Der Gegenstand ist „in sich reflektiertes Sein“, er ist als „seiend gesetzt“, weil er das Resultat einer Negation ist, die das, was sie negiert, nicht vollständig negieren konnte. Insofern ist das, was negiert wurde, zugleich aufgehoben und aufbewahrt, weil in der Selbständigkeit des Gegenstandes die Negativität selbst aufgehoben und bewahrt ist. Als durch den „Charakter des Negativen“ bezeichnet, verdankt der Gegenstand seinen Platz in der symbolischen Ordnung einer Signifikation durch den Tod als den „großen Anderen“ dieser Ordnung.53 In dieser Ordnung erscheint der Gegenstand nicht deshalb als selbständig, weil er unmittelbar gegeben ist oder einer zugrunde liegenden Ordnung der Natur angehört, sondern weil er die Negation, der er ausgesetzt worden ist, überlebt hat. Im Gegenstand erscheint der Tod als investiert und gespeichert. Aus diesem Grund kann der Gegenstand nun als existierender Unterschied das Leben verkörpern, auf das sich das Begehren des Selbstbewusstseins bezieht. Weil im Gegenstand der Unterschied, den das Gesetz des Denkens gemacht hat, als solcher existiert, begehrt das Selbstbewusstsein im Gegenstand seine eigene Existenz. Dadurch dass der Tod im Gegenstand festgehalten und somit in eine dauerhafte Gestalt transformiert wird, erscheint dieser existierende Unterschied nun als das vom Selbstbewusstsein unterschiedene Leben, das aus der Negation als ein untilgbarer Rest hervorgegangen ist. – Auf die Aneignung dieses Lebens bezieht sich das Begehren des Selbstbewusstseins, wenn es das vergegenständlichte Leben in sich aufnehmen will, indem es den Gegenstand zerstört: „In dieser Befriedigung aber macht es die Erfahrung von der Selbständigkeit seines Gegenstandes. Die Begierde und die in ihrer Befriedigung erreichte Gewißheit seiner selbst ist bedingt durch ihn,

51 52 53

kann das Selbstbewusstsein auch „seinen“ Körper nur als „sein Anderes“ wahrnehmen und das Verhältnis von Bewusstsein und Körper nur deshalb positiv fassen, weil es negativ ist. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 137. Ebd. S. 139. In der Wissenschaft der Logik entwickelt Hegel diesen Prozess der Signifizierung als „Einheit von Sein und Nichts“, der sich im Unterschied zu solchen symbolischen Ordnungen, die wie bei Aristoteles auf der Rückführung auf einen „unbewegten Beweger“ beruhen, dadurch auszeichnet, dass an seinem Anfang eine Leere steht, von der aus alles seine spezifische Bedeutung erhält. Vgl. dazu die Lektüre des Anfangs der Wissenschaft der Logik bei Emmanuel Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, übers. v. Astrid Nettling u. Ulrike Wasel, Wien 1996, S. 82–89.

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denn sie ist durch Aufheben dieses Anderen; daß dies Aufheben sei, muß dies Andere sein. Das Selbstbewußtsein vermag also durch seine negative Beziehung ihn nicht aufzuheben; es erzeugt ihn darum vielmehr wieder, so wie die Begierde.“54 Weil sich das Selbstbewusstsein aufgrund seiner Negativität das Leben, das der Gegenstand als selbständiger verkörpert, nur aneignen kann, indem es den Gegenstand vernichtet, erzeugt es die Differenz zwischen sich und dem Leben stets neu und kann in dieser Beziehung seine eigene Negativität nicht einholen. Denn wenn sich das Begehren auf etwas Existierendes beziehen muss, um im Begehrten seine eigene Existenz begehren zu können, dann existiert es nicht, wenn es das Begehrte durch seine Befriedigung vernichtet. Um sich selbst die Dauer zu geben, die der Gegenstand darstellt, muss es sein Begehren derart aufschieben und zeitlich strecken, dass der Gegenstand des Begehrens in der Befriedigung erhalten bleibt.55 Wenn der Gegenstand, gegen den sich das Selbstbewusstsein als es selbst zu zeigen versucht, jedoch entweder nichtig oder selbständig ist, dann kann es sich in der „negativen Beziehung“ auf dieses andere nicht verlebendigen, weil in dem Moment, indem es sich befriedigt und damit als es selbst zeigt, dieses andere nicht mehr existiert. Um seinen Platz in der symbolischen Ordnung einnehmen zu können, muss daher ebenso ein Prozess der Signifizierung durch den Tod als den „großen Anderen“ dieser Ordnung in Gang gesetzt werden, durch den das Selbstbewusstsein überhaupt erst als „seiend gesetzt“ ist. Und dieser Prozess kann nur dadurch in Gang gesetzt werden, dass die Negativität, die das Selbstbewusstsein ausmacht, ihrerseits negiert wird. Denn wenn es keine andere Referenz gibt, durch deren Bezug sich eine positive Größe in die symbolische Ordnung einführen ließe, außer der abstoßenden Beziehung auf die absolute Grenze des Todes, dann kann auch die symbolisierte Existenz des Selbstbewusstseins nur aus einer Negation hervorgehen, die das, was sie negiert, nicht vollständig vernichtet. Die Negation, die das Selbstbewusstsein ausmacht, indem es „schlechthin für sich“ ist und somit alles andere aus sich ausschließt, kann nur dadurch als „seiend gesetzt“ und festgehalten werden, dass das Selbstbewusstsein auf einen solchen Gegenstand bezogen ist, der ihm als Negativität gegenübertritt: „Um der Selbständigkeit des Gegenstandes willen kann es [das Selbstbewusstsein] daher zur Befriedigung nur gelangen, indem dieser selbst die Negation an ihm vollzieht; und er muß diese Negation seiner selbst an sich vollziehen, denn er ist an sich das Negative, und muß für das Andere sein, was er ist. Indem er die Negation an sich selbst ist und darin zugleich selbständig, ist er Bewußtsein.“56 Damit sich die Struktur des Begehrens in der Zeit entfalten und das Begehren selbst aufgeschoben werden kann, muss es von einem anderen Begehren, das als Begehren ebenso leer ist, durchkreuzt werden. Das Selbstbewusstsein muss auf ein 54 55

56

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 143. Vgl. dazu auch Hegel: Jenaer Systementwürfe I: Das System der spekulativen Philosophie (Anm. 48), S. 299: „[...] die menschliche Begierde muß im Aufheben selbst ideell, aufgehoben seyn, und der Gegenstand ebenso indem er aufgehoben wird, bleiben, und die Mitte als das bleibende aufgehobenwerden beyder, beyden entgegengesetzt existieren, die praktische Beziehung ist eine Beziehung des Bewußtseyns, d. h. die Einfachheit des Vernichten muß in ihrer Einfachheit selbst auseinander gehen, ein in sich gehemmtes und entgegengesetztes sein.“ Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 144.

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anderes Selbstbewusstsein bezogen sein, das ebenfalls alles andere aus sich ausschließt wie es selbst. – Erst diese Konstellation, die zwangsläufig und vollständig konflikthaft ist und die Hegel im Anschluss an den Naturzustand Hobbesscher Prägung als „Kampf auf Leben und Tod“ gefasst hat, erlaubt es, den Tod in das Innere des Subjekts einzufügen. Denn im Unterschied zur phänomenologischen Figur des Selbstbewusstseins, die auf der Selbstgesetzgebung des Bewusstseins beruht und daher für sich selbst nicht sterblich ist, geht das Subjekt aus diesem „Kampf auf Leben und Tod“ allererst als ein sterbliches hervor. Dieser Kampf nämlich, der dadurch ausgelöst wird, dass sich das Selbstbewusstsein in einem strukturgleichen Selbstbewusstsein spiegelt und seine eigene Negativität, die es in der Beziehung auf den Gegenstand nicht einholen konnte, nun zu fassen versucht, indem es sich verdoppelt, führt zu einer Spaltung des Selbstbewusstseins in die Figuren des Herrn und des Knechts. Im Zentrum dieser Spaltung steht der Tod als der „absolute Herr“, den das Subjekt als seinen eigenen Horizont anerkennen muss, um sich selbst als lebend wahrnehmen zu können. Während das Subjekt als Selbstbewusstsein bislang stets als ein Agent des Todes aufgetreten ist, indem es dessen Negativität verkörperte, erscheint es nun in der Spaltung sowohl auf der Seite des Negierenden als auch auf der Seite des Negierten.57 In dieser Verdoppelung wird es sich selbst zum Gegenstand seiner eigenen Verneinung, in der es sich auf das bezieht, was in ihm mehr ist als das Gesetz des Denkens. Insofern es Bewusstsein ist und seine Identität in der Selbstgesetzgebung findet, ist es mit dem Gesetz identisch. Insofern es selbst dem Unterschied unterliegt, den das Gesetz macht, ist es mit dem Gesetz nicht identisch und erscheint sich selbst als eben jener Rest, der nicht auf das Gesetz zu reduzieren ist. In dieser Spaltung ist das Subjekt als es selbst aufgeschoben, indem sein Begehren einer Disziplinierung unterworfen wird, die als Verneinung seiner selbst produktiv werden muss und das Subjekt als den existierenden Unterschied hervorbringt. Denn erst als zugleich es selbst und als das andere seiner selbst, als das, was in der Negation nicht restlos negiert werden kann, existiert das Subjekt als „in sich reflektiertes Sein“ und beherbergt den Unterschied, den es als Selbstbewusstsein „in der Tat“ gemacht hat. Weil im Zentrum des Gesetzes eine Leere herrscht und das Gesetz sich nur in dem Unterschied auf sich selbst beziehen kann, der von dieser Leere ausgeht, kann sich auch das Subjekt der Selbstgesetzgebung nur auf sich selbst beziehen, indem es sich von sich selbst spaltet. Und diese Spaltung, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes als Theorie des Selbstbewusstseins entwickelt, bestimmt ebenso die politische Ordnung als Einheit der Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und modernem Staat.

57

In dieser Selbstunterwerfung, die allerdings nicht ohne eine konfrontative Form der Unterwerfung auskommt, hat Žižek die „transzendentale Genese der Disziplinierung“ gesehen, die Foucaults Analyse der das Leben formierenden Disziplinarpraktiken in Form einer Theorie der Bildung vorwegnehme. Insofern Žižek jedoch mit Lacan davon ausgeht, dass jedes Begehren von einem ursprünglichen Mangel motiviert ist, bleibt ebenso wie bei Lacan die Problematik zu wenig berücksichtigt, dass die Struktur des Begehrens an die historischen Formationen des Gesetzes gebunden ist. Vgl. Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts, übers. v. Eva Gilmer, Andreas Hofbauer, Hans Hildebrandt u. Anne von der Heiden, Frankfurt/M. 2001, S. 145–153 (hier: S. 149).

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4.

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Der Kampf um Anerkennung

Ohne an dieser Stelle auf die zahlreichen Interpretationen des Kapitels Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft ausführlich eingehen zu können, sollen trotzdem einige Positionen kurz skizziert werden, um vor allem die Problematik deutlich zu machen, die Hegel in diesem Kapitel verhandelt, wenn er den Tod als den „absoluten Herrn“ bezeichnet. Zu den historisch wirksamsten Interpretationen der Dialektik von Herr und Knecht gehört sicherlich die von Karl Marx vertretene, bei der die Spaltung konflikttheoretisch als Klassenkampf gefasst wird.58 Das Auseinandertreten des Selbstbewusstseins in die beiden Figuren des Herrn und des Knechts wird dabei als sozialökonomische Auseinandersetzung von Gruppen verstanden, bei der sich politische Herrschaft als Ausbeutungsverhältnis manifestiert, insofern die eigentlich tätige Klasse nur als Mittel für den Selbstzweck der herrschenden Klasse erscheint. Weil in der Spaltung jedoch beide Figuren so aufeinander bezogen sind, dass keine ohne die andere auskommen kann, ist es Marx möglich, der sozialökonomischen Auseinandersetzung unter geschichtsphilosophischer Perspektive einen inhärent emanzipatorischen Prozess abzulesen, bei dem nicht nur die historischen Umstände, sondern auch die Akteure des Konflikts durch die Auseinandersetzung verändert werden. Denn abgeschlossen kann dieser historische Prozess erst dann sein, wenn alle Herrschaftsverhältnisse überwunden und alle Akteure des Konflikts durch den emanzipativen Kampf der ausgebeuteten Klasse emanzipiert worden sind. Auf diese Weise kann Marx die Dialektik von Herr und Knecht zugleich als eine konkrete historische Phase des Kampfes auffassen, insofern die Feudalgesellschaft die historische Voraussetzung für die Ausbeutungsverhältnisse im frühbürgerlichen Kapitalismus darstellt, und ihr eine allgemeine geschichtsphilosophische Bedeutung geben, insofern sich diese Dialektik auf der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe solange wiederholen muss, bis die Spaltung von Herr und Knecht und damit die Trennung von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft als ein spezifisch „modernes Produkt“ beseitigt ist: „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‚forces propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“59 Aus diesem Grund kann die politische Revolution, die Marx in der Französischen Revolution verwirklicht sieht, nur in einer gesellschaftlichen Revolution vollendet werden, die mit der Trennung von Staatsbürger und Privatbürger auch das Politische im Ökonomischen aufhebt. – Mit 58

59

Vgl. dazu Hans Heinz Holz: Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel. Zur Interpretation der Klassengesellschaft, Neuwied/Berlin 1968, S. 32–52. Zur Aneignung der Herr-Knecht-Dialektik im Anschluss an Marx bis hin zur Psychoanalyse und der Foucaultschen Machttheorie vgl. Harald Bluhm: Herr und Knecht – Transformationen einer Denkfigur. Eine Skizze, in: Andreas Arndt/ Ernst Müller (Hg.): Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ heute, Berlin 2004, S. 61–82. Karl Marx: Zur Judenfrage, Karl Marx/Friedrich Engels Werke, hg. v. Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED, Bd. 1, Berlin 1956, S. 347–377 (hier: S. 370).

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der Marxschen Interpretation der Dialektik von Herr und Knecht geht zwangsläufig eine Reduktion der Struktur des Begehrens und ihrem Bezug auf das Gesetz einher, insofern an dessen Stelle eine solche Bedürfnisbefriedigung gesetzt wird, die als prinzipiell zufriedenstellend angesehen werden kann. Denn wenn die „menschliche Emanzipation“ erst dann vollbracht sein kann, wenn sich der Mensch seine „gesellschaftlichen Kräfte“ angeeignet hat, dann heißt das umgekehrt, dass die historisch-gesellschaftlich erzeugten Bedürfnisse im Unterschied zur Struktur des Begehrens nur so erzeugt werden dürfen, dass sie sich auch befriedigen lassen. Entgegen seinen eigenen Analysen zur historischgesellschaftlichen Erzeugung der Bedürfnisse muss Marx daher die Bedürfnisbefriedigung zuletzt in einer materiellen Logik situieren, sodass der geschichtsphilosophisch gedeutete Prozess der Emanzipation auf die prinzipielle Möglichkeit eines geschichtlichen Endzustands verweisen kann, bei dem das Bedürfnis in seiner Befriedigung ganz bei sich selbst ist.60 Auf diese Weise geht mit der Vorstellung, dass sich der Mensch seine „gesellschaftlichen Kräfte“ vollständig aneignen kann, auch die Vorstellung einher, dass sich der Mangel auf einen natürlichen Mangel zurückführen lässt, der erst dann behoben werden kann, wenn die Naturbeherrschung in dem Sinne vollständig ist, dass sie keine weiteren Herrschaftseffekte produziert. Was in der Marxschen Interpretationen der Dialektik von Herr und Knecht daher keine Berücksichtigung finden kann, betrifft die Symbolisierung des Mangels durch den „absoluten Herrn“, um die sich die Spaltung anordnet und durch die sowohl die Bedürfnisproduktion als auch die Bedürfnisbefriedigung in Gang gesetzt und auf Dauer gestellt werden. Insofern jede Ökonomie über ihre materielle Logik hinaus jedoch auf eine kulturelle Instituierung der Bedürfnisse angewiesen ist, kann die Frage nach der symbolischen Strukturierung einer solchen Ökonomie, die das Politische vollständig absorbiert hat, von der Marxschen Interpretation nicht beantwortet werden. In der existentialistischen Wendung, die Alexandre Kojève im kritischen Anschluss an Marx der Interpretation des Hegelschen „Kampfes auf Leben und Tod“ im Sinne eines historischen Kampfes gegeben hat, steht dagegen insofern eine kulturelle Logik im Zentrum, als Kojève an die Stelle der sozialökonomischen Auseinandersetzung einen „Prestigekampf“ setzt. In diesem Prestigekampf geht es nicht in erster Linie um die materielle Bedürfnisbefriedigung, sondern um die Anerkennung von Ansprüchen der Bedürfnisbefriedigung: „Dem Menschen, der menschlich ein Ding begehrt, ist es nicht so sehr um das Ding zu tun, als vielmehr um die Anerkennung seines (wie es später heißt) Rechtes auf dieses Ding, um seine Anerkennung als Besitzer des Dinges. Und das letzten Endes, weil er die Anerkennung seiner Überlegenheit über den andern durch diesen andern erstrebt. Nur die Begierde nach einer solchen Anerkennung, nur das 60

Zur Kritik der Marxschen Bedürfnislogik vgl. Marshall Sahlins: Kultur und praktische Vernunft, übers. v. Brigitte Luchesi, Frankfurt/M. 1994, S. 183–234 (hier: S. 204), der Marx einen „vorsymbolischen Gesellschaftstheoretiker“ nennt, der von der „Übereinstimmung eines gesellschaftlichen und eines materiellen Texts“ ausgehe, sodass das „Fehlen einer kulturellen Logik in der Theorie der Produktion“ daher „alle möglichen Spielarten des Naturalismus“ provoziere: „Die erste Klassifikation, die die Menschen treffen, ist die Unterscheidung in Dinge, die Lust oder Unlust bereiten, die eßbar oder nicht eßar sind. Es ist die Natur selbst, die in der Sprache spricht, anfangs ohne jede Metapher. Das Vermögen der Menschen, natürlichen Unterschieden eine Bedeutung zu verleihen, wird auf einen Widerhall praktisch-intrinsischer Bedeutung reduziert.“

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aus einer solchen Begierde sich ergebende Tun schafft, verwirklicht und offenbart ein menschliches, nicht-biologisches Selbst.“61 Weil sich der Mensch selbst transzendiert und sich daher im Unterschied zu anderen Lebewesen nicht auf seine Natur zurückführen lässt, kann auch seine Begierde keine natürliche sein und sich nicht auf Natürliches beschränken. Im Gegensatz zur animalischen kann die menschliche Begierde durch kein „Daseiendes“ erfüllt werden, dem sie ansonsten unterworfen wäre, sondern muss sich auf etwas „Nichtseiendes“ beziehen, wodurch der Mensch seine „Autonomie“ und seine „Freiheit“ bezeugt. Aus diesem Grund lässt sich die menschliche Begierde nicht mit der materiellen Logik einer Bedürfnisbefriedigung begreifen, bei der die „Abwesenheit von Seiendem“, wie etwa im Falle des Hungers, der einen Mangel anzeigt, durch etwas „Seiendes“ aufgefüllt wird. Der Mensch kann seine Begierde nur in einer Befriedigung realisieren, die sein Wesen als solches zur Geltung bringt, indem seine „Autonomie“ und seine „Freiheit“ von anderen Menschen anerkannt wird: „Um menschlich zu sein, muß der Mensch darauf ausgehen, sich nicht ein Ding zu unterwerfen, sondern eine andere Begierde (nach dem Dinge).“62 Worauf die menschliche Begierde also letztlich abzielt, kann nur in einer kulturellen Logik der Geltung gefasst werden, die von der Anerkennung dieser Geltung durch andere abhängt. – Wie für Marx muss ebenso für Kojève der Hegelsche „Kampf auf Leben und Tod“ geschichtsphilosophisch gedeutet werden, insofern der Prestigekampf ein historischer Kampf um Anerkennung ist, der erst dann abgeschlossen sein kann, wenn alle Akteure der Auseinandersetzung als Rechtspersonen in einem weltweiten Staat anerkannt sind.63 Im Unterschied zur sozialökonomischen Interpretation bei Marx fasst Kojève den Kampf als einen politischen auf, der deshalb auf Leben und Tod geführt wird, weil man bereit sein muss, sein Leben einzusetzen, um sich als „autonomer“ und „freier“ Mensch zu beweisen. Weil in dieser existentialistischen Interpretation die menschliche Begierde stets als eine Begierde nach Herrschaft erscheint, kann es für Kojève nicht darum gehen, das Politische aufzuheben, sondern nur in dem Sinne zu universalisieren, dass die Begierde nach Herrschaft in einer wechselseitigen Unterwerfung aller Kämpfenden, die ihren Ausdruck im modernen Rechtsstaat gefunden hat, still gestellt wird.64 Neben dieser allgemeinen Interpretation in geschichtsphilosophischer Perspektive bezieht Kojève ebenso wie Marx die Dialektik von Herr und Knecht auf eine konkrete Phase des historischen Kampfes. Denn wenn die historische Spaltung der Menschen in Herren und Knechte daraus resultiert, dass die einen ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, während die anderen die Knechtschaft akzeptierten, dann kann diese Spaltung erst dann in eine wechselseitige Unterwerfung transformiert werden, wenn ebenso die Knechte ihre „Autonomie“ und ihre „Freiheit“ unter Beweis stellen. Als historisches Zeugnis dieses Einsatzes versteht Kojève die Französische Revolution, in der aus dem Privatbürger im Sinne von bourgeois, der keinen Anteil an der politischen Willensbildung hat, erst der Staatsbürger im Sinne von citoyen hervorgeht, 61 62 63 64

Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens (Anm. 28), S. 57f. Ebd. S. 57. Zur Situierung dieser universalgeschichtlichen Position in der Auseinandersetzung mit Leo Strauss und Carl Schmitt vgl. Martin Meyer: Ende der Geschichte?, München 1993, S. 63–127. Zum systematischen Verhältnis von Anthropologie und Geschichte bei Kojève vgl. F. Roger Devlin: Alexandre Kojève and the Outcome of Modern Thought, Lanham 2004, S. 45–86.

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dem es deshalb gelingt, diesen Anteil einzufordern, weil er bereit gewesen ist, seinen eigenen Tod zu wagen, um als „autonomer“ und „freier“ Mensch anerkannt zu werden. Die Gleichheit und die Freiheit des modernen Rechtsstaats beruhen demnach auf der existentialistischen Beziehung zu dem jeweils eigenen Tod, die bis dahin nur das Privileg eines politischen Standes gewesen ist: „Der zum Revolutionär gewordene arbeitende Bourgeois schafft selbst die Situation, in der er das Moment des Todes in seine Existenz aufnimmt.“65 Im modernen Rechtsstaat, der auf der Anerkennung aller Menschen als Rechtspersonen basiert, wird die Spaltung von Herr und Knecht und damit auch die von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft insofern universalisiert, als von nun an jeder zugleich Herr und Knecht ist. Aus diesem Grund muss sich das Ereignis der Französischen Revolution solange wiederholen, bis die gesamte Menschheit in einem weltweiten Staat vereint ist. – Zwar reduziert Kojève die Struktur des Begehrens, aus der heraus sich bei Hegel erst der „Kampf auf Leben und Tod“ verstehen lässt, nicht auf eine materielle Logik, aber nur, weil sie als anthropologische hypostasiert wird, lässt sich der moderne Rechtsstaat als adäquater Ausdruck der menschlichen Begehrensstruktur begreifen. Aus der Perspektive Kojèves erscheint die existentielle Anthropologie daher dem Rechtsstaat als Realisierung dieser Anthropologie vorgängig. Während sich bei Hegel in der Struktur des Begehrens die Produktivität eines Gesetzesdenkens manifestiert, das erst das Leben der bürgerlichen Gesellschaft hervorbringt, indem es den Mangel einfasst, den der Tod als „absoluter Herr“ darstellt, ist dieser Mangel in der existentialistischen Deutung bei Kojève von Anfang an das wesentliche Kennzeichen eines anthropologisch gefassten Menschen. Vom Beginn der Geschichte an und unabhängig von der jeweiligen Symbolisierung ist der Mensch als ein „lechzendes Leeres“66 durch diesen Mangel bestimmt. Nur aufgrund dieser durchgängigen Konstellation kann Kojève die Geschichte als einen kohärenten Prozess deuten und diesem das inhärente Ziel eines homogenen und weltweiten Staates bürgerlicher Prägung ablesen. Während bei Marx das Fehlen einer kulturellen Logik dazu führt, dass die symbolische Ordnung zuletzt in einer materiellen Logik begründet werden muss, erscheint bei Kojève eine bestimmte Ordnung als universal, weil sie einer zugrunde liegenden Anthropologie adäquat ist. Die Interpretation der Hegelschen Dialektik von Herr und Knecht, die Axel Honneth mit kritischer Bezugnahme auf Marx und Kojève vorgelegt hat, versteht den Kampf ebenfalls als einen historischen Kampf um Anerkennung, versucht jedoch die Probleme sowohl einer sozialökonomischen als auch einer anthropologischen Deutung dadurch zu umgehen, dass der Kampf als eine moralische Auseinandersetzung verstanden wird, aus der die jeweiligen Normen einer Gesellschaft hervorgehen. Unter „Normen“ versteht Honneth dabei nicht allein Rechtsnormen, sondern die moralischen Standards von „intersubjektiven Sozialbeziehungen“, durch die „ein normativer Minimalkonsens stets schon vorgängig garantiert ist“: „[...] denn nur in solchen vorvertraglichen Verhältnissen der wechselseitigen Anerkennung, die selbst noch den Beziehungen sozialer Konkurrenz zugrundeliegen, kann das moralische Potential verankert sein, das in der individuellen Bereitschaft zur reziproken Beschränkung der eigenen Freiheitssphäre dann positiv 65 66

Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens (Anm. 28), S. 88. Ebd. S. 57.

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zum Tragen kommt.“67 Insofern jede Gesellschaft auf einer gemeinsamen Ordnung moralischer Normen beruht, entlang der sich die Mitglieder dieser Gesellschaft überhaupt erst als solche verstehen können, basiert jede Gesellschaft auf einem intersubjektiven Anerkennungsverhältnis. Das implizit „moralische Potential“ dieser vorgängigen Intersubjektivität besteht darin, dass zwar jede normative Ordnung eine solche Gemeinsamkeit voraussetzt, aber die darin enthaltene Struktur der Reziprozität erst in sozialen Konflikten historisch entfaltet und verwirklicht werden muss. – Aufgrund dieser moralischen Interpretation der Hegelschen Anerkennungsproblematik im Sinne eines intersubjektiven Aushandlungsprozesses scheint sich Honneth zwar von teleologischen Geschichtsdeutungen zu distanzieren, insofern der historische Prozess in einer gesellschaftlichen Struktur der Reziprozität fundiert wird und somit über ökonomische und politische Formen der Anerkennung hinaus auch Spielräume für eine kulturelle Logik der Geltung eröffnet. In der Annahme einer impliziten Reziprozität der Gleichheit, vor deren Hintergrund einzelne „Bedürfnisansprüche“ entweder als legitim oder illegitim erscheinen sollen, bleibt allerdings ein teleologisches Postulat erhalten, das sich erst einer derartigen symbolischen Ordnung verdanken kann, in deren Rahmen Individualität und Subjektivität als solche erzeugt werden.68 Denn die Auffassung, dass sich das „moralische Potential“ dadurch historisch zunehmend verwirkliche, dass sich die Mitglieder einer Gesellschaft „im Maße einer reziproken Anerkennung ihrer Einzigartigkeit untereinander versöhnt wissen können“,69 setzt schon die Vorstellung einer bürgerlichen Gesellschaft von für sich seienden Individuen voraus, ohne allerdings die produktiven Effekte einer staatlichen Instanz in Rechnung zu stellen, die die Einzelnen als solche zu generieren und zu registrieren vermag. Was dem geschichtlichen Prozess als Verwirklichung eines „moralischen Potentials“ abgelesen wird, erscheint so als das in die historische Tiefe projizierte Modell der bürgerlichen Gesellschaft. Mit dem Versuch, an Hegels liberale Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft anzuschließen, ohne zugleich an dessen konservatives Verständnis vom politischen Staat anschließen zu müssen, geht bei Honneth daher der Versuch einher, einen frühen von einem späteren Hegel durch einen „tiefen Einschnitt“ zu unterscheiden: „Hegel, dem sich doch ein solches Konzept überhaupt nur verdankt, legt nun freilich seine eigene Theorie der Sittlichkeit in der ‚Realphilosophie‘ grundbegrifflich vollkommen anders an; die 67

68

69

Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt/M 2003, S. 72. Ein Überblick zu den Versuchen, bei Hegel eine „verdrängte Intersubjektivität“ zu diagnostizieren und „Intersubjektivität“ als Paradigma zu etablieren, findet sich bei Sergio Dellavalle: Freiheit und Intersubjektivität: Zur historischen Entwicklung von Hegels geschichtsphilosophischen und politischen Auffassungen, Berlin 1998, S. 53–59. Auch wenn Honneth das vor allem von John Rawls vertretene Gerechtigkeitskonzept einer „individualistischen Freiheit“ zugunsten einer „kommunikativen Freiheit“ kritisiert, in der nicht allein die individuellen Freiheitsräume, sondern auch die qualitativen Sozialbeziehungen im Zentrum stehen sollen, so stellt es für ihn doch keine Frage dar, dass die Grundlage eines Gerechtigkeitskonzeptes nur jenes Freiheitskonzept sein kann, das sich „nach und nach auch in der Alltagskultur der westlichen Gesellschaften“ durchgesetzt hat. Vgl. Axel Honneth: Gerechtigkeit und kommunikative Freiheit. Überlegungen im Anschluss an Hegel, in: Barbara Merker/Georg Mohr/Michael Quante (Hg.): Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004, S. 213–227 (hier: S. 214). Honneth: Kampf um Anerkennung (Anm. 67.), S. 97.

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Kategorien, mit denen er operiert, nehmen statt auf die Interaktionsbeziehungen der Gesellschaftsmitglieder stets nur auf deren Beziehungen zur übergeordneten Instanz des Staates Bezug.“70 Während für Hegel die besonderen Interaktionsbeziehungen der bürgerlichen Gesellschaft nicht ohne den Bezug auf die Instanz des Staates denkbar sein können, weil die symmetrischen Beziehungen für sich seiender Individuen erst in diesem Bezug hervorgebracht werden, versucht Honneth geradezu umgekehrt, den modernen Rechtsstaat als einen Ausdruck der Interaktionsbeziehungen von als Individuen verstandenen Gesellschaftsmitgliedern zu begreifen. Obwohl das anerkennungstheoretische „Konzept der Sittlichkeit“ bemüht ist, die normativen Grundlagen eines Gemeinwesens in den „kulturellen Gewohnheiten“ der Mitglieder als Manifestationen ihres „wechselseitigen Umgangs“ zu situieren, führt Honneth die kulturelle Logik der symbolischen Ordnung zuletzt auf eine Gesellschaftstheorie zurück, die ihre Allgemeinheit allein der Universalisierung einer historischen Auffassung von bürgerlicher Geselligkeit verdankt.71 – Nur vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, warum Honneth zwar Hegels konservatives Verständnis vom politischen Staat ablehnt, aber die hervorragenden „Muster intersubjektiver Anerkennung“ trotzdem der Hegelschen Fassung der bürgerlichen Gesellschaft entlehnt, wenn er diese in der Liebe, dem Recht und der Solidarität gegeben sieht, bei denen die „individuelle Besonderheit“ jeweils angemessen zur Geltung kommen soll. Weil Honneth den produktiven Zusammenhang von symbolischem Gesetz und Subjektkonstitution außer Acht lässt, wird aus der Struktur des Begehrens ein moralisches Bedürfnis nach individueller Geltung, das mit George Herbert Mead sozialpsychologisch als ein historischer „Prozess der Zivilisation“ verstanden wird, dem in geschichtsphilosophischer Perspektive eine inhärente Tendenz zur zunehmenden „Befreiung von Individualität“ abgelesen werden kann.72 Aufgrund dieser sozialpsychologischen Interpretation, die von einer immer schon gegebenen „individuellen Besonderheit“ ausgeht, situiert in einer im Subjekt vorausgesetzten „unreglementierten Quelle“ von Subjektivität, werden die möglichen Formen von Gemeinschaft, die überhaupt in den Blick eines anerkennungstheoretischen „Konzeptes der Sittlichkeit“ kommen können, von vorneherein auf diejenigen Formen eingeschränkt, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft als spezifisch solidarische, rechtliche und familiäre Gemeinschaften ausgebildet haben.73 Symptomatisch für diese Projektion der bürgerlichen Gesellschaft in die historische Tiefe ist, dass die kulturelle Genese der „individuellen Besonderheit“, die bei Hegel in der Dialektik von Herr und Knecht entfaltet wird, bei Honneth insofern keine Rolle spielt, als er die zentrale Bedeutung 70 71

72 73

Ebd. S. 98. Hierbei folgt Honneth den theoretischen Vorgaben von Jürgen Habermas, der im Rückgriff auf eine „Dialektik der Sittlichkeit“ bei Hegel und in Auseinandersetzung mit dem Arbeitsbegriff bei Marx die „gesellschaftliche Synthesis“ allein in einer „öffentlichen Kommunikation“ als „Zwanglosigkeit des dialogischen Sich-Erkennens-im-Anderen“ gewährleistet sieht. Vgl. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt/M. 1973, S. 77ff. Vgl. Honneth: Kampf um Anerkennung (Anm. 67.), S. 114-147 (hier: S. 135). Weil es nicht ausreicht, die familiäre Gemeinschaft durch wechselseitige Intimität begründet aufzufassen, muss man sich mit dem symbolischen Gesetz auseinandersetzen, das die jeweiligen Verwandtschaftsstrukturen bestimmt. Vgl. dazu Judith Butler: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, übers. v. Rainer Ansén, Frankfurt/M. 2001.

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des „absoluten Herrn“ für die symbolische Ordnung bei seiner Interpretation meint, ausklammern zu können: „Hegel hingegen hat den Rahmen des von ihm zu erklärenden Sachverhaltes um einiges überschritten, als er die intersubjektive Vergegenwärtigung der Legitimation individueller Rechte an die Voraussetzung der Erfahrung des Todes gebunden hat; [...].“74 Während bei Hegel die Problematik der Anerkennung aus dem ordnungspolitischen Ausgangspunkt eines mit sich selbst identischen Subjekts resultiert, führt bei Honneth, ebenso wie bei Marx und Kojève, der Versuch, dieser Anerkennungsproblematik eine geschichtsphilosophische Bedeutung zu verleihen, zur Universalisierung einer kulturellen Logik, deren historische Voraussetzung in der imaginären Zentrierung einer Selbstidentität unberücksichtigt gelassen wird.

5.

Das Begehren des Todes

Der entscheidende Punkt, der bei der Interpretation der Anerkennungsproblematik in der Phänomenologie des Geistes häufig übergangen wird, ist der Umstand, dass sich die Anerkennung nicht vom einen zum anderen vollzieht und nicht in einer symmetrischen Struktur wechselseitiger Bezogenheit mündet. Im Gegenteil, die Konflikthaftigkeit, die der „Kampf auf Leben und Tod“ darstellt, geht von einer problematischen Gleichheit der beiden Akteure aus. Problematisch ist diese Gleichheit, weil sich die Intensität des Konflikts dem Umstand verdankt, dass sich beide vollständig ineinander spiegeln können. Gerade weil beide gleich sind und diese Gleichheit darin besteht, dass sie alles andere aus sich ausschließen, resultiert aus der wechselseitigen Spiegelung ein vollständiger Konflikt. Unter der Bedingung meiner Selbstidentität, die sich nur gegen anderes als solche zeigen kann, erscheint der andere, der ebenfalls in der gleichen Weise mit sich selbst identisch ist, als mein eigener Doppelgänger, der meinen Platz der Selbstidentität usurpiert: „Jeder sieht das Andere dasselbe tun, was es tut; jedes tut selbst, was es an das Andere fordert, und tut darum, was es tut, auch nur insofern, als das Andere dasselbe tut; das einseitige Tun wäre unnütz; weil, was geschehen soll, nur durch beide zustande kommen kann.“75 In dieser spiegelbildlichen Konstellation bedeutet, „sich selbst im Anderen“ zu sehen, das Gegenteil einer wechselseitigen Anerkennung der individuellen Besonderheit, weil der andere, insofern er ebenfalls mit sich selbst identisch sein will, überhaupt nicht anders ist, sondern als eine äußerst bedrohliche Verdoppelung meiner selbst erscheint. Denn wenn ich mich selbst im anderen sehen muss, um auf mich selbst zurückkommen zu können, aber diese Beziehung aufgrund meiner ausschließenden Selbstidentität nur negativ sein kann, dann folgt daraus, dass ich den anderen negieren muss, um auf mich selbst zurückzukommen, was dann, wenn der andere ebenso ich selbst bin, zwangsläufig auf eine negative Beziehung zu mir selbst hinausläuft.76 Die Dynamik dieser konfliktreichen Situation wird nicht von einer individuellen 74 75 76

Honneth: Kampf um Anerkennung (Anm. 67.), S. 82. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 146. Vgl. dazu auch Hegel: Jenaer Systementwürfe I: Das System der spekulativen Philosophie (Anm. 48), S. 310: „[...] ich kann [mich] nur als diese einzelne Totalität im Bewußtseyn des anderen erkennen, insofern ich in seinem Bewußtseyn mich setze, als ein solcher, der [ich] in meinem

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Verschiedenheit in Gang gesetzt, die dann in eine wechselseitige Anerkennung einmündet, sondern am Anfang des „Kampfes auf Leben und Tod“ steht die spiegelbildliche Gleichheit als das zu lösende Problem: „Jedes ist dem Anderen die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und zusammenschließt, und jedes sich und dem Anderen unmittelbares für sich seiendes Wesen, welches zugleich nur diese Vermittlung so für sich ist. Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.“77 Der Konflikt wird gerade durch die Gegenseitigkeit ausgelöst, in der sich beide jeweils im anderen auf sich selbst als ihre eigene Verdoppelung beziehen. Weil es keine andere Instanz der Anerkennung gibt als den jeweils anderen und diese Instanz zugleich nur die eigene Verdoppelung darstellt, lässt sich der Konflikt nicht als ein Konflikt zwischen dem einen und dem anderen begreifen, sondern muss als ein Konflikt aufgefasst werden, in den das Selbstbewusstsein mit sich selbst gerät, wenn es sich als mit sich selbst identisch zu erfassen versucht. Denn wenn das nur dadurch möglich ist, dass es sich im anderen verdoppelt, der nur insofern unterschieden ist, als beide sich im jeweils anderen selbst anschauen, dann wird der Versuch, diesen spiegelbildlichen anderen zu negieren, zwangsläufig zum Versuch, sich selbst zu negieren: „Insofern es Tun des Anderen ist, geht also jeder auf den Tod des Anderen. Darin ist aber auch das zweite, das Tun durch sich selbst, vorhanden; denn jenes schließt das Daransetzen des eigenen Lebens in sich.“78 Dass sich der Konflikt für Hegel als ein Kampf auf Leben und Tod darstellt und nicht als ein Kampf um Leben oder Tod, macht deutlich, dass es hier nicht um einen physischen Überlebenskampf geht, sondern um die Etablierung einer symbolischen Ordnung, in deren Rahmen erst die Grenze von Leben und Tod verwaltet werden kann. Der Konflikt lässt sich daher auch im Sinne einer Initiationspassage verstehen, an deren Ende das Subjekt seinen Platz in der symbolischen Ordnung erhalten wird.79 – Die kulturelle Logik, die diese Initiationspassage strukturiert und die in der Dialektik von Herr und Knecht als solche offenbar wird, besteht darin, dass die spiegelbildliche Gleichheit, in der beide Akteure sich wechselseitig ausschließend begegnen, auf einer zugrunde liegenden Agentenschaft des Todes als dem „absoluten Herrn“ basiert, die sie zwar in ihrem Handeln ausagieren, mit der sie selbst aber nicht identisch sind. Denn während das Selbstbewusstsein bislang als ein Agent des Todes aufgetreten ist, wird es in der Verdoppelung seiner selbst nun mit eben dieser Agentenschaft konfrontiert, indem es sich im anderen als „absolute Negation“ entgegentritt: „Ebenso muß jedes auf den Tod des Anderen gehen, wie es sein Leben daransetzt; denn das Andere gilt ihm nicht mehr als es selbst; sein Wesen stellt sich ihm als ein Anderes dar, es ist außer sich, es muß sein Außersichsein aufheben; das Andere ist mannigfaltig befangenes und seiendes

77 78 79

Ausschliessen, eine Totalität des Ausschliessens bin, auf seinen Tod gehe; indem ich auf seinen Tod gehe, setze ich mich selbst dem Tode aus, wage ich mein eigenes Leben; ich begehe den Widerspruch, die Einzelnheit meines Seyns, und meines Besitzes behaupten zu wollen; und diese Behauptung geht in ihr Gegentheil über, daß ich diesen ganzen Besitz, und die Möglichkeit alles Besitzes und Genusses, das Leben selbst aufopfere.“ Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 147. Ebd. S. 148. Zur kulturellen Logik von Initiationspassagen, bei denen der Initiand häufig den Status eines Toten hat, der wieder zum Leben erweckt werden muss, vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten, übers. v. Klaus Schomburg u. Sylvia Schomburg-Scherff, Frankfurt/New York 1999, S. 70–113.

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Bewußtsein; es muß sein Anderssein als reines Fürsichsein oder als absolute Negation anschauen.“80 Was der jeweils andere in dieser Konstellation symbolisiert, ist nicht seine individuelle Andersheit, sondern dass sich der Akteurstatus, durch den das Selbstbewusstsein in der Welt, die es als Bewusstsein beobachtet, als „Negation“ vorkommt, der Agentenschaft einer „absoluten Negation“ verdankt. Was die Sichtbarwerdung dieser „absoluten Negation“ in der Verdoppelung der Akteure aufdeckt, betrifft den Umstand, dass die Akteure ihre Handlungsmacht nicht aus sich selbst heraus generieren, sondern einem „großen Anderen“ schulden, in dem sie sich nicht spiegeln können, mit dem sie nicht identisch sind und vor dem jede Andersheit schon als ausgelöscht erscheint. Denn dass beide die gleiche Handlungsmacht haben, durch das gleiche Begehren gekennzeichnet sind und beide „sich selbst im Anderen“ sehen wollen, was nichts anderes bedeutet, als den anderen in seiner Andersheit schon als durchgestrichen zu betrachten, basiert auf dem gleichen Bezug zum „absoluten Herrn“, der im „Kampf auf Leben und Tod“ als Implikation dieser Gleichheit hervortritt. Wenn das Selbstbewusstsein in dieser spiegelbildlichen Konfrontation mit sich selbst in Konflikt gerät, weil es mit dem, was es als seine Identität gegen anderes hervorbringt, nun seinerseits konfrontiert wird, dann besteht die Lösung dieses Konflikts in der Generierung seiner Nichtidentität, indem es den Tod als den „absoluten Herrn“ anerkennt. Man hat versucht, den „Kampf auf Leben und Tod“ in der Vorgeschichte der bürgerlichen Welt zu situieren,81 aber die Spaltung des Selbstbewusstseins in die Figuren des Herrn und des Knechts lässt sich nicht begreifen, wenn man den Hintergrund des Gesetzesdenkens bei Kant übergeht. Denn individuell ist das Subjekt bei Kant nicht als Bewusstsein, das in der Selbstgesetzgebung seine Identität findet, sondern nur als sinnliches und damit als besonderes Wesen. Insofern jeder in der Identität des Bewusstseins als gleich erscheint, entfaltet Hegel in der Spaltung eine Problematik, die sich überhaupt erst in einer Gesellschaft der Gleichen ergeben kann. Während für Kant die sinnliche Individualität nicht fassbar ist und keinem regelbaren Zugriff unterstellt werden kann, ergibt sich für Hegel die Besonderheit des Einzelnen aus dem Versuch, in der Autonomie des Bewusstseins seiner selbst die eigene Existenz auf das Gesetz zu reduzieren. Weil Hegel im Unterschied zu Kant diesen Versuch als eine Verneinung begreift, kann er die individuelle Besonderheit als Produkt der Unvollständigkeit dieser Verneinung auffassen. Im „Kampf auf Leben und Tod“ wird die Selbständigkeit des Bewusstseins daher nicht unter Beweis gestellt, sondern vorausgesetzt, insofern es sich als Bewusstsein selbst das Gesetz gibt, während sich seine Unselbständigkeit aus der Erfahrung ergibt, dass es mit seiner eigenen Gesetzgebung niemals identisch sein kann. Die Problematik, die Hegel in der Dialektik von Herr und Knecht expliziert, indem er das Gesetzesdenken Kants radikalisiert, ist die unvermeidliche Heimsuchung einer Subjektkonstitution, bei der das Subjekt zugleich als Träger und als Gegenstand des Gesetzes gedacht werden 80 81

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 149. So etwa bei Hans-Georg Gadamer, wenn zwar der „absolute Herr“ ins Zentrum der Interpretation rückt, aber mit der Exemplifizierung durch das Duell der „adeligen Ehrenordnung“ suggeriert wird, dass diese Dialektik zur Vorgeschichte der bürgerlichen Welt gehört. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins, in: Hans Friedrich Fulda/Dieter Henrich (Hg.): Materialien zu Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘, Frankfurt/M. 1973, S. 217–242.

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muss. Indem es das Gesetz sowohl hervorbringt als auch unter das Gesetz fällt, stellt das Subjekt ebenso den Ausgangspunkt wie den Zielpunkt des Gesetzes dar. Die Lösung, der Hegel diese Problematik zuführt, besteht darin, dass das Subjekt durch die Spaltung in die Figuren des Herrn und des Knechts zur Erscheinung seiner selbst wird, indem es sich auf das bezieht, was stets mehr ist in seiner Erscheinung als die Gegenwart des Gesetzes. Denn die Spaltung ermöglicht einen zeitlichen Aufschub seiner selbst, durch den das Subjekt als „in sich reflektiertes Sein“ existieren kann: „In dieser Erfahrung wird es dem Selbstbewußtsein, daß ihm das Leben so wesentlich ist als das reine Selbstbewußtsein.“82 Wie in der Welt alles still gestellt und dem Gesetz geopfert werden müsste, damit diese Welt ein stilles Abbild des Gesetzes wäre, so kann das Subjekt nur dann seine vollständige Identität erfahren, wenn es bereit ist, sein eigenes Leben dem Gesetz zu opfern. Seine individuelle Besonderheit hingegen wird durch eine Verneinung generiert, die nicht restlos ist und in der sich das Subjekt von sich selbst absondert.83 Bei dieser Verneinung, in der das Selbstbewusstsein mit seinem eigenen Spiegelbild konfrontiert wird, kommt der Figur des Knechts die Einsicht zu, dass seine Selbstidentität nichts anderes als seine eigene Vernichtung wäre: „Dies Bewußtsein hat nämlich nicht um dieses oder jenes, noch für diesen oder jenen Augenblick Angst gehabt, sondern um sein ganzes Wesen; denn es hat die Furcht des Todes, des absoluten Herrn, empfunden. Es ist darin innerlich aufgelöst worden, hat durchaus in sich selbst erzittert, und alles Fixe hat ihn ihm gebebt.“84 Der Knecht hat sich in der Bedrohung, die in der Verdoppelung seiner selbst sichtbar geworden ist, um sein „ganzes Wesen“ geängstigt. In dieser Angst ist sein „ganzes Wesen“ aufgelöst worden, sodass er nicht mehr mit dem identisch sein kann, der ihm als er selbst gegenübergetreten ist, sondern sich von sich selbst abspaltet, insofern der Herr als anderer seiner selbst nun sein Wesen ausmacht. – Im Gegenzug stellt die Figur des Herrn die Einsicht dar, dass sich seine Autonomie der Herrschaft über einen anderen als er selbst verdankt, auf den sich das Gesetz beziehen muss. Aus diesem Grund ist auch der Herr in sich gespalten, insofern sein Wesen davon abhängt, dass er Herr über einen Knecht ist, in dem er sich als anderer seiner selbst erscheint. In der Figur des Herrn sieht sich das Selbstbewusstsein als „absolute Negativität“ an, die sich in der Figur des Knechts auf das zu seinem Gegenstand gewordene Selbstbewusstsein bezieht. In dieser Spaltung seiner selbst, die sich um den „absoluten Herrn“ anordnet, erscheint das Selbstbewusstsein mit der „absoluten Negativität“ ebenso identisch als auch nicht identisch und kann sich nur deshalb auf sich selbst beziehen, weil es sich nicht restlos negiert hat. Ansonsten hätte es keinen anderen Ausgang des Konflikts geben können als die Tötung des anderen, die, wenn der andere zugleich ich selbst bin, zwangsläufig auf eine Selbsttötung hinauslaufen würde. 82 83

84

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 150. Wenn Manfred Frank gegen den „apriorischen Intersubjektivismus“ bei Habermas sowie Honneth und im Rückgriff auf Jean-Paul Sartres Kritik an Hegel das cogito als den einzigen „sicheren Ausgangspunkt“ für die „Innerlichkeit“ des Bewusstseins ins Feld führt, dann übersieht er, dass das cogito für Hegel gerade als „Bewusstseinszentrum“ der Grund dafür ist, dass das Bewusstsein sich selbst gegenüber exzentrisch werden muss. Vgl. Manfred Frank: Wider den apriorischen Intersubjektivismus. Gegenvorschläge aus Sartrescher Inspiration, in: Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993, S. 273–289. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 153.

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Die Transformation des spiegelbildlichen Konfliktgeschehens in eine symmetrische Wechselseitigkeit, in der sich die beiden Akteure nicht mehr ausschließen, basiert daher auf einer vorgängigen Spaltung der Akteure in sich selbst,85 bei der die Agentenschaft eines „großen Anderen“ sichtbar wird, in dem man sich nicht spiegeln kann. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die wechselseitige Möglichkeit, „sich selbst im Anderen“ zu sehen, bei Hegel von der Anerkennung des „absoluten Herrn“ abhängt, die erst dann abgeschlossen ist, wenn beide auf die gleiche Weise durch diesen „großen Anderen“ signifiziert sind und ihren Platz in der symbolischen Ordnung eingenommen haben: „Aber zum eigentlichen Anerkennen fehlt das Moment, daß, was der Herr gegen den Anderen tut, er auch gegen sich selbst, und was der Knecht gegen sich, er auch gegen den Anderen tue.“86 Die Symmetrie der Anerkennung resultiert nicht daraus, dass der eine den anderen in seiner jeweiligen Andersheit anerkennt, indem beide ihr Begehren zugunsten des anderen zurückstellen. Sondern beide werden dadurch zu anderen ihres Selbst, dass sie von ihrem eigenen Begehren, mit sich selbst identisch sein zu wollen, durchkreuzt werden. Womit das Subjekt in dieser Initiationspassage konfrontiert wird, betrifft die Konsequenz, dass das Begehren, die eigene Existenz auf das Gesetz zu reduzieren, zuletzt auf das Begehren des eigenen Todes hinausläuft.87 Die Konfrontation mit diesem Begehren des eigenen Todes strukturiert die Initiation der Subjektivität eines Individuums, bei der das Subjekt sowohl den Träger als auch den Gegenstand des Gesetzes abgibt. Denn aus dieser Konfrontation kann die Existenz des Subjekts nur dann hervorgehen, wenn dieses Begehren als Begehren des eigenen Todes aufgeschoben wird. – Die Existenz, zu dem das Subjekt in dieser Passage initiiert wird, indem es so an das Gesetz angebunden erscheint, dass seine Übereinstimmung mit dem Gesetz nichts anderes als seinen eigenen Tod bedeuten würde, kann nur ein Leben im Horizont seines aufgeschobenen Todes sein.88 Denn wenn sich die an das „Gesetz überhaupt“ gebundene „Begierde überhaupt“ nur in dem Moment erfüllen kann, in dem das Leben vollständig vom Gesetz absorbiert worden ist, muss das Leben umgekehrt als das unerfüllte Gesetz erscheinen. Die Todesdrohung, die durch den spiegelbildlichen anderen symbolisiert wird, geht deshalb nicht von der Andersheit eines jeweils anderen aus, sondern von der Erfüllbarkeit des Gesetzes, in der es keinen Unterschied mehr zwischen dem Träger und dem Gegenstand des Gesetzes gäbe. Auf diese Weise wird das Leben durch den Unterschied, den das Gesetz macht, hervorgebracht und zugleich von der Möglichkeit seines Verschwindens in der Erfüllbarkeit des Gesetzes beherrscht. – Damit das Sub85

86 87

88

Diese Spaltung ist in der französischen Hegel-Rezeption im Anschluss an Jean Wahls Le malheur de la conscience dans la philosophie de Hegel (1929) vor allem an der phänomenologischen Figur des Unglücklichen Bewusstseins diskutiert worden. Vgl. dazu ausführlich Bruce Baugh: French Hegel: From Surrealism to Postmodernism, New York/London 2003, S. 33–51. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 152. Zur historischen Reichweite dieser kulturellen Logik und den Parallelen zur psychoanalytischen Auffassung von „narzisstischer“ Allmacht und „Todestrieb“ bei Sigmund Freud vgl. Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, übers. v. Nils Thomas Lindquist u. Diana Müller, Frankfurt/M./Basel 1990, S. 78–84. Zur Rekonstruktion der Hegelschen Semiologie als Logik einer aufgeschobenen Selbstpräsenz vgl. Jacques Derrida: Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die Hegelsche Semiologie, übers. v. Günther Sigl, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 85–118.

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jekt sein eigenes Begehren aufschiebt, muss es daher zunächst mit der Erfüllbarkeit des Gesetzes in seinem eigenen Tod konfrontiert werden: „Hat es [das Bewusstsein] nicht die absolute Furcht, sondern nur einige Angst ausgestanden, so ist das negative Wesen ihm ein Äußerliches geblieben, seine Substanz ist von ihm nicht durch und durch angesteckt.“89 In der „absoluten Furcht“ vor mir selbst wird aus dem Begehren meines eigenen Todes, in dem ich mich in meiner Identität mit mir als tot begehre, ein Begehren meines eigenen Todes, der mir als meine Identität nach dem Leben trachtet. Der Aufschub meines Begehrens, die eigene Existenz auf das Gesetz zu reduzieren, bedeutet also, dieses Begehren einem anderen Selbst zuzurechnen, das in dem Moment, in dem ich existiere, nicht mit meinem Selbst identisch sein kann. Denn wenn ich selbst es bin, der meinen eigenen Tod will, dann kann ich nur existieren, wenn ich nicht ich selbst bin, sondern mich selbst vor mir aufschiebe. Wie man sich Gott als einen „großen Anderen“ vorstellt, der mich beobachtet, der bei mir sein will, in dessen Begehren ich mir selbst präsent bin, so kann ich mir in meinem eigenen Begehren, mit dem Gesetz identisch zu sein, nur präsent sein, wenn dieses Begehren mir selbst gegenüber als das Begehren eines aufgeschobenen Selbst erscheint, in dessen Horizont ich existiere.90 Erst in diesem durch den „Kampf auf Leben und Tod“ gestifteten Selbstbezug geht aus der Figur des phänomenologischen Selbstbewusstseins die Subjektivität eines von seinem Selbst abweichenden Individuums hervor. In der Erscheinung seines Selbst wird sich das Subjekt wesentlich, indem es sich im Aufschub, den Hegel als Prozess der Bildung versteht, auf das bezieht, was mehr in ihm ist als die Anwesenheit des Gesetzes: „Die Begierde hat sich das reine Negieren des Gegenstandes und dadurch das unvermischte Selbstgefühl vorbehalten. Diese Befriedigung ist aber deswegen selbst nur ein Verschwinden, denn es fehlt ihr die gegenständliche Seite oder das Bestehen. Die Arbeit hingegen ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet.“91

6.

Die Signifikation durch Nichts

Es ist häufig darauf hingewiesen worden, dass Hegel im „Kampf auf Leben und Tod“ das Thema des Hobbesschen Naturzustandes wieder aufgenommen und in der Weise neu definiert hat, dass der Kampf eines jeden gegen jeden nicht zu einem unaufhebbaren Antagonismus führt, der schließlich die Etablierung einer gemeinsamen Ordnung erzwingt, sondern zunächst in einer feudalistischen Herrschaftsordnung mündet, die in den phänomenologischen Figuren des Herrn und des Knechts ihren philosophischen Ausdruck findet. Aber der zentrale Unterschied zu Hobbes besteht nicht darin, dass der „Kampf auf Leben und Tod“ im Gegensatz zum Kampf des Hobesschen Naturzustandes kein Nullsummenspiel ist, sondern dass Hegel die Relation, in der jeder für jeden anderen 89 90

91

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 155. Zu dieser Selbstbeziehung über einen „großen Anderen“, die der „reziproken Vorstellung von der Intersubjektivität“ zwischen einem „Ich“ und einem „Du“ vorhergeht, weil es „immer einen Anderen gibt jenseits jeglichen konkreten Dialogs“, der diesen Dialog ermöglicht, vgl. Jacques Lacan: Die Psychosen. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch III (1955–56), übers. v. Michael Turnheim, hg. v. Jacques-Alain Miller, Weinheim/Berlin 1997, S. 320–335 (hier: S. 322). Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 153.

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den Tod symbolisiert, im Rahmen des Gesetzes entfaltet. Während bei Hobbes die gegenseitige Todesdrohung ihren Grund in einer Anthropologie hat, welche der Stiftung einer Gesetzesmacht vorausgeht, die dann die Verteilung der erlaubten Handlungen und der legitimen Güter regelt, kann diese Relation für Hegel nicht bereits vor dem Gesetz gegeben sein.92 Damit jeder den gleichen Anspruch auf die gleichen Handlungen und die gleichen Güter erhebt, muss sich schon jeder in jedem anderen spiegeln können und in diesem Sinne gleich sein. Ansonsten wäre der Naturzustand nichts anderes als ein Zustand von Naturgewalten, in dem jeder Einzelne im Sinne Rousseaus lediglich sich selbst zum Zuschauer hätte. Dass jedoch jeder jeden anderen aus sich ausschließt und dieser Ausschluss die Relation darstellt, in der sich jeder auf jeden bezieht, setzt schon das Gesetz der Selbstidentität voraus. Gerade weil jeder in der Autonomie des Gesetzes gleich ist und sich vollständig mit dem Gesetz identifiziert, geht von jedem die Konflikthaftigkeit einer restlosen Verneinung aus, die das Gesetz dann darstellen würde, wenn es vollständig herrschen würde. Die Todesdrohung des Hobbesschen Naturzustandes verdankt sich keineswegs einem Zustand der Rechtlosigkeit, in dem sich die Wahrheit der menschlichen Natur in ihrer ungehemmten Entfaltung offenbart, weil jeder selbst sein eigenes Recht setzt, und der aus diesem Grund der Beschränkung durch eine Recht setzende Instanz zugeführt werden muss. Denn womit jeder in diesem Zustand konfrontiert wird, wenn jeder jedem als Verneinung entgegentritt, ist nicht der maßlose Machtanspruch eines jeden Einzelnen, sondern die Verneinung der jeweils eigenen Abweichung von der Identität mit dem Gesetz, die im anderen verneint wird. – Der in der Konstruktion des Naturzustandes gefasste Konflikt geht nicht von einem natürlichen Begehren nach Macht aus, sondern vom Begehren des Gesetzes, in dem sich jeder als mit sich selbst identisch auffasst. Das Paradox dieses Zustandes besteht darin, dass das eigene Recht, das jeder als sich selbst denkendes Bewusstsein verkörpert, zugleich mit dem Recht eines jeden anderen identisch ist und es trotzdem noch einen Unterschied zwischen dem einen und dem anderen gibt. Jeder symbolisiert daher für jeden anderen nur insofern den Tod, als jeder zugleich anders ist als das Selbst des Selbstdenkens. Aus diesem Grund kann die Todesdrohung, die den Hobbesschen Naturzustand so massiv beherrscht, für Hegel nicht der Ausgangspunkt der Ordnungsbegründung sein. Im Gegenteil, was bei Hobbes als ordnungspolitisches Chaos des Anfangs erscheint, resultiert tatsächlich erst aus der Gründung der Gesellschaft in der Zentrierung einer imaginären Selbstidentität. Mit der Verschiebung des „Kampfs auf Leben und Tod“ in den Rahmen des Gesetzes verschiebt sich auch das zentrale Ereignis der modernen politischen Philosophie von den konfessionellen Bürgerkriegen zum „ungeheuren Schauspiel“ der Französischen Revolu-

92

Zur Auseinandersetzung mit der These von Leo Strauss, dass Hegel mit der Entfaltung seiner Theorie des Selbstbewusstseins im „Kampf auf Leben und Tod“ den Vorzug der Hobesschen Philosophie als Grundlegung der neuzeitlichen Philosophie vor derjenigen von Descartes anerkannt habe, vgl. ausführlich Ludwig Siep: Der Kampf um Anerkennung. Zu Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes in den Jenaer Schriften, in: Hegel-Studien, hg. v. Friedhelm Nicolin u. Otto Pöggeler, Bd. 9, Bonn 1974, S. 155–207. Was Strauss übergeht, ist der fundamentale Umstand, dass der Hobbessche Naturzustand aus der Perspektive Hegels schon das cogito des Bewusstseins voraussetzt und aus diesem Grund kein Zustand von Natur aus sein kann.

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tion.93 Erst dieses „ungeheure Schauspiel“ offenbart für Hegel das wirkliche Fundament des Hobbesschen Naturzustandes und der diesem entsprechenden Theorie der Souveränität, nämlich dass es unter den Bedingungen des Gesetzes nur einen einzigen Willen und nur ein einziges Bewusstsein dieses Willens geben kann: „Denn der Wille ist an sich das Bewußtsein der Persönlichkeit oder eines Jeden, und als dieser wahrhafte wirkliche Wille soll er sein, als selbstbewußtes Wesen aller und jeder Persönlichkeit, so daß jeder immer ungeteilt alles tut und [daß], was als Tun des Ganzen auftritt, das unmittelbare Tun eines Jeden ist.“94 Wenn sich jeder restlos mit dem Gesetz identifiziert, bedeutet das umgekehrt, dass es überhaupt keine Vielzahl von besonderen Individuen gibt. In der Französischen Revolution wird die in hierarchischen Ständen „besonderte Masse“ vom „Wesen dieses Willens“ erfasst, der sich „nur in einer Arbeit verwirklichen kann, welche ganze Arbeit“ ist.95 Die „ganze Arbeit“, die in der Französischen Revolution geleistet wird, ist die Verneinung jedes Einzelnen, insofern jeder mit dem Gesetz identisch sein will und keiner mit dem Gesetz identisch sein kann. Erst diese „ganze Arbeit“, in der jeder für jeden den Tod symbolisiert, weil jeder für jeden anderen die Position des Gesetzes einnimmt, macht aus der in Stände gegliederten Masse jene unbestimmte Menge von Einzelnen, die der Konstruktion des Naturzustandes bei Hobbes zugrunde liegt: „Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat; denn was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absolut freien Selbst; er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlkopfs oder ein Schluck Wassers.“96 Vor dem Gesetz sind nicht deshalb alle gleich, weil das Gesetz alle gleichermaßen umfasst, sondern weil das Innere des Gesetzes leer ist und der „unerfüllte Punkt des absolut freien Selbst“ jeden auf die gleiche Weise in einem Tod zu verschlingen droht, der „keinen inneren Umfang und Erfüllung“ hat, weil er nirgendwo mehr hin führt. Indem jeder mit der Leere eines „absolut freien Selbst“ konfrontiert wird, in dem es keinen Unterschied mehr zwischen dem Träger und dem Gegenstand des Gesetzes gibt, markiert die „absolute Negation“ des Nichts den Ort,97 von dem aus der Unterschied zwischen dem Träger und dem Gegenstand des Gesetzes gestiftet wird. Wie das Selbstbewusstsein im „Kampf auf Leben und Tod“ mit seinem eigenen Begehren konfrontiert wird, sich selbst auf das Gesetz seines Denkens zu reduzieren, so wird der „allgemeine Wille“ eines mit sich selbst identischen Kollektivs in der Französischen Revolution mit seiner eigenen Leere konfrontiert: „In diesem ihrem eigentümlichen Werke wird die absolute Freiheit sich zum Gegenstand, und das Selbstbewußtsein erfährt, was sie ist. An sich ist sie eben dies ab93

94 95 96 97

Das Ungeheure dieses Schauspiels besteht darin, dass das Gesetz, dessen Herrschaft im Selbstverständnis der Moderne an die Stelle eines als tragisch verstandenen Schicksals treten soll, selbst zum tragischen Schicksal der Moderne wird. Zur dieser Problematik vgl. Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/M. 1996. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 432f. Ebd. S. 433. Ebd. S. 436. Vgl. dazu die Lektüre der berühmten Passage der Jenenser Realphilosophie, die mit dem Satz „Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts [...]“ beginnt und eine Anspielung auf die Französische Revolution enthält, bei Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität, übers. v. Andreas Hiepko, Frankfurt/M. 2007, S. 74–84.

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strakte Selbstbewußtsein, welches allen Unterschied und alles Bestehen des Unterschiedes in sich vertilgt. Als dieses ist sie sich der Gegenstand; der Schrecken des Todes ist die Anschauung dieses ihres negativen Wesens.“98 In der Französischen Revolution wird das in hierarchischen Ständen gegliederte Kollektiv aufgelöst, indem jeder unmittelbar auf das „negative Wesen“ des Todes bezogen ist, und dadurch neu gegründet, dass das Kollektiv von nun an nicht mehr durch Gott oder einen anderen Herrensignifikanten signifiziert ist, sondern allein durch das Nichts. Die Gleichheit der Einzelnen, die in dieser Initiationspassage in die kollektive Verteilung der symbolischen Plätze in dem Moment hergestellt wird, in dem jeder Einzelne im „Schrecken des Todes“ die „absolute Freiheit“ angeschaut hat, muss daher wieder in eine von dieser Gleichheit ausgehende Ungleichheit individueller Unterschiede transformiert werden, da ansonsten dieser eine Moment still gestellt werden müsste.99 Während die restlose Identifikation mit dem Gesetz auf den „unerfüllten Punkt des absolut freien Selbst“ führt, in dem alle Gliederungen dem Kollektiv entzogen sind, bildet sich die „Organisation der geistigen Massen“ nun in der individuellen Unmöglichkeit aus, mit dem Gesetz vollständig identisch zu sein: „Diese, welche die Furcht ihres absoluten Herrn, des Todes, empfunden, lassen sich die Negation und die Unterschiede wieder gefallen, ordnen sich unter die Massen und kehren zu einem geteilten und beschränkten Werke, aber dadurch zu ihrer substantiellen Wirklichkeit zurück.“100 – Die neue ökonomische Produktivität der „geteilten und beschränkten Werke“ verdankt sich der vorgängigen Unmöglichkeit, den „unerfüllten Punkt des absolut freien Selbst“ vollständig auszufüllen. Erst wenn dieser „unerfüllte Punkt“ in der „ganzen Arbeit“ des Todes als solcher anschaulich geworden ist, kann sich die Produktivität der „geteilten und beschränkten Werke“ entfalten. Der Mangel, der durch diese ökonomische Produktivität behoben werden soll, herrscht nicht in der natürlichen Welt vor, deren Gaben im Naturzustand Hobbesscher Prägung stets zu knapp sind und einen erbarmungslosen Verteilungskampf hervorrufen, sondern muss erst als solcher symbolisiert werden, um als behebbar erscheinen zu können. Im Unterschied zu einer durch den Herrensignifikanten „Gott“ signifizierten Schöpfung, bei der der Mangel als immer schon aufgefüllt erscheint, insofern Gott zugleich sowohl das volle als auch das leere Element der Schöpfung darstellt, setzt die Symbolisierung des Mangels durch das Gesetz deshalb eine ökonomische Dynamik frei, die sich in der enormen Produktivität der bürgerlichen Gesellschaft manifestiert, weil sie die Leere leer lässt.101 Die schrankenlose Freiheit, die im Hobbesschen Naturzustand den Ausgangspunkt der Konflikthaftigkeit 98 99

100 101

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 437. Zur staatlichen Distribution der Gleichheit im rechtlichen Zwang zur Person vgl. ausführlich Stefan Majetschak: Die Logik des Absoluten. Spekulation und Zeitlichkeit in der Philosophie Hegels, Berlin 1992, S. 193–235 (hier: S. 232), der allerdings meint, die in „Rechtsverhältnissen ‚erzwungene‘ Gleichheit zwischen Individuen“, die „relativ zu solchen Verhältnissen ‚Personen‘ werden“, auf eine „basale Interindividualität“ zurückführen zu können, während die Individualität erst aufgrund des Zwangs zur Person in der Differenz zu sich als Person wahrnehmbar wird. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 438. Zur damit einhergehenden Etablierung einer arbiträren Ökonomie der Zeichen und ihrer Bedeutung vgl. Josef Simon: Die ästhetische und die politische Dimension des Zeichens bei Hegel und der „absolute Geist“, in: Hegels Ästhetik. Die Kunst der Politik – Die Politik der Kunst, Erster Teil, hg. v. Andreas Arndt, Karol Bal u. Henning Ottmann, Berlin 2000, S. 60–70.

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bildet, weil jeder das gleiche Recht auf alles hat, ist deshalb nicht von Natur aus gegeben, sondern wird allererst durch das Gesetz in der Symbolisierung der Leere ermöglicht und zugleich durch dasselbe Gesetz eingeschränkt, weil niemand in dieser Leere leben kann. Insofern kann man nicht sagen, dass es von Natur aus ein unstillbares menschliches Begehren gibt, das in der Errichtung einer Gesetzesmacht seine Beschränkung erfahren muss. Sondern gerade weil das Gesetz leer ist und durch nichts aufgefüllt werden kann, ist das Begehren als unstillbares auf Dauer gestellt. Denn die „volle“ Freiheit, die das Gesetz der Selbstidentität verspricht und die sich in dem Moment als das leere Nichts des Todes zeigt, in dem man versucht, das Innere des Gesetzes selbst zu betreten, ist nichts anderes als der vollständige Mangel. Der erste Tauschakt, der die moderne politische Ökonomie in Gang setzt, ist daher keine erste Gabe, die einer Schöpferinstanz zugerechnet wird, in deren Schuld man von nun an steht, sondern ein Austausch mit dem Nichts. Als diesen Austausch mit dem Nichts hat Hegel das „ungeheure Schauspiel“ der Französischen Revolution beschrieben, wenn er darin eine Opfergabe an den „allgemeinen Willen“ sieht, der „in dieser seiner letzten Abstraktion nichts Positives hat und daher nichts für die Aufopferung zurückgeben kann“: „[...] aber eben darum ist er unvermittelt eins mit dem Selbstbewußtsein, oder er ist das rein Positive, weil er das rein Negative ist; und der bedeutungslose Tod, die unerfüllte Negativität des Selbst, schlägt im inneren Begriffe zur absoluten Positivität um.“102

7.

Die Spaltung des Kollektivs

Wenn Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts die Spaltung des Kollektivs in den Staat und die bürgerliche Gesellschaft als eine Selbstbeziehung zwischen dem Wesen des allgemeinen Willens und dessen Erscheinung auffasst, bei der sich das leere Wesen des allgemeinen Willens in seiner eigenen Erscheinung auf die Verneinung bezieht, die von dieser Leere ausgeht, dann ist diese Spaltung die notwendige Konsequenz eines kollektiven Begehrens, sich in der imaginären Zentrierung in einem allgemeinen Willen mit sich selbst als identisch aufzufassen. Um sich auf sich selbst beziehen zu können, muss sich das Kollektiv von sich selbst spalten. Während der Staat die „absolute Freiheit“ eines sich selbst das Gesetz gebenden Willens verkörpert, der ausschließlich sich selbst will und der dann, wenn das gesamte Kollektiv unter dessen Gesetz fallen würde, nichts anderes als die vollständige Verneinung des Kollektivs wäre, ist die bürgerliche Gesellschaft durch den Aufschub ihres Selbstseins beschrieben, indem sie auf das Gesetz bezogen ist, ohne mit diesem identisch zu sein. Nur in dieser Spaltung, in der sich das Kollektiv vor sich selbst aufschiebt, kann aus dem „rein Negativen“, in dem sich das Kollektiv in der Konfrontation mit seinem eigenen Begehren nach Identität zu verschlingen droht, ein „rein Positives“ hervorgehen, das an keine vorgängige Schöpferinstanz mehr gebunden ist. – Im Gegensatz zur Vertragstheorie vermag diese Spaltung deshalb das Ganze eines Haushalts von Leben und Tod unter postreligiösen Bedingungen zu beschreiben, weil die symbolische Ordnung, in deren Rahmen die Grenze von Leben und Tod verwaltet wird, ihren Ausgang weder von einem „großen Anderen“ in Gestalt 102

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 31), S. 439f.

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einer übernatürlichen Schöpferinstanz nimmt, noch eine unbestimmte Menge von unterschiedenen Individuen voraussetzt, deren Existenz schon vor der Ordnungsbegründung gegeben sein muss.103 Ausgangspunkt der symbolischen Ordnung bei Hegel ist im Anschluss an Kant allein die Selbstidentität eines sich selbst wollenden Willens, in dessen Horizont zu leben jedoch für Hegel im Unterschied zu Kant bedeutet, dass jeder Einzelne gezwungen ist, zum anderen seiner selbst zu werden und sich in diesem Sinne in der Absonderung von sich selbst zu individualisieren. Denn der leere Blick, der von dieser Beobachterinstanz ausgeht, macht es unmöglich, sich mit dieser Instanz zu identifizieren, es sei denn um den Preis des eigenen Todes. Weil die symbolische Instanz, der ich mich verdanke, keine Instanz ist, deren Wunsch ich jemals erfüllen kann, sondern die mich gerade so bindet, dass ich mir in ihrem Blick auf das Bild, das ich von mir habe, niemals meiner selbst sicher sein kann, muss ich mich unaufhörlich in zahllosen Erscheinungen meiner selbst vergewissern, ohne mir jemals in einer dieser Erscheinungen selbst präsent sein zu können.104 In dieser Beziehung, bei der an die Stelle des Ursprungs, die stets auch den Ort markiert, an dem eine traumatische Gewalt mich gezeugt hat, nun die Leerstelle des Gesetzes getreten ist, wird meine unumgehbare Freiheit jeder möglichen Ursprungsszene gegenüber sichergestellt, indem ich auf ein Gesetz bezogen bin, das unerfüllbar ist: Das Gesetz erlöst das Kollektiv von jeder Ursprungsszene, bei der am Anfang die traumatische Erfahrung einer Zeugungsgewalt steht, indem alle möglichen Ursprungsmächte im Trauma eines Gesetzes überboten werden, in dessen Innerem das Nichts eines „bedeutungslosen Todes“ herrscht, von dem sich das Kollektiv abwenden muss. Die Dynamik einer Unmenge von Erscheinungen, die diese Unmöglichkeit, den Ort des kollektiven Ursprungs zu betreten, dauerhaft auslöst, hat Hegel deutlich gesehen, wenn er die bürgerliche Gesellschaft durch die enorme Produktion eines Scheins bestimmt sieht, in dem sich das Kollektiv über zahllose Zeichen zu repräsentieren versucht, ohne sich selbst einholen zu können: „[...] ich bin also überhaupt auf der Stufe des Scheins, und indem meine Besonderheit mir das Bestimmende bleibt, das heißt der Zweck, diene ich damit der Allgemeinheit, welche eigentlich die letzte Macht über mich behält.“105 Gerade dort, wo ich glaube, mir selbst am nächsten zu sein, wo ich mir ein Bild von mir zu machen versuche, dessen Richtigkeit nur ich allein beurteilen kann, weil ich mich nach dem „Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen“ in meiner eigenen „subjektiven Freiheit“ als privat und individuell verstehe, „diene ich damit der Allgemeinheit, welche eigentlich die letzte Macht über mich behält“. Die bürgerliche Gesellschaft stellt daher nur auf den ersten Blick den „Verlust der 103

104

105

In diesem Punkt folgt Hegel der von Charles-Louis de Montesquieu in seinem Buch De l’esprit des loix (1748) grundgelegten Auffassung, dass keine dem Staat vorgängige und damit vom Staat unabhängige bürgerliche Gesellschaft existieren kann, wenn die „gesetzliche Autorität“ die einzige Autorität der Gemeinschaft darstellen soll. Vgl. dazu Charles Taylor: Der Begriff der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ im politischen Denken des Westens, in: Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993, S. 117–148. Zur kulturtechnischen Formierung der „Innerlichkeit des Subjekts“ in der Bildungspolitik um 1800, vgl. Friedrich Kittler: Das Subjekt als Beamter, in: Manfred Frank/Gérard Raulet/Willem van Reijen (Hg.): Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. 1988, S. 401–420. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 7), S. 339.

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Sittlichkeit“ dar, wenn das Kollektiv sein Selbstsein in keinem gemeinsamen Bild mehr wiederfinden kann. Denn dieser Verlust, der die „Maßlosigkeit“ und das „Ausschweifende“ einer Gesellschaft von Individuen als „Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle“106 zur Folge hat, ist zugleich das, was das Kollektiv zusammenhält, indem es alle voneinander trennt. Weil im Zentrum des Kollektivs keine Schöpferinstanz steht, die den Rahmen einer kollektiven Sittlichkeit vorgibt, sondern die Leerstelle eines Gesetzes, auf das jeder so bezogen ist, dass jeder von sich selbst abweichen muss, sind alle gerade darin, dass jeder anders ist als jeder andere, in diesem Verlust aneinander gebunden. Der „Verlust der Sittlichkeit“ kann daher nicht als Konsequenz eines vorab gegebenen „individuellen Privatinteresses“ verstanden werden, sondern umgekehrt ist die Ausbildung des „individuellen Privatinteresses“ dem Verlust eines kollektiven Ursprungs geschuldet, der es erlauben würde, das Kollektiv als solches zu versammeln. Weil das Gesetz die Leere, die bis dahin durch eine Schöpferinstanz ausgefüllt wurde, als Leere offenhält, wird das Kollektiv im Gesetz der Selbstidentität gerade so versammelt, dass jeder in seiner individuellen Vereinzelung der Allgemeinheit angehört. – Dass die Formel alle gegen alle, mit der Hobbes die Konflikthaftigkeit des Naturzustandes beschrieben hat, bei Hegel im Inneren der politischen Ordnung wieder auftaucht, macht deutlich, dass das Kollektiv von nun an durch eine Spaltung zusammengehalten wird, die nicht nur das Kollektiv in der Einheit der Unterscheidung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft konstituiert, sondern ebenfalls jeden Einzelnen. Jeder ist gegenüber jedem anderen privat, weil er sich selbst gegenüber privat ist. Denn wie ein Kollektiv, das mit sich selbst identisch sein will, nur existieren kann, indem es sein Nichtidentischsein aus der Perspektive seines Identischseins beobachtet, so muss sich jeder Einzelne auf seine eigene Abweichung hin beobachten.107 Wie der kollektive Wille sich selbst in der bürgerlichen Gesellschaft als „außer sich“ wahrnehmen muss, um im Staat „bei sich“ sein zu können, so bin ich nur „bei mir“, insofern ich mir selbst als „außer mir“ gegenübertrete. Das, was mich daran hindert, zu mir selbst zu kommen, ist kein äußeres Hindernis, das ich aus dem Weg räumen könnte, sondern ich selbst. In dieser strukturellen Selbstbeziehung sind Staat und Subjekt gleich, mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Subjekt, das für sich selbst unendlich ist und sich in einem endlichen Objekt manifestieren muss, selbst wiederum die Manifestation des unendlichen Staatswillens in einem endlichen Objekt darstellt. Gerade im „Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen“ dient das Subjekt der Allgemeinheit als der „letzten Macht“, insofern es in seinem Begehren nach Identität das Begehren des Gesetzes reproduziert. – Daher kann Hegel sagen, dass der Staat selbst dort, wo er dem Subjekt lediglich als eine „äußerliche Notwendigkeit“ entgegentritt, noch sein „imma-

106 107

Ebd. S. 458. Aus systemtheoretischer Sicht sind Gesellschaft und Individuum daher in ihrer systemischen Identität gleich strukturiert. Vgl. dazu Niklas Luhmann: Individuum und Gesellschaft, in: Universitas, Jahrgang 39 (1984), S. 1–11. Zur Hegel-Rezeption bei Luhmann vgl. Lutz Ellrich: Entgeistertes Beobachten: Desinformierende Mitteilungen über Luhmanns allzu verständliche Kommunikation mit Hegel, in: Peter-Ulrich Merz-Benz/Gerhard Wagner: Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns, Konstanz 2000, S. 73–126.

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nenter Zweck“ ist.108 Ohne den Staatswillen könnte es keine bürgerliche Gesellschaft geben, deren „Freiheit der Besonderheit“ auf der Reproduktion dieses Willens in Gestalt „seines Anderen“ basiert: „Im friedlichen Zustande gehen die besonderen Sphären und Geschäfte den Gang der Befriedigung ihrer besonderen Geschäfte und Zwecke fort, und es ist teils nur die Weise der bewußtlosen Notwendigkeit der Sache, nach welcher ihre Selbstsucht in den Beitrag zur gegenseitigen Erhaltung des Ganzen umschlägt, [...].“ Während der kollektive Wille im friedlichen Zustand seine Produktivität entfaltet, indem er sich in der Spaltung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft aufschiebt und sich selbst in „seinem Anderen“ begehrt, kommt im Notzustand der Idealismus einer imaginären Zentrierung im Willen zu seiner „eigentümlichen Wirklichkeit“, insofern deutlich wird, dass es unter der Bedingung des Gesetzes nur einen einzigen Willen geben kann, dem sich die Vielzahl der Einzelwillen verdankt: „[...] – im Zustande der Not aber, es sei innerer oder äußerlicher, ist es die Souveränität, in deren einfachen Begriff der dort in seinen Besonderheiten bestehende Organismus zusammengeht und welcher die Rettung des Staates mit Aufopferung dieses sonst Berechtigten anvertraut ist, wo denn jener Idealismus zu seiner eigentümlichen Wirklichkeit kommt.“109

108 109

Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 7), S. 407f. Ebd. S. 444.

V Die Gesamtmetamorphose (Marx)

In seinem programmatischen Aufsatz Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (1949) hat Jacques Lacan die Konstitution des Subjekts anhand einer zweifachen BlickKonstellation analysiert. Das entwicklungspsychologisch gefasste Spiegelstadium wird dabei als die entscheidende Phase verstanden, in der sich die Ich-Instanz des Kindes mittels der „Aufnahme eines Bildes“1 etabliert. Die Eltern weisen dem Kind insofern ein Selbstbild zu, als sie es vor den Spiegel halten und dem Satz Ausdruck verleihen: Das bist Du! Die Leistung des Spiegelstadiums besteht darin, diesen Satz in das Register einer Ich-Aussage zu verwandeln, sodass das Ergebnis der Operation in einer scheinbaren Wiedererkennung besteht und in der affirmativen Aussage resultiert: Das bin ich! Die durch das Spiegelstadium ausgelöste Verwandlung basiert daher nicht auf einer Reihe von konstativen Sätzen, bei denen ein einzelnes Bild einer schon bestehenden Ich-Identität zugeordnet würde, sondern auf einem performativen und medienabhängigen Akt, durch den die Ich-Identität des Aussagesatzes allererst hergestellt wird.2 Im Unterschied zu identitätsphilosophischen Konzepten einer als ursprünglich synthetisch verstandenen Einheit des Subjekts wird die Konstitution der Ich-Instanz entlang der imaginären Identifikation mit dem Spiegelbild als motiviert durch den Blick der Eltern begriffen, die das Kind bei dieser induzierten Identifikation beobachten. Die Wiedererkennung und ihre identitätsbildenden Effekte sind demnach in eine theatralische Szene eingebettet, bei der die Eltern als interpellierende Zuschauer einer vermeintlich autologischen Subjektkonstitution des Kindes fungieren. Der „jubilatorischen Aufnahme“ des eigenen Spiegelbildes, bei der sich das motorisch noch ohnmächtige Kind als „totale Form“ und damit phantasmatisch in der antizipierten Position narzisstischer Allmacht im Sinne eines „Reliefs in Lebensgröße“ erlebt, korrespondiert der bestätigende Applaus der Eltern, von dem 1

2

Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: ders.: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, übers. v. Rodolphe Gasché, Norbert Haas, Klaus Laermann u. Peter Stehling, Weinheim/ Berlin 1986, S. 61–70 (hier: S. 64). Vgl. dazu Robert Pfaller: Althusser. Das Schweigen im Text. Epistemologie, Psychoanalyse und Nominalismus in Louis Althussers Theorie der Lektüre, München 1997, S. 113–120.

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die „Permanenz des Ich“ von nun an abhängig sein wird: „Solchermaßen symbolisiert diese ‚Gestalt‘ [...] durch die zwei Aspekte ihrer Erscheinungsweise die mentale Permanenz des Ich (je) und präfiguriert gleichzeitig dessen entfremdende Bestimmung; sie geht schwanger mit den Entsprechungen, die das Ich (je) vereinigen mit dem Standbild, auf das hin der Mensch sich projiziert, wie mit dem Phantom, die es beherrschen, wie auch schließlich mit dem Automaten, in dem sich, in mehrdeutiger Beziehung, die Welt seiner Produktion zu vollenden sucht.“3 Als Ich-Instanz handelt das Kind auf einer symbolischen Bühne, die sowohl die sozialen als auch medialen Bedingungen seines Akteurstatus bereitstellt. Das Evidenz stiftende „Aha-Erlebnis“ der Wiedererkennung antwortet bestätigend auf die vorgängige Zuweisung des Selbstbildes durch den Blick der Zuschauer, wobei diese Blick-Konstellation prinzipiell asymmetrisch ist, insofern sich die imaginäre Identifikation mit dem eigenen Bild dem beobachtenden Blick der Eltern verdankt, den das Kind in dem Moment, in dem es sich als es selbst sieht, seinerseits nicht sehen kann. Aus diesem Grund agiert das so erzeugte Selbstbild niemals nur die eigenen Wünsche des Kindes aus, sondern verlängert stets auch die Wunschvorstellungen der Eltern. – Im Anschluss an Sigmund Freuds Unterscheidung zwischen Ideal-Ich und Ich-Ideal hat Lacan zwischen einer imaginären und einer symbolischen Identifikation differenziert. Während die imaginäre Identifikation die Identifikation mit dem vermeintlich eigenen Wunschbild bezeichnet, also mit dem Bild, bei dem das Subjekt so erscheint, wie es sich gerne sieht, beschreibt die symbolische Identifikation die Identifikation mit dem Blick der Zuschauer, in deren Horizont sich das Subjekt so zu sehen versucht, wie es annimmt, dass es gerne gesehen wird.4 Das Begehren des Kindes entfaltet sich somit von Anfang an im Begehren eines anderen Blicks, mit dem es sich aufgrund der prinzipiellen Asymmetrie der Blick-Konstellation niemals vollständig identifizieren kann. Kulturtheoretisch lässt sich diese Konstellation auch als der Blick der Vorfahren beschreiben, unter deren Beobachtung die jeweils nächste Generation ihre Handlungen zu rechtfertigen hat und in deren untilgbarer Schuld sie steht. In einer genealogischen Ordnungsstiftung solcher als Tradition aufgefassten Blick-Konstellationen findet sich am Anfang der Ahnenreihe in der Regel eine Ursprungsfigur, die den uneinholbaren Ort der symbolischen Identifikation auffüllt und der die Ahnenreihe ihre historische Existenz zu verdanken hat. Der Mangel, der mit jedem Schöpfungsakt einhergeht, insofern dabei der Übergang von der Nichtexistenz des Kollektivs zu seiner Existenz in Szene gesetzt wird, und das Begehren, diesen Mangel zu beheben, überträgt sich in einer genealogischen Kette von einer Generation auf die nächste, sodass jede neue Generation die Wünsche der vorhergehenden Generation unter dem Blick der Ursprungsfigur zu erfüllen hat. Die hierarchische Verteilung der symbolischen Plätze einer genealogisch gestifteten Gemeinschaft hängt dabei insofern von der Nähe zur jeweiligen Ursprungsfigur ab, als sich die möglichen Symmetrien innerhalb des Kollektivs aus der ursprünglichen Asymmetrie der zweifachen Blick-Konstellation herleiten. Man ist nie unmittelbar mit einem anderen 3 4

Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (Anm. 1), S. 64f. Vgl. dazu ausführlich Slavoj Žižek: Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, Teil I: Der erhabenste aller Hysteriker, Teil II: Verweilen beim Negativen, übers. v. Isolde Charim u. Lydia Marinelli, Wien 2008, S. 237–252.

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gleichartig, sondern nur unter dem Blick der Ursprungsfigur. Denn aus der Differenz zwischen der imaginären und der symbolischen Identifizierung ergeben sich nach Lacan zwei unterschiedliche Beziehungen zum anderen: Der „große Andere“ ist diejenige Beobachterinstanz, unter deren Blick sich das Selbstverhältnis des Subjekts konstituiert und zu dem das Subjekt aus diesem Grund niemals eine symmetrische Beziehung aufbauen kann. Während der „kleine andere“ die symmetrische Projektion seiner selbst auf einen anderen darstellt, der deshalb zwangsläufig als gleichartig erscheinen muss. Jede Handlung und jedes Verhalten des Subjekts finden daher nicht nur im Hinblick auf diejenigen statt, in denen sich das Subjekt als gleichartig spiegeln kann, sondern geschehen ebenso für den zuschauenden Blick des „großen Anderen“. Die Interpellation, die von diesem „großen Anderen“ ausgeht, ob es sich nun um eine historische Ahnenreihe, ein übernatürliches Wesen oder eine andere Ursprungsfigur handelt, kann das Subjekt daher zu bestimmten Handlungen und Verhaltensweisen ermächtigen oder aber im Falle ihres Misslingens in die Krise der Unentscheidbarkeit führen.5 – Im Unterschied zu genealogisch gestifteten Kollektiven lässt sich das moderne Projekt der gesellschaftlichen Selbstbegründung als Versuch verstehen, die Differenz zwischen der imaginären und der symbolischen Identifikation zum Verschwinden zu bringen. Der Zurückführung der Gesellschaft auf einen Vertrag, bei dem prinzipiell jeder Einzelne zum unhintergehbaren Ausgangspunkt der Rechtsdistribution und in diesem Sinne zum Mitgesetzgeber werden soll, geht in der politischen Philosophie des Thomas Hobbes die vollständige Auflösung des als gespenstisch erfahrenen Blicks der Tradition voraus. Außerhalb des durch Zustimmung erzeugten Gemeinwesens soll es keine symbolische Instanz geben, die den Einzelnen oder eine Gruppe von Einzelnen zu Herrschaftsansprüchen ermächtigt, die dem aus allen Einzelnen zusammengesetzten Leviathan entgegenstehen.6 Jenseits des Gemeinwesens, sowohl im zeitlichen als auch im räumlichen Sinne, herrscht die uneingeschränkte Macht des Todes, dessen Willkür jeder ausgeliefert ist, der sich nicht der Souveränität des Staatswillens unterwirft. Dem Traditionsbruch, durch den jede vorgängige Beobachterinstanz zurückgewiesen und das Kollektiv allein auf den Nullpunkt einer Selbstbegründung bezogen werden soll, entspricht in der Hobbesschen Konstrukti5

6

Vgl. dazu Carl Schmitt: Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Düsseldorf/ Köln 1956, der die misslungene Anrufung seitens der Ahnen in Shakespeares The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark mit dem Zerfall der politischen Theologie in Verbindung bringt. Zur Problematik des heroischen Aktionsbildes bei Carl Schmitt vgl. Friedrich Balke: Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996, S. 261–315. Im Zusammenhang der revolutionären Konstitutionsakte des 18. Jahrhunderts hat Hannah Arendt von einem Gründungsgeschehen gesprochen, das nicht länger in mythische Urzeiten verweist, sondern als pouvoir constituant „unter den Augen der Zeitgenossen“ stattfindet und sich als ein „erhabenes“ Ereignis zur Geltung bringt, das „bar aller Geheimnisse und außerhalb aller Gründungslegenden“ eine neue Geschehenskette stiftet. Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1986, S. 183ff. u. S. 263. Dazu dass im Unterschied zu Arendts Einschätzung auch politische Systeme, die als demokratisch verfasst verstanden werden, im Anschluss an die Lehre vom doppelten Körper des Königs auf eine szenische Verdoppelung ihres politischen Körpers angewiesen sind, die sich nicht allein funktional erklären lässt und sich in der Vorstellung eines „ewigen Demos“ und seiner proportionalen Repräsentation manifestiert, vgl. Philip Manow: Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Frankfurt/M. 2008, S. 88–119.

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on des Naturzustandes daher zunächst die vollständige Entleerung des Zuschauerblicks, der nun von einer anonymen Macht des Todes ausgeht, von dem das Kollektiv zu seiner Selbstbegründung in einem Vertragsschluss aufgerufen wird. Selbst von den Verstorbenen darf keine Botschaft und kein Auftrag mehr zu vernehmen sein, woraus sich eine genealogisch gestiftete Kette des gesellschaftlichen Seins ableiten ließe. Sie sind endgültig tot. Der leere Blick des Todes, der jeden jenseits des Gemeinwesens ungehemmt erfasst, gibt daher keine andere Programmatik mehr vor, als das Gemeinwesen überhaupt als solches ins Leben zu rufen. Von der absoluten Anonymität des Todes geht keine Mahnung mehr aus, sich an die aufgetragenen Vorgaben eines Schöpfers zu halten und der Schuld einem solchen Schöpfer gegenüber gerecht zu werden. Weil dem Blick des „großen Anderen“ keine personale Gestalt mehr zugeordnet werden kann, hat der Staatswille, der sich von dieser anonymen Macht des Todes ableitet, indem er sie kalkulierbar machen soll und somit in sich aufnimmt, keine andere Aufgabe, als die Existenz des Gemeinwesens zu sichern und auf Dauer zu stellen. Aus diesem Grund kann der Leviathan zugleich als eine bloße Schutzmacht erscheinen, die den Einzelnen eine individuelle Lebensführung ermöglichen soll, und als ein furchterregendes Monster, das der anonymen Macht des Todes ein zugleich menschliches und unmenschliches Gesicht verleiht, in dem sich alle als Subjekte des Gesellschaftsvertrags wiedererkennen sollen. Denn was der Souverän Hobbesscher Prägung leistet, wenn er der anonymen Macht des Todes die Gewissheit ihrer dauerhaften Präsenz verleiht, besteht nicht nur in einem Sicherheitsversprechen, sondern ebenso in der Erinnerung an die Grundlagen des Naturzustandes als die Grundlagen eines jeden, durch die der Einzelne allererst gezwungen ist, zum Subjekt des Gesellschaftsvertrags zu werden. Dass jeder von nun an sein Leben diesem Gesellschaftsvertrag zu verdanken hat, bedeutet zugleich, dass der leere Blick des Todes im Leviathan und damit in jedem Subjekt aufbewahrt ist und jederzeit evozierbar bleiben muss. Um das Gemeinwesen auf Dauer zu stellen, muss auch der imperativische Aufruf, dem Gesellschaftsvertrag beizutreten, permanent an die Mitglieder des Kollektivs ergehen, indem der unmenschliche Zustand jenseits des Gemeinwesens jederzeit an den Grenzen des Kollektivs heraufbeschworen wird. Der Nullpunkt der Selbstbegründung, auf den die Gemeinschaft von nun an zurückbezogen werden soll, indem sie sich bei der Begründung ihrer Identität ausschließlich von dem leeren Blick des Todes beobachten lässt und alle anderen Instanzen der Autorität zurückweist, lässt sich daher als das Phantasma der Moderne beschreiben, das immer wieder erzeugt werden muss, um die Identität des Kollektivs zu sichern.7 Der absolute Mangel, der von der anonymen Macht des Todes ausgeht und der den Naturzustand Hobbesscher Prägung in ökonomischer und sozialpolitischer Hinsicht wesentlich kennzeichnet, steht deshalb 7

Vor diesem Hintergrund lässt sich Jean Baudrillards – in der Tradition der Surrealisten stehender – Versuch, einen „nichtaufgeschobenen Tod“ zu denken, als eine politische Strategie verstehen, dieses Phantasma der Moderne zu durchschreiten. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, übers. v. Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke u. Ronald Voullié, München 1991, S. 195–295 (hier: S. 71): „Wenn die Macht aufgeschobener Tod ist, wird sie solange nicht aufgehoben werden, wie diese Suspendierung des Todes nicht aufgehoben wird. Und wenn die Macht sich immer und überall definiert durch den Akt des Gebens, ohne daß sie euch zurückgegeben wird, dann ist klar, daß die Macht des Herrn, einseitig das Leben zu gewähren, nur abgeschafft werden kann, indem dieses Leben ihm zurückgegeben wird – in einem nichtaufgeschobenen Tod.“

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nicht bloß am Anfang des modernen Gründungsgeschehens, sondern muss ebenso dauerhaft reproduziert werden wie die jeweiligen Mittel, die seine zukünftige Behebung versprechen. Denn anders als funktionalistische Theorien der Gesellschaft annehmen, muss auch der Mangel als solcher zunächst symbolisiert werden, um wahrnehmbar zu sein und als behebbar erscheinen zu können. Auch die moderne Geste der Selbstbegründung ist auf einen Horizont angewiesen, in dem sie sich vollzieht und von dem sich die Gemeinschaft von nun an beobachten lässt. Der leere Blick des Todes, unter dem sich die Gemeinschaft als sie selbst erkennt und dem sie ihren Akteurstatus zu verdanken hat, wird im Phantasma eines jederzeit möglichen Naturzustandes selbst anschaulich, der eben die Katastrophe vor Augen führt, die es zukünftig zu verhindern gilt. Wie in der Lacanschen Fassung des Spiegelstadiums die antizipierte Position narzisstischer Allmacht von dem beängstigenden Phantasma des „zerstückelten Körpers“8 begleitet und verfolgt wird, so korrespondiert bei Hobbes der mächtigen Gestalt des aus allen Einzelnen zusammengesetzten Leviathans die bedrohliche Vorstellung der Zerstückelung eines politischen Körpers, der in eine sich im Bürgerkrieg verschlingende Menge zerfällt, sobald die imaginäre Einheit nicht mehr gewährleistet ist.

1.

Die polizeiliche Aufsicht

Bei seiner Rekonstruktion des historischen Übergangs von einer Gesellschaftsformation, bei der wenige Wichtige auf einer in Szene gesetzten Bühne der Sichtbarkeit stehen und der Menge als handelnde Akteure gegenübertreten, hin zu einem Gesellschaftsverständnis, das unmittelbar in der Gestalt der Menge gründen soll, hat Michel Foucault das architektonische Modell des Panoptikums, das Jeremy Bentham in seinem Buch Panopticon; or, the Inspection-House: Containing the idea of a new principle of construction [...] (1787) entwickelt hat, ins Zentrum seiner Analyse gerückt. In diesem Modell zur Erzeugung von Sichtbarkeit wird deutlich, was es heißt, dass eine amorphe Menge zum Gegenstand der Sichtbarmachung wird und in diesem Prozess ihre Gestalt als Menge individueller Akteure allererst gewinnt. Das Prinzip des Panoptikums beruht darauf, dass es einen zentralen Beobachterpunkt gibt, etwa den Überwachungsturm in einem Gefängnis, von dem aus jeder als Einzelner gesehen werden kann: „Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar. Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlaß zu sehen und zu erkennen.“9 Die Beobachterinstanz ist dabei so angelegt, dass sie prinzipiell von jedem Beliebigen ausgefüllt werden kann, der sich an dem zentralen Beobachterpunkt befindet, während umgekehrt der Beobachtete nie wissen kann, wann er beobachtet wird, weil er nur den Beobachterpunkt sehen, aber nicht überprüfen kann, ob der Punkt besetzt ist. Auf diese Weise wird das Gesehenwerden von einer personalen Instanz zugunsten eines anonymisierten Verfahrens zur Sichtbarmachung des individuellen Verhaltens abgelöst, das als solches auf keinen bestimmten institutionel8 9

Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (Anm. 1), S. 67. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seiter, Frankfurt/M. 1994, S. 251–292 (hier: S. 257).

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len Ort mehr festgelegt ist, sondern als machtpolitische Verteilung der symbolischen Plätze den gesamten Gesellschaftskörper durchziehen kann. Weil dem Beobachter im Unterschied etwa zu einem göttlichen Auge keine besonderen qualitativen Merkmale mehr zugesprochen werden müssen, ermöglicht dieses panoptische Gesehenwerden eine asymmetrische Selbstbeziehung, bei welcher der Beobachtete zugleich auf der Seite des Beobachters auftaucht: „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selbst aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung. Aus diesem Grund kann ihn die äußere Macht von physischen Beschwerden befreien. Die Macht wird tendenziell unkörperlich und je mehr sie sich diesem Grenzwert annähert, um so beständiger, tiefer und endgültiger und anpassungsfähiger werden ihre Wirkungen: der immerwährende Sieg vermeidet jede physische Konfrontation und ist immer schon im vorhinein gewiß.“10 Gerade weil das Gesehenwerden nicht mehr an eine übernatürliche Instanz gebunden ist, die sich in einem unsterblichen Körper des Königs manifestiert, sondern unmittelbar von der Gesellschaft auf die Gesellschaft ausgehen soll, sodass mit der Steigerung der politischen Macht auch die Steigerung der gesellschaftlichen Kräfte einhergeht, muss die Ausübung des Beobachtens von jedem beliebigen Subjekt vorgenommen werden und prinzipiell jeder zur Vermehrung des Wissens über die gesellschaftlichen Kräfte beitragen können.11 In genau dem Moment, in dem sich das Kollektiv als autologisch versteht und in diesem Sinne die Differenz zwischen seiner imaginären und seiner symbolischen Identifikation zum Verschwinden zu bringen versucht, muss die prinzipielle Asymmetrie der zweifachen Blick-Konstellation innerhalb des durch den Gesellschaftsvertrag als symmetrisch konstruierten Gesellschaftskörpers so reproduziert werden, dass die Beobachtung selbst die Asymmetrie erzeugt, zu deren Behebung sie angestellt wird. Während bislang diejenigen, die sich dem Blick der Schöpferinstanz durch ihr Verhalten entzogen haben, in das Dunkel der Ausgrenzung verstoßen wurden, setzt die panoptische Selbstbeobachtung des Kollektivs auf seine eigene Identität hin einen Prozess in Gang, bei dem die Beobachtung zum zentralen Motor einer alle gesellschaftlichen Institutionen umfassenden ökonomischen Dynamik wird, die dem unabschließbaren Versuch des Kollektivs geschuldet ist, sich als ein mit sich selbst identisches Kollektiv einzuholen. Im Unterschied zum „ausdrücklichen, kodifizierten und formell egalitären rechtlichen Rahmen“ des „parlamentarischen und repräsentativen Regimes“, bei dem „der Wille aller, direkt oder indirekt, mit oder ohne Vermittlung, die fundamentale Instanz der Souveränität“ bildet, hat Foucault den „Panoptismus“ und die mit diesem verbundene Disziplinargewalt als „die Basis und das Untergeschoß zu den formellen und rechtlichen Freiheiten“ beschrieben: „Mochte auch der Vertrag als ideale Grundlegung des Rechts und der politischen Macht erdacht werden: der Panoptismus stellte das allgemein verbreitete technische Zwangsverfahren dar. Und er hat nicht aufgehört, an den 10 11

Foucault: Überwachen und Strafen (Anm. 9), S. 261. Zu Friedrich von Hardenbergs berühmtem Diktum Jeder Staatsbürger ist Staatsbeamter vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995, S. 75: „Daran hat jede Rückführung moderner Beamtenausbildung auf Mittelalter oder Frühneuzeit eine Grenze. Erst seit 1800 werden universale Beamte erzeugt, denen Menschheit und Menschlichkeit selber unterstehen.“

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Rechtsstrukturen der Gesellschaft von unten her zu arbeiten, um die wirklichen Machtmechanismen im Gegensatz zu ihrem formellen Rahmen wirken zu lassen.“12 Obwohl Foucault nahe legt, dass der Panoptismus als „Unterbau“ und „Basis“ im Gegensatz zu den formellen Rechtsstrukturen steht, lässt sich gerade anhand des konsequenten Gesetzesdenkens Immanuel Kants, dessen politische Philosophie als eine der maßgeblichen Quellen der modernen Rechtstheorie gilt, der intrinsische Zusammenhang zwischen der panoptischen Disziplinargesellschaft, ihren Effekten der individuellen Subjektivierung und der modernen Rechtsauffassung nachvollziehen.13 Denn die Gesetzesmacht und das politische Projekt einer möglichst restlosen Verrechtlichung des Gemeinwesens beruht bei Kant auf nichts anderem als der imaginären Zentrierung um eine Selbstidentität des Kollektivs und der Vorstellung, dass das Kollektiv sich in der geschichtlichen Zeit zunehmend selbst aneignen kann und in diesem Fortschritt ebenso wie jedes Mitglied des Kollektivs seine Mündigkeit erwirbt.14 Das Gesetz im Sinne Kants, und zwar sowohl in moralischer als auch in politischer Hinsicht, ist nicht einfach eine Vorschrift, der man gehorchen kann oder auch nicht, sondern außerhalb des Gesetzes gibt es für Kant überhaupt keine personale Instanz, kein Subjekt und kein Ich, insofern diese personale Instanz erst im Gehorchen hervorgebracht wird. Sich selbst das Gesetz zu geben und damit den Ort der symbolischen Identifikation vollständig einzunehmen, sodass jeder fremde Zuschauerblick, unter dem sich die eigene Identität als solche konstituiert, zurückgewiesen werden kann, bedeutet zwangsläufig, sich selbst aus der Perspektive der Vorschrift auf die eigene Abweichung von dieser Vorschrift hin zu beobachten. – Im Unterschied zu Hobbes lässt sich für Kant daher kein Zustand denken, in dem der Gesellschaftsvertrag als solcher zustande kommt, insofern Denken immer schon an das Gesetz der Selbstidentität gebunden ist. Die maßlose Gewaltsamkeit, die bei Hobbes am Anfang des Gründungsgeschehens steht, darf als Frage nach dem Ursprung aus der Perspektive der sich selbst begründenden Identität des Kollektivs nicht mehr wahrnehmbar sein. Die Selbstbeobachtung des Kollektivs kann deshalb immer nur im Nachhinein eine Selbstprüfung seiner inneren Gesetzmäßigkeit sein, deren Techniken in einer langen Tradition religiöser Rituale geschult und nun zum machtpolitischen Modell von Gesellschaft werden.15 Mit dem Versuch, die Differenz zwischen der imaginären und der symbolischen Identifikation zum Verschwinden zu bringen, geht bei Kant zugleich eine zunehmende Theoriesorge um die von religiösen Hegungen freigewordene Einbildungs12 13

14

15

Foucault: Überwachen und Strafen (Anm. 9), S. 285. Zur Rekonstruktion des Aufstiegs des modernen Individuums zum privilegierten Objekt der entstehenden Humanwissenschaften und der bis heute anhaltenden Karriere des Gesellschaftsbegriffs, die Foucault in Opposition zur Erfindung des Sozialen bei Émile Durkheim durchführt, vgl. Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, übers. v. Claus Rath u. Ulrich Raulff, Frankfurt/M. 1987, S. 173–198. Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, dass Vertreter einer Theorie radikaler Demokratie, wie etwa Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die nicht von der imaginären Einheit des Demos, sondern von seiner dauerhaften Zerrissenheit ausgehen, auch die an Kant anknüpfenden Projekte eines Kosmopolitismus zurückweisen. Vgl. Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, übers. v. Niels Neumeister, Frankfurt/M. 2007, S. 118–155. Zur Einübung der subjektivierenden Selbstbeobachtung am Beispiel der Klosterzelle vgl. Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola, übers. v. Maren Sell u. Jürgen Hoch, Frankfurt/M. 1986, S. 49–88.

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kraft einher, die im Begriff der Achtung still gestellt und der symbolischen Ordnung zugeführt werden soll. Der Begriff der Achtung ist deshalb für die Tektonik des Kantischen Theoriegebäudes derart zentral, weil damit das Feld der Aufmerksamkeit um die autologische Selbstidentität des Subjekts organisiert wird. Solange sich das Subjekt aus der Perspektive des zentralen Beobachterpunkts selbst zum Gegenstand der Überwachung macht, ist es immer in zweifacher Hinsicht ein Subjekt des Gesetzes, das den Mangel, der vom Blick des „großen Anderen“ ausgeht, nun selbst als Subjekt des Gesetzes auf sich selbst als Objekt des Gesetzes zu übertragen hat. Als Objekt des Gesetzes muss es sich stets als mangelhaft wahrnehmen, weil ihm das Gesetz für ein sinnliches und empirisches Wesen als unerfüllbar erscheinen muss. Und als Subjekt des Gesetzes verkörpert es den Mangel des „großen Anderen“ selbst, insofern dem Gesetz das Begehren nach einem Objekt innewohnt, auf das es sich beziehen muss und ohne das es leer bleibt. Nirgendwo ist die ungeheure Dynamik, die von diesem Versuch einer autologischen Schließung der zweifachen Blick-Konstellation ausgeht und die Foucault als Produktivität der modernen Machtmechanismen beschrieben hat, die von nun an nicht mehr auf „Abschöpfung“, sondern auf „Wertschöpfung“ abzielen,16 deutlicher zum Ausdruck gekommen als in G. W. F. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), wenn die „Unsittlichkeit“ der bürgerliche Gesellschaft als ein Außersichsein der „Sittlichkeit“ des modernen Rechtsstaates aufgefasst wird. Die Abweichung vom Gesetz wird nicht mehr als etwas wahrgenommen, das idealerweise überhaupt nicht stattfinden würde und deshalb in das Dunkel des gesellschaftlichen Abseits verstoßen werden muss, sondern als das „Andere“ des Gesetzes, sodass sich das Kollektiv gerade in seinem abweichenden Verhalten mit sich selbst als identisch begehrt. Neben die Figur des Gesetzes rückt aus diesem Grund die Figur der Polizei bei Hegel zum zentralen Begriff der Rechtsphilosophie auf, um die Vielzahl der besonderen Einzelwillen, die alle von der Selbstgesetzlichkeit des allgemeinen Staatswillens abweichen, unter einer „allgemeinen Vorsorge und Leitung“ mit diesem zu „vermitteln“.17 Die „polizeiliche Aufsicht“ hat keineswegs nur den Zweck, als institutionelle Verlängerung des Gesetzes das Verbrechen zu bekämpfen und dadurch die Erfüllung des Gesetzes sicherzustellen. Vielmehr soll sie die „allgemeine Möglichkeit“ zur „Erreichung der individuellen Zwecke“ gerade unter der Bedingung gewährleisten, dass diese nicht durch den Staatswillen vorhergesehen und nicht von diesem selbst besorgt werden können. Aufgabe der Polizei ist es deshalb, die individuellen Verhaltensweisen und deren mögliche Kollisionen zu registrieren, nicht um sie auszutilgen und wieder vollständig dem „öffentlichen Zweck“ einzugliedern, sondern um sie einer „höheren Regulierung“ zuzuführen und damit die „Dauer des Zwischenraums, in 16 17

Foucault: Überwachen und Strafen (Anm. 9), S. 281: „An die Stelle des Prinzips von Gewalt/ Beraubung setzen die Disziplinen das Prinzip Milde/Produktion/Profit.“ G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke in 20 Bd. auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, Bd. 7, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, S. 385. Zur Entstehung der Polizeiwissenschaft und den entsprechenden Regierungstechniken im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, übers. v. Claudia Brede-Konersmann u. Jürgen Schröder, hg. v. Michel Sennelart, Frankfurt/M. 2004, S. 449–519.

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dem sich die Kollisionen auf dem Wege bewußtloser Notwendigkeit ausgleichen sollen, abzukürzen und zu mildern“.18 – Im Absolutismus des ancien régime, in dem sich die Souveränität des Willens auf die Gesamtheit der Untertanen bezog, gebührte der Polizei die Aufsicht über alles. Aber genau in dem Moment, in dem prinzipiell jeder in die Absolutheit dieses Willens eingetragen werden soll, ändert sich die Aufgabe der Polizei grundlegend, insofern die Wahrnehmung und Aufzeichnung des abweichenden Verhaltens für die zukünftige Formierung des Staatswillens produktiv gemacht wird.19 Die Polizei ist von nun an das voyeuristische Auge, in dem sich das Selbstbegehren des Kollektivs strukturell institutionalisiert. Von dem Moment an, in dem jeder sowohl zum Subjekt als auch zum Objekt des Gesetzes werden soll, muss sich die unaufhebbare und temporal organisierte Differenz zwischen dem Begehrenden und dem Begehrten, die sich bei Hegel in der Spaltung des Kollektivs in den modernen Rechtsstaat und die bürgerliche Gesellschaft ausdrückt, auch in einer Transformation der „polizeilichen Aufsicht“ manifestieren, die neben der Beaufsichtigung der Subjekte ebenso deren Selbständigkeit zu gewährleisten und auch zu fördern hat. Weil es jedoch keine Grenze „an sich“ gibt, was „schädlich oder nicht schädlich, auch in Rücksicht auf das Verbrechen, was verdächtig oder unverdächtig sei, was zu verbieten oder zu beaufsichtigen oder mit Verboten, Beaufsichtigung und Verdacht, Nachfrage und Rechenschaft verschont zu lassen sei“, hängt die Begrenzung des polizeilichen Zugriffs vom „jedesmaligen Zustand“ und der „Gefahr des Augenblicks“ ab.20 Die Polizei wird somit zum entscheidenden Relais zwischen der Zentrierung des politischen Körpers um den Staatswillen und seiner Zerstückelung in der bürgerlichen Gesellschaft, in der jeder als Privatperson agiert und in seinen „selbstsüchtigen Zweck“ vertieft ist. Im Unterschied zum Phantasma eines ursprünglichen bellum omnia contra omnes bei Hobbes ist für Hegel die Zerstückelung des politischen Körpers in die scheinbare Selbständigkeit privater Akteure, die der Staatswille im Gegensatz zum ancien régime zulässt, eine notwendige Konsequenz der imaginären Zentrierung, um die Gesamtkräfte des Kollektivs zu steigern, während die vorgängige Notwendigkeit dieser Zentrierung besonders dann zur Geltung kommt, wenn das Kollektiv gezwungen ist, sich selbst in der Not als solches zur Kenntnis zu nehmen,21 ob es sich nun um eine äußere oder innere Not handelt.

18 19

20 21

Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 17), S. 385. Zur damit einhergehenden Transformation der Polizeiwissenschaft im 18. Jahrhundert vgl. Joseph Vogl: Staatsbegehren. Zur Epoche der Policey, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 74. Jahrgang (2000), S. 600–626. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 17), S. 383. Nicht ohne Grund gehört Hegel zu den wichtigsten Referenzen für Carl Schmitts Theorie eines politischen Ausnahmezustands, die sich in dem programmatischen Satz Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet aus seinem Buch Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922) verdichtet. Zur damit einhergehenden Auffassung einer Notwendigkeit des Krieges bei Hegel vgl. Niels Werber: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München 2007, S. 77–84.

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2.

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Die Anatomie des Elends

Die von Karl Marx in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern 1844 publizierte Einleitung zu seinem unveröffentlichten Manuskript Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843) beginnt mit einer programmatischen Feststellung, aus der die moderne politische Philosophie für Marx noch nicht alle Konsequenzen gezogen zu haben scheint: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“22 Sofort im Anschluss bestimmt Marx die Religion zunächst ganz im Sinne Hegels als das „Selbstgefühl und das Selbstbewußtsein des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat“. In dem Moment, in dem sich der Mensch nicht hat, besitzt er sich nur in Form einer „phantastischen Verwirklichung“. Umgekehrt folgt daraus für Marx zwangsläufig, dass die „illusorische Sonne“, um die der religiöse Mensch kreist, genau in dem Moment verschwinden wird, in dem sich der Mensch in Besitz genommen hat, sodass er „seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstande gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine eigene Sonne bewege“.23 Die Kritik der Religion endet also zunächst mit einer Enttäuschung, die den Menschen dazu zwingt, sich vom Phantasma eines vermeintlich anwesenden und sichtbaren „großen Anderen“ abzuwenden, in dessen Blick man sich über die eigene Mangelhaftigkeit hinwegtäuschen und daher aufgehoben fühlen kann. Niemand anderer ist verantwortlich für das Sosein der Welt, und niemand anderer hat sich gegenüber der Kritik an diesem Sosein der Welt zu rechtfertigen als der Mensch: „Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.“24 Die Welt des Menschen ist dadurch definiert, dass es sich um eine Welt handelt, in der ausschließlich der Mensch den Status eines autonomen Akteurs hat. Allein der Mensch ist der Produzent seiner eigenen Welt, und zwar selbst dann, wenn es sich um eine verkehrte Welt handeln mag.25 Aus diesem Grund muss der Mensch die Adresse jeder weiteren Kritik sein, die sich auch nach der Kritik der Religion noch den „imaginären Blumen an der Kette“ zuwendet, das heißt nach der Einsicht in die Selbstbegründung der Welt des Menschen durch den Menschen: „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den 22

23 24 25

Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, Karl Marx/Friedrich Engels Werke, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 1, Berlin 1956, S. 378– 391 (hier: S. 378). Zur zentralen Bedeutung der Religionskritik bei Marx vgl. ausführlich Werner Post: Kritik der Religion bei Karl Marx, München 1969. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (Anm. 22), S. 379. Ebd. S. 378. Zur theoretischen Figur der verkehrten Welt, die von Georg Lukács in seinem Buch Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik (1923), das die deutsche Marx-Rezeption und besonders die der Frankfurter Schule geprägt hat, unter dem Stichwort der Verdinglichung ins Zentrum der Marx-Interpretation gestellt worden ist, vgl. Rolf Nemitz: Ideologie als „notwendig falsches Bewußtsein“ bei Lukács und der Kritischen Theorie, in: Theorien über Ideologie/Projekt Ideologie Theorie, Berlin 1979, S. 39–60. Zur symptomatologischen Wendung, die Louis Althusser seiner Rekonstruktion dieser Figur bei Marx gegeben hat, vgl. Louis Althusser: Für Marx, übers. v. Karin Brachmann u. Gabriele Sprigath, Frankfurt/M. 1968, S. 52–85.

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Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, [...].“26 Denn wenn der Mensch bislang in der Geschichte noch nicht als historische Größe aufgetaucht ist, dann nur aus dem Grund, weil die Mangelhaftigkeit der Welt stets einem anderen Akteur und einem „Jenseits der Wahrheit“ zugerechnet wurde. Wenn jedoch der Mensch der einzige Urheber seiner Welt ist, dann ist er auch für die Verwaltung des Mangels verantwortlich und die Kategorie des Menschen eine Kategorie der Ganzheit, unter deren Zuständigkeit ebenfalls die Zurechnung der Mangelhaftigkeit zu einem anderen Akteur als dem Menschen fällt. Selbst das „Jenseits der Wahrheit“ gehört noch der „Wahrheit des Diesseits“ an, sodass die „Kritik des Himmels“ stets in eine „Kritik der Erde“ zu münden hat und der Mensch auch dort als Urheber in Erscheinung tritt, wo er sich bislang einen anderen Urheber imaginiert hat. – Wenn demnach die Mythologien der „alten Völker“ und auch der „Heiligenschein“ der christlichen Religion über dem „Jammertal“ der wirklichen Existenz niemals etwas anderes waren als das imaginäre Auffüllen der entstellten und verzerrten Ganzheit des Menschen, seine „feierliche Ergänzung“, die selbst noch im philosophischen Gedanken der Aufklärung ihre „Nachgeschichte“ erlebt, dann sind die „Traumgeschichten“ der Völker alles andere als bloße Einbildungen und Allmachtsphantasien unzulänglicher Geschöpfe, sondern solche „Spiegelungen der Zustände“, denen ein spezifischer Status an Wahrheit im Hinblick auf die Ausgangssituation ihres Zustandekommens zugebilligt werden muss: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem Protestation gegen das wirkliche Elend.“27 Wenn der Mensch immer schon das „höchste Wesen für den Menschen“ war, dann lassen sich der Art und Weise, in der sich der Mensch imaginär in Besitz nimmt, die realen Bedingungen ablesen, unter denen das geschieht, und anhand einer Kritik der Religion die sozialpolitischen Verzerrungen auffinden, die den Grund dafür abgeben, dass sich der Mensch überhaupt imaginär ergänzen muss.28 Aus dieser Perspektive sind die historischen Formationen der imaginären Identifikationen mit einem höchsten Wesen, das jenseits des Menschen existieren soll, sowohl die „imaginären Blumen an der Kette“ der realen Bedingungen, als auch der sich historisch jeweils auf andere Weise artikulierende Wunsch, diese Ketten zugunsten einer Emanzipation der menschlichen Existenz zu beseitigen.29 In dem Moment, in dem der Mensch als Kategorie der Ganzheit zum einzigen Urheber seiner Welt wird, muss auch das, was diese Welt von ihrer Selbstidentität fern hält, ebenfalls dem Menschen zugerechnet werden können, 26 27

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29

Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (Anm. 22), S. 385. Ebd. S. 378. Die Art und Weise, wie Marx hier die Mythologien der „alten Völker“ begreift, folgt den theoretischen Linien des Prinzips verum factum, das Giambattista Vico in seinem Buch Scienza Nuova (1725) grundgelegt hat und bei dem nicht die Bedeutung der mythischen und religiösen Systeme, sondern deren Gemachtsein im Vordergrund steht. Vgl. dazu Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000, S. 29–43. Im Unterschied zu Marx geht dagegen Althusser nicht von einer Widerspiegelung, sondern von einem unaufhebbar „imaginären Verhältnis“ zu den „realen Existenzbedingungen“ aus. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, übers. v. Rolf Löper, Klaus Riepe u. Peter Schöttler, Hamburg/Berlin 1977, S. 133 Zur Ambivalenz des Imaginären für eine Theorie des Politischen vgl. Étienne Balibar: Das NichtZeitgenössische, in: ders: Für Althusser, übers. v. Renate Nentwig, Mainz 1994, S. 53–81.

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sodass der imaginäre Überschuss stets die unvollendete Selbstaneignung des Menschen anzeigt. Denn wenn die imaginäre Identifikation nicht nur Rückschlüsse auf die jeweilige symbolische Ordnung zulassen soll, durch deren Rahmen die unterschiedlichen Formationen der imaginären Zentrierung bestimmt werden, sondern als solche ernst genommen werden soll, dann ist das Begehren, das in den unterschiedlichsten Wunschphantasien der Mythologien und Religionen zum Ausdruck kommt, immer das gleiche, nämlich das Begehren, mit sich selbst identisch sein zu wollen. Vor diesem Hintergrund versteht Marx die gesamte Menschheitsgeschichte als eine enorme Anstrengung zur Emanzipation von eben den historischen Bedingungen, die den Menschen dazu zwingen, sich imaginär zu ergänzen. Während dessen Geschichte bis zu den großen gedanklichen Entwürfen der historischen Aufklärung wie eine Naturgeschichte erscheint,30 weil sich der menschliche Wunsch nach Selbstidentität hinter den zahlreichen Phantasmen eines übermächtigen Wesens verborgen hielt und daher ungewusst blieb, tritt dieser in der modernen Philosophie insofern klar zutage, als er zumindest gedanklich zum Prinzip menschlicher Autonomie wird. Weil es jedoch nicht ausreicht, sich als mit sich selbst identisch vorzustellen, um den Wunsch nach Identität zu befriedigen, muss die Kritik der Religion in die Kritik einer Philosophie münden, die dem Menschen zwar die Lesbarkeit seines eigenen Begehrens, aber nicht dessen Erfüllbarkeit ermöglicht hat. Denn dass die Kategorie des Imaginären auch nach der Entkleidung des Jenseits keineswegs verschwunden ist, sondern auf philosophische Weise verwaltet wird, und die magischen Bindungen des Kollektivs nun durch Vertragsfiktionen geleistet werden müssen,31 bedeutet, dass das kollektive Begehren nach Selbstidentität nach wie vor unerfüllt geblieben ist. Wie die Mythologien und Religionen den Wunsch nach Identität sowohl zum Ausdruck gebracht als auch zu Herrschaftszwecken in Anspruch genommen haben, so kommt diese „ideale Verlängerung“ der Wirklichkeit gegenwärtig dem philosophischen Gedanken zu: „Wie die alten Völker ihre Vorgeschichte in der Imagination erlebten, in der Mythologie, so haben wir Deutsche unsre Nachgeschichte im Gedanken erlebt, in der Philosophie. Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein. Die deutsche Philosophie ist die ideale Verlängerung der deutschen Geschichte. Wenn wir also statt die æuvres incomplètes unserer reellen Geschichte die æuvres posthumes unserer ideellen Geschichte, die Philosophie, kritisieren, so steht unsere Kritik mitten unter den 30

31

Zur kritischen Diskussion der Geschichtsauffassung bei Marx im Zusammenhang der Pariser Kontroverse (1961) um den wissenschaftlichen Geltungsbereich der Dialektik vgl. Alfred Schmidt: Zum Verhältnis von Geschichte und Natur im dialektischen Materialismus, in: Existentialismus und Marxismus. Eine Kontroverse zwischen Sartre, Garaudy, Hyppolite, Vigier und Orcel, übers. v. Elisabeth Schneider, Frankfurt/M. 1965, S. 103–155 (hier: S. 128), der entgegen einer Schematisierung von Dialektik zu zeigen versucht, dass es für Marx „streng genommen nur zwei wahrhaft historische Dialektiken gibt: die des je nach den nationalen Gegebenheiten mehr oder weniger revolutionären Übergangs von der antik-feudalen zur bürgerlichen Ära und die des katastrophischbefreienden Übergangs von dieser zu sozialistischen“. Vgl. dazu auch Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx, Frankfurt/M. 1971, S. 176–206. Zur Marxschen Kritik der juridischen Perspektive des Idealismus auf den Wunsch nach Selbstidentität im Gegensatz zu den konkreten Produktionsweisen vgl. Andreas Böhm: Kritik der Autonomie, Freiheits- und Moralbegriffe im Frühwerk von Karl Marx, Bodenheim 1998, S. 140–150.

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Fragen, von denen die Gegenwart sagt: That is the question.“32 – Um die Geschichte und ihre möglichen Fortschritte zu begreifen, reicht es nicht aus zu fragen, inwieweit sich diese Geschichte schon erfüllt hat oder unvollendet geblieben ist, sondern man muss die Spannung zwischen der „reellen“ und der „ideellen“ Geschichte analysieren und die Geschichte aus den imaginären Deutungen heraus verstehen, die diese Geschichte von sich selbst geliefert hat. Wenn die phantastischen Verwirklichungen sowohl den jeweiligen historischen Wunsch nach Identität artikulieren, als auch die jeweiligen Bedingungen enthalten, unter denen sich das menschliche Streben nach Emanzipation zugleich verhüllt und offenbart, dann muss die Aufforderung, der phantastischen Verwirklichung endlich eine tatsächliche Verwirklichung folgen zu lassen, stets unzulänglich bleiben. Weil der „idealen Verlängerung“ zwangsläufig eine umdeutende Verkehrung innewohnt, kann man nicht einfach von dem Wunsch nach Selbstidentität zu seiner historischen Realisierung übergehen, sondern muss zunächst durch eine Kritik der Philosophie deren Imaginäres auf seine Entstehungszusammenhänge zurücklesen: „Das deutsche Volk muß daher diese seine Traumgeschichte mit zu seinen bestehenden Zuständen schlagen und nicht nur diese bestehenden Zustände, sondern zugleich ihre abstrakte Fortsetzung der Kritik unterwerfen.“33 Um zunächst von der philosophischen Theorie der Emanzipation zu einer Analyse und schließlich zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Praktiken zu gelangen, kann der Weg nicht entlang einer Gegenüberstellung von Theorie und Praxis führen, sondern allein über ein Verständnis der jeweiligen Theorie als einer ganz bestimmten Praxis des Vorstellens.34 Wenn das „deutsche Volk“ die „unmittelbare Verneinung seiner reellen Zustände“ schon längst in seinen „ideellen Zuständen“ besitzt, dann muss der Art und Weise dieses Besitzens auch der Ausgangspunkt für die Analyse der zugrunde liegenden Verhältnisse entnommen werden, um dem imaginären Selbstbesitzen die Wahrheit seiner realen Bedingungen ablesen zu können. Indem Marx die Welt des Menschen als eine Kategorie der Ganzheit zum zentralen Ausgangspunkt seiner Gesellschaftsanalyse macht, nimmt er eben jene imaginäre Identifikation der bürgerlichen Gesellschaft ernst, die bei Hegel insofern als Effekt der symbolischen Ordnung des modernen Staates erscheint, als diese Kategorie nur innerhalb der staatlichen Rahmung auftauchen kann. Während für Hegel die Einzelnen zuallererst Staatsbürger sind, auch wenn sie sich einbilden mögen, in der bürgerlichen Gesellschaft, wo nach Hegel „erst“ und „eigentlich nur“ die Rede vom Menschen als sinnvoll erscheint, sich ganz selbst zu gehören, nimmt Marx diese Einbildung zum zentralen Ausgangspunkt seiner „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“35 und versteht deren ökonomische Dynamiken aus ihrem Begehren nach imaginärer Ganzheit.36 – Die Verschiebung der theoretischen 32 33 34

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Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (Anm. 22), S. 383. Ebd. S. 383. Zu einer konflikttheoretischen Rekonstruktion des sozialen Gefüges gehört daher auch die strategische Wissensproduktion um den Konflikt. Vgl. dazu Moritz Epple: Karl Marx und die soziale Wirklichkeit, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 48 (1994), S. 518–541. Vgl. auch das Kapitel The Notion of Class Politics in Marx bei Étienne Balibar: Masses, Classes, Ideas. Studies on Politics and Philosophy Before and After Marx, London 1993, S. 125–150. Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Marx/Engels Werke, Bd. 13, S. 7. Die gegenwärtigen Versuche, bei Marx ein „normatives Fundament“ in einem überzeitlichen Humanismus herauszuarbeiten, müssen daher insofern problematisch bleiben, als sich die Welt des

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Aufmerksamkeit vom Idealismus des Staatswillens zugunsten der „Produktionsweise des materiellen Lebens“, die Marx im Vorwort seiner Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) als das Resultat seiner Auseinandersetzung mit der Rechtsphilosophie Hegels beschreibt und die für ihn in die Einsicht mündet, dass „Rechtsverhältnisse wie Staatsformen“ nicht „aus sich selbst zu begreifen sind“,37 verdankt sich von daher der Registrierung derjenigen Formen des Imaginären, die nach wie vor das kollektive Leben beherrschen, obwohl die Kritik der Religion im Wesentlichen „beendigt“ ist. Wie die „imaginären Blumen“ im Fall des Scheins religiöser Formationen zugleich Ausdruck des „wirklichen Elends“ und Protestation gegen dieses „wirkliche Elend“ sind, offenbart die imaginäre Identifikation der bürgerlichen Gesellschaft ebenso eine „zwiespältige Identität“: Denn einerseits reproduziert das Begehren nach einer imaginären Ganzheit das der bürgerlichen Gesellschaft vorgängige Staatsbegehren und steht somit in einer „inneren Abhängigkeit“ vom Staatswillen. Andererseits ist in diesem Ausdruck zugleich die Protestation gegen das Staatsbegehren enthalten, wenn der Staatswille als „äußerliche Notwendigkeit“ erlebt und im Begehren nach einer imaginären Ganzheit verneint wird. Die Lehre, mit der die Kritik der Religion endet, nämlich dass der „Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ sei, endet ihrerseits mit einer „ungelösten Antinomie“, wenn sich der Staatsbürger im Privatbürger als seine eigene Verneinung gegenübertritt: „Hegel stellt hier eine ungelöste Antinomie auf: Einerseits äußerliche Notwendigkeit, andererseits immanenter Zweck.“38

3.

Das Ungenügen einer Revolution

Im Mittelalter gab es „Leibeigene, Feudalgut, Gewerbeproduktion, Gelehrtenkooperation“, das heißt: „[...] im Mittelalter ist Eigentum, Handel, Sozietät, Mensch politisch; der materielle Inhalt des Staates ist durch seine Form gesetzt; jede Privatsphäre hat einen politischen Charakter oder ist eine politische Sphäre, oder die Politik ist auch der Charakter der Privatsphären.“39 Weil die Verteilung der symbolischen Plätze im Feudalsystem vollständig durch das Kollektiv bestimmt ist, gibt es keine Differenz zwischen einer politischen und einer privaten Sphäre: „Im Mittelalter ist Volksleben und Staatsleben identisch.“ Weil das Leben der Menschen in jedem seiner Momente als ein „gesetzliches Dasein“ erscheint, ist der Mensch politisch.40 Weil alles von der Auffas-

37 38 39 40

Menschen ebenfalls der historischen Produktion als „Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen“ verdankt, „von denen Jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produktionskräfte exploitiert“, woraus Marx in seiner Schrift Die Deutschen Ideologie (1845/46) die radikale Schlussfolgerung zieht, dass die „einzige Wissenschaft“ letztlich die „Wissenschaft der Geschichte“ sei. Karl Marx: Die Deutsche Ideologie, Marx/Engels Werke, Bd. 3, S. 45 u. 18. Zur kritischen Diskussion dieser Versuche vgl. Michael Quante: Die fragile Einheit des Marxschen Denkens, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 60 (2006), S. 591–608. Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 35), S. 7. Karl Marx: Aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie [Kritik des Hegelschen Staatsrechts], Marx/Engels Werke, Bd. 1, S. 203–333 (hier: S. 204). Ebd. S. 233. Zur Abwertung von Politik zugunsten von Gesellschaft vgl. Harald Bluhm: Freiheit in Marx’ Theorien, in: Ingo Pies/Martin Leschke (Hg.): Karl Marx’ kommunistischer Individualismus, Tübingen

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sung des Gesetzes abhängt, welchen Platz man einnimmt, was man zu tun hat und wem man gehorchen soll, ist der „materielle Inhalt“ des Staates durch seine bestimmende Form gesetzt. Insofern das „menschliche Dasein“ ganz auf das „gesetzliche Dasein“ reduziert ist, kann das Feudalsystem für Marx nichts anderes als eine „Demokratie der Unfreiheit“ sein: „Der Mensch ist das wirkliche Prinzip des Staats, aber der unfreie Mensch.“ Im Feudalsystem ist der Mensch ganz, weil sein Leben vollständig vom Gesetz erfasst wird, und aus diesem Grund auch vollständig unfrei. Die Differenz zwischen der politischen und der privaten Sphäre gehört dagegen der „modernen Zeit“ an: „Die Abstraktion des politischen Staates ist ein modernes Produkt.“41 In der „modernen Zeit“ wird der Mensch nicht als ganzer erfasst, sondern ist gespalten zwischen einem „Allgemeinen“ und einem „Besonderen“, die sich nicht mehr zu einer umfassenden Einheit von bestimmender Form und materiellem Inhalt zusammenfügen. Zwischen „Allgemeinem“ und „Besonderem“ öffnet sich eine unaufhebbare Differenz, in der die Staatsform und das Staatsmaterial inkongruent erscheinen. In dieser Inkongruenz ist die Hierarchie zwischen dem „Allgemeinen“ und dem „Besonderen“ nicht mehr eindeutig gegeben, insofern aus der Perspektive des Staatslebens der „Privatmensch“ als ein „besonderes Dasein“ neben den „politischen Menschen“ tritt, aus der Perspektive des Volkslebens sich jedoch das „politische Leben“ als ein „besonderes Dasein“ des „Privatmenschen“ darstellt. Was sich als Staatsmaterial von der Staatsform abgesondert und in diesem Sinne privatisiert hat, kann ebenso gut beanspruchen, für sich das „Allgemeine“ zu sein, und daher nun als ein eigenständiges Volksleben dem bestimmenden Staatsleben gegenübertreten. Denn in dem Moment, in dem das Staatsleben die juridische Form eines reinen Willens angenommen hat und als ein „in sich selbst inhaltsloser Verstand“ das gesamte Volksleben unter sich zu subsumieren versucht, produziert dieser Versuch im Gegenzug ein uneinholbares Neben,42 sodass der „abstrakte Staat“ dem „wirklichen Volksleben“ gegenübersteht. – Die Inkongruenz von Form und Materie, die von einem Gesetz ausgeht, das sich allein im Rekurs auf sich selbst zu begründen versucht, verschiebt die Wirklichkeit des Volkslebens in den unbestimmten Raum eines Privaten, zu dem sich das Gesetz zwar als „organisierende Form“ verhält, den es aber niemals als solchen einholen kann und dem daher nun eine materielle Selbständigkeit zugesprochen werden muss.43 Während Hegel den privaten Raum der bürgerlichen Gesellschaft als das Außersichsein des Staatswillens gedeutet hat, in dem das Gesetz auf negative

41 42

43

2005, S. 57–80 (hier: S. 66), der anhand der Abwendung von normativ-juridischen Freiheitskonzepten bei Marx ein Verständnis „künftiger Freiheit“ mit „markant sozialer und apolitischer Note“ diagnostiziert, wohingegen man genauer sagen müsste, dass sich bei Marx im Unterschied zu Hegel das Feld des Politischen vom politischen Staat zur bürgerlichen Gesellschaft verschiebt. Vgl. dazu auch Harald Bluhm (Hg.): Karl Marx/Friedrich Engels. Die Deutsche Ideologie, Berlin 2009. Marx: Aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Anm. 38), S. 233. Zur spezifisch modernen Problematik von Subsumtion und Ausnahme vgl. Leander Scholz: Technik, Kraft und Ästhetik des Urteilens: Kants Phänopolitik, in: Friedrich Balke/Harun Maye/Leander Scholz (Hg.): Ästhetische Regime um 1800, München 2009, S. 79–97. Im Anschluss an Marx und im Gegensatz zu juridischen Konzepten einer Weltbürgerschaft haben Michael Hardt und Antonio Negri daher den „sozialen Bios“ ins Zentrum einer nichthegemonialen Globalisierung gestellt. Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, übers. v. Thomas Atzert u. Andreas Wirthensohn, Frankfurt/M./New York 2002, S. 37–55.

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Weise anwesend ist, eröffnet dieser unbestimmte Raum für Marx eine Selbstbestimmung, die nichts mehr mit der Freiheit zu tun hat, die das Gesetz um den Preis eines Selbstaufschubs verspricht. Mit der Emanzipation der Materie von einer Form, die dieser Materie im Sinne der Aristotelischen Entelechie immer schon innewohnen soll, und zwar selbst dann noch, wenn sie aus dieser Materie als ihre „Abstraktion“ herausgetreten ist und ihr nun gegenüber steht, ist für Marx ein geschichtlicher Prozess in Gang gesetzt, bei dem das „gesetzliche Dasein“ nur noch ein besonderes Moment des „menschlichen Daseins“ darstellt: „Der Mensch ist nicht des Gesetzes, sondern das Gesetz ist des Menschen wegen da, es ist menschliches Dasein, während in den andern [Staatsformen] der Mensch das gesetzliche Dasein ist. Das ist die Grunddifferenz der Demokratie.“44 Wenn der unfreie Mensch im Mittelalter als ganzer erfasst wird, weil er vollständig durch die Staatsform bestimmt ist, und in der „modernen Zeit“ seine Freiheit darauf beruht, dass zwischen dem Staatsleben und dem Volksleben eine unüberbrückbare Kluft herrscht, dann kann der freie Mensch nur dadurch wieder als ein ganzer Mensch zum „Prinzip des Staates“ werden, dass der politische Staat zu einem besonderen Moment der Gesellschaft wird und nicht umgekehrt: „In der Demokratie ist der Staat als Besondres nur Besondres, als Allgemeines das wirklich Allgemeine, d. h. keine Bestimmtheit im Unterschied zu dem andern Inhalt. Die neueren Franzosen haben dies so aufgefasst, daß in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe. Dies ist insofern richtig, als er qua politischer Staat, als Verfassung, nicht mehr für das Ganze gilt.“45 Das Gesetzesdenken, das in den revolutionären Konstitutionsakten des 18. Jahrhunderts zum zentralen Ausgangpunkt des Gemeinwesens geworden ist, kann für Marx nicht mehr der Ort sein, an dem sich das Versprechen kollektiver Selbstidentität einlösen lässt, weil es zugleich den Ort beschreibt, an dem sich jeder in der Gleichheit vor dem Gesetz gegen jeden immunisiert,46 indem er sich als Privatbürger von sich selbst als Staatsbürger absondert. In der langwierigen Geschichte der menschlichen Emanzipation stellt die politische Revolution, deren Resultat darin besteht, dass die „Staatsangelegenheiten“ zu „Volksangelegenheiten“ werden, für Marx daher zugleich die vollständige Auflösung des Volkes dar: „Die politische Revolution, welche diese Herrschermacht [die Feudalität] stürzte und die Staatsangelegenheit zu Volksangelegenheiten erhob, welche den politischen Staat als allgemeine Angelegenheit, d. h. als wirklichen Staat konstituierte, zerschlug notwendig alle Stände, Kooperationen, Innungen, Privilegien, die ebensoviele Ausdrücke der Trennungen des Volkes von seinem Gemeinwesen 44 45 46

Marx: Aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Anm. 38), S. 231. Ebd. S. 232. An diese Problematik schließt Jean-Luc Nancy an, wenn er im Gegensatz sowohl zu traditionellen als auch zu modernen Gemeinschaftskonzepten eine Gemeinschaftlichkeit zu denken versucht, die das „Fehlen eines Grundes oder einer Voraussetzung des Seins-in-der-Gemeinschaft“ anzuerkennen vermag. Vgl. Jean-Luc Nancy: Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des „Kommunismus“ zur Gemeinschaftlichkeit der „Existenz“, in: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 167–204 (hier: S. 195). Zur kritischen Darstellung vgl. Oliver Marchart: Die politische Ontologie der Gemeinschaft. Politik und Philosophismus bei Jean-Luc Nancy, in: Janine Böckelmann/Claas Morgenroth (Hg.): Politik der Gemeinschaft. Zur Konstitution des Politischen in der Gegenwart, Bielefeld 2008, S. 133–156.

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waren.“47 Während sich das Gemeinwesen bis zu den revolutionären Konstitutionsakten über einen gemeinsamen Ursprung definiert hat, an dem der Blick einer Ursprungsfigur die Gemeinschaft stiftet, besteht der Preis eines Gesetzes, mit dem sich das Kollektiv von jedem vorgängigen Blick befreit, in der Auflösung jeglicher Gemeinschaft, der jeder Einzelne nun als „unpolitischer“ und „egoistischer“ Mensch gegenübersteht: „Der egoistische Mensch ist das passive, nur vorgefundene Resultat der aufgelösten Gesellschaft, Gegenstand der unmittelbaren Gewissheit, also natürlicher Gegenstand. Die politische Revolution löst das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen.“48 Wenn das Gesetz demnach nur das Mittel war, um die historischen Bedingungen herzustellen, unter denen die Gesellschaft allererst davon träumen kann, sie selbst zu sein, dann kann das Gesetz nicht zugleich das letzte Wort sein, um das Versprechen kollektiver Selbstidentität zu erfüllen. Denn egoistisch und unpolitisch erscheinen die Einzelnen nur im Rahmen ihrer Absonderung von einer Gemeinschaft, die auf der hierarchischen Nähe zu einer Ursprungsfigur basiert. Die „politische Emanzipation“ durch die Aufrichtung eines Gesetzes, dem jeder als Einzelner seine Existenz schuldet, bedeutet für Marx daher die „Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft von der Politik, von dem Schein selbst eines allgemeinen Inhalts“.49 – Die imaginäre Identifikation, in der ich mich als mich selbst erkenne, ist nicht der Effekt eines Gesetzes, das jeden vorgängigen Zuschauer meiner Selbstidentität zurückweist, sondern umgekehrt: Das Imaginäre hat sich des Gesetzes bedient, um sich von jeder vorab gegebenen Hegung der Vorstellungskraft abzukoppeln und zu sich selbst zu kommen. Dass an die Stelle des Ursprungs der Gemeinschaft die Leerstelle des Gesetzes getreten ist, ermöglicht überhaupt erst eine Freiheit gegenüber jeder Gründungszene, die es der Vorstellungskraft erlaubt, für sich selbst das Höchste zu sein. Wenn nach Hegel die politische Ordnung des modernen Staates darin besteht, dass jeder so dem Register des Symbolischen angehört, dass er sich im Register des Imaginären auf sich selbst beziehen kann, dann ist diese Perspektive für Marx insofern eine „optische Täuschung“, als das „politische Leben“ alles andere als ein sich selbst genügender Zweck ist, sondern ein „bloßes Mittel“, dessen Zweck im „Leben der bürgerlichen Gesellschaft“ gegeben ist.50 Nicht die Individuen mit ihren selbstsüchtigen Zwecken haben sich von der Ganzheit des Staatswillens entfernt, sondern es ist der politische Staat, dessen Exzentrik nun von der Ganzheit der Gesellschaft eingeholt werden muss. Die moderne Spaltung zwischen der Staatsform und dem Staatsmaterial kann nur dadurch beseitigt werden, dass der Staat zu einem Instrument für die Materie der Gesellschaft wird, um sich selbst zu formen: „Alle übrigen Staatsbildungen sind eine gewisse, bestimmte, besondere Staats47 48

49 50

Kar Marx: Zur Judenfrage, Marx/Engels Werke, Bd. 1, S. 347–377 (hier: S. 368). Ebd. S. 369. Zur Marxschen Kritik an einer bloß „negativen Fassung“ von Freiheit bei Kant und Hegel im Sinne eines „Spielraums der individuellen Glücksuche“, bei der jeder andere lediglich als meine „rechtlich zu respektierende Schranke“ in den Blick kommen kann, vgl. ausführlich Iring Fetscher: Karl Marx und der Marxismus. Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung, München 1967, S. 33–44 (hier: S. 33). Marx: Zur Judenfrage (Anm. 47), S. 369. Ebd. S. 367.

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form. In der Demokratie ist das formelle Prinzip zugleich das materielle Prinzip.“51 Für Marx ist die Gesellschaft kein besonderes Moment eines allgemeinen Staatswillens mehr, der in dieser Gesellschaft außer sich sein muss, um in diesem Außersichsein zugleich bei sich sein zu können, sondern die Gesellschaft hat den Staatswillen allein aus dem Grund hervorgebracht, um über diesen Umweg sie selbst werden zu können.52 Denn erst die Leerheit eines mit sich selbst identischen Gesetzes konnte die Produktivität eines Begehrens nach imaginärer Ganzheit derart freisetzen, dass dieses Begehren nun seinerseits das Gesetz als höchste Instanz aufzuzehren beginnt. Was Hegel allein dem Staatswillen zubilligte, wenn dieser im Unterschied zu den unzähligen Einzelwillen als ein unendlicher Wille erscheint, der sich durch alle Einzelwillen hindurch auf sich selbst bezieht, erscheint nun als die Unendlichkeit der unzähligen Einzelwillen, für die der Staatswille lediglich ein Mittel ist, um sich auf sich selbst beziehen zu können. Wenn Marx vor dem Hintergrund dieser Umkehrung der Differenz von Staat und Gesellschaft, von symbolischer und imaginärer Ordnung schlussfolgert, dass die „menschliche Emanzipation“ erst dann vollbracht ist, wenn der „wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist“,53 dann heißt das nichts anderes, als dass die Möglichkeit individueller Befriedigung nun zum zukünftigen Ausgangspunkt der Ordnungsbegründung wird.54 Was bei Hegel noch als „Stufe des Scheins“ verstanden wird, gibt daher von nun an den entscheidenden Maßstab der Gesellschaft ab.

4.

Die Produktion des Mangels

Das Ungenügen einer politischen Revolution, das Marx anhand der „ungelösten Antinomie“ zwischen citoyen und bourgeois diagnostiziert, basiert auf der vorgängigen Diagnose eines Ungenügens des Gesetzes. Es ist nicht das Staatsmaterial, dem aufgrund einer unbehebbaren Mangelhaftigkeit nicht die gleiche „Sittlichkeit“ zukommt wie dem Staatswillen, sondern es ist die juridische Staatsform eines reinen Willens, die den Mangel distribuiert und reproduziert. Wenn Hegel die bürgerliche Gesellschaft als „maßlos“ beschreibt, weil jede Bedürfnisbefriedigung zugleich ein neues Bedürfnis erzeugt und 51 52

53 54

Marx: Aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Anm. 38), S. 231. Zur geschichtsphilosophischen Rechtfertigung des politischen Staates bei Wladimir Iljitsch Lenin und Leo Trotzki vgl. Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1994, S. XVI: „Der eigene Staat heißt in seiner Gesamtheit Diktatur, weil er das Werkzeug eines durch ihn zu bewirkenden Überganges zu einem richtigen Zustand bedeutet, seine Rechtfertigung aber in einer Norm liegt, die nicht mehr bloß politisch oder gar positiv-verfassungsrechtlich ist, sondern geschichtsphilosophisch.“ Marx: Zur Judenfrage (Anm. 47), S. 370. Zum damit einhergehenden Umbau von „Erfahrungsbegriffen“ zu „Erwartungsbegriffen“ vgl. Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt/M. 2006, S. 9–102 (hier: S. 69). Für Koseleck ist Kommunismus ein Beispiel für einen „reinen Erwartungsbegriff“, insofern für die „Bewegungsbegriffe der Neuzeit“ die „semantische Regel“ gilt: „Je geringer die Erfahrungsgehalte, desto größer die Erwartungen.“

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dadurch die bürgerliche Gesellschaft in ein „schlecht Unendliches“ getrieben wird,55 dann übersieht er, dass das „System der Bedürfnisse“ nichts anderes tut, als das Staatsbegehren eines reinen Willens auszuagieren. Denn das Begehren auf Dauer zu stellen, um sich selbst im Begehrten einzuholen, ist strukturell nicht verschieden von dem, was der Staatswille tut, wenn er sich über sein Außersichsein in der bürgerlichen Gesellschaft auf sich selbst bezieht. Wie der Staatswille sich in einem Objekt, nämlich der Bevölkerung des Staates, entäußern muss, um bei sich sein zu können, da er ansonsten ein vollkommen leerer Wille wäre, so entäußern sich die Einzelwillen der bürgerlichen Gesellschaft in Objekten ihres Besitzens, um sich selbst besitzen zu können. Und ebenso wie der Staatswille in dieser strukturellen Entäußerung sein Begehren auf Dauer stellt, wird aus notwendigen Bedürfnissen wie Wohnung, Nahrung und Kleidung ein sich vervielfältigendes „System der Bedürfnisse“, bei dem der Mensch „seine Begierden“ durch „seine Vorstellungen und Reflexionen“ permanent erweitert. Der Mangel, der in diesem System mit jeder Bedürfnisbefriedigung ebenso wieder mitproduziert werden muss, beruht allerdings nicht auf einer unhintergehbaren Anthropologie, die den Menschen im Unterschied zum Tier als „keinem beschlossenen Kreis“ zugehörig ausweist. Sondern das „schlecht Unendliche“ der bürgerlichen Gesellschaft, deren „Verworrenheit“ aus der Perspektive Hegels nur durch den „gewältigenden Staat“ wieder einer „Harmonie mit der sittlichen Einheit“ zugeführt werden kann, beruht auf der Reproduktion und Distribution der Autologie eines sich selbst setzenden Willens: Nur aus diesem Grund erscheinen die Einzelwillen ebenso „selbstsüchtig“ wie der Staatswille. – Der Versuch der Einzelwillen, im „System der Bedürfnisse“ ihr eigenes Begehren ebenso auf Dauer zu stellen wie das Staatsbegehren, ist die Konsequenz der Begründung des Kollektivs in der Absolutheit eines einzigen Willens, der nun mit seinen eigenen Filiationen zu konkurrieren hat. Während es für Hegel jedoch noch keine Frage ist, dass dem Staatswillen die souveräne Position der „Ganzheit“ zukommt, deren „Stärke“ darin besteht, die Vielzahl der Einzelwillen „zuzulassen“, diagnostiziert Marx anhand des „Systems der Bedürfnisse“, dass der Staat als sein eigener Zweck schon längst von der Gesellschaft zu ihren Zwecken eingeholt worden ist. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum das Kollektiv bei dem Versuch, sich in der Autologik eines absoluten Willens einzuholen, nicht bei sich selbst ankommt, sondern über sich „hinausgetrieben“ wird und im Zuge dessen den Mangel in einer „systematischen Kolonisation“ anderer Völker exportiert.56 Denn obwohl das „System der Bedürfnisse“, in dem sich das Begehren selbst erhält, mit einem „Übermaße des Reichtums“ einhergeht, ist die bürgerliche Gesellschaft „nicht reich genug“, das heißt, besitzt „an dem ihr eigenen Vermögen nicht genug“, um dem „Übermaße der Armut“ 55 56

Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 17), S. 342f. Vgl. dazu Mike Davis: Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, übers. v. Ingrid Scherf, Britta Grell u. Jürgen Pelzer, Berlin/ Hamburg/Göttingen 2004, S. 283–392, der in seiner ausführlichen Rekonstruktion der Kolonialgeschichte des 19. Jahrhunderts die „Hungerkausalität“ der Versorgungskatastrophen in der „Dritten Welt“ nicht auf eine vor allem ökologisch bedingte „Nahrungsmittelknappheit“ zurückführt, sondern auf die systematische Zerstörung der Versorgungsstrukturen seitens der Imperialmächte und dementsprechend von einer „Politischen Ökologie des Hungers“ spricht.

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und der „Erzeugung des Pöbels“ entgegenzuwirken.57 Weil mit der Bedürfnisbefriedigung stets auch der Mangel wiedererzeugt werden muss, um das Begehren als solches in Gang zu halten, wird mit dem jeweiligen Reichtum zugleich auch eine jeweilige Armut produziert: „Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben, zunächst diese bestimmte Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Überfluß hat, oder überhaupt an Kunstfleiß usf. nachstehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu suchen.“58 Um in anderen Völkern die entsprechenden Konsumenten für die eigenen Handelsprodukte zu finden, reicht es nicht aus, diese Produkte anzubieten, sondern man muss mit den Produkten auch die Bedürfnisse exportieren, das heißt das „System der Bedürfnisse“ als solches distribuieren und damit eben jenen Mangel, der durch die Bedürfnisbefriedigung behoben werden soll, zur Grundlage der ökonomischen Versorgungssysteme machen. Selbst Marx, der im Unterschied zu wirtschaftsliberalen Beobachtern das Ausmaß der zur Schaffung eines Weltmarktes nötigen Gewalt als den eigentlichen Kern der Pax Britannica genau registriert hat, glaubte dabei an eine schnelle wirtschaftliche Transformation der kolonialisierten Völker zugunsten einer Emanzipation von traditionellen Herrschaftsgebilden.59 – Das „schlecht Unendliche“, das Hegel als das spezifische Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft im Unterschied zur sich auf sich selbst zurückwendenden Unendlichkeit des Staatswillens beschrieben hat, lässt sich daher nicht ohne die bedingende „Selbstsüchtigkeit“ des Staatswillens begreifen und muss als eine politische Ökonomie verstanden werden, insofern sich der ökonomische Wachstumsimperativ der bürgerlichen Gesellschaft nicht von dem des Staatsterritoriums abkoppeln lässt.60 Denn wenn Hegel festhält, dass die bürgerliche Gesellschaft, wenn sie sich in „ungehinderter Wirksamkeit“ befinde, „innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen“ sei,61 und damit das „Ausschweifende“ der ökonomischen Dynamik allein einer Selbstsüchtigkeit der Einzelwillen im Gegensatz zur Selbstgenügsamkeit des Staatswillens zurechnet, dann unterschlägt er entgegen seiner eigenen Analyse der Gegensätze von Land und Meer, dass die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft, in der sie über sich „hinausgetrieben“ wird, ebenso eine Dialektik zwischen dem Staatswillen und den Einzelwillen ist. Damit sich der Staatswille in seinen eigenen Filiationen, die dessen Begehrensstruktur der Selbstidentität reproduzieren, einholen kann, ist der Staat gezwungen, jener ökonomischen Dynamik zu folgen, die er selbst in Gang gesetzt hat, 57 58 59 60

61

Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 17), S. 390. Ebd. S. 391. Vgl. Davis: Die Geburt der Dritten Welt (Anm. 56), S. 35–68. In ihrem Buch Die Akkumulation des Kapitals – Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus (1913) ist Rosa Luxemburg daher davon ausgegangen, dass sich die militärische Expansion zur Erschließung neuer Märkte in der „Schlußphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen“ gestalten wird. Vgl. Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 5, Berlin 1975, S. 391: „Je gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer Kulturen besorgt, um so rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ziel zu setzen.“ Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 17), S. 389.

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sodass er ebenso wie die bürgerliche Gesellschaft über sich „hinausgetrieben“ wird. Der entscheidende Unterschied in diesem Getriebensein besteht jedoch in der Umkehrung der souveränen Perspektive, nämlich dass nun die Gesellschaft das Treibende darstellt, dem der Staat zu folgen hat. Anhand der beiden Gegensätze von Land und Meer, die sich auch als Gegensatz von symbolischer und imaginärer Ordnung verstehen lassen, hat Hegel die sich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts abzeichnende politisch-ökonomische Globalisierung, in welcher der Handel seine „welthistorische Bedeutung“ erlangt, eindringlich beschrieben.62 Das Land wird dabei zunächst als „fester Grund und Boden“ eingeführt, der die Bedingung für das „Prinzip des Familienlebens“ darstellt, während das Meer das „belebende und natürliche Element“ der Industrie abgibt. In der „Sucht des Erwerbs“ erhebt sich das „bürgerliche Leben“ über die symbolische Ordnung des Landes und setzt diese der „Gefahr“ und dem „Untergang“ aus. Das Meer eröffnet einen endlosen Raum imaginärer Möglichkeiten, in dem man nicht nur faktisch ertrinken kann, sondern der darüber hinaus auch mentale Risiken birgt. Während das Land für einen „begrenzten Kreis“ steht, der es erlaubt, auf sich zurückzukommen, kann man sich in der „schlechten“ Unendlichkeit des Meeres verlieren und dementsprechend nie wieder zu sich selbst finden. Nicht ohne Grund bilden die romantischen Blicke vom Festland auf die unendliche Weite des Meeres den entscheidenden Horizont für ein koloniales Begehren der bürgerlichen Gesellschaft, das jedoch in dem Moment, indem es ganz bei sich selbst zu sein glaubt, sich nur in seinem eigenen Tod auflösen kann. Vom Land aufs Meer zu blicken, heißt, sich danach zu sehnen, von der Gesetzesmacht und dem damit verbundenen Selbstaufschub loszukommen, um im Raum des Imaginären ganz bei sich selbst zu sein. Denn im Unterschied zum Land ist das Meer ein rechtsferner Raum, der seine Wirksamkeit im Versprechen eines endlosen Genießens entfaltet, das sich nicht mehr wie auf dem Land der Disziplin und der Arbeit zu verdanken hat. Dem „Festwerden an der Erdscholle“ steht das „Element der Flüssigkeit“ als eine permanente Erweiterung der „Genüsse und Begierden“ gegenüber: Das Meer ist stets auch ein Mehr-Genießen. Man kann in der Erwartung auf das Meer blicken, dort alles Mögliche zu sehen zu bekommen. Man kann das Meer bereisen, um andere Orte, Schätze und Völker zu finden, die das eigene Glücklichsein sicherstellen. Aber man kann nicht im Meer sein. Der rechtsferne Raum des Meeres, in dem sich das Begehren nach Identität vollständig zu erfüllen verspricht, bedeutet dann den eigenen Tod, wenn man versuchen würde, ganz im Imaginären des Meeres aufzugehen.63 – Für Hegel ist es daher keine Frage, dass der un62

63

Ebd. S. 391. Carl Schmitt hat seine Schrift Land und Meer (1942), die den Versuch darstellt, die „Weltgeschichte“ als eine „Geschichte des Kampfes von Seemächten gegen Landmächte und von Landmächten gegen Seemächte“ zu rekonstruieren, als Entfaltung des § 247 der Rechtsphilosophie Hegels verstanden, so „wie die §§ 243–246 im Marxismus zur Entfaltung“ gebracht worden sind. Carl Schmitt: Land und Meer, Stuttgart 2008, S. 108 (Nachbemerkung von 1981). Die manische Waljagd, die Herman Melville in seinem Roman Moby-Dick or The Wale (1851) als Jagd nach dem Leviathan in Szene gesetzt hat, lässt sich in diesem Sinne als eine Jagd nach dem eigenen Begehren verstehen, die zwangläufig mit der Erosion der symbolischen Ordnung und der Dekomposition des sozialen und politischen Körpers einhergeht, insofern die Bedrohung der Gesellschaft nun von der Gesellschaft selbst ausgeht. Schon im ersten Kapitel seines Romans beschreibt Melville unter Verweis auf den Narziss-Mythos das Wasser als die eigentliche Bildquelle

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bestimmte Raum des Meeres im Unterschied zum Land nur ein Medium des Übergangs sein kann. Die „welthistorische Bedeutung“, die der Handel als das „größte Medium der Verbindung entfernter Länder“ gewinnt, besteht nicht im Handel selbst, sondern in seiner Rechtsdistribution. Denn während das Land unmittelbar mit der Szene des Gesetzes verbunden ist, weil es Aufteilungen und Grenzziehungen erlaubt, lässt sich das Meer nicht in der gleichen Weise in Besitz nehmen. Aus der Perspektive des Staatstheoretikers kann das Meer seinen Wert nicht in sich selbst, sondern nur in einer indirekten Erweiterung des Landes haben, insofern es als „Mittel der Kolonisation“, zu der die „ausgebildete bürgerliche Gesellschaft getrieben“ wird, in einem „neuen Boden die Rückkehr zum Familienprinzip“ und damit zum „Feld ihres Arbeitsfleißes“ ermöglicht.64 Die Formierung des Imaginären, von der die bürgerliche Gesellschaft beherrscht wird, führt somit wieder zu der symbolischen Ordnung zurück, von der sie ihren Ausgang genommen hat, sodass die leidenschaftlichen Versuche, sich im Meer von der Gesetzesmacht loszumachen, zuletzt wieder in einem „den Vertrag einführenden rechtlichen Verhältnis“ münden: „In neueren Zeiten hat man den Kolonien nicht solche Rechte wie den Bewohnern des Mutterlandes zugestanden, und es sind Kriege und endlich Emanzipationen aus diesem Zustande hervorgegangen, wie die Geschichte der englischen und spanischen Kolonien zeigt. Die Befreiung der Kolonien erweist sich selbst als der größte Vorteil für den Mutterstaat, so wie die Freilassung der Sklaven als der größte Vorteil für den Herrn.“65

5.

Der doppelte Körper der Dinge

Auch wenn für Hegel der Versuch der bürgerlichen Gesellschaft, sich im Meer ihres eigenen Begehrens zu bemächtigen, zuletzt wieder im „begrenzten Kreis“ des Landes und damit im geschlossenen Feld des Staatsbegehrens endet und also auch dort dem Gesetz dient, wo es um die Loslösung von der Gesetzesmacht geht, so kommt diese Beschreibung der Gegensätze von Land und Meer doch nicht um die Aufdeckung der Irrreduzibilität des Meeres in dem Sinne herum, dass dessen „schlechte“ Unendlichkeit der „guten“ Unendlichkeit des Landes vorausgeht. Denn selbst wenn der Export des Mangels sich schließlich als ein Export des Gesetzes herausstellt, insofern die mit militärischer Gewalt betriebene ökonomische Expansion zuletzt in einer weltweiten Distribution des politischen Staates mündet, so erscheint dieser trotzdem der Herausbildung des „Systems der Bedürfnisse“ gegenüber nun nicht mehr als vorgängig, sondern im Gegenteil als nachträglich.66 Diese Umkehrung von Land und Meer, von symbolischer

64 65 66

für jede romantische Landschaft, die jedoch für denjenigen, der danach trachtet, sich dieser Quelle zu bemächtigen, den Tod bereithält. Vgl. dazu auch Joseph Vogl: Das charismatische Tier, in: Anne von der Heiden/ders. (Hg.): Politische Zoologie, Zürich/Berlin 2007, S. 119–130. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 17), S. 392. Ebd. S. 393. Im Sinne dieser Umkehrung hat Foucault den entscheidenden Unterschied zwischen dem Liberalismus des 18. Jahrhunderts bei Adam Smith und dem Ordoliberalismus des 20. Jahrhunderts bei Walter Eucken gesehen, bei dem der Staat seine Legitimität nicht mehr aus sich selbst generiert, sondern als „Spielregel“ vom „Spiel der Wirtschaft“ empfängt. Vgl. Michel Foucault: Geschichte

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und imaginärer Ordnung, in dem Sinne, dass die imaginären Formen des Meeres die Gesetzesmacht des Landes anleiten und bestimmen, findet sich ganz analog in der politisch-ökonomischen Analyse des Geldes, die Marx im ersten Band seines Hauptwerkes Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867) durchgeführt hat. Während das Geld, wie Marx im Rekurs auf Aristoteles festhält, seine Entstehung der Ausdehnung des „Tauschhandels“ zum „Warenhandel“ zu verdanken hat und dementsprechend innerhalb des Versorgungssystems einen bestimmten Zweck erfüllt, gibt es einen schwer zu fassenden Moment, an dem das Geld im „Widerspruch zu seiner ursprünglichen Tendenz“ aus dem Bereich der „Ökonomik“ in den Bereich der „Chrematistik“ wechselt, bei der als „Kunst, Geld zu machen“ dasselbe nicht mehr als Mittel fungiert, sondern „den Anfang und das Ende“ des Austauschs darstellt. Während das Geld im ersten Fall durch einen äußeren Zweck definiert ist, erscheint es im zweiten Fall als Selbstzweck: „Die einfache Warenzirkulation – der Verkauf für den Kauf – dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck. Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Wertes existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.“67 Während am Anfang dieses historischen Prozesses ein bestimmtes Bedürfnis steht, das mit dem Austausch von Gegenständen des Gebrauchs befriedigt werden kann, steht an dessen Ende ein unbestimmtes Bedürfnis, das in sich „maßlos“ und daher nicht zu befriedigen ist. Dabei ist das Geld zunächst ein Mittel, mit dem sich eine Ware in eine andere Ware „verwandeln“ lässt, dessen „Metamorphose“ jedoch ab einem bestimmten historischen Zeitpunkt in der „Schatzbildung“ selbst zum Gegenstand einer „Leidenschaft“ wird, das „Produkt der ersten Metamorphose“, nämlich die „verwandelte Gestalt der Ware“, als solches „festhalten“ zu wollen: „Da dem Geld nicht anzusehn, was in es verwandelt ist, verwandelt sich alles, Ware oder nicht, in Geld. Alles wird verkäuflich und kaufbar. Die Zirkulation wird die große gesellschaftliche Retorte, worin alles hineinfliegt, um als Geldkristall wieder herauszukommen.“68 Die „Metamorphose“ als solche vorrätig zu halten, heißt somit, nicht wissen zu müssen, zu welchem bestimmten Zweck man das überhaupt tut. In der „Schatzbildung“ wird der Geldvorrat als ein unbegrenzter Raum imaginärer Möglichkeiten mehr begehrt als eine dieser Möglichkeiten selbst. Wie das Meer so erscheint auch das Geld daher stets als ein Mehr-Genießen. Das Geld verspricht

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der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, übers. v. Jürgen Schröder, hg. v. Michel Sennelart, Frankfurt/M. 2004, S. 112–224 (hier: S. 124): „Die Wirtschaft erzeugt Legitimität für den Staat, der ihr Garant ist. Mit anderen Worten – [...] – die Wirtschaft schafft das öffentliche Recht.“ Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Marx/Engels Werke, Bd. 23, S. 167. Zur Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Ökonomik im Kapital vgl. Jan Hoff: Kritik der klassischen politischen Ökonomie. Zur Rezeption der werttheoretischen Ansätze ökonomischer Klassiker durch Karl Marx, Köln 2004, S. 31–42. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 67), S. 145. Zur Diagnose des Verlusts eines „Sinnlich-Konkreten“ vgl. auch Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/ M. 1971, S. 14f: „Damit ist eine Abstraktion vollzogen: der Tauschwert hat sich, indem er sich gegenüber jeglichem besonderen Warenkörper verselbständigt hat, auch von jeglichem besonderen Bedürfnis abgelöst. Dem, der über ihn verfügt, verleiht er eine nur der Quantität nach begrenzte Macht über alle besonderen Qualitäten.“

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immer mehr als eine der bestimmten Möglichkeiten, in die es sich verwandeln kann. Das Genießen der „Schatzbildung“ besteht deshalb darin, sich jeden bestimmten Genuss zu versagen, und geht mit den ökonomischen „Kardinaltugenden“ der „Arbeitsamkeit“, der „Sparsamkeit“ und des „Geizes“ einher: „Um das Gold als Geld festzuhalten und daher als Element der Schatzbildung, muß es verhindert werden zu zirkulieren oder als Kaufmittel sich in Genußmittel aufzulösen. Der Schatzbildner opfert daher dem Goldfetisch seine Fleischeslust.“69 In der „Schatzbildung“ wird aus dem Mittel des Austauschs von Gegenständen des Gebrauchs nun selbst der Zweck des Austauschs, insofern damit nicht mehr ein bestimmtes Bedürfnis befriedigt werden soll, sondern die Bedürfnisbefriedung als solche in den Vordergrund tritt. Der gebildete Schatz stellt als Magma aller möglichen Bedürfnisse und ihrer jeweiligen Befriedigung das Imaginäre selbst dar, das aufgrund seiner Gestaltlosigkeit jede bestimmte Gestalt annehmen kann.70 Man arbeitet nicht mehr, um sich im Selbstaufschub seines „reinen Fürsichseins“ präsent zu sein und dadurch im „Wiederfinden seiner durch sich selbst“ genießen zu können, sodass an die Stelle des „fremden Sinns“ ein „eigener Sinn“ tritt, wie Hegel das Formieren des Bewusstseins als Wahrheit seines Fürsichseins gefasst hat.71 Die formierende Arbeit hat ihren Sinn nicht mehr in sich selbst, sondern der Sinn der „Arbeitsamkeit“, der „Sparsamkeit“ und des „Geizes“ besteht darin, irgendwann mit dem gebildeten Magma der Möglichkeiten eins werden, im Geld schwimmen zu können, um damit von aller Arbeit loszukommen. Im Unterschied zur Arbeit im Rahmen der symbolischen Ordnung, bei der das Spiel von „Entäußerung“ und „Wiederfinden“ deutlich macht, dass sich das Subjekt nicht selbst gehört, fällt die Arbeit der „Schatzbildung“ in den Bereich der imaginären Ordnung, insofern sich darin das Begehren nach imaginärer Ganzheit ausdrückt. – Weil man jedoch niemals mit dem Magma des Imaginären identisch sein kann, wie intensiv man die „Schatzbildung“ auch betreibt, kann das Magma nur die vielen Gestalten erzeugen, die es zu beherbergen verspricht, indem es sie auch zur Erscheinung bringt. Während der „Schatzbildner“ die „rastlose Vermehrung des Werts“ dadurch anzustreben versucht, dass er „das Geld vor der Zirkulation zu retten sucht“, erreicht dies der „klügere Kapitalist“, indem „er es stets von neuem der Zirkulation preisgibt“,72 also Geld investiert, 69

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71 72

Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 67), S. 147. Diese Problematik hat Max Weber als „starke Kongruenz von Protestantismus und modernem Kapitalismus“ ins Zentrum seiner Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des modernen Kapitalismus (1904) gestellt. Zur historischen Kausalität dieser Kongruenz vgl. Max Weber: Die Protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hg. v. Johannes Winckelmann, Hamburg 1968, S. 304f. Vgl. dazu Norbert Bolz: Das konsumistische Manifest, München 2002, S. 63–88 (hier: S. 74), der Geld als eine „Macht ohne Eigenschaften“ begreift, welcher aus diesem Grund eine mediatisierende Wirkung zukommen soll: „Die monetarisierte Habsucht zähmt die anderen Leidenschaften. Auf die Liebe zum Geld ist Verlaß – hier entfaltet sich ein ruhiges Begehren.“ Allerdings könnte man daraus auch die gegenteilige Schlussfolgerung ziehen, nämlich dass gerade weil das Geld „wie ein Medium“ funktioniert, ihm ein äußerst unruhiges Begehren nach jeglicher Form innewohnt. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, S. 154. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 67), S. 168. Zum historischen Übergang vom „Geldvorrat“ zum „Geldkapital“ vgl. ausführlich Wolfgang Fritz Haug: Neue Vorlesungen zur Einführung ins „Kapital“, Hamburg 2006, S. 72–94.

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um mehr Geld zu erhalten. In dieser Zirkulation, die als Austauschbeziehung von GeldWare-Geld dem Austausch Ware-Geld-Ware genau entgegengesetzt ist, dominiert wie bei den Gegensätzen von Land und Meer die imaginäre die symbolische Ordnung, insofern es nun die Möglichkeit eines zukünftigen Mehr-Genießens ist, die den Austausch der Waren und deren Produktion bestimmt. Was produziert und ausgetauscht wird, dient nicht mehr der Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses, sondern der Reproduktion der Möglichkeit, in Zukunft weitere Bedürfnisse zu haben. Was nun auf Dauer gestellt wird, ist nicht das Gesetz der Selbstidentität, bei der man sich von sich selbst entfernen muss, um sich in dieser Entfernung selbst finden zu können, sondern die Identität des Imaginären als solches, das immer schon bei sich ist und sich nur von sich selbst entfernt hat, um alle möglichen Gestalten annehmen zu können: „Kapital ist Geld, Kapital ist Ware.“73 Von dieser Identität des Imaginären, der man nie als solcher habhaft werden kann, weil sie in nichts anderem als in einem Magma an Möglichkeiten besteht, das gegenüber jedem gegenwärtig existierenden „Wert“ einen darüber hinausgehenden „Mehrwert“ verspricht, wird jetzt das gesellschaftliche „System der Bedürfnisse“ beherrscht: „In der Zirkulation G-W-G funktionieren dagegen beide, Ware und Geld, nur als verschiedene Existenzweisen des Werts selbst, das Geld seine allgemeine, die Ware seine besondere, sozusagen nur verkleidete Existenzweise. Er geht beständig aus der einen Form in die andre über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren, und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt.“74 – Aus der Autologie eines reinen Willens, der kein anderes Gut kennt als sich selbst und der aus diesem Grund das leere Allgemeine verkörpert, um das sich die moderne Gesellschaft anordnet, ist ein „automatisches Subjekt“ der „Selbstverwertung“ geworden,75 das alles in den gefräßigen Abgrund einer sich selbst anheizenden Produktion hinabzieht, dem jedoch keines der auf diese Weise hergestellten Güter gut genug sein kann, weil sich hinter jedem einzelnen Gut lediglich das der absoluten Leere korrespondierende Versprechen einer ebenso absoluten Fülle versteckt hält: „In der Tat wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter beständigem Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwer73

74 75

Mit Blick auf die Absetzung des Goldstandards Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hat Baudrillard die Dominanz der Finanzströme über die Warenströme als ein „Stadium totaler Relativität“ beschrieben, in dem die „Austauschbarkeit der Zeichen“ ohne den Verweis auf ein repräsentiertes „Reales“ auskomme. Vgl. Jean Baudrillard: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, übers. v. Hans-Joachim Metzger, Berlin 1978, S. 39–48. Vgl. dazu Leander Scholz: Die Reservearmee der Zeichen: Marx und das Internet, in: Gisela Fehrmann/Erika Linz/Brigitte Weingart/Eckhard Schumacher (Hg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln 2004, S. 273–285. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 67), S. 168. Zur Strukturgleichheit der „spekulativen Logik des Absoluten“ bei Hegel und der „allgemeinen Formel des Kapitals“ bei Marx vgl. Burkhard Tuschling: Objektiver Geist: Kapital – Dialektik bei Hegel, Dialektik bei Marx, in: Peter Koslowski (Hg.): Die Folgen des Hegelianismus. Philosophie, Religion und Politik im Abschied von der Moderne, München 1998, S. 193–221. Zur Verschiebung der Aufmerksamkeit vom „Arbeitsprozess“ bei Hegel zum „Verwertungsprozess“ bei Marx vgl. Christoph J. Bauer: Lebendige Arbeit oder Vernichtung durch Arbeit? Differenzen innerhalb des Arbeitsbegriffs bei Hegel und Marx, in: Andreas Arndt/Paul Cruysberghs/Andrzej Przylebski (Hg.): Das Leben denken. Erster Teil, Hegel-Jahrbuch 2006, Berlin 2006, S. 317–322.

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tet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung.“76 In der Bewegung der „Selbstverwertung“ tritt der Wert des Selbst in ein „Privatverhältnis“ zu sich selbst, bei dem er sich von sich selbst absondert, da sich der Wert eines leeren Selbst niemals als solcher realisieren kann, sondern jedem Realisierbaren gegenüber mehr wert ist. Weil sich das Selbst nicht als es selbst erfüllen kann, kann der Wert des Selbst nur in einem „Mehrwert“ bestehen. Je mehr versucht wird, die Leere aufzufüllen, desto deutlicher tritt auch die Leere wieder in dem Umstand hervor, dass sie noch nicht genug aufgefüllt worden ist. Der Preis der Freiheit, sich im Gesetz von jedem vorgängigen Blick zu lösen, der dem Kollektiv eine imaginäre Identifikation zuweisen könnte, besteht in der kollektiven Auslieferung an die Identität des Imaginären. Weil es keinen „großen Anderen“ mehr gibt, von dessen Blick das Kollektiv seine Identität empfangen könnte, sondern der Versuch einer autologischen Schließung der zweifachen Blick-Konstellation darin besteht, sich selbst sehen zu wollen, kommen alle möglichen imaginären Identifikationen in Frage, die das Kollektiv nun ausschließlich von der Identität des Imaginären empfängt. Das „automatische Subjekt“, das Marx anhand der „Verselbständigung“ des „Systems der Bedürfnisse“ beschrieben hat und das sich selbst erhält, indem es stets neue Gestalten der imaginären Identifikation hervorbringt, lässt sich in diesem Sinne mit der „totalen Form des Körpers“ in Zusammenhang bringen, mit der sich das Kind im von Lacan entwicklungspsychologisch verstandenen Spiegelstadium identifiziert. Denn dieses „Relief in Lebensgröße“ kompensiert nicht nur seine „Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität“, indem es im Gegensatz zu der Bewegungsfülle des Kindes steht, sondern präfiguriert als Projektion zugleich auch seine „entfremdende Bestimmung“, nämlich sich von nun an mit dem „Automaten“ vereinigen zu wollen, in dem sich „die Welt seiner Produktion“ zu vollenden sucht.77 Weil diese Vereinigung jedoch unmöglich ist, erzeugt das „automatische Subjekt“ eine unendliche Reihe von imaginären Doppelgängern, die Marx in dem berühmten Kapitel Der Fetischcharakter der Waren und ihr Geheimnis als Verdoppelung der „sinnlichen Dinge“ in „sinnlich übersinnliche Dinge“ analysiert hat: „Die Form des Holzes z. B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding.“78 Was als Ware und damit als „gesellschaftliches Ding“ zirkuliert, hängt nicht mehr von dem ab, was gebraucht wird, sondern was den „Mehrwert“ des Imaginären zu steigern erlaubt, der den Dingen nun wie ein „Fetischismus“ anklebt, sodass jedes Arbeitsprodukt in eine „gesellschaftliche Hieroglyphe“ dieser Steigerung verwandelt wird.79 Im „System der Bedürfnisse“ treten die Dinge nicht mehr als Gebrauchsgegenstände auf, sondern ge76 77 78 79

Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 67), S. 169. Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (Anm. 1), S. 65. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 67), S. 85. Vgl. dazu Hartmut Böhme: Das Fetischismus-Konzept von Marx und sein Kontext, in: Volker Gerhardt (Hg.): Marxismus. Versuch einer Bilanz, Magdeburg 2001, S. 289–318. Vgl. auch Leander Scholz: Der doppelte Körper des Untertanen: Politische Theologie und Warenfetisch bei Karl Marx, in: Jens Schröter/Gregor Schwering/Urs Stäheli (Hg.): Media Marx. Ein Handbuch, Bielefeld 2006, S. 61–74. Zur Karriere des Fetisch-Begriffs im 19. Jahrhundert vgl. Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003, S. 69–115.

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hören in der „phantasmagorischen Form“ eines selbständigen Verhältnisses von Dingen untereinander dem „automatischen Subjekt“ und der Welt seiner Produktion an: „Könnten die Waren sprechen, so würden sie sagen, unser Gebrauchswert mag den Menschen interessieren. Er kommt uns nicht als Dingen zu. Was uns aber dinglich zukommt, ist unser Wert. Unser eigner Verkehr als Warendinge beweist das. Wir beziehen uns nur als Tauschwerte aufeinander.“80 In dem Moment, in dem sich das Kapital zum „Kommando über die Arbeit, d. h. über die sich betätigende Arbeitskraft“81 entwickelt hat, nimmt die Gestalt des „Produktionsprozesses“ einen „doppelten gesellschaftlichen Charakter“ an, bei dem die Arbeitskräfte als die sterblichen Körper erscheinen, die ihren symbolischen Ort vom unsterblichen Körper des sie erzeugenden Kapitals zugewiesen bekommen. Im „Verwertungsprozess“ verwandeln sich alle „Produktionsmittel“ sofort in „Mittel zur Einsaugung fremder Arbeit“, sodass die Arbeitskräfte nicht mehr für sich, sondern für die Ewigkeit des Kapitals arbeiten: „Es ist nicht mehr der Arbeiter, der die Produktionsmittel anwendet, sondern es sind die Produktionsmittel, die den Arbeiter anwenden.“82

6.

Die Ewigkeit des Kapitals

Wie in der religiösen Verwaltung des Jenseits die symbolische Grenzziehung von Leben und Tod allein Gott zukommt, der das Leben jederzeit nehmen kann, weil er es auch gegeben hat, so geht diese Verwaltung der Grenze von Leben und Tod nun vom Verwertungsprozess des Kapitals aus, der je nach dem die Bevölkerung anschwellen lässt, die Anzahl der Arbeitskräfte im Verhältnis zu ihrer Verwertung als überflüssig erscheinen lassen kann und die Freigesetzten in das Elend ihrer Nutzlosigkeit stößt. Im Unterschied jedoch zu der durch Gott symbolisierten Einheit der Unterscheidung von Leben und Tod, erscheint der Tod aus der Perspektive der Steigerung des imaginären „Mehrwerts“, in der sich die bürgerliche Gesellschaft als unendlich lebend begehrt, lediglich als ein Außen, in das man stürzt, wenn man nichts mehr zum Verwertungsprozess des Kapitals beitragen kann.83 Aus diesem Grund wächst mit der Akkumulation des Kapitals auch die „Reproduktion der Arbeitskraft, die sich dem Kapital unaufhörlich als Verwertungsmittel einverleiben“ muss. Die Reproduktion der Bevölkerung wird somit zu einem „Moment der Reproduktion des Kapitals“: „Akkumulation des Kapitals ist also Vermehrung des Proletariats.“84 Weil das Kapital zu seiner eigenen Vermehrung auf freigesetzte Arbeitskräfte angewiesen ist, die es dazu zwingen kann, „mehr Arbeit zu verrichten, als der enge Umkreis ihrer eignen Lebensbedürfnisse“ vorschreibt, muss 80 81 82 83

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Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 67), S. 97. Ebd. S. 328. Ebd. S. 329. Vgl. dazu Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt/M. 1983, S. 159–190 (hier: S. 165), der das ehemals souveräne Recht der Macht, „sterben zu machen oder leben zu lassen“, im Ausgang von den Sicherungskonzepten Hobbesscher Prägung zugunsten einer biopolitischen Macht abgelöst sieht, deren thanatologischer Zugriff nun darin besteht, „leben zu machen oder in den Tod zu stoßen“. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 67), S. 642.

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es zu einem „Produzent fremder Arbeitsamkeit“ werden, der alle früheren „auf direkter Zwangsarbeit beruhenden Produktionssysteme“ insofern an „Energie, Maßlosigkeit und Wirksamkeit“85 übertrifft, als dabei solche Arbeitskräfte hervorgebracht werden, die „nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft“.86 Als reines Begehren, das nichts anderem als einer sich selbst steigernden Hervorbringung unendlicher Gestalten des Imaginären dient, geht das Kapital über jedes bestimmte „Lebensbedürfnis“ hinaus und produziert permanent neue Bedürfnisse und die dazugehörigen Bedürftigen, deren Anzahl stets größer sein muss als die Anzahl derjenigen, die sich durch den so hervorgebrachten Reichtum befriedigen können: „Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eignen relativen Überzähligmachung.“87 Den Arbeitskräften, die das Kapital ins Leben ruft und auch am Leben erhält, steht eine „industrielle Reservearmee“ an möglichen Arbeitskräften gegenüber, die in einem Schattenreich zwischen Leben und Tod existieren, weil sie gegenwärtig noch nicht ins Leben gerufen worden sind, aber vorrätig gehalten werden müssen, um jederzeit in den Verwertungsprozess des Kapitals eintreten zu können. Die „Übervölkerung“, in deren jetzigem Elend und Hunger sich schon die möglichen Arbeitskräfte einer unabsehbaren Zukunft abzeichnen, ist kein unbeabsichtigter Nebeneffekt, der sich irgendwann beseitigen lässt, sondern ein notwendiges Reservoir an „Menschenmaterial“, aus dem sich der Wachstumsprozess ernähren kann: „Sie [die Übervölkerung] bildet eine disponible industrielle Reservearmee, die dem Kapital ganz so absolut gehört, als ob es sie auf seine eignen Kosten großgezüchtet hätte. Sie schafft für seine wechselnden Verwertungsbedürfnisse das stets bereite exploitable Menschenmaterial, unabhängig von den Schranken der wirklichen Bevölkerungszunahme.“88 – Das von Marx im Kontext der intensiven Debatte um den „Pauperismus“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in Auseinandersetzung mit Thomas Robert Malthus’ Buch An Essay on the Principle of Population (1798) formulierte „Populationsgesetz“ der „kapitalistischen Produktionsweise“ hält eine fundamentale Korrespondenz zwischen den unendlichen Formen des Imaginären und einem „Menschenmaterial“ fest, in dem die Körper auf ihre reine Materialität reduziert sind. Dem Begehren, im sich selbst steigernden „Mehrwert“ des Imaginären Unsterblichkeit zu erlangen,89 stehen auf der anderen Seite bloße Körper entgegen, denen kein von Natur aus bestimmtes télos mehr abgelesen werden kann, sodass mit der zunehmenden „Akkumulation von Kapital“ eine „entsprechende Akkumulation von Elend“ einhergeht.90 Vor allem in dem 85 86

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90

Ebd. S. 328. Ebd. S. 765. Interessant in diesem Zusammenhang ist der von Marx verfasste Artikel Vom Selbstmord (1846), bei dem die Suizidproblematik nicht mehr wie noch bei Kant moralisch, sondern im Kontext ökonomischer Abhängigkeit, in diesem Fall besonders bei Frauen, thematisiert wird. Karl Marx: Vom Selbstmord, hg. v. Eric A. Plaut u. Kevin Anderson, Köln 2001, S. 54–76. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 67), S. 660. Ebd. S. 661. Zum kollektiven Versuch, dieses Begehren zu realisieren, vgl. Michael Hagemeister: „Unser Körper muss unser Werk sein“. Beherrschung der Natur und Überwindung des Todes in russischen Projekten des frühen 20. Jahrhunderts, in: Boris Groys/ders. (Hg.): Die neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2005, S. 19–67. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 67), S. 675.

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Kapitel Das Geheimnis der ursprünglichen Akkumulation hat Marx die Geschichte der zunehmenden Freisetzung des Imaginären daher im Gegenzug als eine zunehmende Freisetzung von Arbeitskräften rekonstruiert. Diese Geschichte beginnt mit den „naturwüchsigen“ Gemeinschaften, in denen die Produktionsmittel kollektiv besessen werden, und endet zunächst mit der „Auflösung der feudalen Gefolgschaften“, durch die eine „Masse vogelfreier Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert“ wird.91 Aus der Perspektive des zu sich kommenden Imaginären stellt auch die Szene des Gesetzes – und damit die politischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts – nur eine „Vorgeschichte des Kapitals“ dar, insofern mit dem „Privateigentum“ zwar die „freie Individualität des Arbeiters“ geschaffen wird, dessen Produktivität jedoch dann wiederum die „materiellen Mittel“ seiner „eignen Vernichtung zur Welt“ bringt.92 Weil das Imaginäre des „Mehrwerts“ stets die Bedingungen aufzehrt, denen es sich zu verdanken hat, zehrt es auch die Szene des Gesetzes auf, indem es die „individuellen und zersplitterten Produktionsmittel“ in „gesellschaftlich konzentrierte“ und das „zwergenhafte Eigentum vieler“ in das „massenhafte Eigentum weniger“ verwandelt. Zuletzt verschlingt dieser Prozess, der alles in das „Netz des Weltmarkts“ und des „kapitalistischen Regimes“ aufgesogen hat, schließlich sich selbst: „Diese Expropriation vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele tot.“ Weil der „beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten“ eine wachsende „Masse des Elends“ gegenüber steht, erzeugt die „kapitalistische Produktion“ mit der „Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation“: „Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“93 Das Ziel der gesellschaftlichen Revolution, die von den Arbeitskräften ausgeht, bei denen sich alle „Mängel der Gesellschaft“ konzentrieren, sodass die „Emanzipation einer besondern Klasse“ von Arbeitskräften eine „allgemeine Selbstbefreiung“94 zur Folge hat, besteht darin, die „Errungenschaften der kapitalistischen Ära“ kollektiv in Besitz zu nehmen und einer „planmäßigen Verteilung“ der „verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiednen Bedürfnissen“ zuzuführen.95 Erst in dem Moment, in dem sich mit der Entfaltung der Produktionsmittel durch das Kapital auch das Magma der Möglichkeiten entfaltet hat, lassen sich die „durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel“ in Besitz nehmen, um die Gesellschaft als eine „Assoziation freier Menschen“ ins Werk 91 92 93 94

95

Ebd. S. 746. Ebd. S. 789. Ebd. S. 791. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (Anm. 22), S. 388. Im kritischen Anschluss an Marx hat Jacques Rancière aus dieser Passage ein Politikverständnis entwickelt, das den „Anteil der Anteilslosen“ ins Zentrum eines unabschließbaren politischen Streits stellt. Vgl. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, übers. v. Richard Steurer, Frankfurt/ M. 2002, S. 95f: „Der Name des Proletariats ist der reine Name der Ungezählten, eine Weise der Subjektivierung, die den Anteil der Anteilslosen in einen neuen Streit stellt.“ Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 67), S. 93.

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setzen zu können.96 Erst die kollektive Aneignung des „Gemeinbesitzes der Erde“ erlaubt es auch jedem Einzelnen, sich selbst vollständig anzueignen. Der „individuelle Mensch“ wird dann zum wirklichen „Gattungswesen“, wenn jeder die Möglichkeit in Anspruch nehmen kann, sich im „Reich der Freiheit“ zu verwirklichen. Der Ausgangspunkt für die Begründung der symbolischen Ordnung ist nicht mehr der Mensch des Gesetzes und das „Reich der Notwendigkeit“, das durch „Not und äußere Zweckmäßigkeit“ bestimmt ist, sondern eine „menschliche Kraftentwicklung“, die jenseits der „Sphäre der eigentlich materiellen Produktion“ liegt und sich als „Selbstzweck“ gilt. Auch wenn das „Reich der Freiheit“ nur auf dem „Reich der Notwendigkeit als seiner Basis“ aufblühen kann, so beginnt es erst dort, wo jenes endet: „Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“97 – Während für den Menschen des Gesetzes im Sinne Kants der Tod keine Rolle spielt, solange das Subjekt im symbolischen Horizont der Menschheit lebt, spielt im Gegensatz dazu der Tod für den Menschen der Freiheit im Sinne von Marx keine Rolle, solange dieser im imaginären Horizont seines vollen Menschseins leben kann. Denn im „Reich der Freiheit“ kommt die Kraft der Metamorphose, die sich in der unendlichen Verwandlung des Kapitals manifestiert hat, nun den Menschen zu, sodass es jedem möglich ist, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“.98 Damit der Mensch nicht mehr von seinen Möglichkeiten ferngehalten und die „Konsolidation unsres eignen Produkts“ nicht „zu einer sachlichen Gewalt über uns“ wird, die „unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht“, muss sich das Begehren von den Dingen, in denen es sich entfremdet hat, wieder lösen und in einer Verfügung über die eigene Identifikation sich selbst zuwenden können, sodass umgekehrt die Dinge wieder zu bloßen Dingen des Gebrauchs werden. Es ist daher kein Zufall, dass Marx die „Assoziation freier Individuen“ mit der insularen Situation von Robinson unter gesellschaftlichen Bedingungen vergleichen kann. Der feste Grund des Inselbodens ist nur dazu da, um im Meer der eigenen Vorstellungen leben zu können, sodass jeder nun im Rahmen der Gesellschaft wie Robinson auf seiner eigenen Insel zu existieren vermag: „Alle Bestimmungen von Robinsons Arbeit wiederholen sich hier, nur gesellschaftlich statt individuell. Alle Produkte Robinsons waren sein ausschließlich persönliches Produkt und daher unmittelbar Gebrauchsgegenstände für ihn.“99

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Vgl. dazu Kostas Axelos: Einführung in ein künftiges Denken. Über Marx und Heidegger, Tübingen 1966, S. 61–86, der im Zusammenhang des Praxis-Begriffs bei Marx von einer „Werkwelt“ spricht, bei der die gesellschaftliche Produktion als „diejenige Macht, die Subjekt und Objekt in denselben Kreis einschließt“, mit der Produktion der Gesellschaft eins wird. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band, Marx/Engels Werke, Bd. 25, S. 828. Marx: Die Deutsche Ideologie (Anm. 36), S. 33. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 67), S. 92f.

VI Exkurs: Die Geschichte nach ihrem Ende

Anlässlich der politischen Umwälzungen, die mit dem Datum 1989 verbunden sind, hat sich Francis Fukuyama in seinem Buch mit dem selbstbewussten Titel The End of History and the Last Man (1992) die Frage gestellt, ob sich die Geschichte als ein kohärenter Prozess deuten lässt und ob man im Rahmen einer solchen Deutung sagen kann, dass sich der Zweck der Geschichte in einem bestimmten historischen Moment erfüllt hat und die Geschichte daher nun an ihr Ende gelangt ist. Die viel diskutierte Antwort,1 die Fukuyama auf diese Frage gegeben hat und die darin besteht, dass die Ereignisse des Datums 1989 als historischer Beweis für einen „zielgerichteten Verlauf der Menschheitsgeschichte“ aufzufassen sind, der „letztlich den größten Teil der Menschheit zur liberalen Demokratie“ führen wird, versteht sich selbst nicht nur als eine geschichtsphilosophische Interpretation, sondern darüber hinaus als ein auf die politische Praxis abzielender Versuch, die Idee der Freiheit mit „neuem Leben“ zu erfüllen.2 Auf den ersten Blick mag einem Fukuyamas Diagnose, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dem „Durchbruch der liberalen Demokratie und des mit ihr verbundenen Wirtschaftsliberalismus“ als dem „bemerkenswertesten makropolitischen Phänomen der letzten vierhundert Jahre“3 nun keine politische Alternative mehr entgegensteht, zunächst wie ein Selbstlob des vermeintlichen Siegers erscheinen. Aber das Buch begnügt sich keineswegs damit, diesen Sieg einfach nur festzustellen und dementsprechend zu feiern. Vielmehr liegt dem Bemühen, die liberale Demokratie als das einzige politische Modell hervorzuheben, das sich im Unterschied zu den verschiedenen Ausformungen der Monarchie, des Faschismus und des Kommunismus nicht diskreditiert, sondern historisch bewährt und als beständig erwiesen haben soll, die Einsicht zugrunde, dass dieses Modell in genau dem Moment, in dem es konkurrenzlos geworden ist, der massiven Gefahr einer Desta1 2 3

Zur kritischen Rezeption von Fukuyama in der deutschsprachigen Diskussion vgl. Otto Pöggeler: Ein Ende der Geschichte? Von Hegel zu Fukuyama, Opladen 1995, S. 7–28. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, übers. v. Helmut Dierlamm, Ute Mihr u. Karlheinz Dürr, München 1992, S. 13. Ebd. S. 86.

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bilisierung ausgesetzt ist. Das Problem, das Fukuyama daher tatsächlich aufwirft, wenn er die Frage nach dem Ende der Geschichte im Anschluss an die Geschichtsphilosophie G. W. F. Hegels und an die Interpretation dieser Geschichtsphilosophie durch Alexandre Kojève in allen ihren Konsequenzen zu aktualisieren versucht, besteht darin, wie sich die Zeit nach dem Ende denken lässt. Denn bei einer genaueren Nachzeichnung der Argumentation Fukuyamas zeigt sich, dass sein Rückbezug auf Hegel und Kojève deren geschichtsphilosophische Position nicht noch einmal wiederholen und einfach auf die Gegenwart beziehen kann, sondern eine bedeutsame Verschiebung am Selbstverständnis des Liberalismus zur Folge hat, die der Problematik eines globalisierten Liberalismus Rechnung trägt. Weil das Versprechen einer universalen Freiheit erst in dem Moment seine inneren Paradoxien zeigt, in dem diese Freiheit als historisch realisiert gedacht wird, wehrt Fukuyamas These vom Ende der Geschichte im Unterschied zu Hegel und Kojève dieses Ende tatsächlich noch einmal ab, indem er dessen Eintreten zugleich als eine Aufgabe für die Zukunft formuliert und damit das Ende selbst als ein unendliches Ankommen der Geschichte in diese Zukunft verschiebt. – In diesem Sinne hat Jacques Derrida die Botschaft der Freiheit, die von Fukuyamas programmatischem Buch ausgehen soll, als „neo-evangelisch“ bezeichnet.4 Denn einerseits braucht das „Evangelium des politisch-ökonomischen Liberalismus“ das „Ereignis der guten Nachricht“, die von einem wirklichen Geschehen berichtet, in diesem Fall vom „Tod des Marxismus“, sodass der Verwirklichung der Freiheit nun nichts mehr im Weg steht. Auf der anderen Seite muss die Botschaft zugleich als „regulatives und überhistorisches Ideal“ formuliert werden, damit sie als Botschaft auch weiterhin ihre stabilisierende Wirkung im Sinne einer Handlungsaufforderung entfalten kann. Auch dann, wenn der Freiheit also scheinbar nichts mehr im Weg steht, muss diese Freiheit noch als eine Mission verstanden werden können, weil sie als Freiheit niemals ganz realisiert werden kann. Während Derrida diese „neo-evangelische“ Ergänzung der angelsächsischen Konzeption des liberalen Programms um den Gedanken einer Mission vor allem einer über Hegels Geschichtsphilosophie importierten Aufnahme der „christlichen Eschatologie“ geschuldet sieht,5 lässt sich diese Problematik möglicherweise präziser fassen, wenn man Fukuyamas Antwort auf das historische Ende der Blocksituation als eine Abwehr begreift. Denn wenn der Gedanke einer Mission nötig ist, um das liberale Programm im Moment seines weltweiten Sieges zu stützen, dann liegt dieser Notwendigkeit die implizte Diagnose zugrunde, dass genau in dem Moment, in dem die eine Seite der beiden Blockmächte in eine unumkehrbare Krise eingetreten und dem Untergang geweiht ist, von dieser Krise auch die andere Seite betroffen sein könnte. Dass nun endlich alle Hindernisse beiseite geräumt sind und der Weg frei geworden ist für die globale Realisierung des liberalen Programms, könnte sich demnach als das eigentliche Problem dieses Programms herausstellen, dem Fukuyama mit einer entscheidenden Ergänzung des liberalen Programms 4 5

Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übers. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt/M. 2003, S. 84–110 (hier: S. 89 u. 93). Zur Kritik an Derridas These, auch Karl Marx schulde seine Geschichtsphilosophie einer „christlichen Eschatologie“, vgl. Slavoj Žižek: Die Revolution steht kurz bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, übers. v. Nikolaus G. Schneider, Frankfurt/M. 2002, S. 106–115 (hier: S. 109), der dafür im Gegenzug das sich selbst differenzierende „Kapital“ mit der „différance“ identifiziert.

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vehement entgegenzutreten versucht. Die Mission, der sich die posthistorische Welt der liberalen Demokratien auch nach dem Ende der Geschichte noch zu verschreiben hat, soll diese Welt von der Einsicht abhalten, dass der Liberalismus niemals aus sich selbst heraus zu existieren vermag, sondern stets von einem Außen abhängig ist, gegen das sich das liberale Ideal aufrichten kann und dem es daher seine Stabilität verdankt. Die These vom Ende der Geschichte ist deshalb nachträgliche Feststellung und zukünftige Botschaft zugleich, weil auch die posthistorische Welt noch auf eine historische Welt angewiesen bleibt, gegen die sie sich als posthistorisch behaupten kann, sodass das Ende niemals wirklich eintritt und der Liberalismus niemals auf sich selbst zurückgeworfen wird.

1.

Das Versprechen der Freiheit

Zunächst geht Fukuyama mit Hegel davon aus, dass es überhaupt einen „Endzweck der Geschichte“ gibt und dass sich aufgrund dieser Annahme die Geschichte als ein kohärenter Prozess fassen lässt, so wie es Hegel postuliert hat: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“6 Die einzelnen historischen Etappen der „schweren langen Arbeit der Bildung“, die das Bewusstsein der Freiheit zu durchlaufen hat, bis es schließlich in der Französischen Revolution zu einem allgemeinen Bewusstsein wird, sind für Hegel daher durch die jeweiligen Auffassungen der Freiheit bestimmt. Während die „Orientalen nur gewußt haben, daß Einer frei ist, die griechische und römische Welt aber, daß einige frei sind“, weiß die nachrevolutionäre Zeit, dass „alle Menschen an sich“ frei sein können.7 Seit dem revolutionären Ereignis geht es daher nicht mehr um die Frage, ob allen Menschen das Attribut der Freiheit zukommt, sondern lediglich um das Problem, wie diese Freiheit zu realisieren ist. Im Sinne eines allgemeinen Bewusstseins der Freiheit ist die Weltgeschichte daher zunächst mit der Französischen Revolution beendet. Denn aus dieser Perspektive scheint die Frage, zu welchem Zweck die „ungeheuersten Opfer“ in der wie eine Schlachtbank erscheinenden Weltgeschichte erbracht wurden, beantwortet zu sein: „Dieser Endzweck ist das, worauf in der Weltgeschichte hingearbeitet worden, dem alle Opfer auf dem Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit gebracht worden.“8 Das „Rätsel der Vorsehung“ ist insofern gelöst, als der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit zumindest im Nachhinein die vielen Opfer rechtfertigt, die für diesen Fortschritt nötig gewesen sind. Selbst auf das Problem der Theodizee ist damit die nachhaltigste Antwort gefunden: Das Böse ist nur in der Welt, um das Gute zu schaffen, sodass die „wahrhafte Theodizee“,9 die Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen 6

7 8 9

G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke in 20 Bd. auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, Bd. 12, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/ M. 1986, S. 32. Zu Hegels „endgeschichtlicher Konstruktion“ und der Übersetzung theologischer in politische Figuren vgl. ausführlich Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg 1986, S. 44–152. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Anm. 6), S. 32. Ebd. S. 33. Ebd. S. 539.

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in der Welt, durch die Geschichte und ihren Fortschritt selbst geleistet wird.10 Denn dass aus dieser Sicht auf die Geschichte selbst noch diejenigen, die gar nicht die Absicht haben, zum geschichtlichen Fortschritt beizutragen, letztlich diesem Ziel dienen, nennt Hegel die „List der Vernunft“. Diese List besteht darin, dass die Idee des allgemeinen Fortschritts die Leidenschaften „für sich“ wirken lässt, sodass die Individuen selbst zwar der Meinung sind, ausschließlich in ihrem eigenen, egoistischen Interesse zu handeln, jedoch tatsächlich dem geschichtlichen Fortschritt dienen: „Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen.“11 So mag Alexander von Makedonien vielleicht aus „Ruhmsucht“ und „Eroberungssucht“ gehandelt haben, in die Geschichte aber ist er als Alexander der Große eingegangen, als ein wirkmächtiger Held der „Betätigung des Allgemeinen“. – Vor diesem geschichtsphilosophischen Hintergrund ist es Hegel möglich, alle großen Opfer in der Weltgeschichte einer einzigen Logik des Sinns zuzuführen, der sich erst nach der Französischen Revolution entziffern lässt. Denn erst mit der revolutionären Etablierung eines allgemeinen Bewusstseins der Freiheit lässt sich im Nachhinein eine Notwendigkeit des historischen Geschehens konstruieren, in der sich die Gegenwart ihres eigenen Selbstbewusstseins versichern kann. Trotzdem ist die Frage, welche Opfer in Zukunft noch auf dem „Altar der Erde“ zu erbringen sein werden, damit nicht vollständig beantwortet. Denn auch wenn mit der Verbreitung eines allgemeinen Freiheitsbewusstseins die Idee der Freiheit zur maßgeblichen Idee des kollektiven Selbstverständnisses geworden ist, so bleibt weiterhin die Frage bestehen, wie das Wissen, „der Mensch als Mensch sei frei“,12 realisiert werden soll. Während die „Orientalen“ wissen, dass einer frei ist, und die „griechische und römische Welt“ weiß, dass einige frei sind, besteht das Wissen der nachrevolutionären Zeit nämlich lediglich darin, dass alle frei sein sollen. Diese Problematik ist daher der Knoten, „an dem die Geschichte steht und den sie in künftigen Zeiten zu lösen hat“.13 Aus diesem Grund kann Hegel auch weiterhin den Verlauf der Weltgeschichte durch die Problematik der Freiheit bestimmt sehen und Amerika als die „neue Welt“ und das „Land der Zukunft“ auffassen, „in welchem sich in vor uns liegenden Zeiten, etwa im Streite von Nord- und Südamerika, die weltgeschichtliche Wichtigkeit offenbaren soll; es ist ein Land der Sehnsucht für alle die, welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt“.14 Die einflussreichen Hegel-Vorlesungen, die Alexandre Kojève in den Jahren 1933 bis 1939 an der École Pratique des Hautes Études in Paris gehalten hat und die zum ersten 10

11 12 13 14

Vgl. dazu Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, übers. v. Justus Streller, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 41–47 (hier: S. 41), der vor dem Hintergrund dieser neuen Antwort auf das Problem der Theodizee die Entstehung eines „romantischen Satans“ beschrieben hat, bei der die Identifikation mit der „luziferischen Revolte“ der unabschließbaren Erneuerung der gegebenen und als ungerecht erfahrenen Welt dient: „Um das Böse zu bekämpfen, verzichtet der Revoltierende, weil er sich unschuldig dünkt, auf das Gute und erzeugt von neuem das Böse. Der romantische Held vollzieht zuerst die tiefe und sozusagen religiöse Vermischung von Gut und Böse.“ Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Anm. 6), S. 49. Ebd. S. 32. Ebd. S. 535. Ebd. S. 114.

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Mal 1947 publiziert wurden,15 knüpfen exakt an diese Problematik an, wenn Kojève den Knoten inzwischen insofern gelöst sieht, als er den Endzweck der Geschichte seit der Französischen Revolution in der Ausbildung eines Weltstaates vorgezeichnet sieht, der in Zukunft die Freiheit aller Menschen zu garantieren hat. Der intensive Streit zwischen den Links-Hegelianern und den Rechts-Hegelianern, die entweder die Freiheit dadurch am besten gewährt sehen, dass sich die Gesellschaft von der Fremdverwaltung durch den Staat soweit wie möglich emanzipiert, oder aber dadurch, dass der Staat über die Gesellschaft wacht und in allen Angelegenheiten die höchste Instanz bleibt, ist für Kojève allein durch die Ausbildung eines „allgemeinen und homogenen Staates“ zu lösen,16 der sich insofern von Hegels absolutem Staat unterscheidet, als er das marxistische Ideal einer klassenlosen Gesellschaft realisieren und zuletzt die „gesamte Menschheit in sich“ vereinen soll.17 – Zur Veranschaulichung seiner Position, die sich weder den Links-Hegelianern noch den Rechts-Hegelianern zuordnen lässt und die aus diesem Grund von beiden Seiten vehemente Kritik hinnehmen musste, hat sich Kojève selbst als einen „rechten Marxisten“ bezeichnet.18 Denn einerseits übernimmt Kojève das Ideal einer emanzipierten Gesellschaft aus der politischen Philosophie von Karl Marx, wenn er die Tendenz dieses „homogenen“ Staates darin sieht, „die Sklaven zu ‚befreien‘, die Frauen zu ‚emanzipieren‘, die Autorität der Familien über ihre Kinder zu reduzieren, indem er diese letzteren so schnell wie möglich ‚mündig‘ macht, die Zahl der Kriminellen und ‚Entgleisten‘ aller Art zu verkleinern, das (ganz augenscheinlich vom wirtschaftlichen abhängige) ‚kulturelle‘ Niveau aller Gesellschaftsklassen maximal zu heben“.19 Aber andererseits geschieht dies alles nicht im Hinblick auf den Endzweck, dass die Gesellschaft sich irgendwann ganz vom Staat emanzipiert und schließlich zu sich selbst kommt. Anders als die marxistische Prognose vom „Absterben des Staates“, die Wladimir Iljitsch Lenin ins Zentrum seiner Schrift Staat und Revolution (1917) gestellt hat, liest Kojève der zunehmenden gesellschaftlichen Emanzipation eine dieser Zunahme entsprechende Steigerung der staatlichen Aufgaben ab. Den Hintergrund seiner geschichtsphilosophischen Bestimmung des Endzwecks in Form eines „politisch und sozial homogenen“ Staates, der „Ziel und Ergebnis des gemeinsamen Wirkens von allen und jedem ist“,20 bildet sowohl die Zurückweisung der Fundierung der symbolischen Ordnung in einer ökonomischen Logik im Sinne von Marx, die zuletzt das Politische absorbieren soll, als auch die Zurückweisung der Fundierung der symbolischen Ordnung in einer rein 15

16

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19 20

Zur Bibliographie von Alexandre Kojève vgl. Traugott König: Die Abenteuer der Dialektik in Frankreich, in: Fugen. Deutsch-Französisches Jahrbuch für Text-Analytik, hg. v. Manfred Frank, Friedrich A. Kittler u. Samuel Webber, Freiburg 1980, S. 282–289. Alexandre Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, übers. v. Iring Fetscher u. Gerhard Lehmbruch, hg. v. Iring Fetscher, Frankfurt/ M. 1975, S. 87. Alexandre Kojève: Tyrannis und Weisheit, in: Leo Strauss: Über Tyrannis, übers. v. Marianne Regensburger, Kurt Weigand u. Ernst Cahn, Neuwied 1963, S. 146–193 (hier: S. 158). Zitiert nach Jean-Luc Pinard-Legry: Alexandre Kojève. Zur französischen Hegel-Rezeption, in: Vermittler. Deutsch-französisches Jahrbuch 1, hg. v. Jürgen Sieß, Frankfurt/M. 1981, S. 105–116 (hier: S. 115). Kojève: Tyrannis und Weisheit (Anm. 17), S. 158. Ebd. S. 159.

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politischen Logik, die vor den ökonomischen Ansprüchen der Gesellschaft in Schutz genommen werden muss, eine Position, die wohl am deutlichsten von Carl Schmitt vertreten wurde und exemplarisch in Ernst Forsthoffs Schrift Verfassungsprobleme des Sozialstaats (1954) zum Ausdruck gekommen ist.21 – Im Zentrum der Vorlesungen von Kojève, zu deren Zuhörern auch der Psychoanalytiker Jacques Lacan gehörte, steht dagegen eine als anthropologisch fundiert verstandene Untrennbarkeit des Politischen vom Ökonomischen. Für Kojève ist diese unaufhebbare Gleichzeitigkeit des Politisch-Ökonomischen der ebenso unaufhebbaren Doppelnatur des Menschen geschuldet, die sich in der griechischen Unterscheidung von oíkos und pólis manifestiert. Weil die menschliche Existenz zugleich durch ihre körperliche und ihre geistige Natur bestimmt ist, lässt sich sein Wesen weder auf die Erfahrung eines Bewusstseins noch auf die Bedürfnisse eines Körpers reduzieren. Zwar überschreitet der Mensch in der Erfahrung des Bewusstseins seine körperliche Existenz, aber aus dieser Überschreitung resultiert eine durch die Erfahrung des Bewusstseins vermittelte körperliche Existenz, deren Bedürfnisstruktur sich nicht mehr als „biologisch“ begreifen lässt.22 Maßgeblich ist daher die Art und Weise, in der die körperliche Existenz überschritten und insofern als sterblich begriffen wird. Im „heidnischen Staat“ wurde im Sinne dieser Überschreitung der „Einsatz des Lebens“ für die „allgemeine Sache“23 als entscheidender Beweis für die Zugehörigkeit zur Freiheit der pólis angesehen. Weil in der „heidnischen Welt der Krieger-Herren“ die Tätigkeit des Kampfes alle anderen Formen der Überschreitung dominiert, ist der Bereich des oíkos dem der pólis untergeordnet, auch wenn der erstere den letzteren bedingen mag. In die symbolische Ordnung schreibt man sich vor allem über die Fähigkeit ein, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Insofern damit aber alle anderen Formen der Überschreitung ausgeschlossen werden, kann in dieser Ordnung der Mensch nicht als Mensch anerkannt werden, was sich in der „heidnischen Welt“ darin äußert, dass allen Menschen, die ausschließlich dem Bereich des oíkos angehören, die Freiheit entzogen wird. An dem „unausweichlichen und ausweglosen Konflikt“, dass jeder Mensch seine körperliche Existenz jedoch sowohl im Bezug auf seine Sterblichkeit, als auch im daraus resultierenden Bezug auf die Vermeidung seiner Sterblichkeit überschreitet, muss die „heidnische Welt“ daher zwangsläufig scheitern: „Letztlich geht die heidnische Welt unter, weil sie die Arbeit ausschließt.“24 Der „Arbeiter-Knecht“ ist nicht anerkannt, weil er arbeitet, um seinen Tod zu vermeiden, und der „Krieger-Herr“ ist nur deshalb anerkannt, weil er bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen. In beiden Fällen ist jeweils nur eine Seite der menschlichen Existenz anerkannt.25 Erst durch die Französische Revoluti21

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23 24 25

Zum Verhältnis zwischen Carl Schmitt und Alexandre Kojève vgl. Friedrich Balke: Zur politischen Anthropologie Carl Schmitts, in: Hans-Georg Flickinger (Hg.): Die Autonomie des Politischen, Weinheim 1990, S. 37–65. Zu den Korrespondenzen zwischen den beiden Theoretikern vgl. Martin Meyer: Ende der Geschichte?, München 1993, S. 131–202. Zu Kojèves Rückführung der symbolischen Ordnung auf eine Anthropologie, bei der die MenschTier-Differenz zur alles entscheidenden Differenz wird, vgl. Henk de Berg: Das Ende der Geschichte und der bürgerliche Rechtsstaat, Tübingen 2007, S. 93–118. Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens (Anm. 16), S. 80. Ebd. S. 80. Dazu, dass sich die beiden anthropologischen Grundbegriffe des Kampfes und der Arbeit bzw. der Freiheit und der Kreativität bei Kojève einer vor allem durch Alexandre Koyré und seinen

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on, bei der nun auch der „arbeitende Bourgeois“ sein Leben aufs Spiel setzt, wird aus der „bourgeoisen Welt“, in deren Zentrum im Unterschied zur Tätigkeit des Kampfes ausschließlich die Tätigkeit der Arbeit steht, der „absolute Staat“, in dem beide Seiten der menschlichen Existenz in der Gleichzeitigkeit von bourgeois und citoyen zur Geltung kommen: „Der Mensch kann nur wahrhaft ‚befriedigt‘ werden, die Geschichte kann nur zum Stillstand kommen in der und durch die Bildung einer Gesellschaft, eines Staates, in dem der ganz einzelne, persönliche, individuelle Wert eines jeden als solcher, in eben seiner Einzelheit, durch alle, durch die im Staat als solchem inkarnierte Allgemeinheit anerkannt wird, und in dem der allgemeine Wille des Staates durch den Einzelnen als Einzelnen, durch alle Einzelnen anerkannt und verwirklicht wird.“26 In eine symbolische Ordnung, die das Wesen des Menschen vollständig befriedigen und dementsprechend die Geschichte zum Stillstand bringen können soll, muss man sich folglich sowohl über die existentielle Beziehung zu seinem Tod im Sinne eines Beweises der eigenen Freiheit als auch über die existentielle Beziehung zur Vermeidung des eigenen Todes im Sinne der produzierenden und reproduzierenden Arbeit einschreiben. Sowohl der „Arbeiter-Knecht“, der sich in der Arbeit selbst produziert und reproduziert und der im Zentrum des marxistischen Ideals einer zu sich selbst kommenden Gesellschaft steht, als auch der „Krieger-Herr“, der das Modell für alle ausschließlich politischen Logiken der kollektiven Ordnungsbegründung abgibt, stellen demnach jenseits ihrer Synthese im „absoluten Staat“ jeweils für sich genommen eine „existentielle Sackgasse“ dar.27 Vor diesem Hintergrund kommt Kojève zu der geschichtsphilosophischen Schlussfolgerung, dass das Versprechen der Freiheit notwendig in einen „allgemeinen und homogenen Staat“ einmünden muss, der deshalb ein Weltstaat sein wird, weil die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu einem „Absterben des Staates“ führt, sondern auf eine Instanz angewiesen ist, in der diese Emanzipation zum Ausdruck kommt und somit die Anerkennung aller Menschen inkarniert ist. Weil die existentielle Logik sowohl den politisch gefassten Todesbezug als auch die ökonomisch verstandene Lebenssteigerung einbezieht, kann die Geschichte nicht schon allein mit der Entstehung einer Weltgesellschaft zu Ende sein,28 die sich in erster Linie einer ökonomischen Logik zu verdanken hat, sondern erst dann, wenn sich alle Menschen in die politisch-ökonomische Grundlage der symbolischen Ordnung eingetragen haben.

26 27

28

programmatischen Aufsatz Hegel à Jéna (1934) vermittelten existentialistischen Interpretation von Hegels Begriff der Negation verdanken, vgl. Angelika Pillen: Hegel in Frankreich. Vom unglücklichen Bewusstsein zur Unvernunft, Freiburg/München 2003, S. 95–119. Vgl. dazu auch Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Der französische Hegel, Berlin 2007. Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens (Anm. 16), S. 76f. Vgl. dazu Mohammed A. Bamyeh: Of Death and Dominion: The Existential Foundations of Governance, Evanston/Illinios 2007, S. 89–94 (hier: S. 90), der darin den Versuch sieht, den modernen „triumph of lowly pursuits – safety and pleasure – over higher ancient virtues“ entgegen dem Rückgriff auf die Antike bei Leo Strauss einer widerstandsfähigeren Fassung zuzuführen. Zum systemtheoretischen Begriff der Weltgesellschaft vgl. Rudolf Stichweh: Inklusion/Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft, in: Soziale Systeme 3 (1997), S. 123–136. Zu den Hoffnungen und den Enttäuschungen einer Theorie der Weltgesellschaft, die mit dem historischen Ende des Kalten Krieges verbunden waren, vgl. Ulrich Menzel: Globalisierung versus Fragmentierung, Frankfurt/M. 1998, S. 242–262.

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2.

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Das Problem des unendlichen Endes

Wenn Fukuyama mehrfach darauf insistiert, dass „ökonomische Interpretationen der Geschichte“ deshalb unvollständig und unbefriedigend seien, weil sie nicht imstande sind, neben der materiellen Seite der Bedürfnisstruktur ebenso deren ideelle Seite zu berücksichtigen, dann schließt er mit seinem Modell der „zwei Säulen“ unmittelbar an Kojèves existentialistische Anthropologie an: „Insbesondere können sie nicht erklären, warum wir Demokraten sind, das heißt warum wir das Prinzip der Volkssouveränität und die Garantie der Menschenrechte im Rahmen rechtsstaatlicher Verfahren befürworten.“29 Denn gerade die Erfahrung der „Sowjetunion, Chinas und anderer sozialistischer Länder“ zeige, dass diese zwar in der Lage seien, ökonomische Bedürfnisse zu befriedigen und das „europäische Industrieniveau der fünfziger Jahre zu erreichen“, aber genau dann scheitern müssten, wenn es um die Entwicklung einer „postindustriellen“ Gesellschaft geht, für deren Gelingen die „Idee der Freiheit“ eine unverzichtbare Grundlage darstellt.30 Indem die Sowjetunion daran gescheitert ist, ihre ökonomische Struktur über das ökonomische Niveau der „fünfziger Jahre“ hinaus weiter zu entwickeln, ist sie daher nicht allein an ökonomischen Problemen zugrunde gegangen, die mit ihrer zentralistischen Organisation zusammenhängen, sondern zuletzt an der Attraktivität, die von der „Idee der Freiheit“ ausgeht. Denn dass sich im Gegensatz dazu die liberale Demokratie von der historisch gegebenen Fülle der Regierungsformen als das widerstandsfähigste Modell behaupten konnte, liegt nicht daran, dass sie alle Bedürfnisse sowohl im materiellen als auch im ideellen Sinne befriedigen kann, sondern dass sie das Versprechen dieser Erfüllung als ein solches auf Dauer zu stellen vermag: „Was sich als siegreich erweist, ist allerdings weniger die liberale Praxis als die liberale Idee: In einem sehr großen Teil der Welt gibt es heute keine Ideologie mit Anspruch auf universale Gültigkeit, die eine echte Alternative zur liberalen Demokratie wäre, und kein anderes universales Prinzip der Legitimität als die Volkssouveränität.“31 Während das geschichtsphilosophische télos eines Weltstaates bei Kojève aus dem Ideal einer vollständigen Befriedigung aller Menschen abgeleitet wird, die das Wesen des Menschen in seiner politisch-ökonomischen Ganzheit umfassen muss, leitet Fukuyama den endgeschichtlichen Zustand nach einer „weltweiten liberalen Revolution“ als geschichtsphilosophisches télos aus dem gleichen Ideal als Ideal ab, das, um ein solches zu bleiben, sich weder erfüllen kann, noch erfüllen darf. Denn dass die Attraktivität der Freiheit nicht in erster Linie von der liberalen Praxis ausgeht, sondern von der liberalen Idee, heißt nichts anderes, als sowohl die jeweiligen Unzufriedenheiten als auch die jeweiligen Lösungen dieser Unzufriedenheiten in einem einzigen politisch-ökonomischen System zu verstetigen. Aus dieser Perspektive wird gerade die Unvollständigkeit der Befriedigung zum entscheidenden 29 30

31

Fukuyama: Das Ende der Geschichte (Anm. 2), S. 17. Vgl. dazu auch Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, übers. v. Thomas Atzert u. Andreas Wirthensohn, Frankfurt/M./New York 2002, S. 271–290, die den Zusammenbruch des „sowjetischen Disziplinarregimes“ ebenfalls auf die Emanzipation einer „postmodernen Subjektivität“ zurückführen. Zur marxistischen Kritik, dass diese Diagnose diejenige Form von Subjektivität prämiert, die dem „postindustriellen“ Selbstverständnis entspricht, vgl. Detlef Hartmann: „Empire“. Umbrüche in der Philosophiepolitik, Berlin/Hamburg/Göttingen 2002. Fukuyama: Das Ende der Geschichte (Anm. 2), S. 82.

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Legitimationsgrund für die liberale Demokratie, sodass politische Freiheitsforderungen stets als Symptom für ökonomische Unzufriedenheiten gelesen werden können und ökonomische Unzufriedenheiten stets als Symptom für politische Freiheitsforderungen. In der liberalen Demokratie legitimiert sich die politische Dimension über die ökonomische Dimension und die ökonomische über die politische: Freiheit erzeugt Wohlstand, und Wohlstand erzeugt Freiheit. Weil die liberale Idee im Sinne eines überzeitlichen Ideals allein in dieser zirkulären Verschränkung des Politisch-Ökonomischen etabliert werden kann, kann das Ende der Geschichte letztlich nur darin bestehen, dass sich die Menschheit auf einem unendlichen Weg zur Versammlung unter diesem Ideal befindet. Die von Hegel der Zukunft aufgetragene Lösung der Frage, wie die Freiheit aller zu realisieren sei, wird von Kojève und Fukuyama geradezu gegenteilig bewerkstelligt, wenn Kojève die universale Anerkennung der Freiheit aller Menschen allein in einem starken Staat und Fukuyama diese Freiheit dagegen am besten durch eine liberale Demokratie gewährleistet sieht, bei der nicht dem Staat in Form eines Weltstaates die telelogische Rolle der Vollendung zukommt, sondern im Gegenteil der Gesellschaft in Form einer Weltgesellschaft. – Auch wenn Fukuyama bemüht ist, einen „Liberalen Kojève“ von einem „Stalinisten Kojève“ zu unterscheiden, weil Kojève aus der Sicht Fukuyamas zeitweise dem Irrtum verfallen war, eine „heiße Bewunderung für Stalin“ zu hegen, und die falsche Meinung hatte, es gebe keinen wesentlichen Unterschied zwischen den „Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und dem China der fünfziger Jahre“,32 so besteht die entscheidende Differenz zwischen beiden Argumentationen nicht allein in einer politischen Einstellung zur jeweiligen Rolle des Staates oder aber der Gesellschaft, sondern resultiert aus der geschichtsphilosophischen Problematik einer endgeschichtlichen Konstruktion selbst, die sich schon in Hegels der Geschichte abgelesenem Postulat einer universalen Freiheit zeigt.33 Denn wenn erst dann von einem Ende der Geschichte gesprochen werden kann, wenn nicht nur zu Bewusstsein gekommen ist, dass alle Menschen frei sein sollen, sondern auch frei sind, wenn also nicht nur die liberale Idee, sondern die liberale Praxis Ausschlag gebend ist, dann stellt sich zugleich die Frage, wie die Zeit nach dem Ende zu denken ist. – In einem Gespräch von 1968 entfaltet Kojève diese Frage zunächst dadurch, dass er im Anschluss an Hegels geschichtsphilosophische Logik alle großen politischen Ereignisse nach der Französischen Revolution in den Horizont dieses Ereignisses stellt. Aus dieser Sicht muss sich das Ende der Geschichte, dessen „richtiges Datum“ auf denjenigen historischen Moment festzusetzen ist, in dem Hegel das „napoleonische Zeitalter“ als Erfüllung des Versprechens der Freiheit verstanden hat, so lange wiederholen, bis es die gesamte Menschheit erfasst hat: „Was ist seit diesem Datum geschehen? Überhaupt nichts, das Nachziehen der Provinzen. Die chinesische Revolution ist nichts als die Einführung des Code Napoléon in

32 33

Fukuyama: Das Ende der Geschichte (Anm. 2), S. 458, Anm. 32. Vgl. dazu Löwith: Von Hegel zu Nietzsche (Anm. 6), S. 83, der die unvermeidliche Aufspaltung in „Rechts- und Linkshegelianer“ auf eine „grundsätzliche Zweideutigkeit von Hegels dialektischen ‚Aufhebungen‘“ zurückführt: „Die Rechte betonte, daß nur das Wirkliche auch das Vernünftige und die Linke, daß nur das Vernünftige auch das Wirkliche sei, während bei Hegel der konservative und revolutionäre Aspekt, formell mindestens, gleichgültig sind.“

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China.“34 Alle politischen Ereignisse, die nach der Französischen Revolution stattgefunden haben, lassen sich demnach noch in das geschichtsphilosophische Verständnis Hegels einfügen, sodass der Begriff der Freiheit, der historisch zum ersten Mal von Aristoteles als ein Selbstseinkönnen ausformuliert worden ist und in der Französischen Revolution universalisiert wurde, sich seitdem lediglich ausbreitet: „Es spielen sich immer noch Ereignisse ab, aber seit Hegel und Napoleon hat man nichts mehr gesagt, hat man nichts Neues mehr sagen können. Etwas ist von Griechenland ausgegangen, und das letzte Wort ist gesprochen.“35 Obwohl man vielleicht annehmen könnte, dass die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts den von Hegel unterstellten Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit grundsätzlich in Frage gestellt haben, lassen sich für Kojève auf diese Weise alle nachrevolutionären Ereignisse als historische Beweise dafür auslegen, dass keines dieser Ereignisse die Macht besessen hat, den weiteren Gang der Geschichte zu einem „Universalstaat“ aufzuhalten.36 Auch wenn sich die Geschichte noch nicht vollständig erfüllt hat, so ist sie doch eigentlich schon zum Stillstand gekommen, sodass entgegen der augenscheinlichen „Beschleunigung der Geschichte“ die geschichtliche Bewegung umso weniger voranschreitet, desto schneller die Geschichte einem vorkommt.37 Alle nachrevolutionären Ereignisse wiederholen somit lediglich die Französische Revolution und vollziehen die Eintragung aller Menschen in die symbolische Ordnung eines Weltstaates. Im Gegenzug zu diesem vorweggenommenen Ende hat sich Kojève in einer ausführlichen Fußnote zu seinen Hegel-Vorlesungen die Frage gestellt, wie sich das Wesen des Menschen nach dem Ende der Geschichte fassen lässt, und diese Frage im Anschluss an Marx mit dem Eintritt der Menschheit in das „Reich der Freiheit“ beantwortet: „[...] jenseits (der Geschichte) ist das ‚Reich der Freiheit‘ angesiedelt, in dem die Menschen (die sich gegenseitig anerkennen), nicht mehr kämpfen und so wenig als möglich arbeiten (in einer ganz gezähmten, d. h. dem Menschen angepaßten Natur).“38 Weil es im Reich der Freiheit nicht mehr nötig ist, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, geht damit auch das „Verschwinden von Kriegen und blutigen Revolutionen“ einher, sodass der Mensch im eigentlichen Sinne am Ende der Geschichte selbst verschwindet: „Der Mensch bleibt 34

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38

Gilles Lapouge: Hegel, das Ende der Geschichte und das Ende des philosophischen Diskurses. Gespräch mit Alexandre Kojève (1968), in: Vermittler. Deutsch-französisches Jahrbuch 1, übers. v. Una Pfau u. Jürgen Sieß, hg. v. Jürgen Sieß, Frankfurt/M. 1981, S. 119–125 (hier: S. 123). Ebd. S. 123. Vgl. dagegen Arnold Gehlen: Post-Histoire (1962), in: Helmut Klages/Helmut Quaritsch (Hg.): Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, Berlin 1994, S. 885–895 (hier: S. 893), der aus der gleichen Logik der Argumentation heraus ein deutlich konservativ ausgerichtetes Argument der Aufhalter geformt hat: „Ohne Zweifel gibt es keine Entwicklung mehr, sondern Abwechslung innerhalb eines stationär gewordenen Gesamtzustandes.“ Lapouge: Hegel, das Ende der Geschichte (Anm. 34), S. 123. In Schriften wie L’inertie polaire (1990) hat Paul Virilio diesen Wandel der Zeitstruktur unter dem Stichwort eines „rasenden Stillstandes“ zum Thema einer Dromologie gemacht. Zitiert nach der vollständigen Übersetzung der Fußnote, die nicht in die deutsche Ausgabe der Hegel-Vorlesungen aufgenommen wurde, bei Jacob Taubes: Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire, in: Gabriele Althaus/Irmingard Staeuble (Hg.): Streitbare Philosophie. Margherita von Brentano zum 65. Geburtstag, Berlin 1988, S. 41–51 (hier: S. 42).

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am Leben, insoweit er Tier ist, welches in Einklang mit der Natur oder dem vorgegebenen Sein existiert. Was verschwindet, ist der Mensch im eigentlichen Sinne, d. h. die das Vorgegebene nichtende Handlung und der Irrtum, oder – allgemein – das Subjekt gegenüber einem Objekt.“39 Weil im Reich der Freiheit alle Menschen vollständig befriedigt sein werden, verschwindet mit jeder historischen „‚Aktion‘ im emphatischen Sinne“ auch die Philosophie. Denn es gibt keinen Grund mehr, die „(wahren) Prinzipien“ und damit die Fundamente des „Bewußtseins von Welt und Selbst“ über diesen Zustand hinaus noch zu ändern: „Alles andere aber kann unendlich aufrecht erhalten werden: die Kunst, die Liebe, das Spiel usw.; kurz: alles, was den Menschen glücklich macht.“40 Im Gegensatz zum Reich der Notwendigkeit, das durch den Kampf und die Arbeit bestimmt ist, erscheint das Reich der Freiheit vollständig im Versprechen eines Selbstseinkönnens aufzugehen, für das selbst der existentialistische Horizont des eigenen Todes keine entscheidende Rolle mehr spielt. Mit dem Ende der Geschichte haben auch die Opfer auf dem „Altar der Erde“ ihre Sinn stiftende Aufgabe verloren. – In einer weiteren und noch ausführlicheren Fußnote, die Kojève der zweiten Ausgabe seiner Hegel-Vorlesungen von 1962 hinzugefügt hat, kommt er noch einmal auf das Thema der ersten Fußnote zurück und nennt seine Ausführungen widersprüchlich, insofern man aus dem Verschwinden des Menschen weit radikalere Konsequenzen ziehen müsste: „Wenn der Mensch wieder zum Tier wird, müssen seine Künste, seine Liebe und sein Spiel selbst auch wieder rein ‚natürlich‘ werden. Man müßte eingestehen, daß nach dem Ende der Geschichte die Menschen ihre Bau- und Kunstwerke so schüfen, wie die Vögel ihre Nester bauen oder wie die Spinnen ihre Netze weben, daß sie Konzerte gäben wie die Grillen, daß sie spielten wie junge Tiere und sich der Liebe hingäben wie ausgewachsene. Aber man kann doch nicht sagen, ‚daß dies alles den Menschen glücklich macht‘.“41 Bevor Kojève jedoch auf das zu sprechen kommt, was selbst in diesem posthistorischen Zustand noch fehlt, geht er noch einen Schritt weiter mit der Annahme, dass mit dem Eintritt der Menschheit in das Reich der Freiheit auch das „‚diskursive‘ Bewußtsein von Welt und Selbst“ zunehmend zugunsten von „konditionierten Reflexen“ verschwindet, und identifiziert die „eigentliche Lebensweise der posthistorischen Periode“ mit dem „american way of life“, der die „zukünftige ‚ewige Gegenwart‘ einer einzigen Menschheit“ vorwegnehme.42 In dem bereits erwähnten Interview sieht Kojève in dem Umstand, dass der posthistorische Mensch im Sinne von „konditionierten Reflexen“ maßgeblich durch einen Bereich bestimmt wird, „in dem etwas anderes funktioniert als das Menschliche“, die historische Karriere der Humanwissenschaften begründet: „Im Menschen ist 1 % menschlich und der Rest ist, sagen wir, tierisch; das macht also ein weites Gebiet aus, das in der Tat auslegbar ist.“43 Während sich das geschichtliche Zustandekommen der symbolischen Ordnung den beiden das Gegebene „nichtenden“ Tätigkeiten des Kampfes 39 40 41

42 43

Ebd. S. 42. Ebd. S. 42. Zitiert nach der vollständigen Übersetzung der Fußnote, die ebenfalls nicht in die deutsche Ausgabe der Hegel-Vorlesungen aufgenommen wurde, bei Taubes: Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire (Anm. 38), S. 42–46 (hier: S. 43). Ebd. S. 44. Gilles Lapouge: Hegel, das Ende der Geschichte (Anm. 34), S. 124f. In diesen Zusammenhang muss man auch Michel Foucaults berühmten letzten Satz seines Buches Les mots et les choses

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und der Arbeit verdankt, zeichnet sich der posthistorische Zustand durch eine Regression der Menschen aus, bei der die „post-historischen Tiere der Gattung homo sapiens“, die allesamt „in Überfluß und in voller Sicherheit leben“, allein auf ein ungefährliches Genießen verpflichtet sind, unter der Voraussetzung allerdings, „daß sie sich damit begnügen werden“.44 Die politische Ordnung tritt im „hegelianisch-marxistischen Ende der Geschichte“ zuletzt so weit in den Hintergrund ihres reinen Bestehens, dass sie genau diejenige Definition des Menschen bei Aristoteles als ein politikòn zôon,45 mit der die geschichtliche Bewegung ihren Anfang genommen hat, beiseite zu schieben und obsolet zu machen scheint.

3.

Der Selbstgenuss der Menschen

Vor diesem Hintergrund muss man Kojèves vermeintlich provokative Aussage, dass die „Amerikaner nur wie reiche Chinesen oder Sowjets“ wirken, weil die „Russen und Chinesen nichts sind als noch arme Amerikaner, gewissermaßen mit Aussicht auf rasche Bereicherung“,46 als konsequente Gleichsetzung von Kommunismus und Liberalismus hinsichtlich ihres Endzwecks verstehen. Im Gegensatz zur Einschätzung von Vertretern des Liberalismus war die Aufteilung der Welt in Blockmächte für Kojève deshalb nicht wesentlich, weil der Endzweck von Kommunismus und Liberalismus im gleichen Versprechen eines Selbstseinkönnens der Individuen besteht. – In diesem Sinne hat Georges Bataille in seinem Aufsatz Kommunismus und Stalinismus (1953) den „militärischen Gegensatz“ zwischen den Blockmächten als einen „Klassenantagonismus“ zwischen armen und reichen Ländern beschrieben, bei dem der Kommunismus als ein „Mittel zur Entwicklung armer Länder“ dient.47 Weil sich der Kommunismus entgegen der Prognose von Marx in keiner „etablierten bürgerlichen Herrschaft“ durchgesetzt hat, sondern stets nur eine „in Zersetzung befindliche Feudalordnung“ umstürzen konnte,48 ist die „ursprüngliche Akkumulation“, die in den ökonomisch entwickelten Ländern vom Bürgertum durchgeführt wurde, in den unterentwickelten Ländern von der „Diktatur des Proletariats“ durchgeführt worden: „Aus der Darlegung ergibt sich, daß jede Akkumulation grausam ist; daß jeder Verzicht auf die Gegenwart zugunsten der Zukunft grausam ist. Da die russische Bourgeoisie nicht akkumuliert hatte, mußte das Proletariat es tun. Desgleichen ist das chinesische Proletariat gezwungen, es zu tun.“49 In dieser Hinsicht

44 45

46 47 48 49

(1966) stellen, wonach „der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“, sowie seine grundsätzliche Entscheidung, anstatt den philosophischen Diskurs fortzuführen, sich einer Archäologie der Humanwissenschaften zu widmen. Zitiert nach Taubes: Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire (Anm. 38), S. 43. Zur Problematik der Mensch-Tier-Unterscheidung bei Aristoteles und der damit verbundenen Absonderung eines bloßen von einem politischen Leben vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt/M. 2002, S. 11–21. Zitiert nach Taubes: Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire (Anm. 38), S. 44. Georges Bataille: Kommunismus und Stalinismus, übers. v. Heinz Abosch, in: ders.: Die Aufhebung der Ökonomie, hg. v. Gerd Bergfleth, München 2001, S. 237–288 (hier: S. 288). Ebd. S. 257. Ebd. S. 255.

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besteht der Unterschied zwischen den beiden Blockmächten lediglich darin, dass die kommunistische im Gegensatz zur liberalen Ökonomie ein Staatskapitalismus ist, der es den unterentwickelten Ländern möglich gemacht hat, bei der Entwicklung ihrer ökonomischen Struktur schneller aufzuholen: „Den Prozeß, der in den dreißiger Jahren stattfand, könnte man als ‚ursprüngliche Akkumulation‘ des Sozialismus in einem Land bezeichnen.“50 Das bedeutet, dass sich Kommunismus und Liberalismus allein in den Mitteln auf dem Weg zum Reich der Freiheit unterscheiden, das Kojève im „american way of life“ vorgezeichnet sieht, insofern dieser darin besteht, dass „praktisch alle Mitglieder einer ‚klassenlosen Gesellschaft‘ sich schon jetzt in Besitz all dessen setzen können, was ihnen gut scheint, ohne dafür mehr zu arbeiten, als sie gerade Lust haben“.51 Der „american way of life“ ist weder durch den Kampf im Sinne des „Krieger-Herren“ noch durch die Arbeit im Sinne des „Arbeiter-Knechts“ bestimmt, sondern allein durch das historische Resultat dieser beiden Tätigkeiten. Während sich die Entstehung der bürgerlichen Ordnung einer doppelten Leistung in der Gleichzeitigkeit von bourgeois und citoyen verdankt, bei der die berufliche Karriere und das politische Engagement die beiden Momente sind, um die eigene Identität zu sichern, steht in der posthistorischen Ordnung die individuelle Selbstverwirklichung im Vordergrund, die nicht mehr durch die Notwendigkeit von politischem Kampf und disziplinierender Arbeit beherrscht wird. – In einem Vortrag, den Kojève 1957 durch Vermittlung von Carl Schmitt in Düsseldorf gehalten hat, sieht er den ermöglichenden Grund für diese Entwicklung in einem „gebenden Kapitalismus“,52 der die Ausbeutungsverhältnisse eines „nehmenden Kapitalismus“ hinter sich gelassen hat, auf den sich noch die marxistische Prognose einer sozialen Revolution bezog: „Tatsächlich hat sich Marx geirrt, erstens weil zu seiner Zeit der Kapitalismus eben das war, was er sagte, und zweitens, weil dieser Kapitalismus seine von Marx entdeckten und beschriebenen ökonomischen Fehler oder, wenn man so will, ‚Widersprüche‘, selbst löste. Und zwar in der von Marx selber angegebenen Richtung. Allerdings nicht auf eine ‚revolutionäre‘ und ‚diktatorische‘, sondern auf eine friedliche und demokratische Weise.“53 Was der „gebende Kapitalismus“ demnach gelernt hat, besteht in der Teilhabe der Produzenten am Produkt der Produktion, sodass die Produzenten nun in der Lage sind, ihr eigenes Produkt wieder zu konsumieren. Dieser Lernprozess, den Kojève dem „Fordismus“ und damit namentlich Henry Ford als dem „einzigen authentischen Marxisten“ des 20. Jahrhunderts zuschreibt, soll daher ebenfalls im Hinblick auf die stark asymmetrische Verteilung der Produktionsmittel zwischen einer „euro-amerikanischen Minderheit“ und einer „afro-asiatischen Mehrheit“ die Lösung vorgeben, um das Problem des Kolonialismus zu beseitigen: „Aber wenn man 50 51 52

53

Ebd. S. 254. Zitiert nach Taubes: Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire (Anm. 38), S. 44. Alexandre Kojève: Düsseldorfer Vortrag: Kolonialismus in europäischer Sicht, in: Piet Tommissen (Hg.): Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts, Bd. 6, Berlin 1998, S. 126–143 (hier: S. 136). Zur kritischen Auseinandersetzung mit Carl Schmitts Der Nomos der Erde (1950) im Düsseldorfer Vortrag von Kojève, der im Gegensatz zu Schmitt davon ausgeht, dass die Geschichte des „Nehmens“ als beendet anzusehen ist, vgl. Henning Ottmann: Kojève und Carl Schmitt. Neue Nachrichten vom Ende der Geschichte und vom Ende der Staatenpolitik, in: Andreas Arndt/Karol Bal/ders. (Hg.): Hegel-Jahrbuch 2002, Berlin 2002, S. 176–182. Kojève: Düsseldorfer Vortrag (Anm. 52), S. 128.

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die wirkliche Welt im ganzen nimmt, sieht man doch sofort ein Riesenproletariat, und zwar im gut marxistischen Sinne dieses Wortes. Und da es sich um eine wirtschaftliche Einheit handelt, d. h. um ein ökonomisches System, so kann man wohl sagen, daß es in diesem System auch einen ‚Mehrwert‘ im marxistischen Sinne gibt, der in seiner Totalität nur denjenigen Ländern zukommt, die allein über die industriellen Produktionsmittel verfügen.“54 Um die „wirkliche Welt im ganzen“ einem „gebenden Kapitalismus“ von Produktion und Konsumtion zuzuführen, bei dem alle in einem historisch relativ gesehenen Überfluss leben können sollen, muss das marxistische Ideal einer klassenlosen Gesellschaft, in der sich jeder selbst aneignen kann,55 weltweit realisiert werden. – Während die politische Geschichte des Kampfes für Kojève in einem universalen Staat ihr Ende findet, in dem alle dem historischen Fortschritt der Freiheit dargebrachten Opfer inkarniert sind, endet die ökonomische Geschichte der notwendigen Arbeit in einer globalen Gesellschaft, in deren „gebendem Kapitalismus“ alle ökonomischen Anstrengungen der Vergangenheit aufbewahrt sind. Von diesen beiden Anhäufungen der Geschichte, von der Akkumulation der politischen Opfer und der des ökonomischen Reichtums, soll die „ewige Gegenwart“ einer einzigen posthistorischen Menschheit nach dem „hegelianisch-marxistischen Ende der Geschichte“ endlos zehren können. Und obwohl Kojève mit dieser Antizipation einer absehbaren Zukunft, in der keine weiteren Opfer mehr nötig sein werden, im Gegensatz zu der „gefährlichen“ Interpretation der historischen Tatsachen durch die „Neo-Marxisten“56 der Meinung ist, die von Hegel gestellte Aufgabe gelöst und das „letzte Wort“ gesprochen zu haben, scheint immer noch etwas zu fehlen, um das dauerhafte Glück einer zukünftigen Menschheit sicherzustellen. In einem Brief vom 6. Dezember 1937 hat Bataille, der ebenfalls zu den Zuhörern der Hegel-Vorlesungen gehörte, die Frage an Kojève gerichtet, ob die „Negativität“ dessen, der „nichts mehr zu tun hat“, verschwindet oder aber im Zustand einer „unbeschäftigten Negativität“ weiterhin fortbesteht.57 Denn wenn der Mensch nur völlig befriedigt sein kann, wenn der Kampf und die Arbeit in „einem einzigen menschlichen Wesen ihre Synthese“ finden können,58 dann stellt sich die Frage, auf welche Weise die menschliche „Negativität“ ausagiert wird, wenn die dadurch angestrebte Befriedigung tatsächlich eingetreten ist. Während Kojève im ersten Teil der Fußnote von 1962 dieses Problem mit der Regression der Menschen im Reich der Freiheit zu problemlos genießenden „posthistorischen Tieren“ beiseite geschoben hat, lässt sich der zweite Teil der Fußnote, in dem Kojève nicht mehr von einer weltweiten „Amerikanisierung“ ausgeht, sondern ei54 55

56 57

58

Ebd. S. 131. Zur damit verbundenen Entpolitisierung der Todesproblematik bei Marx und deren Reduktion auf die Vorstellung eines „natürlichen Todes“ vgl. Ferdinand Reisinger: Der Tod im marxistischen Denken heute: Schaff – Kolakowski – Machovec – Prucha, Mainz 1977, S. 50–88. Kojève: Düsseldorfer Vortrag (Anm. 52), S. 132. Georges Bataille: Brief an X., der mit Hegel-Vorlesungen betraut ist, in: ders.: Die Freundschaft und Das Halleluja (Atheologische Summe II), übers. u. hg. v. Gerd Bergfleth, München 2002, S. 161–164 (hier: S. 162). Vgl. dazu auch Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, übers. v. Davide Giuriato, Frankfurt/M. 2003, S. 13–22, der in der Figur einer „interesselosen Negativität“, die nicht mehr „verneint“, sondern „sein lässt“, die Möglichkeit einer Versöhnung des Menschen mit seiner animalischen Natur gegeben sieht. Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens (Anm. 16), S. 80.

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ne „Japanisierung“ in Aussicht stellt, als Antwort auf diese von Bataille aufgeworfene Frage verstehen: „Die ‚posthistorische‘ japanische Zivilisation hat Wege eingeschlagen, die dem ‚american way‘ diametral entgegengesetzt sind.“59 Weil auch im Reich der Freiheit der Mensch noch sterblich ist und durch seine Sterblichkeit definiert sein wird, hört der existentialistische Todesbezug nicht mit der Einschreibung aller Menschen in die symbolische Ordnung eines Universalstaates auf, sondern muss ebenso wie die Tätigkeit der Arbeit einer Ökonomie des Genießens zugeführt werden. Was Kojève an dem Gedanken einer „Japanisierung“ fasziniert, betrifft die Übersetzung von historischen in ästhetische Welt- und Selbstverhältnisse,60 insofern „alle Japaner ohne Ausnahme wirklich in der Lage“ seien, „gemäß vollkommen formalisierter Werte zu leben, das heißt gemäß Werten, die ganz von allem ‚humanen‘ Inhalt (in der Bedeutung von ‚historisch‘) entleert sind“.61 Die „Einzigartigkeit“ der japanischen Zivilisation besteht für Kojève darin, „nach der Liquidation des ‚Feudalismus‘“ schon „drei Jahrhunderte einer Epoche des ‚Endes der Geschichte‘“ erfahren zu haben, in der es keinen „Bürgerkrieg noch Krieg von außen“ gegeben hat. In dieser langen Zeit des Stillstands konnte sich ein „Snobismus im Reinzustand“ herausbilden, der die Lebensweise der „adligen Japaner, die aufhörten, ihr Leben zu riskieren (und sei es auch nur im Duell)“, und sich trotzdem nicht der Arbeit widmeten, in solchen „Disziplinen“ bewahrt hat, „die – unvereinbar mit ‚natürlichen‘ oder ‚tierischen‘ Vorgaben – in ihrer Wirksamkeit bei weitem jene überholten, die in Japan oder anderswo aus der ‚historischen‘ Tat entstanden, das heißt: aus kriegerischen und revolutionären Auseinandersetzungen oder forcierter Arbeit“.62 Während im „american way of life“ vor allem die niederen Tätigkeiten des ehemaligen „Arbeiter-Knechts“ in eine Ökonomie des Genießens übersetzt werden, geht es beim „japanischen Snobismus“ dagegen um die Übersetzung der höheren Tugenden des ehemaligen „Krieger-Herren“ in einen ästhetischen Welt- und Selbstbezug. Damit sich die Menschen wirklich mit dem antizipierten Ende der Geschichte begnügen werden, reicht es nicht aus, die notwendige Arbeit der Produktion und Reproduktion in einen Zustand des ökonomischen Wohlstands zu transformieren, sondern darüber hinaus muss auch der existentialistische Todesbezug einer ästhetischen Stillstellung zugeführt werden: „So ist zur Not jeder Japaner prinzipiell fähig, aus reinem Snobismus bis zu einem ganz und gar selbstlosen Suizid zu gehen (bei dem das klassische Samurai-Schwert durch ein Flugzeug oder einen Torpedo ersetzt werden kann), der nichts zu tun hat mit dem Riskieren des Lebens in einem Kampf, geführt um willen ‚historischer Werte‘ sozialen oder politischen Inhalts.“63 – Dass die Universalisierung des „american way of life“ und damit die „Interaktion zwischen Japan und der westlichen Welt“ nicht zu einer 59 60

61 62 63

Zitiert nach Taubes: Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire (Anm. 38), S. 45. Vgl. dazu Odo Marquard: Kant und die Wende zur Ästhetik, in: ders.: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn/München/Wien/Zürich 1989, S. 21–34. Zur Auseinandersetzung mit Marquards politischen Konsequenzen aus seiner These, ästhetische Weltentwürfe seien als historische Reaktionen auf enttäuschte Hoffnungen der modernen Geschichtsphilosophie zu verstehen, vgl. Jacob Taubes: Zur Konjunktur des Polytheismus, in: ders.: Vom Kult zur Kultur: Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft, München 1996, S. 340–351. Zitiert nach Taubes: Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire (Anm. 38), S. 45. Ebd. S. 45. Ebd. S. 45.

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„Rebarbarisierung der Japaner“, sondern zu einer „‚Japanisierung‘ der Okzidentalen“ führen wird, darf man nicht als eine kulturhistorische These missverstehen. Vielmehr stellt diese formale Ästhetisierung der eigenen Existenz eine notwendige Bedingung des geschichtlichen Stillstands dar, insofern damit selbst noch die „Negativität“ des Todes in das vorweggenommene Bild einer posthistorischen Ewigkeit einbezogen werden kann. Denn worauf das Versprechen der Freiheit für Kojève letztlich abzielt, und zwar sowohl im Kommunismus als auch im Liberalismus, ist ein entpolitisierter Zustand,64 bei dem die individuelle Selbstverwirklichung einen vollständigen Selbstgenuss erlauben soll, was jedoch nur dann möglich ist, wenn dieser Selbstgenuss die Menschen nicht nur durch das Leben, sondern auch in den Tod trägt.

4.

Der entzifferte Wunsch der Moderne

Auch wenn der Mensch nach dem Eintritt ins Reich der Freiheit somit nicht wieder zu einem Naturwesen wird, sondern sich mittels einer leer laufenden „unbeschäftigten Negativität“, die keine grundsätzliche Veränderung mehr zur Folge hat, eine Welt aus inhaltslosen Formen schafft, so würde die durch einen Universalstaat vollendete liberale Praxis zuletzt die liberale Idee überflüssig machen. Die vollständige Befriedigung des Versprechens der Freiheit führt demnach in eine Leere, in die mit der Universalisierung der Freiheit für alle Menschen auch das Begehren nach Freiheit einmündet. Während es für Aristoteles noch selbstverständlich war, dass die Freiheit des Selbstseinkönnens der einen auf der Unfreiheit und Unselbständigkeit der anderen basiert, enthüllt sich in der von Kojève antizipierten Universalität, dass die als ein Selbstseinkönnen begriffene Freiheit als solche leer ist, wenn sie nicht mehr in Relation zu einer Situation der Unfreiheit und dementsprechend als eine zukünftige Befreiung gedacht werden kann. Während die Zeitlichkeit der noch zu erreichenden Befreiung daher im Hinblick auf eine zu erwartende Zukunft verstanden wird, ist die posthistorische Zeitlichkeit bei Kojève stets in der Vorvergangenheit des futurum exactum gegeben.65 – Dieses Paradox einer leeren Freiheit, das sich in der Vorvergangenheit eines Endzwecks der Geschichte zeigt, wenn im Sinne eines geschichtsphilosophisch begriffenen Fortschritts der Freiheit alles getan worden sein wird, sucht schon die endgeschichtliche Konstruktion Hegels 64

65

In diesem Sinne hat Jacob Taubes im Anschluss an Friedrich Nietzsches berühmten Satz, die Welt sei nur als „ästhetisches Phänomen“ gerechtfertigt, und an Martin Heideggers Aufsatz Die Zeit des Weltbildes (1938) die radikale Bilanz gezogen, die „Moderne“ komme in der „Postmoderne“ zu sich selbst: „Ästhetisierung ist also ein Prozeß, der in der ‚Neuzeit‘ einsetzt und der im Posthistoire sich vollendet im ästhetischen Simulacrum gesellschaftlicher Konflikte und philosophischer Disputationen. Geschichte wird als Weltgeschichte und Geschichte der Wahrheit zum ‚Als ob‘.“ Taubes: Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire (Anm. 38), S. 51. Zur Etablierung einer Semantik der Zukunft seit der Französischen Revolution vgl. Reinhart Koselleck: Zur Begriffsgeschichte der Zeitutopie, in: ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen Sprache, Frankfurt/M. 2006, S. 252–273. Zur Vorvergangenheit des futurum exactum aus psychoanalytischer Sicht vgl. Peter Widmer: Angst. Erläuterungen zu Lacans Seminar X, Bielefeld 2004, S. 39–51 (hier: S. 44): „Es ist das, was gewesen sein wird. [...] Diese imaginären Schließungen sind immer auch Versuche, der Angst zu entgehen.“

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heim und bestimmt seine zugleich progressive und konservative Haltung der Französischen Revolution gegenüber sowie die spätere Aufteilung seiner philosophischen Erben in Links- und Rechts-Hegelianer. Denn einerseits begreift Hegel die Französische Revolution als die universale Durchsetzung des Bewusstseins der Freiheit, sodass es jedem „einzelnen Bewußtsein“ möglich wird, sich aus der Sphäre, der es zugeteilt war, zu erheben. Als Befreiung ist das Bewusstsein der Freiheit „negativ“, weil es sich gegen das Bestehende richtet. In dem Moment jedoch, in dem sich diese Universalisierung der Freiheit nicht mehr gegen etwas richtet, sondern ihre „Negativität“ als solche zeigt, wird die „absolute Freiheit“ zur Leere eines „absoluten Schreckens“, in der sich die Freiheit zu ihrem eigenen Gegenstand wird und ihr „negatives Wesen“ anschaulich.66 Die mit der Französischen Revolution verbundene traumatische Erfahrung besteht darin, dass sich die Freiheit nicht wie ein Gut verteilen lässt, das im Gegensatz zur relationalen Auffassung bei Aristoteles nun allen zukommen soll, sondern sich stets nur als ein gegen die bestehende Unfreiheit gerichtetes Postulat aufrecht erhalten lässt. Denn sobald das Begehren nach Freiheit in der Universalisierung einer endgeschichtlichen Konstruktion als zu sich selbst gekommen gedacht wird, muss sich dieses Begehren zwangsläufig als leer offenbaren. – Die doppelte Einhüllung dieser Leere, die sich aus der unaufhebbaren Differenz zwischen der liberalen Idee und der liberalen Praxis ergibt, spiegelt sich bei Hegel in einer gleichzeitig konservativ und progressiv geprägten Haltung wider, die es erlaubt, die Geschichte zugleich als noch nicht abgeschlossen und als prinzipiell in sich geschlossen zu verstehen. So hat Joachim Ritter in seiner wirkmächtigen Studie Hegel und die französische Revolution (1956) eine Rückbindung des gesellschaftlichen Fortschritts an die „geschichtliche Substanz“ im Sinne einer Bewahrung der „geschichtlichen Herkunft“ als notwendig angesehen, um gegen das „Emanzipationsprinzip“ als höchsten Maßstab der Gesellschaft die „Möglichkeit einer absoluten Vergesellschaftung des Menschen“ abzuwehren, in der diese „Gesellschaft wirklich aus dem Zusammenhang der Weltgeschichte heraustreten“ und „ihrem Ende“ zustreben würde.67 Auf diese Weise soll der Fortschritt der Freiheit zwar als prinzipiell unumkehrbar akzeptiert, aber zugleich durch die Rücksicht auf das „Überlieferte“ eingedämmt und damit vor seiner eigenen Leere gerettet werden. Im Gegensatz zu dieser „konservativen Aussöhnung mit der gesellschaftlichen Moderne“, die sich in der „verzweifelten, weil paradoxen Leistung“ eines „aufgeklärten Traditionalismus“68 verstrickt, hat Jürgen Habermas den progressiven Aufschub der endgeschichtlichen Problematik ausformuliert, wenn er die Moderne als ein „unvollendetes Projekt“ begreift, bei dem die Einlösung der „Hoffnung auf Emanzipation der Menschen“ und damit die Vollendung des modernen Projektes auf den unbestimmten Zeitpunkt „eines Tages“ verschoben werden muss.69 Beide Varianten, die 66 67 68

69

G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, S. 437. Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution, in: ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt/M. 2003, S. 183–233 (hier: S. 232). Jürgen Habermas: Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik (1983), in: ders.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990, Leipzig 1990, S. 75–104 (hier: S. 88). Jürgen Habermas: Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf. Was heißt Sozialismus heute? (1990), in: ders.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990, Leipzig 1990, S. 213–241 (hier: S. 241).

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sich auf jeweils einen Aspekt von Hegels geschichtsphilosophischer Konstruktion berufen, der sich entweder dem „jungen“ oder dem „alten“ Hegel zurechnen lässt, wissen um das Problem, dass das politische Postulat der Freiheit, weil es sich um ein leeres Prinzip handelt, in dem Moment, in dem es zu sich selbst käme, seine Wirksamkeit einbüßen würde. Während die progressive Variante diese Leere durch eine Fülle an zukünftigen Möglichkeiten beiseite zu schieben versucht, die vielleicht jetzt noch nicht erreicht ist, aber eben „eines Tages“ gegeben sein wird, verspricht die konservative Variante den Schutz vor genau der gleichen Leere, indem sie dem haltlosen Fortschritt als zu weit gehend die Vorstellung einer vollen Vergangenheit entgegenhält, die gerade dabei ist zu verschwinden. Beide Varianten ordnen sich auf gegenteilige Weise um die gleiche Leere an, die entweder, als Freiheit verstanden, eine Fülle an zukünftigen Möglichkeiten zu sehen gibt, oder, als Abgrund betrachtet, eine zurückliegende Fülle unweigerlich zu vernichten droht. Aus Sicht der progressiven Variante erscheint die liberale Praxis im Horizont des liberalen Ideals als prinzipiell defizitär, weil sich jede Praxis zu Recht als kritikwürdig herausstellen und damit die Notwendigkeit eines Ideals darlegen lässt, das nach einem gescheiterten Versuch seiner Realisierung auch den nächsten Versuch noch anleiten können muss und sich daher niemals verbrauchen darf. Aus Sicht der konservativen Variante liegt dagegen das grundsätzliche Defizit im liberalen Ideal selbst, das sich aufgrund seiner Substanzlosigkeit niemals vollständig erfüllen darf, weil die Errungenschaft einer liberalen Praxis dann unmittelbar dieser Substanzlosigkeit und damit einer möglichen Selbstzerstörung ausgesetzt wäre. Indem entweder das Ideal der Freiheit vor der gegenwärtigen Praxis geschützt wird oder die gegebene Praxis vor dem Ideal der Freiheit, wird die geschichtlich gefasste Differenz von liberaler Praxis und liberalem Ideal in den beiden von Hegel vorgezeichneten, sich wechselseitig stabilisierenden Positionen und dessen endgeschichtlicher Konstruktion gebunden, ohne sich der endgeschichtlichen Problematik stellen zu müssen. Wenn Fukuyama die mit dem Datum 1989 verbundenen Ereignisse dagegen nicht nur als ein fortschreitendes „Ausgreifen der Moderne“70 betrachtet, sondern als einen historischen Beweis dafür ansieht, dass „aufgrund der doppelten Krise des autoritären Regierungssystems und der zentralen Planwirtschaft nur noch ein politisches Modell mit universalem Anspruch übrig geblieben“ ist,71 dann registriert er mit dieser endgeschichtlichen Diagnose sehr genau, dass das übrig gebliebene Modell der liberalen Demokratie gerade aufgrund seiner Universalisierung einer zunehmenden Gefahr ausgesetzt ist, die aus dem Wegfall eines stabilisierenden Außen resultiert, gegen das sich das liberale Ideal bislang aufrichten konnte.72 Während für Kojève der „hegelianisch-marxistisch“ entzifferte Wunsch der Moderne nach einem vollständigen Selbstgenuss aller Menschen zwangsläufig in einen Weltstaat einmünden muss, ist es für Fukuyama keine Frage, dass 70 71 72

Habermas: Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf (Anm. 69), S. 220. Fukuyama: Das Ende der Geschichte (Anm. 2), S. 79. Vgl. auch Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt/M. 2006, S. 315–356 (hier: S. 354), der es für nötig hält, die „post-kommunistischen Konstellation“ durch ein „hygienisches Programm“ zu ergänzen, mit dem die „Erfolgsgeschichte“ des „liberalen englischen Bürgertums“ abgesichert und das sich im „Parallelogramm der elitären und egalitären Kräfte“ vollziehende „Abenteuer der Moral“ psychotechnischen „Balanceübungen“ zugeführt werden soll.

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die damit verbundene Entpolitisierung die entscheidende Quelle der Selbstgefährdung einer auf universaler Anerkennung basierenden Ordnung darstellt: „Was wird geschehen, wenn eines Tages überall auf der Welt Demokratien bestehen und es keine Tyrannei und keine Unterdrückung mehr gibt, gegen die es sich zu kämpfen lohnt? Die Erfahrung lehrt, daß Menschen, die für die gerechte Sache nicht mehr kämpfen können, weil diese bereits in einer früheren Generation gesiegt hat, gegen die gerechte Sache kämpfen. Sie kämpfen um des Kampfes willen.“73 In dem Moment, in dem sich der moderne Wunsch nach einer vollständigen Übersetzung des Begehrens in ein ungefährliches Genießen zu erfüllen scheint, resultiert die Gefahr aus der Einlösung dieses Versprechens, sodass die Unzufriedenheit ausgerechnet dort entsteht, „wo die Demokratie am vollständigsten triumphiert hat“.74 Die entscheidende Korrektur, die Fukuyama am Programm des Liberalismus vornimmt, besteht in der Einsicht, dass es kein ungefährliches Genießen gibt. – Während sich der Lernprozess des „gebenden Kapitalismus“ für Kojève aus der Notwendigkeit ergab, die Produzenten in die Lage zu versetzen, ihr eigenes Produkt auch wieder konsumieren zu können, sodass sich die „wirkliche Welt im ganzen“ mittels der Regulation durch einen Universalstaat in einen geschlossenen Kreislauf von Produktion und Konsumtion überführen lässt, wird der Lernprozess des „modernen Liberalismus“ für Fukuyama dadurch in Gang gehalten, dass sich die Menschen ihre Wünsche nicht von einem „gebenden Kapitalismus“ vorzeichnen lassen wollen. Die „Wunschrevolution“, die Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem Buch Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie (1972) gefordert haben und deren Programmatik darauf abzielt, dass jeder in der Lage sein soll, zu einem „Produzentenverbraucher“ und damit zur eigenen Instanz seiner Wünsche zu werden,75 ist für Fukuyama im „Postfordismus“ eingelöst worden. Im Gegensatz zu Kojève, der den „Neo-Marxisten“ und ihrer „gefährlichen“ Interpretation einigermaßen ratlos gegenüber stand, versteht Fukuyama seine Korrektur am Programm des Liberalismus als eine Antwort auf die „Ereignisse im Mai 1968 in Paris“ und deren politisch-ökonomische Bedeutung. Denn die Konsequenz, die Fukuyama aus diesen Ereignissen zieht, betrifft nicht nur die ökonomische Seite der Wunscherfüllung, sondern ebenso deren politische. Um die Menschen auf Dauer zu befriedigen, reicht es nicht aus, dass die Konsumenten als „Produzentenverbraucher“ zur eigenen Instanz ihrer Wünsche werden, sondern man muss sie auch davon abhalten, auf die Leere dieser selbst entzifferten Wünsche zu stoßen. Weil sich die liberale Demokratie ansonsten einem „nihilistischen Krieg“ aussetzen könnte, der von „ihren eigenen Kindern“ gegen sie geführt wird,76 muss auch in der posthistorischen Welt noch die Möglichkeit gegeben sein, sein Leben als Beweis der eigenen Freiheit aufs Spiel zu setzen. Um die dauerhafte Existenz der liberalen Demokratie zu sichern, muss man den „eigenen Kindern“ nicht nur ein un73 74 75

76

Fukuyama: Das Ende der Geschichte (Anm. 2), S. 435. Ebd. S. 441. Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, übers. v. Bernd Schwips, Frankfurt/M. 1974, S. 497–521 (hier: S. 513), die vor dem Hintergrund eines „offensichtlich siegreichen Kapitalismus“ ihre „programmatische Bilanz für Wunschmaschinen“ im Gegensatz zur marxistischen Idee eines „Kollektiveigentums an Produktionsmitteln“ ausformuliert haben. Vgl. auch Friedrich Balke: Gilles Deleuze, Frankfurt/M./New York 1998, S. 128–134. Fukuyama: Das Ende der Geschichte (Anm. 2), S. 438.

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gefährliches, sondern darüber hinaus auch ein gefährliches Genießen ermöglichen, mit dem das posthistorische „Fehlen von Kampf und Opfer“ kompensiert wird.77 Dass selbst nach der mit dem Datum 1989 verbundenen „weltweiten liberalen Revolution“ noch eine Mission der Freiheit von der posthistorischen Welt ausgehen muss, weil diese ansonsten der Gefahr ausgesetzt ist, sich selbst aufzuzehren, bedeutet daher letztlich, dass der moderne Liberalismus zu keiner Zeit ein globaler sein kann. Die endgeschichtliche Diagnose ist damit bei Fukuyama im Unterschied zu Kojève zugleich das Eingeständnis, dass das Projekt der Universalisierung insofern uneinlösbar ist und dennoch fortgeführt werden muss, als es von nun an nur noch der inneren Stabilisierung der posthistorischen Welt dient. Damit sich auch nach der Entzifferung des modernen Wunsches nach einem vollständigen Selbstgenuss noch an diesem Wunsch festhalten lässt, muss man die Gefahr der Selbstzerstörung, die mit der Erfüllung dieses Wunsches einhergeht, einem unaufhebbaren Außen zuführen. Dieses Außen besteht in einer weiterhin gegebenen Welt der historischen Kämpfe, deren Ausgang jedoch das eingetretene Ende der Geschichte nicht mehr berühren kann. Gerade in dem Augenblick, in dem mit dem Untergang der Sowjetunion das letzte Hindernis eines globalen Liberalismus beiseite geräumt ist, muss eine Bedrohung an die Stelle dieses Hindernisses treten, die sich im Unterschied dazu als permanent und somit als unaufhebbar erweist. Von dieser Bedrohung muss man nichts anderes wissen, als dass es sich um eine Bedrohung handelt. Denn während die Spaltung der Welt in zwei symmetrische Blockmächte eine Konkurrenzsituation darstellte, bei der aus der Sicht Fukuyamas zwei verschiedene Antworten auf das von Hegel der Zukunft aufgetragene Problem der Freiheit im Wettstreit lagen, handelt es sich bei der Spaltung der Welt in eine posthistorische und in eine historische nicht mehr um eine Konkurrenzsituation, sondern um die Lösung dieses Problems. – Was Fukuyama nämlich im Unterschied sowohl zum progressiven als auch zum konservativen Aufschub des Endes, die sich beide im modernen Paradigma der Geschichtsphilosophie bewegen, letztlich verewigt, ist mit der Differenz zwischen einer posthistorischen und einer historischen Welt die postmoderne Bilanz, dass niemals alle Menschen in der liberalen Demokratie ankommen werden. Zum Abschluss seines Buches kommt Fukuyama daher noch einmal auf Aristoteles zu sprechen und stellt versuchsweise die Hypothese eines zyklischen Verlaufs der Geschichte auf, bei dem eine „Gesellschaft von letzten Menschen“ im Sinne von Friedrich Nietzsche einer „Gesellschaft animalischer erster Menschen wird weichen müssen, deren einziges Ziel die Anerkennung ist, und umgekehrt, in endloser Folge“.78 Jenseits der Geschichte und dem modernen Projekt einer Universalisierung der Freiheit bleibt somit nur noch ein Historismus antagonistischer Kämpfe übrig,79 der nicht mehr im Namen einer teleologischen Geschichte stattfindet, weil ihm keine List der Ver77

78 79

Vgl. dazu Guy-Ernest Debord: Die Gesellschaft des Spektakels (1967), übers. v. Jean-Jacques Raspaud, Berlin 1996, S. 133–142, der den Verzicht auf die Möglichkeit, „sein Leben auszugeben“, als eine „Bildwerdung“ der Gesellschaft beschrieben hat, insofern mit der „gesellschaftlichen Abwesenheit des Todes“ auch eine „gesellschaftliche Abwesenheit des Lebens“ einhergehe. Fukuyama: Das Ende der Geschichte (Anm. 2), S. 441. Zur Programmatik eines solchen „Historismus“ vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, übers. v. Michaela Ott, Frankfurt/M. 2001, S. 205–207, in dessen Schriften zur „Ästhetik der Existenz“ man die Frage nach der „japanischen“ Lebensweise bei Kojève wiedererkennen kann.

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nunft und kein Endzweck mehr abgelesen werden kann. Obwohl Fukuyama auf das von Kojève unter dem Stichwort einer „Japanisierung“ aufgeworfene Problem nur beiläufig eingeht, hat der Kampf, der auch nach dem diagnostizierten Ende der Geschichte noch geführt wird, mehr mit diesem Problem zu tun, als sich Fukuyama einzugestehen bereit ist. Denn unabhängig davon, ob sich die Protagonisten dieses Kampfes selbst als rechts oder links verstehen,80 besteht ihre Einigkeit darin, dass es sich um einen von allem „humanen Inhalt“ gereinigten Kampf handelt.

80

Vgl. dazu Shadia B. Drury: Alexandre Kojève. The Roots of Postmodern Politics, New York 1994, S. 201–212 (hier: S. 206), die im Hinblick auf den Bruch zwischen der traditionellen und der postmodernen Linken argumentiert: „Foucault’s primary objection to disciplinary power is that it is so unobtrusive that it robs man of the opportunity for heroic transgression and revolt.“

Zweiter Teil: Politische Ökonomie/ Politische Ökologie

VII Das Werden der Unschuld (Nietzsche)

In seiner Abhandlung Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) hat Friedrich Wilhelm Joseph Schelling dem philosophischen Komplex der Theodizee einen entscheidenden Aspekt hinzugefügt, dessen Ausformulierung sich als eine Reaktion auf die traumatische Erfahrung einer leeren Freiheit im Kontext der Französischen Revolution verstehen lässt.1 Das theoretische Ziel der Abhandlung besteht darin, das Böse nicht mehr bloß als einen „Mangel des Guten“, sondern als eine „positive Möglichkeit“ zu denken, der eine eigenständige ontologische Dimension zugesprochen werden muss.2 Ausgangspunkt der Abhandlung ist zunächst die kritische Feststellung, dass die „neueuropäische Philosophie“ keinen wirksamen Begriff hat, um die vorgängige Kreatürlichkeit des Menschen zu fassen, der sich seit René Descartes entlang seiner Selbstidentität zu definieren können glaubt: „Die ganze neueuropäische Philosophie seit ihrem Beginn (durch Descartes) hat diesen gemeinschaftlichen Mangel, daß die Natur für sie nicht vorhanden ist, und daß es ihr am lebendigen Grunde fehlt.“3 Der Begriff des Werdens, den Schelling auf diesen Befund hin ins Spiel bringt, soll die philosophische Frage nach der Möglichkeit des Bösen insofern zu beantworten helfen, als er der „einzige der Natur der Dinge angemessene“ ist.4 Weil selbst dann, wenn die „Existenz“ des Menschen durch die theoretische Szene des cogito gesichert zu sein scheint, sich diese Existenz noch einem „Grund“ zu verdanken hat, der zu keiner Zeit mit der Existenz zusammenfallen kann, lässt sich nach Schelling der Komplex der Theodizee nur im Rahmen einer „wahren Naturphilosophie“ behandeln, die diesen Un1

2 3 4

Zum historischen Verständnis der Französischen Revolution als kollektive Erfahrung eines Traumas vgl. Leander Scholz: Der leere Signifikant und das Gesetz der Freiheit: Joachim Ritter, Jürgen Habermas und das Trauma der Französischen Revolution, in: Claas Morgenroth/Martin Stingelin/ Matthias Thiele (Hg.): Die Schreibszene als politische Szene, München 2012, S. 97–108. Vgl. dazu die ausführliche Analyse bei Martin Heidegger: Schellings Abhandlung ‚Über das Wesen der menschlichen Freiheit‘ (1809), Tübingen 1979, S. 167–188. F. W. J. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, hg. v. Horst Fuhrmans, Stuttgart 1983, S. 68 (355/356). Ebd. S. 71 (358/359).

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terschied zu bedenken und daher der „hier stattfindenden Aufgabe vollkommen Genüge“ zu tun vermag.5 Während „Gott“ den „Grund seiner Existenz in sich selbst hat“, soll der Begriff des Werdens die Spanne zwischen dem „dunklen Grund“ und der menschlich gefassten „Sehnsucht, die das ewige Eine empfindet, sich selbst zu gebären“, beschreiben können: „Der Mensch wird im Mutterleibe gebildet; und aus dem Dunkel des Verstandlosen (aus Gefühl, Sehnsucht, der herrlichen Mutter der Erkenntnis) erwachsen erst die lichten Gedanken.“6 Obwohl aus der Perspektive einer „ewigen Tat der Selbstoffenbarung“ die Welt vielleicht als regelhaft und geordnet erscheinen mag, resistiert „an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität“ und damit ein „nie aufgehender Rest“,7 der sich selbst „mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt“.8 Während Schelling in seiner grundlegenden Schrift System des transzendentalen Idealismus (1800) diese unaufhebbare Differenz zwischen dem „Ich bin“ und dem „Es gibt“ einer „transzendentalen Kunst“ zuführt, die den „NaturPhilosophen“ mit der „Transzendental-Philosophie“ unter dem gemeinsamen Titel eines „Real-Idealismus“ vereinigen soll, scheint mit der Frage nach dem Ursprung des Bösen ein Reales aufzutauchen, das sich nicht mehr in die so erzeugte „Duplizität des Handelns und des Denkens“ einfügt.9 Denn diese Duplizität der „transzendentalen Betrachtungsart“, mit der Schelling auch das, „was in allem andern Denken, Wissen und Handeln das Bewußtsein flieht, und absolut nicht-objektiv ist“, mittels eines „beständig sich-selbst-Objekt-werden des Subjektiven“ zum Bewusstsein bringen will,10 wird nicht von der stets gegebenen Differenz zwischen Grund und Existenz bedroht, sondern geradezu im Gegenteil von einer „zum Selbstsein erhobenen Endlichkeit“.11 Was den als transzendentales System gefassten Kreislauf des Werdens zwischen der Unendlichkeit des Grundes und der Endlichkeit der Existenz unterbricht, ist eine sich selbst behauptende Endlichkeit, die keinen Grund mehr außerhalb ihrer selbst zu kennen glaubt. – Würde man die „transzendentale Kunst“ in die psychoanalytische Terminologie Jacques Lacans übersetzen, müsste der Grund sowohl das vorgängige Reale einer symbolischen Ordnung bezeichnen, das sich niemals vollständig innerhalb dieser Ordnung symbolisieren lässt, als auch das als ein nachträglicher Effekt der symbolischen Ordnung auftauchende Reale, das gerade aufgrund seines Entzugs dieser Ordnung angehört. Im Kreislauf des Werdens bestimmt nicht nur die Unendlichkeit des Grundes die Endlichkeit der Existenz, sondern ebenso umgekehrt kann die Unendlichkeit des Grundes nur im Rahmen einer „Selbstoffenbarung“ der Existenz als solche in Erscheinung treten. Eine „zum Selbst5 6 7

8 9 10 11

Ebd. S. 69 (356/357). Ebd. S. 73 (360). Vgl. dazu Slavoj Žižek: Der nie aufgehende Rest. Ein Versuch über Schelling und die damit zusammenhängenden Gegenstände, übers. v. Erik M. Vogt, Wien 1996, S. 16, der bei Schelling einen der ersten Versuche gegeben sieht, die „dunkle Unterwelt der vorsymbolischen Triebe“ zu denken: „[...] – wo er jedoch wieder und wieder scheitert, ist in seiner Rückkehr von diesem ‚dunklen Kontinent‘ zu unserem gemeinsamen Sprachuniversum.“ Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Anm. 3), S. 72 (359/360). F. W. J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus, hg. v. Ruth-Eva Schulz, Hamburg 1957, § 2, S. 13. Ebd. § 2, S. 13. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Anm. 3), S. 85 (370/371).

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sein erhobene Endlichkeit“ fügt sich diesem Kreislauf nicht mehr ein, weil damit die fundamentale Vorstellung in Frage gestellt ist, dass jede symbolische Ordnung auf einem ursprünglichen Mangel beruht. Denn wenn Schelling das Böse nicht mehr entlang eines Mangels des Guten zu fassen versucht, sondern als eine positive Möglichkeit versteht, bedeutet das umgekehrt, dass das Böse darin besteht, in keinem ursprünglichen Verhältnis zu einem Mangel zu stehen: „Das Böse kommt nicht aus der Endlichkeit an sich, sondern aus der zum Selbstsein erhobenen Endlichkeit.“12 Auch wenn man wie Jacques Derrida und eine ganze Reihe von Denkern der Meinung ist,13 dass Schelling hinsichtlich der „Erfahrung des Andern“14 sehr weit vorgedrungen sei, so geht es in seiner Abhandlung über das Böse darum, die vom „Universalwillen“ ermöglichte Gemeinschaft in einem strikten Schuldverhältnis zu situieren, dem die Möglichkeit des Bösen als eine vollständige Entfernung des „Partikularwillens“ von diesem Schuldverhältnis entgegensteht. In dem Moment, in dem das „finstere Prinzip der Selbstheit und des Eigenwillens“ nicht mehr durch das „Band der Kräfte“ gebunden ist, wird aus der Selbstheit ein „Feind der Kreatur“, der allein sich selbst verpflichtet ist: „Die allgemeine Möglichkeit des Bösen besteht, wie gezeigt, darin, daß der Mensch seine Selbstheit, anstatt sie zur Basis, zum Organ zu machen, vielmehr zum Herrschenden und Allwillen zu erheben, dagegen das Geistige in sich zum Mittel zu machen streben kann.“15 Was Schelling an diesem Phänomen des Bösen so sehr beunruhigt, ist der historische Umstand, dass sich die Möglichkeit einer Entfernung vom „Band der Kräfte“ ausgerechnet derjenigen „Lehre der Freiheit“ zu verdanken scheint, die der Deutsche Idealismus auf den „ersten vollkommenen Begriff“ gebracht hat. – Um das Zustandekommen dieser abgründigen Möglichkeit der Freiheit zu klären, unterscheidet Schelling seinen Zugang zur Frage der Theodizee zunächst von den tradierten Fassungen. Am weitesten entfernt davon ist die „Platonische Ansicht“, weil es für Platon überhaupt kein Böses im strikten Sinne geben kann: „Jenen zufolge liegt der einzige Grund des Bösen in der Sinnlichkeit oder in der Animalität, oder in dem irdischen Prinzip, indem sie dem Himmel nicht, wie sich gebührte, die Hölle, sondern die Erde entgegensetzen. Diese Vorstellung ist eine natürliche Folge der Lehre, nach welcher die Freiheit in der bloßen Herrschaft des intelligenten Prinzips über die sinnlichen Begierden und Neigungen besteht und das Gute aus reiner Vernunft kommt, wonach es begreiflicherweise für das Böse keine Freiheit gibt [...].“16 Aus dieser Perspektive kann es gar keine Eigenständigkeit des Bösen geben, weil dessen Grund lediglich in der „Schwäche oder Nichtwirksamkeit“ des „Guten aus reiner Vernunft“ besteht. Das Böse kann demnach niemals aus freier Überzeugung, sondern nur aus einem „Grund des Mangels guter und tugendhafter Handlungen“ heraus geschehen. Für Platon ist das Böse dem Guten 12 13

14 15 16

Ebd. S. 85 (370/371). Zur Schelling-Rezeption im 20. Jahrhundert vor allem durch die Existenzphilosophie vgl. Markus Gabriel: Der Mensch im Mythos: Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings ‚Philosophie der Mythologie‘, Berlin 2006, S. 10ff. Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt/M. 1989, S. 232. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Anm. 3), S. 107 (389/390). Ebd. S. 86 (371/372).

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nicht beigeordnet, sondern untergeordnet, weil es selbst nichts anderes als der Mangel des Guten sein kann. Aber gerade das kann die „Begeisterung des Bösen“ nicht erklären: „Denn schon die einfache Überlegung, daß es der Mensch, die vollkommenste aller sichtbaren Kreaturen ist, der des Bösen allein fähig ist, zeigt, daß der Grund desselben keineswegs in Mangel oder Beraubung liegen kann. Der Teufel nach der christlichen Ansicht war nicht die limitierteste Kreatur, sondern vielmehr die illimitierteste.“17 Bei allen Antworten jedoch, die sich nicht auf eine ursprünglich dualistische Erklärung einlassen wollen, auch bei der von Augustinus,18 wird das Böse stets als eine „bloße Privation“19 aufgefasst und damit in die „Platonische Ansicht“ eingetragen. Insbesondere in Auseinandersetzung mit Gottfried Wilhelm Leibniz’ Schrift Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710) ist Schelling bemüht zu zeigen, dass das „sogenannte malum metaphysicum“, bei dem an der vormaligen Stelle der „Materie der Alten“ die Limitiertheit der Welt nun aus dem Schöpfungsvorgang abgeleitet wird, die Problematik des Bösen vollständig verfehlen muss. Dass Gott der Kreatur „nicht alles geben“ konnte, „ohne sie zum Gott zu machen“,20 wie es bei Leibniz heißt, bedeutet für Schelling letztlich, dass das Böse, „was aus jenem lediglich idealen Grunde abstammen kann, dagegen auch wieder auf etwas bloß Passives, auf Einschränkung, Mangel, Beraubung“ hinausläuft, „Begriffe, die der eigentlichen Natur des Bösen völlig widerstreiten“.21 In allen diesen Fällen wird das Böse durch eine Einschränkung definiert, die prinzipiell alle Menschen teilen, die aber bei einigen Menschen besonders ausgeprägt ist, weil ihnen der „Mangel des Weiterstrebens“ anhaftet. Die Privation des Bösen besteht demnach darin, dass man sich nicht genug anstrengt, dem immer gegebenen Übel der Endlichkeit soweit als möglich zu begegnen und sich zu vervollkommnen. Böse ist derjenige, der sich gehen lässt und von der in ihrer Unvollkommenheit zugleich vollkommenen Schöpfung soweit absondert, dass er selbst zur Verkörperung allein der Unvollkommenheit wird. Schellings Definition hingegen nimmt nicht einfach die Endlichkeit zum Ausgangspunkt, sondern geradezu gegenteilig die Abwesenheit des Mangels: „Der Mensch bekommt die Bedingung nie in seine Gewalt, obgleich er im Bösen danach strebt; sie ist 17 18

19 20

21

Ebd. S. 83 (368/369). Zur Interpretation der paradoxen Gleichzeitigkeit von Freiheits- und Prädestinationslehre bei Augustinus als gescheiterte Antwort auf den „gnostischen Dualismus“ vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Erneuerte Ausgabe, Frankfurt/M. 1999, S. 137–149 (hier: S. 148): „Der gnostische Dualismus war für das metaphysische Weltprinzip beseitigt, aber lebte im Schoße der Menschheit und ihrer Geschichte als absolute Sonderung von Berufenen und Verworfenen weiter.“ Zur Logik der Prädestinationslehre vgl. ausführlich Kurt Flasch: Logik des Schreckens, in: Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo: Die Gnadenlehre von 397, Lateinisch-Deutsch, übers. v. Walter Schäfer, hg. v. Kurt Flasch, Mainz 1995, S. 19–138. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Anm. 3), S. 83 (368/369). Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, übers. v. Arthur Buchenau, Hamburg 1994, Erster Teil, Nr. 31, S. 112. Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund der Theodizee-Problematik bei Leibniz vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt/M. 1988, S. 61–72. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Anm. 3), S. 82f (367/368).

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ihm nur eine geliehene, von ihm unabhängige; daher sich seine Persönlichkeit nie zum vollkommenen Aktus erheben kann.“22 Nicht in der Endlichkeit, die einen davon abhält, sich selbst in seine Gewalt zu bekommen, ist der Ursprung des Bösen zu finden, sondern in einer Selbstpräsenz, die keinen Mangel kennt. Während die „allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit“ eine Ökonomie des Ineinander von Freude und Leid in Gang setzt, ist dagegen der Böse keineswegs von der „tiefen unzerstörlichen Melancholie allen Lebens“ durchdrungen.23 Weil sich seine Selbstheit vollständig losgerissen hat vom Universalwillen, empfindet der Böse auch keine Trauer über seine Endlichkeit. Da die Endlichkeit seiner Existenz keinen Mangel darstellt, kann er folglich auch in keinem Schuldverhältnis zur Unendlichkeit des Grundes stehen. Deshalb hat der Böse ein weitaus tieferes Wissen über die Freiheit, als ihm das jede Theorie des Bösen bislang zugetraut hat. – Es ist sicher kein Zufall, dass dieser deutlich neuartige Aspekt der Theodizee in dem historischen Moment auftaucht, in dem sich die Philosophie des Deutschen Idealismus rühmt, das Reale ausschließlich in der menschlichen Freiheit situieren zu können. So formuliert Johann Gottlieb Fichte bündig in seiner Schrift Die Bestimmung des Menschen (1800): „Verhalte es sich indes mit der Realität einer Sinnenwelt außer mir wie es wolle: Realität habe ich, und fasse ich: sie liegt in mir, und ist in mir selbst einheimisch.“24 Es ist die Botschaft dieser radikalen Erlösung, die das Böse dem Guten nicht mehr unterordnet, sondern vielmehr beiordnet und damit beide unauflöslich ineinander zu verflechten droht: „Und mit dieser Einsicht, Sterblicher, sei frei, und auf ewig erlöst von der Furcht, die dich erniedrigte und quälte. Du wirst nun nicht länger vor einer Notwendigkeit zittern, die nur in deinem Denken ist, nicht länger fürchten von Dingen unterdrückt zu werden, die deine eigenen Produkte sind, nicht länger dich, das Denkende, mit dem aus dir selbst hervorgehenden Gedachten, in Eine Klasse setzen.“25 Die damit einhergehende Prämierung einer „reellen Tatkraft“ lebt von der Einlösbarkeit des Versprechens, in absehbarer Zeit einen „wahren Staat“ errichten zu können, in dem sich die Menschen die Realität ihrer eigenen Freiheit vollends aneignen können: „In diesem einzig wahren Staate wird überhaupt alle Versuchung zum Bösen, ja sogar die Möglichkeit, vernünftigerweise eine böse Handlung zu beschließen, rein abgeschnitten sein, und es wird dem Menschen so nahe gelegt werden, als es ihm gelegt werden kann, seinen Willen auf das Gute zu richten.“26 – Entgegen diesem sich selbst schließenden Kreislauf des Werdens, bei dem der Grund für den „Gebrauch der Freiheit zum Bösen“ zuletzt „aufgehoben“ sein soll,27 bringt Schelling seinen entscheidenden Aspekt des Bösen dadurch zur Geltung, dass er diesen nicht als der „reellen Tatkraft“ entgegenstehend betrachtet, sondern schon in dem Wunsch vorfindet, der mit der Aneignung der eige22 23 24 25 26 27

Ebd. S. 119 (399/400). Ebd. S. 119 (399/400). Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen, hg. v. Theodor Ballauff u. Ignaz Klein, Stuttgart 1981, S. 108 (A 186/187). Ebd. S. 94 (A 161/162). Ebd. S. 139 (A 242/243). Zu der damit bei Fichte zusammenhängenden „Folge der fortwährend veränderten Systemgestalten“ vgl. Peter Baumanns: J. G. Fichte. Kritische Gesamtdarstellung seiner Philosophie, Freiburg/ München 1990, der im Spätwerk die Tendenz vorherrschen sieht, „das Prinzip Freiheit zugunsten der ‚göttlichen Weltregierung‘ mehr und mehr zurücktreten zu lassen“ (S. 449).

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nen Freiheit verbunden ist. Weil das Versprechen der Freiheit von der Vorstellung lebt, zuletzt alles „dem Guten“ zuführen zu können, ist die Tatkraft der sich von jeder vorab gegebenen Bindung emanzipierenden Menschen von dem Verlangen geprägt, zu eben jener Ganzheit zurückzukehren, von der sie sich emanzipiert haben: „Denn es bleibt auch dem aus dem Centro gewichenen [Menschen] immer noch das Gefühl, daß er alle Dinge gewesen ist, nämlich in und mit Gott; darum strebt er wieder dahin, aber für sich, nicht wo er sein könnte, nämlich in Gott.“28 Während das Böse bislang als ein Mangel aufgefasst wurde, resultiert es nun aus dem Versuch, „für sich“ das Ganze zu sein. Der Böse ist derjenige, der die „allgemeine Notwendigkeit der Sünde und des Todes“ als unvermeidlichen Tribut an den Umstand, dass er sich nicht selbst geboren hat, zu akzeptieren nicht mehr bereit ist: „Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß es kreatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band der Kreatürlichkeit vernichtet, und aus Übermut, alles zu sein, ins Nichtsein fällt.“29 Aufgrund dieser Diagnose einer Gefahr, die nicht mehr aus einer gegebenen Unfreiheit, sondern aus der erfolgreichen Distribution von Freiheit erwächst,30 ist es für Schelling nötig, den „bloß formellen Begriff der Freiheit“ um eine Dimension des Schreckens zu erweitern, die diesen als in sich gespalten erscheinen lässt: „Der reale und lebendige Begriff aber ist, daß sie [die Freiheit] ein Vermögen des Guten und des Bösen ist.“31

1.

Die Austreibung des Jenseits

Nur bei wenigen Philosophen wird man eine derart starke Aufwertung des Lebensbegriffs finden, die zugleich mit einer bis hin zur Ignoranz gesteigerten Abwertung des Todes einhergeht, wie bei Friedrich Nietzsche. Und vielleicht kann man sagen, dass sich kein anderer Philosoph einer derart obsessiven Auslotung derjenigen Paradoxien verschrieben hat, die dem Versuch anhaften, ganz „für sich“ zu sein. Was bei Schelling als das Böse einer Vereinzelung erscheint, die sich von jedem Schuldverhältnis abgeschnitten hat, ist für Nietzsche ein Gegenstand der Faszination, die sich auch in einer theoretischen Erhöhung der Figur des Verbrechers ausdrückt.32 Mit dieser Faszination geht die grundsätzliche Vorstellung einer Unschuld desjenigen Werdens einher, das die Entstehung eines „souverainen Individuums“33 möglich gemacht hat und sich daher nicht mehr in moralischen Kategorien beschreiben lässt. Dass der starke Titel der Souveränität einem auf den ersten Blick unwürdigen Akteur des Politischen wie dem Individuum zukommen soll, setzt einen fundamentalen Abbau aller anderen Autoritäten der Erzeugung 28 29 30

31 32 33

Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Anm. 3), S. 108 (390/391). Ebd. S. 109 (390/391). Zu den politisch-romantischen Projekten einer „Neuen Mythologie“, die das dadurch entstandene „Problem der Entfremdung von Staat und Gesellschaft“ eindämmen sollen, vgl. Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/M. 1982, S. 188–216. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Anm. 3), S. 64 (352/353). Vgl. Friedrich Balke: Die Figuren des Verbrechers in Nietzsches Biopolitik, in: Nietzsche-Studien, hg. v. Günter Abel, Josef Simon u. Werner Stegmaier, Bd. 32, Berlin/New York 2003, S. 171–205. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 293.

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von Gemeinschaft voraus. Während die Eigenliebe in den maßgeblichen politischen Philosophien im Unterschied zur Selbstliebe bislang überwiegend als äußerst problematisch im Hinblick auf die dauerhafte Synthesis des Sozialen eingestuft wurde, scheint mit dem selbstbewussten Auftritt eines ganz für sich seienden Individuums als einer möglichen Instanz von Souveränität auch eine vollkommen neue Verwaltung der Grenze von Leben und Tod nötig zu werden. – In seinem Buch Der Einzige und sein Eigentum (1844) hat Max Stirner, auf den Nietzsche an zentraler Stelle seines Werkes zu rekurrieren scheint,34 den Auftritt des „Egoisten“ in der gleichzeitigen Zurückweisung aller anderen Autoritäten nachhaltig in Szene gesetzt: „Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlands; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein.“35 Obwohl der Autor dieser Programmatik meistens dem Kreis der Jung-Hegelianer zugerechnet wird, hat sich Max Stirner, der auch eine Übersetzung von Adam Smith’s An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) angefertigt hat, in diesem Buch vor allem das Ziel gesetzt, sowohl dem „politischen“ als auch dem „sozialen Liberalismus“ seinen metaphysischen „Himmel“ auszutreiben: „Das Jenseits außer Uns ist allerdings weggefegt, und das große Unternehmen der Aufklärung vollbracht; allein das Jenseits in Uns ist ein neuer Himmel geworden und ruft Uns zu erneutem Himmelsstürmen auf: der Gott hat Platz machen müssen, aber nicht Uns, sondern – dem Menschen. Wie mögt Ihr glauben, daß der Gottmensch gestorben sei, ehe an ihm außer dem Gott auch der Mensch gestorben ist?“36 Für Stirner endet die geschichtliche Übertragung der Kategorie der Ganzheit von „Gott“ auf den „Menschen“ nicht mit dem „großen Unternehmen der Aufklärung“, dessen abgeschlossene Begrifflichkeit lediglich noch die Frage ihrer gelungenen politischen Praxis aufwirft. Sondern ganz am Ende dieser langen Übertragungskette steht ein unbestimmter Ort, von dem aus eine Stimme für uns fordern kann, sich selbst „Alles in Allem“ sein zu wollen. Das Ich dieser Stimme ist kein Subjekt mehr, das sich selbst aufschieben muss, um in diesem Aufschub seine eigene Selbstidentität erfahren zu können. Weil jede Form einer Selbstgehorsamkeit nichts anderes als ein „Jenseits in Uns“ wäre, bei der sich das Selbst nicht alles sein könnte, kann sich dieses Ich nur in seiner eigenen Forderung präsent sein. Weder erscheint dieses Ich als Träger eines Gesetzes, noch bezieht es seine Personalität aus einem ihm vorgängigen Kollektiv, durch das es erst als solches eingesetzt wird.37 Der Kreislauf des Werdens, in den sich dieses Ich als 34

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Zur kritischen Diskussion dieses Bezugs vgl. Johann-Christoph Emmelius: „Ich hab’ mein Sach’ auf nichts gestellt.“: Zu Herkunft, Funktion und Vorgeschichte eines Zitats in Franz Overbecks Brief an Friedrich Nietzsche vom 15. April 1883, in: Nietzsche-Studien, hg. v. Günter Abel, Josef Simon u. Werner Stegmaier, Bd. 33, Berlin/New York 2004, S. 306–334. Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, hg. v. Ahlrich Meyer, Stuttgart 1991, S. 3. Ebd. S. 170. Vgl. dazu das Kapitel Stirner and The Politics of the Ego bei Saul Newman: From Bakunin to Lacan: Anti-Authoritarianism and the Dislocation of Power, Oxford 2001, S. 55–74 (hier: S. 50), der, inspiriert durch die Theorie des Politischen von Ernesto Laclau, bei Max Stirner den theoretischen Ansatz eines „war model“ des Sozialen rekonstruiert: „The war model sees social relations as characterized by constant antagonism, rift, and dislocation. However, one does not

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„Eigner“ seiner selbst einzuschließen vermag, ist dem von Schelling in allen Punkten entgegensetzt: „Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigartigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewußtseins. Stell’ Ich mich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich darf sagen: Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt.“38 – Von der Ausschließlichkeit eines „schöpferischen Nichts“ im Ich, um das sich der gesamte Kreislauf von Geburt und Tod jetzt anordnet, gibt es keine Linien mehr zu einer Gemeinschaft, deren übergeordnete Perspektive sich einnehmen ließe. Das Attribut des Nichts, das in der kulturellen Tradition des Christentums unter der metaphysischen Formel von der creatio ex nihilo ein göttliches Privileg darstellte, um dessen Aneignung sich die politischen Theorien der Freiheit so sehr bemüht haben, erscheint nun im Zentrum eines absolut einzigartigen Ichs, das für seine Schöpfungsakte auf keine andere Instanz mehr als sich selbst verweisen muss. Im Unterschied zu den idealistischen Begründungsprogrammen lässt sich von dieser Ich-Instanz kein Kollektiv mehr ableiten, dessen ordnungspolitische Grundzüge schon in den transzendentalen Schöpfungsakten angelegt sind: „Wenn Fichte sagt: ‚Das Ich ist Alles‘, so scheint dies mit meinen Aufstellungen vollkommen zu harmonieren. Allein nicht das Ich ist Alles, sondern das Ich zerstört Alles, und nur das sich selbst auflösende Ich, das nie seiende Ich, das – endliche Ich ist wirklich Ich. Fichte spricht vom ‚absoluten‘ Ich, Ich aber spreche von Mir, dem vergänglichen Ich.“39 Für dieses sich in seiner unumgänglichen Besonderheit wahrnehmende Ich liegt jeder mögliche Ursprung einer kollektiven Ordnung zwangsläufig außerhalb seiner selbst. Aus diesem Grund kann das Kollektiv niemals transzendental gegeben sein, sondern nur im Nachhinein entdeckt werden – und zwar im Modus des Konflikts: „Alles bestehende Recht ist – fremdes Recht, ist Recht, welches man Mir ‚gibt‘, Mir ‚widerfahren läßt‘.“40 Besonders deutlich wird der Unterschied zu den transzendentalen Fassungen der Freiheit im Bereich der Erziehung, in deren Zentrum Max Stirner in seinem Aufsatz Das unwahre Princip unserer Erziehung (1842) die selbstschöpferische Kreativität als das einzige einer „freien Person“ angemessene Prinzip gestellt hat.41 Während es für das dialektische Verständnis von Sittlichkeit überhaupt keine Frage ist, dass ein „Hauptmoment“ von Pädagogik darin besteht, den „Eigenwillen des Kindes zu brechen“,42 damit

38 39 40 41 42

use ‚war‘ here in the way Hobbes meant, to describe a state of nature in which individuals are constantly at war with one another. [...] Perhaps society should be seen as an empty place, an unstable, incomplete identity, characterized by constant antagonism, and consequently, open to continual reinterpretation.“ Stirner: Der Einzige und sein Eigentum (Anm. 36), S. 412. Ebd. S. 199. Ebd. S. 204. Zu den Parallelen einer Pädagogik der Willensbildung bei Stirner und Nietzsche vgl. Timo Hoyer: Nietzsche und die Pädagogik: Werk, Biografie und Rezeption, Würzburg 2002, S. 591ff. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke in 20 Bd. auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, Bd. 7, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, S. 327.

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diesem das Allgemeine als seine „eigenste Subjektivität“ erscheinen kann,43 wird der disziplinäre Aufschub eines in das „bloß Sinnliche und Natürliche“ verstrickten Ichs dann unplausibel, wenn es gar kein wahrnehmbares Allgemeines mehr gibt, in das es sich hineinzubilden lohnt. – In dem Moment, in dem das endliche und vergängliche Ich zum Ausgangspunkt seiner selbst wird, kann das Thema der Freiheit nicht mehr in das politische Postulat einer auf Einsichtigkeit und Freiwilligkeit basierenden Unterordnung überführt werden, sondern enthüllt seine grundlegende Dimension eines unauflöslichen Konflikts. Dessen Dramatik setzt allerdings keine Spaltung mehr zwischen empirischem und transzendentalem Subjekt oder aber zwischen einzelnem und allgemeinem Willen in Gang, die sich im Inneren eines mit sich selbst im Streit liegenden Ichs abzuspielen hat, sondern erscheint in ein uneinholbar fremdes Außen verschoben. Wie der Allgemeinwille nur dann in der Lage ist, eine Ganzheit zu repräsentieren, an der alle Einzelwillen partizipieren, wenn er sich von nichts Höherem als von seiner imaginären Zentrierung ableiten kann, so beansprucht jetzt der Einzelwille als erfolgreiche Filiation des vormaligen Allgemeinwillens selbst diese Ganzheit, indem er sich von nichts anderem als von seiner imaginären Zentrierung ableitet. Trotz der deutlichen Unterschiede in der Konzeption eines souveränen Individuums bei Max Stirner und Friedrich Nietzsche findet man die Geste der Austreibung eines „Jenseits in uns“ auf ähnliche Weise auch bei dem Philosophen der „ewigen Wiederkunft“.44 In beiden Fällen richtet sich diese Geste nicht nur gegen religiöse und staatliche Verwaltungen dieses Jenseits der eigenen Endlichkeit, sondern ebenso gegen die in erster Linie von den Jung-Hegelianern entfaltete und etablierte politische Größe des Menschen. In seiner Rede anlässlich des 100. Todestags von Nietzsche hat Peter Sloterdijk anhand dessen Autorschaft einen „anthropologischen Einschnitt“ rekonstruiert, der es möglich machte, dass mit der „individualistischen Welle“, die „seit der Industriellen Revolution und ihren kulturellen Projektionen in der Romantik unaufhaltsam durch die moderne Zivilgesellschaft ging und durch sie zu gehen nicht aufhört“, ein neuer „Menschentypus“ entstehen konnte.45 Demnach besteht die Differenz eines für sich seienden Individuums zu den historisch schon etablierten Konzepten von Individualität darin, dass sich dieser neue „Menschentypus“ entgegen seinen „gesellschaftlichen Voraussetzungen“ individualisiert.46 Das hervorragende Kennzeichen einer solchen Individualität ist nicht allein in ihrer Unaussprechlichkeit zu finden oder etwa in dem emanzipierenden Umstand ihrer Absonderung vom Allgemeinen, bei der das Individuelle stets nur in seinem Entzug erfasst werden kann. Sich gegen seine eigenen Voraussetzungen zu individualisieren, heißt zunächst einmal, überhaupt die Möglichkeit zu haben, sich selbst anders sehen zu können, als einen alle anderen sehen. Das heißt, dass die theatralische Szene, in de43 44 45

46

Ebd. S. 329. Zur kritischen Diskussion um den Einfluss von Stirner auf Nietzsche vgl. Henning Ottmann: Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin 1999, S. 308ff. Peter Sloterdijk: Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes „Evangelium“, Frankfurt/M. 2001, S. 54. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Sloterdijks Nietzsche-Interpretation vgl. Leander Scholz: „Dialektiker-Klarheiten“: Krankheit, Tod und Feindschaft bei Nietzsche, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, Band 3, Jahrgang 2009, Heft 2, S. 249–259. Sloterdijk: Über die Verbesserung der guten Nachricht (Anm. 46), S. 55.

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ren symbolischem Rahmen sich jede Ich-Identität unter dem Blick eines zuschauenden Publikums konstituiert, von der Regie dieser Ich-Identität wiederum als kontrollierbar erfahren werden muss. Sloterdijk hat daher die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die es dem Individuum ermöglichen, sich nicht nur gegenläufig zu den Anforderungen des Kollektivs zu formieren, sondern darüber hinaus sein eigenes Selbstbild von den Blicken der Zuschauer soweit als möglich abzukoppeln, in einer das Individuum immunisierenden Umgebung durch „genug Medien und Entlastungsmittel“ gesehen.47 Um sich in das eigene Selbstbild einschließen zu können, bedarf es einer entsprechenden Kontrolle über die mediale Produktion dieses Selbstbildes. Die entscheidende Tatkraft eines den Titel der Souveränität verdienenden Individuums, wie Nietzsche es unter den Bedingungen einer industrialisierten Gesellschaft entworfen hat, besteht deshalb keineswegs darin, überkommene Aktionsbilder des Heroischen anzurufen und entgegen ihrer schon geleisteten Verabschiedung wieder ins Spiel zu bringen,48 sondern sich in seiner Selbstwahrnehmung zunächst von der Identifikation mit allen anderen auszuschließen. Bevor man die so „eroberte Situation“, wie Nietzsche in einer berühmt gewordenen Passage aus einem Brief an seinen Freund Franz Overbeck vom 30. April 1884 schreibt, „gut nutzen und ausnutzen“ kann, muss man sich in eine Lage bringen, die nur einen selbst und niemand anderen betreffen kann: „[...] ich bin jetzt, mit großer Wahrscheinlichkeit, der unabhängigste Mann in Europa. Meine Ziele und Aufgaben sind umfänglicher als die irgend eines Andern – und das, was ich große Politik nenne, giebt zum Mindesten einen guten Standort und Vogelschau-Blick ab für die gegenwärtigen Dinge.“49 Sieht man von dem konkreten Kontext dieser Passage ab, so wird man im Werk Nietzsches eine ganze Reihe solcher Sätze finden, die eine Situation der absoluten Unvergleichbarkeit induzieren und den dafür zu entrichtenden Preis in einer maßlosen Einsamkeit benennen. Im Gegensatz zu den idealistischen Programmen der Freiheit, bei dem das zugrunde liegende Subjekt eine notwendige Identifikation mit allen anderen eingeht, sodass das empirische Ich stets als eine Abweichung von dieser Identifikation erscheinen muss, besteht die Freiheit des souveränen Individuums darin, diese Abweichung als seinen ureigenen Herkunftsort zu betrachten. Sich diesen Herkunftsort überhaupt als den eigenen aneignen zu können, ist der souveräne Akt, den dieses Individuum zu vollziehen hat und der als medialer Akt im Register des Imaginären anzusiedeln ist, noch bevor es

47 48

49

Ebd. S. 55. Vgl. dazu Heinz Dieter Kittsteiner: Nietzsches ‚souveränes Individuum‘ in seiner ‚plastischen Kraft‘, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, Jahrgang 1993, Heft 2, S. 297–316 (hier: S. 316), dessen Resümee eines Scheiterns bei Nietzsche die Wirksamkeit dieser Souveränität verfehlt, indem er sie auf eine handlungstheoretisch verstandene Tatkraft des Individuums reduziert: „Aus der Kritik am geschichtsphilosophischen Synergismus entsprang kein Wechsel der Problemstellung, sondern – gleichsam in geschichtsphilosophischer Trotzhaltung – nur die Illusion, in einem heroischen Akt doch noch durchzusetzen, woran die Geschichtsphilosophie gescheitert war. Nietzsches ‚souveränes Individuum‘ kann nicht als Anfang eines neuen Nachdenkens über Geschichte gelten.“ Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1986, S. 497.

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um einen daraus resultierenden Handlungsvollzug gehen kann.50 – Das intensive Interesse am Feld des Theatralischen, das Nietzsches gesamte Philosophie durchzieht, ist dieser Problematik einer imaginären Selbstaneignung und Selbststeigerung geschuldet, die nur auf einer Bühne stattfinden kann, bei der alle möglichen Blicke erst einmal zu Blicken von Fremden werden müssen. Denn um die Souveränität über die eigene Selbstinszenierung erlangen zu können, muss man sich in einen selbst gewählten Augenblick seiner Existenz einschließen, den kein anderer einsehen und den man deshalb auch keinem anderen schulden kann.51 Einen solchen Kreislauf des Werdens hat Sloterdijk als ein „totales Sponsoring“ bezeichnet, mit dem Nietzsche sich von allen tradierten Schuldökonomien losgesagt habe: „Was Nietzsche die Unschuld des Werdens nennt, ist wesentlich die Unschuld der Verschwendung und eo ipso die Unschuld der Bereicherung, die um der Möglichkeit von Verausgabung willen gesucht wird.“52 Sich selbst hemmungslos zu loben und gut zu reden, fällt demnach nicht mehr unter das Verdikt der Selbstsucht, um deren soziale Entschärfung es bislang überwiegend den religiösen und staatlichen Mächten ging, sondern stellt nach Sloterdijk den „Ur-Sprung“ in eine „integrale Selbstbejahung“ dar, bei der die sich selbst steigernde Fülle zukünftiger Möglichkeiten von der „Vollendung der Selbstsucht im Selbst-Bild“ permanent angetrieben wird: „Das Thema des 20. Jahrhunderts ist Selbstbezüglichkeit, im systemischen wie im psychologischen Sinn. Allein: daß autoreferentielle Systeme auch autologe und auto-eulogische Systeme sind – diese Erkenntnis hat der Autor Nietzsche noch immer der zeitgenössischen Theorie voraus.“53 Dass aus dem Mangel der Endlichkeit, der das transzendentale Subjekt an die gleichzeitige Erfahrung von Identität und Nicht-Identität gebunden hat, eine jubilatorische Szene unbelasteter Selbstbereicherung und Selbstverschwendung werden kann, setzt jedoch einen konstitutiven Ausschluss voraus, dessen reale Gewaltsamkeit nur aus dem Grund als unschuldig erscheinen kann, weil sie im eigenen Selbstbild nicht mehr repräsentierbar ist. Von daher kann man vielleicht sagen, dass Nietzsche sich nicht nur der obsessiven Auslotung einer Selbstbejahung und ihrer Paradoxien verschrieben hat, sondern mit der Zurückweisung des Mangels der Endlichkeit eine der zentralen Experimentalsituationen des 20. Jahrhunderts vorweggenommen hat, die sich um die unsicher gewordene Verwaltung der Grenze von Leben und Tod anordnet.

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52 53

Zur „Urszene intransitiven Schreibens“ bei Nietzsche vgl. ausführlich Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995, S. 223–258. Die existenzphilosophisch zentrale Differenz zwischen Furcht und Angst hat Søren Kierkegaard in seiner Schrift Der Begriff Angst (1844) nicht zuletzt aus dem Scheitern dieser imaginären Schließung gewonnen, wenn er die Problematik der Freiheit noch einmal in den Rahmen der Theodizee einzubetten versucht und in der Angst eine „bildende“ Erfahrung sieht, die das Individuum an seine Schuld der „Ewigkeit“ gegenüber erinnert. Vgl. Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst, übers. u. hg. v. Hans Rochol, Hamburg 1984, S. 171: „Die Angst ist die Möglichkeit der Freiheit; nur diese Angst ist etwas, was durch den Glauben absolut bildet, indem sie alle Endlichkeiten verzehrt, alle Täuschungen an ihnen entdeckt.“ Vgl. dazu Jochem Hennigfeld: Angst – Freiheit – System. Schellings Freiheitsschrift und Kierkegaards Der Begriff Angst, in: ders./Jon Stewart: Kierkegaard und Schelling: Freiheit, Angst und Wirklichkeit, Berlin 2003, S. 103–116. Sloterdijk: Über die Verbesserung der guten Nachricht (Anm. 46), S. 51. Ebd. S. 56.

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2.

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Die Tragödie der Geburt

Eine erste theoretische Annäherung an die Verschiebung der Grenze von Leben und Tod in das Außen einer für sich seienden Individualität findet sich in Nietzsches früher Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872). Die „tief persönliche Frage“54 dieser Schrift, die sich nur auf den ersten Blick mit einem altertumswissenschaftlichen Thema beschäftigt,55 besteht darin, wie Nietzsche in seinem späteren Vorwort mit dem Titel Versuch einer Selbstkritik (1886) festhält, ob es womöglich einen krankhaften Zwang zur Gesundheit geben kann: „Giebt es vielleicht – eine Frage für Irrenärzte – auch Neurosen der Gesundheit?“56 Mit dieser, den Gegensatz von Krankheit und Gesundheit zunächst in Frage stellenden Perspektive, die in dem Ausdruck „Neurosen der Gesundheit“ prägnant zugespitzt ist, eröffnet Nietzsche ein analytisches Wissensfeld, das es ihm erlaubt, den „modernen Menschen“ und seinen vermeintlichen „Sieg des Optimismus“ auf das hin zu befragen, was diesem dermaßen unerträglich sein und ihn dazu zwingen kann, sich unbeirrbar „optimistisch“ zu geben. Was vordergründig in den „modernen Ideen“ als ein historischer Sieg über die vormalige Fremdbestimmung der menschlichen Existenz erscheint, könnte womöglich auf einem neurotischen Zwangsverhalten basieren, das seine Ursache in der Abwehr einer bedrohlichen Erfahrung hat, von der jedoch der „moderne Mensch“ nichts wissen will. Denn wenn die Grundlage einer sich selbst missverstehenden Gesundheit in einem tiefen Leiden an einer Krankheit besteht, für die es aus Sicht des „modernen Menschen“ keine Heilung geben kann, dann bleibt nichts anderes übrig, als diese Krankheit aus dem sichtbaren Feld der Wahrnehmung zu verdrängen.57 Im Unterschied zu einer im historischen Horizont eines unumkehrbaren Fortschritts verfahrenden Kritik, die gezwungen ist, mit jeder für die Zukunft versprochenen Problemlösung diese „Neurosen der Gesundheit“ zu wiederholen, muss daher eine therapeutisch wirksame Lektüre der Krankheitssymptome genau diejenigen Begriffe, von denen diese Zukunftsversprechen leben, als den entscheidenden Ausdruck der Problemlage auffassen. Was sich selbst vielleicht als „optimistisch“ im Hinblick auf eine absehbare Lösung verstehen mag, muss deshalb für den therapeutischen Zugriff als die ausgezeichnete Beschreibung des Problems gelten: „Wie? könnte vielleicht, allen ‚modernen Ideen‘ und Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der praktische und theoretische Utilitarismus, gleich der Demokratie selbst, mit der er gleichzeitig ist, – ein Symptom der absinkenden Kraft, 54 55

56 57

Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 11. Zum religionshistorischen Kontext von Nietzsches anthropologischem Ansatz vgl. Renate Schlesier: Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800, Frankfurt/M. 1994, S. 21–32. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 54), S. 16. Vgl. dazu Sigmund Freud: Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose, Studienausgabe, Bd. III, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, Frankfurt/M. 1989, S. 355–361 (hier: S. 359), der den Unterschied zwischen neurotischen und psychotischen Realitätsverlusten auf den grundlegenden Unterschied zwischen einer Verdrängung des Konflikts und seiner vollständigen Verleugnung zurückführt: „Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen.“

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des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein?“58 Wovon der „moderne Mensch“ nichts wissen will, wenn er den „Sieg des Optimismus“, die „vorherrschend gewordene Vernünftigkeit“, den „praktischen und theoretischen Utilitarismus“ feiert, ist der irritierende Umstand, dass die damit verbundenen Anstrengungen tatsächlich ein „Symptom der absinkenden Kraft“ sein könnten, insofern das, was eigentlich erreicht werden soll, niemals erreicht werden darf, um weiterhin erreichbar erscheinen zu können. Um diesen energetischen Haushalt der Zukunftsversprechen des historischen Fortschritts und seine möglichen Risiken eines Zusammenbruchs verstehen zu können, muss man herausfinden, welche unerträgliche Einsicht verdrängt werden muss, damit sich die „Neurosen der Gesundheit“ überhaupt in einer derartigen Zuversicht zu ihren eigenen Versprechen und in einer scheinbar unenttäuschbaren Geste von zwanghaften Wiederholungen stabilisieren können. – Die Semantik der Gefährlichkeit, die Nietzsche mit seinen „dionysischen Fragezeichen“ dagegen ins Spiel bringt, wenn er das Tragische erneut als den Schauplatz eines unheilvollen Geschehens aufsucht, zielt auf den Schock einer nachhaltigen Enttäuschung ab, sodass die in den „Neurosen der Gesundheit“ gebundene Energie wieder zugänglich gemacht werden kann. Mit einem Zitat aus Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung (1819/1859) benennt Nietzsche das tiefe Leiden der modernen Willensbildung als Unvermögen, den Mangel der Endlichkeit in seinen radikalen Konsequenzen ertragen zu können: „Was allem Tragischen, in welcher Gestalt es auch auftrete, den eigentümlichen Schwung zur Erhebung gibt, ist das Aufgehn der Erkenntnis, daß die Welt, das Leben kein wahres Genügen gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht wert sei: darin besteht der tragische Geist: er leitet demnach zur Resignation.“59 Um nicht zu resignieren, muss ein bestimmtes Wissen über das Ungenügen der Welt wieder ungewusst werden können. Nietzsches nachfolgende Analyse dieses Schutzmechanismus, die gerne als ein „dionysisches Manifest“60 interpretiert und damit häufig verkürzt wird, geht es allerdings nicht darum, diesen Schutzmechanismus außer Kraft zu setzen, sondern den dadurch generierten Energiehaushalt so zu optimieren, dass sich dessen Rahmenbedingungen kontrollieren lassen. Denn diese Analyse zielt darauf ab, die modernen Konzepte der Willensbildung und damit die der imaginären Zentrierung derart zu steigern, dass nun auch das, was für das Gelingen der Willensbildungen verdrängt werden muss, in den Vorgang der Willensbildung selbst einbezogen werden kann. Aus diesem Grund hat Martin Heidegger zu Recht in Nietzsches späterem „Gedanken-Gang zum Willen zur Macht“ insofern eine „Vollendung“ der „abendländischen Metaphysik im Ganzen“ gesehen,61 als die „Metaphysik des Werdens“ bei Nietzsche keineswegs 58 59 60

61

Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 54), S. 16f. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, hg. v. Wolfgang von Löhneysen, Bd. II, Frankfurt/M. 1996, S. 556. Zitiert bei Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 54), S. 19f. Vgl. dagegen Peter Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt/ M. 1986, S. 35–71 (hier: S. 53): „Tatsächlich ist Nietzsches Tragödienbuch fast immer [...] als ein dionysisches Manifest gelesen worden. [...] Was Nietzsche auf die Bühne bringt, ist nämlich nicht so sehr der Triumph des Dionysischen, sondern dessen Zwang zum apollinischen Kompromiß.“ Martin Heidegger: Nietzsche, Bd. I, Pfullingen 1961, S. 655: „In Nietzsches Gedanken-Gang zum Willen zur Macht vollendet sich nicht nur die Metaphysik der Neuzeit, sondern die abendländische Metaphysik im Ganzen. Deren Frage lautet von Anfang an: Was ist das Seiende? Die Griechen

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der traditionellen „Metaphysik des Seins“ entgegensteht, sondern jetzt ebenfalls das „zum Stand und in die Beständigkeit“ bringen soll, was sich bisher als „Chaos“ des Kreatürlichen seiner Symbolisierung stets entzogen hat: „Im Gedanken des Willens zur Macht soll das im höchsten und eigentlichsten Sinne Werdende und Bewegte – das Leben selbst – in seiner Beständigkeit gedacht werden.“62 Um das tun zu können, muss Nietzsche zunächst herauszufinden, was die Willensbildung bislang davon abgehalten hat, sich selbst vollständig anzueignen. Dazu entwickelt er eine Fragetechnik, mit der sich das zugrunde liegende Erlebnis offen legen lässt, auf das der Schutzmechanismus reagiert. Diese Fragetechnik, die Nietzsche anhand der Gegenüberstellung des „modernen Menschen“ mit „den Griechen“ vorführt, geht davon aus, dass sich die maßgeblichen Vorstellungen einer kulturellen Ordnung nicht aus deren innerer Logik heraus verstehen lassen, sondern immer einer konkreten Erfahrung geschuldet sind, die in diesen Vorstellungen selbst nur im Modus ihrer Abschirmung präsent sein kann. Wenn Nietzsche daher nach dem jeweiligen „Selbsterlebniss“ fragt, das die Grundlage einer Vorstellungswelt abgibt, dann geht es zugleich darum, was diese Vorstellungswelt leistet, wenn sie ein bestimmtes Erlebnis abschirmt: „Aus welchem Selbsterlebniss, auf welchen Drang hin musste sich der Grieche den dionysischen Schwärmer und Urmenschen als Satyr denken?“63 Im Zentrum dieser Fragetechnik, mit der eine Vorstellungswelt nicht entlang der Plausibilität ihrer Kohärenz begriffen wird, sondern von einem problematischen Erlebnis her analysiert wird, dem sich die Herstellung jeglicher Kohärenz erst zu verdanken hat, steht das Verhältnis zum Schmerz deshalb als eine „Grundfrage“, weil mit der prägenden Kraft dieses Erlebnisses, die einen überhaupt dazu zwingen kann, eine vermeintlich kohärente Vorstellungswelt auszubilden, immer eine schwerwiegende Belastung einhergeht: „Eine Grundfrage ist das Verhältnis der Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität, – blieb dies Verhältnis sich gleich? oder drehte es sich um? – jene Frage, ob wirklich sein immer stärkeres Verlangen nach Schönheit, nach Festen, Lustbarkeiten, neuen Culten, aus Mangel, aus Entbehrung, aus Melancholie, aus Schmerz erwachsen ist?“64 – Die Leistung, die Nietzsche der griechischen Kultur attestiert, indem er ihren Schutzmechanismus anhand der „Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen“65 rekonstruiert, besteht in einer kollektiven Ritualisierung der Erfahrung des Mangels der Endlichkeit, die es möglich macht, diese Erfahrung zu haben, ohne von ihr gelähmt zu werden. Der rituelle Ort dieser Umwandlung des Mangels in ein heilsames Fest der Gemeinschaft ist für Nietzsche die „attische Tragödie“,66 bei der sowohl die Erfahrung des Mangels im „Dionysischen“ in ihrer zugleich erschreckenden und faszinierenden Wirkung als auch deren Überführung in eine rettende „Phantasie-Welt“ im „Apollinischen“ in Szene gesetzt wird. Während das Dionysische die Dimension des Kreatürlichen veranschaulicht und deshalb vor allem den

62 63 64 65 66

bestimmten das Sein des Seienden als Beständigkeit des Anwesens. Diese Bestimmung bleibt durch die ganze Geschichte der Metaphysik hindurch unerschüttert.“ Ebd. S. 656. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 54), S. 16. Ebd. S. 15. Ebd. S. 25. Zu Nietzsches Auffassung der „attischen Tragödie“ als einer „rituellen Praxis“ vgl. Enrico Müller: Die Griechen im Denken Nietzsches, Berlin/New York 2005, S. 33–54.

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Zyklus von Geburt und Tod ritualisiert, bei dem das Leben des Einzelnen auf die symbolisierte Erfahrung seiner Zeugung und seiner Vernichtung überschritten wird, steht das Apollinische für die imaginierte Selbstwahrnehmung, in der sich der Einzelne gegen diese Erfahrung immunisiert und stabilisiert.67 Als Ritualpraxis verstanden inszeniert die attische Tragödie einen Geburtsvorgang, der die Produktion von Individualität zum theatralischen Gegenstand hat. Im rauschhaften Moment des Dionysischen soll sich der Einzelne als „Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit“68 erleben können, während er dagegen im schützenden Moment des Apollinischen lernen soll, in einer Welt voller Unwägbarkeiten als Einzelner „gestützt und vertrauend auf das principium individuationis“ zu existieren: „Ja es wäre von Apollo zu sagen, dass in ihm das unerschütterte Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und die Weisheit des ‚Scheines‘, sammt seiner Schönheit, zu uns spräche.“69 Die traumatische Erfahrung, um die sich das Theater der Individualität anordnet, ist die Unmöglichkeit, den Ort der eigenen Geburt zu betreten.70 Weil sich der Einzelne nicht selbst gezeugt hat, kann er sich selbst auch nicht einholen, sondern seine eigene Identität stets nur imaginär auffüllen. Denn selbst wenn er sich gedanklich in der Vorstellung einer Selbstgesetzgebung zentriert, bleibt immer ein untilgbarer Rest übrig, der ihn an den Umstand seiner Geburt bindet und damit zwangsläufig dezentriert. Von diesem Umstand geht sowohl ein Schrecken als auch eine Faszination aus, weil damit eine Macht ins Feld des Sozialen eindringt, die sich jeder vertraglichen Konstruktion entzieht und den Ursprung der menschlichen Gemeinschaft in der Vorgängigkeit des Kreatürlichen situiert: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.“71 Traumatisch besetzt ist dieses „Versöhnungsfest“, weil jeder Versuch, den Ort der eigenen Geburt tatsächlich zu betreten, zuletzt auf den eigenen Tod hinauslaufen muss. Denn das „Ur-Eine“, das sich „unter den Schauern des Rausches“ offenbart, ist die Überschreitung des einzelnen Lebens auf die „Kunstgewalt der ganzen Natur“, der man nicht als produzierender „Künstler“ gegenüber tritt, sondern als deren „Kunstwerk“ man

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71

Zur Interpretation des Dionysischen als Konfrontation mit dem „verdrängten Eigenen“ vgl. Iris Därmann: Rausch als ‚ästhetischer Zustand‘: Nietzsches Deutung der Aristotelischen Katharsis und ihre Platonisch-Kantische Umdeutung durch Heidegger, in: Nietzsche-Studien, hg. v. Günter Abel, Josef Simon u. Werner Stegmaier, Bd. 34, Berlin/New York 2005, S. 124–162. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 54), S. 30. Ebd. S. 28. Zur individualpsychologischen Interpretation der Dionysos-Identifikation bei Nietzsche als der Versuch, sich das „Mutterrecht“ des Gebärens anzueignen, vgl. Ludger Lütkehaus: Müttermorde, in: Trauma. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, hg. v. Wolfram Mauser u. Carl Pietzcker, Bd. 19, Würzburg 2000, S. 193–211. Vgl. ebenfalls Helene Deutsch: Psychoanalytische Studie zum Mythos von Dionysos und Apollo. Zwei Varianten der Sohn-Mutter-Beziehung, in: dies.: Die Sigmund Freud-Vorlesungen, übers. v. Friedhelm Herborth, Frankfurt/M. 1973, S. 9–62. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 54), S. 29.

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sich erfährt.72 Im Dionysischen begegnet man nicht seinem wohlmeinenden Schöpfer, sondern einer kontingenten Zeugungsgewalt, die jenseits ihrer rituellen Fassung „fratzenhaft“ und „barbarisch“ ist. Wäre man dieser Begegnung schutzlos ausgeliefert, würde sie einem das rauben, was das Leben „möglich und lebenswerth“ macht: „Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen.“73 Der Schutzmechanismus, den Nietzsche anhand der doppelten Arbeit von „Rausch- und Traumkünstler“74 analysiert, kommt also nur dann zum Einsatz, wenn zuvor ein bedrohliches Erlebnis stattgefunden hat, dessen vollständige Wahrnehmung aufgrund seiner Wucht vernichtend wäre. Wenn man diesen Schutzmechanismus kontrollieren will, dann reicht es nicht aus, sich allein der „Weisheit des ‚Scheines‘“ anzuvertrauen, sondern man muss auch die Fähigkeit ausbilden, in eben denjenigen Abgrund blicken zu können, der einen zum Einsatz des Schutzmechanismus zwingt. In diesem Sinne leistet das griechische Theater der Individualität für Nietzsche genau das, was dem „modernen Menschen“ und seiner Willensbildung so unerträglich ist. In der attischen Tragödie wird nicht allein das Schutz gebende Moment einer notwendig scheinhaften Selbstidentität inszeniert, sondern ebenfalls deren schmerzhafter Verlust. Erst diese komplexe Prozedur, in der sich die Willensbildung dem aussetzt, was sie für ihr Gelingen verdrängen muss, sorgt für eine Stärkung des Willens, die es ihm erlauben soll, seine existentiellen Bedingungen zur Kenntnis nehmen zu können. Während das „Chaos“ der Kreatürlichkeit in den idealistischen Programmen stets Ordnung stiftenden Verfahren der Synthetisierung zugeführt wird, bemisst sich die Intensität einer Willensbildung für Nietzsche daran, inwieweit man fähig ist, sich der Gefahr der eigenen Instabilität auszuliefern.75 Um eine „Gesamtentfesselung aller symbolischen Kräfte“76 erreichen zu können, muss man sich daher in erster Linie mit sich selbst konfrontieren und den Kampf mit dem eigenen Spiegelbild, aus dem die Spaltung des modernen Subjekts hervorgegangen ist, so führen, dass dessen Möglichkeit einer Zersplitterung einem immer vor Augen stehen bleibt. Für Nietzsche stehen „die Griechen“ nicht allein für die „glänzende Traumgeburt der Olympischen“, sondern vor allem dafür, dass sie die „Entsetzlichkeiten des Daseins“ jederzeit zu kennen in der Lage sind. Nur wenn man weiß, gegen was man sich abschirmt, ist es auch möglich, die Kontrolle über den Einsatz des eigenen Schutzmechanismus zu erlangen. Was Nietzsche als „Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen“ entfaltet, geht daher 72 73 74 75

76

Ebd. S. 30. Ebd. S. 35. Ebd. S. 30. Vgl. dagegen Eugen Fink: Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960, S. 179–189 (hier: S. 188), der die Thematik eines „unsäglichen Spiels der All-Macht“, zu der sich der ebenfalls spielende Mensch mit seiner „ekstatischen Offenheit“ in Beziehung setzt, als eine „neue Seinserfahrung“ gedeutet hat, die im Gegensatz zur „Metaphysik des Willens“ stehen soll: „Bei Nietzsche wird das menschliche Spiel, das Spiel des Kindes und des Künstlers, zum Schlüsselbegriff für das Universum, wird zur kosmischen Metapher. Das besagt nicht, daß unkritisch die Seinsverfassung des Menschen auf das Seiende im Ganzen übertragen würde; es ist gerade umgekehrt.“ Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 54), S. 34.

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nicht vom Moment der Wiedererkennung im Spiegelbild aus, die dem Subjekt die Macht des Imaginären verleiht, sondern von der damit verbundenen Leistung einer Umkehrung, die auf eine im Realen erfahrene Situation der Ohnmacht reagiert und diese zu bannen versucht. – Diese entscheidende Leistung führt Nietzsche anhand der „Umkehrung der silenischen Weisheit“ vor, deren Antwort auf die Frage, „was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste“ sei, den scheinbar deprimierenden Wunsch benennt, nicht geboren zu sein: „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben.“77 Das Allerbeste für den Menschen besteht demnach nicht in einem benennbaren Gut, sei es immaterieller oder materieller Art, sondern in einem bestimmten Zustand, den zu erlangen ihm der Umstand seiner Geburt verwehrt. Will man diese „silenische Weisheit“ nicht bloß als eine pessimistische Daseinsauffassung verstehen, dann muss man das darin zum Ausdruck kommende Verlangen und die Problematik seiner Erfüllbarkeit dechiffrieren. Denn man kann sich nur wünschen, nicht geboren worden zu sein, wenn man das Verlangen nach einem Zustand der Ganzheit hat, das diesem Wunsch erst zu seiner Existenz verhilft.78 Die düstere Botschaft der „silenischen Weisheit“ besteht deshalb nicht allein darin, schwer zu ertragende Umstände der menschlichen Existenz zu benennen, die ihren Ursprung in äußerlichen Gegebenheiten haben, sondern vor allem ein unerfüllbares Verlangen nach Ganzheit festzuhalten, vor dessen Hintergrund diese Umstände erst in Erscheinung treten können. Gäbe es dieses Verlangen nicht, gäbe es auch keinen Grund, den Mangel der Endlichkeit überhaupt zu empfinden. Weil dieses Verlangen, das die Wünsche und Handlungen der Menschen jederzeit bestimmt, jedoch nur durch den Tod tatsächlich erfüllt werden kann, ist das, wovor man sich schützen muss, keineswegs etwas Äußerliches, sondern in eben diesem Verlangen schon enthalten. Bei dem Zyklus von Geburt und Tod, der in der attischen Tragödie in Szene gesetzt wird, geht es deshalb darum, sich den eigenen Geburtsvorgang mittels einer rituellen Wiederholung derart anzueignen, dass die bedrohliche Faszination, die von dem pränatalen Zustand der Ganzheit ausgeht, in eine erlebbare und das Leben steigernde Fassung gebracht wird. Damit das „Allerbeste“ des Menschen nicht zuletzt auf das „Zweitbeste“ seines Todes hinausläuft, muss der Unmöglichkeit, den Ort der eigenen Geburt zu betreten, ein fassbarer Ausdruck verliehen werden. Was Nietzsche mit der „Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen“ zum Thema macht, ist kein dialektisches Spiel zweier, sich negierender Kräfte,79 sondern die Einsicht, dass der 77 78

79

Ebd. S. 35. Zur damit bei Nietzsche einhergehenden „Emphase des Augenblicks“, die den Verlustcharakter der Zeitstruktur als ein „ununterbrochenes Gewesensein“ und „Conditio der Schwermut“, bei der jeder Augenblick durch den folgenden davon abgehalten wird, zu sich selbst zu kommen, beseitigen und auf diese Weise eine „antiteleologische Rettung des Seins“ leisten soll, vgl. Karl Heinz Bohrer: Ästhetische Negativität, München 2002, S. 123–146. Zu Nietzsches „Anti-Hegelianismus“ vgl. Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, übers. v. Bernd Schwibs, Hamburg 1991, S. 13–28 (hier: S. 13): „Niemals wird bei Nietzsche das wesentliche Verhältnis einer Kraft zu einer anderen als ein im Wesen negatives Element begriffen. In ihrem Verhältnis zu einer anderen negiert die Kraft, die gehorchen läßt, nicht etwa die ande-

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Wunsch zu sterben eine volle Möglichkeit der Erfüllung des eigenen Verlangens nach Ganzheit anzeigt. Die Konfrontation mit dieser Wirklichkeit des eigenen Verlangens, bei der das Selbst sich selbst zur Bedrohung wird, steht im Zentrum der doppelten Arbeit von „Rausch- und Traumkünstler“ und deren Leistung einer Umkehrung: „Derselbe Trieb, der die Kunst in’s Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt entstehn, in der sich der hellenische ‚Wille‘ einen verklärenden Spiegel vorhielt. [...] so dass man jetzt von ihnen [den homerischen Menschen], mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, ‚das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal zu sterben‘.“80 Im „verklärenden Spiegel“ findet folglich keine Wiedererkennung statt, sondern eine das konkrete Dasein konstituierende Selbstverkennung. In diesem äußerst zentralen Punkt steht Nietzsche der Logik der Selbsterhaltung, mit der die politische Philosophie der Moderne bei Thomas Hobbes einsetzt, vollständig entgegen: Dass man leben will, ist nichts, was sich einfach voraussetzen lässt, sondern das Leben muss man zunächst einmal wollen.

3.

Die Aneignung der Ganzheit

Aus dieser Perspektive erhält das moderne Gesetzesdenken, wie es sich am stärksten in der Philosophie Immanuel Kants ausgeprägt hat, einen in erster Linie technischen Sinn, der sich nur unzureichend als „immoralisch“ begreifen lässt.81 Das Gefühl des Mangels, das dem Subjekt des Gesetzes auferlegt wird, resultiert demnach nicht daraus, dass es als empirisches Subjekt das Gesetz, an dem es seine Identität findet, niemals erfüllen kann, sondern stellt vielmehr einen Selbstschutz vor dem eigenen Verlangen nach Ganzheit dar. Es ist kein äußerliches Hindernis, das für den Aufschub des eigenen Willens verantwortlich ist und das einen immer wieder dazu zwingt, sich mehr Mühe zu geben, sich noch intensiver anzustrengen, um in einer möglichen Zukunft vielleicht doch noch das erreichen zu können, von dem man genau weiß, dass man es auf diese Weise nicht erreichen wird. Das Ungenügen der Welt ist kein gegebener Umstand, der verdrängt werden muss, um Zutrauen zu der eigenen Willensbildung haben zu können und nicht zu resignieren, sondern umgekehrt stellt dieses Ungenügen einen nachträglichen Effekt des idealistischen Konzepts der Willensbildung dar. Entgegen der idealistischen Verwaltung des Mangels der Endlichkeit, die diesen sowohl moralphilosophisch im Hinblick auf das Subjekt als auch geschichtsphilosophisch im Hinblick auf die Gemeinschaft der Subjekte als dauerhaft verstehen muss, um den Willen von der problematischen Möglichkeit seiner vollständigen Fülle fernzuhalten, steht für Nietzsche am Ausgangs-

80 81

re Kraft oder das, was sie nicht ist; sie bejaht vielmehr ihre eigene Differenz und genießt sie.“ Die vollständige Ersetzung des „spekulativen Elements der Negation“, bei dem der Genuss nur zukünftig sein kann, durch das „praktische Element der Differenz“ als ein „Objekt von Bejahung und Genuß“ würde dazu führen, dass es überhaupt kein Jenseits des Genießens mehr geben kann. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 54), S. 36. Zu dieser Problematik vgl. ausführlich Jean-Luc Nancy: „Unsere Redlichkeit!“ (Über Wahrheit im moralischen Sinn bei Nietzsche), in: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich, übers. v. Werner Hamacher, Frankfurt/M./Berlin 1986, S. 169–192.

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punkt der Willensbildung kein Mangel der Endlichkeit, den alle gleichermaßen teilen und der die Menschen zur Gründung einer Gemeinschaft zwingt.82 Nicht die Wahrnehmung des Mangels ist für Nietzsche dasjenige, von dem alle Wünsche und Handlungen ihren Ausgang nehmen, sondern die jederzeit gegebene Überfülle an Möglichkeiten, deren Reduktion die zentrale Schutzleistung einer jeden symbolischen Ordnung darstellt. Dass man nur leben kann und leben will, wenn es irgendeine Form von Ausblendung der gegebenen Möglichkeiten gibt, ist die programmatische Einsicht, die Nietzsche ins Zentrum seiner Schrift Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886) gestellt hat: „Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagte, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.“83 Mit dieser Einsicht begibt man sich deshalb in ein „Jenseits von Gut und Böse“, weil jede bestehende Ordnung zwangsläufig auf einem Ausschluss bestimmter Möglichkeiten als defizient basiert. Um Zugang zu diesen ausgeschlossenen Möglichkeiten zu erlangen, von denen sich selbst abzuschneiden man gezwungen ist, um Anteil an der bestehenden Ordnung haben zu können, muss man den umgekehrten Weg einer Initiationspassage gehen und die Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild, aus der das transzendentale Subjekt als Bedingung seiner begrenzten Anzahl von Möglichkeiten hervorgegangen ist, als Moment der eigenen „Verkenntniss“ begreifen lernen: „Ich glaube demgemäss nicht, dass ein ‚Trieb zur Erkenntniss‘ der Vater der Philosophie ist, sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntnis (und der Verkenntniss!) nur wie eines Werkzeuges bedient hat.“84 Das gleiche „Werkzeug“, das zur Herstellung der Selbstidentität dient, indem es die Überfülle des Gegebenen so zu reduzieren erlaubt, dass mit jeder in Frage kommenden Möglichkeit ebenfalls das Subjekt dieser Möglichkeit reproduziert wird, muss daher nun zur Destabilisierung dieses Subjekts eingesetzt werden. Wenn man etwas anderes sehen will als die transzendentalen Bedingungen der eigenen Selbstidentität, darf man kein Subjekt mehr sein wollen, das sich in der Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild selbst gibt, indem es sich von sich selbst fernhält.85 – Was man dann entdecken kann, ist eine „Realität unsrer Triebe“, in der Nietzsche den Grund der 82

83 84 85

Vgl. dazu Roberto Esposito: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, übers. v. Sabine Schulz u. Francesca Raimondi, Zürich/Berlin 2004,167–191 (hier: S. 184), der bei Nietzsche und Georges Bataille eine direkte Umkehrung der „Zwangsvorstellung einer conservatio vitae“ bei Hobbes gegeben sieht, insofern nicht mehr der drohende Tod, sondern der mögliche Exzess des Lebens das zu lösende Problem darstellt. Vgl. auch Leander Scholz: Der Tod der Gemeinschaft: Nietzsche und Hobbes, in: Janine Böckelmann/Claas Morgenroth (Hg.): Politik der Gemeinschaft. Zur Konstitution des Politischen in der Gegenwart, Bielefeld 2008, S. 28–48. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Kritische Studienausgabe, Bd. 5, S. 18. Ebd. S. 21. Zu Nietzsches „genealogischer“ Methode vgl. Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders.: Von der Subversion des Wissens, übers. u. hg. v. Walter Seitter, Frankfurt/M. 1987, S. 69–90 (hier: S. 71): „Wenn der Genealoge auf die Geschichte horchen will, anstatt der Metaphysik Glauben zu schenken, was erfährt er dann: Daß es hinter allen Dingen ‚etwas ganz anderes‘ gibt: nicht ihr wesenhaftes und zeitloses Geheimnis, daß sie ohne Wesen sind oder daß ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren, die ihm fremd waren, aufgebaut worden ist. Die Vernunft? Sie ist in durchaus ‚unvernünftiger‘ Weise entstanden – aus dem Zufall.“

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gesamten Welt erblicken kann, weil in ihr noch „Alles in mächtiger Einheit beschlossen“ liegt: „Gesetzt, dass nichts Anderes als real ‚gegeben‘ ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen ‚Realität‘ hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe – denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander –: ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies Gegebene nicht ausreicht, um aus Seines-Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder ‚materielle‘) Welt zu verstehen?“86 Unter der „mechanistischen Welt“ und ihrer Logik der Selbsterhaltung existiert jederzeit eine „Realität unsrer Triebe“, in der es keine defizienten Möglichkeiten gibt, sondern allein „Begierden und Leidenschaften“, die sich ihre je eigenen Möglichkeiten suchen. In dieser Realität kann es keine Selbstbeschränkung und keine Selbstverneinung geben, sondern lediglich Wege und Umwege, Listen und Taktiken, die zur Befriedigung dieser „Begierden und Leidenschaften“ führen. Während die „Realität unsrer Triebe“ in der Hobbesschen Fassung des Naturzustandes als eine auf Dauer unhaltbare Situation aufgefasst wird, bei der sich alle Willensäußerungen gegenseitig blockieren und die durch den Gesellschaftsvertrag in eine kalkulierbare Beständigkeit umgewandelt werden muss, existiert für Nietzsche nur diese einzige Realität,87 die deshalb zu keiner Zeit negativ sein und von der auch der Gesellschaftsvertrag nur ein weiterer Ausdruck darstellen kann. Denn alles Gegebene auf diese einzige „Realität unsrer Triebe“ zurückzuführen, bedeutet zugleich, dass es keine Zäsur zwischen einem vermeintlichen Naturzustand und einem Gesellschaftszustand geben kann, sondern allein die Kontinuität einer einzigen Äußerungsmodalität, die jeden Willensakt gleichermaßen kennzeichnet: „Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesamtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist –; [...], so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht.“88 An die Stelle einer Konstruktion von Ordnungsmodellen, mit denen das „Chaos“ der Kreatürlichkeit gebannt werden soll, tritt bei Nietzsche ein intensives Interesse an einem Zustand vor jeder Ordnungsbegründung, sowohl im zeitlichen und als auch im räumlichen Sinne, bei dem die Überfülle der Möglichkeiten als noch gegeben verstanden wird. Was sich erst später „abzweigt“ und „ausgestaltet“ und vor allem „verzärtelt und abschwächt“, ist als „Vorform des Lebens“89 noch ganz bei sich selbst. Nicht in einem „Jenseits“, das man sich in einer möglichen Zukunft vielleicht einmal aneignen können wird, ist die Überfülle der Möglichkeiten zu finden, sondern in einem vorgängigen Zustand unzerteilter Ganzheit, aus dem jede bestehende Ordnung allererst hervorge86 87

88 89

Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse (Anm. 84), S. 54. Zu Nietzsches Absetzung vom „neuzeitlichen Erhaltungsprinzip“ vgl. insbesondere das Kapitel Geschehen als Akkumulation und Auslassung von Kraft bei Günter Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984, S. 82–85 (hier: S. 5): „Nietzsche nennt ‚Willen zur Macht‘ die dynamischen und in sich vielheitlich organisierten Kraftzentren, deren relationalem Tätigsein sich jedes Wirkliche und Lebendige in seinem Was, in seinem Wie und in seinem fortwährenden und prinzipiell unabschließbaren Fluß des Werdens und Vergehens verdankt.“ Allerdings täuscht die Verwendung des Plurals bei Abel darüber hinweg, dass es bei Nietzsche sehr wohl um eine zentralisierende Organisation dieser „Kraftzentren“ geht. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse (Anm. 84), S. 55. Ebd. S. 55.

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hen muss. In der geschichtlichen Logik, die Nietzsche mit dem Ziel entwirft, zu dieser Überfülle vordringen zu können, erscheinen aus diesem Grund die historisch früheren Menschen als die „ganzeren Menschen“, die noch im „Besitz ungebrochener Willenskräfte und Macht-Begierden“ sind und denen eine „Unzahl Menschen“ gegenübersteht, „welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen“.90 Zugang zu diesem Zustand der Ganzheit zu haben, verspricht deshalb ein ungetrübtes Machtgefühl, weil dieser Zustand von keinem Zuschauerblick beeinträchtigt wird und seine Rechtfertigung allein in sich selbst trägt. Weil jede Willensäußerung nur relational durch eine andere gehemmt werden kann und nicht schon in sich selbst das Moment ihrer Verneinung beherbergt, ist die Willensäußerung im Anfang voll entfaltet und wird erst später von außen her eingeschränkt.91 Aus diesem Grund ist das „Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie“, die Nietzsche am Beginn jeder „höheren Cultur auf Erden“ wähnt, dass „sie sich nicht als Funktion (sei es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt“.92 Das Ordnungsdenken hingegen, das die Legitimität von Herrschaft an ein Schutzversprechen bindet, erscheint bei Nietzsche im Unterschied zur Quelle der Ganzheit, deren Vorgängigkeit sich jede Ordnung zu verdanken hat, als ein dem historischen Zerfall preisgegebenes Abfallprodukt. Denn die geschichtliche „Corruption“ beginnt damit, dass aus den „herrschaftlichen Befugnissen“ eine kollektive Funktion der Ordnungsstiftung wird, sodass die Ausübung von Herrschaft ihre Rechtfertigung nicht mehr in sich selbst hat und somit den „Grundglauben“ aufgibt, dass „die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermag“.93 – Auch wenn diese geschichtliche Logik auf den ersten Blick an einer Restitution vormoderner Herrschaftsvorstellungen zu arbeiten scheint, so verdankt sie ihre zentralen Züge trotzdem dem modernen Gesellschaftsdenken und dessen geschichtlichem Selbstverständnis. Denn ganz ähnlich wie bei Jean-Jacques Rousseau steht dabei am Anfang keine übernatürliche Schöpferfigur, sondern ein Naturzustand, in dem jeder zunächst im Zustand imaginärer Ganzheit lebt und zu dem die Situation des wechselseitigen Konflikts erst später in Form einer diesen Naturzustand korrumpierenden Differenz hinzutritt.94 Während bei Rousseau der Gesellschaftsvertrag allerdings die Aufgabe hat, die dadurch entstandene 90 91

92 93 94

Ebd. S. 206. In seiner immer noch lesenswerten Nietzsche-Studie hat Theodor Lessing darauf hingewiesen, dass es jenseits einer „lebensverneinenden“ Ethik keine Ordnungsbegründung geben kann und dass aus diesem Grund Nietzsches einzige Stiftungsfigur Zarathustra zwangsläufig leer laufen muss: „Indem Zarathustra zuguterletzt alles segnet, alles für notwendig hält und nur noch das ‚amor fati‘ predigt, die Karmaliebe, die in Bausch und Bogen alle Leiden, alle Seligkeit, alles Recht und alles Unrecht auf ewig in die Arme schließt, da bleibt ihm zur Begründung einer menschlichen Sitte und Ordnung überhaupt kein Leitgesetz mehr übrig als einzig ein gewalthaberisches: Ich will es, ich befehle es.“ Theodor Lessing: Nietzsche, München 1985, S. 94–100 (hier: S. 94f). Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse (Anm. 84), S. 206. Ebd. S. 206f. Vgl. dazu ausführlich Jacques Derrida: Grammatologie, übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt/M. 1983, S. 437–541 (hier: S. 541), der mit der vertragstheoretischen Um-

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Ungleichheit zwischen den Menschen wieder auszugleichen, indem jeder Einzelne gezwungen wird, sich der volonté générale ganz hinzugeben, um sich wieder ganz zurück zu erhalten, kehrt Nietzsche diese Logik insofern um, als es nun gerade die Gesellschaft der Gleichen ermöglichen soll, „Unterbau und Gerüst“ für die eigene Ganzheit zu sein. Wie bei Rousseau geht es bei Nietzsche um die Wiederaneignung einer im Anfang situierten Ganzheit, die jedoch weder in einer Identifikation mit der volonté générale noch in einer Spaltung zwischen citoyen und bourgeois ihr endgültiges Ziel finden kann, sondern allein in der Ganzheit eines absolut individuellen Willens, für den die Existenz der Gesellschaft lediglich eine äußere Vorraussetzung der Möglichkeit darstellt, zu sich selbst zu kommen. Aus dieser Perspektive erscheint die vertragliche Gründung einer Gesellschaft der Gleichen bloß als ein historischer Umweg, um dem „Willen zur Macht“ die entscheidenden Mittel bereit zu stellen, ein souveränes Individuum hervorzubringen. Denn während eine ständisch geordnete Gesellschaftsformation keinen derart hohen Freiheitsgrad zulassen kann, der zur Individualisierung einer größeren Menge von Menschen nötig ist, bringt das „demokratische Nivellirungssystem“ eine dermaßen hohe Anzahl von Individuen hervor, dass die Wahrscheinlichkeit der Abkoppelung eines souveränen Individuums vom bedingenden Kollektivkörper in einer Gesellschaft bürgerlichen Zuschnitts nicht abnimmt, sondern im Gegenteil tatsächlich steigt.95 – In einem nachgelassenen Fragment aus dem Jahr 1885 lässt Nietzsche keinen Zweifel daran, dass es ihm nicht um die Restitution vormoderner Herrschaftsvorstellungen geht: „Zarathustra glücklich darüber, daß der Kampf der Stände vorüber ist, und jetzt endlich Zeit für eine Rangordnung der Individuen. / Haß auf das demokratische Nivellirungssystem ist nur im Vordergrund: eigentlich ist er sehr froh, daß dies so weit ist. Nun kann er seine Aufgabe lösen. – / Seine Lehren waren bisher nur an die zukünftige Herrscher-Kaste gerichtet. Diese Herren der Erde sollen nun Gott ersetzen, und das tiefe unbedingte Vertrauen der Beherrschten sich schaffen.“96 Zwischen denjenigen, die zu „unvollständigen Menschen“ vermindert werden müssen, damit im Gegenzug die anderen zu „ganzeren Menschen“ werden können, besteht keineswegs ein vormodernes Herrschaftsverhältnis, das seinen Führungsanspruch aus einem vorab gegebenen Wesensmerkmal wie zum Beispiel der Herkunft ableitet und dadurch die Zuteilung von Selbständigkeit und Unselbständigkeit plausibilisiert. Damit sich eine „Rangordnung der Individuen“ etablieren kann, muss auch die Selektion zwischen den einen und den anderen eine individuelle sein. Der Antrieb dieser Selektion speist sich nicht aus einer Ordnungsstiftung, bei der sich die Herrschenden mit der so gestifteten Ordnung identifizieren, sondern allein aus dem mehr oder weniger ausgeprägten Verlangen nach Ganzheit, das einen in die Lage versetzt, die gesellschaftlichen Zustände so zu betrachten, dass sie ausschließlich zum „Unterbau und Gerüst“ der eigenen Existenz zu dienen haben. Der Sinn der Herrschaft

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96

wandlung einer „totalen Entäußerung“ in eine „totale Wiederaneignung“ bei Rousseau zugleich auch „den Traum von der einfachen Exteriorität des Todes gegenüber dem Leben“ gegeben sieht. Vgl. dazu auch Leander Scholz: Die ungeahnten Möglichkeiten des „demokratischen Nivellierungssystems“: Nietzsche und die Theoretiker der Weltgesellschaft, in: Friederike Günther/Angela Holzer/Enrico Müller (Hg.): Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses: Friedrich Nietzsche und Norbert Elias, Berlin/New York 2010, S. 267–283. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1884–1885, Kritische Studienausgabe, Bd. 11, S. 620, 39 [3].

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liegt nicht im Beherrschen selbst, sondern in der dadurch erlangten Macht, sich zu einem „höheren Sein“ emporzuheben:97 Die anderen sind dazu da, dass ich bei mir sein kann.

4.

Die Ökonomie der Schuld

Wie der Staat bei Karl Marx nur ein Mittel für die Gesellschaft darstellt, das es ihr erlauben soll, irgendwann ganz Gesellschaft zu werden, stellt für Nietzsche die Gesellschaft nur ein Mittel für das Individuum dar, um irgendwann ganz Individuum zu sein. Und wie Marx einen Aufzehrungsprozess des Staates durch die Ansprüche der Gesellschaft diagnostiziert, der durch eine gesellschaftliche Revolution beschleunigt und zuletzt in einen „Verein freier Menschen“98 überführt werden soll, so erscheint bei Nietzsche die Gesellschaft als eine soziale Größe, die durch den letzten Zweck eines souveränen Individuums abgelöst werden muss. Vor diesem Hintergrund muss man die Ökonomie der Schuld sehen, die Nietzsche in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887) entlang ihrer zentralen historischen Umbrüche rekonstruiert und deren ausführliche Analyse dem Ziel dienen soll, das Individuum von den Schuldverhältnissen der Gesellschaft zu entbinden. Denn die „vorhistorische Arbeit“ einer „Sittlichkeit der Sitte“, deren vorläufiges Ziel darin besteht, den „Menschen zuerst bis zu einem gewissen Grade nothwendig, einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich berechenbar zu machen“, findet ihr letztes Ziel in einem „eigentlichen Macht- und Freiheits-Bewusstsein“, das ein „Vollendungs-Gefühl des Menschen überhaupt“ ankündigt: „Stellen wir uns dagegen an’s Ende des ungeheuren Processes, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zu Tage bringt, wozu sie nur das Mittel war: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, autonome übersittliche Individuum (denn ‚autonom‘ und ‚sittlich‘ schliesst sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf – [...].“99 Die „Sittlichkeit der Sitte“, die zunächst als „sociale Zwangsjacke“ erscheinen mag, erhält „ihre grosse Rechtfertigung, wie viel ihr auch von Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus innewohnt“, durch die Hervorbringung einer souveränen Position, in die „Jedermann“ einrücken kann, „der wie ein Souverän verspricht“, „der sein Wort giebt als Etwas, auf das Verlass ist, weil er sich stark genug weiss, es selbst gegen Unfälle, selbst ‚gegen das Schicksal‘ aufrecht zu erhalten“.100 – An die Stelle von genealogischen Begründungen einer den Titel der Souveränität verdienenden Position der Macht tritt ein individueller Kriterienkatalog, der jeden als souverän ausweist, der die Fähigkeit besitzt, sich von der Gesellschaft loszusagen. Auch wenn 97

98 99 100

Vgl. dazu Volker Gerhardt: Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/New York 1996, S. 256–263 (hier: S. 259), für den zwar „Macht“ und „Herrschaft“ bei Nietzsche „synonym“ sind, der aber dem „Willen zur Macht“ ebenfalls kein anderes Ziel als eine gesteigerte Logik des Selbstseins ablesen kann. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Karl Marx/Friedrich Engels Werke, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 23, Berlin 1962, S. 92. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (Anm. 34), S. 293. Ebd. S. 293.

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Nietzsche von einer „zukünftigen Herrscher-Kaste“ spricht, so kann er trotzdem kein gemeinschaftliches Wesensmerkmal mehr jenseits der prämierten Individualität angeben, durch das sich diese „Herrscher-Kaste“ beschreiben ließe.101 Das souveräne Individuum zeichnet sich weder durch eine Zugehörigkeit zu einem Stand noch zu einer Klasse oder zu einer Rasse aus, sondern allein durch die Fähigkeit, sich in Distanz zu eben jener Gesellschaft zu setzen, der es sich zu verdanken hat. Dieses Fehlen von gemeinschaftlichen Wesensmerkmalen ist jedoch kein Mangel, der sich beheben lässt, wenn die „zukünftige Herrscher-Kaste“ erst einmal etabliert sein wird, sondern die konstitutive Bedingung einer ausschließlich auf Individualität abstellenden Selektion von mehr oder weniger intensiven Willensbildungen. Weil eine „Rangordnung der Individuen“ allein auf der Hervorbringung einer Distanz zwischen den „unvollständigen Menschen“ und den „ganzeren Menschen“ basieren kann, bleibt die Gesellschaft der Gleichen zu jeder Zeit zwangsläufig das negative Feld für die Absetzungsbewegung eines souveränen Individuums, das sich anders selbst gar nicht erfassen könnte. Denn nur wer die Fähigkeit besitzt, sich von den Bindekräften der Gesellschaft loszumachen, verdankt seine Souveränität ausschließlich sich selbst und nicht etwa einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit. Weil sich auf keine übergeordnete Instanz mehr verweisen lässt, wenn der letzte Zweck in einer Position der Macht bestehen soll, die prinzipiell „Jedermann“ einnehmen kann, bleibt gar nichts anderes übrig, als die Loskoppelung vom Kollektivkörper selbst zum Kriterium der Souveränität zu machen. Das unterscheidet Nietzsche von allen vormodernen Herrschaftsvorstellungen: Der „Herrscher-Kaste“ ist das Kollektiv nicht deshalb unterstellt, weil sich diese durch bestimmte benennbare Führungsqualitäten ausweist, sondern weil die spezifischen Eigenschaften eines Individuums, die dieses zum „Souverän“ machen sollen, allererst in der negativen Beziehung auf die Gesellschaft der Gleichen gewonnen werden können. Aus diesem Grund kann die Dynamik einer individuellen Auslese, bei der gerade nicht die Herkunft, sondern allein die Intensität der Willensbildung entscheidend ist, erst dann in Gang gesetzt werden, wenn der „Kampf der Stände“ vorüber ist und eine möglichst große Anzahl von Willen zur wechselseitigen Steigerung und Auslese bereit steht. Wie eine derartige Entkoppelung von Individuum und Gesellschaft historisch überhaupt möglich werden kann, zeigt Nietzsche anhand seiner geschichtlichen Rekonstruktion der Schuldverhältnisse, auf denen jedes Kollektiv basiert: „Immer mit dem Maasse der Vorzeit gemessen (welche Vorzeit übrigens zu allen Zeiten da ist oder vielmehr möglich ist): so steht auch das Gemeinwesen zu seinen Gliedern in jenem wichtigen Grundverhältnisse, dem des Gläubigers zu seinen Schuldnern.“102 Weil die Mitglieder eines Kollektivs dessen Vorteile im Hinblick auf „gewisse Schädigungen und Feindseligkeiten“ genießen, „denen der Mensch ausserhalb, der ‚Friedlose‘, ausgesetzt ist“, 101

102

Vgl. dazu Volker Gerhardt: Nietzsche und die Politik, in: Joseph Vogl (Hg.): Gesetz und Urteil. Beiträge zu einer Theorie des Politischen, Weimar 2003, S. 11–30 (hier: S. 15), der Nietzsches politische Theorie aus einem künstlerisch-schöpferischen Zugriff versteht, für das „exzeptionelle Individuum“ aber trotzdem kein anderes Kriterium als seine „Exzeptionalität“ angeben kann: „Man kann diese Rechtfertigung der Politik ‚ästhetisch‘ nennen, muss aber hinzufügen, dass die Ästhetik Nietzsches ihre Rechtfertigung wiederum nur im (exzeptionell geführten) Leben hat.“ Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (Anm. 34), S. 307.

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stehen sie folglich auch in einer Schuld dem Kollektiv gegenüber, an die sie zu jeder Zeit erinnert werden müssen. Denn sich dieser Schuld zu entziehen, bedeutet nicht nur, einzelne Mitglieder des Kollektivs zu schädigen, sondern das Ganze in Frage zu stellen: „Es handelt sich hier am wenigstens um den unmittelbaren Schaden, den der Schädiger angestiftet hat: von ihm noch abgesehn, ist der Verbrecher vor allem ein ‚Brecher‘, ein Vertrags- und Wortbrüchiger gegen das Ganze, in Bezug auf alle Güter und Annehmlichkeiten des Gemeinlebens, an denen er bis dahin Antheil gehabt hat.“103 Der Einsatz wirksamer „Mnemotechniken“, die es erlauben sollen, diese Schuldverhältnisse in die Selbstwahrnehmung der Mitglieder einzuprägen, muss besonders dann auf grausame Mittel zurückgreifen, wenn das Kollektiv noch schwach ist und sich leicht in Frage stellen lässt.104 Während die „ältere Menschheit“ dieses „uralte Problem“ mit nicht „gerade zarten Antworten und Mitteln“ gelöst hat, insofern es „niemals ohne Blut, Martern, Opfer“ abging, „wenn der Mensch es für nöthig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen“,105 lässt sich in umgekehrter Richtung einem „milderen Strafrecht“ das „Selbstbewusstsein“ des entsprechenden Kollektivs ablesen: „Mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des Einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maasse wie früher für das Bestehen des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen: der Übelthäter wird nicht mehr ‚friedlos gelegt‘ und ausgestossen, der allgemeine Zorn darf sich nicht mehr wie früher dermaassen zügellos an ihm auslassen, – [...].“106 Die Spielräume, die dem Einzelnen zur Verfügung stehen, stellen also nicht das Ergebnis einer Behauptung des Einzelnen gegen das Kollektiv dar, sondern resultieren aus der gesteigerten Macht desselben. Dass an die Stelle eines unmittelbar persönlichen Verhältnisses zwischen Gläubiger und Schuldner eine „unpersönlichere Abschätzung der Tath“ tritt,107 die eine Orientierung an universalen „Rechtszuständen“ einübt, sodass die Tat vom Täter isoliert betrachtet werden kann, zeigt die Fähigkeit des Kollektivs, die bedrohliche Gefahr von eskalierenden Racheakten einzudämmen. Die „Aufrichtung des Gesetzes“, durch die erst der Eindruck entstehen kann, es gäbe Recht und Unrecht „an sich“, dient deshalb nicht der Etablierung einer „souverain“ und „allgemein“ gedachten „Rechtsordnung“ im Sinne eines Selbstzwecks, sondern stellt lediglich ein „Mittel im Kampf von Macht-Complexen“ dar: „Man muss sich sogar noch etwas Bedenklicheres eingestehn: dass, vom höchsten biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur Ausnahme-Zustände sein dürfen, als theilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist, und sich dessen Gesammtzwecke als Einzelmittel unterordnend: nämlich als Mittel, grössere Macht-Einheiten zu schaffen.“108 Die Szene des Gesetzes lässt sich für Nietzsche nicht mehr als eine idealistische Geschichte 103 104

105 106 107 108

Ebd. S. 307. Vgl. dazu Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988, S. 50–87 (hier: S. 69), die aus dieser Perspektive ihr kritisches Thema einer „Transformation des Opfers in Subjektivität“ als Grundlage der „bürgerlichen Gesellschaft“ gewonnen haben und für die deshalb ebenso wie für Nietzsche die Gesellschaft zu einem Anathema wird: „Radikale Vergesellschaftung heißt radikale Entfremdung.“ Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (Anm. 34), S. 295. Ebd. S. 308. Ebd. S. 312. Ebd. S. 312f.

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erfolgreicher Zivilisierung ursprünglicher „Willkür-Akte Einzelner oder ganzer Gruppen“ erzählen, sondern kann nur ein begrenztes Mittel darstellen, um „grössere MachtEinheiten“ hervorzubringen.109 – In die psychoanalytische Terminologie von Sigmund Freud übertragen, heißt das: Die Ausbildung der Instanzen des „Ichs“ und des „ÜberIchs“ sind nur Umwege eines „Es“, um sich auf diese Weise besser entfalten zu können. Jede Verneinung dient in diesem Sinne bloß als eine vordergründige Restriktion letztlich der Bejahung des „eigentlichen Lebenswillens“. Das ausgesprochene „Nein“ findet seinen letzten Zweck nicht in einer Begrenzung der Willensentfaltung, sondern in einer Willensformung, mit der die Möglichkeit eines umfassenderen „Ja“ eröffnet wird. Um diese Möglichkeit allerdings wirklich ergreifen zu können, muss man die Mnemotechniken, mit denen dem „faseligen Augenblicks-Verstande“ überhaupt erst ein „eigentliches Gedächtnis des Willens“110 eingeprägt wird, als ein Mittel begreifen lernen, das es einem im Gegenzug ermöglicht, sich die ursprüngliche Fülle des Augenblicks auf eine gezielte Weise wieder anzueignen. Denn bliebe man der Fülle des Augenblicks unmittelbar verhaftet, würde das dazu führen, dass man „mit Nichts ‚fertig‘“ werden kann.111 Man wäre dem „Lärm und Kampf, mit dem unsre Unterwelt von dienstbaren Organen für und gegen einander arbeitet“,112 unmittelbar ausgesetzt. Aus diesem Grund erscheint das „Gedächtnis des Willens“ der Fülle des Augenblicks zunächst entgegengesetzt: Das Gedächtnis unterdrückt bestimmte Möglichkeiten, um den Willen „berechnbar, regelmäßig, notwendig“113 zu machen; seine Leistung der Erinnerung ist tatsächlich eine Leistung der Selektion. Um diese Leistung jedoch nicht als eine Beschneidung der ursprünglichen Fülle des Augenblicks zu erfahren, muss man sie so abrufen, dass einem diese Fülle als Reservoir einer selbstgetroffenen Wahl erscheint.114 Dazu muss das „Nichtwieder-los-werden-können“ der Prägung unter der Regie einer „aktiven Vergesslichkeit“ als „Thürwärterin“ des eigenen Gedächtnisses in ein „Nicht-wieder-los-werdenwollen“115 transformiert werden. Die Fähigkeit, sich von den Bindekräften der Gesellschaft losmachen zu können, beruht also auf einer mentalen Operation, die eben die mnemotechnischen Mittel nutzt, mit denen die Gesellschaft ihre Individuen produziert. Das „Nein“, das mir eingeprägt wurde, schafft allererst die Bedingungen, unter denen ich zu mir selbst „Ja“ sagen kann.

109

110 111 112 113 114

115

Zur theoretischen Ausarbeitung dieses strategischen Zugriffs auf die Machtproblematik unter dem Titel einer Mikrophysik der Macht bei Michel Foucault vgl. vor allem das Kapitel Die Hypothese Nietzsches bei Thomas Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997, S. 89–109. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (Anm. 34), S. 295, S. 292. Ebd. S. 292. Ebd. S. 291. Ebd. S. 292. Zur damit zusammenhängenden Selbstwahrnehmung bei Nietzsche nicht als ein „Ich“, ein „Subjekt“ oder eine „Person“, sondern als ein singuläres und irreduzibles „Ereignis“ vgl. Tobias Nikolaus Klass: Jenseits von Ahnen und Erben: Nietzsches Ereignis, in: Marc Rölli (Hg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München 2004, S. 43–61. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (Anm. 34), S. 291f.

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5.

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Der Idiot der Gemeinschaft

Auf dem Weg vom „Du sollst“ zum „Ich will“ und schließlich zum „heiligen Ja-Sagen“ einer als kindlich verstandenen Unschuld, den Nietzsche dem philosophischen Protagonisten seiner Schrift Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883–85) vorzeichnet, stellt die Ökonomie der Schuld bloß ein Durchgangsstadium dar, um sich den im Anfang situierten Zustand eines unschuldigen Ganzseins wieder aneignen zu können. Denn planvoll vergessen kann man nur, wenn einem zuvor das Erinnern beigebracht worden ist. Die „drei Verwandlungen des Geistes“ vom „Kamel“ zum „Löwen“ und dann zum „Kind“ sollen ihr Ziel in einer „ersten Bewegung“ finden, in der die gesellschaftlichen Prägungen zugunsten einer Entfaltung selbstschöpferischer Akte verschwunden sind: „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-Sagen.“116 Sich selbst ein Gedächtnis machen zu können, bedeutet letztlich, sich selbst konfigurieren und dadurch vom Umstand der eigenen Geburt lösen zu können. Zu diesem Zweck müssen die als fremd erlebten Prägungen eines „Du sollst“ zunächst in die selbstbestimmte Perspektive eines „Ich will“ überführt werden, sodass die damit verbundenen Festlegungen als frei gewählt erscheinen können und sich alle weiteren Festlegungen in diese erste Wahl eintragen lassen. Nicht die Gesellschaft ist daher die entscheidende Größe, die mich zu dem gemacht hat, der ich geworden bin, sondern die Prägungen, die ich empfangen habe, sind nur Markierungen, die ich mir selbst beigebracht habe, um auf diese Weise die Fülle möglicher anderer Markierungen in den Blick bekommen zu können. Kindlich ist diese Perspektive, weil sie sich von den Bindungen eines Schuldgefühls, das mit der Internalisierung gesellschaftlicher Prägungen zwangsläufig einhergeht, dadurch loszumachen versucht, dass jeder andere als mehr oder weniger bereitwilliger Beiträger zur eigenen Präsenz betrachtet wird.117 Denn sich zur „ersten Bewegung“ zu werden, heißt nicht nur, den Umstand der eigenen Geburt vollständig hinter sich zu lassen, sondern darüber hinaus auch zur einzig maßgeblichen Instanz einer Welterzeugung zu werden, die aus diesem Grund der beständigen Gefahr ausgesetzt ist, idiosynkratische Züge anzunehmen. – Besonders deutlich wird die problematische Radikalität dieser selbstschöpferischen Perspektive, die jede vorgängige Ableitung der individuellen Welterzeugung von einer umfassenderen Position der Gemeinschaft zurückweist, in der intensiven Auseinandersetzung mit dem „Typus Jesus“, von dem Nietzsche in seiner nachgelassenen Schrift Der Antichrist. Fluch auf das Christentum (1888) sagt, man könnte ihn „mit einiger Toleranz im Ausdruck“ einen „freien Geist“ nennen.118 Was Nietzsche an dem „Typus Jesus“ derart fasziniert, betrifft dessen Fähigkeit, alles Gegebene in den „Werth eines Zeichens“ zu verwandeln: „Wenn ich irgend Etwas von diesem grossen Symbolisten verstehe, so 116 117

118

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra I–IV, Kritische Studienausgabe, Bd. 4, S. 31. Zur gegenteiligen Lektüre dieser Perspektive als „fröhliche Bejahung des Spiels der Welt und der Unschuld der Zukunft“, die das Verständnis „einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung“ ermöglichen soll, vgl. Derrida: Die Schrift und die Differenz (Anm. 14), S. 422– 442 (hier: S. 441). Zur metaphysikkritischen Nietzsche-Interpretation bei Derrida vgl. Ernst Behler: Derrida – Nietzsche, Nietzsche – Derrida, München/Paderborn/Wien/Zürich 1988, S. 58–86. Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, Kritische Studienausgabe, Bd. 6, S. 204.

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ist es das, dass er nur innere Realitäten als Realitäten, als ‚Wahrheiten‘ nahm – dass er den Rest, alles Natürliche, Zeitliche, Räumliche, Historische nur als Zeichen, als Gelegenheit zu Gleichnissen verstand.“119 Die symbolische Ordnung, die der „Typus Jesus“ verkörpert, kennt keinen Mangel, weil es nichts gibt, was sich nicht als Zeichen des eigenen Daseins deuten lässt. Da in einer „Symbolik par excellence“ kein Außen existiert, das sich der Symbolisierung entzieht, kann dem aktuellen Augenblick auch kein defizienter Modus unterstellt werden: „Er beweist sich nicht, weder durch Wunder, noch durch Lohn und Verheissung, noch gar ‚durch die Schrift‘: er selbst ist jeden Augenblick sein Wunder, sein Lohn, sein Beweis, sein ‚Reich Gottes‘.“120 Das „Himmelreich“ kündigt keine jenseitige Existenz an, sondern beschreibt einen „Zustand des Herzens“: „es ist überall da, es ist nirgends da ...“.121 Obwohl dieser Zustand von einer „Praktik des Lebens“ zeugt, die jedes äußere „Nein“ in ein inneres „Ja“ verwandelt, sieht sich Nietzsche gezwungen, diese Praktik dennoch zurückzuweisen, und diagnostiziert „eine ins Geistige zurückgetretene Kindlichkeit“.122 Das Resultat einer vollständigen Privatisierung scheint nicht auf einen „freien Geist“ zu führen, sondern vielmehr auf die Position eines Idioten.123 – Alles als Zeichen des eigenen Daseins lesen zu können, mag auf den ersten Blick eine „Selbstbejahung“ darstellen: „[...] – seine Beweise sind innere ‚Lichter‘, innere Lust-Gefühle und Selbstbejahungen, lauter ‚Beweise der Kraft‘ – [...].“124 Aber wovor Nietzsche letztlich zurückschreckt, wenn er den „Typus Jesus“ als ein „‚kindliches‘ Idiotenthum“ begreift,125 betrifft die Rücksichtslosigkeit gegenüber der eigenen Erhaltung, die mit der vollständigen Überführung des „Nein“ in ein „Ja“ einhergeht: „Er widersteht nicht, er vertheidigt nicht sein Recht, er thut keinen Schritt, der das Äusserste von ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus ... Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses thun ...“126 Mit der Auflösung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse verschwindet auch die Möglichkeit, den anderen überhaupt als böse wahrnehmen zu können: „Eine solche Lehre kann auch nicht widersprechen, sie begreift gar nicht, dass es andre Lehren giebt, geben kann, sie weiss sich ein gegentheiliges Urtheilen gar nicht vorzustellen ...“127 Weil der „Typus Jesus“ in der idiosynkratischen Welt eines eigenen „Himmelreichs“ lebt, dessen Grenze von Leben und Tod nicht mehr von einer übergeordneten Gemeinschaft bestimmt wird, kann diesem „Anti-Realisten“ auch das Reale seines drohenden Todes nichts Reales sein: „Der ganze Begriff des natürlichen Todes fehlt im Evangelium: der Tod ist keine Brücke, kein Übergang, er fehlt, weil einer ganz andern, bloss scheinbaren, bloss zu Zeichen nützlichen Welt zugehörig. Die

119 120 121 122 123 124 125 126 127

Ebd. S. 206. Ebd. S. 203. Ebd. S. 207. Ebd. S. 203. Zur griechischen Bezeichnung idiótes im Sinne von „Privatmann“ vgl. Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen, hg. v. Michael Schröter, Frankfurt/M. 2003, S. 209–218. Nietzsche: Der Antichrist (Anm. 119), S. 204. Ebd. S. 202. Ebd. S. 207. Ebd. S. 204.

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‚Todesstunde‘ ist kein christlicher Begriff – die ‚Stunde‘, die Zeit, das physische Leben und seine Krisen sind gar nicht vorhanden für den Lehrer der ‚frohen Botschaft‘ ...“128 Jacob Taubes hat die Auseinandersetzung mit dem „Typus Jesus“ aus einer Konkurrenzsituation heraus gedeutet, die Nietzsche an den Apostel Paulus bindet, insofern dessen Interpretation des Todes am Kreuz eine „Umwertung der Werte“ geschaffen habe, die das Abendland über Jahrhunderte zu prägen vermochte: „Wer hat ganz im Sinne Nietzsches tiefer die Wertsetzungen des Abendlandes bestimmt als Paulus?“129 Weil Paulus genau das gelungen sei, was in Nietzsches Absicht lag, nämlich zu einer wirkmächtigen Gründungsfigur zu werden, zielt nach Taubes dessen Strategie darauf ab, sich die zentralen Motive der politischen Theologie des Paulus anzueignen, was bis hin zur Konstruktion eines eigenen Damaskus-Erlebnisses und zur parodistischen Aufnahme der Gleichnisrede im Zarathustra reicht, um auf diese Weise bis „ins Geheimnis des christlichen Mysteriums vorzudringen, wo das Paradigma ein Sich-Verschenken, ein SichVerströmen“ ist, und dieses Paradigma dann „dionysisch“ umzudeuten.130 – Während aus dieser Perspektive der „Typus Jesus“ durch das „heilige Ja-Sagen“ überboten werden soll, indem an die Stelle der schuldökonomischen Wertesetzung bei Paulus eine kindlich unschuldige Wertezerstörung und Werteschöpfung treten soll, lässt sich Nietzsches Auseinandersetzung mit dem „Typus Jesus“ dagegen differenzierter fassen, wenn man sie als Diagnose einer Gefahr versteht, der sich der Versuch, ein souveränes Individuum zu werden, zwangsläufig aussetzt. Denn obwohl Taubes die Auseinandersetzung mit Paulus überzeugend auf ihre wesentlichen Punkte bringt, so übergeht er dennoch die entscheidende Differenz zwischen dem „Typus Jesus“ und seinem Apostel, um deren Freilegung sich Nietzsche so intensiv bemüht, wenn er nicht den „Lehrer der ‚frohen Botschaft‘“, sondern Paulus als den eigentlichen Erfinder des schuldbasierten Christentums ansieht.131 Für Taubes steht die gesamte Auseinandersetzung im Zeichen von Nietzsches Kritik am „Typus des Priesters“: „Der Typus par excellence des Priesters ist Paulus.“132 Für Nietzsche tritt jedoch der „Typus des Priesters“ erst als Folge der Unfähigkeit auf, mit dem Tod des „Lehrers der ‚frohen Botschaft‘“ fertig zu werden: „Erst der Tod, dieser unerwartete schmähliche Tod, erst das Kreuz, das im Allgemeinen bloss für die canaille aufgespart blieb, – erst diese schauerlichste Paradoxie brachte die Jünger vor das eigentliche Räthsel: ‚wer war das? was war das?‘“133 Denn erst die In128 129

130 131

132 133

Ebd. S. 207. Jacob Taubes: Die politische Theologie des Paulus. Vorträge, gehalten an der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, 23.–27. Februar 1987, hg. v. Aleida u. Jan Assmann in Verbindung mit Horst Folkers, Wolf-Daniel Hartwich u. Christian Schulte, München 2003, S. 106–131 (hier: S. 109). Ebd. S. 120. Zu den geschichtsphilosophischen Gründen dieser Reduktion vgl. Jacob Taubes: Kultur und Ideologie, in: ders.: Vom Kult zur Kultur: Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft, München 1996, S. 282–304 (hier: 292f). Während Taubes bei Nietzsche einen „Regreß des Bewußtseins“ feststellt, der letztlich zum „Schicksalsglauben der Antike“ und zum „Opferritual der primitiven Religion“ zurückführt, soll sich von der politischen Theologie des Paulus eine historische Linie zur Emanzipation des Menschen im Sinne von Marx ziehen lassen. Taubes: Die politische Theologie des Paulus (Anm. 130), S. 109. Nietzsche: Der Antichrist (Anm. 119), S. 213.

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terpretation des Todes am Kreuz in den Kategorien von Schuld und Erlösung begründet eine symbolische Ordnung, die genau den Mangel der Endlichkeit ins Zentrum stellt, der nach Nietzsche für den „Typus Jesus“ nicht existiert: „Offenbar hat die kleine Gemeinde gerade die Hauptsache nicht verstanden, das Vorbildliche in dieser Art zu sterben, die Freiheit, die Überlegenheit über jedes Gefühl von ressentiment: – ein Zeichen dafür, wie wenig überhaupt sie von ihm verstand! An sich konnte Jesus mit seinem Tode nichts wollen als öffentlich die stärkste Probe, den Beweis seiner Lehre zu geben ...“134 Entgegen der Perspektive von Paulus, dass die Gemeinschaft ihren Sinn nur aus der Versammlung um einen Opfertod erhalten kann, geht es Nietzsche darum, dass der „‚frohe Botschafter‘ starb wie er lebte, wie er lehrte“ und dass der Tod für seine Lehre gerade keine besondere Bedeutung hat.135 Der „Typus Jesus“ ist für Nietzsche eine derart ambivalente Figur, der sowohl das höchste Attribut eines „freien Geistes“ als auch das abschätzige Attribut eines „‚kindlichen‘ Idiothentums“ zukommt, weil sie einerseits eine symbolische Ordnung verspricht, in deren Rahmen der Tod nur ein Zeichen unter anderen darstellt und somit keinen Ausgangspunkt für alle anderen Bedeutungen abgibt; andererseits zeigt sich an dem „Typus Jesus“, dass die „drei Verwandlungen des Geistes“ vom „Du sollst“ zum „Ich will“ und schließlich zum selbstschöpferischen Spiel des Kindes ebenfalls in der hilflosen Ohnmacht einer idiosynkratischen Welt enden können, von der kein „Nein“ mehr ausgehen kann, weil jedes „Nein“ in ihr verschwunden ist: „Das Verneinen ist eben das ihm ganz Unmögliche.“136 Der Preis einer vollständigen Loslösung vom Kollektivkörper und der damit verbundenen Todesdrohung, wie sie am Beginn der modernen politischen Philosophie bei Hobbes als eine die Gemeinschaft ins Leben rufende Erfahrung der Verneinung in Szene gesetzt ist, könnte darin bestehen, dass der „freie Geist“ und das „‚kindliche‘ Idiothentum“ in letzter Konsequenz zusammenfallen. Denn wenn jeder mit jedem in diesem so formierten Kollektiv zugleich durch den Bezug auf das Reale des eigenen Todes und dessen Verdrängung im Kollektiv verbunden ist, dann muss einer von der prägenden Kraft dieses Bezugs befreiten Vorstellungswelt im Verhältnis zur Gemeinschaft zwangsläufig die Position eines Idioten zukommen. Die komplizierte Problematik, die der „Typus Jesus“ daher für Nietzsches Projekt eines souveränen Individuums aufwirft, betrifft die Frage, auf welche Weise der Tod als Zeichen der Verneinung selbst unter der Bedingung einer umfassenden Selbstbejahung erhalten bleiben muss,137 um dem Schicksal der Idiosynkrasie zu entgehen.

6.

Verdrängung und Verwerfung

In seiner nachgelassenen Schrift Ecce homo. Wie man wird, was man ist (1888) beschreibt Nietzsche das Ergebnis einer Ich-Regie, die es erlauben soll, sich soweit als möglich in den Augenblick seiner Selbstpräsenz einzuschließen, anhand einer „rein“ zu 134 135 136 137

Ebd. S. 213. Ebd. S. 207. Ebd. S. 204. Zu dieser Problematik vgl. die Kapitel Negation als Urzeichen und Tod als Zeichen bei Josef Simon: Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989, S. 85–86, S. 206–211.

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erhaltenden „Oberfläche“ des „Bewusstseins“, auf der scheinbar nichts Fremdes mehr aufzutauchen vermag: „Es fehlt in meiner Erinnerung, dass ich mich je bemüht hätte, – es ist kein Zug von Ringen in meinem Leben nachweisbar, ich bin der Gegensatz einer heroischen Natur. Etwas ‚wollen‘, nach Etwas ‚streben‘, einen ‚Zweck‘, einen ‚Wunsch‘ im Auge haben – das kenne ich Alles nicht aus Erfahrung. Noch in diesem Augenblick sehe ich auf meine Zukunft – eine weite Zukunft – wie auf ein glattes Meer hinaus: kein Verlangen kräuselt sich auf ihm. Ich will nicht im Geringsten, dass etwas anders wird als es ist; ich will selber nicht anders werden. Aber so habe ich immer gelebt.“138 Sowohl aus der Vergangenheit sind alle Spuren fremder Einwirkungen getilgt, als auch im Hinblick auf die Zukunft alle Veränderungen präventiv abgeschirmt. Die scheinbar vollständige Aneignung, in der sich das Ich mit sich einig weiß, verfährt nicht nur retroaktiv, sondern auch antizipatorisch: So, wie es war und jetzt ist, wird es immer sein. Es gibt nur den einzigen Augenblick einer Ich-Regie, in der das Individuum als „Souverän“ seiner selbst erscheint. Jedes Wollen, jedes Streben, jeder Zweck und jeder Wunsch sind zugunsten eines Zuschauerblicks zurückgestellt, der auf eine weite, glatte Oberfläche gerichtet ist, die an keiner Stelle eine Markierung aufweist, sondern wie ein leerer Spiegel den Blick sich selbst zurückgibt.139 Selbst die mentale Operation, der sich diese Selbstpräsenz zu verdanken hat, scheint in einer „Tiefe“ gebannt zu sein, die aus der Perspektive der „Oberfläche“ nicht mehr sichtbar werden kann, sondern nur noch als ein Fehlen anwesend ist. Was in dieser Szene „fehlt“, ist nicht allein jedes Gefühl einer Mangelhaftigkeit, sondern die Austilgung des Mangels der Endlichkeit selbst, durch den die mentale Operation allererst in Gang gesetzt wird. Denn obwohl Nietzsche in dem berühmten Eingangssatz dieser Schrift das „Glück“ seines „Daseins“ dem „Verhängnis“ einer „doppelten Herkunft“ zurechnet, so scheint das Ergebnis der Operation darin zu bestehen, dass weder der Umstand der Geburt noch ein drohender Tod die Szene der Selbstpräsenz beeinträchtigen können: „[...] ich bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt.“140 Was in der „Tiefe“ des Bewusstseins zuvor bereits stattgefunden haben und damit auch auf eine spezifische Weise erhalten bleiben muss, um die „Oberfläche“ eines gegenwärtigen Augenblicks garantieren zu können, ist die Symbolisierung eines Todes, der einem anderen als demjenigen zugerechnet wird, der jetzt gerade lebt. Denn dass der jetzt Lebende „als“ seine eigene Vater-Figur schon gestorben ist, heißt nicht nur, dass es mit dem Untergang der Vater-Figur nun keine Instanz mehr gibt, die über die Grenze von Leben und Tod verfügt, sondern dass diese Instanz jetzt als untergegangene den entscheidenden Hintergrund der eigenen Selbstpräsenz abgibt. Die „doppelte Herkunft“ als „décadent“ und als „Anfang“ beschreibt nicht allein eine Loslösung von einer als 138 139

140

Friedrich Nietzsche: Ecce homo, Kritische Studienausgabe, Bd. 6, S. 294f. Vgl. dazu Jacques Derrida: Otobiographien – Die Lehre Nietzsches und die Politik des Eigennamens, in: ders./Friedrich Kittler: Nietzsche – Politik des Eigennamens: Wie man abschafft, wovon man spricht, Berlin 2000, S. 9–63 (hier: S. 26), der den „unerhörten Vertrag“, den Nietzsche in Ecce homo „mit sich selbst geschlossen“ habe, in den Kontext politischer „Unabhängigkeitserklärungen“ rückt und als einen Gegendiskurs zum Staatsverständnis des Idealismus auffasst, ohne allerdings auf die Reproduktion der idealistischen Souveränitätslogik bei Nietzsche einzugehen. Nietzsche: Ecce homo (Anm. 139), S. 264.

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väterlich codierten Szene der Autorität, die sowohl staatliche als auch religiöse Instanzen der Verneinung umfassen kann, zugunsten einer als mütterlich codierten „ewigen Wiederkunft“, in deren Rahmen sich die selbstschöpferischen Akte eines für sich seienden Individuums unbeeinträchtig vollziehen können. Denn dafür muss man zunächst mit der Vater-Figur in das Reich des Todes hinabsteigen, um sicherzustellen, dass die Vater-Figur auch dauerhaft dort bleibt und nicht zuletzt wiederkehrt, indem man selbst an ihre Stelle tritt und dadurch die Autorität der Vater-Figur lediglich tradiert.141 Erst in dieser abwehrenden Beziehung zur untergegangenen Vater-Figur wird die Möglichkeit eröffnet, sich selbst ganz auf die Seite eines immer währenden Lebens zu stellen, ohne sich der Gefahr auszuliefern, überhaupt kein „Nein“ mehr zu kennen. Denn das „Nein“ bleibt nach wie vor erhalten, nur geht es jetzt von einem nach außen verschobenen Ort aus. Die mentale Operation, deren Ziel darin besteht, „so wenig als möglich Nein zu sagen“,142 führt Nietzsche dem Leser sehr deutlich vor Augen, wenn er den Abstieg in das Grab des Vaters als Bedingung seines „Ja-Sagens“ inszeniert: „Im gleichen Jahre, wo sein Leben abwärts gieng, gieng auch das meine abwärts: im sechsunddreissigsten Lebensjahre kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität, [...].“143 An diesem „niedrigsten Punkt“ herrschen körperliche Erschöpfungszustände und krankhafte Schmerzen vor. Inmitten der „Marter“ aber, „die ein ununterbrochener dreitägiger Gehirn-Schmerz sammt mühseligem Schleimerbrechen mit sich bringt“, stellt sich plötzlich eine „Dialektiker-Klarheit“ ein, die es Nietzsche erlaubt, die Vielzahl der aufgezählten Leidenssymptome nicht sich selbst, sondern einem anderen zuzurechnen: „Alle krankhaften Störungen des Intellekts, selbst jene Halbbetäubung, die das Fieber im Gefolge hat, sind mir bis heute gänzlich fremde Dinge geblieben, über deren Natur und Häufigkeit ich mich erst auf gelehrtem Wege zu unterrichten hatte. Mein Blut läuft langsam. Niemand hat je an mir Fieber constatiren können.“144 Selbst der behandelnde Arzt muss zuletzt zugeben: „[...] ‚nein! an ihren Nerven liegt’s nicht, ich selber bin nur nervös.‘“145 Die Operation, die aus dem „Verhängnis“, das mit dem Untergang der Vater-Figur einsetzt, ein „Glück“ macht, das vollständig und integral zu sein scheint, besteht in einem Wechsel der Perspektive, die jetzt nicht mehr von dem Kranken zur Imagination eines Gesunden verläuft, sondern sich aus der umgekehrten Perspektive von der Imagination eines Gesunden auf den Kranken richtet: „Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werthen, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewissheit 141

142 143 144 145

Vgl. dazu das Kapitel Die Konsultation des väterlichen Schattens bei Pierre Klossowski: Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, übers. v. Ronald Vouillé, München 1986, S. 271–305 (hier: S. 276), der die sprachliche Nähe von „Wiederkunft“ und „Niederkunft“ ins Zentrum seiner Überlegungen gestellt hat und in der „negativen Identifikation“ mit der Vater-Figur bei Nietzsche eine Umkehrung des „ödipalen Schemas“ sieht: „Nietzsche substituiert sich, aber er setzt sich nicht – dem ödipalen Schema folgend – an die Stelle seines Vaters neben seine Mutter, sondern einem umgekehrten Schema folgend, an die Stelle seiner Mutter neben seinen Vater, als ob er seine eigene Mutter wäre. Eben das erklärt er später als seine Selbstgenesung.“ Nietzsche: Ecce homo (Anm. 139), S. 292. Ebd. S. 264. Ebd. S. 265. Ebd. S. 265.

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des reichen Lebens hinuntersehen in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts – das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgend worin wurde ich darin Meister.“146 Was es möglich macht, das Grab des Vaters wieder zu verlassen, besteht in der „Übung“, auf sich selbst als auf einen anderen zu schauen:147 Es ist ein anderer, der sich mit dem Tod der Vater-Figur identifiziert hat und ihr ins Grab gefolgt ist. Die Kohärenz des Blicks, in dem sich nun die „Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens“ ansammeln können, verdankt sich dem abstoßenden Anblick eines Leidenden und Kranken, dem die Last der Symbolisierung des Todes jetzt aufgebürdet wird.148 – Als Voraussetzung für diese Abspaltung nennt Nietzsche ein „Kaltblütigsein“, das es ermöglicht, zu sich selbst in „Distanz“ zu treten. Der vormals Kranke, der nun als Gesunder auf sich selbst als einen Kranken blickt, hat nichts mehr mit dem zu tun, der jetzt gerade krank ist: „Als summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Spezialität war ich décadent.“149 Der Kranke erscheint lediglich als ein Teil des Gesunden, dessen Aufgabe es gewesen ist, die „Gesamt-Gesundheit“ zu steigern. Im Nachhinein der Operation kann der Gesunde überhaupt nur gesund sein, weil der Kranke ihm dazu verholfen hat. Der Untergang der Vater-Figur wird somit weder durch einen Vater-Ersatz kompensiert, noch resultiert daraus der Versuch, selbst an dessen Stelle zu treten, sondern die dadurch ausgelöste Krise wird einem mangelhaften anderen zugerechnet, der bei der untergegangenen Vater-Figur dauerhaft verbleiben muss, sodass von dessen Anblick jederzeit die gesteigerte Lust ausgeht, gesund zu sein. Nietzsche kann diesen Absatz von Ecce homo daher mit der Ankündigung einer neuen symbolischen Ordnung beschließen: „Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich allein eine ‚Umwerthung der Werthe‘ überhaupt möglich ist.“150 – Die „Umwerthung der Werthe“ verdankt sich der grundlegenden Einsicht, dass es ein „höheres Sein“ nur geben kann, weil es ein niedrigeres gibt. Das „höhere Sein“ existiert nicht aus sich selbst, sondern geht aus einer absondernden Relation zu einem niedrigeren hervor, mit dem es nach der Absonderung selbst nichts mehr zu tun hat. Das Niedrigere leitet sich nicht aus einer misslungenen Realisation eines Höheren ab, sondern umgekehrt: Der Zustand eines „höheren Seins“, bei dem der Mangel der Endlichkeit nicht mehr der zentrale Ausgangspunkt der symbolischen Ordnung sein soll, kann sich nur dann dauerhaft stabilisieren, wenn dieser derart auf einen niedrigeren Zustand bezogen ist, dass sich der eigene Mangel in einem anderen lokalisieren lässt, der das Außen dieses „höheren Seins“ abgibt. Mit dieser Operation ist die Gefahr gebannt, 146 147

148

149 150

Ebd. S. 266. Für einen Überblick zu individualpsychologischen Interpretationen dieser Abspaltung vgl. Pia Daniela Volz: „Der Begriff des Dionysischen noch einmal“ – Psychologische Betrachtungen zum Dionysischen als Herkunftsmythos, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, hg. v. Volker Gerhard u. Renate Reschke, Bd. 9, Berlin 2002, S. 189–205. Zur Problematik einer gleichzeitigen „Übersteigerung und Durchstreichung“ der eigenen Autorschaft in Ecce homo, die sich nur vordergründig als „dionysisch“ verstehen lässt, vgl. Erich Kleinschmidt: Abwesende Gegenwärtigkeit. Grenzpositionen der Autorschaft in Friedrich Nietzsches „Ecce homo“, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaft, Jahrgang 46, Heft 2 (2000), S. 165–179 (hier: S. 175). Nietzsche: Ecce homo (Anm. 139), S. 266. Ebd. S. 266.

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die für Nietzsche von dem „Typus Jesus“ ausgeht, nämlich dass es zuletzt überhaupt keinen wahrnehmbaren Mangel mehr gibt und somit der „Wille zur Macht“ in sich selbst zerfällt, weil nichts mehr existiert, zu dem sich nicht „Ja“ sagen lässt.151 Zugleich ist damit aber auch die als zwanghaft erlebte Notwendigkeit, das Ungenügen der Welt und damit den Mangel der eigenen Endlichkeit im Zugang einer Verdrängung zugleich zu wissen und nicht zu wissen, aus dem Innersten des Subjekts ausgetrieben, insofern dieses Ungenügen nun einem mangelhaften anderen zugerechnet werden kann, der jenseits der „Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens“ zu verbleiben hat. Aus der Spaltung des modernen Subjekts, die Nietzsche unter dem Stichwort „Neurosen der Gesundheit“ analysiert hat und die auf eine übergeordnete Instanz angewiesen ist, um die für jede Gemeinschaft konstitutive Leistung einer Verdrängung zu gewährleisten, ist nun eine Spaltung zwischen den „unvollständigen“ und den „ganzeren Menschen“ geworden, die auf keine derartige Instanz mehr angewiesen ist. Aus diesem Grund kann Nietzsche seine Gesundung allein sich selbst zuschreiben und sich schuldlos gegenüber einem abgesonderten Kranken sehen, mit dem der Gesunde im Nachhinein der Operation in keiner sichtbaren Weise mehr verbunden ist: „Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund: die Bedingung dazu – jeder Physiologe wird das zugeben – ist, dass man im Grunde gesund ist.“152 Jacques Lacan hat im Anschluss an Sigmund Freud den Vorgang der Verdrängung von dem der Verwerfung dadurch unterschieden, dass es sich um eine ursprüngliche Ausschließung aus einem „primär Inneren“ handelt, bei dem dasjenige, was zugleich gewusst und nicht gewusst wird, derart geleugnet wird, dass es „von außen wiederkehrt“.153 Während der Prozess der Verdrängung seine symbolische Strukturierung in einer Wiederkehr des Verdrängten und somit in einer notwendigen Wiederholung der Verdrängung findet, geht die Zwanghaftigkeit beim Prozess der Verwerfung dagegen von einem anderen außerhalb des eigenen Erlebens aus: „Was aus dem Symbolischen verworfen worden ist, taucht im Realen wieder auf , [...].“154 Im Unterschied zum Prozess der Verdrängung muss der geleugnete Konflikt deshalb durch einen bedrohlichen anderen verkörpert werden, mit dem man meint, nichts zu tun zu haben, und der einen trotzdem zu einer äußerst wachsamen und unaufhörlichen Analyse zwingt. So sieht Nietzsche sich durch eine „parasitische Art Mensch“ umstellt,155 der aus Mangel an eigener Gesundheit nach der Gesundheit des Gesunden trachtet und von dem selbst dann noch eine Bedrohung ausginge, wenn man ihn verachten würde und sich dadurch zu sehr 151

152 153 154 155

Zur Auseinandersetzung mit dem „Typus Jesus“ in Ecce homo vgl. Werner Stegmaier: Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens. Zur Deutung von „Der Antichrist“ und „Ecce homo“, in: Nietzsche-Studien, hg. v. Ernst Behler, Eckhard Heftrich, Wolfgang Müller-Lauter u. Heinz Wenzel, Bd. 21, Berlin/New York 1992, S. 163–183 (hier: S. 181), der in Nietzsches „Begriff des Dionysischen“ eine die unvergleichliche Individualität in Szene setzende Nivellierung von „Menschen“ und „Göttern“ sieht: „Als Individuen unter inkommensurablen Lebensbedingungen sind die Götter menschengleich geworden, es unterscheidet sie grundsätzlich nichts mehr von Menschen.“ Nietzsche: Ecce homo (Anm. 139), S. 266. Jacques Lacan: Die Psychosen. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch III (1955–56), übers. v. Michael Turnheim, hg. v. Jacques–Alain Miller, Weinheim/Berlin 1997, S. 57. Ebd. S. 57. Nietzsche: Ecce homo (Anm. 139), S. 372.

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in seine Nähe begäbe: „Wen ich verachte, der erräth, dass er von mir verachtet wird: ich empöre durch mein blosses Dasein Alles, was schlechtes Blut im Leibe hat ...“156 Um sich selbst vollständig rein erhalten und den eigenen Konflikt als ein Problem auffassen zu können, das von außen an einen herangetragen wird,157 muss man sogar noch „voller Auszeichnung für die Niedrigsten“ sein, insofern das „Meisterstück in der Kunst der Selbsterhaltung – der Selbstsucht“ allein dann gelingen kann, wenn man mit der Verbindung zum kranken anderen ebenfalls das Wissen um die Bedingungen der eigenen Existenz zurückgelassen hat: „Dass man wird, was man ist, setzt voraus, dass man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist.“158 – Während das „nosce te ipsum“ in der politischen Philosophie bei Hobbes einem zur Einsicht in die Problematik der eigenen Lage verhelfen und die entsprechenden Verhaltensweisen zur fügsamen Eingliederung in die staatlich gefasste Gemeinschaft nahe legen soll, muss diese Einsicht genau in dem Moment als „Recept zum Untergang“ erscheinen,159 in dem die aktiv betriebene Leugnung der eigenen Lage einem allererst die Macht verleiht, sich nicht mehr von der Todesdrohung und der damit verbundenen Disziplinierung bestimmt zu sehen. Denn was Nietzsche zuletzt verwirft und was von außen wiederkehrt, wenn er die „Todfeindschaft gegen das Leben“ als solche in einer „parasitischen Art Mensch“ repräsentiert sieht, ist der Tod selbst als der „große Andere“ der modernen politischen Philosophie, um den sich nicht nur religiöse Instanzen im Sinne des „Typus des Priesters“ angelagert haben, sondern als dessen Verwaltung sich auch der moderne Staat etabliert hat. Im Unterschied zur Gewissheit des Todes, die der moderne Staat bürgerlicher Prägung darstellt, und seinem gleichzeitigen Schutzversprechen vor einer Omnipräsenz der Todesdrohung zehrt die vom souveränen Individuum entfaltete Dynamik bei Nietzsche von der Vergewisserung der eigenen Lebensfülle im Absterben eines mangelhaften anderen. Dabei tritt an die Stelle des durch die staatliche Instanz eingehegten „großen Anderen“ ein zufälliger „kleiner anderer“, in dem man sich allerdings nicht mehr wie noch unter der Dominanz eines „großen Anderen“ auf eine symmetrische Weise spiegeln kann, weil dieser „kleine andere“ nach dem Untergang einer über die Grenze von Leben und Tod verfügenden Instanz die einzig verbliebene Möglichkeit einer jetzt negativen Selbstvergewisserung darstellt. In diesem Sinne muss man auch die berühmte Aussage von Nietzsche verstehen, seine Existenz könnte vielleicht nur ein „Vorurtheil“ sein: „Ich lebe auf meinen eigenen Credit hin, es ist vielleicht bloss ein Vorurtheil, daß ich lebe? ...“160 Denn die in diesem Satz festgehaltene Ungewissheit bezüglich der Grenze von Leben und Tod resultiert aus der Vergewisserung des eigenen Lebens in der Distanz zu einem mangelhaften anderen, die stets unsicher bleibt, weil man von diesem anderen nicht anerkannt werden kann, da man ihn selbst nicht anerkennt. Aus diesem Grund korrespondiert der 156 157

158 159 160

Ebd. S. 297. Vgl. dazu Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, übers. v. Manuela Lenzen u. Martin Klaus, Frankfurt/M./New York 2004, S. 3–16 (hier: S. 11), der in diesem Sinne einen Zusammenhang zwischen dem historischen Aufstieg des „souveränen Individuums“ und dem sozialen Symptom der „Depression“ analysiert: „Der Erfolg der Depression beruht auf dem verlorenen Bezug auf den Konflikt, auf dem der Begriff des Subjekts basiert, [...].“ Nietzsche: Ecce homo (Anm. 139), S. 293. Ebd. S. 293. Ebd. S. 257.

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„Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens“ ein zugleich fremder und doch äußerst intimer „An-sich-selber-Leidender“, der eigentlich „zu Grunde gehn soll“,161 dessen tatsächlicher Untergang jedoch ebenso den eigenen Aufstieg verunmöglichen würde. Mit dieser extremen Spannung setzt Nietzsche eine das 20. Jahrhundert bestimmende Dynamik frei,162 bei der die Todesdrohung bloß als eine intensivierte Forderung des Lebens nach mehr Leben erscheint und die von einer übergeordneten Instanz, die auf einer stabilen Gewissheit der Grenze von Leben und Tod basiert, nicht hätte entfaltet werden können.

161 162

Ebd. S. 374. Zur Initiation eines poststaatlichen Liberalismus bei Nietzsche vgl. Friedrich Balke: Wölfe, Schafe und Ochsen. Nietzsche und die liberale politische Zoologie, in: Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Zürich/Berlin 2007, S. 197–218 (hier: S. 211f): „Wo die Moral der Herde die Realisierung einer möglichst umfassenden Gleichheit der Lebensbedingungen anstrebt, also die Ausdehnung und Verbreitung der Mitte und des Mittleren, setzt der nicht länger im Rahmen des Staates operierende Liberalismus auf die möglichst umfassende Freisetzung der ‚SolitärPerson‘, die schließlich als ‚Unternehmer ihrer selbst‘ figurieren wird.“

VIII Vorstöße ins Reale (Heidegger)

In seinem für die Entstehung der modernen Soziologie grundlegenden Buch Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887) hat Ferdinand Tönnies eine zumindest auf den ersten Blick leicht nachzuvollziehende Unterscheidung zwischen zwei Formen sozialer Verbindungen etabliert: „Das Verhältnis selber, und also die Verbindung, wird entweder als reales und organisches Leben begriffen – dies ist das Wesen der Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bildung – dies ist der Begriff der Gesellschaft.“1 Während sich die soziale Verbindung der Gesellschaft für Tönnies als ein „bloßes Nebeneinander voneinander unabhängiger Personen“ definieren lässt, deren Zusammensein nur ein „vorübergehendes und scheinbares“ ist, stellt die soziale Verbindung der Gemeinschaft das „dauernde und echte Zusammenleben“ von Menschen dar.2 Zu einer Gesellschaft schließt man sich aufgrund eines Willensaktes zusammen, bei dem die jeweils andere Willensäußerung lediglich das Mittel abgibt, um einen als gemeinschaftlich verstandenen Zweck zu erreichen. In der Gemeinschaft hingegen wird der gemeinschaftliche Zweck nicht aus den gegebenen Willensäußerungen abgeleitet, sondern die vorliegenden Willensäußerungen resultieren allererst aus der Tatsache, dass es schon eine gemeinschaftliche Bindung gibt. Im ersten Fall erscheint das Kollektiv als Folge einer Willensentscheidung, die somit auch anders hätte ausfallen können; im zweiten Fall stellt das Kollektiv eine umfassendere Größe dar, der sich die möglichen Räume der Willensentscheidungen überhaupt erst zu verdanken haben. Gesellschaftlich handelt man, solange man in den gemeinschaftlichen Zwecken seine eigenen und damit von den allgemeinen unabhängigen Zwecke wiedererkennen kann; gemeinschaftlich handelt man, wenn die eigenen Zwecke als unauflöslich mit 1

2

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 2005, S. 3. Für einen Überblick zur historischen Rezeption und anhaltenden Diskussion dieser folgenreichen Unterscheidung vgl. Lars Clausen/Carsten Schlüter (Hg.): Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen 1991, insbesondere das Vorwort der beiden Herausgeber, S. 9–14. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (Anm. 1), S. 4.

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den allgemeinen verbunden erfahren werden. – Obwohl es für Tönnies keine Frage sein kann, dass beide Formen der sozialen Verbindungen stets gemischt vorliegen, gehört die Dominanz des gesellschaftlichen Handelns eindeutig der modernen Zeit an: „Gemeinschaft ist alt, Gesellschaft ist neu, als Sache und Namen.“3 Demnach gibt es historisch frühere Phasen, in denen sich die Menschen überhaupt nicht vorstellen konnten, ihr Zusammenleben könne ein „mechanisches Aggregat und Artefakt“ sein und im Sinne moderner Vertragstheorien auf einer wie auch immer zustande gekommenen Übereinkunft einzelner Willensakte basieren. Denn um diese „ideelle“ Vorstellung haben zu können, muss man von einer grundlegenden Bindung absehen können, in der sich jeder Willensakt immer schon vorfindet und die Tönnies unter dem Begriff eines „lebendigen Organismus“ der Gemeinschaft zusammenfasst.4 Diese Bindung kann sich in der „Sprache“, der „Sitte“, im „Glauben“, im „Besitz“ oder auch ganz allgemein als Lebensform manifestieren, aber sie ist zu jeder Zeit gegeben, und das heißt auch dann, wenn ab einem bestimmten historischen Moment das gesellschaftliche Handeln das gemeinschaftliche auf eine unumkehrbare Weise zu dominieren scheint. In der Vorrede zur ersten Auflage hat Tönnies diesen Moment philosophiehistorisch mit der Vorstellung einer „carte blanche der menschlichen Seele“ in Verbindung gebracht, die sowohl den „reinen Empirismus“ bei David Hume kennzeichne als auch den Horizont für die Frage nach einer „reinen Vernunft“ bei Immanuel Kant abgebe: „Beide verfahren auf rationalistische Weise, mit entgegengesetzten Ergebnissen. Den Empirismus in Bezug auf Wahrnehmung hatte Hume noch vorausgesetzt, in dem Sinne, als ob Erkenntniß die Wirkung von objectiven Qualitäten und Zuständen der Dinge auf eine carte blanche der menschlichen Seele sei; nach Kant ist sie, wenn auch den Dingen ihr Dasein und Mitwirkung gelassen wird, wesentlich Product von Thätigkeiten des Subjects, wie das Denken selber.“5 Aus der gleichsam konstruktivistischen Perspektive einer „rationalistischen Auffassung“ erscheinen die Menschen als eine „natürliche Denkgemeinschaft“, bei der von allen „organischen“ Dimensionen der Gemeinschaft bewusst abgesehen wird. Weil sich nach Tönnies jedoch jede „reine Wissenschaft“ ausschließlich auf „Gedankendinge“ und „Constructionen“ beziehen kann, steht der rationalistischen eine historische Auffassung gegenüber, die sich nicht auf „Complexe von Ideen“ beschränken kann, sondern die sich dem „Problem des Ursprunges und der Geschichte menschlicher Erkenntniß“ zu stellen hat.6 Denn selbst wenn die „Subjekte“ im Sinne der konstruktivistischen Perspektive die „wirkenden, also die eigentlich wirklichen (ta ontos onta) Dinge“ sind, so lässt sich dennoch nicht übersehen, dass die „Denkgemein3 4

5 6

Ebd. S. 4. Vgl. dazu Cornelius Bickel: „Gemeinschaft“ als kritischer Begriff bei Tönnies, in: Carsten Schlüter/Lars Clausen (Hg.): Renaissance der Gemeinschaft? Stabile Theorie und neue Theoreme, Berlin 1990, S. 17–46 (hier: S. 19): „Den Menschen der gemeinschaftlichen Epoche werden die Begriffe der Weltauslegung von den Traditionen vorgegeben. In der gesellschaftlichen Epoche dagegen gehen Handlungsmuster, Weltbilder und Institutionen als Resultat bewußter konstruktiver Leistungen aus dem rational eingesetzten intellektuellen Instrumentarium hervor. Gesellschaftliche Verhältnisse sind demnach also ‚fiktiv‘, da sie auf Abstraktionsleistungen [...] oder fingierten Konstellationen [...] beruhen.“ Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (Anm. 1), S. XV. Ebd. S. XVII.

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schaft“ der Menschen historisch derart unterschiedliche Formen des Zusammenlebens hervorgebracht hat und aus diesem Grund selbst noch in der Geschichte einer „generellen Psychologie“ wurzeln muss: „Die Thatsachen der generellen Psychologie sind die historische und actuelle Cultur, d. i. menschliches Zusammenleben und seine Werke.“7 Selbst das Absehen von der „organischen“ Dimension der Gemeinschaft verdankt sich demnach noch dem, wovon abgesehen wird. – Was Tönnies mit der sowohl historisch als auch systematisch gefassten Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft ins Spiel bringt, betrifft nicht nur zwei unterschiedliche Formen sozialer Verbindungen, die sich sozialwissenschaftlich analysieren lassen, sondern die Wirksamkeit eines Realen, das dann zunehmend in Vergessenheit zu geraten droht, wenn das Zusammenleben in erster Linie als konstruktivistische „Denkgemeinschaft“ verstanden wird. Denn wenn sich die historische Möglichkeit einer ideellen Gesellschaft den realen Grundlagen einer Gemeinschaft verdankt, dann kann sich die Gesellschaft niemals vollständig von der Gemeinschaft lösen, sondern bleibt selbst dann noch von ihr abhängig, wenn sie sich dieser gegenüber stellt.8 Die damit verbundene Gefahr resultiert daraus, dass die Gesellschaft ihre gemeinschaftlichen Grundlagen nicht mehr wahrnehmen kann, wenn sie sich immer deutlicher anhand der Distanz zu ihrer eigenen Herkunft aus der Gemeinschaft versteht und vergisst, dass im Gegensatz zum vorgestellten Ursprung der Gesellschaft im Sinne einer vertraglichen Setzung ihr realer Ursprung in der Gemeinschaft liegt: „Der Gedanke, welchen ich für mich auf diese Weise ausdrücke: daß die natürliche und (für uns) vergangene, immer aber zu Grunde liegende Constitution der Cultur communistisch ist, [...].“9 Selbst als „vergangene“ liegt die Gemeinschaft der aktuellen Gesellschaft noch „zu Grunde“; selbst wenn die Gesellschaft die Wahrnehmung ihrer gemeinschaftlichen Herkunft zu verlieren droht, ist die soziale Verbindung der Gemeinschaft noch gegenwärtig in der Weise ihrer Vergangenheit. Der von Tönnies als „communistisch“ verstandene Ursprung der Gesellschaft kann daher seine Wirksamkeit auch dann nicht einbüßen, wenn das gesellschaftliche Handeln in Form individueller Willensakte als das für das Zusammenleben der Menschen maßgebliche aufgefasst wird. Im Gegensatz zur rationalistischen soll die historische Auffassung deshalb den Zugang zu dieser Wirksamkeit offen halten, indem sie mit der Rekonstruktion des geschichtlichen Hervorgehens der Gesellschaft aus der Gemeinschaft zugleich deutlich macht, auf welche Weise die soziale Verbindung der Gemeinschaft immer noch wirksam ist und auch weiterhin bleiben muss.10 Denn weil Tönnies die Unterscheidung sowohl histo7 8

9 10

Ebd. S. XX. Zu der damit zusammenhängenden Problematik, dass die soziale Verbindung der Gemeinschaft von der Position der Gesellschaft aus häufig dann angerufen und eingeklagt wird, wenn sich die soziale Verbindung der Gesellschaft selbst als krisenhaft erfährt, vgl. Carsten Schlüter/Lars Clausen: Einleitung. Anfragen bei „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, in: dies. (Hg.): Renaissance der Gemeinschaft? Stabile Theorie und neue Theoreme, Berlin 1990, S. 9–16. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (Anm. 1), S. XXII. Vgl. dazu Roberto Esposito: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, übers. v. Sabine Schulz u. Francesca Raimondi, Zürich/Berlin 2004, S. 7–35 (hier: S. 9), der seinen Begriff der Gemeinschaft von einem „postromantischen“ Verständnis bei Tönnies abgrenzt, weil dieser an der Idee einer wiederherzustellenden Ganzheit festhalten würde, die zugunsten einer gemeinschaftlichen Erfahrung des Entzugs von Ganzheit im Sinne von Jean-Luc Nancy verabschiedet werden

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risch als auch systematisch anlegt, muss die historisch frühere Seite der Unterscheidung selbst unter den Bedingungen ihres Verschwindens die Unterscheidung nach wie vor dominieren: „Man versteht aber leicht: es gibt keinen Individualismus in Geschichte und Cultur, außer wie er ausfließt aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibt, oder wie er Gesellschaft hervorbringt und trägt. Solches entgegengesetzte Verhältnis des einzelnen Menschen zur Menschheit ist das reine Problem.“11 – Das „reine Problem“, das Tönnies aufwirft, besteht daher nicht nur in der Frage des historischen Übergangs von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, sondern auf welche Weise die eigentliche Hierarchie der Unterscheidung in einer Gegenwart zur Geltung kommen kann, in der die Dominanz gesellschaftlichen Handelns jede gemeinschaftliche Dimension aufzulösen und damit die Systematik der Unterscheidung selbst zu vertilgen scheint. In der Vorrede zur zweiten Auflage von 1912 wird diese Problematik noch einmal deutlicher, wenn Tönnies sich genötigt sieht, sein Interesse an der Frage nach der Gemeinschaft von der „restaurativen Romantik“ und der „historischen Rechtsschule“ im Sinne von Friedrich Carl von Savigny stark abzugrenzen, indem er sich auf den „Altmeister der deutschen Philosophie“, nämlich auf G. W. F. Hegel beruft, um die theoretische Dringlichkeit seiner Fragestellung herauszustellen. Denn während den „reaktionären Romantikern“ aufgrund ihrer bloß historischen Perspektive zuletzt nichts anderes übrig bleibt, als „Vertreter des Herkommens, des Mittelalters, der Autoritäten“ zu werden,12 gilt Tönnies die Gleichzeitigkeit von systematischer Rechtsphilosophie und historischer Staatswissenschaft bei Hegel als ein entscheidender Ausgangspunkt für seine soziologische Fragestellung.13 Die Unterscheidung von „Wesenswille“ und „Kürwille“, die bei Tönnies der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft korrespondiert, folgt aus diesem Grund zunächst der dialektischen Auffassung, dass der moderne Staat und die moderne Gesellschaft jeweils ein Moment des Willens als einmal bei sich seiend und einmal als außer sich seiend verkörpern: „So ist, in allgemeiner Fassung, Gemeinschaft das Subjekt verbundener Wesenswillen, Gesellschaft das Subjekt verbundener Kürwillen.“14 Wo bei Hegel die staatsbürgerliche Gemeinschaft als ein bei sich seiender Wille verstanden wird, der sich in der privatbürgerlichen Gesellschaft als außer sich seiend gegenübertritt, sodass die Spaltung des Kollektivs sowohl das reale als auch das imaginäre Moment der Selbständigkeit umfasst, steht bei Tönnies die Differenz von „Wesenswille“, der als „realer“ Wille seine eigenen Existenzbedingungen enthält, und „Kürwille“, der als „ideeller“ Wille lediglich einen imaginären Zugang zu seinen eigenen Existenzbedingungen erlaubt. Im Unterschied zum substantiellen „Wesenswillen“, der als ein „psychologisches Äquivalent des menschlichen Leibes“ das Gewollte an seine „organischen“ Grundlagen zurückbindet, entfaltet der artifizielle „Kürwille“ seine Wirksamkeit gerade dadurch, dass er sich

11 12 13 14

müsse, dabei allerdings übersieht, dass schon bei Tönnies der theoretische Zugriff auf die Ganzheit der Gemeinschaft diese nicht nur im historischen Sinne als eine „vergangene“ versteht. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (Anm. 1), S. XXIII. Ebd. S. XXIX. Zur über Karl Marx vermittelten Hegel-Rezeption bei Tönnies vgl. Michael Opielka: Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons, Wiesbaden 2006, S. 36ff. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (Anm. 1), S. 153.

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als selbständig denkt, obwohl er nicht selbständig ist: „Kürwille ist ein Gebilde des Denkens selber, welchem daher nur in Beziehung auf seinen Urheber – das Subjekt des Denkens – eigentliche Wirklichkeit zukommt; wenn auch diese von anderen erkannt und als solche anerkannt werden kann.“15 Im „Wesenswillen“ ist sich der Einzelne deshalb nicht allein als solcher präsent, weil er weiß, dass er seinen Status einem „höheren Selbst“ zu verdanken hat; und im „Kürwillen“ ist er sich allein deshalb präsent, weil er von diesem „höheren Selbst“ gezielt absieht. – Was Tönnies mit der Differenz von „Wesenswille“ und „Kürwille“ daher in den Blick zu nehmen versucht, ist der zu jeder Zeit gegebene Umstand, dass die „ideelle“ Selbstwahrnehmung des einzelnen Menschen immer einem „realen“ Zusammenhang mit anderen Menschen geschuldet ist, der sich aus der Idealität dieser Perspektive nicht mehr wahrnehmen lässt, sondern im Gegenteil als zurückgelassen erscheint, auch wenn er weiterhin wirksam ist. Obwohl sich jeder Willensakt eines artifiziellen „Kürwillen“ demnach einem substantiellen „Wesenswillen“ verdankt, scheint die auch für Tönnies unbestreitbare Durchsetzungskraft der konstruktivistischen Perspektive gerade im Vergessen des „realen“ Zusammenhangs zu bestehen. Aus diesem Grund muss das gemeinschaftliche Handeln dem gesellschaftlichen gegenüber prinzipiell als ein immer schon „vergangenes“ erscheinen, das sich niemals ganz in der Gegenwart abspielen kann, sondern stets nur im Nachhinein zu fassen ist: „Aber Wesenswille beruhet im Vergangenen und muß daraus erklärt werden, wie das Werdende aus ihm: Kürwille läßt sich nur verstehen durch das Zukünftige selber, worauf er bezogen ist. Jener enthält es im Keime; dieser enthält es im Bilde.“16 Der Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft ist nicht allein ein historischer Übergang, der sich geschichtlich rekonstruieren lässt, sondern findet permanent statt. Weil der einzelne Mensch zu keiner Zeit weder ganz den anderen angehört, also dem „realen“ Zusammenhang der Gemeinschaft, noch ganz sich selbst, also dem „ideellen“ Zusammenhang der Gesellschaft, sondern auf geschichtlich verschiedene Weise zwischen beiden gespalten ist, kann der Übergang von der einen Verbindung zur anderen niemals vollständig abgeschlossen sein und muss sich stets neu ereignen. Im Gegensatz zu Hegel, für den diese Spaltung in der Einheit der Unterscheidung von modernem Staat und moderner Gesellschaft ihre endgültige Fassung gefunden hat, kann es für Tönnies, der mit seiner „reinen Soziologie“ an die dialektische Gleichzeitigkeit von systematischer und historischer Perspektive anschließt,17 daher nicht ausgemacht sein, in welchen sozialen Gestalten sich die gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Verbindungen zukünftig zeigen werden. Ganz im Sinne der Links-Hegelianer, in deren Tradition Tönnies sich stellt, sieht er bei Hegel eine „Verherrlichung des Staates“ gegeben und dadurch aus der „Hegelischen Begriffswelt“ wieder „alle historische Erkenntnis, ebenso wie alle Theorie des wirkli15 16 17

Ebd. S. 73. Ebd. S. 73. Vgl. Karl-Siegbert Rehberg: Gemeinschaft und Gesellschaft – Tönnies und Wir, in: Micha Brumlik/ Hauke Brunkhorst (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993, S. 19–48 (hier: S. 28), der im Kontext der Kommunitarismus-Debatte Tönnies als Stichwortgeber zurückweist, weil dessen „Oppositionen“ im Unterschied zu Hegels Dialektik „unvermittelt“ blieben, wobei man diese prinzipielle Unvermittelbarkeit auch als die entscheidende Pointe auffassen kann.

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chen Verhältnisses zwischen individuellem Willen und sozialen Kreisen ausgelöscht“.18 – Die historische Soziologie des Übergangs von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, die Tönnies anhand des Gegensatzes von Land und Stadt bis hin zum Aufstieg der modernen „Handelsklasse“ entwirft, kann im Unterschied zur Geschichtsphilosophie Hegels auf keine endgeschichtliche Konstruktion mehr zurückgreifen, sondern nur noch eine zunehmende Abwendung vom „communistischen“ Ursprung registrieren: „Denn während sonst ein Haushalter, ein Bauer oder ein Bürger, dem Inneren und Zentrum des Ortes, der Gemeinschaft, wozu sie gehören, das Antlitz zuwenden, so richtet sich dagegen die Handelsklasse nach außen: nur die Linien, welche die Orte verbinden, die Landstraßen und die Mittel der Bewegung gehen sie an. So wohnt sie gleichsam in der Mitte eines jeden Gebietes, das sie bestimmend zu durchdringen und umzuwälzen tendiert.“19 Auch wenn diese geschichtliche Rekonstruktion nahezulegen scheint, dass es Tönnies, wie vielfach unterstellt, um eine Restitution ursprünglicher Gemeinschaften geht, so besteht der theoretische Einsatz seiner historischen Soziologie des Übergangs darin, das Wissen um den grundlegenden Umstand wach zu halten, dass es immer eine soziale Gestalt der Gemeinschaft und der Gesellschaft geben wird, selbst wenn die erstere zunehmend unsichtbar wird, weil sich der Blick nach „außen“ richtet. Selbst dann, wenn die staatsbürgerliche Gemeinschaft im Sinne Hegels nicht mehr in der Lage ist, die gesteigerten Fliehkräfte der „Handelsklasse“ zurückzubinden und sich die Gesellschaft im Imaginären ihrer Konstruktionen zu verlieren droht, wird es noch das untergründige Reale einer Gemeinschaft geben. Schon in der Vorrede zur sechsten und siebten Auflage von 1925 sieht sich Tönnies mit einem ihn zugleich bestätigenden und irritierenden Gemeinschaftsdiskurs konfrontiert, der tief in das allgemeine Bewusstsein eingedrungen sei und der das ankündigt, was Alain Badiou eine das 20. Jahrhundert kennzeichnende „Passion des Realen“20 genannt hat.

1.

Die Oberfläche der Existenz

Auch wenn der von Martin Heidegger unter den Titel einer „Fundamentalontologie“ gestellte Versuch, die abendländische Metaphysik in ihrer Gesamtheit noch einmal radikal auf ihre Grundlagen hin zu befragen, sich in seiner Selbstbeschreibung denkbar weit von den Fragestellungen einer Soziologie der Gemeinschaft entfernt sieht,21 teilt er dennoch deren Diagnose eines derart grundsätzlichen Vergessens dessen, was der 18 19 20 21

Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (Anm. 1), S. XXVII. Ebd. S. 46f. Alain Badiou: Das Jahrhundert, übers. v. Heinz Jatho, Zürich/Berlin 2006, S. 63–74. Dazu dass sich Heideggers „Analytik des Daseins“ entgegen der von ihm selbst häufig und deutlich vorgenommenen Abgrenzung von den Wissensbeständen soziologischer und biologischer Provenienz als eine philosophische Antwort auf die „Neuformulierung des Wissens vom Leben im 19. Jahrhundert“ verstehen lässt, vgl. ausführlich Friedrich Balke: Figuren der Souveränität, München 2009, S. 396–460 (hier: S. 424): „Vom Rande des Lebens holt Heidegger den Tod in dessen Mitte, verwandelt ihn in ein fait social, das anderen als rituellen Verfahren unterworfen wird, und beweist damit, dass für das Leben im Zeitalter der Biopolitik dessen ‚Seinkönnen‘ sich danach bemisst, inwieweit es sich seiner immanenten Gefährlichkeit gewachsen sieht.“

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konstruktivistischen „Denkgemeinschaft“ zugrunde liegt, sodass es einer großen Anstrengung bedarf, den philosophischen Zugang zu ontologischen Fragen überhaupt erst einmal wieder freilegen zu können. Gleich zu Beginn von Sein und Zeit (1927) heißt es in diesem Sinne, dass die Frage nach dem „Sinn von Sein“ nicht nur „heute“ in Vergessenheit geraten sei, sondern in der langen Geschichte des Denkens seit Platon und Aristoteles durch zahlreiche „Verschiebungen“ und „Übermalungen“ verdeckt und beinahe zum Verstummen gebracht wurde: „Und was ehemals in der höchsten Anstrengung des Denkens den Phänomenen abgerungen wurde, wenngleich bruchstückhaft und in ersten Anläufen, ist längst trivialisiert.“22 An die Stelle einer „Unruhe“, in die das „antike Philosophieren“ durch die „Seinsfrage“ getrieben wurde, sei dabei gegenwärtig eine „durchschnittliche Verständlichkeit“ getreten, die meint, den „Sinn von Sein“ als „selbstverständlich“ ausweisen zu können, sich aber tatsächlich nur als eine Beruhigung angesichts des „Dunkels“ der „Seinsfrage“ herausstellt: „Der Begriff des ‚Seins‘ ist vielmehr der dunkelste.“23 – Was bei Tönnies als Vergangenes nicht vergeht und immer noch wirksam ist, selbst wenn es in den „Gebilden des Denkens“ nicht mehr vorkommen kann, erscheint bei Heidegger in einer abgründigen Tiefe situiert, deren „Dunkles“ in der Lage ist, selbst noch seine „Verschiebungen“ und „Übermalungen“ zu bestimmen. Wie bei Tönnies das Vergangene als Vergangenes immer noch gegenwärtig ist, so ist bei Heidegger selbst im „durchschnittlichen, vagen Seinsverständnis“ das Abwesende, wenn auch auf eine nicht leicht zu fassende Weise, immer noch anwesend: „Das Gesuchte im Fragen nach dem Sein ist kein völlig Unbekanntes, wenngleich zunächst ganz und gar Unfaßliches.“24 Dieses „zunächst ganz und gar Unfaßliche“, um das es Heidegger in seiner fundamentalontologischen „Analytik des Daseins“ geht, kann deshalb nicht bloß eine Frage unter anderen provozieren, die sich einem spezifischen Gebiet der Philosophie zurechnen ließe. Weil es den Ursprung des Fraglichen selbst markiert und sogar noch in seinem Entzug den Ausgangspunkt aller möglichen Fragen und ihrer bislang unzulänglich gebliebenen Antworten darstellt, steht mit dem „Unfaßlichen“ auch weit mehr als ein philosophischer Erkenntnisfortschritt auf dem Spiel. Alle Aufteilungen in eine theoretische und eine praktische Philosophie, in eine Theorie der Erkenntnis oder Moralphilosophie sind an diesem Ursprung noch nicht gegeben, sodass das Vordringen zu diesem Ursprung ein dermaßen grundsätzlicher Akt sein muss, dass er alle maßgeblichen Traditionen des abendländischen Denkens noch einmal zu versammeln in der Lage sein und in dieser Versammlung auch zwangsläufig unmittelbar politisch wirksam werden muss.25 Denn unter den Bedingungen dieses Vordringens kann auch Politik nicht mehr für einen abgegrenzten Bereich stehen, weder im theoretischen Zugriff noch in der 22 23 24 25

Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1986, § 1, S. 2. Ebd. § 1, S. 3. Ebd. § 2, S. 6. Zu Heideggers politischen Anstrengungen, durch das anfänglichere Wiederholen des griechischen Anfangs eine Neugründung Deutschlands herbeizuführen, vgl. Philippe Lacoue-Labarthe: Die Fiktionen des Politischen, übers. v. Thomas Schestag, Stuttgart 1990, insbesondere S. 35–44 (hier: S. 38), der Heideggers nationalsozialistisches Engagement weder für Zufall noch Irrtum hält, sondern in „völliger Kohärenz mit seinem Denken“ sieht, aber gerade deshalb in Heideggers „‚Auseinandersetzung‘ mit dem Nationalsozialismus“ in den „Vorlesungen nach dem Bruch, bis 1944“ eine ausgezeichnete Quelle zur Rekonstruktion der „Wahrheit des Nazismus“ gegeben sieht.

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praktischen Ausübung, sondern allein in der Stiftung eines aktualisierten Zusammenhangs bestehen, der aus dem Vordringen zum Ursprung resultiert und das „uneigentlich existierende Dasein“ aus „der Zerstreuung und dem Unzusammenhang“ holt, wie es im vorletzten Kapitel von Sein und Zeit heißt.26 Während für Tönnies sich die historische Soziologie zur Aufgabe zu machen hat, den „vergangen“ Ursprung wach zu halten und seinen weiterhin wirksamen Spuren in der Gegenwart entsprechend Rechnung zu tragen, geht es für Heidegger darum, auf diesen Ursprung durchzugreifen und ihn in vollem Umfang in die Gegenwart zu bringen. – Aus der Perspektive der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft betrachtet, besteht Heideggers Anliegen nicht mehr in der Klärung, wie Gesellschaft aus Gemeinschaft historisch ausfließt, sondern geradezu gegenläufig: wie sich Gemeinschaft unter den gegebenen Bedingungen der Gesellschaft durch einen Rückgang zum Ursprung dieses Ausfließens erneut gründen lässt.27 Der historischen Diagnose von Tönnies, dass sich der Blick der Menschen in der modernen Gesellschaft zunehmend vom „Inneren und Zentrum des Ortes, der Gemeinschaft, wozu sie gehören,“ nach „außen“ gewendet hat, wo es bloß noch „Linien“ gibt, die nirgendwohin mehr führen, sondern lediglich endlose Bewegungen und Umgestaltungen anzeigen, korrespondiert bei Heidegger die Suche nach dem immer noch gegebenen „Zentrum“, von dem diese „Linien“ ausgehen, auch wenn dieses jetzt in einer schwer zugänglichen und für den Blick der Menschen verborgenen Tiefe zu liegen scheint. Entscheidend dabei ist, dass Heidegger dieses „Innere“ der Gemeinschaft nicht vorschnell mit den politischen Ordnungsvorstellungen moderner Staatsentwürfe identifiziert, die spätestens seit Thomas Hobbes das „Innere“ der Gemeinschaft auf eine Weise in Besitz nehmen und verwalten, dass es dabei der unmittelbaren Sichtbarkeit immer stärker entzogen wird. Denn der Rückgang durch die Geschichte eines Abwendens vom „Ort“ der Gemeinschaft muss zugleich klären, was der Grund dafür ist, dass die Menschen ihr „Antlitz“ abgewendet haben und weiterhin abwenden. Im Folgenden soll daher die Frage aufgeworfen werden, was am Realen der Gemeinschaft derart furchterregend sein könnte und warum Heideggers Versuch, zum „Zentrum“ der Gemeinschaft vorzudringen, so massiv vom Denken des Todes beherrscht wird. Den hermeneutischen Anhaltspunkt von Heideggers fundamentalontologischer „Analytik des Daseins“ gibt eine Selbstbeziehung ab, die von einem merkwürdigen Bruch heimgesucht zu werden scheint. Denn einerseits handelt es sich bei dem, was Heidegger auf zugleich abstrakte und konkrete Weise als „Dasein“ bezeichnet, um ein „ausgezeichnetes“ Seiendes, das zumindest zu seinem eigenen Sein in „irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit“ einen verstehenden Bezug hat: „Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausge26 27

Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 75, S. 390. Vgl. Manfred Riedel: Heimisch werden im Denken. Heideggers Dialog mit Nietzsche, in: HansHelmuth Gander (Hg.): „Verwechselt mich vor allem nicht!“ – Heidegger und Nietzsche, Frankfurt/M. 1994, S. 17–42 (hier: S. 34), der mit kritischem Blick auf Jacques Derridas HeideggerInterpretation zeigt, dass Heideggers Frage nach dem „Seienden im Ganzen“ dem von Friedrich Nietzsche aufgeworfenen Fragehorizont folgt und insofern das „metaphysische Totalitätsdenken“ im Sinne Hegels hinter sich gelassen hat, als das „Geheimnis des Seins“ gerade in seinem Entzug gedacht wird, ohne allerdings auf das damit verbundene Gründungsvorhaben einzugehen.

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zeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Zu dieser Seinsverfassung gehört aber dann, daß es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und dies wiederum besagt: Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein.“28 Weil es unter den vielen Arten des Seienden eine ganz besondere gibt, die zu ihrem eigenen Sein einen immer schon verstehenden Zugang hat, kann auch das Sein im Allgemeinen nicht vollkommen unzugänglich sein. Mit diesem hermeneutischen Anhaltspunkt knüpft Heidegger zunächst unmittelbar an die philosophische Phänomenologie von Edmund Husserl an und damit auch an eine moderne Tradition der Selbstvergewisserung entlang der vermeintlich evidenten Nähe einer Selbstbeziehung, die in der phänomenologischen Erforschung selbstbezüglicher Gewissheiten noch in dem Sinne überboten wird, dass nun auch der „Körper“ als transzendentaler „Leib“ und die Erfahrung eines scheinbar fremden „Anderen“ in den apriorischen Einzugsbereich der Selbstbeziehung fallen sollen.29 Denn selbst unter den gedanklich-experimentellen Bedingungen einer „universalen Pest, die mich allein übrig gelassen hätte“, wie Husserl in seiner Einleitung in die Phänomenologie mit dem programmatischen Titel Cartesianische Meditationen (1931/1950) schreibt, lässt sich die „universale Konstitution“, in der das „transzendentale Ego als eine objektive Welt konstituierendes dahinlebt“, noch als unhintergehbare Voraussetzung seiner Selbstbeziehung ausweisen.30 – Während es Husserl im Anschluss an die durch René Descartes begründete Tradition moderner Selbstvergewisserung um eine philosophisch „strenge“ Erweiterung des transzendentalen Feldes geht, interessiert sich Heidegger dagegen für den inneren Bruch, der die Selbstbezüglichkeit einer „psychophysischen Einheit“, wie es bei Husserl heißt, in ihrem verdoppelnden Rückbezug auf sich selbst zwangsläufig kennzeichnen muss. Denn im Gegenzug zur vermeintlich evidenten Nähe der Selbstbeziehung könnte diese Evidenz anderseits genau das maskieren, was die Selbstgewissheit im Sinne Husserls überhaupt erst als solche zu stiften vermag: „Das Dasein ist zwar ontisch nicht nur nahe oder gar das nächste – wir sind es sogar je selbst. Trotzdem oder gerade deshalb ist es ontologisch das Fernste.“31 Wo aus einer phänomenologischen Perspektive die stärkste Quelle philosophischer Evidenz vermutet wird, gilt es aus fundamentalontologischer Perspektive gerade besonders skeptisch und wachsam zu sein: „Das Dasein hat vielmehr gemäß einer zu ihm gehörigen Seinsart die Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig 28 29

30

31

Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 4, S. 12. Vgl. dazu Jacques Derrida: Grammatologie, übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt/M. 1983, S. 49–129 (hier: S. 86), der die Phänomenologie Husserls aus diesem Grund als die „radikalste und kritischste Restauration der Metaphysik der Präsenz“ auffasst. Vgl. auch Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, übers. v. Jochen Hörisch. Frankfurt/M. 1979, insbesondere S. 97ff.: „Die Gewißheit der inneren Existenz bedarf Husserl zufolge nicht der Bezeichnung. Denn sie ist sich selber unmittelbar präsent. Sie ist lebendiges Bewußtsein.“ Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg 1987, S. 96. Zur systemtheoretischen Übertragung dieses „so viel versprechenden Theorietypus vom ‚Subjekt‘ auf das ‚Sozialsystem Gesellschaft‘“ vgl. Niklas Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien 1996, S. 52ff. Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 5, S. 15.

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und zunächst verhält, aus der ‚Welt‘.“32 Der Selbstbeziehung, bei der die Analytik des Daseins ansetzt, könnte demnach notwendig die „Tendenz“ innewohnen, sich selbst in seinem immer schon gegebenen Selbstverständnis von Grund auf zu verfehlen. Gerade dort, wo die scheinbar offensichtlichste Nähe zu sich selbst besteht, könnte das Dasein am weitesten von sich selbst entfernt sein. Zwischen dem Sein, um das es dem Dasein in seinem Sein geht, und dem Sein, dem das Dasein als seinem Sein gegenübertritt, besteht eine Kluft, die sich phänomenologisch nicht einholen lässt, sondern im Gegenteil auf phänomenale Weise gerade „verdeckt“ wird.33 In dem Maß, in dem sich das Dasein selbst zu einem Phänomen wird, in dem es sich selbst als es selbst versteht, verdeckt es sich auch selbst vor sich selbst in seinem eigenen Erscheinen: „Verdecktheit ist der Gegenbegriff zu ‚Phänomen‘.“34 – Die Selbstbeziehung ist damit nicht nur eine hermeneutische Quelle für die Analytik des Daseins, die im Sinne der modernen Tradition zu einer grundlegenden Selbstgewissheit führen kann, sondern im gleichen Umfang kann sie sich ebenfalls als Quelle einer grundlegenden Selbsttäuschung herausstellen. Während Husserl diese abgründige Möglichkeit durch eine transzendentale Reduktion soweit als möglich auszuräumen versucht, zielt Heidegger dagegen in seiner Analytik des Daseins darauf ab, diesen Abgrund soweit als möglich präsent zu machen und damit den inneren Bruch, der das Dasein auf konstitutive Weise heimzusuchen scheint, noch zu verschärfen. Denn wenn Heidegger den phänomenalen Modus der Verdecktheit, in dem das Dasein existiert, nicht bloß in dem Sinne begreift, dass noch etwas „unentdeckt“ ist oder etwas von außen „verschüttet“ wurde, sondern als einen Modus der Verstellung, die vom Dasein selbst auf das Dasein ausgeht, dann ist damit eine aktiv betriebene Selbsttäuschung gemeint: „Diese [Verdeckung] kann zur totalen werden, oder aber, was die Regel ist, das zuvor Entdeckte ist noch sichtbar, wenngleich nur als Schein. Wieviel Schein jedoch, so viel ‚Sein‘. Diese Verdeckung als ‚Verstellung‘ ist die häufigste und die gefährlichste, weil hier die Möglichkeiten der Täuschung und Mißleitung besonders hartnäckig sind.“35 Nur weil das Dasein die Quelle seiner eigenen Täuschung ist und nicht lediglich von außen, von etwas anderem getäuscht wird, kann die Selbstbeziehung auch unter den „häufigsten“ und „gefährlichen“ Bedingungen der Verstellung noch den hermeneutischen Anhaltspunkt für die Analytik des Daseins abgeben. Denn ansonsten würde der Schein dieser Verstellung keine Auskunft geben können über das Sein dieses Daseins, in dem offensichtlich schon der Grund dafür angelegt sein muss, dass sich das Dasein über sich selbst täuscht. Selbst die Täuschung des Daseins spricht noch von seinem Sein: „Wieviel Schein jedoch, so viel ‚Sein‘.“ Wo am meisten Verstellung 32 33

34 35

Ebd. § 5, S. 15. Zur begrifflichen Uneinholbarkeit des „Daseins“ vgl. Josef Simon: In-der-Welt-sein, in: Hans-Helmuth Gander (Hg.): „Verwechselt mich vor allem nicht!“ – Heidegger und Nietzsche, Frankfurt/ M. 1994, S. 73–88 (hier: S. 76): „Das Wort ‚Da-sein‘ soll verdeutlichen, daß es um dessen Jeweiligkeit geht. ‚Da‘ ist eine deiktische Partikel. Sie zeigt als solches auf Seiendes in Raum und Zeit ‚unterhalb‘ seines untersten Begriffs. Damit unterläuft sie das jeweilige Begriffensein von etwas als etwas. Alle Begriffe, ‚unter‘ die das Dasein im Sinne metaphysischer Begriffsbestimmung ‚fallen‘ könnte, erweisen sich von dieser Deixis her als eigene Begriffe des ‚Daseins‘ selbst, und sie haben mit seinem ‚In-der-Welt-sein‘ jeweils ‚ihre‘ Zeit oder haben sie eigentlich schon gehabt.“ Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 7, S. 36. Ebd. § 7, S. 36.

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herrscht, scheint auch am meisten Verstellung nötig zu sein, sodass der Abgrund dort besonders tief sein muss. Aufgrund dieser Denkfigur eines äußerst weitreichenden Verdachts gegen die höchsten Selbstgewissheiten des Daseins als vielleicht dessen höchste Selbsttäuschungen kann Heidegger im Gegensatz zu Husserl gerade die erscheinende Oberfläche der Existenz zum Ausgangspunkt einer Tiefenlektüre machen, bei der es gilt, in die verdeckten Gründe der Existenz vorzustoßen, ohne die Erwartung haben zu können, bei einer Grundlage im Sinne einer „Letztbegründung“36 anzukommen. So wird aus der Selbstgewissheit des Daseins ein Mehr oder Weniger seiner eigenen Anwesenheit: „Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein.“37

2.

Die Macht des Realen

Versucht man, die von Heidegger geleistete Überführung der bewusstseinsphilosophischen Frage nach einem fundamentum inconcussum38 in die existenzphilosophische Frage nach einem graduellen Mehr oder Weniger des Daseins in die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft einzuordnen, so wird schnell deutlich, dass sich das Weniger mit der Position der Gesellschaft identifizieren lässt, die Heidegger unter der Hinsicht des „alltäglichen Daseins“ als seine bloß scheinbare Anwesenheit beschreibt: „Es könnte sein, daß das Wer des alltäglichen Daseins gerade nicht je ich selbst bin.“39 Gerade dort, wo das Dasein meint, sich als „ich bin es“ selbst präsent zu sein, könnte es sich demnach am vollständigsten verfehlen: „Vielleicht sagt das Dasein im nächsten Ansprechen seiner selbst immer: ich bin es und am Ende dann am lautesten, wenn es dieses Seiende ‚nicht‘ ist.“40 Aus der Position der Gesellschaft betrachtet, erscheint das Dasein als ein „Ich“, das seine eigenen Interessen hat, allein aus diesen Interessen heraus handelt und sich auf andere bezieht. Aus der Position der Gemeinschaft betrachtet, könnte es sich dabei allerdings bloß um eine imaginäre Identität handeln, der ihr realer Grund in ihrer vorgestellten Selbstidentität entgeht, sodass sich dieses „Ich“ als „Gegenteil“ von dem herausstellt, was es zu sein glaubt: „Das ‚Ich‘ darf nur verstanden werden im Sinne einer unverbindlichen formalen Anzeige von etwas, das im jeweiligen phänomenalen Seinszusammenhang vielleicht sich als ‚Gegenteil‘ enthüllt.“41 Was 36

37 38

39 40 41

Zur Abwendung von Husserls phänomenologischer epoché und damit von der durch das „dogmatische Motiv einer Letztbegründung“ mitbestimmten transzendentalen Reduktion vgl. Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1967, S. 262–272 (hier: S. 263): „Daß Heidegger die Epoché nicht mehr mitmacht, ist also nicht, wie Husserls meinte, ein Rückfall aus der transzendental-phänomenologischen Problematik, sondern deren eigene Radikalisierung.“ Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 4, S. 12. Zur folgenreichen Überwindung der cartesianisch geprägten Bewusstseinsphilosophie zugunsten eines „Pragmatismus der Lebenswelt“ bei Heidegger vgl. Carl Friedrich Gethmann: Heideggers Konzeption des Handelns in Sein und Zeit, in: Annemarie Gethmann-Siefert/Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1988, S. 140–176. Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 25, S. 115. Ebd. § 25, S. 115. Ebd. § 25, S. 116.

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die fundamentalontologische Analyse daher klären muss, betrifft die Möglichkeit des Übergang zwischen diesen beiden Positionen, die zugleich die Quelle für die Spanne zwischen dem Weniger und dem Mehr der Intensität des Daseins sein muss. Von der vorgestellten Identität muss ein Weg zum realen Grund dieser Vorstellung führen, auch wenn dieser Grund selbst in der Vorstellung nicht mehr präsent ist: „Wenn das ‚Ich‘ eine essentielle Bestimmung des Daseins ist, dann muß sie existenzial interpretiert werden.“42 Die Hierarchie der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft kann nur unter den gegenwärtigen Bedingungen einer Dominanz gesellschaftlichen Handelns aufrecht erhalten werden, wenn sich im Untergrund der „uneigentlichen“ die Wirksamkeit einer „eigentlichen“ Existenz auffinden lässt, der sich die uneigentliche noch zu verdanken hat. Die der gesellschaftlichen Position zugerechnete Vorstellung, es gebe einzelne, jeweils für sich seiende Individuen, die nebeneinander existieren und sich wechselseitig Mittel zu ihren jeweils eigenen Zwecken sind, muss sich daher als ein „defizienter Modus“ des Zusammenseins von Menschen enthüllen lassen: „Das Alleinsein ist ein defizienter Modus des Mitseins, seine Möglichkeit ist der Beweis für dieses. Das faktische Alleinsein wird andererseits nicht dadurch behoben, daß ein zweites Exemplar Mensch ‚neben‘ mir vorkommt oder vielleicht zehn solcher.“43 Die Vorstellung eines „Zusammenvorkommens“ von mehreren Einzelnen, die sich selbst als individuell verstehen mögen, aber tatsächlich auf eine Weise miteinander verbunden sind, die ihnen selbst entgeht, belegt Heidegger mit dem pejorativen Titel eines allgemeinen „Man“: „Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das ‚Wer‘ ist das Neutrum, das Man.“44 Pejorativ ist dieser Titel insofern, als Heidegger damit die gesellschaftliche Position in erster Linie als eine gesellschaftliche Macht der „Einebnung“ aller individuellen Unterschiede anspricht, mit der „das Man seine eigentliche Diktatur“ ausübt: „In der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des Nachrichtenwesens (Zeitung) ist jeder Andere wie der Andere.“45 Um vor diese „Durchschnittlichkeit“ auf die eigensten Seinsmöglichkeiten der Existenz durchgreifen zu können, muss Heidegger die imaginäre Identität der gesellschaftlich gefassten Individuen auf eine ursprünglichere Dimension zurückführen, die als „längst bekannt geglättet“ wurde.46 Würde man bei dieser Problematik der Antwort des Staatsphilosophen Hegel folgen, der ebenfalls die Selbstbeziehung der für sich seienden Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft als eine „Stufe des Scheins“ auffasst, bestünde diese ursprüngliche Dimension in dem diese Selbstbeziehung ermöglichenden Staatswillen. Anders formuliert: Das Imaginäre ist immer das Imaginäre einer symbolischen Ordnung. Aus diesem Grund 42 43 44 45 46

Ebd. § 25, S. 117. Ebd. § 26, S. 120. Ebd. § 27, S. 126. Ebd. § 27, S. 126. In dieser aggressiven Frontstellung gegen den Gesellschaftsdiskurs, vor allem gegen dessen liberale Ausprägung, befindet sich Heidegger in tiefer Übereinstimmung mit vielen „anti-humanistisch“ gesinnten Intellektuellen seiner Zeit wie etwa Oswald Spengler und Karl Jaspers. Vgl. dazu Domenico Losurdo: Die Gemeinschaft, der Tod, das Abendland. Heidegger und die Kriegsideologie, übers. v. Erdmunthe Brielmayer, Stuttgart 1995, insbesondere S. 27–60.

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kann es für Hegel keine ursprünglich staatenlose Welt geben, die anschließend einer Ordnung zugeführt wird, sondern immer nur historische Umgestaltungen einer schon bestehenden staatlichen Ordnung. Heideggers Versuch hingegen, zu den ursprünglicheren Dimensionen der Existenz vorzustoßen, folgt dem von Friedrich Nietzsche vorgegebenen Leitgedanken, dass jede Ordnung auf der vorgängigen Abwehr eines bedrohlichen Erlebnis im Realen beruht.47 Der Diskurs einer beunruhigenden Gefährlichkeit, die im „Neutrum“ des gesellschaftlichen „Man“ schon neutralisiert ist, strukturiert daher ebenso wie bei Nietzsche auch bei Heidegger die Suche nach diesem existentiellen Raum von Möglichkeiten, gegen den sich die gesellschaftlich gefassten Individuen immunisieren. Diese Immunisierung zeichnet sich dadurch aus, dass jeder glaubt, individuell zu sein, in diesem Glauben an seine Individualität aber in Wirklichkeit wie jeder andere ist. Gerade diese Individualität, in der sich jeder meint, von jedem anderen zu unterscheiden, formiert das gesellschaftliche Feld als ein homogenes. Daher kann Heidegger sagen: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.“48 Auch in Hegels grundlegender Analyse der bürgerlichen Gesellschaft lässt sich diese Gleichzeitigkeit einer einerseits für sich seienden Individualität finden, die andererseits von allen anderen abhängig ist und gerade dort, wo sie meint, ganz bei sich zu sein, zugleich bei allen anderen ist: „[...] ich bin also überhaupt auf der Stufe des Scheins, und indem meine Besonderheit mir das Bestimmende bleibt, das heißt der Zweck, diene ich damit der Allgemeinheit, welche eigentlich die letzte Macht über mich behält.“49 Die „letzte Macht“ und damit der Knoten, an dem jeder auf jeden verweist, ist für Hegel der die Allgemeinheit verkörpernde Staat. Wie für Hegel sind auch für Heidegger die Individuen als gesellschaftliche „zerstreut“ und nicht bei sich selbst. Während jedoch für Hegel die Spaltung zwischen dem Privatbürger, der selbst noch in seinem Privatsein dem Allgemeinen dient, und dem Staatsbürger ihren Ursprung in der Absolutheit eines Staatswillens hat, der die Privatwillen zulässt, um in dieser Exzentrik bei sich selbst sein zu können, kann hingegen für Heidegger die „letzte Macht“ niemals vom Bestehen des Staates ausgehen. Denn wenn selbst die staatliche Ordnung ihr Bestehen noch der Abwehr eines Realen schuldet, dann muss die „letzte Macht“ in diesem Raum des Realen aufgesucht werden. – Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Heidegger auf eine vollständig andere Weise den existentiellen Gründen eines in sich gespaltenen Daseins nachgehen muss als Hegel, der die in der Differenz von modernem Staat und bürgerlicher Gesellschaft fixierte Spaltung zwischen Privatbürger und Staatsbürger als die einzige Möglichkeit ansieht, in der sich das Ganze selbst erfassen kann. Aus der Sicht Heideggers dagegen müssen die Menschen, bevor sie auf staatliche Weise versammelt sind, schon im Realen aneinander gebunden sein. Um diese ursprünglichere Dimension ihrer Versammlung auffinden zu können, muss das „zerstreute“ und „verlorene“ Dasein auf das schwer zu 47

48 49

Zu Nietzsches durch diesen Leitgedanken bestimmte Diagnose eines „deutschen Traumas“, an die Heidegger unmittelbar anknüpft, vgl. Manfred Riedel: Heideggers europäische Wendung, in: HansHelmuth Gander (Hg.): Europa und die Philosophie, Frankfurt/M. 1993, S. 43–66. Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 27, S. 128. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke in 20 Bd. auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, Bd. 7, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, S. 339.

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erfassende und offensichtlich bedrohliche Moment hin befragt werden, das es in diese Zerstreuung treibt: „Zunächst ‚bin‘ nicht ‚ich‘ im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesem her und als dieses werde ich mir ‚selbst‘ zunächst ‚gegeben‘. Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so.“50 Im Verlauf der Analytik des Daseins ist aus dem Satz „ich bin es“ sein genaues Gegenteil geworden: Ich bin nicht einfach immer schon ich selbst, sondern ich bin mir gegeben worden. Was mich mir gegeben hat, scheint „zunächst“ die gesellschaftliche Position zu sein,51 in der ich auf alle anderen verwiesen bin und die im Sinne Hegels ihre gemeinschaftliche Position im diesen Zustand des Gegebenenseins sichernden Bestehen des Staates hat. Wenn der Staat als die „letzte Macht“ der Sicherheit meines Gegebenseins sich aber selbst wiederum einem Realen zu verdanken hat, das nicht mit der bestehenden Ordnung zusammenfällt, dann muss ich die Sicherheit versprechende Evidenz des Satzes „ich bin es“ so durchbrechen, dass ich dabei zum eigentlichen Ort meines Gegebenseins vordringen kann, um die Spaltung als ursprünglich meine eigene zu erfahren: „Die Selbigkeit des eigentlich existierenden Selbst ist aber dann ontologisch durch eine Kluft getrennt von der Identität des in der Erlebnismannigfaltigkeit sich durchhaltenden Ich.“52 In der Freilegung der Kluft zwischen dem eigentlich existentiellen Dasein und einem uneigentlichen, das sich in der imaginären Identität eines „sich durchhaltenden Ichs“ mit sich selbst identifiziert, folgt Heidegger zunächst dem Versuch von Nietzsche, die Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild auf das in diesem Spiegelbild abgeschirmte Reale hin zu durchdringen. Weil Nietzsches theoretische Anstrengung jedoch darauf abzielt, die ursprünglichere Dimension der Existenz in die Konzeption eines „souveränen Individuums“ einzubeziehen, damit dieses Individuum ein gesteigertes und noch exzeptionelleres Individuum sein kann, als es die gesellschaftlichen Individuen sind, bleibt sein Verständnis einer möglichen Gemeinschaft an die gegebene Gesellschaft, von der sich das „souveräne Individuum“ zugunsten einer intensiveren Erlebnisfülle absetzen soll, gebunden. Aus diesem Grund ist auch die Vorstellung einer zukünftig zu gründenden Gemeinschaft bei Nietzsche von der Vorstellung des Zusammenseins einzelner Individuen geprägt, auch wenn diese sich als unverwechselbar und somit als singulär verstehen mögen.53 Bei Heidegger hingegen erscheint die Position der Gemeinschaft als 50 51

52 53

Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 27, S. 129. Zur Rekonstruktion des „Normalfeldes“, auf das Heideggers gegen den Gesellschaftsdiskurs als „historisches Apriori“ gerichteter Versuch einer „Denormalisierung“ reagiert, vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997, S. 289–294 (hier: S. 291): „In der Tat gab es vormodern gar keine ‚Durchschnittlichkeit‘, weshalb das Dasein keineswegs von ‚jeher und zumeist‘ durchschnittlich sein konnte.“ Vgl. auch Pierre Bourdieu: Die politische Ontologie Martin Heideggers, übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt/M. 1988, S. 91–112. Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 27, S. 130. Vgl. dazu Peter Sloterdijk: Absturz und Kehre. Rede über Heideggers Denken in Bewegung, in: ders.: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt/M. 2001, S. 12–81 (hier: S. 32), der Nietzsches Denken durch den Versuch charakterisiert sieht, seine Individualität möglichst vollständig zu seiner eigenen „Bühne“ zu machen, während Heidegger ein „Denker in Bewegung“ sei, der von dem Wunsch angetrieben werde, durch eine mimetische „Wiederholung“ bis zur „Wahrheit“ des prägenden Ereignisses vorzudringen, das jedem Denken vorgängig ist: „Wir vertiefen durch die Wiederholung den Zufall so sehr, daß er beginnt, sich einer Notwendigkeit, vielleicht sogar

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zu keiner Zeit verloren: In der „letzten Macht“ des Realen sind die Einzelnen immer schon versammelt. Es gibt bloß die Möglichkeit, diese ursprüngliche Versammlung zu vergessen und in der imaginären Selbstidentität zu übergehen.

3.

Der Tod und die Seinsfrage

Wenn sich die Position der Gesellschaft mit dem Weniger des Daseins identifizieren lässt, dann muss sich im Gegenzug in der Position der Gemeinschaft sein Mehr und damit zugleich der Grund für dessen Reduktion auffinden lassen: „Das Aufgehen im Man und bei der besorgten ‚Welt‘ offenbart so etwas wie eine Flucht des Daseins vor ihm selbst als eigentlichem Selbst-sein-können.“54 Je näher man dieser Kluft kommt, die das eigentliche vom uneigentlichen Dasein trennt, desto näher kommt man folglich auch dem Bedrohlichen, das diese Kluft beherrscht: „Das Wovor dieses Zurückweichens muß überhaupt den Charakter des Bedrohens haben; es ist jedoch Seiendes von der Seinsart des zurückweichenden Seienden, es ist das Dasein selbst. Das Wovor dieses Zurückweichens kann nicht als ‚Furchtbares‘ gefaßt werden, weil dergleichen immer als innerweltliches Seiendes begegnet.“55 Dass dieses Bedrohliche noch furchtbarer als alles „Furchtbare“ sein muss, heißt für Heidegger, dass die damit einhergehende Angst kein bestimmtes Objekt der Furcht hat. Im Gegensatz zur Furcht, die stets von etwas Bestimmbarem ausgeht, das sich der Welt, in der das Dasein existiert, zurechnen lässt, bezieht sich die Angst auf dessen Existenz selbst. Die Angst enthüllt demnach genau das, was durch die Welt und ihre sichtbaren Objekte verhüllt und abgeschirmt wird: „Die Angst nimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der ‚Welt‘ und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-können.“56 Die existentielle Reichweite, die Heidegger einer prinzipiell unbestimmbaren Angsterfahrung unterstellt, soll bis in die Gründungsakte des Ichs und seiner erlebbaren Welt zurückführen, in denen das Dasein auf eine intensivere Weise gegeben ist, weil es sich im Erleben seiner eigenen Welt noch nicht als mit sich identisch erfährt: „Das Sichängsten erschließt ursprünglich und direkt die Welt als Welt.“57 In der Erfahrung einer prinzipiell unbestimmbaren Angst wird die „Welt als Welt“ erschlossen, weil die Selbstbeziehung des Daseins, in der es sich immer schon als es selbst versteht, dermaßen grundsätzlich in Frage gestellt wird, dass die „Welt als Welt“ zu verschwinden droht. – An diesem äußerst bedrohlichen Punkt wird aus der ursprünglichen Selbstbeziehung eine ursprünglichere Fremdbeziehung: Mit dem Vordringen in die existentiellen Gründungsakte wird das Vertrauen des Selbst zu

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einer ‚Wahrheit‘ zu nähern. So wird die Wiederholung zur Mutter der Besinnung; die Besinnung geht auf das Unumgängliche, Unumkehrbare, Einmalig-Ereignisshafte ein.“ Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 40, S. 184. Ebd. § 40, S. 185. Ebd. § 40, S. 187. Ebd. § 40, S. 187.

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sich selbst von einer äußerst starken Selbstfremdheit erschüttert,58 die Heidegger sowohl im Rahmen des modernen Identitätsdenkens als auch gegen die Konsequenzen dieses Denkens zu begreifen versucht, wenn er darin ein vorgängiges „Un-zuhause“ gegeben sieht. Denn mit diesem äußerst bedrohlichen Punkt wird jener weitreichende Verdacht gegen das eigene Selbstsein wieder aufgenommen, den Descartes bei dem Versuch, sich einen deus malignus vorzustellen, der zu einer absoluten Manipulation fähig ist, gerade als Ausgangspunkt der Unhintergehbarkeit eines sich selbst vorstellenden Selbst formuliert hat. Während Descartes anhand dieser gedanklich-experimentellen Möglichkeit die Sicherheit des Selbstdenkens gewinnt, weil selbst noch dieser extreme Gedanke nicht möglich ist, ohne sich dabei als Selbst vorzustellen, zielt Heideggers Interesse darauf ab, die abgründige Möglichkeit, zum Opfer einer vollständigen Manipulation geworden zu sein, nicht durch die unhintergehbare Vorstellung des eigenen Selbstseins abzuschirmen, sondern gerade als Ausgangspunkt des modernen Selbstdenkens diesem auf verschärfte Weise vor Augen zu stellen.59 Denn nicht ich selbst zu sein, ist demnach die äußerste Möglichkeit, die das Selbstdenken als sein eigenes Undenkbares formuliert. – Wenn Heidegger die vermeintliche Nähe und Ferne der theoretischen Szene des cogito insofern umkehrt, als nun nicht mehr die äußerste Ferne des Denkbaren die evidente Nähe des Denkens zu einem vorgestellten Selbst dieses Denkens stiftet, sondern im Gegenteil die äußerste Ferne als die eigentliche Nähe eines Selbst zu sich selbst erscheint, noch bevor es sich als ein Selbst zu denken vermag, dann spielt er die Logik des Verdachts, auf die Descartes nur aus dem Grund zurückgreift, um die Logik der Selbstbegründung in Gang zu setzen, als das eigentliche Moment der Selbstbegründung gegen seine uneigentliche Folge der Selbstgewissheit aus. Aus der Perspektive dieser Umkehrung erscheint das als fremd gesetzte „Sein“ ursprünglicher als der konsistente „Schein“ eines sich in seiner eigenen Vorstellung präsenten Selbst. Die abgründige Möglichkeit eines deus malignus, die bei Descartes als eine nur gedanklich-experimentelle Möglichkeit erscheinen mag, lässt sich so als traumatischer Kern deuten, der dem performativen Vorstellungsakt eines sich selbst begründenden Selbst konstitutiv innewohnt. Im Realen dieses traumatischen Kerns ist das Denken des Selbstdenkens bereits gebunden, bevor dieses meint, sich als es selbst entwerfen zu können. – Denn zu diesem Realen hat das Selbst weder entlang der Kohärenz seines Bewusstseins einen Zugang noch über einen Realitätstest der wahr-

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Zur Wiederaufnahme gnostischer Motive des Verdachts in Heideggers Konversion zur Eigentlichkeit vgl. Barbara Merker: Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserls, Frankfurt/M. 1988, S. 176–193. Zur bei Descartes geleisteten Überführung der spätmittelalterlichen Gewissheitskrise in ein Gewissheitsexperiment vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Erneuerte Ausgabe, Frankfurt/M. 1999, S. 205–233 (hier: S. 213). Ebenso wie das cartesianische Experiment auf den Voraussetzungen der spätmittelalterlichen Krise beruht, „indem es sie konstruktiv verschärft“, besteht Heideggers Ausweitung des cartesianischen Verdachts darin, dessen Voraussetzungen des Gewissheitsexperiments „konstruktiv“ zu verschärfen. Vgl. Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in: ders.: Holzwege, Frankfurt/M. 1994, S. 75–113 (hier: S. 100), wo Heidegger auf die selbstgestellte Frage, wie „die Folge gegen den Grund angehen“ kann, „auf dem sie steht“, antwortet: „Descartes ist nur überwindbar durch die Überwindung dessen, was er selbst begründet hat, durch die Überwindung der neuzeitlichen und d. h. zugleich der abendländischen Metaphysik.“

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genommenen Welt,60 die sich dieser Kohärenz allererst zu verdanken hat, wie er etwa von John Locke in seiner Schrift An Essay Concerning Human Understanding (1690) empfohlen wird, wenn dieser auf den Verdacht, das ganze Leben sei nur die „Aufeinanderfolge trügerischer Eingebungen eines langen Traumes ohne jede Realität“, mit dem Rat antwortet, den eigenen Körper einer Evidenz stiftenden Schmerzerfahrung auszusetzen: „Wer eine brennende Kerze sieht und die Wirkung ihrer Flamme festgestellt hat, indem er den Finger hineinhielt, wird kaum daran zweifeln, daß hier etwas außer ihm existiert, das ihm Schaden zufügt und ihm heftigen Schmerz versucht.“61 Aus der Sicht Heideggers stellt sowohl die bewusstseinsphilosophische Bewältigung des Verdachts, ich könnte nicht ich selbst sein, als auch ihre empirische Variante die Reduktion eines ursprünglich Fremden dar, das im Nachhinein der im Denken geleisteten Reduktion nicht mehr wahrgenommen werden kann. Im Gegensatz zu dieser Reduktion verspricht das fundamentalontologische Vordringen in die existentiellen Gründe des Selbst ein Mehr an Dasein, weil mit der Verschärfung des Verdachts zugleich die Gründungsakte dieses Daseins auf Dauer gestellt werden, indem an die Stelle des Identitätsdenkens ein Denken dessen treten soll, was dem Identitätsdenken unaufhebbar fremd bleiben muss. Wenn die durch die bewusstseinsphilosophische Ausräumung des Verdachts geleistete Selbstgewissheit des Daseins zugleich seine höchste Selbsttäuschung sein könnte, dann muss sich die weitere Analytik des Daseins dem zuwenden, was der Hermeneutik der Selbstbeziehung zwangsläufig entgehen muss, insofern sich das Selbst als es selbst auffasst. Der hermeneutische Zirkel der Selbstauslegung, den Heidegger am Anfang seiner Untersuchung programmatisch formuliert hat, muss so weit getrieben werden, dass die inneren Widerstände überwunden werden, die das Dasein seinem eigentlichen Selbstseinkönnen entgegensetzt. Während der hermeneutische Zirkel am Beginn der Untersuchung noch eine auf den ersten Blick theoretische Frage des Begreifens zu sein schien, wendet sich die Analytik des Daseins spätestens mit der existenzialen Interpretation des „Seins zum Tode“ einer Praxis forcierten Existierens zu. Am Anfang der Untersuchung konnte die Formulierung des hermeneutischen Zirkels noch wie ein philosophischer Lehrsatz klingen: „Das Was-sein (essentia) dieses Seienden muß, sofern überhaupt davon gesprochen werden kann, aus seinem Sein (existentia) begriffen werden.“62 Zu Beginn des zweiten Abschnitts von Sein und Zeit, der sich zur Aufgabe macht,

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Nicht zuletzt stellte diese Frage einen zentralen Streitpunkt der berühmten Davoser Disputationen von 1929 zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer dar, dessen in seinem Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen (1923–29) ausformulierter Symbolbegriff dem Grundsatz verpflichtet ist, dass jede mögliche Erfahrung immer schon im Rahmen einer symbolischen Ordnung stattfindet. Vgl. Karlfried Gründer: Cassirer und Heidegger in Davos 1929, in: Hans-Jürg Braun/Helmuth Holzhey/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988, S. 290–302; sowie Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2003, S. 129–150. Vgl. auch, unter besonderer Berücksichtigung des Raumaspekts, Johan Frederick Hartle: Der geöffnete Raum. Zur Politik der ästhetischen Form, München 2006, S. 215–239. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, übers. v. Carl Winckler, Hamburg 1988, Bd. 2, Viertes Buch, Kapitel XI, S. 316. Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 9, S. 42.

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„das Dasein als Ganzes in die Vorhabe zu stellen“,63 hört sich die wieder aufgenommene Formulierung dagegen wie eine Drohung an: „Seiendes, dessen Essenz die Existenz ausmacht, widersetzt sich wesenhaft der möglichen Erfassung seiner als ganzes Seiendes.“64 – Um herausfinden zu können, was das uneigentlich existierende Dasein derart abwehrt, wenn es sich als mit sich identisch begreift, muss es sich so intensiv als möglich dem Gedanken seines eigenen Nichtseins aussetzen: „Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat. Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor. In dieser Möglichkeit geht es dem Dasein um sein In-der-Welt-sein schlechthin. Sein Tod ist die Möglichkeit des Nicht-mehr-dasein-könnens. Wenn das Dasein als diese Möglichkeit seiner selbst sich bevorsteht, ist es völlig auf sein eigenstes Seinkönnen verwiesen.“65 Das anvisierte Ziel dieser mentalen Operation, bei der die gedanklich-experimentelle Anordnung von Descartes noch überboten wird, insofern die „Daseinunmöglichkeit“ nun als dauerhafter Ausgangspunkt des Seinkönnens verstanden wird, besteht darin, sich jenes ursprünglich Fremde anzueignen, das für das Denken der Selbstidentität stets im Außen verbleiben muss.66 Im Unterschied zur mit der gesellschaftlichen Position identifizierten „ständigen Beruhigung über den Tod“ versteht Heidegger das „Vorlaufen in den Tod“ als eine „Grundbefindlichkeit des Daseins“,67 die es erlauben soll, zum „Inneren“ der Gemeinschaft vorzudringen: „Mit einer Furcht vor dem Ableben darf die Angst vor dem Tode nicht zusammengeworfen werden. Sie ist keine beliebige und zufällige ‚schwache‘ Stimmung des Einzelnen, sondern, als eine Grundbefindlichkeit des Daseins, die Erschlossenheit davon, daß das Dasein als geworfenes Sein zu seinem Ende existiert.“68 Noch bevor ich mich in der gesellschaftlich codierten „Furcht vor dem Ableben“ von der schwer zu ertragenden Endlichkeit meiner eigentlichen Existenz zugunsten eines „sich durchhaltenden Ichs“ abwenden kann, muss ich die Unerträglichkeit meiner Endlichkeit schon in einem starken Sinne als mein unumgängliches „Sein zum Ende“ erfahren haben. Meine Sterblichkeit muss mir schon als Todesdrohung zugestoßen sein, damit ich mich entlang einer Verdrängung mit mir selbst identifizieren kann. Um zur Erfahrung dieser Endlichkeit in ihrem ursprünglichen Schrecken zurückkehren und mich als ein „geworfenes Sein“ begreifen zu können, reicht es daher nicht aus, mir meine Endlichkeit einfach einzugestehen, sondern ich muss auf das im Bewusstsein meiner selbst Abgewehrte gezielt zugehen, um den Gründungsakt meines Daseins erneut vollziehen zu können: „Im Vorlaufen kann sich das Dasein erst seines eigensten Seins in seiner unüberholbaren Ganzheit vergewissern. Daher muß die Evidenz einer unmittelbaren Gegebenheit der Erlebnisse, des Ich und des Bewußtseins 63 64 65 66

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68

Ebd. § 45, S. 233. Ebd. § 45, S. 233. Ebd. § 50, S. 250. Zu Heideggers Auseinandersetzung mit den philosophischen Todesbegriffen seit Platon vgl. Christian Müller: Der Tod als Wandlungsmitte. Zur Frage nach Entscheidung, Tod und letztem Gott in Heideggers „Beiträgen zur Philosophie“, Berlin 1999, S. 191ff. Zur Kritik dieses „Vorlaufens in den Tod“ als „Mannhaftigkeit“ und „Heroismus des Subjekts“ vgl. Emmanuel Lévinas: Die Zeit und der Andere, übers. v. Ludwig Wenzler, Hamburg 1989, S. 45ff. Vgl. dazu Iris Därmann: Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte, München 1995, S. 444–467. Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 49, S. 251.

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notwendig hinter der Gewißheit zurückbleiben, die im Vorlaufen beschlossen ist.“69 Weil die Gewissheit, die das Vorlaufen verspricht, immer schon vom sich selbst täuschenden Bewusstsein eingefangen zu werden droht, kann sich ihre Evidenz im Unterschied zu der des cogito nur in einer zunehmenden Spannung zeigen, in der sich das Dasein gegen seine eigene Flucht in Stellung bringt: „Im Vorlaufen zum unbestimmt gewissen Tode öffnet sich das Dasein für eine aus seinem Da selbst entspringende, ständige Bedrohung. Das Sein zum Ende muß sich in ihr halten und kann sie so wenig abblenden, daß es die Unbestimmtheit der Gewißheit vielmehr ausbilden muß.“70 – Wenn man in der abgründigen Möglichkeit des deus malignus bei Descartes den traumatischen Kern des Selbstdenkens eingehüllt sieht, der diesem die weitreichende Kraft seiner Selbstbegründung verliehen hat, ohne sich als solcher im Nachhinein der Begründung noch zeigen zu können, dann kann man vielleicht sagen, dass Heideggers theoretische Anstrengungen darauf abzielen, diesen traumatischen Kern, der das cogito von der undenkbaren Gewaltsamkeit seiner Geburt und seines Todes trennt, durch dessen mimetische Wiederholung in Besitz zu nehmen. Denn die „Erschlossenheit“ der Endlichkeit des Daseins kann für Heidegger nur dann einer „Entschlossenheit“ zugeführt werden, wenn man das „Geworfensein“ als sein eigenes Fremdes, das einen hervorgebracht hat, im Nachhinein zu „wählen“ vermag. Weil sich der Verdacht gegen sich selbst endlos weiter treiben lässt, kann der Vorstoß zum „eigentlichen Selbstsein“ nur dann zum Abschluss kommen, wenn man in der Lage ist, zur Gründungsgewalt des Selbstdenkens zurückzukehren und diejenigen Gründe nachholend zu wählen, die der Selbstidentität uneinholbar vorgängig sind: „Nachholen der Wahl bedeutet aber Wählen dieser Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigenen Selbst.“71 Die Endlichkeit des Daseins ist demnach nicht einfach gegeben. Sondern um sich diese Endlichkeit aneignen zu können, muss sich das Dasein von seiner eigenen Angst dermaßen intim in Besitz nehmen lassen, dass aus dem bedrohlichen Fremden, von dem der „Aufruf“ ausgegangen ist, sich als Selbst zu konstituieren, nun ein eigenes Fremdes wird, von dem als eigentlichem Dasein der „Anruf“ an das uneigentliche Dasein ergeht, zum Moment seiner Konstitution zurückzukehren: „Der Anruf ist vorrufender Rückruf, vor: in die Möglichkeit, selbst das geworfene Seiende, das es ist, existierend zu übernehmen, zurück: in die Geworfenheit, um sie als den nichtigen Grund zu verstehen, den es in die Existenz aufzunehmen hat.“72 Im „Vorlaufen in den Tod“ soll das Dasein auf mimetische Weise seinen undenkbaren Geburtsvorgang wiederholen, um die „letzte Macht“ einnehmen und sich selbst erneut ins Leben rufen zu können.73 So erscheint die Kluft, die das in sich gespaltene Dasein konstitutiv heimsucht, nicht mehr als eine fremde, sondern als eine selbst beigebrachte und kann dadurch als vermeintlich ursprünglich eigene erfahren werden. 69 70 71 72 73

Ebd. § 53, S. 265. Ebd. § 53, S. 265. Ebd. § 54, S. 268. Ebd. § 58, S. 287. Zur von Leo Strauss vorgebrachten Kritik, Heideggers existentialistische Ausrichtung am Tod sei ein gleichsam religiöser „letzter Halt“, vgl. Heinrich Meier: Der Tod als Gott. Eine Anmerkung zu Martin Heidegger, in: ders.: Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauss, Stuttgart/Weimar 2003, S. 71–82 (hier: S. 79): „Der Tod beansprucht den Menschen ganz, er gebietet ihm, ängstigt ihn und erhebt ihn, er macht ihn für den Ruf empfänglich, wie ein Gott.“

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4.

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Weltarm und Weltreich

In seinem Hauptwerk Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943) hat Jean-Paul Sartre das Ansinnen, die Kluft zwischen der imaginären Identität eines sich durchhaltenden Ichs und der Geworfenheit des endlichen Daseins in Besitz zu nehmen, mit dem Argument zurückgewiesen, dass der Tod niemals das Zentrum der „ontologischen Struktur meines Seins“ darstellen kann, weil dieser in der Vorstellungswelt eines Ichs, egal wie es sich auch anstrengen und in welche Spannung es sich auch immer versetzen mag, „keinen Platz“ haben kann: „So ist der Tod keineswegs ontologische Struktur meines Seins, zumindest insofern dieses für sich ist; aber der andere ist in seinem Sein sterblich. Im Für-sich-sein ist kein Platz für den Tod; es kann ihn weder erwarten noch realisieren, noch sich auf ihn hin entwerfen; er ist in keiner Weise Grund von dessen Endlichkeit und kann überhaupt weder von innen als Entwurf der ursprünglichen Freiheit begründet noch von außen als eine Qualität durch das Für-sich empfangen werden.“74 Deshalb lässt sich das endliche Dasein weder durch einen „Rückruf“ zu seiner Geburt noch durch einen „Vorlauf“ in seinen Tod einholen: „Es ist absurd, daß wir geboren werden, es ist absurd, daß wir sterben; [...].“75 Der tiefe Abgrund, der die Vorstellungswelt eines Ichs von der Endlichkeit seines Daseins trennt, kann allein als dessen unüberschreitbar transzendente Grenze erfahren werden, die nur als Quelle der eigenen Freiheit zugänglich wird: „Ich bin verurteilt, für immer jenseits meines Wesens zu existieren, jenseits der Antriebe und Motive meiner Handlungen: ich bin verurteilt, frei zu sein. Das bedeutet, daß man für meine Freiheit keine anderen Grenzen als sie selbst finden kann oder, wenn man lieber will, daß wir nicht frei sind, nicht mehr frei zu sein.“76 So berechtigt diese im Anschluss an Sartre vielfach vorgetragene Kritik auch ist,77 so sehr klingt in der Vorstellung, zur Freiheit verurteilt zu sein, noch das nach, was Heidegger zum Abschluss des zweiten Abschnitts von Sein und Zeit als „Schicksal“ zu begreifen versucht hat. Denn dass „wir“ uns nicht mehr anders denn als „frei“ verstehen können, heißt auch, dass selbst die Freiheit noch als ein „Schicksal“ erfahren wird, das nicht wiederum in der Erfahrung dieser Freiheit begründet sein kann. Dass die Freiheit nicht bloß eine Fülle von Möglichkeiten verspricht, sondern zur Schwere einer Verurteilung geworden ist, die sich nicht mehr abwerfen lässt, bestimmt Sartres sowohl philosophische als auch literarische Erkundungen der Freiheit weit mehr als diese Freiheit selbst. – In Sein und Zeit gibt die Einsicht, dass die Geschichtlichkeit des Denkens als dessen „Schicksal“ begriffen werden muss, den zentralen 74 75 76 77

Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, übers. v. Hans Schönberg u. Traugott König, hg. v. Traugott König, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 939. Ebd. S. 939. Ebd. S. 764. Vgl. insbesondere Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt/M. 1964, S. 111: „Gewalt wohnt wie der Sprachgestalt so dem Kern der Heideggerschen Philosophie inne: der Konstellation, in welche sie Selbsterhaltung und Tod rückt. Daß der Tod, den das selbsterhaltende Prinzip als ultima ratio den ihm Unterworfenen androht, ins eigene Wesen jenes Prinzips gewendet wird, meint die Theodizee des Todes.“ Zu Adornos Heidegger-Kritik vgl. Dieter Thomä: Verhältnis zur Ontologie: Adornos Denken des Unbegrifflichen, in: Axel Honneth/ Christoph Menke (Hg.): Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Berlin 2006, S. 29–48.

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Schlüssel zur Position der Gemeinschaft ab, insofern damit die Position der Gesellschaft auf den gemeinsam geteilten Ursprung ihrer „sich anbietenden nächsten Möglichkeiten“ hin gelesen werden kann: „Die ergriffene Endlichkeit der Existenz reißt aus der endlosen Mannigfaltigkeit der sich anbietenden nächsten Möglichkeiten des Behagens, Leichtnehmens, Sichdrückens zurück und bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals. Damit bezeichnen wir das in der eigentlichen Entschlossenheit liegende ursprüngliche Geschehen des Daseins, in dem es sich frei für den Tod ihm selbst in einer ererbten, aber gleichwohl gewählten Möglichkeit überliefert.“78 Die endlosen Möglichkeiten, in denen man sich wiederkennen kann und die man daher auch meint, wählen zu können, sind demnach einem „ursprünglichen Geschehen“ geschuldet, das man nicht gewählt hat und in dem man sich nicht wiedererkennen kann, das einem diese Wahlmöglichkeiten jedoch allererst eröffnet. Um einen Zugang zu diesem „ursprünglichen Geschehen“ finden zu können, muss man den Diskurs der Gesellschaft, anhand dem sich die Gesellschaft als die Ermöglichung ihrer eigenen Wahlmöglichkeiten begreift, aus dem „Schicksal“ seines grundlegenden Ereignisses heraus verstehen,79 das sich nicht mit der erzählbaren Gesellschaftsgeschichte decken kann. Denn die Gründungserzählung, die am Anfang des modernen Gesellschaftsdiskurses steht, verdankt sich dem in der Hobbesschen Konstruktion des Naturzustandes generalisierten Ereignis des English Civil War, dessen Katastrophisches sowohl das erschreckende Reale als auch das gespenstische Phantasma dieses Diskurses abgibt. Gerade weil die Hobbessche Konstruktion des Naturzustandes das Katastrophische dieses Ereignisses als zwingenden Ausgangspunkt einer allgemeinen Theorie des Gesellschaftsvertrags formuliert, schirmt sie das Ereignis selbst als das „Schicksal“ ihres Denkens ab, indem es als theoretisch notwendig verstanden wird. So steht am Anfang des modernen Gesellschaftsdiskurses eine durch das Ereignis erzwungene Wahl, in der die weiteren Wahlmöglichkeiten schon enthalten sind, die jedoch selbst nicht mehr als durch dieses Ereignis erzwungen präsent sein kann. – Im Rahmen dieser Problematik lässt sich die extreme Spannung, die das „Vorlaufen in den Tod“ bewirken soll, als eine solche Vergegenwärtigung des „Schicksals“ verstehen, bei der im Unterschied zur erzählbaren Geschichte, deren narrative Bewältigung des Vergangenen stets eine Distanz zum Vergangenen erzeugt, die Gewaltsamkeit des Ursprungs so intensiv vor Augen geführt wird, dass man sich nicht mehr davon abwenden kann und auf diese Weise in die „Einfachheit seines Schicksals“ gebracht wird.80 78 79

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Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 22), § 74, S. 384. Man kann Hannah Arendts durch die Auseinandersetzung mit Heidegger geprägten Versuch, zwischen einer philosophischen Logik des Denkens und einer politischen Logik des Handelns strikt zu trennen, als eine kritische Wendung dieser Auffassung vom „Schicksal“ verstehen. Vgl. Ernst Vollrath: Hannah Arendt und Martin Heidegger, in: Annemarie Gethmann-Siefert/Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1988, S. 357–372. Vgl. dazu Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: ders.: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, übers. v. Rodolphe Gasché, Norbert Haas, Klaus Laermann u. Peter Stehling, Weinheim/Berlin 1986, S. 71–169 (hier: S. 94), der mit Blick auf Heideggers Entfaltung der Zeitlichkeit des Daseins in § 65 aus Sein und Zeit als „gewesend“ zwei Formen der Vergegenwärtigung unterscheidet, die sich im Rahmen der Psychoanalyse als „hypnotische Erinnerung“ und als „Erinnerung im Wachzustand“ beschreiben lassen und die sich nach Lacan zueinander verhalten sollen „wie das Drama, das die Ursprungsmythen der Polis vor

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In der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (1929/30) wird der Versuch, einen Zugang zum „ursprünglichen Geschehen“ zu finden, deshalb besonders anschaulich, weil Heidegger sich dort vorgenommen hat, das „Schicksal“ durch die „Weckung einer Grundstimmung“ im „philosophierenden Dasein“ selbst herbeizuführen. Mit einem ungenauen Rekurs – und ohne Namensnennung – auf das psychoanalytisch verstandene Unbewusste, bei dem etwas auf merkwürdige Weise „vorhanden“ sei und „zugleich doch nicht“, wird die Weckung in den Umkreis der Psychoanalyse Sigmund Freuds gestellt, nur allerdings, um diesen Umkreis sogleich wieder ohne Auseinandersetzung verlassen zu können: „Dieser Unterschied des Nicht-Daseins im Sinne des Unbewußten und des Daseins im Sinne des Bewußten scheint es auch zu sein, der sich mit dem deckt, was wir mit der Weckung im Auge haben, mit der Weckung dessen nämlich, was schläft.“81 – Dass es bei dem, was Heidegger mit der Weckung im Auge hat, jedenfalls nicht um einen therapeutischen Zugang zur „ursprünglichen Dimension des Geschehens“ geht, sondern um die „völlige Umstellung unserer Auffassung vom Menschen“,82 wird dem Leser im Verlauf der Ausführung äußerst deutlich gemacht. Nach einer ausführlichen Analyse der „Grundstimmung einer tiefen Langeweile“, bei der mehrmals die Frage auftaucht, ob „der Mensch heute sich selbst langweilig geworden“ sei,83 kommt Heidegger von der in einer „tiefen Langeweile“ offengelegten Erfahrung äußerster Dezentrierung auf die zukünftigen Möglichkeiten zu sprechen, den „heutigen Menschen“ wieder „wach“ zu machen und im Rückgang auf vergangene Ereignisse zu rezentrieren: „Wir müssen erst wieder rufen nach dem, der unserem Dasein einen Schrecken einzujagen vermag. Denn wie steht es mit unserem Dasein, wenn ein solches Ereignis wie der Weltkrieg im wesentlichen spurlos an uns vorübergegangen ist? Ist das nicht ein Zeichen dafür, daß vielleicht kein Ereignis, und sei es noch so groß, diese Aufgabe zu übernehmen vermag, wenn der Mensch nicht zuvor selbst sich aufgemacht hat, wach zu werden?“84 Der dazu erforderliche Schritt, bei dem es nicht darum geht, den Menschen als solchen im Sinne einer Emanzipation zu befreien, sondern der auf die „Befreiung des Daseins im Menschen“85 abzielt, besteht für Heidegger in der Klärung der Frage, was den Menschen überhaupt zum Menschen macht und somit vom Tier unterscheidet. In Frontstellung zur Auffassung vom Menschen als animal rationale, aus deren Perspektive der Mensch zunächst als Tier erscheint und dann durch seine ratio vom Tier unterschieden wird, besteht Heideggers Anliegen darin, dieses Unterscheiden selbst aus seiner Intensität heraus als Wesensmerkmal des Menschen zu verstehen. Aus dieser Perspektive erscheint der Mensch nicht zunächst als Tier, sondern vor allem als Unterschied zum Tier und damit als Nicht-Tier, was ebenfalls bedeutet, dass nicht jeder

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der Bürgerversammlung vorführt, sich zur Geschichte verhält, die zweifelsohne aus Materialien gemacht ist, in der aber heutzutage eine Nation Symbole des Schicksals zu lesen lernt“. Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 2004, § 16, S. 92. Ebd. § 16, S. 93. Ebd. § 37, S. 242. Ebd. § 39, S. 255f. Ebd. § 38, S. 248.

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Mensch im gleichen Maß ein Mensch ist.86 Denn während der Mensch als Tier im Sinne des animal ohne rationale „weg“ ist, kommt er hingegen als rationale im Unterschied zum animal zu seinem „da“, insofern er gerade kein Tier ist. – Um dieses „Geheimnis seines Daseins“ genauer beschreiben zu können, grenzt Heidegger die menschliche „Weltbildung“ von der tierischen „Weltarmut“ mithilfe des Begriffs der Umwelt aus Jakob Johann von Uexkülls Buch Theoretische Biologie (1920/28)87 ab und stellt drei Thesen auf: „1. der Stein (das Materielle) ist weltlos; 2. Das Tier ist weltarm; 3. Der Mensch ist weltbildend.“88 Während das Tier durch seine unmittelbare Umwelt jederzeit „benommen“ ist, erscheint der Mensch aufgrund einer Distanz zu seiner unmittelbaren Umwelt, die wiederum in seinem „Vermögen“ zu sterben begründet ist, im Unterschied zum Tier als „weltbildend“: „Weil zum Wesen des Tieres die Benommenheit gehört, kann das Tier nicht sterben, sondern nur verenden, sofern wir das Sterben dem Menschen zusprechen.“89 Ohne an dieser Stelle die gesamte Argumentation nachzeichnen zu können, die Heidegger entlang dieser Thesen entfaltet, soll nur anhand eines „konkreten Beispiels“, das Heidegger ebenfalls dem Buch von Uexküll entnimmt, der Ausgangspunkt der Unterscheidung skizziert werden. In diesem Beispiel wird ein Experiment durchgeführt, bei dem einer Biene der Hinterleib abgetrennt wird, während sie Honig aus einem voll „gefüllten Schälchen“ aufsaugt: „Allein, es ist beobachtet worden, daß eine Biene, wenn man ihr den Hinterleib während des Saugens vorsichtig wegschneidet, ruhig weitertrinkt, während ihr der Honig hinten wieder rausfließt.“90 Die Biene ist derart vom Honig „benommen“, dass sie das Fehlen ihres Hinterleibs nicht „feststellen“ kann, und zwar ebenso wenig wie sie das Fehlen des Honigs nicht im Sinne eines mangelnden Vorhandenseins „feststellen“ könnte. Der Schnitt in ihre „organische Ganzheit“ macht in der Kontinuität ihres in eine Umwelt eingebetteten „Benehmens“ keinen Unterschied. Ausgehend von diesem Beispiel stellt Heidegger die Frage, ob man überhaupt von einem „tierischen Raum“ in dem Sinne sprechen kann, dass dieser „Raum als Raum“91 erfahren wird. Weil der „tierische Raum“ in seiner spezifischen Umwelt liegt, resultiert die „Weltarmut“ des Tieres für Heidegger daraus, dass es die Beschnittenheit seiner Ganzheit nicht wahrnehmen kann. Der „Weltarmut“ des Tieres korrespondiert aus diesem Grund ein „Reichtum des Offenseins“, „wie ihn vielleicht die menschliche Welt gar nicht kennt“.92 Umgekehrt jedoch legt die Explikation dieses Beispiels, zumindest wenn man sie im übertragenen Sinne liest, ebenfalls nahe, dass der „Raum als Raum“ und damit die menschliche „Weltbildung“ genau da ihren Ursprung hat, wo das Erlebnis des Beschnittenseins besonders prägnant wahrgenommen wird. Das Dasein ist überhaupt nur „da“, insofern es die Beschnittenheit seiner Ganzheit auch zu erfahren vermag. Während sich das Tier durch 86 87 88 89 90 91 92

Vgl. dazu Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, übers. v. Davide Giuriato, Frankfurt/M. 2003, S. 57–71. Zum biopolitischen Einsatz bei Jakob Johann von Uexküll vgl. Roberto Esposito: Bíos: Biopolitics and Philosophy, übers. v. Timothy Campbell, Minnesota 2008, S. 13–44. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik (Anm. 81), § 42, S. 263. Ebd. § 61, S. 388. Ebd. § 59, S. 352. Ebd. § 59, S. 354. Ebd. § 60, S. 372.

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ein „Offensein“ gegenüber seiner unmittelbaren Umwelt auszeichnet, erzeugt das Erlebnis der Beschnittenheit beim Menschen eine weltbildende Schließung gegenüber seiner Umwelt, die so weit gehen kann, dass sich der Mensch in seiner gebildeten Welt an diese Welt zu verlieren droht. Der menschliche Kontakt mit dem „Sein des Seienden“ ist somit dann besonders intensiv, wenn das Dasein die Unmittelbarkeit dieses Kontakts aufgrund seiner Intensität in einer Weltbildung zugunsten seines „Wegseinkönnen“93 abzuschirmen gezwungen ist. Die Erfahrung eines „Raums als Raum“, die es dem Dasein ermöglicht, sich von seiner unmittelbaren Umwelt zu distanzieren und sich in einem vermeintlichen Überblick aus dem betroffenen Blick herauszunehmen, kann demnach nicht schon in den transzendentalen Akten eines Subjekts a priori im Sinne Kants gegeben sein, sondern resultiert allererst aus dem Erlebnis dieses Kontakts, das in dem „konkreten Beispiel“ zweifellos als ein traumatisches Erlebnis vorgestellt wird. Bevor sich die Menschen in ihrer Welt, die immer den „Charakter von Ganzheit, Rundung“ hat,94 bei sich wähnen können, sind sie schon im Realen dieses Erlebnisses versammelt. Deshalb kann Heidegger sagen, dass es nicht der Mensch sei, der sich selbst „entwirft“, sondern das Dasein „in ihm“, das ihn „wirft“: „Entwerfend wirft das Da-sein in ihm ihn ständig in die Möglichkeiten und hält ihn so dem Wirklichen unterworfen.“95 Heidegger lässt keinen Zweifel daran, dass das „Wirkliche“, dem man jenseits aller vermeintlichen Realität tatsächlich „unterworfen“ ist, in der Intensität eines gewaltsamen Erlebnisses besteht, wenn er den „Weltkrieg“ als ein „spurloses Ereignis“ bezeichnet, für das man sich „wach“ zu machen hat.96 Denn das auf unmittelbar politische Wirksamkeit abzielende Vorhaben einer Weckung dessen, „was schläft“, soll die Anleitung dazu geben, sich so intensiv als möglich in der Nähe des traumatischen Erlebnisses aufzuhalten, dem sich die eigene „Weltbildung“ verdankt. Das „Vorlaufen in den Tod“ soll an den äußersten Rand der wahrnehmbaren Welt führen, um sich das ausschlaggebende Moment seines „Schicksals“ aneignen zu können, aus dem die Wahrnehmbarkeit dieser Welt allererst hervorgegangen ist. Psychoanalytisch reformuliert: Die „letzte Macht“, in der die Gemeinschaft jederzeit versammelt ist, besteht in einem kollektiven Trauma, dessen Bindung stärker ist als jede symbolische Ordnung. – Wenn man den Beginn der modernen politischen Philosophie bei Hobbes in der Offenlegung des Todes als den „großen Anderen“ gegeben sieht, dessen symbolische Verwaltung entlang seiner Verdrängung und der Wiederkehr des Verdrängten durch den im Gesellschaftsvertrag eingesetzten Souverän gewährleistet wird, dann zielt Heidegger darauf ab, die zentrale Prämisse dieser Offenlegung, nämlich dass jeder in der gleichen Nähe zu diesem „großen Anderen“ lebt und in diesem Sinne gleich „sterblich“ ist, zurückzuweisen. Während in der Hobbesschen Konstruktion des Naturzustandes jeder gleich mächtig und ohnmächtig erscheint, sodass alle gezwungen sind, aufgrund der gleichmachenden Todesdrohung dem vertraglich gestifteten Kollektiv beizutreten, sind in der unterschiedlichen Intensität eines „Vorlaufens

93 94 95 96

Ebd. § 16, S. 95. Ebd. § 68, S. 412. Ebd. § 76, S. 531. Vgl. dazu Otto Pöggeler: Heideggers politisches Selbstverständnis, in: Annemarie Gethmann-Siefert/Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1988, S. 17–63.

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in den Tod“ die Einzelnen schon auf unterschiedliche Weise aneinander gebunden, noch bevor es irgendeine staatliche Ordnung gibt.

5.

Das traumatische Ding

In der Vorlesung Grundfragen der Metaphysik (1935/36), die 1962 unter dem präzisierenden Titel Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen publiziert wurde, gibt Heidegger dieser Problematik eine entscheidende Wendung, indem er Kants Frage nach den synthetischen Urteilen a priori und damit zuletzt die politische Frage nach der Synthesis des Sozialen „unter Fernhaltung jeder Erkenntnistheorie“97 aus ontologischer Perspektive zu reformulieren versucht.98 Politisch ist dieser Versuch, weil dabei an die Stelle des erkenntnistheoretischen Zugriffs auf das Ding dessen präsentische Kraft zur Versammlung der Gemeinschaft in den Vordergrund gerückt werden soll. Denn im Unterschied zum Objekt, das etwa juristisch als Eigentum, ökonomisch als Ware, als ein ästhetisches oder ein wissenschaftliches gefasst werden kann, soll es bei der Frage nach dem Ding um das Zentrum dieser beschränkenden Aufteilungen und damit um die gemeinschaftliche Versammlung um das ursprüngliche Ding gehen, bevor es in der Gesellschaft lediglich noch als Gegenstand fragmentierter Hinsichten in die Aufmerksamkeit gerät. Aus diesem Grund beharrt Heidegger darauf, dass Kant im Gegensatz zur begrifflich orientierten „rationalen Metaphysik“ die „reine Anschauung“ als „das tragende Grundmoment der menschlichen Erkenntnis“ herausstellt und so den traditionellen „Vorrang der Logik“ bestreitet, „weil das Denken seinem Wesen nach nicht den Vorrang vor der Anschauung hat, sondern auf diese gegründet und jederzeit auf sie bezogen ist“.99 – Während aber bei Kant die reine Anschauung auf die allgemeinen Wahrnehmungsformen von Raum und Zeit beschränkt ist, deren konkrete Verknüpfung mit dem Gegebenen durch einen „transzendentalen Schematismus“ geleistet wird,100 dessen „verborgene Kunst“ in den „Tiefen der menschlichen Seele“ lokalisiert ist und dessen „wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten“ können,101 bemüht sich Heidegger darum, in diese „Seelentiefe“ vorzudringen und das Ding über seine Anwesenheit als ein „transzendentales X“ hinaus in seiner präsentischen Kraft zur Versammlung zu erfassen.102 Für diese Bemühung kann Kants erkenntnistheoretischer Zugriff auf das Ding als Wegweisung einer ontologischen Perspektive dienen, 97 98

99 100

101 102

Martin Heidegger: Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, Tübingen 1987, S. 163. Zu Heideggers gegen Hermann Cohen und die Marburger Schule gerichtete Kant-Interpretation vgl. Gerald Prauss: Heidegger und die Praktische Philosophie, in: Annemarie Gethmann-Siefert/ Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1988, S. 177–190. Heidegger: Die Frage nach dem Ding (Anm. 97), S. 114f. Zur Entfaltung dieser Problematik bei Kant unter Einbeziehung der kognitionswissenschaftlichen Forschung und im Anschluss an die Semiotik von Charles Sanders Peirce vgl. Umberto Eco: Kant und das Schnabeltier, übers. v. Frank Herrmann, München/Wien 2000, S. 73–145. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 1998, S. 242 (AA III 136). Zu den politischen Projekten historischer „Prägnanzbildung“ ausgehend von den gestaltpsychologischen Fassungen des „transzendentalen Schematismus“ Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. Heinz

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weil die durch den transzendentalen Schematismus geregelte „Rekognition“ des Gegenstandes zunächst auf dessen Präsenz angewiesen ist: „Die Präsenz des Gegenstandes zeigt sich im Repräsentieren, in dem auf mich zu Präsentwerden durch das denkende Ich, d. i. verbindende Vorstellen.“ Im Unterschied jedoch zu Kant, dessen metaphysikkritische Perspektive auf die Erkennbarkeit eines „Dings an sich“ zugleich besagt, dass jedes erkennende Subjekt gleich weit entfernt ist von jeglicher Ursprünglichkeit des Dings, ist diese Gleichheit von Nähe oder Ferne für Heidegger keineswegs ausgemacht. Daher führt Heidegger seine Interpretation der „verbindenden Vorstellung“ bei Kant mit Bezug auf die „Art der Freiheit“ fort, die in den Möglichkeiten der Verbindung zum Ausdruck kommt: „Wem aber diese Präsenz des Gegenstandes präsentiert wird, ob mir als einem zufälligen ‚Ich‘ mit seinen Launen und Wünschen und Ansichten oder mir als einem Ich, das, all jenes ‚Subjektive‘ zurückstellend, den Gegenstand selbst sein läßt, was er ist, dies hängt von dem Ich ab, nämlich von der Weite und dem Ausgriff der Einheit und der Regeln, unter die das Verbinden der Vorstellungen gebracht wird, d. h. im Grunde von der Tragweite und der Art der Freiheit, kraft derer ich selbst ein Selbst bin.“103 Die Frage nach dem Ding hängt somit unmittelbar mit der Frage nach der „Art der Freiheit“ zusammen, „kraft derer ich selbst ein Selbst bin“. Und je nach dem, inwieweit in meiner Beziehung zum Gegenstand dieser als das erscheinen kann, „was er ist“, bin ich entweder ein Subjekt im Sinne Kants oder aber ein Selbst im Sinne Heideggers.104 Während es in der erkenntnistheoretischen Fassung des Gegebenen als ein „transzendentales X“ kein Subjekt geben kann, das einen privilegierten Zugang zum „Ding an sich“ hat, legt die Spannbreite unterschiedlicher „Arten der Freiheit“ bei Heidegger nahe, dass es aus ontologischer Perspektive sehr wohl einen privilegierten Zugang zum ursprünglichen Ding gibt. Dass dieses ursprüngliche Ding für Heidegger weder ein Objekt des täglichen Gebrauchs noch ein Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis sein kann und auch kein für den ästhetischen Genuss bestimmtes Objekt, sondern ein derart verbindendes Ding sein muss, dass dessen Anwesenheit diese beschränkten Hinsichten zu zentrieren vermag, macht Heidegger deutlich, wenn er die „experimentelle Atomphysik“ als hervorragendes Beispiel für eine auflösende Beziehung zum Gegebenen anführt: „Zum Glück gibt es aber vorerst noch – außer den Lichtwellen und außer den Nervenströmen – die Farbigkeit und das Leuchten der Dinge selbst, das Grün des Blattes und das Gelb des Kornfeldes, das Schwarz der Krähe und das Grau des Himmels.“ Denn aus ontologischer

103 104

Dieter Kittsteiner: ‚Iconic turn‘ und ‚innere Bilder‘ in der Kulturgeschichte, in: ders. (Hg.): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 153–182. Heidegger: Die Frage nach dem Ding (Anm. 97), S. 147. Vgl. dazu Franco Farinelli: Von der Natur der Moderne: eine Kritik der kartographischen Vernunft, in: Dagmar Reichert (Hg.): Räumliches Denken, Zürich 1996, S. 267–298 (hier: 280), der die „transzendentale Subjektivität“ bei Kant vor dem historischen Hintergrund neuzeitlicher Kartographieprojekte und der Anstrengungen, mittels der Übertragung der „Kugelgestalt der Welt in die Fläche“ einen Überblick herzustellen, durch die Technik der „Projektionszeichnung“ konstituiert sieht: „Diese Technik ist buchstäblich die Zeichnung, der zufolge ‚die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt‘, wie wir in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Kritik lesen – einer Kritik, die im Grunde nichts anderes ist als die Erläuterung einer mental map der Projektionszeichnung, deren Erkundung nicht mit den resultierenden Gegenständen beginnt, sondern mit der Anerkennung ihrer Rolle als ‚Produzentin‘ einer bestimmten Wissensform.“

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Perspektive muss die Beziehung zu den „Dingen selbst“ schon gegeben sein, bevor sie „zerschlagen“ werden kann: „Der Bezug zu all dem ist nicht nur auch da, er muß ständig vorausgesetzt werden, was durch die physiologisch-physikalische Fragestellung sogleich zerschlagen und umgedeutet wird.“105 Dass trotz der offenkundigen Unterschiede zur Fragestellung nach den synthetischen Urteilen a priori bei Kant diese dennoch für Heidegger den Ausgangspunkt seiner eigenen Frage nach dem Ding abgeben kann, liegt in der Möglichkeit, selbst noch die Unerkennbarkeit eines „Dings an sich“ bei Kant als ein politisches Modell zur Versammlung der Subjekte zu verstehen. Denn insofern gerade diese Unerkennbarkeit für alle Subjekte die gleiche „Art der Freiheit“ garantiert, korrespondiert der im politischen Sinne verstandenen Gleichheit die gleiche Nähe oder Ferne der um dieses leer gelassene Zentrum eines „Dings an sich“ angeordneten Subjekte. Wenn Heidegger dagegen zum Schluss seiner Vorlesung die berühmte Frage Kants „Was ist der Mensch?“ mit einer scheinbar unmerklichen Verschiebung zu „Wer ist der Mensch?“ wiederholt und der Meinung ist, diese Frage sei gleichbedeutend mit der Frage „Was ist ein Ding?“,106 dann heißt das im Gegenzug, dass die Beantwortung der letztgenannten Frage zugleich das Wer aufklären muss und damit ebenso das Wer nicht. In dem viel diskutierten Vortrag Der Ursprung des Kunstwerks (1935/36) führt Heidegger genauer aus, was es bedeutet, das Ding über seine Anwesenheit als „transzendentales X“ hinaus zu erfassen, und auf welche Weise die jeweilige Nähe oder Ferne zu diesem geheimnisvollen Zentrum zugleich die Zugehörigkeit zu einer Welt bezeugt, zu der andere nicht gehören.107 Daher geht es dem Vortrag zunächst darum, das Kunstwerk, insofern es dieses Zentrum zu verkörpern vermag, weder im Hinblick auf ein „ästhetisches Erlebnis“ zu beschreiben noch aus der „genialen Leistung des selbstherrlichen Subjekts“ zu begreifen, sondern als ein „grund-legendes Gründen“ aufzufassen, bei dem das „Wesen der Wahrheit, d. h. der Unverborgenheit“, das „von einer Verweigerung“ gekennzeichnet sei,108 in seiner Ambivalenz von zugleich offen und verschlossen zur Anschauung gebracht wird: „Die Stiftung der Wahrheit ist Stiftung nicht nur im Sinne der freien Schenkung, sondern Stiftung zugleich im Sinne dieses grund-legenden Gründens.“109 Von allem Seienden unterscheidet sich das Kunstwerk dadurch, dass es eine „offene Stelle inmitten des Seienden“ einzufassen in der Lage sein soll, die als „Lichtung“ wie auf einer Theaterbühne das „Geheimnis des Daseins“ dem Blick der Zuschauer präsentiert und dabei zugleich entzieht: „Die offene Stelle inmitten des Seienden, die Lichtung, ist niemals eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang,

105 106 107

108 109

Heidegger: Die Frage nach dem Ding (Anm. 97), S. 163. Ebd. S. 189. Vgl. dazu die Interpretation der berühmten „Bilderzählung“ in Heideggers Vortrag als eine implizite „Geo-Philosophie“ bei Balke: Figuren der Souveränität (Anm. 21), S. 413–423 (hier: S. 423): „Alles spielt sich für Heideggers Denken zwischen den beiden Polen einer ursprünglichen Identifizierung oder Isolierung des Seins als Da-sein, also seiner Verräumlichung und einer ebenso ursprünglichen ‚Zerstreuung‘ ab, die er weiter als ‚Aufenthaltslosigkeit‘ und ‚ständige Entwurzelung‘ bestimmt.“ Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, in: ders.: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1994, S. 1–74 (hier: S. 41). Ebd. S. 64.

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auf der sich das Spiel des Seienden abspielt.“110 Weder kann das „Geheimnis des Daseins“ demnach ein für alle Mal aufgedeckt sein, noch kann die Aufteilung zwischen den Phaenomena und den Noumena mittels eines unerkennbaren „Dings an sich“ unverrückbar für alle Menschen gleichermaßen feststehen. Sondern in der Einfassung der „offenen Stelle inmitten des Seienden“ durch das Kunstwerk muss der traumatische Ursprung der sichtbaren Welt stets wiederholend inszeniert werden, um diese Welt stiften zu können. Dass Heidegger sich mit dieser dem Kunstwerk zugesprochenen Macht in genauer Opposition zur bürgerlichen Kunstauffassung idealistischer Provenienz befindet, macht er unmissverständlich deutlich, wenn er im Nachwort zu seinem Vortrag Hegels berühmtes Diktum zitiert, wonach der Kunst nicht mehr die „höchste Weise“ der Wahrheit zukommt, und meint, die „Entscheidung über Hegels Spruch“ sei noch nicht „gefallen“: „Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft.“111 Denn während für Heidegger dem Kunstwerk die Macht zuzusprechen ist, den die Gemeinschaft stiftenden Ort des Ursprungs anschaulich machen zu können, sind dagegen für Hegel die „schönen Tage der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späteren Mittelalters“, in denen „die Kunst für sich als Kunst schon volle Befriedigung gewährte“, unumkehrbar vorüber: „In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes.“112 Weil in „unserer Zeit“ die Kunst der „denkenden Betrachtung“ unterworfen sei, kann sie selbst keine „volle Befriedigung“ mehr gewähren, sondern ihre Bestimmung allein im Rahmen einer „Wissenschaft der Kunst“ finden: „Die Kunst lädt uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen.“113 Die Formulierung Heideggers, dass die „Lichtung“ keine „starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang“ sei, wendet sich daher nicht nur gegen die „denkende Betrachtung“ der idealistischen Kunstauffassung, sondern widersetzt sich darüber hinaus dem dialektischen Verständnis des Vorhangs der Phänomene, bei dem die phänomenale Objektseite stets auf die noumenale Subjektseite verweist,114 wie Hegel es in einer berühmten Passage ausgedrückt hat: „Es zeigt sich, daß hinter dem sogenannten Vorhange, welcher das Innere verdecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahintergehen, ebensosehr damit gesehen werde, als daß etwas dahinter sei, das gesehen werden kann.“115 Während uns der aufgezogene Vorhang der Phänomene aus der Perspektive Hegels letztlich niemals etwas anderes zu sehen ge-

110 111 112 113 114

115

Ebd. S. 41. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke, Bd. 13, S. 141. Zitiert bei Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks (Anm. 108), Nachwort, S. 68. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I (Anm. 111), S. 24f. Ebd. S. 26. Zu Hegels systematischem Versuch, die Differenz von „Wesen“ und „Erscheinung“ zum Gegenstand einer „dialektischen“ Erfassung zu machen, vgl. Martin Heidegger: Hegels Begriff der Erfahrung, in: ders.: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1994, S. 115–205 (hier: S. 198): „Die dialektische Bewegung siedelt sich in der Stätte an, die durch die Umkehrung [das Verhältnis des Seins zum Seienden als das Verhältnis des Seienden zum Sein] zwar geöffnet, aber als das Offene jenes Verhältnisses gerade verdeckt wird.“ G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, S. 135f.

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ben kann als uns selbst,116 zielt Heidegger darauf ab, mit der Ambivalenz der „Lichtung“ von zugleich offen und verschlossen eine andere „Art der Freiheit“ ins Spiel zu bringen als diejenige, die sich der imaginären Zentrierung verdankt. Aus diesem Grund taucht die Frage nach der Kluft, die das Dasein auf konstitutive Weise heimsucht, bei der Frage, inwiefern das Kunstwerk die „Lichtung des Seins“ zur Anschauung zu bringen vermag, erneut auf, wenn Heidegger den künstlerischen „Entwurf“ mit Verweis auf Albrecht Dürer zunächst als einen „Riß“ im Sinne eines „Grundrisses“ versteht, um diesen „Riß“ dann jedoch im Gegensatz dazu ontologisch aufzufassen: „Reißen heißt hier Herausholen des Risses und den Riß reißen mit der Reißfeder auf dem Reißbrett. Aber sogleich bringen wir die Gegenfrage: Wie soll der Riß herausgerissen werden, wenn er nicht als Riß und d. h., wenn er nicht zuvor als Streit von Maß und Unmaß durch den schaffenden Entwurf ins Offene gebracht wird?“117 Was das Kunstwerk ins „Offene“ bringt, insofern es den Ort des gemeinschaftlichen Ursprungs zu verkörpern imstande ist, besteht also nicht in dem, was es dem Blick zeigt und enthüllt, sondern in dem, was es als „wesenhaft Unerschließbares gewahrt und bewahrt“ und so als das präsentiert, was „ständig sich verschlossen hält“.118 Im Kunstwerk ist demnach etwas eingeschlossen, das man nie vollständig aufschließen kann und dem gerade deshalb die Macht der Versammlung zukommt. Die traumatisch besetzte Kluft, die sowohl die Möglichkeiten des Daseins als auch dessen Unmöglichkeiten beherrscht, wird im Kunstwerk zu einem „gefügten Riß“ und somit als „Sichverschließendes“ selbst anschaulich.119 Im Gegensatz zum Begriff der Welt, der einen Raum von Möglichkeiten anzeigt, in dem man sich wiedererkennt, belegt Heidegger dieses „Sichverschließende“, in dem man sich nicht wiedererkennen kann und das deshalb den Ausgangspunkt für den Raum der Möglichkeiten abgibt, mit dem Begriff der Erde: „So ist in jedem der sich verschließenden Dinge das gleiche Sich-nicht-Kennen. Die Erde ist das wesenhaft Sichverschließende. Die Erde her-stellen heißt: sie ins Offene bringen als das Sichverschließende.“120 Während die dialektische Auffassung das Selbst der Zuschauer sowohl vor als auch hinter dem Vorhang der Phänomene situiert, soll das Kunstwerk dagegen den traumatischen Kern präsent machen, um den sich das Verhältnis des Selbst zu sich selbst als ein „Sich-nicht-Kennen“ anordnet: „Die Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehende und zwar als ein solches zurückbringt.“121 Die im Gegensatz zur Welt mit der Erde assoziierte Schwere legt nahe, dass von dem „Sichverschließenden“ eine Bindung ausgeht, die Heidegger anhand seiner viel diskutierten Interpretation eines Bildes von Vincent van Gogh,122 das ein „Paar Bauernschuhe“ darstellt und zu dem die Interpretation die Figur einer Bäuerin hinzufügt, als „Verläßlichkeit“ versteht: „Kraft ih116

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Vgl. dazu ausführlich Slavoj Žižek: Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, Teil I: Der erhabenste aller Hysteriker, Teil II: Verweilen beim Negativen, übers. v. Isolde Charim u. Lydia Marinelli, Wien 2008, S. 297–325. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks (Anm. 108), S. 58. Ebd. S. 33. Ebd. S. 51. Ebd. S. 33. Ebd. S. 28. Zur kunstwissenschaftlichen Kritik an Heideggers Vereinnahmung von van Gogh vgl. Meyer Schapiro: The Still Life as a Personal Object. A Note on Heidegger and van Gogh, in: Marianne L.

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rer ist die Bäuerin durch dieses Zeug eingelassen in den schweigenden Zuruf der Erde, kraft der Verläßlichkeit des Zeugs ist sie ihrer Welt gewiß.“123 Weil in dem präsentierten „Schuhzeug“ der „verschwiegene Zuruf der Erde“ als „ihr stilles Verschenken“ und „ihr unerklärtes Sichversagen“ eingefasst sei, kann die Figur der Bäuerin als sich ihrer Welt „gewiß“ erscheinen. Die Figur der Bäuerin ist sich ihrer Welt sicher, insofern sie weiß, welchem „Sichverschließenden“ die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ihrer Welt geschuldet sind. Während die Linien der gesellschaftlichen Welt nirgendwo hin zu führen scheinen und auf kein Zentrum mehr verweisen, wird diese Welt dann zur einer gemeinschaftlichen Welt, wenn das Verhältnis von „Welt und Erde in ihrem Widerspiel“124 und damit ein gravierendes Zentrum offenbar geworden ist, dem nicht, wie im Falle eines unerkennbaren „Dings an sich“, alle gleich nah sind: „Die Bewahrung des Werkes vereinzelt die Menschen nicht auf ihre Erlebnisse, sondern rückt sie ein in die Zugehörigkeit zu der im Werk geschehenden Wahrheit und gründet so das Für- und Miteinandersein als das geschichtliche Ausstehen des Da-seins aus dem Bezug zur Unverborgenheit.“125 Wenn man in der „sichverschließenden Erde“ den traumatischen Kern eines kollektiven Erlebnisses gegeben sieht, dann wird die Synthesis des Sozialen nicht entlang einer als gemeinsam verstandenen Welt geleistet, sondern durch die Versammlung um diesen die gemeinsame Welt allererst stiftenden traumatischen Kern, der sich der „denkenden Betrachtung“ entzieht. – Als weiteres Beispiel für dieses gravierende Zentrum führt Heidegger einen griechischen Tempel an: „Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall – dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschickes gewinnen.“126 Weil im Tempelwerk der traumatische Kern, von dem man sich in einer Weltbildung abzuwenden gezwungen ist, als verschlossener offenbar wird,127 ermöglicht die Versammlung um diesen Kern „die Aussicht auf sich selbst“: „Der Tempel gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst.“

6.

Das Verbergen der Leere

Im Gegensatz zum Gesetzesdenken der modernen politischen Philosophie, wie es am konsequentesten in der Vorstellung eines immer schon geschlossenen Gesellschaftsvertrags bei Kant zum Ausdruck kommt, wird mit der Frage nach dem Ding bei Heidegger

123 124 125 126 127

Simmel (Hg.): The Reach of Mind, New York 1968, S. 203–209. Vgl. dazu auch Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, übers. v. Michael Wetzel, Wien 1992, S. 301ff. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks (Anm. 108), S. 19. Ebd. S. 43. Ebd. S. 55. Ebd. S. 27f. Zur psychoanalytischen Auffassung des „verschlossenen Dings“ als der „unfassbare Kern des Subjekts“, den Jacques Lacan im Anschluss an Heideggers Begriff des Dings als „Objekt klein a“ bezeichnet hat, vgl. Peter Widmer: Angst. Erläuterungen zu Lacans Seminar X, Bielefeld 2004, S. 65–73 (hier: S. 70), der den Vorschlag gemacht hat, das „Objekt klein a“ als einen „Statthalter des Absoluten“ aufzufassen, als „Ort, wo das Absolute sich subjektiviert“.

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eine Macht zur Versammlung ins Zentrum gerückt, bei der das Reale, von dem die symbolische Ordnung im Sinne Jacques Lacans ihren Ausgang nimmt, nicht wie bei Kant in der Leere eines „Dings an sich“ situiert wird. Dass damit zugleich eine andere „Art der Freiheit“ als bei Kant thematisch wird, lässt sich nachvollziehen, wenn man die Möglichkeit der Selbstgesetzgebung bei Kant auf die Versammlung der Subjekte dieser Gesetzgebung um das leere Zentrum eines „Dings an sich“ bezieht. Der Gesellschaftsvertrag muss als ein immer schon geschlossener verstanden werden, weil es für Kant keinen Zugang des Denkens zum Realen gibt und diese Unzugänglichkeit dazu zwingt, das Reale im Sinne eines leeren Zentrums als Freiheit zu begreifen. – In seiner Kritik am Begriff eines „Dings an sich“ als ein von der kritischen Philosophie „übriggelassenes Gespenst“, das von einem „konsequent durchgeführten transzendentalen Idealismus“ zu beseitigen ist,128 hat Hegel diese Konsequenz radikal gezogen, indem er das im „Ding an sich“ gefasste Reale zuletzt als den „freien Willen“ offenlegt: „Diejenige sogenannte Philosophie, welche den unmittelbaren einzelnen Dingen, dem Unpersönlichen, Realität im Sinne von Selbständigkeit und wahrhaftem Für- und Insichsein zuschreibt, ebenso diejenige, welche versichert, der Geist könne die Wahrheit nicht erkennen und nicht wissen, was das Ding an sich ist, wird von dem Verhalten des freien Willens gegen diese Dinge unmittelbar widerlegt.“129 Weil es ein „absolutes Zueignungsrecht des Menschen auf alle Sachen“ gibt und alle Dinge zu einer Sache gemacht werden können, in die der Mensch seinen freien Willen hineinzulegen vermag,130 stößt aus der Perspektive Hegels derjenige, der die Macht hat, den Vorhang der Phänomene beiseite zu schieben, nicht auf irgendein Reales, sondern auf die Freiheit seines eigenen Willens: „Schon das Tier hat nicht mehr diese realistische Philosophie, denn es zehrt die Dinge auf und beweist dadurch, daß sie nicht absolut selbständig sind.“131 – Wenn Heidegger hingegen die Präsenz des Dings über seine Anwesenheit als ein „transzendentales X“ hinaus zu erfassen versucht, bedeutet das zugleich, dass das menschliche Gesetz, das „zu tragen und zu binden“ vermag, nicht mehr länger „nur das Gemächte menschlicher Vernunft“ sein kann, wie es im Brief über den „Humanismus“ (1947) heißt, sondern aus dem zu jeder Zeit gegebenen Umstand resultieren muss, dass der Mensch der „Wahrheit des Seins“ und nicht sich selbst gehört: „Nur sofern der Mensch, in die Wahrheit des Seins ek-sistierend, diesem gehört, kann aus dem Sein selbst die Zuweisung derjenigen Weisungen kommen, die für den Menschen Gesetz und Regel werden müssen.“132 Was die Vorstellungswelt bindet und dauerhaft in sich regelt, kann demnach nicht schon wie bei Kant in derselben vorgefunden werden, sondern hängt davon ab, was als Reales erfahren wird. Weil jedoch jede Begegnung mit dem Realen im Sinne Lacans mit einer als traumatisch erlebten Unterminierung des Subjektstatus einhergeht, insofern diese Begegnung 128 129 130 131 132

G. W. F Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832), hg. v. Hans-Jürgen Gawoll, Hamburg 1990, S. 30. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 49), S. 106. Vgl. dazu Leander Scholz: Hegels symbolisches Papier. Zum medialen Status des Dings, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Jahrgang 2009, Heft 0, S. 53–60. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 49), S. 107. Martin Heidegger: Brief über den „Humanismus“, in: ders.: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1994, S. 311–360 (hier: S. 357).

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die Vorstellungswelt zwangsläufig dezentriert, lässt sich das Reale nicht unmittelbar als solches vor Augen stellen. Daher kommt es darauf an, in welcher Weise die Begegnung mit dem Realen gerade unter der Bedingung, dass es keinen unmittelbaren Zugang des Denkens zum Realen gibt und dieses verschlossen bleibt, wiederum als solche gedacht wird. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Heidegger bei seiner Antwort auf die Frage, in welcher Beziehung das Denken des Seins zum „theoretischen und praktischen Verhalten“ stehe, sagen kann, dass es sowohl „alles Betrachten“ übertreffe, weil „es sich um das Licht sorgt, in dem erst ein Sehen als Theoria sich aufhalten und bewegen kann“,133 als auch „alle Praxis“, weil es „in seinem Sagen“ das „ungesprochene Wort des Seins zur Sprache“ bringe.134 Im Unterschied zur Vorstellungswelt der imaginären Zentrierung bezeichnet Heidegger dasjenige Denken, das die „Wahrheit des Seins als das anfängliche Element des Menschen“ auffasst, als eine „ursprüngliche Ethik“,135 weil damit nicht mehr der Mensch ins „Zentrum des Seienden“ gestellt werde, sondern dessen vorgängige Beziehung zum Realen. Auch wenn der Brief über den „Humanismus“ aus diesem Grund häufig als Manifest eines Posthumanismus betrachtet wird, geht es in diesem Text keineswegs darum, im Denken des Seins das „Denken des Menschen“ zu verabschieden und so jede Anthroprozentrik hinter sich zu lassen, sondern geradezu gegenteilig, wie Jacques Derrida zu Recht kritisch einwendet, um „eine Art Neubewertung oder Wiederaufwertung des Wesens und der Würde des Menschen“.136 Was die „ursprüngliche Ethik“ gegen die von Heidegger diagnostizierte Verklammerung von Metaphysik und Humanismus als eine „spezifisch römische Erscheinung“137 und damit auch implizit gegen das sich aus dieser Tradition herleitende Rechtsverständnis ins Feld führt, betrifft die Überbietung der höchsten positivierten Rechtsquelle, nämlich die „Würde des Menschen“, wenn er der Meinung ist, dass „die höchsten humanistischen Bestimmungen des Wesens des Menschen die eigentliche Würde des Menschen noch nicht erfahren“.138 Denn der Vorwurf gegen die abendländische Tradition, sie denke mit der Differenz von homo humanus und homo barbarus den Menschen „von der animalitas her“ und „nicht zu seiner humanitas hin“,139 muss im Kontext der verfassungsrechtlichen Diskussion um die Würde des Menschen, die im Vorfeld der Gründung der Bundesrepublik Deutsch-

133 134 135 136

137 138 139

Ebd. S. 357. Ebd. S. 358. Ebd. S. 353. Jacques Derrida: Finis Hominis, übers. v. Henriette Beese, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 119–141 (hier: S. 135), der im Rückblick auf Sein und Zeit schreibt: „Das Da des Daseins und das Da des Seins werden sowohl das Nahe wie das Ferne bezeichnen. Jenseits der gemeinsamen Umschließung des Humanismus und der Metaphysik wird Heideggers Denken vom Motiv des Seins als Präsenz – in einem ursprünglichen Sinne verstanden als die metaphysischen Bestimmungen der Präsenz oder der gegenwärtigen Präsenz – und vom Motiv der Nähe des Seins zum Wesen des Menschen geleitet werden. Als ob es darum ginge, die in Sein und Zeit erkannte ontologische Ferne zu verringern und die Nähe des Seins zum Wesen des Menschen zu behaupten.“ Heidegger: Brief über den „Humanismus“ (Anm. 132), S. 318. Ebd. S. 327. Ebd. S. 321.

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land intensiv geführt wurde,140 als eine äußerst starke Aussage aufgefasst werden, wenn Heidegger über die Würde des Menschen noch eine „eigentliche Würde“ stellt. Um diese Aussage nachvollziehen zu können, muss man sich Heideggers weitreichende Feststellung verdeutlichen, dass selbst zwei Weltkriege die „Bewegung des Nihilismus“ nicht beeinflusst hätten, die er in der Abhandlung Zur Seinsfrage (1956), publiziert zunächst unter dem Titel Über die „Linie“ (1955) als Antwort auf Ernst Jüngers Schrift Über die Linie (1950), unter Rückgriff auf dessen Begriff einer „totalen Mobilmachung“ ausführt: „Die zwei Weltkriege haben die Bewegung des Nihilismus weder aufgehalten noch aus ihrer Richtung abgelenkt.“141 Selbst nach den äußerst gewaltsamen Erfahrungen von zwei Weltkriegen hat das, was Ernst Jünger in seinen beiden Schriften Die totale Mobilmachung (1930) und Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932) als eine „totale Mobilmachung“ beschrieben hat, nichts an seiner Wirksamkeit eingebüßt, sondern nur andere Formen angenommen und könnte daher noch als „planetarische Katastrophe“ bevorstehen. Der innere Kern dessen, was Heidegger als „Bewegung des Nihilismus“ bezeichnet, ist weder durch den ersten noch durch den zweiten Weltkrieg berührt worden, sondern scheint immer noch seiner Vollendung zuzustreben: „Der Nihilismus ist vollendet, wenn er alle Bestände ergriffen hat und überall auftritt, wenn nichts mehr als Ausnahme sich behaupten kann, insofern er zum Normalzustand geworden ist.“142 – Was Heidegger in dem 1949 gehaltenen Vortrag Das Gestell und in dem 1953 in erweiterter Fassung unter dem Titel Die Frage nach der Technik wiederholten Vortrag ausführlich als einen zunehmend technischen Ausgriff auf „alle Bestände“ analysiert hat, ist somit immer noch eine „totale Mobilmachung“, die ihre eigenen Motive nicht kennt, „weil dem Nihilismus daran liegt, sein eigenes Wesen zu verstellen und sich dadurch der alles entscheidenden Auseinandersetzung zu entziehen“.143 Im inneren Kern einer sich als „selbst bestimmt“ verstehenden „Ratio“, von der dieser technische Ausgriff ausgeht und angetrieben wird,144 herrscht immer noch etwas vor, das dieses Denken „geheißen“ hat, so zu denken, und zu dem dieses Denken keinen Zugang hat: „Die Vernunft und ihr Vorstellen sind nur eine Art des Denkens und keineswegs durch sich selbst bestimmt, sondern durch jenes, was das Denken geheißen hat, in der Weise der Ratio zu denken.“145 Während in Ernst Jüngers Schrift Über die Linie der Nihilismus als eine innere Leere erscheint, die durch eine Überschreitung der Linie überwunden werden soll, gilt Heidegger gerade diese Anstrengung, die den inneren Kern als Leere identifiziert, die aufgefüllt oder 140 141 142 143 144

145

Vgl. dazu Christian Starck: Der demokratische Verfassungsstaat: Gestalt, Grundlagen, Gefährdungen, Tübingen 1995, S. 186–203. Martin Heidegger: Zur Seinsfrage, in: ders.: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1994, S. 379–419 (hier: S. 388). Ebd. S. 387. Ebd. S. 400. Vgl. dazu ausführlich Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1990, S. 236– 267. Vgl. auch Alexander Schwan: Zeitkritik und Politik in Heideggers Spätphilosophie, in: Annemarie Gethmann-Siefert/Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1988, S. 93–107. Zur aktuellen Diskussion von Heideggers Begriff der Technik vgl. Bernard Stiegler: Technik und Zeit. Der Fehler des Epimetheus, übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié, Zürich/Berlin 2009, insbesondere das Kapitel Die Leber des Prometheus, S. 243–310. Heidegger: Zur Seinsfrage (Anm. 141), S. 382.

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zugunsten einer zukünftigen Fülle zurückgelassen werden soll, als die entscheidende Konstellation der „totalen Mobilmachung“, bei der die innere Leere zwangsläufig reproduziert und noch gesteigert wird, insofern das, was diese Leere verbirgt und kaschiert, umso nachhaltiger verkannt wird.146 Aus diesem Grund legt Heidegger viel Wert darauf, dass seine Erörterung nicht „unter dem Namen trans lineam“, sondern „unter dem Namen de linea“ steht: „[...] statt den Nihilismus überwinden zu wollen, müssen wir versuchen, erst in sein Wesen einzukehren.“147 Um in die innere Leere dieses Nihilismus vordringen zu können, muss man annehmen, dass die unerträgliche Erfahrung einer Leere möglicherweise etwas zudeckt, das vielleicht noch unerträglicher ist, sodass die Leere nur das Symptom eines Vergessens darstellt und tatsächlich nicht leer ist. Wo die Subjekte um ein leer gelassenes Zentrum versammelt sind, das ihnen aufgrund dieses Vergessens als das Gegebensein ihrer Freiheit erscheint, sind sie vielleicht in Wahrheit um den traumatischen Kern ihrer Weltbildung versammelt, an den sie auch dann noch gebunden sind, wenn sie diese Bindung als das Gesetz ihrer Freiheit verstehen. Um den Kern des Nihilismus und damit das gravierende Erlebnis offenlegen zu können, das im betäubenden Gefühl der Leere überlagert wird, muss sich die „Einkehr“ in das „Wesen des Nihilismus“ als eine „Rückkehr“ vollziehen: „Der Weg dieser Einkehr hat die Richtung und Art einer Rückkehr.“148 Im Unterschied zur Selbstauffassung entlang einer imaginären Zentrierung, die Heidegger als „Herrschaft des Willens zum Willen“149 begreift, soll dabei das „Wesen des Menschen“ aus dessen konstitutiver Begegnung mit dem Realen verstanden werden. Weil in dieser Begegnung das „Wesen des Menschen“ auf „nichts Menschliches“ mehr verweist und der Mensch in „seinem Wesen“ immer das „Gedächtnis des Seins“ ist,150 selbst wenn dieses Sein nur noch in der Weise seiner „kreuzweisen Durchstreichung“ lesbar wird,151 kann eine „ursprüngliche Ethik“ ihre „Zuweisung“ nur von dieser Begegnung erhalten.

7.

Das Vermögen der Sterblichen

In dem Vortrag Das Ding (1949/50), der zunächst im Rahmen der Bremer Vorträge unter der gemeinsamen Überschrift Einblick in das was ist gehalten wurde, führt Heidegger die Problematik des Nihilismus und die Frage nach dem Ding zusammen, indem er das „Dinghafte des Dinges“ im Unterschied zum „unmittelbaren Wahrnehmen“ oder zur „erinnernden Vergegenwärtigung“ als dasjenige Moment versteht, das nicht durch 146

147 148 149 150 151

Zur „vermeintlichen Überwindung“ als „Vollendung des Nihilismus“ vgl. Martin Heidegger: Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: ders.: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/ M. 1994, S. 209–267 (hier: S. 259): „Ist jedoch, auf das Sein selbst gedacht, das Denken, das alles nach Werten denkt, Nihilismus, dann ist sogar schon Nietzsches Erfahrung von Nihilismus, daß er die Entwertung der obersten Werte sei, eine nihilistische.“ Heidegger: Zur Seinsfrage (Anm. 141), S. 416. Ebd. S. 416. Ebd. S. 416. Ebd. S. 391. Zur Beziehung der dekonstruktivistischen Schreibweise der Differenz als différance zu Heideggers „Durchstreichung der Präsenz“ vgl. Derrida: Grammatologie (Anm. 29), S. 43ff.

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die Vorstellung eingeholt werden kann: „Das Dinghafte des Dinges beruht jedoch weder darin, daß es vorgestellter Gegenstand ist, noch läßt es sich überhaupt von der Gegenständlichkeit des Gegenstandes aus bestimmen.“152 Denn wenn Heidegger im Folgenden auf die Frage, was denn das „Ding an sich“ sei,153 weder dessen Erfassung durch die Vorstellung als solche noch seine materielle Dimension in den Vordergrund rückt, die sich der Vorstellung entzieht, sondern ein vom Ding verkörpertes Moment der Leere, das nicht mit einer für die Vorstellung uneinholbaren Materialität der Gegenstände identifiziert werden kann, dann wird deutlich, dass es sich dabei um eine äußerst wirkungsmächtige Lücke in der Vorstellungswelt selbst handeln muss, die der Vorstellungswelt allererst ihre Kohärenz verleiht. Das Ding, um das es in diesem Vortrag geht und dem Heidegger mit Bezugnahme auf das „althochdeutsche Wort thing“ eine Versammlungsmacht zutraut, die stärker ist als die in der lateinischen Tradition unter dem Begriff der res publica gedachte Sache, die „jeden im Volk offenkundig angeht und darum öffentlich verhandelt wird“,154 zeichnet sich weder in erster Linie durch seinen „Stoff“ noch allein durch die „Form“ aus, die diesem im Sinne einer Herstellung gegeben wird.155 Bei der Explikation der vom Ding verkörperten Leere anhand der berühmten Beschreibung eines „irdenen Krugs“, die auf die Problematik einer verschlossenen Erde verweist und die häufig als kritischer Beleg für eine romantisch inspirierte Sehnsucht nach einer handwerklich modellierten Vormoderne angeführt wird, geht Heidegger sogar so weit, die Logik der herstellenden Verfertigung umzukehren: „Der Krug ist nicht Gefäß, weil er hergestellt wurde, sondern der Krug mußte hergestellt werden, weil er dieses Gefäß ist.“156 Den Ausgangspunkt der Beschreibung bildet weder der unmittelbare Stoff, dem noch eine Form zu geben ist, noch die beabsichtigte Form, die einem Stoff eingeprägt wird, sondern eine „Leere des Krugs“, die Heidegger das „eigentlich Fassende“ nennt: „Wand und Boden, woraus der Krug besteht und wodurch er steht, sind nicht das eigentlich Fassende. [...] Der Töpfer faßt zuerst und stets das Unfaßliche der Leere und stellt sie als das Fassende in die Gestalt des Gefäßes her.“157 Sowohl, was als Stoff beschrieben, als auch, was als Form verstanden wird, ist folglich überhaupt nur aufgrund einer als unfasslich gefassten Lücke in der Vorstellungswelt zugänglich. Was als Ding wahrgenommen oder vergegenwärtigt werden kann, erhält seine Kohärenz allererst durch eine Bindung, die von dieser Lücke ausgeht: „Das Dinghafte des Gefäßes beruht keineswegs im Stoff, daraus es besteht, sondern in der Leere, die faßt.“158 Weder wird die Synthesis des Sozialen durch eine gegebene Materialität der Dinge gewährleistet, noch durch eine als allen gemeinsam verstandene Welt von Formgebungen. Das „eigentlich Fassende“ geht vielmehr von einer aus der traumatischen Begegnung mit dem Realen resultieren152 153 154 155

156 157 158

Martin Heidegger: Das Ding, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 2004, S. 157–175 (hier: S. 159). Ebd. S. 161. Ebd. S. 167. Vgl. hingegen den Überblick zu soziologischen Objekttheorien bei Karin Knorr Cetina: Sozialität mit Objekten. Soziale Beziehungen in post-traditionellen Wissensgesellschaften, in: Werner Rammert (Hg.): Technik und Sozialtheorie, Frankfurt/M./New York 1998, S. 83–120. Heidegger: Das Ding (Anm. 152), S. 160. Ebd. S. 161. Ebd. S. 161.

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267

den Lücke in der Vorstellungswelt aus, in deren Verkörperung durch das Ding sich aus diesem Grund die Vorstellungen eines leeren Nichts und eines vollen Etwas kreuzen. – Mit Blick auf Heideggers Beispiel eines „irdenen Krugs“ hat Lacan diese Lücke in der Vorstellungswelt daher als „Loch im Realen“ bezeichnet,159 von dem als „Fremdes, gelegentlich sogar Feindliches“ und „erstes Außen“ das Begehren des Subjekts strukturiert wird: „Und daher erschafft der Töpfer [...] den Krug mit seinen Händen um diese Leere herum, erschafft ihn, ganz wie der mythische Schöpfer, ex nihilo, vom Loch aus.“160 Weil das Ding im Sinne Heideggers aus Lacans entwicklungspsychologischer Perspektive etwas ursprünglich Gegebenes markiert, das mit dem Eintritt in die symbolische Ordnung auf ebenso ursprüngliche Weise verloren ist und auch bleiben muss, kann dessen vermeintliche Fülle nur wiederum durch eine Leere repräsentiert werden: „Dieses Ding, dessen durch den Menschen geschaffenen Formen sämtlich ins Register der Sublimierung gehören, wird stets durch eine Leere repräsentiert sein, weil es nicht durch anderes repräsentiert werden kann – oder genauer, weil es repräsentiert werden kann allein durch anderes.“161 Betont man jedoch sowohl mit als auch gegen Lacan im Unterschied zu einer strukturalistisch beeinflussten Auffassung eine stärker seinsgeschichtlich ausgerichtete Interpretation des Dings, dann lässt sich das „Dinghafte des Dinges“ zwar nicht anders fassen als durch die Beschreibung eben der Leere, die im Zentrum des Dings zu herrschen scheint und auf keine andere Weise repräsentiert werden kann. Aber die zentrale Frage rückt in den Vordergrund, welches Ding die Lücke in der Vorstellungswelt zu verkörpern vermag und damit jenes notwendig leer bleibende Zentrum zu markieren in der Lage ist, das aus der traumatischen Begegnung mit dem Realen resultiert und um das sich die Gemeinschaft als res publica anordnet. Denn wenn Heidegger die mit der lateinischen Tradition der res publica verbundene Selbstverständlichkeit zurückweist, dass die „öffentliche Sache“ eine alleinige Angelegenheit der Menschen sei, dann weist er damit zugleich die Vorstellung zurück, dass sich die jeweilige Gemeinschaft der Menschen vor allem über die symbolische Ordnung und dementsprechend über das Gesetzesdenken definiert: „Das römische Wort res nennt das, was den Menschen in irgendeiner Weise angeht. Das Angehende ist das Reale der res. Die realitas der res wird römisch erfahren als der Angang. Aber: die Römer haben ihr so Erfahrenes niemals eigens in seinem Wesen gedacht.“162 Weil das „Reale der res“ seinen letzten Grund nicht im Gesetzesdenken haben kann,163 sondern vielmehr umgekehrt, kann auch 159

160

161 162 163

Zur Konzeption eines „Nullpunkts des Begehrens“ im Rahmen einer „negativen Ontologie“ bei Lacan vgl. Manfred Papst: Bild – Sprache – Subjekt. Traumtexte und Diskurseffekte bei Freud, Lacan, Derrida, Beckett und Deleuze/Guattari, Würzburg 2004, insbesondere das Kapitel Das unmögliche Reale und die Geometrie des Ich, S. 134–145. Jacques Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch VII (1959– 60), übers. v. Norbert Haas, hg. v. Norbert Haas u. Hans-Joachim Metzger, Weinheim/Berlin 1996, S. 151. Ebd. S. 160. Heidegger: Das Ding (Anm. 152), S. 168. Vgl. dazu Richard Wolin: Seinspolitik. Das politische Denken Martin Heideggers, übers. v. Rainer Forst, Wien 1991, S. 82–96 (hier: S. 82), der Heideggers politisches Denken als „prinzipienlos“ und letztlich als „opportunistisch“ charakterisiert, da es nicht in der Lage sei, eine „kohärente Reihe“ von „Prinzipien, Werten und Normen“ hervorzubringen, auf der jede „soziale Ordnung“

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die Welt der „vernünftigen Lebewesen“ nicht mit der von den „Sterblichen“ erfahrenen zusammenfallen: „Die vernünftigen Lebewesen müssen erst zu Sterblichen werden.“164 Während man das in Sein und Zeit fokussierte „Vorlaufen in den Tod“ als Versuch verstehen kann, den verschlossenen Kern der jeweiligen Weltbildung möglichst umfänglich in Besitz zu nehmen, lässt sich die mit der Thematisierung des Dings verbundene Programmatik, „als Sterblicher auf der Erde sein“,165 wie es in dem im Rahmen des Darmstädter Gesprächs über Mensch und Raum 1951 gehaltenen Vortrags Bauen Wohnen Denken heißt, hingegen als Einsicht begreifen, dass der verschlossene Kern sowohl dann das jeweilige Denken auf blinde Weise beherrscht, wenn man meint, sich davon abgewendet zu haben, als auch dann, wenn man glaubt, ihn als solchen in Besitz nehmen zu können. Die gesellschaftlichen Linien, die von keinem Zentrum mehr auszugehen scheinen, agieren auch dann noch dieses Zentrum aus, wenn es als vermeintlich leer erscheint. Um verstehen zu können, wohin diese Linien führen, muss man daher herausfinden, was in der Leere ihres gemeinschaftlichen Ursprungs abgeschirmt wird und gerade als dieses Abgeschirmte noch ihre Bahnen bestimmt. Man muss herausfinden, um welches Ding sich die Gemeinschaft selbst noch in ihrer Zerstreuung anordnet und was die Einzelnen selbst dann noch aneinander bindet, wenn sie sich vom Ort der Gemeinschaft abgewendet haben. In dem genannten Vortrag versteht Heidegger im Unterschied zu dem Versuch, sich das eigene Schicksal im „Vorlaufen in den Tod“ anzueignen und damit die Obsessionen eines Selbstseins noch mittels einer Mimikry des Todes zu überbieten, das „Wohnen“ der „Sterblichen“ aus der Möglichkeit, sich „bei den Dingen“ aufzuhalten: „Das Wohnen ist vielmehr immer schon ein Aufenthalt bei den Dingen.“166 Während die „vernünftigen Lebewesen“ als solche nur im Rahmen einer symbolischen Ordnung erscheinen können, unter deren Gesetzesmacht sie stehen, sollen sich die „Sterblichen“, die „den Tod als Tod vermögen“,167 dadurch auszeichnen, dass sie aufgrund der Erfahrung ihrer Sterblichkeit einen im „Aufenthalt bei den Dingen“ gewährleisteten Zugang zur präsymbolischen Dimension des Realen haben, das jeder symbolischen Ordnung vorausgeht.168 Aus diesem Grund kritisiert Heidegger auch die Vorstellung, die Macht der Versammlung, die vom Ding ausgeht, bestehe in der Kraft eines Symbols, zu dem das Ding im Sinne eines Ausdrucks für etwas anderes „nachträglich“ und „gelegentlich“ werden kann, wie er am Beispiel einer „echten Brücke“ ausführt: „Allein die Brücke ist, wenn sie eine echte Brücke ist, niemals zuerst bloße Brücke und hinterher ein Sym-

164 165 166 167 168

basiere. Vgl. dagegen Jacques Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt/M. 1992, S. 98–132. Zur Kontroverse zwischen Wolin und Derrida vgl. Clarence C. Walton: Archons and Acolytes: The New Power Elite, Lanham/Maryland 1998, S. 68ff. Heidegger: Das Ding (Anm. 152), S. 171. Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 2004, S. 139–156 (hier: S. 141). Ebd. S. 145. Ebd. S. 144. Zur kritischen Diskussion einer präsymbolischen Dimension des Dings bei Heidegger und Lacan vgl. Markus Verweyst: Das Begehren der Anerkennung: Subjekttheoretische Positionen bei Heidegger, Sartre, Freud und Lacan, Frankfurt/M./New York 2000, S. 385–412.

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bol.“169 Weil sich die symbolische Ordnung in letzter Hinsicht keinem Akt der Setzung verdankt, sondern einer den Subjektstatus unterwandernden Begegnung mit dem Realen, die sich stets in einer Lücke in der Vorstellungswelt manifestiert, um die sich die symbolische Ordnung anordnet und von der die Vorstellungswelt allererst ihre Kohärenz erhält, ist im Ding und seiner gleichzeitigen Verkörperung eines leeren Nichts und eines vollen Etwas der Akt der Symbolisierung selbst symbolisiert. – Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Heidegger im Gegensatz zu Kant sagen kann, dass die Erfahrung von Raum nicht aus „dem Raum“ abgeleitet werden kann, sondern immer durch die Versammlung um das Ding bestimmt wird und von diesem ausgeht: „Das Eingeräumte wird jeweils gestattet und so gefügt, d. h. versammelt durch einen Ort, d. h. durch ein Ding von der Art der Brücke. Demnach empfangen die Räume ihr Wesen aus Orten und nicht aus ‚dem‘ Raum.“170 Die Verteilung der symbolischen Plätze, die Heidegger anhand eines „gewesenen Wohnens“, nämlich dem berüchtigten „Schwarzwaldhof“ veranschaulicht, bei dem die „geheiligten Plätze für Kindbett und Totenbaum, so heißt dort der Sarg, in die Stuben eingeräumt“ sind,171 hängt somit nicht in erster Linie davon ab, auf welche Weise sich die Lebewesen als „vernünftig“ begreifen, sondern welcher traumatischen Begegnung mit dem Realen die „Ratio“ ihres Denkens geschuldet ist und wie diese Begegnung „eingeräumt“ wird. Was die Gemeinschaft im pólemos bindet, noch bevor ihre kollektive Gestalt durch einen Konflikt im Inneren zwischen ihren Mitgliedern oder durch einen Konflikt mit anderen Gemeinschaften von außen bestimmt wird, ist ein „wesenhafter Streit“,172 der aus der Divergenz zwischen einer Selbstwahrnehmung im Imaginären und der diese unterminierenden Erfahrung des Realen resultiert: „Das Gegeneinander von Welt und Erde ist ein Streit.“173

169 170 171 172

173

Heidegger: Bauen Wohnen Denken (Anm. 165), S. 148. Ebd. S. 149. Ebd. S. 155. Zu Heideggers Verständnis des pólemos und zu dessen Abgrenzung vom „Krieg nach menschlicher Weise“ vgl. Jacques Derrida: Heideggers Ohr. Philopolemologie (Geschlecht IV), in: ders.: Politik der Freundschaft, übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt/M. 2002, S. 411–492. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks (Anm. 108), S. 35.

IX Der Exzess des Todes (Bataille)

In seiner umstrittenen Schrift mit dem signifikanten Titel Jenseits des Lustprinzips (1920) hat Sigmund Freud die These aufgestellt, dass „alle Triebe“ in letzter Hinsicht die Wiederherstellung eines „Ausgangszustands“ anstreben, aus dem das organische Leben hervorgegangen ist und zu dem es auch wieder zurückkehren will: „Wenn wir es als eine ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, daß alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nun sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende.“1 Neben den zahlreichen äußeren Bedrohungen, den möglichen Unfällen, den Krankheiten und den Gewalttaten, denen das organische Leben permanent ausgesetzt ist, gibt es demnach noch eine andere Beziehung, die es aus „inneren Gründen“ zum Tod unterhält. Während die psychoanalytische Theoriebildung bis dahin von einer überwiegenden „Herrschaft des Lustprinzips“ ausgegangen war und damit in derjenigen philosophischen Tradition stand, in der die Prinzipien der Vernunft auf die der Selbsterhaltung zurückgeführt werden,2 taucht mit der Annahme eines wirkmächtigeren Prinzips, das nicht nur jenseits des Lustprinzips anzusiedeln ist, sondern dieses auch noch zu dominieren scheint, eine vollständig neue Problematik auf. Denn wenn das „Ziel alles Lebens“ zuletzt der eigene Tod ist, dann stellt sich die Frage, warum sich der „seelische Apparat“ so sehr damit abmüht, diesen zu vermeiden, und zu diesem Zweck sogar noch ein „Realitätsprinzip“ ausbildet, das die „zeitweilige Duldung der Unlust auf dem langen Umwege zur Lust“ durchsetzt,3 um die „Herrschaft des Lustprinzips“ auch dann sicherstellen zu können, wenn die Befriedigung aus 1 2

3

Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, Studienausgabe, Bd. III, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, Frankfurt/M. 1989, S. 217–272 (hier: S. 248). Vgl. dazu Max Horkheimer: Vernunft und Selbsterhaltung, Frankfurt/M. 1970, S. 7–33 (hier: S. 23), der die philosophische Tradition seit ihren griechischen Anfängen insgesamt durch eine „instrumentale Vernunft“ bestimmt sieht, die ihr letztes Ziel nur in der Selbsterhaltung finden kann, nachdem sich das „Bewußtsein des Todes als absoluter Katastrophe“ einmal etabliert hat. Freud: Jenseits des Lustprinzips (Anm. 1), S. 220.

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kurzfristiger Perspektive als aussichtslos erscheinen muss. – Die Annahme einer Dualität von „Lebenstrieben“ und „Todestrieben“, die bis in die Gegenwart hinein zu den am stärksten diskutierten Aspekten der Freudschen „Trieblehre“ gehört, scheint der psychoanalytischen Auffassung des „seelischen Apparats“ dermaßen entgegenzustehen, dass sich schon Freud genötigt sah, seine Überlegungen wenigstens zum Teil unter den Vorbehalt zu stellen, es handle sich dabei um „oft weitausholende Spekulation“.4 Während sich schon die zeitgenössische Debatte vor allem an der Frage abarbeitete, inwiefern diese Annahme die gesellschaftlichen Zustände konserviere und damit die Psychoanalyse ihre vermeintlich humanistischen und fortschrittlichen Grundlagen in Frage stelle,5 lässt sich zumindest bezüglich der Art und Weise sagen, wie Freud den Dualismus von Lebenstrieben und Todestrieben einführt, dass sich dieser der gleichen Gedankenfigur verdankt, die schon das Realitätsprinzip als einen „Umweg“ zu verstehen anleitet. Denn auch wenn Freud von einer „exquisit dualistischen Auffassung“ spricht,6 so handelt es sich nicht um einen Gegensatz zwischen zwei verschiedenen „Triebarten“, sondern um eine hierarchische Beziehung, die es erlaubt, jeden Lebenstrieb ebenso als Todestrieb zu begreifen. Wie das Realitätsprinzip durch das Lustprinzip in Anspruch genommen wird, um seine Ziele zu erreichen, so steht das Lustprinzip „geradezu im Dienste“ der Todestriebe, auch wenn diese ihre Arbeit eher „unauffällig“ leisten. Beide Triebarten haben die Aufgabe, über „Reize“ sowohl von innen als auch von außen zu wachen, die als Gefahren eingeschätzt werden. Im Falle des Lustprinzips ist die Lösung dieser Aufgabe mit einer offensichtlichen Lust verbunden, insofern dabei Spannungen abgebaut werden: „Es muß uns auch auffallen, daß die Lebenstriebe soviel mehr mit unserer inneren Wahrnehmung zu tun haben, da sie als Störenfriede auftreten, unausgesetzt Spannungen mit sich bringen, deren Erledigung als Lust empfunden wird, während die Todestriebe ihre Arbeit unauffällig zu leisten scheinen.“7 Die unauffälligere Arbeit der Todestriebe geht auf die gleiche Weise vor sich wie die der Lebenstriebe, mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Leben nun insgesamt als ein „Störenfried“ erscheint und sich als ein „langer Umweg“ zu demjenigen Zustand erweist, von dem das Leben einst seinen Ausgang genommen hat. Auch die Todestriebe gehen mit einem Abbau von Spannungen einher, die auf unaufhebbare Weise mit dem organischen Leben als solchem verbunden sind, und müssten daher ebenfalls ein Lusterlebnis versprechen, selbst wenn dieses alles andere als offensichtlich zu sein scheint. Beide Triebarten sind weder hinsichtlich ihrer Struktur noch hinsichtlich ihrer möglichen Ziele verschieden. Die dualistische Annahme von Lebenstrieben und Todestrieben ergibt sich daher aus dem Unterschied zwischen der Vorstellung eines Ziels, das noch erreicht werden soll, und der Vorstellung des Zustands, in dem dieses Ziel schon erreicht ist. Denn wenn sich die Organisation des „seelischen Apparats“ der Aufgabe verdankt, derartige 4 5

6 7

Ebd. S. 234. Vgl. dazu vor allem Wilhelm Reich: Der masochistische Charakter. Eine sexualökonomische Widerlegung des Todestriebes und des Wiederholungszwanges, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band 18, 1932, S. 303–351. Vgl. auch die Freud-Kritik bei Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1971, S. 219–233. Freud: Jenseits des Lustprinzips (Anm. 1), S. 258. Ebd. S. 271.

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Spannungen aufzulösen, die unausgesetzt andrängen, dann kann diese Aufgabe nur dann erledigt werden, wenn mit dem Spannungsabbau zuletzt auch der „seelische Apparat“ selbst abgebaut wird. Was die Aufdeckung der Todestriebe offenbart, lässt sich als Einsicht formulieren, dass der „seelische Apparat“ im gleichen Moment der Aufgabe entgegensteht, der er seine Existenz schuldet, und seinen eigenen Untergang herbeiführen muss, um seine Aufgabe vollenden zu können. Vor dem Hintergrund dieser Problematik hat Jacques Lacan die Konsequenz gezogen, dass jeder Lebenstrieb „virtuell“ ein Todestrieb ist, und jeden Versuch zurückgewiesen, die Freudsche Trieblehre von diesem Dualismus zu reinigen: „Wer nämlich den Todestrieb aus seiner Lehre wegläßt, verkennt diese total.“8 Im Unterschied zu Freud deutet Lacan die Lehre von den Todestrieben allerdings nicht im medizinischen Horizont und im Hinblick auf biologische Prämissen des organischen Lebens, sondern siedelt deren Wirksamkeit auf der Ebene der symbolischen Ordnung an. Aus dieser Sicht erscheint das von Freud programmatisch im Titel seiner Schrift angekündigte „Jenseits“ daher nun als ein „symbolisches Jenseits“,9 dessen Transzendenz nicht auf die anorganische Dimension des organischen Lebens verweist, sondern als solche schon der symbolischen Ordnung angehört. Weil „jenseits“ der symbolischen Ordnung eine „undenkbare Einheit“ vermutet wird, „von der absolut nichts zu sagen ist, ehe sie übergeht zur Existenz“, bezeichnen die Todestriebe die Grenze, „wo die Worte enden müssen“, und versuchen somit das „Jenseits“ der symbolischen Ordnung aus der Perspektive derselben einzuholen: „Ein Leben insistiert, um in ihn [den Sinn und damit in die symbolische Ordnung] einzutreten, aber er bringt vielleicht etwas zum Ausdruck, das ganz und gar jenseits dieses Lebens liegt, denn wenn wir vorstoßen zur Wurzel dieses Lebens und hinter das Drama des Übergangs zur Existenz, dann finden wir nichts anderes als das dem Tod vermählte Leben. Dahin führt uns die Freudsche Dialektik.“10 Der Tod, auf den sich die Todestriebe beziehen, ist für Lacan immer schon ein kulturell kodifizierter und doublierter Tod, der die Leerstelle repräsentiert, mit der im Nachhinein der Ordnungsstiftung das dargestellt werden kann, was der symbolischen Ordnung vorausgegangen ist. Aus diesem Grund stehen die Todestriebe den Lebenstrieben nicht entgegen, sondern schließen die symbolische Ordnung allererst ab, indem der symbolisierte Tod im Sinne eines immanenten Außen die Autorität der symbolischen Ordnung ins Leben ruft: „Und der Todestrieb ist nur die Maske der symbolischen Ordnung, insofern – Freud schreibt es – sie stumm ist, das heißt, insofern sie sich nicht realisiert hat. Solange die symbolische Anerkennung sich nicht hergestellt hat, ist die symbolische Ordnung per definitionem stumm.“11 – Damit folgt Lacan den Bahnen der idealistischen Philosophie und der Auffassung des Todes als „absoluter Herr“, die G. W. F. Hegel in seiner Schrift Glauben 8

9

10 11

Jacques Lacan: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten, übers. v. Chantal Creusot u. Norbert Haas, in: ders.: Schriften II, hg. v. Norbert Haas, Weinheim/ Berlin 1991, S. 165–204 (hier: S. 177). Vgl. dazu auch Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, übers. v. Gabriella Burkhart, Wien 2002, S. 306–308. Jacques Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch II (1954–55), übers. v. Hans-Joachim Metzger, hg. v. Norbert Haas, Weinheim/Berlin 1991, S. 101. Ebd. S. 295. Ebd. S. 414.

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und Wissen (1802) anhand einer Auslegung des christlichen Opfertodes als „spekulativer Karfreitag“12 grundgelegt hat. In dieser Interpretation überführt Hegel die Verwaltung der „Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt“, durch die „Religion der neuen Zeit“ in eine Verwaltung durch das philosophische Wissen, das den Opfertod nicht mehr als Ausgangspunkt für den Glauben an eine transzendente Existenz versteht, sondern darin die „Idee der absoluten Freiheit“ gegeben sieht. Denn erst in dem Moment, in dem der „spekulative Karfreitag“ in der „ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit“ erfahren und gewusst wird,13 zeigt sich die damit verbundene Transzendenz nicht mehr als ein Jenseits, zu dem es irgendwann zu gelangen gilt, sondern nur noch „rein als Moment“ des Diesseits, das dieses Diesseits zur Erscheinung und damit zum Sprechen bringt, wenn das Jenseits vom philosophischen Wissen als ein „absolutes Nichts“ erkannt wird.14 Im philosophischen Wissen verweist im Unterschied zum religiösen Glauben die Unendlichkeit auf die Endlichkeit und nicht umgekehrt. Aber gerade aus diesem Grund stellen für Hegel und auch für Lacan die Erkenntnis des „absoluten Nichts“ und die Anerkenntnis des Todes als „absoluter Herr“ die Voraussetzungen dar, um die symbolische Ordnung als solche begreifen zu können. Auch wenn Lacan damit zu den wenigen Interpreten gehört, die der Freudschen Lehre von den Todestrieben einen systematischen Stellenwert beimessen,15 so entschärft er doch deren theoretische Brisanz, indem er sowohl den historischen als auch den praktischen Kontext bei Freud in den Hintergrund treten lässt. Denn die Problematik, die Freud überhaupt zur Annahme der Todestriebe veranlasst, resultiert aus den traumatischen Erkrankungen, die der „schreckliche, eben jetzt abgelaufene Krieg“16 hervorgebracht hat, und besteht in dem starken „Widerstand“, den die Behandelten der psychoanalytischen Therapie über das bislang erfahrene Maß hinaus entgegenbringen. Der Widerstand, der bei jeder Behandlung auftritt und insofern dem Lustprinzip gehorcht, als die Unlust erspart werden soll, die „durch das Freiwerden des Verdrängten erregt würde“,17 scheint bei diesen traumatischen Erkrankungen dermaßen mächtig zu sein, dass Freud sich zu einer Neuausrichtung seiner Trieblehre genötigt sieht. Denn der „Wiederholungszwang“, den Freud den traumatischen Erkrankungen abliest, beruht entgegen den bisherigen Annahmen der Psychoanalyse nicht auf einem Vorgang der 12

13 14 15

16 17

G. W. F. Hegel: Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, Werke in 20 Bd. auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, Bd. 2, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, S. 287–432 (hier: S. 432). Ebd. S. 432. Ebd. S. 410. Vgl. etwa Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt/M. 1973, S. 332–364 (hier: S. 349), der hier stellvertretend für einen Rezeptionsstrang zitiert werden kann, bei dem die Psychoanalyse aus der „Einheit von Interesse und Vernunft“ verstanden wird, die durch die Lehre von den Todestrieben gerade auch in therapeutischer Hinsicht in Frage gestellt ist: „Auf diese Einheit von Vernunft und Interesse stößt Freud in der Situation, in der die Mäeutik des Arztes nur unter pathologischem Zwang, und dem entsprechenden Interesse an der Aufhebung dieses Zwangs, die Selbstreflexion des Kranken befördern kann.“ Freud: Jenseits des Lustprinzips (Anm. 1), S. 222. Ebd. S. 230.

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Verdrängung, der zur Stabilisierung stets wiederholt werden muss, und ist somit nicht der Ersparung von Unlust geschuldet. Vielmehr bringt der Zwang derartige „Erlebnisse der Vergangenheit“ wieder, „die keine Lustmöglichkeit enthalten, die auch damals nicht Befriedigungen, selbst nicht von seither verdrängten Triebregungen, gewesen sein können“.18 Während Freud den Wiederholungszwang bislang als einen Schutzmechanismus verstanden hat, scheint es in diesen Fällen geradezu im Gegenteil darum zu gehen, das bedrohliche Erlebnis so oft zu wiederholen, bis der Schutzmechanismus vollständig außer Kraft gesetzt ist. Weil der „Reizschutz“ des „seelischen Apparats“ durch das traumatische Erlebnis vermutlich irreparabel verletzt worden ist, kann der Spannungsabbau nur noch durch den Abbau des „seelischen Apparats“ selbst gewährleistet werden. Daraus zieht Freud den weitreichenden Schluss, dass auch in diesen pathologischen Fällen die „herrschende Tendenz des Seelenlebens“ noch voll wirksam ist: „Daß wir als die herrschende Tendenz des Seelenlebens, vielleicht des Nervenlebens überhaupt, das Streben nach Herabsetzung, Konstanzerhaltung, Aufhebung der inneren Reizspannung erkannten [...], wie es im Lustprinzip zum Ausdruck kommt, das ist ja eines unserer stärksten Motive, an die Existenz von Todestrieben zu glauben.“19 Vor diesem Hintergrund erhält die Wiederholung nicht nur im Rahmen der pathologischen Fälle, sondern auch allgemein als kulturelle Praxis einen vollständig anderen Sinn.20 Während sie sich selbst in ihrer zwanghaften Ausprägung noch als Bewältigung von „inneren Reizspannungen“ begreifen ließ, die den Lebenstrieben dient, so führt sie nun unmittelbar auf von Freud angenommene Todestriebe und offenbart die „inneren Gründe“, warum sich das Leben stets auf seinen eigenen Tod hin ausrichtet: „Die theoretische Bedeutung der Selbsterhaltungs-, Macht- und Geltungstriebe schrumpft, in diesem Licht gesehen, ein; es sind Partialtriebe, dazu bestimmt, den eigenen Todesweg des Organismus zu sichern und andere Möglichkeiten der Rückkehr zum Anorganischen als die immanenten fernzuhalten, aber das rätselhafte, in keinen Zusammenhang einfügbare Bestreben des Organismus, sich aller Welt zum Trotz zu behaupten, entfällt. Es erübrigt, daß der Organismus nur auf seine Weise sterben will; auch diese Lebenswächter sind ursprünglich Trabanten des Todes gewesen.“21 – Auch wenn Freud den historischen Anlass für die Revision seiner Trieblehre nicht auf systematische Weise als Bedingung seiner Theoriebildung reflektiert, so legen seine Ausführungen dennoch nahe, den „schrecklichen, eben jetzt abgelaufenen Krieg“ in genau das psychoanalytische Schema einzuordnen, das für die Neuausrichtung der Trieblehre aus 18 19 20

21

Ebd. S. 230. Ebd. S. 264. Vgl. dazu Jacques Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt/M. 1989, S. 302–350 (hier: S. 311), der unter anderem anhand des ambivalenten Sinns der Wiederholung bei Freud seine Kritik des Präsenzdenkens entwickelt hat: „Das Leben schützt sich zweifellos mit Hilfe der Wiederholung, der Spur und des Aufschubs (différance). Vor dieser Formulierung muß man sich aber in acht nehmen: es gibt nicht zunächst präsentes Leben, das sich anschließend zu schützen, zu verzögern und im Aufschub vorzubehalten begänne. Der Aufschub bildet das Wesen des Lebens. [...] Das ist die einzige Bedingung, um sagen zu können, das Leben sei der Tod; die Wiederholung und das Jenseits des Lustprinzips seien ursprünglich und gleichursprünglich mit dem, was sie überschreiten.“ Freud: Jenseits des Lustprinzips (Anm. 1), S. 248f.

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diesem traumatischen Ereignis resultiert. Denn mit den beiden konträren Aspekten der Wiederholung, dem lebenserhaltenden und dem todbringenden, sind für Freud über die individualpsychologische Dimension hinaus zwei grundlegende Möglichkeiten verbunden, die der „menschlichen Kultur“ offenstehen, von der allerdings nur eine „zur vollen Befriedigung“ führt: „Der Weg nach rückwärts, zur vollen Befriedigung, ist in der Regel durch Widerstände, welche die Verdrängungen aufrechterhalten, verlegt, und somit bleibt nichts anderes übrig, als in der anderen, noch freien Entwicklungsrichtung fortzuschreiten, allerdings ohne Aussicht, den Prozeß abschließen und das Ziel erreichen zu können.“22 Während die lebenserhaltende Wiederholung die scheinbar jederzeit gegebene Möglichkeit eines „Fortschritts“ eröffnet, die sich aus psychoanalytischer Perspektive als ein „Fluchtversuch“ in die Zukunft begreifen lässt, scheint die Möglichkeit, die in der todbringenden Wiederholung als „volle Befriedigung“ angezeigt ist, nur unter bestimmten Bedingungen gegeben zu sein. In seinem berühmten Antwortbrief an Albert Einstein vom 30. September 1932 schreibt Freud,23 dass der „Todestrieb“ zum „Destruktionstrieb“ wird, indem „er mit Hilfe besonderer Organe nach außen, gegen die Objekte, gewendet wird“, aber dass selbst dann noch ein „Anteil des Todestriebes“ im „Inneren des Lebewesens“ wirksam bleibt.24 Selbst wenn die Katastrophe nicht eintritt, richten die Todestriebe den „seelischen Apparat“ unweigerlich auf seinen Untergang hin aus und setzen irgendwann den Widerstand außer Kraft, der den Weg nach „rückwärts“ versperrt. Dann dient die Praxis der Wiederholung, mit der die Stabilität des „seelischen Apparats“ aufrecht erhalten wurde, ihrem Gegenteil und wendet sich gegen denselben, um die „volle Befriedigung“ erreichen zu können, die in der „freien Entwicklungsrichtung“ niemals tatsächlich erreicht werden kann. In diesem Moment muss an die Stelle der Aussicht, „den Prozeß abschließen und das Ziel erreichen zu können“, die Gewissheit getreten sein, dass es diese Aussicht nicht gibt. – Was sowohl Hegel als auch Lacan im Unterschied zu Freud nicht weiter bedenken, wenn sie die symbolische Ordnung aus der Erkenntnis des „absoluten Nichts“ und der Anerkenntnis des Todes als „absoluter Herr“ heraus begreifen, ist die Möglichkeit, dass genau diese Erkenntnis und diese Anerkenntnis zugleich die „inneren Gründe“ für die unweigerliche Erosion abgeben könnten, der die symbolische Ordnung ausgesetzt ist. Denn wenn der Tod die höchste Autorität ist, die erst die Autorität der symbolischen Ordnung ins Leben ruft und diese zum Sprechen bringt, dann könnten die Bedingungen, unter denen der Weg nach rückwärts frei wird, darin bestehen, dass die Befriedigung, die von der Autorität der symbolischen Ordnung nicht gewährt werden kann, nun von der eigentlichen Autorität eingefordert wird. 22 23

24

Ebd. S. 251f. Zum Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Freud vgl. die Relektüre des Antwortschreibens bei Jacques Derrida: Seelenstände der Psychoanalyse. Das Unmögliche jenseits einer souveränen Grausamkeit, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Frankfurt/M. 2002, S. 35ff. Sigmund Freud: Warum Krieg?, Studienausgabe, Bd. IX, S. 282–286 (hier: S. 282): „Der Todestrieb wird zum Destruktionstrieb, indem er mit Hilfe besonderer Organe nach außen, gegen die Objekte, gewendet wird. Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes Leben dadurch, daß es fremdes zerstört. Ein Anteil des Todestriebes verbleibt aber im Inneren des Lebewesen tätig, und wir haben versucht, eine ganze Anzahl von normalen und pathologischen Phänomenen von dieser Verinnerlichung des Destruktionstriebes abzuleiten.“

276

1.

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Die ozeanische Stimmung

Kein Philosoph hat sich so sehr mit der Problematik auseinandergesetzt, dass von der Todesdrohung, deren extreme und das Leben der Gemeinschaft beherrschende Präsenz am Beginn der modernen politischen Philosophie bei Thomas Hobbes auf eine äußerst prägende Weise entfaltet wird, zugleich auch eine extreme Anziehungskraft ausgeht, wie Georges Bataille. Die obsessiven Züge, die mit der Erhöhung des Todes zum Herrensignifikanten bei Hobbes einhergehen und die zugleich die damit in Gang gesetzte Ökonomie der Selbsterhaltung durchziehen und heimsuchen, tauchen bei Bataille auf eine parodistische und komödiantische Weise in einer Ökonomie der Selbstzerstörung wieder auf.25 In der Anzeige zu seinem 1936 entstandenen und erst 1957 publizierten Roman Le bleu du ciel schreibt Bataille: „Diese absichtliche und systematische Verausgabung ist eine Methode, die das Laster in Erkenntnis verwandelt und den Himmel in der Tiefe entdeckt. / Angesichts des Todes und in dem Bewußtsein, daß nichts ihm entkommt, kann es nicht um ‚Rettung‘ gehen, daher ist der Wille, sich zugrundezurichten, der einzig einleuchtende – der einzige, aus dem eine neue Souveränität hervorgehen kann. / Das Blau des Himmels schildert ihr Erlernen, indem es im Innersten eines jeden von uns jenen Riß entblößt, der die stets latente Gegenwart unseres eigenen Todes ist. Was durch den Riß zum Vorschein kommt, ist das Blau eines Himmels, dessen ‚unmögliche‘ Tiefe uns ebenso schwindelerregend ruft und abweist, wie unser Leben seinen Tod ruft und abweist.“26 Die „neue Souveränität“, die Bataille hier ankündigt, verdankt sich also nicht der Verfügung über die Todesdrohung und hängt trotzdem unmittelbar mit dieser zusammen, insofern der Tod ebenso wie bei Hegel und Lacan als die höchste Autorität erscheint, der nichts entkommen kann. Um die geheime Obsession jedoch, die das Maskenspiel des sich in der Todesverdrängung zugleich wiederholenden und restituierenden Todesbezugs beherrscht, sichtbar zu machen und dadurch auszutreiben, soll die „stets latente Gegenwart unseres eigenen Todes“ auf eine Weise manifest werden, dass sich der festgefügte Zusammenhang von Todesdrohung und Souveränität auflöst. – Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag, nämlich die Todesdrohung möglichst umfänglich ins Bewusstsein zu bringen, um den komplexen Bann ihrer Souveränität aufzuheben, erhält seinen Sinn vor dem Hintergrund einer historischen Stimmung, die Freud in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930) als „ozeanisches Gefühl“27 beschrieben hat. Denn diese Stimmung, die Freud im Rahmen seiner Lehre von den Todestrieben deutet, korrespondiert dem mit den Todestrieben 25

26

27

Vgl. dazu Roberto Esposito: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, übers. v. Sabine Schulz u. Francesca Raimondi, Zürich/Berlin 2004, S. 167–191 (hier: S. 184), der Bataille als „radikalsten Anti-Hobbes“ versteht: „Entgegen der Zwangsvorstellung einer conservatio vitae, die so weit getrieben wird, daß ihr jedes andere Gut geopfert wird, erkennt er [Bataille] den Höhepunkt des Lebens in einem Exzeß, der es kontinuierlich an der Linie des Todes entlangführt.“ Georges Bataille: Das Blau des Himmels, übers. v. Sigrid von Massenbach u. Hans Naumann, München 1990, S. 227f. Zu Batailles literarischen und theoretischen Bemühungen, eine Ikonographie des Heterogenen zu finden, indem er die klassischen Topoi der Souveränität und deren Bilderwelten umkehrt und parodiert, vgl. ausführlich Rita Bischof: Souveränität und Subversion. Georges Batailles Theorie der Moderne, München 1984, S. 47–111. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Studienausgabe, Bd. IX, S. 197–270 (hier: S. 198).

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verbundenen Streben, in einen „Ausgangszustand“ zurückzukehren, insofern es sich dabei um ein „Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt“ handelt,28 das in entwicklungspsychologischer Hinsicht mit der Etablierung von festen „Ichgrenzen“ zunehmend verschwindet und später bloß noch als regressiver Todeswunsch wiederzukehren vermag. Wenn Bataille diese ozeanische Stimmung in seinen literarischen und philosophischen Schriften auf eine geradezu manische Weise heraufbeschwört, um die fest gewordenen „Ichgrenzen“ mittels einer „systematischen Verausgabung“ zu überschreiten, dann geht es ihm allerdings nicht darum, wie vielfach behauptet,29 sich in diejenigen politischen Projekte einzureihen, die an der Wiederherstellung eines ursprünglichen und verlorenen Ganzen arbeiten, sondern den Ort der Gemeinschaft und den Ursprung der Immunisierung vor den Abgründen dieser Gemeinschaft aufzusuchen. Aus diesem Grund soll die „neue Souveränität“ der Todesdrohung keineswegs ihren berechtigten Schrecken nehmen, sondern im Gegensatz zur Ökonomie der Selbsterhaltung die Konsequenz aus dem Umstand ziehen, dass von diesem Schrecken eine zugleich als lustvoll erlebte Anziehungskraft ausgeht, deren Ambivalenz die Ökonomie der Selbsterhaltung von ihren politischen Ursprüngen trennt. Weil die Intensität des Schreckens an die Latenz seiner Gegenwart gebunden ist und die Trennung der Sphäre des Politischen von der des Ökonomischen auf dieser Latenz basiert, mündet Batailles Vorhaben, die „stets latente Gegenwart unseres eigenen Todes“ in eine manifeste zu überführen, in den Versuch, eine neue politische Ökonomie zu denken. Den theoretischen Ausgangspunkt dieses Versuchs bildet dabei die dem Denken der Selbstidentität entgegengesetzte Frage, ob es möglich ist, die eigene Dezentrierung wahrnehmen zu können, ohne sie im gleichen Moment als „sein Anderes“ zu identifizieren und damit auf dialektische Weise wieder der Selbstidentität zuzuführen. In dem kurzen Aufsatz Le bas matérialisme et la gnose (1930) setzt sich Bataille dazu zunächst sowohl von idealistischen als auch von materialistischen Ansätzen ab, weil selbst „die einzige Form, die bisher in ihrer Entwicklung der systematischen Abstraktion entging, nämlich der dialektische Materialismus, mindestens ebenso sehr den absoluten Idealismus in seiner Hegelschen Form zum Ausgangspunkt hatte“.30 Um der „systematischen Abstraktion“ und damit der identifizierenden Leistung von Erkenntnisakten zu entgehen, entwickelt Bataille den Begriff eines „niederen Materialismus“, der sich dem dialek28 29

30

Ebd. S. 198. Vgl. etwa Jean-Paul Sartre: Ein neuer Mystiker, in: ders.: Situationen, übers. v. Werner Bökenkamp, Reinbek bei Hamburg 1965, S. 59–88. Auf den Vorwurf von Sartre, Bataille würde als „Mystiker“ sein Bedürfnis befriedigen, das Ganze sein zu wollen, antwortet dieser: „Gewiß, wenn ich es werden könnte, wäre ich auch der ganze Mensch, aber in meiner Anstrengung entferne ich mich von ihm, und wie kann man das Ganze werden, ohne ein ganzer Mensch zu sein? Ich kann dieser ganze Mensch nur sein, indem ich es aufgebe. Ich kann ein solcher nicht durch meinen Willen werden: mein Wille ist zwangsläufig der, anzukommen!“ Georges Bataille: Antwort an JeanPaul Sartre (Verteidigung der ‚Inneren Erfahrung‘), in: ders.: Nietzsche und der Wille zur Chance (Atheologische Summe III), übers. u. hg. v. Gerd Bergfleth, München 2005, S. 236–247 (hier: S. 246). Georges Bataille: Der niedere Materialismus und die Gnosis, übers. v. Bernd Mattheus, in: Wolfgang Schultz: Dokumente der Gnosis, München 1986, S. 7–15 (hier: S. 14).

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tischen Zugriff verweigern soll: „Die niedrige Materie ist den idealen menschlichen Bestrebungen äußerlich und fremd und sperrt sich dagegen, sich auf die großen ontologischen Maschinen reduzieren zu lassen, die aus diesen Bestrebungen hervorgegangen sind.“31 Insofern der Zugang zu dieser „niedrigen Materie“ weder durch einen reduzierenden Erkenntnisakt eröffnet werden kann, weil dadurch im gleichen Moment das Erkannte zwangläufig zugunsten einer imaginären Zentrierung verkannt würde, noch durch eine Dialektik von Wissen und Nichtwissen, die aus der Sicht Batailles stets der Selbstidentität des Wissenden zuarbeitet,32 kann es letztlich nur um eine Übung im Umgang mit dem Nichtwissen gehen,33 die dazu anleiten soll, den eigenen „Zwang zum Idealismus“ zu unterlaufen: „Daher unterwerfe ich mich dem, was man wirklich Materie nennen muß – da es außerhalb von mir und der Idee existiert –, völlig; und in diesem Sinne lasse ich es nicht zu, daß meine Vernunft die Grenze dessen wird, was ich gesagt habe, denn ginge ich so vor, würde die durch meine Vernunft eingeschränkte Materie alsbald die Bedeutung eines höheren Prinzips annehmen (das über sich zu errichten diese knechtische Vernunft, um als autorisierter Beamter zu sprechen, entzückt wäre).“34 Um vermeiden zu können, dass die „niedrige Materie“ zu einem „höheren Prinzip“ der Reduktion wird, muss daher das ökonomische Prinzip außer Kraft gesetzt werden, das im Sinne der berühmten Regel von Wilhelm von Ockham, wonach nicht etwas durch mehrere gemacht werden darf, was durch wenigere gemacht werden kann, beim Sprechen über einen Gegenstand dazu anleitet, die Menge der verwendeten Zeichen so knapp wie möglich zu halten und nicht auf überflüssige Begriffe zurückzugreifen.35 Denn weil dieses ökonomische Prinzip die Ordnungsleistung nicht mehr einer adäquat zu erfassenden Ontologie des Gegebenen unterstellt, sondern im Bezeichnungsakt selbst ansiedelt und so die konstruktivistischen Linien der modernen Philosophie vorzeichnet, kann die „niedrige Materie“, die nach Bataille in solchen Elementen gegeben ist, die der „herrschenden geistigen Ordnung“ am „wenigstens konform“ sind und daher die „unreinsten Fermente“ dieser Ordnung bilden,36 lediglich durch einen Überschuss an Zeichen und in unbestimmten Begriffen zur Wahrnehmung gelangen. Was sich der Selbstidentität entzieht und trotzdem ihre uneinholbare Voraussetzung darstellt, kann sich allein dort bemerkbar machen, wo sich die „herrschende geistige Ordnung“ entgegen ihrem eigenen „Zwang zum Idealismus“ genötigt sieht, auf eine illegitime und somit subversive Weise von sich selbst zu sprechen. 31 32

33 34 35

36

Ebd. S. 7. Zu Batailles intensiver Auseinandersetzung mit Hegel vgl. Peter Bürger: Die Souveränität und der Tod. Batailles Einspruch gegen Hegel, in: Andreas Hetzel/Peter Wiechens (Hg.): Georges Bataille: Vorreden zur Überschreitung, Würzburg 1999, S. 29–40. Zum Rückbezug auf die Tradition der Mystik bei Bataille vgl. Rodolphe Gasché: System und Metaphorik in der Philosophie von Georges Bataille, Bern 1978, S. 299–344. Bataille: Der niedere Materialismus und die Gnosis (Anm. 30), S. 14. Vgl. Wilhelm von Ockham: Summa Logicae, in: ders.: Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, Lateinisch-Deutsch, übers. u. hg. v. Ruedi Imbach, Stuttgart 1984, S. 59 (SL I, 12). Vgl. dazu auch Jan P. Beckmann: Ontologisches Prinzip oder methodologische Maxime? Ockham und der Ökonomiegedanke einst und jetzt, in: Wilhelm Vossenkuhl/Rolf Schönberger (Hg.): Die Gegenwart Ockhams, Weinheim 1990, S. 191–207. Bataille: Der niedere Materialismus und die Gnosis (Anm. 30), S. 9.

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Analog zur Problematik der Todestriebe, die nicht nur eine permanente Erosion des „seelischen Apparats“ bewirken, sondern auch den unzugänglichen Ort der „Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt“ markieren, stellen die heterogenen Elemente einer Ordnung für Bataille nicht nur die ausgeschlossenen dar, sondern den entscheidenden Ansatzpunkt, um die Totalität dieser Ordnung begreifen zu können. Zu diesem Zweck entfaltet Bataille in seinem Aufsatz La notion de dépense (1933) entlang der ihn leitenden Vorstellung einer „unproduktiven Verausgabung“ eine dem ökonomischen Prinzip entgegengesetzte Sicht: „Es ist traurig festzustellen, dass in dieser Hinsicht die bewußte Menschheit minderjährig geblieben ist: sie erkennt sich das Recht zu, rational etwas zu erwerben, zu erhalten oder zu konsumieren, aber was sie prinzipiell ausschließt, ist die unproduktive Verausgabung.“37 Mit der kritischen Feststellung, dass das herrschende Nützlichkeitsprinzip darauf abziele, die menschlichen Tätigkeiten soweit als möglich auf Prozesse der Produktion und Reproduktion zu reduzieren, zu der auch alle Arten der Konsumtion gehören, die der „Produktion als Mittel“ dienen, geht es Bataille jedoch nicht nur darum, die zunehmend effizienteren Verwertungsprozesse zu problematisieren, sondern vor allem einen epistemologischen Zugang zu derartigen Tätigkeiten zu eröffnen, die vom Nützlichkeitsprinzip nicht erfasst werden können.38 Denn obwohl das „alltägliche Verhalten“ und ebenso die „persönliche Erfahrung“ diesem Prinzip zu widersprechen scheinen, gibt es für Bataille keinen ausreichenden theoretischen Rahmen, der die Möglichkeit in Rechnung stellt, dass die „menschliche Gesellschaft“ sowie jeder Einzelne „ein Interesse an erheblichen Verlusten und Katastrophen haben könnte, die, bestimmten Bedürfnissen gemäß, leidenschaftliche Depressionen, Angstkrisen und letztlich einen gewissen orgiastischen Zustand hervorrufen“.39 Aus dieser Perspektive erscheinen die Krisen und Depressionen also nicht als Unfälle oder als misslungene Kalküle der Nutzungsmaximierung, sondern werden wie im Modell des homo oeconomicus auf Interessen zurückgeführt, die auf „bestimmte Bedürfnisse“ reagieren, deren Entzifferung für Bataille noch aussteht und nur im Rahmen der Logik einer „unproduktiven Verausgabung“ geleistet werden kann. Denn weil diese dem ökonomischen Prinzip entgegenwirkenden Bedürfnisse darauf abzielen, zu dem ungreifbaren Moment zurückzukehren, an dem die Ordnungsstiftung unter dem Imperativ des ökonomischen Prinzips entlang einer Überführung von Unordnung in Ordnung bewerkstelligt wird, handelt es sich dabei für Bataille um einen Versuch, mit der „universellen Materie“ selbst in Kontakt zu treten: „So zieht der riesige Abfall, den die Tätigkeit erzeugt, die menschlichen Absichten – einschließlich derer, die ökonomische Operationen betreffen – in das qualitative Spiel der universellen Materie hinein: die Materie kann in der Tat nur definiert werden als die nicht-logische Differenz, die für die Ökonomie des Univer-

37 38

39

Georges Bataille: Der Begriff der Verausgabung, übers. v. Traugott König, in: ders.: Die Aufhebung der Ökonomie, hg. v. Gerd Bergfleth, München 2001, S. 7–31 (hier: S. 106). Zum Verhältnis von Batailles theoretischem Ansatz zur Sozialökonomie bei Werner Sombart und Joseph Schumpeter vgl. Thomas Wex: Ökonomik der Verschwendung. Batailles Allgemeine Ökonomie und die Wirtschaftswissenschaft, in: Andreas Hetzel/Peter Wiechens (Hg.): Georges Bataille: Vorreden zur Überschreitung, Würzburg 1999, S. 187–210. Bataille: Der Begriff der Verausgabung (Anm. 37), S. 10.

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sums das ist, was das Verbrechen für das Gesetz ist.“40 – Was sich zunächst wie eine durch lebensphilosophische Konzepte geprägte Antwort anhören mag, die dem prüfenden Blick einer kritischen Philosophie nicht standhalten kann, wie Jürgen Habermas resümiert, wenn er der Meinung ist, er brauche auf den „Gehalt dieses im schlechten Sinne metaphysischen Weltbildes“ nicht einzugehen,41 wird jedoch dann plausibel, wenn man sie mit dem logisch nicht handhabbaren Gewimmel von Differenzen in Beziehung setzt, das im Naturzustand Hobbesscher Prägung herrscht. Bei der „universellen Materie“, von der Bataille hier spricht, handelt es sich nicht um einen Rückgriff auf Ordnungsmodelle im vormodernen Sinne, die das Sosein der Welt auf ontologischer Ebene immer schon als vorstrukturiert und die symbolischen Plätze somit stets schon als verteilt verstehen. Vielmehr beschreibt die „universelle Materie“ eben den Naturzustand der modernen Ordnungsgenese, in dem jeder mit jedem auf eine unannehmbare Weise verbunden ist und der auch dann noch als anderer Zustand wirksam bleibt, wenn der Naturzustand mittels einer Grenzziehung zugunsten einer privilegierten Differenz, die alle anderen Differenzen handhabbar werden lässt, verdrängt worden ist. In genauer Umkehrung dieser Ausgangslage stellt die „nicht-logische Differenz“ bei Bataille jetzt nicht mehr, wie noch im modernen Ordnungsdenken,42 den Anfang der Ordnungsgenese dar, sondern deren Ziel: „Die Menschen sichern ihren Lebensunterhalt oder vermeiden ihren Schmerz, nicht weil diese Tätigkeiten für sich ein zureichendes Resultat erbringen, sondern um zu der insubordinierten Tätigkeit der freien Verausgabung zu gelangen.“43

2.

Das souveräne Unbewusste

Michel Foucault hat bei Bataille von einer „Erprobung der Grenze“ gesprochen, bei der sich die Überschreitung der Grenze zu dieser nicht wie das „Schwarze zum Weißen, das Verbotene zum Erlaubten, das Äußere zum Inneren, das Ausgeschlossene zum geschützten Heim“ verhält, sondern bei der die Überschreitung so in die Grenze „eingelassen“ ist, dass sich deren volle Wirksamkeit allererst in der Überschreitung zeigt: „[...] die Grenze stößt gewaltsam die Tür zum Unbegrenzten auf, sie wird vom Gehalt, den sie zurückweist, überwältigt und von der fremden Fülle, die ihr Innerstes einnimmt, erfüllt. Die Überschreitung treibt die Grenze bis an ihre äußerste Grenze; sie läßt sie über ihrem drohenden Verschwinden erwachen, sie läßt sie in dem zu sich kommen, was sie ausschließt, und sich darin zum erstenmal erkennen, sie läßt sie ihre positive Wahrheit in ihrem Verlust spüren.“44 Demnach zielt die Überschreitung der Grenze bei Bataille nicht auf eine Entgrenzung ab, in der das begrenzte Feld zugunsten eines unbegrenzten 40 41 42

43 44

Ebd. S. 31. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1988, S. 248–278 (hier: S. 276). Vgl. dazu Peter Bürger: Der Ursprung des postmodernen Denkens, Weilerswist 2000, S. 57–77, der das literarische und philosophische Werk von Bataille zu Recht zu den maßgeblichen Quellen des „postmodernen Denkens“ zählt. Bataille: Der Begriff der Verausgabung (Anm. 37), S. 31. Michel Foucault: Vorrede zur Überschreitung, in: ders.: Von der Subversion des Wissens, übers. u. hg. v. Walter Seitter, Frankfurt/M. 1987, S. 28–45 (hier: S. 32).

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Feldes hinter sich gelassen würde. Das Unbegrenzte kommt nicht dadurch in den Blick, dass die Grenze überschritten wird und sich das Unbegrenzte nun in seiner ganzen Fülle zu zeigen vermag. Es handelt sich nicht um einen romantischen Blick, der vom Begrenzten zum Unbegrenzten führt und der nie bei diesem Unbegrenzten ankommen kann, weil im gleichen Moment damit auch die Grenze reproduziert werden muss, ohne die diese Erfahrung des Übergangs nicht zu machen wäre. Weil die Bewegung vom Begrenzten zum Unbegrenzten daher permanent wiederholt werden muss, kann die volle Wirksamkeit der Grenze selbst dabei nicht in den Blick kommen. Im Gegensatz dazu geht dem zwangsläufig paradoxen Bemühen bei Bataille, sich auf beiden Seiten der Grenzziehung zugleich aufzuhalten, um die Grenze selbst in den Blick bekommen zu können, von der Einsicht aus, dass der Grenzziehung immer schon ihre eigene Überschreitung innewohnt und auf diese Weise nicht nur das in ihrem Bann steht, was sie einschließt und eingrenzt, sondern ebenfalls das von ihr Ausgeschlossene. Insofern nämlich im gleichen Moment die vermeintliche Fülle jenseits der Grenze als solche allererst durch die Grenzziehung in Aussicht gestellt wird und umgekehrt das, was die Grenzziehung einschließt, von ihrem Ausgeschlossenen beherrscht wird, liegt das Rätsel der Grenze und ihrer Überschreitung, um dessen Lösung sich Bataille bemüht, in der Souveränität der Grenzziehung selbst.45 Denn unabhängig davon, ob man annimmt, dass zunächst ein unbegrenztes Feld gegeben ist, von dem dann mittels einer Grenzziehung ein begrenztes Feld abgetrennt wird, oder umgekehrt, dass jedes gegebene Feld der Begrenzung zugleich wiederum ein Feld des Unbegrenzten erzeugt, stets scheint sich die Souveränität der Grenzziehung in dem Versprechen zu manifestieren, sie sei in der Lage, den mit der Grenzziehung markierten Verlust zugleich auch wieder kompensieren zu können, gerade weil der Verlust allererst durch die Grenzziehung herbeigeführt wurde. Aus diesem Grund sieht Foucault in dem Versuch von Bataille, eine „neue Souveränität“ aus dem komplexen Spiel von Grenze und Überschreitung zu gewinnen, auch die Bemühung um die Möglichkeit einer „Affirmation der Teilung“ gegeben: „Nichts in der Überschreitung ist negativ. Sie bejaht das begrenzte Sein, sie bejaht jenes Unbegrenzte, in welches sie ausbricht und das sie damit erstmals der Existenz erschließt. Doch kann man auch sagen, daß diese Affirmation nichts Positives hat: kein Inhalt kann sie binden, da keine Grenze sie zurückhalten kann. Vielleicht ist sie nichts anderes als die Affirmation der Teilung. Man muß aber von diesem Wort alles fernhalten, was an Einschnitt, Trennung oder Distanz erinnert, und es nur das Sein der Differenz bezeichnen lassen.“46 Um die beabsichtigte Reichweite dieses Versuchs ermessen zu können, der weit über vernunftkritische Konzepte „ästhetischer Negativität“ und deren Konfigurationen des „Nichtidentischen“ hinausgeht,47 muss man sich die historisch-politischen Umstände 45

46 47

Vgl. dazu Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt/M. 2002, S. 59, der sein zentrales Theorem vom „eingeschlossenen Ausgeschlossenen“ im kritischen Anschluss an Bataille und dessen Kritik der traditionellen Auffassung von Souveränität entwickelt hat: „Georges Bataille, der gleichwohl ein Denker der Souveränität bleibt, hat in der négativité sans emploi und im désœuvrement eine Grenzdimension erreicht, in der die ‚Potenz nicht zu‘ nicht mehr unter die Struktur des Banns fällt.“ Foucault: Vorrede zur Überschreitung (Anm. 44), S. 33. Vgl. dazu Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt/M. 1991, S. 189–210.

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vergegenwärtigen, auf die Bataille reagiert. Denn diese Umstände hängen für Bataille unmittelbar mit der traditionellen Auffassung von Souveränität zusammen, wie sie Alexis de Tocqueville in seinem umfassenden Werk Über die Demokratie in Amerika (1835/1840) prägnant definiert hat, wenn er das „Dogma der Volkssouveränität“ in theologischen Analogien entfaltet: „Das Volk beherrscht die politische Welt wie Gott das All. Es ist Ursprung und Ziel aller Dinge; aus ihm geht alles hervor, und zu ihm geht alles zurück.“48 Nach Tocqueville ist das „Dogma der Volkssouveränität“ dann vollkommen zur Herrschaft gelangt, wenn man sagen kann, dass „das Volk sich wirklich selbst regiert“, weil auch der „Anteil der Verwaltung“ an dieser Selbstregierung keine Beeinträchtigung mehr darzustellen vermag: „[...] so sehr ist die Verwaltung sich ihres Ursprungs aus dem Volke bewußt und gehorcht der Gewalt, in der sie wurzelt.“49 In dem Moment, in dem die Souveränität zum „Ursprung und Ziel aller Dinge“ geworden ist, gibt es keine fremde Gewalt mehr, die der Immanenz der Souveränität etwas entgegenzusetzen hätte. Voraussetzung für diese demokratische Herrschaft ist, wie Tocqueville festhält, dass es kaum einen Menschen gibt, der „den Gedanken wagen oder gar aussprechen würde, die Gewalt sei anderswo zu suchen“.50 Das heißt, damit das „Dogma der Volkssouveränität“ vollkommen zur Herrschaft gelangen kann, muss zuvor ein Prozess der Homogenisierung stattgefunden haben, der die Immanenz der Souveränität sicherstellt, sodass niemand mehr auf die Idee kommt, die Gewalt „anderswo“ zu vermuten. – Diesen Prozess der Homogenisierung hat Bataille im Anschluss an die psychoanalytische Auffassung des Unbewussten in dem Aufsatz Le structure psychologique du Fascisme (1933/34) als „Zensur“ begriffen, mittels der eine „homogene Gesellschaft“ hervorgebracht wird: „Der Ausschluß der heterogenen Elemente aus dem homogenen Bereich des Bewußtseins hat demnach eine formale Ähnlichkeit mit dem Ausschluß von Elementen, die die Psychoanalyse als unbewußte beschreibt und die durch Zensur vom bewußten Ich ferngehalten werden.“51 Weil in der bürgerlichen Gesellschaft die „soziale Homogenität“ vorwiegend über die ökonomische Dimension gewährleistet wird, manifestiert sich die dazu notwendige Reduktion des „menschlichen Charakters auf eine abstrakte und austauschbare Wesenheit“ in dem Umstand, dass die „homogenen Personen“ zum „Widerschein der homogenen Dinge“ werden, die sich in ihrem Besitz befinden. Während Bataille mit dieser Ansicht zunächst im Rahmen marxistischer Vorgaben verbleibt, zeigt sich der entscheidende Unterschied seiner Analyseperspektive darin, dass er den „Proletariern“ eine „doppelte Stellung“ zuspricht, die sie als heterogene Elemente nicht nur vom „Profit“ der „bürgerlichen 48

49 50 51

Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, übers. v. Hans Zbinden, Bd. I, München 1976, S. 65. Vgl. dazu Jacques Derrida: Das Recht des Stärkeren (Gibt es Schurkenstaaten?), in: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt/M. 2003, S. 15–158 (hier: S. 36), der das „Dogma der Volkssouveränität“ bei Alexis de Tocqueville als „uneingestandene“ politische Theologie der demokratischen Souveränität versteht. Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika (Anm. 48), S. 65. Ebd. S. 65. Georges Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus, in: ders: Die psychologische Struktur des Faschismus/Die Souveränität, übers. v. Rita Bischof, Elisabeth Link u. Xenia Rajewski, hg. v. Elisabeth Link, München 1978, S. 7–43 (hier: S. 15).

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oder kapitalistischen Klasse“ ausnimmt, sondern auch von der damit verbundenen Reduktion: „Außerhalb der Fabrik und selbst außerhalb der technischen Abläufe bleibt der Arbeiter, wenn man ihn mit den homogenen Personen (Arbeitgebern, Bürokraten etc.) vergleicht, ein Fremder, ein Mensch von anderer Natur, einer Natur, die nicht reduziert, nicht unterworfen ist.“52 Die „Zensur“ wirkt somit in zwei Richtungen zugleich, insofern sie einerseits die homogenen Elemente reinigt und erhöht, indem sie die heterogenen als niedrigere aussondert, und andererseits die heterogenen Elemente von dieser Reinigung ausnimmt und dadurch entgegen ihrem niedrigeren Status auf eine ambivalente Weise wiederum erhöht.53 Entlang dieser Analyseperspektive ist es Bataille möglich, nicht bloß den ausgeschlossenen Elementen ein Verlangen nach Teilhabe, sondern umgekehrt auch den homogenen und gereinigten Elementen ein uneingestandenes Verlangen nach dem unreinen Zustand der heterogenen Elemente abzulesen, insofern sich in der „heterogenen Existenz“ alles konzentriert, was die „homogene Welt“ von sich abstößt: „Es sind dies die Ausscheidungen des menschlichen Körpers oder analoge Stoffe (Abfall, Gewürm etc.); Körperteile, Personen, Worte oder Handlungen, die einen ansteckenden erotischen Wert haben; [...].“54 Auch wenn die Beispiele, die Bataille für die „heterogenen Existenzen“ vom „Lumpenproletariat“ bis zu den „Elenden“, die „in Indien für unberührbar erklärt“ werden, zur Veranschaulichung anführt, im Einzelnen vielleicht nicht immer zu überzeugen vermögen, so lässt sich das in einer ganzen Reihe von vorwiegend poststrukturalistischen Theoriebildungen wirksam gewordene Analyseschema von Homogenität und Heterogenität als entscheidende Leistung Batailles auffassen, die es ihm erlaubt, in der dialektisch verstandenen Beziehung zwischen dem „Selbst“ und „seinem Anderen“ die Bruchlinien im prekären Status dieses „Anderen“ zu erkennen. Denn weil jede Selbstidentität auf einem vorgängigen Akt der Aussonderung fremder Anteile basiert, ist das „Selbst“ in „seinem Anderen“ nicht nur mit fremden Anteilen konfrontiert, zu denen es sich in Beziehung setzen kann, sondern auch mit solchen Anteilen, die ihm unannehmbar fremd sind und die Bataille daher als das „ganz Andere“ bezeichnet.55 Dieser nicht assimilierbare Rest kann dem Bewusstsein nicht zugeführt werden und verbleibt daher unaufhebbar im Unbewussten. – Wenn Bataille aus dieser Perspektive die „faschistische Aufhebung der Klassen zugunsten der Volksgemeinschaft“ nicht nur als eine „symbolische Einheit der Klassen“, sondern darüber hinaus als „totale Einheit der heterogenen mit den homogenen Elementen“ auffasst,56 dann hält er damit zugleich fest, dass die 52 53

54 55 56

Ebd. S. 11. Im Anschluss an die religionssoziologischen Arbeiten von Émile Durkheim und Marcel Mauss war die Erforschung dieser Ambivalenz im Sinne einer Soziologie des Heiligen eines der wesentlichen Anliegen des von Bataille mitbegründeten Collège de Sociologie. Vgl. dazu Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937–1939), Konstanz 2006. Vgl. auch Roger Caillois: Der Mensch und das Heilige, übers. v. Brigitte Weidmann, München/ Wien 1988, der in dieser Hinsicht auf Bataille einen äußerst großen Einfluss hatte. Zu seiner Beziehung zu Caillois vgl. Georges Bataille: Theorie der Religion, übers. v. Andreas Knop, hg. v. Gerd Bergfleth, München 1997, S. 164–178. Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus (Anm. 51), S. 17. Ebd. S. 18 Ebd. S. 35.

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vollkommene Immanenz der Souveränität nur dann hergestellt werden kann, wenn der unaufhebbar im Unbewussten verbleibende Rest ins Bewusstsein überführt wird.57 Unter der Bedingung, dass es in Analogie zur psychoanalytischen Auffassung des Selbst immer einen heterogenen und homogenen Bereich der Gesellschaft gibt, resultiert der „faschistische Staat“ für Bataille aus dem Versuch, die traditionelle Auffassung von Souveränität vollständig zu realisieren, insofern die „totale Einheit“ nicht nur die homogenen, sondern auch die heterogenen Elemente einbeziehen muss: „Dieser Prozeß, der von unten nach oben die verschiedenen sozialen Gruppen zusammenbraut, muß als grundlegender Prozeß begriffen werden, dessen Schema notwendig mit der Stellung des Führers gegeben ist. Des Führers tiefgreifende Wirkung besteht darin, daß er die Verlassenheit und das Elend des Proletariats durchlebt hat.“58 Was die „totale Einheit“ stiftet, versteht Bataille im Rückgriff auf Freuds Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) als einen „affektiven Strom“,59 der aus der Freisetzung der unannehmbar fremden Anteile hervorgeht, die ansonsten in der „elenden Existenz“ der „niederen Klassen“ gebunden sind, und um den sich nun die „sozialen Gruppen“ anordnen. Erst durch die Aneignung dieser dem Bewusstsein nicht zuführbaren Anteile und durch den Versuch einer souveränen Verfügung über das Unbewusste entsteht für Bataille ein Bewusstsein von „sich steigernden, gewaltsamen, ins Maßlose anwachsenden Energien“, bei dem das Unbewusste als solches zu einer monströsen Ressource der Machtausübung wird: „Der affektive Strom, der den Führer mit seiner Gefolgschaft verbindet in der Form der moralischen Identifizierung der Gefolgschaft mit dem Führer (und umgekehrt), ist Funktion eines gemeinsamen Bewußtseins von sich steigernden, gewaltsamen, ins Maßlose anwachsenden Energien, die sich in der Person des Führer akkumulieren und in ihr unbegrenzt verfügbar werden.“60

3.

Therapie der Verschwendung

Ohne an dieser Stelle die zahlreichen Aspekte dieser Faschismusanalyse im Einzelnen wiedergeben zu können, dürfte deutlich geworden sein, dass sich der Faschismus für Bataille um die vollständige Einbeziehung und damit in letzter Konsequenz um die restlose Negation jenes „ganz Anderen“ anordnet, das in der dialektisch verstandenen Beziehung zwischen dem „Selbst“ und „seinem Anderen“ den ausgeschiedenen Abfall darstellt, der die Herstellung einer bewussten Beziehung zwischen dem „Selbst“ und „seinem Anderen“ allererst ermöglicht. Nur weil es immer einen ausgeschlossenen Rest gibt, kann das „Selbst“ in „seinem Anderen“ auf sich selbst zurückkommen und in der dialekti57

58 59

60

Zu Batailles Versuch einer politischen Gegenstrategie, die aus dieser Faschismusanalyse die Konsequenzen ziehen sollte, vgl. Stephan Moebius: Contre-Attaque. Eine politische Initiative französischer Intellektueller, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts. Neue Folge, 18. Jahrgang, Heft 2 (2003), S. 85–100. Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus (Anm. 51), S. 35. Zur Vorgeschichte der Theorien über Massen vgl. Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben: Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930, München 2007, insbesondere das Kapitel Masse und Energie, S. 435–474. Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus (Anm. 51), S. 19.

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schen Konfrontation mit dem fremden Anteil diesen als seinen eigenen annehmen. JeanLuc Nancy hat den exzessiven und zwangsläufig katastrophalen Reinigungsprozess, der von der vollständigen Einbeziehung des ausgeschiedenen Rests ausgeht, im Anschluss an Bataille als einen „Willen zur absoluten Immanenz“ verstanden: „Aus diesem Grund ist die Wahrheit derjenigen politischen oder kollektiven Unternehmungen, die von einem Willen zur absoluten Immanenz beherrscht werden, die Wahrheit des Todes. Die Immanenz, d. h. die einheitsstiftende Verschmelzung, birgt keine andere Logik in sich als die des Selbstmordes der Gemeinschaft, die sich auf das Prinzip der Immanenz bezieht.“61 Die fatale Logik dieses „Willens zur absoluten Immanenz“ stellt sowohl für Bataille als auch für Nancy demnach keinen Bruch mit der traditionellen Auffassung von Souveränität und dem Denken der Selbstidentität dar, sondern im Gegenteil deren radikale Konsequenz, die notwendigerweise in einer „Wahrheit des Todes“ münden muss. Wenn sich Bataille in diesem historisch-politischen Kontext darum bemüht, dem „Willen zur absoluten Immanenz“ eine derartige Souveränität entgegenzuhalten, die imstande sein soll, den festgefügten Zusammenhang von Todesdrohung und Souveränität aufzulösen, dann kann man darin einen therapeutischen Einsatz sehen, der das Begehren nach Selbstidentität von seinem untergründig stets wirksamen Wunsch entbinden soll, seine voll umfängliche Befriedigung in der „Wahrheit des Todes“ zu suchen.62 – Die zahlreichen Szenen der Ich-Auflösung, um die Bataille in seinem Buch L’expérience intérieure (1943) unaufhörlich kreist, dienen aus diesem Grund dazu herauszufinden, was das Denken der Selbstidentität derart abwehrt, dass der Wunsch, mit sich selbst identisch zu sein, zuletzt in dem Wunsch kulminiert, tot zu sein. Zu diesem Zweck entwirft Bataille eine gedanklich-experimentelle Anordnung, die der theoretischen Szene des cogito bei René Descartes insofern entgegengesetzt ist, als es dabei um die Möglichkeit einer „inneren Erfahrung“ geht, noch bevor diese durch Akte des Denkens oder des Handelns reduziert worden ist: „Ich gelange zu dieser Einstellung: Die innere Erfahrung ist das Gegenteil des Handelns. Sonst nichts.“63 Von der Versenkung der Introspektion soll alles ferngehalten werden, was die möglicherweise beunruhigenden Momente zugunsten zukünftiger Momente der Beruhigung umwandelt und in diesem Sinne eine „Existenzform des Projekts“ hervorruft: „Das Handeln ist ganz und gar abhängig vom Projekt. Und, was schwerwiegend ist, das diskursive Denken ist selber an die Existenzform des Projekts gebunden. Das diskursive Denken ist die Sache eines Wesens, das ans Handeln gebunden ist, es findet statt auf der Grundlage seiner Projekte, auf der Ebene der Reflexion der Projekte. Das Projekt ist nicht nur die Existenzform, die im Handeln enthalten und fürs Handeln nötig ist, sondern eine paradoxe Weise, in der Zeit zu sein: es ist die Verschie61

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Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, übers. v. Gisela Febel u. Jutta Legueil, Stuttgart 1988, S. 32. Zu den Konsequenzen, die Nancy daraus für das politische Denken der Gemeinschaft zieht, vgl. Oliver Marchart: Die politische Ontologie der Gemeinschaft. Politik und Philosophismus bei Jean-Luc Nancy, in: Janine Böckelmann/Claas Morgenroth (Hg.): Politik der Gemeinschaft. Zur Konstitution des Politischen in der Gegenwart, Bielefeld 2008, S. 133–156. Zu individualpsychologischen Motivationen vgl. Hans-Dieter Gondek: Azephalische Subjektivität. Gabe, Gesetz und Überschreitung bei Bataille und Lacan, in: Andreas Hetzel/Peter Wiechens (Hg.): Georges Bataille: Vorreden zur Überschreitung, Würzburg 1999, S. 157–184. Georges Bataille: Die innere Erfahrung nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953 (Atheologische Summe I), übers. u. hg. v. Gerd Bergfleth, München 1999, S. 68.

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bung der Existenz auf später.“64 Im Gegensatz zur „Existenzform des Projekts“, bei der die eigene Existenz im Denken oder Handeln zugunsten einer Absicht zur Veränderung dieser Existenz auf später verschoben wird, soll die möglichst willenlose Überlassenheit an den nicht reduzierten Augenblick der momentanen Erfahrung ein „Sein ohne Aufschub“ ermöglichen, das in der theoretischen Szene des cogito und deren dialektischer Ausprägung als immer schon reduziert erscheint.65 Weil sich das Ich denke aufgrund der Verknüpfungsleistung eines vorangegangen Momentes mit einem späteren dagegen sperrt, der momentanen Erfahrung ihre volle Geltung zukommen zu lassen, ist der Zustand der Angst vor dieser Geltung für Bataille ganz im Sinne der existentialistischen Philosophie der zentrale Schlüssel, um das entdecken zu können, was die „Verschiebung der Existenz auf später“ in Gang setzt.66 Im Zentrum der Meditation, die Bataille geradezu gegenläufig zu der von Descartes durchführt, steht daher nicht der Wunsch nach einer Selbstgewissheit, sondern eine bis an die Grenzen des Selbst getriebene Ungewissheit, die mittels der quälenden Vorstellung eines Ich sterbe das Ausgeliefertsein an die Kontingenz des Augenblicks erfahrbar machen soll: „Ich existiere – um mich herum dehnt sich die Leere, die Dunkelheit der realen Welt aus –, ich existiere, ich verharre blind und in Angst: jeder der anderen ist ganz anders als ich, ich spüre nichts von dem, was er spürt. Wenn ich mein Auf-die-Welt-Kommen ins Auge fasse – gebunden an die Geburt eines Mannes und einer Frau, und dann an ihre Vereinigung, sogar an den Augenblick der Vereinigung – entschied eine einzigartige Chance über die Möglichkeit dieses Ichs, das ich bin: in letzter Instanz die irre Unwahrscheinlichkeit dieses einzigen Wesens, ohne das für mich nichts vorhanden wäre. Die kleinste Abweichung in der Abfolge, deren Schlußpunkt ich bin, und anstelle des Ichs, das begierig ist, ein Ich zu sein, gäbe es, was mich betrifft, nur das Nichts, gleich als ob ich tot wäre.“67 Auch wenn Bataille diese gedanklich-experimentelle Anordnung, in der das Ich denke auf den undenkbaren Umstand seiner kontingenten Geburt zurückgeworfen wird, mit ausführlichen Zitaten von Friedrich Nietzsche einleitet und man sicherlich sagen kann, dass seine Auseinandersetzung mit Nietzsche zu den wichtigsten Schauplätzen einer postfaschistischen Rezeption gehört,68 so geht es Bataille allerdings im Gegensatz zu 64 65

66

67 68

Ebd. S. 68. Vgl. Bruce Baugh: French Hegel: From Surrealism to Postmodernism, New York/London 2003, S. 71–91, der im Rahmen seiner ausführlichen Darstellung der Vorstellung einer négativité sans emploi bei Bataille auch auf die Konkurrenzsituation mit Jean-Paul Sartre hinsichtlich der existentialistischen Aneignung der Hegel-Interpretation von Alexandre Kojève eingeht. Vgl. dazu auch Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, übers. v. Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke u. Ronald Voullié, München 1991, S. 69–76 (hier: S. 72), der im Anschluss an Bataille und im Gegensatz zu marxistisch-revolutionären Theorien der Emanzipation die „Arbeitsverweigerung“ als radikalste Infragestellung der „symbolischen Herrschaft“ ansieht: „Die Arbeitsverweigerung in ihrer radikalsten Form ist die Verweigerung dieser symbolischen Herrschaft, dieser Demütigung durch das, was einem zugestanden wird.“ Bataille: Die innere Erfahrung (Anm. 63), S. 98. Vgl. Georges Bataille: Wiedergutmachung an Nietzsche: Das Nietzsche-Memorandum und andere Texte, übers. u. hg. v. Gerd Bergfleth, München 1999. Vgl. dazu auch Torsten Hitz: Gift, Gaben, Geschenke. Bataille und Heidegger als Leser Nietzsches, in: Andreas Hetzel/Peter Wiechens (Hg.): Georges Bataille: Vorreden zur Überschreitung, Würzburg 1999, S. 133–156.

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Nietzsche nicht um eine Logik der Steigerung, in der selbst der Umstand der Geburt noch mittels einer imaginären Wiederholung des Geburtsvorgangs angeeignet werden soll. Vielmehr stellt Nietzsches Auslotung der Paradoxien des Selbstseins und dessen bis ins Extrem getriebener Versuch, dem Leben insgesamt die „Existenzform des Projekts“ zu geben, für Bataille die zentrale Ausgangsproblematik dar, an die sein Bemühen um eine Entbindung vom Wunsch nach Selbststeigerung anknüpft, wenn er gleich zu Beginn seiner Meditation im Horizont dieses „anderen“ die Frage aufwirft, wie man dem Verlangen, alles sein zu wollen, entgehen kann: „Sich angesichts eines anderen fragen: auf welchem Weg beschwichtigt er sein Verlangen, alles zu sein?“69 Im Unterschied zur theoretischen Szene des cogito und der damit verbundenen Selbstgewissheit bezeichnet Bataille ein Selbst, das sich im Sinne Nietzsches über sich selbst hinaustreibt, als ein ipse, das sich nur aus dem Grund an seine eigene Zerrissenheit ausliefert, um aus dieser Prozedur gesteigert wieder als ein Selbst hervorgehen zu können: „Solange das Ipse an seinem Willen zum Wissen und zum Ipsesein festhält, währt auch die Angst, doch wenn das Ipse sich aufgibt, und mit ihm selbst das Wissen, wenn es sich in dieser Selbstaufgabe dem Nichtwissen hingibt, beginnt das Entzücken. Im Entzücken findet meine Existenz wieder einen Sinn, aber dieser Sinn wird sofort dem Ipse zugeschrieben, er wird zu meinem Entzücken, zu einem Entzücken, das ich als ipse besitze, das meinem Willen, das Ganze zu sein, Befriedigung verschafft.“70 Auch das gestärkte Selbst, das sich vom schwachen Ich der Selbstidentität dahingehend unterscheidet, dass es sich fortwährend an der Grenze zu seinem Selbstverlust aufzuhalten vermag und dadurch in der Lage ist, eine dynamische Situation weiterer Steigerungsmöglichkeiten hervorzurufen, bleibt noch an die Abwehrhaltung des Ich denke gebunden, insofern es die Angst in Entzücken umwandelt und sich von ihr faszinieren lässt. Auch die Aneignung der Angst im Sinne einer Ressource der Selbststeigerung wehrt noch das ab, was diese Angst zu erfahren gibt, und schreibt sich damit für Bataille in die traditionelle Auffassung von Souveränität ein.71 Dagegen soll die gezielte Überlassenheit an die augenblickliche Erfahrung das Selbst des Ich denke derart an seine Grenzen führen, dass die „Fähigkeit“, das „Sein selber“ zu suspendieren, zum Gegenstand der Meditation wird: „[...] ich bin in Angst und ich denke, das Denken suspendiert die Angst in mir, ich bin das Wesen, das mit der Fähigkeit begabt ist, das Sein selber in ihm zu suspendieren.“72 Ausgehend von der Depotenzierung dieser Fähigkeit besteht die „neue Souveränität“ darin, den eigenen Willen zum „Ipsesein“ durchkreuzen und im Moment dieser Durchkreuzung das zulassen zu können, was in der Suspendierung des Seins durch das Ich denke abgewehrt

69 70 71

72

Bataille: Die innere Erfahrung (Anm. 63), S. 10. Ebd. S. 79. Vgl. Karl Jaspers: Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin/New York 1981, S. 324, der darauf hinweist, dass der „Gedanke an den Selbstmord“ bei Nietzsche dazu dient, sich der „Angst vor dem Tode“ als „Zeichen matten Daseins“ bemächtigen zu können: „Die Überlegenheit über den Tod hat für Nietzsche ihre eigentliche Wirklichkeit erst im Selbstmord. Nietzsche hat durch sein Leben hindurch ihn als das Menschenwürdige gepriesen: den freiwilligen (vernünftigen) Tod gegen den unfreiwilligen (natürlichen) Tod.“ Bataille: Die innere Erfahrung (Anm. 63), S. 69.

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wird.73 Die „Methode der Meditation“, in deren Verlauf der „Meditierende die Beute eines unbegrenzt Komischen und Tragischen“ wird,74 besteht darin, das Verlangen, alles zu sein, an den paradoxen Punkt zu führen, an dem sich die Souveränität im Gegensatz zur traditionellen Auffassung aus der Erfahrung ergibt, nicht souverän zu sein. Weil die Souveränität des Ich denke den Zugang zur eigenen Dezentrierung zwangsläufig verstellen muss, wird die Nicht-Souveränität des Ich sterbe daher nun zur Bedingung einer authentischen Erfahrung: „Im Sterben werde ich, ohne entweichen zu können, die Zerrissenheit gewahren, die meine Natur konstituiert und in der ich ‚das, was existiert‘, transzendiert habe.“75

4.

Ökonomie und Ökologie

Während in der theoretischen Szene des cogito die gespenstische Vorstellung, tot zu sein, den Horizont des Undenkbaren markiert, der das Denken der Selbstidentität unaufhörlich dazu aufruft, sich in seiner Beziehung auf sich selbst seiner selbst zu vergewissern und von dem als Horizont zugleich eine irritierende Anziehungskraft ausgeht, ein untergründiges Verlangen, sich dem Jenseits des Horizonts zu überlassen, versteht Bataille diese Heimsuchung durch die Vorstellung, tot zu sein, nicht als das „Andere“ des Denkens, sondern als dessen wirksamste Strategie, der momentanen Erfahrung zu entgehen: „Also sprechen, denken, es sei denn scherzend oder ..., heißt, die Existenz zum Verschwinden zu bringen: es heißt nicht, zu sterben, sondern tot zu sein.“76 Weil die vollständige Überlassenheit an die Unmittelbarkeit einer authentischen Erfahrung, die nicht mehr durch eine „Verschiebung der Existenz auf später“ strukturiert ist, einen ungeordneten Strom von vergehenden Momenten hervorbringt, stellt die Vorstellung, tot zu sein, das stärkste Gegenmittel zu der in dieser Überlassenheit erfahrenen Ohnmacht dar. In der Vorstellung, tot zu sein, sind alle vergehenden Momente vollständig getilgt. Aus diesem Grund deutet diese Vorstellung für Bataille nicht auf das „Andere“ des Denkens jenseits seiner Selbstidentität hin, sondern im Gegenteil die im Denken geleistete Reduktion der authentischen Erfahrung befindet sich vielmehr in ständiger Komplizenschaft mit der Vorstellung, tot zu sein. Im Denken wird die „Verschiebung der Existenz auf später“ bewerkstelligt, indem die unmittelbare Erfahrung durch die Hinzufügung jener Leere distanziert und geordnet wird, die in der Vorstellung, tot zu sein, vollständig herrscht.77 Was das Selbstsein derart abwehrt, dass der Wunsch, mit sich selbst identisch 73

74 75 76 77

Vgl. Jacques Derrida: Guter Wille zur Macht (II). Die Unterschriften interpretieren (Nietzsche/ Heidegger), übers. v. Friedrich A. Kittler, in: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte, München 1984, S. 62–77, der aus dieser Problematik heraus seine anti-hermeneutische Hermeneutik entwickelt hat. Vgl. dazu auch Ernst Behler: Derrida – Nietzsche, Nietzsche – Derrida, München/Paderborn/Wien/Zürich 1988, S. 147–168. Bataille: Die innere Erfahrung (Anm. 63), S. 260. Ebd. S. 100. Ebd. S. 68. Vgl. dazu die Überlegungen zum „Ursprung der Negativität“ bei Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität, übers. v. Andreas Hiepko, Frankfurt/ M. 2007, S. 21–38, der sich im Anschluss an Bataille ebenfalls um eine Loslösung von der in

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zu sein, in dem Wunsch kulminiert, tot zu sein, ist für Bataille nicht der Tod selbst, sondern sein Sterben, der Prozess seines Vergehens: Das Selbst stellt sich bereits als tot vor, um nicht sterben zu müssen. Souverän erscheint aus dieser Sicht nicht mehr derjenige, der sich mit der Macht des Todes identifiziert, indem er über die Todesdrohung verfügt, sondern der sich von der Todesobsession losgesagt hat und in der Lage ist, den stets stattfindenden Prozess seines Sterbens wahrzunehmen. In diesem Sinne zielt die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Bemühung, die „stets latente Gegenwart unseres eigenen Todes“ in eine manifeste zu überführen, letztlich darauf ab, die Autorität des Todes abzubauen und somit der Beherrschung des Lebens durch die Vorstellung, tot zu sein, entgegenzuwirken. – Vor dem Hintergrund dieser Problematik schreibt Bataille im Vorwort zu seinem Buch La part maudite (1949), in dem er den theoretischen Entwurf einer politischen Ökonomie skizziert, die nicht mehr von der Autorität des Todes dominiert wird, man dürfe sich die „politischen Probleme“ nicht allein von der „Angst“ vorgeben lassen: „Wer sich die politischen Probleme ausschließlich von der Angst stellen läßt, für den wird ihre Lösung schwierig. Die Angst muß sie zwar stellen. Aber ihre Lösung erfordert an einem bestimmten Punkt die Überwindung der Angst. Von dieser Einsicht leitet sich der Sinn der politischen Vorschläge her, auf die mein Buch hinausläuft.“78 Die politischen Lösungen, die Bataille in diesem Buch andeutet, haben den nicht geringen Anspruch, nach „zwei Kriegen, die Europa erschüttert haben“, einen weiteren, der sich in den Spannungen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten abzeichnet, zu verhindern. Weil mit einem „dritten Krieg“ auch die „unheilbare Rückversetzung des gesamten Erdballs auf den Zustand von Deutschland im Jahre 1945“ einhergehen wird, bleibt eine „friedliche Entwicklung“ die einzige Alternative: „Daher sind die Folgen der Politik außerhalb der Kriege von erstrangigem Interesse. Wir können nicht sicher sein, daß sie uns vor der Katastrophe bewahren, aber sie sind unsere einzige Chance.“79 Im Zentrum dieses Entwurfs steht die Interpretation eines „archaischen Tauschsystems“, anhand dem Bataille die theoretische Perspektive einer „allgemeinen Ökonomie“ entwickelt, die sich von der „beschränkten Ökonomie“,80 wie sie im Nutzenkalkül des homo oeconomicus vorliegt, dahingehend unterscheidet, dass sie das Bedürfnis, „etwas zu verlieren oder zu vergeuden“, einzubeziehen vermag: „Die klassische Ökonomie stellte sich die ersten Tauschformen als Tauschhandel vor. Wie hätten sie auf die Idee kommen können, daß eine Erwerbsweise wie der Tausch ursprünglich nicht dem Bedürfnis, etwas zu erwerben, sondern dem entgegengesetzten, etwas zu verlieren oder zu

78 79 80

der Autorität des Todes verdichteten „Negativität“ bemüht: „Vielleicht gibt es keine abgründigere Erfahrung, als in der Sprache zu sein, ohne von einer STIMME gerufen zu werden, schlicht und einfach zu sterben, ohne vom Tod gerufen zu werden; [...].“ (S. 159f.) Georges Bataille: Der verfemte Teil, übers. v. Traugott König, in: ders.: Die Aufhebung der Ökonomie, hg. v. Gerd Bergfleth, München 2001, S. 33–234 (hier: S. 40). Ebd. S. 227. Vgl. dazu Jacques Derrida: Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie. Ein rückhaltloser Hegelianismus, in: ders.: Schrift und Differenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt/M. 1989, S. 380–421 (hier: S. 419), der „Bataille gegen Bataille“ interpretiert, um die „Figur der Verschiebung“ deutlich zu machen, „der hier der gesamte Hegelsche Diskurs unterzogen wird, und durch die Bataille vielleicht noch weniger Hegelianer ist, als er denkt“.

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vergeuden, entsprochen hätte?“81 Das „archaische Tauschsystem“ des „Potlatsch“, dessen ethnologische Beschreibung Bataille dem berühmten Essai sur le don (1923/24) von Marcel Mauss entnimmt,82 besteht aus einem „feierlichen Geschenk beträchtlicher Reichtümer, das ein Häuptling seinem Rivalen macht, um ihn zu demütigen, herauszufordern und zu verpflichten“.83 Im Unterschied allerdings zu Mauss interessiert sich Bataille nicht in erster Linie für die vertragsförmige Verpflichtung, die aus der Annahme des Geschenks und einem späteren Gegengeschenk resultiert, sondern für die ruinösen Dimensionen, die er meint, im „Potlatsch“ entdecken zu können: „Ein Rivale kann auch durch die feierliche Vernichtung von Reichtümern herausgefordert werden.“84 Während Bataille sich sehr wohl bewusst ist, dass auch die „feierliche Vernichtung“ noch einem Interesse dient, nämlich die „rivalisierende Gruppe zu erschrecken und einzuschüchtern“, fasziniert ihn der Übergang zu einer nicht-souveränen Erfahrung, die in der „exemplarischen Kraft des Potlatsch“ zum Ausdruck kommt: „Die exemplarische Kraft des Potlatsch liegt in einer Möglichkeit für den Menschen, greifbar zu machen, was ihm entgeht, die grenzenlose Bewegung des Universums mit der eigenen Begrenztheit zu verbinden.“85 In der ruinösen Dimension des „Potlatsch“ besteht demnach die Möglichkeit, die Erfahrung des eigenen Sterbens „greifbar zu machen“, insofern dabei die „eigene Begrenztheit“ zugunsten einer „grenzenlosen Bewegung des Universums“ überschritten wird. Aus diesem Grund kann Bataille sagen, dass der „Potlatsch“ nicht allein aus dem „Streben nach Gewinn“ verstanden werden kann, sondern auf das Bedürfnis, diese Erfahrung zu machen, und auch auf die Fähigkeit, diese Erfahrung zuzulassen, zurückgeführt werden muss: „Das Ideal wäre deshalb, wie gesagt, ein Potlatsch, der nicht erwidert werden kann.“86 In dem Moment, in dem der „Potlatsch“ nicht erwidert werden kann, wird die Handlung nicht mehr vom Mangel bestimmt, der in der „klassischen Ökonomie“ das Nutzenkalkül in Gang setzt und die gesamte Sphäre der Produktion und Zirkulation der Güter beherrscht.87 Weil die „eigene Begrenztheit“ überschritten wird, ist für den Moment, in dem die Gabe nicht mehr in Erwartung einer Gegengabe gegeben 81 82

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Bataille: Der verfemte Teil (Anm. 78), S. 97. Vgl. Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, in: ders.: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, übers. v. Eva Moldenhauer, Henning Ritter u. Axel Schmalfuß, Frankfurt/M. 1989, S. 9–144 (hier: S. 59ff). Vgl. dazu Iris Därmann: Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie, München 2005, S. 73–174. Vgl. ebenfalls Erhard Schüttpelz: Pazifik – Zur Terminologie der ‚Gabe‘ von Marcel Mauss, in: Thomas Kater/Albert Kümmel (Hg.): Der verweigerte Friede. Der Verlust der Friedensbildlichkeit in der Moderne, Bremen 2003, S. 337–384. Bataille: Der verfemte Teil (Anm. 78), S. 98. Ebd. S. 98. Ebd. S. 101. Ebd. S. 102. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt/M. 1974, S. 307–322 (hier: S. 315), der im Hinblick auf die ökonomische Lehre von David Ricardo und dessen Theorie einer die Produktivität steigernden Verknappung der Güter schreibt: „Der homo oeconomicus ist nicht derjenige, der sich seine eigenen Bedürfnisse und die Gegenstände, die sie mildern können, repräsentiert. Er ist derjenige, der sein Leben verbringt, verbraucht und verliert, indem er versucht, der Drohung des Todes zu entgehen.“

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wird, daher auch nicht mehr der Mangel, sondern der Überfluss maßgeblich. In diesem Moment ist die allgemeine Ökonomie dem isolierten Standpunkt der begrenzten Ökonomie vollkommen entgegengesetzt. Und trotzdem findet die allgemeine Ökonomie nicht in einem jenseits der begrenzten Ökonomie liegenden Raum statt, in dem andere Gesetze herrschen würden, die nicht vom Nutzenkalkül diktiert werden. Vielmehr setzt die begrenzte Ökonomie gerade durch den Versuch, die Anstrengung, den Mangel zu beseitigen, fortwährend zu steigern und damit als solche auf Dauer zu stellen, sodass auch der Mangel stets wieder erzeugt werden muss, im gleichen Moment auch die todbringende Versuchung in Gang, zum Mangel als dem inneren Kern vorzudringen, um den sich die Anstrengung anordnet. Was der begrenzten Ökonomie als ihr innerer Antrieb notwendig verborgen bleiben muss, damit ihre Anstrengung nicht augenblicklich kollabiert, soll die allgemeine Ökonomie derart in die Aufmerksamkeit bringen, dass die damit verbundene Selbstgefährdung gebannt wird: „Die Lösung dieses Problems erfordert ein Handeln in zwei entgegengesetzten Richtungen: einerseits müssen wir die engen Grenzen, in denen wir uns gewöhnlich bewegen, überschreiten, andererseits muß eben diese Überschreitung wieder in unsere Grenzen hereingeholt werden.“88 Ausgehend von dieser Interpretation des „Potlatsch“ entwickelt Bataille die zunächst befremdlich erscheinende Auffassung, die „beiden Weltkriege“ müssten als ein „Potlatsch“ unter modernen Bedingungen begriffen werden. Während frühere Kulturen, wie Bataille in einem historischen Abriss unter der Kapitelüberschrift Die sich verzehrende Gesellschaft zu zeigen bemüht ist, sehr häufig über stark ritualisierte Akte „unproduktiver Verausgabungen“ verfügten, die kollektive orgiastische Erfahrungen ermöglicht haben, muss eine ausschließlich auf ökonomische Akkumulation abstellende Kultur zwangsläufig katastrophale Formen der Vernichtung herbeiführen: „Es wird manchmal geleugnet, daß der Überschuß der Industrieproduktion die Ursache der beiden Weltkriege, besonders des Ersten, gewesen sei. Dennoch wurde genau dieser Überschuß von den beiden Kriegen ausgeschwitzt; sein Ausmaß war es gerade, das ihnen ihre ungewöhnliche Intensität gab.“89 Dem historischen Versuch, jegliche Handlung unter dem Imperativ des Nutzenkalküls zu betrachten und eine unbegrenzte ökonomische Akkumulation anzustreben, stehen deshalb „zwei Weltkriege“ als die „größten Verschwendungsorgien an Reichtümern – und an Menschenleben“ gegenüber, „die die Geschichte je gekannt hat“.90 In seiner umfangreichen Besprechung des Buches Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1938) von Johan Huizinga spitzt Bataille diese der doppelten Logik des „Potlatsch“ verpflichteten Perspektive noch einmal zu: „Indem das Bürgertum den Reichtum dem Spiel entzog, um ihn ganz und gar der Arbeit zu widmen (der Akkumulation der Arbeits- und Produktionsmittel), mußte es moralisch alles ruinieren, was als Spiel, als Adel und als Souveränität auftrat. Doch es gelangte schließlich nur dahin, den Umfang der Ressourcen, die für das Spiel zur Verfügung stünden, maßlos zu vergrößern ...“91 Was die moderne Kultur 88 89 90 91

Bataille: Der verfemte Teil (Anm. 78), S. 100. Ebd. S. 49. Ebd. S. 64. Georges Bataille: Spiel und Ernst, übers. v. Gerd Bergfleth, in: ders.: Die Aufhebung der Ökonomie, hg. v. Gerd Bergfleth, München 2001, S. 303–338 (hier: S. 333). Zur Rezeption der Theorie

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aus der Sicht von Bataille daher lernen muss, um einen „dritten Krieg“ verhindern zu können, sind derartige Akte „unproduktiver Verausgabungen“, die es erlauben, die ruinöse Dimension des „Potlasch“ sowohl zur Geltung kommen zu lassen als auch einzudämmen, indem sie das „greifbar“ zu machen versuchen, was sich dem Standpunkt der begrenzten Ökonomie entzieht. – Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist, dass Bataille zu den „Folgen der Politik außerhalb der Kriege“, die „von erstrangigem Interesse“ sind, die „Bedeutung des Marshallplans“ zählt: „Er steht im Gegensatz zu den isolierten Operationen klassischen Typs, und zwar nicht nur durch die Bündelung eines kollektiven Angebots und einer kollektiven Nachfrage, sondern er ist eine allgemeine Operation, insofern er in einem Punkt auf das Wachstum der Produktivkräfte verzichtet. Er versucht die Lösung eines allgemeinen Problems, insofern seine Investition ein Verlustunternehmen ist.“92 Selbstverständlich zielt auch der „Marshallplan“ auf eine „Nutzung für das Wachstum“ ab, aber für Bataille liegt die beispiellose Neuartigkeit dieser „Investition von globalem Interesse“ darin, dass der in dieser „allgemeinen Operation“ angestrebte Gewinn nicht mehr auf unmittelbare Interessen zurechenbar ist und in diesem Sinne die „Lieferung dem Profit des Lieferanten“ untergeordnet wird: „Wenn aber die Amerikaner das Besondere am Marshallplan aufgeben, nämlich die Verwendung eines beträchtlichen Teils des Überschusses für nichtmilitärische Zwecke, wird dieser Überschuß dort in die Luft gehen, wo sie ihn verpulvern wollen.“93 Sicherlich lässt sich sagen, dass für Batailles therapeutischen Ansatz der Verschwendung die zeitgenössische Aufmerksamkeit ökonomischer Theorien für die produktive Dimension des Konsums eine zentrale Rolle spielt,94 aber die Eigenständigkeit seines Beitrags zu diesem Diskurs kann man in der radikalen Umkehrung des Knappheitstheorems sehen, das den Naturzustand Hobbesscher Prägung vollständig beherrscht. Denn im Gegensatz zu Hobbes ist der Naturzustand für Bataille gerade nicht durch einen umfassenden Mangel gekennzeichnet, der alle in die gleiche Not des Überlebens zwingt, sondern durch einen „Potlatsch“, den die Natur selbst vollzieht: „Ich spreche kurz von den allgemeinen Bedingungen des Lebens und betone nur ein Faktum von entscheidender Bedeutung: die Sonnenergie ist der Ursprung seiner üppigen Entwicklung. Quelle und Wesen unseres Reichtums sind in der Sonnenstrahlung gegeben, die die Energie – den Reichtum – ohne Gegenleistung spendet.“95 Während im Hobbesschen Naturzustand

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95

des homo ludens vgl. Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, übers. v. Sigrid v. Massenbach, Stuttgart 1960, S. 9–17. Vgl. dazu auch Leander Scholz: Die Spiele der Massen: Johan Huizinga und das Collège de Sociologie, in: Rolf F. Nohr/Serjoscha Wiemer (Hg.): Strategie Spielen. Medialität, Geschichte und Politik des Strategiespiels, Münster 2008, S. 249–260. Bataille: Der verfemte Teil (Anm. 78), S. 223. Ebd. S. 229. Im Anschluss an die Theorie des Konsums, die John Maynard Keynes in seinem Buch The General Theory of Employment, Interest and Money (1936) im Rahmen eines makroökonomischen Ansatzes entwickelt hat, gilt Batailles Kritik der „klassischen Ökonomie“ daher in erster Linie dem von Max Weber beschriebenen Zusammenhang von protestantischer Askese und kapitalistischer Akkumulation. Vgl. dazu Gregor Häfliger: Autonomie oder Souveränität. Zur Gegenwartskritik von Georges Bataille, Mittenwald 1981, S. 21–41. Bataille: Der verfemte Teil (Anm. 78), S. 53.

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alle den gleichen Mangel teilen und dieser Mangel in der unumschränkten Herrschaft des Todes symbolisiert wird, ist der Ort der Gemeinschaft für Bataille durch eine „unproduktive Verausgabung“ beschrieben, die in keiner möglichen „Gegenleistung“ jemals wieder angeeignet werden kann. Nicht der Tod bindet die Menschen aneinander, sondern ihr unaufhaltsam stattfindendes Sterben. Im Unterschied zum Tod lässt sich das Sterben jedoch nicht als Herrensignifikant etablieren, sondern entzieht sich der symbolischen Ordnung als deren unaufhörliche Erosion. In dem kurzen Aufsatz L’économie à la mesure de l’univers (1946) hat Bataille den Zusammenhang von begrenzter und allgemeiner Ökonomie in zwei Sätzen bündig zusammengefasst: „Wir können die Sonnenstrahlen aufhalten, aber nur eine Zeitlang. Die Sonnenenergie, die wir sind, ist eine Energie, die sich verliert.“96

5.

Das ursprüngliche Verbot

Aus dieser Perspektive erscheint die Natur wie ein gigantischer und permanenter Akt luxuriöser Verschwendung, der keinen Aufschub duldet und keine Wiederaneignung kennt. Die „allgemeinen Bedingungen des Lebens“, die den Rahmen für die menschlichen Anstrengungen der Selbsterhaltung und Selbststeigerung abgeben, enthalten keinen Hinweis auf die Erfahrung einer derartigen Not, die eine „Verschiebung der Existenz auf später“ erzwingen könnte. Aber sobald der Mensch in dieses Szenarium rückhaltloser Verausgabung eintritt, beginnt unmittelbar darauf die Herrschaft eines unerklärlichen Mangels und die vergebliche Anstrengung, diesen Mangel zu beseitigen. Martin Heidegger hat in seiner berühmten Antrittsvorlesung mit dem Titel Was ist Metaphysik? (1929) den Menschen als einen „Platzhalter des Nichts“ bezeichnet: „Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst macht den Menschen zum Platzhalter des Nichts.“97 Demnach befindet sich das „Nichts“ bereits überall am Werk, weil das „Sein selbst im Wesen endlich“ ist, aber allererst im „Dasein“ erhält es seinen angemessenen „Platzhalter“. Nirgendwo zeigt sich das „Nichts“ als solches, und trotzdem soll das „Seiende im Ganzen“ erst dort „zu sich selbst“ kommen, wo das ansonsten abwesende „Nichts“ seinen ureigenen „Platzhalter“ gefunden hat: „Im Nichts des Daseins kommt erst das Seiende im Ganzen seiner eigensten Möglichkeit nach, d. h. in endlicher Weise, zu sich selbst.“98 Das „Seiende im Ganzen“ ist im Menschen als dem „Platzhalter des Nichts“ mit seiner „eigensten Möglichkeit“ konfrontiert, nämlich nicht zu sein. Erst mit dem Menschen wird eine „Transzendenz“ in das stets vergehende Sein eingeführt, die allerdings auf 96

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98

Georges Bataille: Die Ökonomie im Rahmen des Universums, übers. v. Gerd Bergfleth, in: ders.: Die Aufhebung der Ökonomie, hg. v. Gerd Bergfleth, München 2001, S. 289–298 (hier: S. 290). Vgl. dazu Leander Scholz: Der Potlatsch der Natur. Elemente einer politischen Ökologie bei Georges Bataille, in: Paideuma. Mitteilungen zur Kulturkunde, Band 53 (2007), S. 53–78. Martin Heidegger: Was ist Metaphysik?, in: ders: Wegmarken, Frankfurt/M. 1978, S. 103–121 (hier: S. 117). Vgl. dazu Jacob Taubes: Vom Adverb „nichts“ zum Substantiv „das Nichts“. Überlegungen zu Heideggers Frage nach dem Nichts, in: ders.: Vom Kult zur Kultur: Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft, München 1996, S. 160–304. Heidegger: Was ist Metaphysik? (Anm. 97), S. 119.

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kein Jenseits mehr führt, sondern dieses Sein „zu sich selbst“ kommen lässt und damit in die Gegenwart des „Daseins“ zwingt, indem es auf sein Nicht-Sein bezogen wird. Das „Seiende im Ganzen“ wird gezwungen, sich aufzuhalten und aufzubewahren, indem ihm mit seinem Nicht-Sein gedroht wird. Im kritischen Anschluss an Heidegger hat Günther Anders in einer möglichen „Massen-Annihilation“, die mit der Entwicklung von atomaren Bomben machbar geworden ist, das absolute Moment dieser Logik gesehen: „Denn zu Nihilisten werden nicht nur sie, die mit der Bombe drohen, sondern auch diejenigen, die durch sie bedroht werden. Und das heißt: Wir alle.“99 In der Möglichkeit, dass das gesamte Leben auf der Erde ausgelöscht werden kann, kommt die Logik des „Nichts“ somit „zu sich selbst“. – Während für Heidegger dieses substantivierte „Nichts“ die „Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als solchen für das menschliche Dasein“ darstellt,100 sodass es keinen Ausweg aus dieser Logik geben kann, versucht Bataille in seiner anthropologisch ausgerichteten Kulturtheorie diese existentialistische Logik in eine kulturelle Logik zu überführen, indem er nach den möglichen Varianten fragt, sich mit diesem „Nichts“ in Beziehung setzen zu können. Auch für Bataille ist das Szenarium der Menschwerdung zunächst unmittelbar mit der Frage nach dem geschichtlichen „Ursprung der Verneinung“ verknüpft, wenn er in seinem Buch L’Érotisme (1957) den Übergang vom Tier zum Menschen an die Bewusstwerdung des Todes bindet. Denn erst für den homo sapiens stellt der Leichnam eines Mitmenschen ein stark ambivalentes Faszinosum dar, das in der unabwendbaren Frage nach dem eigenen Tod besteht: „Für jeden, den er fasziniert, ist der Leichnam das Bild seines Schicksals. Er bezeugt eine Gewaltsamkeit, die nicht nur einen Menschen zerstört, sondern die alle Menschen zerstören wird.“101 Aus diesem Grund fügt sich der Leichnam nicht in die natürliche Ordnung der handhabbaren Dinge ein, sondern repräsentiert das „Zeichen des Nichts“ als solches: „Ein Leichnam ist nicht nichts, aber dieser Gegenstand, dieser Leichnam trägt von Anfang an das Zeichen des Nichts.“102 Während der homo faber durch die Anwendung von Werkzeugen auf die unmittelbar verfügbaren Dinge definiert ist, wird mit dem entstehenden Todesbewusstsein ein „neues Element“ in die natürliche Ordnung der Dinge eingeführt, das sich der unmittelbaren Verfügung entzieht. In seiner Studie La peinture préhistorique. Lascaux ou la naissance de l’art (1955) leitet Bataille den Unterschied zwischen dem homo sapiens und dem homo faber daher aus der „negativen Art“ dieses „neuen Elements“ ab: „Soweit ein Urteil nach so langer Zeit möglich ist, können wir annehmen, daß die Unterscheidung zwischen Leben und Tod das Bewußtsein dieser Wesen insofern erweitert hat, als es dem Erlebnis einer bekannten und fest umrissenen Umwelt ein neues Element hinzugefügt hat, welches aber von negativer Art war: etwas wie ein Riß, dessen Erkenntnis unaufhörlich uns andere Möglichkeiten erschließt, als es

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100 101 102

Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 2002, S. 294–306 (hier: S. 303). Vgl. dazu auch Konrad Paul Liessmann: Günther Anders: Philosophieren im Zeitalter der technologischen Revolution, München 2002, S. 118–132. Heidegger: Was ist Metaphysik? (Anm. 97), S. 114. Georges Bataille: Der heilige Eros, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1984, übers. v. Max Hölzer, S. 40. Ebd. S. 53.

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die nützliche Tätigkeit könnte.“103 Auch für Bataille geht deshalb mit der Einführung eines vom Leichnam verkörperten „Zeichen des Nichts“ in die natürliche Ordnung der Dinge zunächst eine gesteigerte Erschließung dieser Ordnung einher, bei der das bloße Gegebensein einer „fest umrissenen Umwelt“ permanent transzendiert wird. Ein vergleichbares Ursprungsszenarium findet sich bereits bei Freud, der in seiner Abhandlung Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915) allerdings nicht den Anblick des Leichnams als solchen ins Zentrum gestellt hat, sondern den damit verbundenen „Gefühlskonflikt“, den dieser Anblick in bestimmten Fällen auslöst: „An der Leiche des erschlagenen Feindes wird der Urmensch triumphiert haben, ohne einen Anlaß zu finden, sich den Kopf über die Rätsel des Lebens und Todes zu zerbrechen. Nicht das intellektuelle Rätsel und nicht jeder Todesfall, sondern der Gefühlskonflikt beim Tode geliebter und dabei doch auch fremder und gehaßter Personen hat die Forschung der Menschen entbunden. Aus diesem Gefühlskonflikt wurde zunächst die Psychologie geboren. Der Mensch konnte den Tod nicht mehr von sich fernehalten, da er ihn in dem Schmerz um den Verstorbenen verkostet hatte, aber er wollte ihn doch nicht zugestehen, da er sich selbst nicht tot vorstellen konnte.“104 Nicht die Bewusstwerdung des Todes überhaupt stellt für Freud die entscheidende Quelle des Ursprungs einer Transzendenz gegenüber der natürlichen Ordnung der Dinge dar, sondern die „hinter der Trauer versteckte Haßbefriedigung am geliebten Toten“ und das damit verbundene Schuldgefühl, selbst am Tod der „geliebten Person“ einen aktiven Anteil zu haben.105 Die Erfahrung des Verlusts, die in diesem Ursprungsszenarium den Auftakt des „erwachenden Gewissens“ abgibt, ist daher nicht bloß die Erfahrung eines Mangels im Sinne der eigenen Endlichkeit, dessen Ursprung in der Natur der Dinge liegt, sondern stellt zugleich die Konfrontation mit der Einsicht dar, dass der Mangel als Mangel allererst mit dem Menschen in die natürliche Ordnung der Dinge eingeführt wird. Von Anfang an ist die Erscheinung des Mangels an die Erscheinung des Menschen gebunden. Weil der Mensch den Tod nicht mehr von sich „fernhalten“ und ihn doch nicht „zugestehen“ konnte, lagern sich für Freud eine Reihe von „Kompromissen“ um die „Leiche der geliebten Person“ an, die den historisch und kulturell unterschiedlichen Umgang mit dieser Einsicht strukturieren: „An der Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur die Seelenlehre, der Unsterblichkeitsglaube und eine mächtige Wurzel des menschlichen Schuldbewußtseins, sondern auch die ersten ethischen Gebote. Das erste und bedeutsamste Verbot des erwachenden Gewissens lautete: Du sollst nicht töten.“106 – In diesem Sinne leitet auch Bataille das Tötungsverbot aus dem Zurückweichen vor dem Leichnam ab, wenn er mit der Bewusstwerdung des 103 104 105

106

Georges Bataille: Die vorgeschichtliche Malerei. Lascaux oder Die Geburt der Kunst, übers. v. Karl Georg Hemmerich, Stuttgart 1986, S. 29. Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Studienausgabe, Bd. IX, S. 35–60 (hier: S. 53f). Vgl. dazu Thomas H. Macho: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt/M. 1987, S. 408–445 (hier: S. 410f), der die „tiefe Angst“, die von der „Anwesenheit der Toten“ ausgeht, und die entsprechenden kulturellen Praktiken ihrer Eindämmung anhand eines „Leichenparadoxon“ beschreibt, das in der gleichzeitigen Anwesenheit und Abwesenheit des Toten in der Leiche besteht: „Die Leiche ist eine verschlossene, eine negative Synthesis zwischen Identität und Differenz, Nähe und Entfernung, Einheit und Trennung, etwas und nichts.“ Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod (Anm. 104), S. 55.

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Todes zugleich die Begegnung mit einer „Gewalttätigkeit“ gegeben sieht, die nach einer Deutung verlangt: „In der Vorzeit ist in den Augen der Menschen immer die Gewalttätigkeit die Ursache des Todes: Sie konnte auf magische Weise wirken, aber es gibt immer einen Verantwortlichen; es liegt stets Mord vor.“107 Erst der homo sapiens braucht eine Deutung des Todes, die einen Verantwortlichen auch für derartige Fälle benennt, in denen es keinen unmittelbar Verantwortlichen zu geben scheint. Um die „Gewalttätigkeit“ des Todes von sich selbst abzuhalten, wird diese einer verantwortlichen Macht zugerechnet, die jenseits der natürlichen Ordnung der Dinge angesiedelt ist. Auf diese Weise wird der Umstand, dass die Erscheinung des Mangels an die Erscheinung des Menschen gebunden ist, zugleich gewusst und nicht gewusst. Wie Freud führt auch Bataille den Ursprung des Verbots auf den Anblick des Leichnams zurück, dessen beunruhigende Gegenwart im Verbot eingehegt werden soll: „Das Verbot, das sich der anderen beim Anblick eines Leichnams bemächtigt, äußert sich im Zurückweichen, durch das sie die Gewalttätigkeit verwerfen, durch das sie sich von der Gewalttätigkeit trennen.“108 Der kulturtheoretischen Annahme, dass das Tötungsverbot die Gewalttätigkeit des Todes eindämmen soll, steht allerdings die Beobachtung entgegen, dass das Verbot von Anfang an seine Überschreitung in Gang setzt, die in unterschiedlichen Kulturen auch unterschiedliche Ausprägungen haben kann, aber für Bataille im „modernen Krieg“ ihren Höhepunkt findet: „Die Tiere, die keine Verbote kennen, sind über ihre Kämpfe hinaus nicht zu organisierten Unternehmungen gekommen, wie es der Krieg ist.“109 Die eigentliche Leistung des Verbots besteht deshalb für Bataille darin, die Gewalttätigkeit, die mit dem im Leichnam verkörperten „Zeichen des Nichts“ verbunden ist, zu organisieren.110 Die Gewalttätigkeit, die im Zurückweichen vor dem Leichnam zunächst abgewehrt werden soll, wird in der gezielten Überschreitung des Verbots als eine „organisierte Gewalttätigkeit“ wieder einbezogen. Weil das „neue Element“, das mit der Bewusstwerdung des Todes auftaucht, jedoch von „negativer Art“ ist, kann dieses Element nicht als solches in die natürliche Ordnung der Dinge integriert werden, sondern nur als Grenzziehung in Besitz genommen werden, um die sich von nun an das „soziale Leben“ des homo sapiens anordnet: „Die organisierte Übertretung bildet mit dem Verbot ein Ganzes, und dieses Ganze definiert das soziale Leben.“111 – Aus dieser Sicht erscheint die Ökonomie, deren Anstrengungen der Behebung des Mangels gelten, tatsächlich als eine Organisation dieses Mangels, und die Politik, deren Versprechen in einer Vermeidung des Todes besteht, in Wirklichkeit als eine Organisation dieses Todes: „Wir können sogar bis zu der absurden Formulierung gehen: ‚Das Verbot ist da, um verletzt zu werden.‘“112 Die erschreckende Gewalttätigkeit, die im verwesenden Leichnam am Werk ist und den Ursprung des „sozialen Lebens“ markiert, wird auch dann noch als „organisierte Gewalttätigkeit“ ausagiert, wenn es keinen Kontakt mehr zum Ursprung 107 108 109 110 111 112

Bataille: Der heilige Eros (Anm. 101), S. 43. Ebd. S. 40. Ebd. S. 60. Vgl. dazu auch Hajo Schmidt: Sozialphilosophie des Krieges. Staats- und subjekttheoretische Untersuchungen zu Henri Lefebvre und Georges Bataille, Essen 1990, S. 58–72. Bataille: Der heilige Eros (Anm. 101), S. 60f. Ebd. S. 60.

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dieser Gewalttätigkeit gibt. Was am Anfang als beunruhigender Riss in der „bekannten und fest umrissenen Umwelt“ auftaucht, lässt sich niemals als solches einholen, sondern wird als Transzendenz des Menschen sich selbst gegenüber in der unüberbrückbaren Kluft zwischen Verbot und Überschreitung reproduziert. Aus diesem Grund ist die Erscheinung des Menschen auf doppelte Weise mit dem Nein verknüpft, das er der stets vergehenden Natur entgegensetzt: „Der Mensch wurde erst in dem Augenblick möglich, in dem ein Wesen, von unüberwindlichem Schwindel erfaßt, mit aller Kraft versuchte, nein zu sagen.“113 Denn je strikter das Nein ist, mit dem man sich vor seinem „Sein ohne Aufschub“ zu bewahren versucht, desto katastrophaler wirkt sich die Faszination aus, die von dem „unüberwindlichen Schwindel“ ausgeht, dem das Nein eigentlich entgegenstehen soll. Um der zwanghaften Logik dieser Abwehr entkommen zu können, muss man deshalb lernen, das Nein auch wieder außer Kraft setzen zu können: „Der Mensch kann sich nur unter der Bedingung finden, daß er sich selbst ohne Unterlaß dem Geiz entzieht, der ihn erdrückt.“114

113 114

Ebd. S. 58. Bataille: Die innere Erfahrung (Anm. 63), S. 186.

X Die Umwelt des Systems (Luhmann)

In seinem Buch mit dem provozierenden Titel Nous n’avons jamais été modernes. Essai d’anthropologie symétrique (1991) hat Bruno Latour die Moderne als einen Prozess der Reinigung beschrieben, dessen Ziel darin besteht, zwei „vollkommen getrennte ontologische Zonen“ hervorzubringen: „die der Menschen einerseits, die der nicht-menschlichen Wesen andererseits“.1 Während in allen früheren Kulturen zum Bestand der Wesen auch Mischwesen gehörten, zeichnet sich die Moderne durch eine humanistische Reduktion aus, die den Status von denkenden und handelnden Subjekten allein Menschen vorbehält und für die „Dinge der Natur“ ausschließlich den Status von Objekten reserviert. Was in der Regel unter dem Stichwort einer Naturbeherrschung als Emanzipation des Menschen von der Natur beschrieben wird, deren dialektische Folgeprobleme registriert und einer Selbstkritik der Moderne zugeführt werden müssen,2 taucht bei Latour unter der Hinsicht von „Reinigungspraktiken“ auf, zu denen auch die „kritischen Fähigkeiten der Modernen“ gezählt werden, die ebenso einer „brutalen Trennung“ zuarbeiten, und zwar „zwischen dem, was keine Geschichte hat, jedoch in der Geschichte auftaucht – die Dinge der Natur – und dem, was nie aus der Geschichte heraustritt – die Leidenschaften und Mühen der Menschen“.3 Auch die kritische Haltung gegenüber der imaginären Zentrierung, die mit dem modernen Projekt der Emanzipation einhergeht, verbleibt demnach noch im Rahmen einer anthropologischen Asymmetrie, der Latour eine nicht-moderne Perspektive auf die Moderne entgegensetzen will. Um den Rahmen der „brutalen Trennung“ von Natur und Kultur verlassen zu können, kann es für Latour daher nicht ausreichen, weitere Korrekturen an den Zielen und den Mitteln der Emanzipation vorzu1 2

3

Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt/M. 2008, S. 19. Vgl. dazu Friedrich Rapp (Hg.): Naturverständnis und Naturbeherrschung. Philosophiegeschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Kontext, München 1981. Vgl. auch Hans Blumenberg: Geistesgeschichte der Technik, hg. v. Alexander Schmitz u. Bernd Stiegler, Frankfurt/M. 2009, S. 9–47. Latour: Wir sind nie modern gewesen (Anm. 1), S. 96.

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nehmen, sondern man muss die Art und Weise ändern, „wie wir verändern“.4 Weil der Reinigungsprozess selbst noch das steuert, was Latour die „moderne Zeitlichkeit“ nennt, droht sich jede kritische Intervention an die Zukunftsversprechen dieses Reinigungsprozesses zu verlieren: „Aus der Asymmetrie zwischen Natur und Kultur wird damit eine Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Vergangenheit war ein Durcheinander von Dingen und Menschen; Zukunft ist, was sie nicht mehr durcheinanderbringen wird.“5 Jede Selbstkritik verspricht demnach einen weiteren Reinigungsprozess, der die ursprüngliche Zäsur der Moderne wiederholt und die imaginäre Zentrierung erneut in Szene setzt. Die Eigenethnologie der Moderne, die Latour an die Stelle der Selbstkritik setzt, darf deshalb nicht nur in einer nicht-modernen Sichtweise bestehen, die mit der eingeübten Selbstbeschreibung der Moderne bricht und deren Angemessenheit bestreitet, sondern muss darüber hinaus auch den emanzipativen Projektcharakter dieser Selbstbeschreibung zurücklassen.6 Die Art und Weise zu ändern, „wie wir verändern“, bedeutet daher für Latour in erster Linie anzuerkennen, dass die „getrennten ontologische Zonen“ zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen niemals getrennt waren und darum auf einer gemeinsamen Ebene der Betrachtung angesiedelt werden müssen: „Auch wenn wir die Gesellschaft durch und durch konstruieren, dauert sie, übersteigt sie uns, beherrscht sie uns, hat sie ihre Gesetze, ist sie ebenso transzendent wie die Natur.“7 Obwohl Latour im Rahmen seiner historischen Rekonstruktion der modernen Reinigungspraktiken nicht auf die psychoanalytische Konnotation dieser Perspektive eingeht, so scheint sein zentrales Argument, nämlich dass diese Praktiken entgegen den eigenen Absichten tatsächlich zu einer unkontrollierten Vermehrung der Mischwesen beitragen, dennoch einer durch die Psychoanalyse eingeübten Denkfigur verpflichtet zu sein. Denn dass jede gesteigerte Reinigungsmaßnahme gerade die Unreinheit, die beseitigt werden soll, auf eine gesteigerte Weise wieder hervorbringt, lässt sich nur dann sinnvoll behaupten, wenn man die eigentliche Problematik dieses Vorgangs in einer zwanghaft gewordenen Abwehr gegeben sieht. Nur unter dieser Voraussetzung, dass es um eine verweigerte Anerkennung der eigenen Unreinheit geht, lassen sich die „kritischen Fähigkeiten der Modernen“ als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung verstehen. Wie bei einer psychoanalytischen Behandlung geht es Latour nicht nur darum, dieses oder jenes Leiden zu diagnostizieren, sondern zuallererst die intellektuelle Deutungshoheit über das eigene Schicksal als Teil der Problematik zu begreifen, wenn er fordert, dass den zahlreichen natürlichen und technischen Dingen, die unsere Welt bevölkern, eine eigenständige Deutungsmacht eingeräumt werden soll: „[...] denn auch den Dingen muß die Würde zugestanden werden, Erzählung zu sein.“8 Weil mit der Trennung 4 5 6

7 8

Ebd. S. 192. Ebd. S. 96. Zu der weitreichenden Problematik, dass es sich bei Latours symmetrischer Anthropologie keineswegs bloß um eine Erweiterung des Sozialen im Hinblick auf nicht-menschliche Wesen handelt, sondern um eine grundsätzliche Verschiebung, vgl. Gesa Lindemann: ‚Allons enfants et faits de la patrie ...‘ – Über Latours Sozial- und Gesellschaftstheorie sowie seinen Beitrag zur Rettung der Welt, in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt/M. 2008, S. 339–360. Latour: Wir sind nie modern gewesen (Anm. 1), S. 52. Ebd. S. 121.

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zwischen Natur und Kultur auch die Trennung zwischen dem Materiellen und dem Sinnhaften einhergeht, soll die nicht-moderne Sicht auf die Moderne nicht bloß eine weitere Sicht darstellen, sondern auch solchen nicht-menschlichen Wesen eine Stimme verleihen, die zwar als Träger von Sinn angesehen werden, nicht aber als selbständige Sprecher in der diskursiven Aushandlung der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung vorkommen.9 Auch der Ausgangspunkt dieser sicherlich viele Fragen aufwerfenden symmetrischen Anthropologie scheint auf einen therapeutischen Ansatz zu verweisen, wenn Latour einen Erschöpfungszustand hinsichtlich der Fähigkeit diagnostiziert, „zwischen den Gesetzen der äußeren Natur und den Übereinkünften der Gesellschaft endlich klar zu unterscheiden“.10 Weil die Trennung zwischen Natur und Kultur, die in einer historischen Reihung politischer und technischer Revolutionen wiederholt durchgeführt worden ist, stets auch wieder neue Mischwesen hervorgebracht hat, droht die mit diesem Reinigungsprozess verbundene Anstrengung, wie im Falle einer zwanghaften Wiederholung, in absehbarer Zukunft zusammenzubrechen: „Wir haben keine Revolutionen mehr in Reserve, um die Flucht nach vorne anzutreten.“11 – Aus dieser Perspektive betrachtet, ist es sicher kein Zufall, dass Latour sein politisches Projekt eines „Parlaments der Dinge“ in den geschichtsphilosophischen Horizont des „wundersamen Jahres 1989“ gestellt hat, mit dem er nicht nur den „Zusammenbruch des Sozialismus“ gegeben sieht, sondern im Gegenzug auch das „Ende des Kapitalismus“ zumindest assoziiert: „Im selben glorreichen Jahr 1989 fanden in Paris, London und Amsterdam die ersten Konferenzen über den globalen Zustand des Planeten statt, und dies symbolisiert für manche Beobachter das Ende des Kapitalismus und seiner eitlen Hoffnungen der unbegrenzten Eroberung und totalen Beherrschung der Natur.“12 Weil sowohl der Sozialismus als auch der Kapitalismus von der humanistischen Reduktion getragen werden, sind beide Gesellschaftsformen von der Problematik überfordert, die sich hinter der ökologischen Krise verbirgt und nicht mehr im Paradigma der modernen Reinigungspraktiken gelöst werden kann. In genau dem historischen Moment, in dem mit den Ereignissen des „wundersamen Jahres 1989“ nicht nur eine politisch-ökonomische Globalisierung in Gang gesetzt worden ist, sondern sich auch die Interpretation dieses Prozesses im Sinne einer „Weltgesellschaft“ etabliert hat,13 scheint der emanzipative Anspruch, die Gestaltbarkeit dieser gemeinsamen Welt allein den „Übereinkünften der Gesellschaft“ anzuvertrauen, zunehmend in

9

10 11 12 13

Zur bei Latour nur wenig reflektierten Problematik der politisch-sozialen Grenzziehung vgl. Reiner Keller/Christoph Lau: Bruno Latour und die Grenzen der Gesellschaft, in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt/M. 2008, S. 307–337. Latour: Wir sind nie modern gewesen (Anm. 1), S. 173. Ebd. S. 174. Ebd. S. 16. Zum systemtheoretischen Begriff der Weltgesellschaft vgl. Rudolf Stichweh: Inklusion/Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft, in: Soziale Systeme 3 (1997), S. 123–136. Zur Karriere dieses Begriffs vgl. auch Ulrich Menzel: Globalisierung versus Fragmentierung, Frankfurt/M. 1998, S. 242–262.

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Frage gestellt zu werden.14 Die Entzifferung der ökologischen Krise als das entscheidende politische Paradigma der Gegenwart verweist für Latour daher nicht in erster Linie auf die Folgeprobleme der Naturbeherrschung, sondern vielmehr auf die Überforderung eines modern gefassten Sozialen, das seine politische Ordnung ausschließlich aus sich selbst heraus zu generieren hat und in dem Moment in eine unumkehrbare Krise zu geraten scheint, in dem dessen Anspruch als ein globaler aufzutreten hat. In seinem Buch Politiques de la nature (1999) hat Latour im Sinne dieser Überforderung des Sozialen die These aufgestellt, dass die „politische Ökologie“ nicht als Reaktion auf eine „Krise der Natur“ verstanden werden darf, die sich in der „Umwelt“ der Gesellschaft ereignet, sondern die Reaktion auf eine „Krise der Objektivität“ darstellt, bei der die Trennung der „Angelegenheiten der Natur“ und der „Angelegenheiten der Menschen“ auf dem Spiel steht: „Die politische Ökologie versucht nicht, die Natur zu schützen, und hat es nie versucht. Sie will im Gegenteil auf noch vollständigere, noch vermischtere Weise sich einer noch größeren Vielfalt von Schicksalen und Entitäten annehmen. Während der Modernismus die Welt beherrschen wollte, mischt die Ökologie sich in alles ein.“15 Dass sich die Ökologie in „alles“ einmischt, meint für Latour nicht, dass mit der Aufmerksamkeit auf ein „ökologisches System“ nun auch mit der Rückkehr einer nicht-modernen „Totalität“ zu rechnen ist, in deren Rahmen sich das Soziale im Sinne vormoderner kosmologischer Modelle einzugliedern hat. Als „Krise der Objektivität“ betrifft die Überforderung des Sozialen nicht nur die von der Natur geschiedene Kultur, sondern auch die Vorstellung einer „ahistorischen Natur“, die in Abgrenzung zu den Sozialwissenschaften ausschließlich von den Naturwissenschaften hinsichtlich ihrer „Objektivität“ verwaltet wird.16 Unter der Bedingung der ökologischen Krise als entscheidendes politisches Paradigma der Gegenwart lässt sich nicht mehr sagen, was zu den Angelegenheiten der Natur und zu den Angelegenheiten der Menschen gehört. Auch die vorherrschende Vorstellung einer „ahistorischen Natur“ wird daher nun in den Strudel einer zunehmenden Vermischung der beiden getrennten Bereiche von Natur und Kultur gezogen: „Es gibt ebensowenig Kulturen – unterschiedliche oder universelle –, wie es eine universelle Natur gibt. Es gibt nur Naturen/Kulturen: sie bilden die einzige Grundlage für einen möglichen Vergleich.“17 Weil jede Kultur ihre eigene Natur hervorbringt und sich umgekehrt jede Kultur einer Natur zu verdanken hat, führt die Anerkennung einer Vermischung beider in der „politischen Ökologie“ nicht zu einer neuen Totalität der „Natur/Kultur“, sondern zu einer „riskanten Verwicklung“ anstelle der Aufteilung in eine Welt der aktiven Subjekte und der passiven Objekte: „Gerade das Unwissen über die Totalität rettet sie [die politische Ökologie], denn sie kann 14

15 16

17

Zu dieser Problematik vgl. Leander Scholz: Die Gerechtigkeit der Ökologie: Bruno Latour und das politische Projekt eines Parlaments der Dinge, in: Friedrich Balke/Maria Muhle (Hg.): Die Wiederkehr der Dinge, Berlin 2011, S. 115–128. Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt/M. 2001, S. 36. Zur problematischen Überschreitung der Grenze von Sozial- und Naturwissenschaften in der Wissenschaftsgeschichte vgl. Bruno Latour: Die Geschichtlichkeit der Dinge. Wo waren die Mikroben vor Pasteur?, in: ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt/M. 2002, S. 175–210. Latour: Wir sind nie modern gewesen (Anm. 1), S. 138.

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niemals die kleinen Menschenwesen und die großen Ozonschichten oder die kleinen Elefanten und die durchschnittlichen Straußenvögel ein und derselben Stufe zuordnen. Das Kleinste kann zum Größten werden.“18 Will man den Zusammenhang von Natur und Kultur nicht in einem holistischen Rahmen auffassen, so bleibt nichts anderes übrig, als den symbolischen Platz, auf den eine „Entität“ als ein Subjekt der „Natur/ Kultur“ vorrücken kann, offen zu halten. Was in dem von Latour vorgeschlagenen „Parlament der Dinge“ eingeübt werden soll, besteht daher im Gegensatz zur traditionellen Auffassung parlamentarischer Versammlungen nicht in einer gemeinsamen Willensbildung zum Zweck der menschlichen Selbstbestimmung, sondern in der Bindung des menschlichen Schicksals an das Schicksal nicht-menschlicher Wesen. Die Einübung dieser Bindung in einer politischen Ökologie, bei der die Natur nicht vor dem „Zugriff des Menschen“ geschützt wird, sondern deren Wirkung darin besteht, „die Menschen noch stärker einzubeziehen“,19 hat über ihren unmittelbar ökologischen Sinn hinaus ebenso einen therapeutischen, insofern sie allen modernen Konzepten zur Willensentfaltung und deren obsessiven Autologiken entgegensteht. Mit der vormaligen Einheit der Natur verschwindet auch die vormalige Einheit des Sozialen, sodass an die Stelle der Auffassung eines „Modernisierens“ die Auffassung eines „Ökologisierens“ treten muss.20 Während der moderne Kulturbegriff, wie er sich seit der Frühen Neuzeit entlang der Absetzung eines status civilis von einem status naturalis etabliert hat, dadurch zu einer souveränen Größe aufgestiegen ist, dass Kultur nicht mehr wie im antiken Sinne als Kultur der Natur verstanden wird,21 kehrt die Problematik dieser Grenzziehung bei Latour entlang einer unaufhebbaren Vermischung wieder, die jetzt jedoch als wichtigste Ressource von Lernprozessen begriffen wird und von der „unsere Moralität“22 ihren Ausgang nehmen soll.

1.

Techniken der Entlastung

Auch wenn die soziologische Systemtheorie, wie sie vor allem von Niklas Luhmann ausgearbeitet worden ist, denkbar weit entfernt zu sein scheint von einer Eigenethnologie der Moderne, so soll im Folgenden diese Sichtweise dennoch dazu genutzt werden, um die systemtheoretische Leitunterscheidung von System und Umwelt auf ihre semantische Doppeldeutigkeit hin zu befragen. Denn obwohl Luhmann gelegentlich darauf 18 19 20 21

22

Latour: Das Parlament der Dinge (Anm. 15), S. 37. Ebd. S. 35. Vgl. dazu Bruno Latour: To modernize or to ecologize? That’s the question, in: Bruce Braun/Noel Castree (Hg.): Remaking Reality: Nature at the Millenium, London/New York 1998, S. 221–242. Vgl. den Überblick bei Hubertus Busche: Was ist Kultur? Erster Teil: Die vier historischen Grundbedeutungen, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2000/1, S. 69–90. Vgl. auch Ralf Konersmann: Kulturphilosophie, Hamburg 2003, S. 33–58. Zur Etablierung des Kulturbegriffs im Kontext früher Globalisierungsschübe vgl. Immanuel Wallerstein: Geopolitics and Geoculture. Essays on the Changing World-System, Cambridge 1991, S. 104–122. Zur aktuellen Diskussion von Globalisierung und Kulturbegriff vgl. Samuel P. Huntington/Lawrence E. Harrison (Hg.): Culture Matters. How Values Shape Human Progress, New York 2000. Latour: Wir sind nie modern gewesen (Anm. 1), S. 187.

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hingewiesen hat, dass sich das alltägliche Verständnis von Umwelt nicht mit dem systemtheoretischen deckt, so ist die Karriere des Umweltbegriffs im Zuge der ökologischen Bewegungen vielleicht doch enger mit der systemtheoretischen Leitunterscheidung verknüpft, als das auf den ersten Blick erscheinen mag. Auch der theoretische Rückgriff auf biologisch fundierte Evolutionsmodelle macht die soziologische Systemtheorie zu einem hervorragenden Schauplatz für die Fragestellung, wie der Zusammenhang von Natur und Kultur unter den Bedingungen einer gesellschaftlichen Komplexität in den Blick kommt, die sich nicht mehr von einer privilegierten Perspektive aus überschauen und bewältigen lässt. Denn gerade weil Luhmann seine Systemtheorie als eine soziologische Supertheorie angelegt hat, bei der die Gesellschaft zu einer absoluten Größe aufsteigt, die alle möglichen Bereiche auf eine Weise umfasst, dass kein einzelner Bereich mehr den Anspruch auf übergeordnete Zuständigkeit für alle anderen erheben kann, rückt auch der Gegenbegriff zu Gesellschaft, nämlich der Begriff der Umwelt, auf eine herausragende Position vor. Im Zentrum der folgenden Überlegungen soll deshalb die Frage stehen, ob mit der Abwertung der Zentralstellung von politischer Steuerung, wie sie sich in Luhmanns soziologischer Systemtheorie auf radikale Weise finden lässt, nicht zwangsläufig der Aufstieg einer neuen politischen Ressource einhergeht, wie sie Latour in einer Politik der Natur gegeben sieht. Dass die Umwelt sowohl im systemtheoretischen Sinne als auch im Sinne der ökologischen Bewegungen derart zentral in den Fokus praktischer und theoretischer Aufmerksamkeit gerückt ist, könnte somit nicht nur dem Umstand geschuldet sein, dass immer mehr vormals natürliche Faktoren in den politischen Verwaltungsbereich fallen und der Umweltschutz zu einer Staatsaufgabe geworden ist,23 sondern dass die unter der Hinsicht einer Umwelt zum Problem gewordene Natur gerade aufgrund ihrer Problematisierung zu einer eigenständigen Quelle politischer Ordnungsstiftung wird. Denn im Unterschied zu den neuzeitlichen Konzeptionen eines status naturalis, in dem bloß die Voraussetzungen der Ordnungsstiftung angelegt sind und den es mittels einer möglichst dauerhaften Ordnungsstiftung zugunsten eines status civilis zu verlassen gilt, wird die historische Karriere des Umweltbegriffs durch die Einsicht in Gang gesetzt, dass selbst diese Voraussetzungen noch zerstörbar und keineswegs selbstverständlich sind.24 Unter Umwelt wird dann gerade ein Zusammenhang jenseits sozialer Übereinkünfte verstanden, den man nicht verlassen und den man trotzdem nicht einfach zu den natürlichen Voraussetzungen des Sozialen rechnen kann. Der Anteil der Natur an der politischen Ordnungsstiftung, der in den neuzeitlichen Kon23

24

Vgl. dazu den Begriff des „Umweltstaates“ bei Michael Kloepfer (Hg.): Umweltstaat, Berlin 1989, Vorwort, S. V: „Der Begriff ‚Umweltstaat‘ soll als Sammelbezeichnung für unterschiedliche Fragen dienen, die sich ergeben können, wenn ein Gemeinwesen die Unversehrtheit der Umwelt zum Maßstab und Ziel seiner Entscheidungen macht.“ Zur rechtsstaatlichen Grundlagenproblematik, die mit der Idee eines „Umweltstaates“ gegeben ist, vgl. Christian Calliess: Rechtsstaat und Umweltstaat: zugleich ein Beitrag zur Grundrechtsdogmatik im Rahmen mehrpoliger Verfassungsverhältnisse, Tübingen 2001, S. 31ff. Vgl. Peter Sloterdijk: Luftbeben. An den Quellen des Terrors, Frankfurt/M. 2002, S. 7–45 (hier: S. 12), der die historische Explikation der „ökologischen Bedingungen“ mit dem „ersten Großeinsatz von Chlorgasen als Kampfmittel“ im Ersten Weltkrieg gegeben sieht: „Man wird das 20. Jahrhundert als das Zeitalter in Erinnerung behalten, dessen entscheidender Gedanke darin bestand, nicht mehr auf den Körper eines Feindes, sondern auf dessen Umwelt zu zielen.“

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zeptionen eines status naturalis im Unterschied zum antiken Naturverständnis insofern negativ gefasst wurde, als die Gründung einer Gesellschaft von der Unhaltbarkeit des Naturzustandes erzwungen wird, kehrt unter der Hinsicht der Umwelt als Einsicht wieder, dass dieser Anteil nicht negierbar ist. Auch wenn die ökologischen Bewegungen häufig als eine Erneuerung traditioneller Praktiken demokratischer Teilhabe aufgefasst werden,25 stellt sich mit der neuen Aufmerksamkeit für die Umwelt der Gesellschaft trotzdem die für jede Demokratietheorie höchst problematische Frage, auf welche Weise der Anteil der Natur an der politischen Ordnungsstiftung unter den Bedingungen einer ökologischen Krise wiederkehrt. Für eine evolutionstheoretisch inspirierte Systemtheorie lässt sich die Beantwortung dieser Frage auf die Alternative zuspitzen, ob sich die soziale Evolution wie die biologische umweltangepasst vollzieht oder aber nicht, was dann, wenn Letzteres der Fall ist, wiederum die Frage nach den Konsequenzen aufwirft. Interessanterweise setzt auch Luhmann ebenso wie Latour mit einer deutlichen Relativierung des emanzipativen Projektcharakters der Moderne ein, wenn er in seinem Buch Legitimation durch Verfahren (1969) die „politische Leistung der bürgerlichen Revolution“ nicht etwa entlang der berühmten Schlagworte der Französischen Revolution beschreibt, sondern in erster Linie als Errungenschaft einer Verfahrenstechnik auffasst, die es erlaubt, von einer „inhaltsabhängigen Sicherheit“ legitimer Entscheidungsfindung im Sinne einer „Konsensbildung“ abzusehen: „Mein Vorschlag ist: den Begriff der Legitimation mit Hilfe der Lerntheorie zu temporalisieren und die damit aufgegebene inhaltsabhängige Sicherheit durch Differenzierung und Wiederverknüpfung einer Mehrheit von Verfahren wiederzugewinnen. Genau darin sehe ich die politische Leistung der bürgerlichen Revolution.“26 Was die moderne Gesellschaft zusammenhält, ist keine Übereinkunft, die sich gemeinsam geteilten Überzeugungen zu verdanken hat, sondern im Gegenteil eine Überbrückung von „Überzeugungsdefiziten“ durch „institutionelle Stützen“: „Nur im Hinblick auf Situationen, in denen es an selbstverständlichem Konsens fehlt und Einigungsmängel wahrscheinlich sind – nur im Hinblick auf Situationen mit gesteigerter Kontingenz werden überhaupt Kommunikationsmedien ausdifferenziert.“27 Die „politische Leistung der bürgerlichen Revolution“ besteht darin, den Wahrheitsstreit und das Ringen um bessere Argumente zu suspendieren und an deren Stelle solche „Verfahrenssysteme“ zu setzen, „die in der Lage sein müssen, Entscheidungshinnahme auch unabhängig von der sachlichen Richtigkeit von Argumenten zu garantieren“.28 Nicht die demokratische Teilhabe an den Prozessen politischer Entscheidungsfindung stellt die wichtigste Errungenschaft der Moderne dar, sondern eine „Interaktionsform des Verfahrens“, die es ermöglicht, im stets wahrscheinlichen Konfliktfall das Pochen auf „gute 25

26 27 28

Vgl. dazu etwa Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen, Frankfurt/M. 1993, S. 204–248 (hier: S. 235), der meint, in der „ökologischen Kultur“ eine neue Verknüpfung von privaten und politischen Angelegenheiten ausmachen zu können: „In der ökologischen Kultur werden in den Tiefenschichten des Privaten Allgemeinstes und Intimstes direkt und unentrinnbar kurzgeschlossen. [...] Also ist im Mikrokosmos der Privatheit noch einmal die Weltgesellschaft enthalten, in der Mitte der Privatheit nistet und brütet das Politische.“ Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt/M. 1983, S. 2. Ebd. S. 5. Ebd. S. 5.

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Gründe“ zugunsten einer technischen Lösung zu vermeiden.29 – Mit dieser Perspektive auf die Errungenschaften der modernen Gesellschaft schließt Luhmann unmittelbar an die These von der „Entlastungstendenz“ an, wie Arnold Gehlen sie in seinem einflussreichen Buch Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft (1957) entwickelt hat. Für Gehlen beziehen sich die in der modernen Gesellschaft zunehmenden Entlastungstechniken nicht allein auf den „leibnahen Bereich“, für den sich aus anthropologischer Sicht die „Notwendigkeit der Technik aus den Organmängeln des Menschen“30 erklären lassen soll, sondern auf den gesamten Bereich des menschlichen „Handlungskreises“, der über den „Umkreis des wirklich Beherrschten“ im Sinne einer Werkpraxis hinaus auch den „Umkreis des imaginär Beherrschten“ umfasst.31 Nach der Erfindung von Werkzeugen und von Arbeits- und Kraftmaschinen werden mit der Erfindung von „modernen technischen Regelungsapparaten mit Rückmeldung“ jetzt allerdings nicht mehr nur einzelne Organe objektiviert, sondern kündigt sich eine Überführung des gesamten menschlichen Handlungskreises in ein technisches Arrangement an: „In dem dritten, gerade jetzt fälligen Schritt objektiviert man den Handlungskreis selbst, einschließlich seiner bewußten Zwischenglieder der Kontrolle und Steuerung.“32 Die Entlastung betrifft deshalb nun nicht mehr nur den leibnahen Bereich in dem Sinne, dass ein spezifischer Organmangel durch eine bestimmte Technik kompensiert wird.33 Vielmehr geht es jetzt darum, über die physische Entlastung hinaus die Selbstauslegung des Menschen, in der dieser sich immer schon vorfindet, einer Entlastung durch ihre Technisierung zuzuführen. Dieser „Wissenschaft höherer Ordnung“, deren Programmatik Gehlen vor allem dem Buch The Human Use of Human Beings: Cybernetics and Society (1950) von Norbert Wiener entnimmt,34 gehört die kommende Zukunft, weil sie imstande ist, die Vorstellungswelt selbst, die früher die intelligible Transformation der „Koordinaten der Welt auf menschliche Maßstäbe“ zu leisten hatte, von diesem Leistungsdruck zu befreien. – Wenn Luhmann im Sinne solcher Entlastungstechniken das Verfahren als maßgebliche Errungenschaft der Moderne 29

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34

Zur diskursethischen Kritik an dieser Auffassung, die auf einen Dezisionismus hinauslaufe, vgl. Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973, S. 135. Vgl. dazu auch Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung: Beträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1998, S. 67ff. Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1954, S. 8. Ebd. S. 18. Ebd. S. 20. Zur Vorgeschichte der Organtheorie bei Ernst Kapp vgl. Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000, S. 203ff. Schon Kapp hat mit seiner Theorie der „Organprojection“ die Perspektive auf einzelne Werkzeuge und Apparate zugunsten einer systemischen Perspektive überschritten, wenn er die „Eisenbahn als System“ deutet: „In dieser Vereinigung der Schienenwege und Dampferlinien zu einem geschlossenen Ganzen ist das Netz von Verkehrsadern, auf welchem die Subsistenzmittel der Menschheit circuliren, das Abbild des Blutgefässnetzes im Organismus.“ Ernst Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik, Neudruck der 1. Auflage, Braunschweig 1877, Düsseldorf 1978, S. 135. Zur Geschichte der Kybernetik vgl. Lars Bluma: Norbert Wiener und die Entstehung der Kybernetik im Zweiten Weltkrieg, Münster 2005. Vgl. auch Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.): Die Transformation des Humanen: Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt/M. 2008.

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ins Zentrum seiner Soziologie stellt, dann setzt er zugleich mit der ins Politische gewendeten Erkenntnis ein, dass das Soziale vor allem von sich selbst entlastet werden muss. Was als technische Lösung zunächst neutral wirken mag, hat gerade als „Neutralisierung“ den handfesten politischen Auftrag der „Konfliktdämpfung“, an dem nicht zuletzt eine Theorie der Verfahrenssysteme über ihre eigene Stilisierung als allein auf Funktionalität abstellende Sozialtheorie einen entscheidenden implizit politischen Anteil hat: „Die Interaktionsform des Verfahrens hat deshalb nicht nur die Funktion, brauchbare Entscheidungsgesichtspunkte herauszufiltern; sie dient auch ganz unmittelbar der Konfliktdämpfung, der Schwächung und Zermürbung der Beteiligten, der Umformung und Neutralisierung ihrer Motive im Laufe einer Geschichte, in der Darstellungen und Engagements in Darstellungen sich unter der Eliminierung von Alternativen ändern. Nur wenn diese Möglichkeit institutionell gesichert ist, kann eine Gesellschaft auf andere, sehr viel drastischere Mittel der Konfliktrepression verzichten.“35 Auch wenn Luhmann vorwiegend theorietechnisch argumentiert, wenn er mit Nachdruck vorschlägt, die „humanistische Tradition“ und die seit der antiken Fassung des Menschen als politikòn zôon gültige Vorstellung, dass die Gesellschaft aus Personen besteht, die als „Teile sozialer Ganzheiten“ aufzufassen sind, endlich zu überwinden, so lässt sich möglicherweise noch ein ganz anderes Motiv der Herabsetzung dieser politischen Größe ausmachen als die damit angestrebte Ausschöpfung analytischer Möglichkeiten: „Die Systemtheorie kann ihre analytischen Möglichkeiten nur ausschöpfen, wenn sie soziale Systeme und personale Systeme als unterschiedliche Systemreferenzen unterscheidet und davon ausgeht, daß sie wechselseitig füreinander Umwelt sein müssen. Demnach ist der konkrete Einzelmensch stets Umwelt eines jeden Sozialsystems und so auch für das Gesellschaftssystem, und ebenso sind alle sozialen Systeme, in denen der Einzelmensch agiert, seine Umwelt.“36 Zweifelsohne kann man in dieser Abschiebung des „Einzelmenschen“ in die Umwelt der Gesellschaft eine gezielte Entpolitisierung sehen, wie vielfach angemerkt und zu Recht kritisiert worden ist, bei der die politische Dimension der Neutralisierung selbst nicht mehr reflektiert werden kann.37 Aber für den Kontext der Umweltproblematik ist der theoretische Umstand von Interesse, dass die Bereinigung des Sozialen von der „organisch-psychischen Einheit Mensch“,38 die nun als Umwelt der Gesellschaft vorausgesetzt werden muss, einen historisch genau datierbaren Index trägt, der den systemtheoretischen Begriff von Umwelt an den ökologischen bindet. Denn diese Abschiebung der „Einheit Mensch“ in die Umwelt im systemtheoretischen Sinne findet in genau dem historischen Moment statt, in dem die „Tatsache der Gesellschaft“ in zunehmendem Maß die Umwelt im ökologischen Sinne beeinflusst: „Es gibt daher zahllose selektive Strukturen und Prozesse am Menschen, die nicht zur Gesellschaft gehören, die aber als Umwelt der Gesellschaft vorausgesetzt 35 36 37

38

Luhmann: Legitimation durch Verfahren (Anm. 26), S. 4. Niklas Luhmann: Soziologie der Moral, in: ders./Stephan H. Pfürtner: Theorietechnik und Moral, Frankfurt/M. 1978, S. 8–116 (hier: S. 30). Vgl. etwa Thomas Wirtz: Entscheidung. Niklas Luhmann und Carl Schmitt, in: Albrecht Koschorke/Cornelia Vismann (Hg.): Widerstände der Systemtheorie: Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 1999, S. 175–197. Luhmann: Soziologie der Moral (Anm. 36), S. 31.

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werden müssen, damit Gesellschaft auf der Basis von Kommunikation überhaupt zustande kommen kann. Umgekehrt beeinflußt die Tatsache der Gesellschaft zunächst ihre menschliche, heute mehr und mehr auch ihre außermenschliche Umwelt. Der Mensch, wie er ist, und mehr und mehr auch der Erdball, wie er ist, wären ohne Gesellschaft nicht möglich.“39 Auf den ersten Blick scheint Luhmann die imaginäre Zentrierung noch deutlich über die modernen Konzepte der Willensbildung hinaus zuzuspitzen, wenn die gesellschaftliche Reproduktion allein auf der „Basis von Kommunikation“ begriffen und alles andere ins Außen einer „Systemautonomie“ abgeschoben wird.40 Der Beitrag der „organisch-psychischen Einheit Mensch“ besteht dann nicht darin, dass diese „im großen und ganzen friedfertig, gutwillig und normkonform handelt und so die Ordnung erhält“, sondern zum potentiellen Reservoir für die selektiven Zugriffe eines „Kommunikationssystems“ wird: „Die Gesellschaft ist nicht die Gattung Mensch, nicht die Menschheit, sondern ein Kommunikationssystem, das die auf physisch-chemisch-organisch-psychischen Grundlagen gegebenen Potentiale der Menschheit selektiv integriert und in der Steuerung dieser Selektivität seine eigene Wirklichkeit und seine eigene Systemautonomie hat.“41 Mit dieser drastischen Loslösung der Ordnungsbegründung von jeder anthropologischen Fundierung, bei der die verfahrenstechnische Reproduktion zum Ausgangspunkt für eine geradezu hygienisch gereinigte Wahrnehmung ihrer natürlichen Voraussetzungen wird, taucht jedoch neben einer menschlichen ebenso eine „außermenschliche Umwelt“ auf, die mit der Nennung eines „Erdballs“, der gegenwärtig „mehr und mehr“ unter dem Einfluss der „Tatsache der Gesellschaft“ steht, deutlich auf das Umweltverständnis der ökologischen Bewegungen verweist. Während mit der Verabschiedung des Sozialen im Sinne eines Zusammenseins von Personen auch die „alteuropäische“ Vorstellung einer politischen Gemeinschaft verabschiedet wird, die auf der Trennung der Angelegenheiten der Natur und der Angelegenheiten der Menschen basiert, erscheinen nun die menschliche und die „außermenschliche Umwelt“ in ihrem Status für die systemtheoretisch gefasste Gesellschaft als gleichrangig. In der Umwelt der Gesellschaft gibt es im Gegensatz zur traditionellen Kluft zwischen natürlichen und politischen Lebewesen eine Kontinuität zwischen menschlichen und außermenschlichen Einflussfaktoren. – Ob gewollt oder nicht, mit der systemtheoretischen Kühle jeglicher Anthroprozentrik gegenüber wird nicht nur die humanistische Tradition abgewertet, sondern zugleich auch die „außermenschliche Umwelt“ aufgewertet, und zwar genau in dem historischen Moment, in dem sich der „Erdball“ als wesentliche Bezugsgröße für die Frage nach den ökologischen Bedingungen des menschlichen Lebens etabliert hat.42 Ein 39 40

41 42

Ebd. S. 31f. Vgl. Klaus Bendel: Selbstreferenz, Koordination und gesellschaftliche Steuerung. Zur Theorie der Autopoiesis sozialer Systeme bei Niklas Luhmann, Marburg 1992, S. 50–68 (hier: S. 51), der dem systemtheoretischen Selbstverständnis widersprechend von „dezentrierter Sozialität“ im Sinne postmoderner Ansätze spricht: „An die Stelle des Postulats der Eigenverantwortlichkeit des Menschen tritt ein ‚postmodernes‘ Theorieverständnis subjektunabhängiger, dezentrierter Sozialität.“ Luhmann: Soziologie der Moral (Anm. 36), S. 31. Vgl. dazu Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, S. 318–329, deren philosophische Untersuchung der „Grundbedingtheiten menschlicher Existenz auf der Erde“ sicherlich zu den originären Thematisierungen des „Erdballs“ im Sinne einer Bezugsgröße für alle Menschen gezählt werden muss und die vor diesem Hintergrund die Entstehung der „modernen

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untergründiges Motiv, mit der humanistischen Tradition zu brechen, könnte daher auch darin bestehen, das Soziale in dem Moment von sich selbst zu entlasten, in dem der Mensch zu einem Risiko für sich selbst geworden ist.

2.

Die Macht der Ohnmacht

In seinem Buch mit dem prägnanten Titel Macht (1975) gibt Luhmann eine Definition dessen, was er unter „sozialen Systemen“ versteht, die zunächst an traditionelle Auffassungen einer Konstitution des Sozialen durch einen unbeseitigbaren Konflikt erinnert: „Alle sozialen Systeme sind potentiell Konflikte; nur das Ausmaß der Aktualisierung dieses Konfliktpotentials variiert mit dem Ausmaß der Systemdifferenzierung und mit der gesellschaftlichen Evolution.“43 Während der Konfliktfall bei traditionellen Auffassungen die gesamte Breite möglicher Auseinandersetzungen umfasst, legt Luhmann jedoch den Schwerpunkt auf dessen kommunikationstheoretische Begründung. Weil eine Kommunikation nur unter der Bedingung zustande kommt, dass das Mitgeteilte stets einen Überschuss produziert, aus dem Bestimmtes im Hinblick auf den eigenen Horizont selektiert werden muss, impliziert jede Kommunikation eine „Kontingenz auf beiden Seiten, also auch Möglichkeiten der Ablehnung von kommunikativ übermittelten Selektionsofferten“.44 Weil man keinen Einblick hat in den Horizont des jeweils anderen, kann man auch nicht wissen, was genau der andere verstanden hat. Selbst Nachfragen lösen das Konfliktpotential nicht auf, sondern führen nur zu einem weiteren Prozessieren der Differenz von Mitteilung und Verstehen, die als solche unaufhebbar ist und nicht still gestellt werden kann. Unter der Bedingung dieser „Unruhe“, die Luhmann ganz im Sinne der neuzeitlichen Anthropologie als eine „negative“ Bestimmung versteht,45 wie sie programmatisch von Giovanni Pico della Mirandola in seiner Schrift De hominis dignitate (1496) ausformuliert worden ist,46 zeigt sich das Problem der „Befolgung von Kommunikation“47 in verschärfter Weise, weil es keine vorab gegebene Regel mehr für die Beendigung von Kommunikation gibt. Denn als Freiheit begriffen, führt diese Unruhe zu einer erheblichen Steigerung der „Kontingenz auf beiden Seiten“, was für das Potential an sozialen Konflikten und deren Eindämmung gravierende Folgen hat. Weil es unter dieser Bedingung immer unwahrscheinlicher wird, dass eine Kommunikation in

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47

Welt“ mit den „ersten atomaren Explosionen auf der Erde“ verknüpft und in der beginnenden Raumfahrt eine „Flucht von der Erde in das Universum“ (S. 15) gegeben sieht. Zur Geschichte des Blicks vom Weltall auf die Erde vgl. Wolfgang Sachs: Satellitenblick. Die Ikone vom blauen Planeten und ihre Folgen für die Wissenschaft, in: Ingo Braun/Bernwald Joerges (Hg.): Technik ohne Grenzen, Frankfurt/M. 1994, S. 305–327. Niklas Luhmann: Macht, Stuttgart 2003, S. 5. Ebd. S. 5. Luhmann: Soziologie der Moral (Anm. 36), S. 31. Giovanni Pico della Mirandola: De hominis dignitate/Über die Würde des Menschen, LateinischDeutsch, übers. v. Norbert Baumgarten, hg. v. August Buck, Hamburg 1990, S. 5f: „Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen, noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest.“ Luhmann: Macht (Anm. 43), S. 4.

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absehbarer Zeit zu einem möglichen Konsens führt, besteht die „Funktion der Macht“ darin, diesen Prozess zu beschleunigen und die „Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens unwahrscheinlicher Selektionszusammenhänge zu steigern“.48 Im Unterschied zu Gewalt ist Macht demnach zunächst weder durch eine unmittelbare Herrschaft über einen anderen definiert, noch als Mittel für ein besonderes Ziel bestimmt, sondern erscheint aufgrund der Fähigkeit, das Konfliktpotential einzudämmen, im Selbstzweck der Ordnungsstiftung aufzugehen: „Die Funktion der Macht liegt in der Regulierung von Kontingenz.“49 Noch bevor Luhmann von einem Machthaber und einem Machtunterworfenen spricht, wird das Phänomen der Machtausübung ganz neutral im Sinne einer technischen Lösung als „Übertragungsleistung“ definiert, die auf ein besonderes Problem reagiert, das in der gesellschaftlichen Evolution unter dem Stichwort einer „doppelten Kontingenz“ auftritt. Zwar kam Macht als theoretische Größe auch schon in früheren Stadien der gesellschaftlichen Evolution in Betracht, mindestens seitdem die Synthesis des Sozialen zum Problem geworden ist, aber der Steigerungszusammenhang von Macht und Kontingenz ist für Luhmann ein spezifisch modernes Phänomen, insofern mehr Kontingenz auch mehr Macht erfordert: „Macht steigt mit Freiheiten auf beiden Seiten, steigt zum Beispiel in einer Gesellschaft in dem Maße, als sie Alternativen erzeugt.“50 In anthropologisch fundierten Gesellschaften bestand letztlich kein Unterschied zwischen „Ordnung und Herrschaft“, weil die Gesellschaft anhand der „immanenten Teleologie“ des Menschen im Wesentlichen als eine „politische Gesellschaft“ verstanden wurde: „Die Differenzierungsformen waren insofern anthropologisch fundiert, als die Menschen, und zwar sowohl herrschende als auch beherrschte Teile der Gesellschaft, in ihren Lebenszwecken auf Herrschaft angewiesen und insofern gleich waren.“51 Der Kontingenz moderner Verhältnisse hingegen lässt sich kein anderes télos mehr ablesen als die Bewältigung dieser Kontingenz.52 – Mit dem Verschwinden der politischen Größe des Menschen erscheint Macht nicht mehr mit der Herrschaft der einen über die anderen identisch, bei der sich die Machtpotentiale aus der jeweiligen Relation zwischen Machthaber und Machtunterworfenem ergeben, sondern als systemische Eigenlogik eines „Macht-Codes“, der evolutionär auf den „Durchgang durch gesteigerte Kontingenz“ reagiert und schon gegeben ist, noch bevor die Zurechnung von Macht auf Machthaber und Machtunterworfene vollzogen werden kann: „Mit der Kontingenz der Selektion steigt auch die Verlockung zur Negation. Dann kommt eine Übertragung von

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Ebd. S. 12. Ebd. S. 12. Ebd. S. 10. Luhmann: Soziologie der Moral (Anm. 36), S. 33. Zu diesem Problemzusammenhang vgl. den Überblick bei Markus Holzinger: Der Raum des Politischen. Politische Theorie im Zeichen der Kontingenz, München 2006. Vgl. auch Michael Greven: Die politische Gesellschaft: Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie, Opladen 2009, S. 66–72 (hier: S. 67), der mit der modernen Gesellschaft eine „Fundamentalpolitisierung“ gegeben sieht: „Alles ist prinzipiell entscheidbar geworden, alles Entscheidbare stellt sich als Interessenkonflikt dar, für alles kann die Politik ihre Zuständigkeit erklären, und jedes erwachsene Gesellschaftsmitglied gilt als politisches Subjekt.“

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Selektionsleistungen nur noch unter besonderen Voraussetzungen zustande, und diese Voraussetzungen rekonstruiert und institutionalisiert der Macht-Code.“53 Mit dieser Perspektive auf ein übergeordnetes Interesse an Stabilität der Ordnung gegenüber jeder Frage nach der Qualität dieser Ordnung steht Luhmann in der Theorietradition neuzeitlicher Konzeptionen eines Naturzustandes, der sich kommunikationstheoretisch gewendet im radikalen Konfliktpotential eines grundsätzlichen Nichtverstehens manifestiert. Während die „Minimalbedingungen“ des Zusammenlebens traditionell durch die Ausübung von Gewalt gewährleistet werden, was auch weiterhin der Fall ist, setzt die spezifisch moderne „Technisierung von Macht“ dann ein, wenn die Komplexität des Zusammenlebens nicht mehr durch Gewalt zu kontrollieren ist: „Im genetischen Sinne und im Sinne von nichtnegierbaren Minimalbedingungen beruht das System auf Gewalt, aber es ist durch Gewalt nicht mehr zu kontrollieren. Die Rationabilität seiner Komplexität wird zum Problem.“54 In dem Moment, in dem die Frage nach der legitimen Ausübung von Gewalt nicht mehr dadurch beantwortet werden kann, dass im Vorhinein festgelegt ist, wer sprechen darf und wann das Gespräch als beendet angesehen wird, resultiert aus einer Unüberschaubarkeit der Sprecher und den zunehmenden Möglichkeiten des Sagbaren ein repräsentativ kaum noch einzudämmendes Konfliktpotential.55 Der kommunikationstheoretische Naturzustand besteht in einem anarchischen Wuchern der Diskurse, die aus der Herrschaftsperspektive als unkontrollierbar erscheinen, weil die Wahrscheinlichkeit einer diskursiven Bindung mit der Zunahme der Sprecher abnimmt. – Angesichts dieser Problematik hat Michel Foucault die historische Entstehung spezifisch hermeneutischer Prozeduren rekonstruiert, „deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen“.56 Mit dem historischen Auftritt der Menge auf der politischen Bühne formiert sich zugleich eine „diskursive Polizei“, deren Wirksamkeit nicht nur darin besteht, den Diskurs mittels Verboten und anderen Formen der Ausgrenzung einzuschränken. Vielmehr besteht deren ordnungspolitischer Einsatz darin, das verwirrende Gemurmel der Menge zu entziffern und dadurch politische Macht auszuüben, dass die verborgenen Wünsche und unartikulierten Begehrlichkeiten der Menge einer Lesbarmachung zugeführt werden sollen.57 Für Foucault liegt das Spezifische dieser Machtausübung im traditionellen 53 54 55

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Luhmann: Macht (Anm. 43), S. 14. Ebd. S. 67. Vgl. dazu Friedrich Balke: Dichter, Denker und Niklas Luhmann. Über den Sinnzwang in der Systemtheorie, in: Albrecht Koschorke/Cornelia Vismann (Hg.): Widerstände der Systemtheorie: Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 1999, S. 135–157 (hier: S. 145): „Daß alles gesagt werden könnte, weil es der modernen Gesellschaft an Autorität gebricht, um repräsentative Verbindlichkeiten vorzuschreiben, kann man nur sagen, weil man die Materialität und Ereignishaftigkeit der Rede im Meer des Sinns untergehen läßt.“ Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970, übers. v. Walter Seitter, Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M. 2007, S. 11. Zur Erfindung einer „höchstnötigen Wissenschaft“, die es erlauben soll, das „Verborgene des Herzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Konversation zu erkennen“, vgl. Christian Thomasius: Schreiben an Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg zu Neujahr 1692, in: Fritz Brüggemann (Hg.): Aus der Frühzeit der Deutschen Aufklärung. Christian Thomasius und

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Sinne politischer Herrschaft in dem Versuch, sich die Macht des Diskurses auch unter der Bedingung seines Wucherns anzueignen: „Denn der Diskurs – die Psychoanalyse hat es uns gezeigt – ist nicht einfach das, was das Begehren offenbart (oder verbirgt): er ist auch Gegenstand des Begehrens; und der Diskurs – dies lehrt uns immer wieder die Geschichte – ist auch nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist derjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.“58 In diesem Sinne stellt die „diskursive Polizei“ sicher, dass nicht alles sagbar ist und politische Herrschaft als Herrschaft der einen über die anderen nach wie vor möglich bleibt. Weil von der diskursiven Gegebenheit, „daß die Leute sprechen und daß ihre Diskurse endlos weiterwuchern“,59 die destabilisierende Gefahr wilden Sprechens ausgeht, konstituiert sich die politische Herrschaft zunehmend entlang der Macht über die Macht des Diskurses, sodass der Diskurs auch unter modernen Bedingungen der entscheidende Schauplatz eines Kampfs der einen gegen die anderen bleibt. Dagegen soll der systemtheoretische Ansatz, wie Luhmann ihn vertritt, theoretische Kontroversen um die „Dichotomisierung“ von herrschender Ordnung und widerständiger Kritik dadurch „unterlaufen“,60 dass die „binäre Schematisierung“ von Macht entlang eines Machthabers und eines Machtunterworfenem aus der reproduktiven Eigenlogik eines „Macht-Codes“ abgeleitet wird. Deshalb steht für Luhmann weder die mögliche Gefährlichkeit, die der Machthaber für einen Machtunterworfenen darstellt, im Zentrum seiner Überlegungen, noch die Gefahr, die potentiell von jedem Machtunterworfenen für den Machthaber ausgeht. Die einzige Gefährlichkeit, von der die systemtheoretische Perspektive heimgesucht wird, ist die Selbstgefährdung des sozialen Systems in dem Sinne, dass die Machtausübung als solche unmöglich werden und somit an ein Ende kommen könnte: „Die Leistung [der Macht] ist die Übertragung reduzierter Komplexität, die um so kritischer wird, je komplexer die intersubjektiv konstituierte Welt ausfällt, und die Steigerungsbedingungen werden im Code des Mediums institutionalisiert.“61 Im Unterschied zu „archaischen Gesellschaften“, bei denen aufgrund der „engen Assoziation von Mächtigkeit und Gefährlichkeit“ die Ordnungsleistung noch unproblematisch ist, operiert das moderne Sozialsystem stets am Rand seiner reproduktiven Möglichkeiten, insofern es sich aufgrund seiner hohen Komplexität vor allem selbst gefährdet.62 Auch wenn die Machtausübung dabei nach wie vor auf der Möglichkeit unmittelbarer Gewaltanwendung basiert, so geht Luhmann im Hinblick auf die prinzipiell „kritische“ Lage der Machtausübung davon aus, „daß die Institutionalisierung durchsetzbarer legitimer Macht das Phänomen größerer gesellschaftlicher Tragweite ist im Vergleich zu Brutali-

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Christian Weise, Leipzig 1938, S. 61–79 (hier: S. 62). Vgl. dazu Leander Scholz: „Vier Augen sehen mehr als zwei“: Christian Thomasius und die politische Klugheitslehre, in: Tobias Nanz/ Armin Schäfer (Hg.): Kulturtechniken des Barock, Berlin 2012, S. 41–55. Foucault: Die Ordnung des Diskurses (Anm. 56), S. 11. Ebd. S. 9. Luhmann: Macht (Anm. 43), S. 18. Ebd. S. 31. Vgl. Stefan Lange: Niklas Luhmanns Theorie der Politik: Eine Abklärung der Staatsgesellschaft, Wiesbaden 2003, insbesondere das Kapitel Konservatismus aus Komplexität, S. 77–148.

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tät und Eigensucht“.63 – Zwar wird in diesem Kontext der Einwand seitens klassischer Theorien der Souveränität zumindest erwähnt, dass selbst institutionalisierte Macht nicht allein auf regelförmiger Machtausübung beruht, sondern sich zuletzt der „Kontrolle des Ausnahmefalls“ verdankt.64 Weil dessen Kontrolle in „hochkomplexen Gesellschaften“ jedoch nahezu unmöglich ist und dieser daher unbedingt vermieden werden muss, erscheint der theoretische Fokus auf den „Ausnahmefall“ letztlich als unergiebig: „Daraus folgt unter anderem, daß hochkomplexe Gesellschaften, die weit mehr Macht benötigen als einfachere Gesellschaften, die Proportion von Machtausübung und Sanktionsanwendung ändern und mit einem verschwindend geringen Anteil faktischer Realisierung von Vermeidungsalternativen auskommen müssen.“65 Was als von Luhmann intensiv beschworene „Komplexität“ moderner Gesellschaften die Institutionalisierung von Macht vorantreibt, lässt sich implizit als Warnung vor der Erfahrung einer lähmenden Ohnmacht dechiffrieren. Denn damit die Macht „reflexiv“ werden kann, wie Luhmann den Vorgang einer zunehmenden Institutionalisierung von Machtausübung in „Kettenbildungen“ nennt, muss zunächst die Erfahrung gemacht werden, dass andere ebenfalls Macht haben können und daher in der Lage sind, die eigene Macht zu blockieren. Ausgangspunkt der „Reflexivität des Machtprozesses“66 ist die problematische Einsicht, dass es nicht mehr ausreicht, den anderen zu beherrschen und mittels Zwang über sein Handeln verfügen zu können, sondern dass es unter der Bedingung „flüssiger“ Machtverhältnisse darum geht, über die Macht des anderen „disponieren“ zu können. – Das heißt, am Anfang des systemtheoretisch gefassten Naturzustandes steht die drohende Agonie von Machtverhältnissen, bei der die tradierte Asymmetrie von Machthaber und Machtunterworfenem zugunsten eines entropischen Zustands verunmöglicht würde, da sich dieser Unterschied nicht mehr beobachten ließe.67 Vor dem Hintergrund einer solchen Situation entsteht die „Macht des Systems“ aus dem Versuch, die eigene Macht dadurch „kettenförmig“ zu verlängern, dass die Macht des anderen in die eigene eingebaut wird, was dazu führt, dass nicht nur die „Reichweite“ und die „Durchgriffsfähigkeit“ erhöht wird, sondern auch die diesem Versuch zugrunde liegende Erfahrung von Ohnmacht institutionalisiert wird. Die Erfahrung von Ohnmacht findet dann nicht mehr allein auf der Seite 63 64

65 66 67

Luhmann: Macht (Anm. 43), S. 17. Vgl. auch Niklas Luhmann: Begriff des Politischen (1980). Interview mit Angelo Bolaffi, in: ders.: Archimedes und wir. Interviews, hg. v. Dirk Baecker u. Georg Stanitzek, Berlin 1987, S. 2–13 (hier: S. 12), wo es mit Hinweis auf Carl Schmitt in einer fast naiven Weise heißt: „In bezug auf den Ausnahmezustand denke ich, daß der wahre Souverän jener ist, der in der Lage ist zu verhindern, daß es soweit kommt: Denn wenn er gezwungen ist, unter Ausnahmebedingungen zu regieren, ist er zumindest als Politiker schon verloren.“ Luhmann: Macht (Anm. 43), S. 23. Ebd. S. 40. Zum kommunikationstheoretischen Konzept der „negativen Entropie“ vgl. Jürgen Ruesch/Gregory Bateson: Kommunikation: Die soziale Matrix der Psychiatrie (1951), übers. v. Christel RechSimon, Heidelberg 1995, S. 190–235 (hier: S. 201), die im Anschluss an die von Sigmund Freud thematisierte Abhängigkeit von Wunsch und Wahrnehmung den Beobachter als Faktor der Ordnungsgenerierung analysiert haben: „Aus all dem folgt, daß das ‚System‘, auf das sich wirkliche Aussagen über Sortieren und negative Entropie beziehen, den Sprecher einschließt, dessen Informations- und Wertesystem somit unentwirrbar in all seine diesbezüglichen Aussagen verwickelt sind.“

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von Machtunterworfenen statt, sondern kann ebenso den Machthaber betreffen: „Vermutlich gehört es sogar zu den strukturellen Eigentümlichkeiten kettenförmig verlängerter Macht, daß sie gegenläufige Macht erzeugt, da die Macht des Systems die mögliche Selektionskapazität eines einzelnen Machthabers übersteigt und die Dispositionsgewalt der Mittelglieder diesen als eigene Machtquelle dient.“68 Mit dem gesteigerten Machtbedarf, mit dem moderne Gesellschaften aus systemtheoretischer Perspektive auf den Umstand reagieren, dass die traditionellen Privilegien der Rede zunehmend als kontingent verstanden werden, steigt demnach auch die strukturelle Erfahrung von Ohnmacht, die dieser Machtbedarf abwenden soll, um auch unter nachrevolutionären Bedingungen noch die evolutionäre Kontinuität asymmetrischer Machtverhältnisse gewährleisten zu können. – Während Foucault bei seiner Analyse des Versuchs, die Macht über die Macht des Diskurses zu erlangen, stets betont, dass die Macht nicht allein „repressiv“ vorgehen kann, sondern zu diesem Zweck spätestens seit dem 18. Jahrhundert „produktiv“ werden muss,69 dass sie immer mehr Details des Lebens der Machtunterworfenen erfassen und sich immer tiefer in deren Körper eingraben muss, um sich so die Macht der Machtunterworfenen durch Regulierung und Kanalisierung aneignen zu können, zeichnet sich die „Reflexivität des Machtprozesses“ bei Luhmann dadurch aus, dass die Verfügbarkeit von Macht gerade aufgrund der steigenden Machtpotentiale abnimmt. Auch wenn die Zugriffe der beiden Theoretiker vollständig anders angelegt sind und man vielleicht sagen kann, dass es bei beiden implizite Vorentscheidungen hinsichtlich der Identifikation mit dem Machtunterworfenen beziehungsweise mit dem Machthaber gibt, so erscheint in beiden Fällen die Ausübung von Macht auf eine Weise anonymisiert, dass sie niemand mehr im traditionellen Sinne besitzen kann. Sowohl bei Foucault als auch bei Luhmann äußert sich diese Diagnose in einer Skepsis gegenüber solchen Modernitätsverständnissen, die in der Errungenschaft der Demokratie die nachhaltigste Lösung des Machtproblems sehen. Gerade in dem Moment, in dem die Macht in den Augen vieler Beobachter endlich einen legitimen Besitzer gefunden hat, wird das possessive Ausüben von Macht zunehmend unmöglich: „Kettenbildung hat die Funktion, mehr Macht verfügbar zu machen, als ein Machthaber ausüben kann – im Grenzfall politischer Wahl: alle Macht denen verfügbar zu machen, die sie überhaupt nicht ausüben können.“70

3.

Evolutionäre Lernprozesse

Man kann in diesem Umstand, dass sich die Machtausübung in dem historischen Moment, in dem die politische Herrschaft in der Souveränität eines jeden Einzelnen ihr 68 69

70

Luhmann: Macht (Anm. 43), S. 41. Vgl. Michel Foucault: Die Anormalen, übers. v. Michaela Ott, Frankfurt/M. 2003, S. 74: „Das 18. Jahrhundert hat mit dem System ‚Disziplin mit Normalisierungseffekt‘, mit dem System ‚Normalisierungsdisziplin‘ etwas eingeführt, was mir nicht als repressive, sondern als produktive Macht erscheint – wobei die Repression nur als Neben- und Sekundäreffekt im Hinblick auf die Mechanismen fungiert, die ihrerseits im Verhältnis zur Macht zentral sind und fabrizieren, erzeugen und produzieren.“ Luhmann: Macht (Anm. 43), S. 41.

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Fundament finden soll, auf unhandhabbare Weise von dieser politischen Herrschaft entfernt, das zu beklagende und mit aller Mühe abzuwendende Schicksal der Moderne sehen, bei dem das emanzipative Projekt der Moderne um seine eigene Leistung betrogen wird. Aber wenn man nicht bei dem bloßen Appell stehen bleiben will, die Anstrengungen aus diesem Grund zu verstärken und es mit den gleichen Mitteln besser zu machen, dann muss man der Frage nachgehen, ob sich hinter dieser Entwicklung nicht trotzdem ein evolutionärer Lernprozess verborgen hält, der über die nach wie vor drängende Problematik sozialer Kämpfe hinausweist und mit der semantischen Doppeldeutigkeit von Umwelt im systemtheoretischen Sinne und im Sinne der ökologischen Bewegungen zu tun hat. Das evolutionäre Modell, das Luhmann in seinem Buch Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (1984) vorgeschlagen hat, um die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung nachvollziehen zu können, ist deshalb für diese Fragestellung geeignet, weil es auf jede vorab gegebene Teleologie geschichtlicher Lernprozesse verzichtet, auch wenn damit scheinbar zwangsläufig zugleich der Verzicht auf die Frage nach ethischen Normen im Sinne des emanzipativen Projektcharakters der Moderne einhergeht.71 Für Luhmann drückt sich dieser Verzicht in einem Bruch mit dem identitätslogischen Programm der Moderne sowohl in seiner transzendentallogischen als auch in seiner dialektischen Fassung zugunsten eines differenzlogischen Programms aus: „Für die Ausarbeitung einer Theorie selbstreferentieller Systeme, die die System/ Umwelt-Theorie in sich aufnimmt, ist eine neue Leitdifferenz, also ein neues Paradigma erforderlich. Hierfür bietet sich die Differenz von Identität und Differenz an.“72 Im Unterschied zur identitätslogischen Fassung des „Problems der Simultanverweisung auf sich selbst und anderes“73 führt dessen differenzlogische Fassung weder zu einer privilegierten Stellung eines anthropologisch identifizierbaren Subjekts, dem auf hervorragende Weise zugetraut wird, aus einer gegebenen Vielheit eine Einheit zu synthetisieren, noch zu der Annahme einer diesem Prozess übergeordneten Totalität. Beide Positionen sind als Varianten einer theoretischen Beobachtung der „mitlaufenden Selbstreferenz“ aus differenzlogischer Sicht zu verwerfen: „Zum Transzendentalismus gelang man, wenn man genau dies als Besonderheit des Bewußtseins auffaßt und das Bewußtsein deshalb (!) zum ‚Subjekt‘ erklärt. Zur Dialektik gelangt man, wenn man sich angesichts dieses Gleichlaufs von Selbstverweisung und Fremdverweisung für die zu Grunde liegende Einheit interessiert (also letztlich auf die Identität von Identität und Differenz abstellt und nicht auf die Differenz von Identität und Differenz).“74 Weil weder eine „reine“ Selbstreferenz im Sinne eines „‚nur und ausschließlich auf sich selbst Beziehens‘“75 möglich ist, noch die „Simultanverweisung auf sich selbst und anderes“ als solche beobachtet werden kann, ohne die Unterscheidung von „selbst“ und „anderes“ sofort wieder aufzurufen, kann die „mitlaufende Selbstreferenz“ nur differenzlogisch gefasst werden: „Wir halten 71

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Vgl. dazu kritisch Hauke Brunkhorst: Evolution und Revolution – Hat die Evolution des politischen Systems eine normative Seite?, in: Kai-Uwe Hellmann/Karsten Fischer/Harald Bluhm (Hg.): Das System der Politik: Niklas Luhmanns politische Theorie, Wiesbaden 2003, S. 326–335. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1987, S. 26. Ebd. S. 606. Ebd. S. 606f. Ebd. S. 604.

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die Transzendentalphilosophie für eine falsche Absolutierung nur einer Systemreferenz (aber zugleich auch für ein gutes Modell für Selbstreferenztheorien) und die Dialektik für zu riskant im Hinblick auf unterstellte Identität (während die Übergänge und Anschlüsse in der Theorie doch immer von Differenz ausgehen müssen).“76 Dass Luhmann sich deutlicher von der dialektischen als von der transzendentallogischen Tradition des identitätslogischen Denkens absetzt, ist nicht zuletzt der Konkurrenz seines eigenen umfassenden Ansatzes zum Systemdenken des absoluten Idealismus geschuldet. In einer Fußnote heißt es daher noch einmal zugespitzt: „Wer genau liest, wird bemerken, daß von Differenz von Identität und Differenz die Rede ist und nicht von Identität von Identität und Differenz.“ Und etwas polemisch wird dann hinzugefügt, als wäre noch nicht geklärt, was die „letzte Identität“ für den absoluten Idealismus bedeutet: „Ich ziehe es vor, Dialektikern zu überlassen, klar zu machen, wie diese letzte Identität zu verstehen ist.“77 Denn was mit „letzter Identität“ zumindest in politischer Hinsicht gemeint ist, kann man in G. W. F. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) nachlesen, wo die vom Staat verkörperte „substantielle Einheit“ als „absoluter unbewegter Selbstzweck“ bezeichnet wird: „Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen den Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein.“78 Für Hegel ist es keine Frage, dass der Staat die allen Differenzen übergeordnete Totalität repräsentiert, die zugleich den „Ausgangspunkt“ und das „Resultat“ dieser Differenzen darstellt. Selbst wenn die Einzelnen meinen sollten, sich selbst der „letzte Zweck“ zu sein, ist diese Meinung nur möglich, weil sie der übergeordneten Totalität des Staates angehören, zu deren dialektischer Potenz es auch gehört, die Einzelnen sowohl in diese Meinung entlassen als auch wieder zurück in die Totalität rufen zu können: „Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate.“ Im status des Staates hat die Differenz von Selbstverweisung und Fremdverweisung ihre „substantiellen Einheit“ und insofern ihren Anfang und ihr Ende. Nur wenn der Staat mit der Gesellschaft „verwechselt“ wird, „so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein“.79 – Wenn dagegen Luhmann an die Stelle der Frage nach einer zugrunde liegenden Einheit die Leitdifferenz von System und Umwelt setzt, bei der die Umwelt auf die Position des „anderen“ aufrückt und das Selbst seine Einheit allein durch die Abgrenzung von diesem „anderen“ gewinnt, dann hat dies seinen Grund nicht nur im historischen Abbau etaistischer Positionen, sondern muss 76 77 78

79

Ebd. S. 607. Ebd. S. 26, Anm. 19. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke in 20 Bd. auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, Bd. 7, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, S. 399. Ebd. S. 399.

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auch vor dem Hintergrund der naturphilosophischen Problematik gesehen werden, die das idealistische Konzept einer im modernen Staat verkörperten „substantiellen Einheit“ heimsucht. Denn Voraussetzung für diese imaginäre Zentrierung im Willensprinzip des Staates ist, dass sich der Staat als Ausgangspunkt und Resultat der Selbstreferenz von jeder vorausgehenden Naturordnung abgekoppelt hat, was bei Hegel vor allem darin zum Ausdruck kommt, dass die Natur als „Spiegel unserer selbst“ begriffen wird, wie es in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817–30) heißt: „Der Zweck dieser Vorlesungen ist, ein Bild der Natur zu geben, um diesen Proteus zu bezwingen, in dieser Äußerlichkeit nur den Spiegel unserer selbst zu finden, in der Natur einen freien Reflex des Geistes zu sehen, – Gott zu erkennen, nicht in der Betrachtung des Geistes, sondern in diesem seinem unmittelbaren Dasein.“80 Dass es sich bei der sehr vorraussetzungsvollen Annahme einer Spiegelrelation um eine höchst problematische Unterstellung handelt, wird nicht nur durch den Vergleich der Natur mit der mythologischen Figur des Proteus deutlich, der gemeinhin dafür steht, dass er sich trotz seiner prophetischen Gabe den Fragen entzieht, indem er stets eine andere Gestalt annimmt, sondern hat Hegel selbst in einer zweifelnden Passage ausgesprochen: „Wir finden die Natur als Rätsel und Problem vor uns, das wir ebenso aufzulösen uns getrieben fühlen, als wir davon abgestoßen werden: angezogen, [denn] der Geist ahnt sich darin; abgestoßen von einem Fremden, in welchem er sich nicht findet. [...] Und in all diesem Reichtum der Erkenntnis kann uns die Frage von neuem kommen oder erst entstehen: Was ist die Natur? Sie bleibt ein Problem.“81 Weil mit diesem Nicht-Finden nicht nur die dialektische Auffassung der Einheit von Identität und Differenz auf dem Spiel steht,82 sondern auch das idealistische Verständnis von Staat und Gesellschaft, kann man die Fokussierung der Grenzziehung zwischen Sozialsystem und Umwelt auch als Reaktion auf diese Problematik sehen, wenn man unter differenzlogischen Bedingungen trotzdem noch an einer Supertheorie festhalten will, die in der Lage ist, mit dem Systemdenken des absoluten Idealismus zu konkurrieren. Im Unterschied zum dialektischen Verständnis von selbst und anderem und der damit einhergehenden Möglichkeit einer Stillstellung dieser Beziehung muss sich die systemtheoretische Auffassung damit begnügen, der Frage nachzugehen, wie das Selbst sich selbst reproduziert, indem es beim Verweis auf anderes zugleich auf sich selbst verweist und deshalb weder nur sich meinen, noch das andere als solches einholen kann. An die Stelle einer sich vor dem Hintergrund einer unterstellten Einheit vollziehenden teleologischen Geschichte tritt deshalb ein evolutionärer Prozess, der weder einen Anfang 80

81 82

G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, Werke, Bd. 9, S. 539. Zu Hegels Naturphilosophie vgl. Michael Quante: Die Natur: Setzung und Voraussetzung des Geistes. Eine Analyse des § 381 der Enzyklopädie, in: Barbara Merker/Georg Mohr/Michael Quante (Hg.): Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004, S. 81–101. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II (Anm. 80), S. 12. Vgl. Jan van der Meulen: Hegel. Die gebrochene Mitte, Hamburg 1958, S. 238–345 (hier: S. 309), der im Hinblick auf eine prinzipielle „geistig-natürliche Zweideutigkeit des Menschenwesens“ den „endgeschichtlichen Sinn“ sowohl der idealistischen als auch der materialistischen Dialektik problematisiert: „Während für Hegel in der Totalität des Geistes keine natürliche Entäußerung mehr besteht, so besteht dagegen für Marx in der Totalität der menschlichen Natur in der klassenlosen Gesellschaft keine geistige Entfremdung mehr.“

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noch ein Ende haben kann. Ganz im Sinne der Evolutionstheorie, wie sie Charles R. Darwin vor allem in seinem Buch On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (1859) entfaltet hat, wird dieser Prozess als ein „subjektloser Vorgang“ verstanden, der seine Dynamik ausschließlich dem kontingenten Vorkommen von Variationen und der Stabilisierung durch Selektionen verdankt: „Auch hierin ist Darwin der wichtigste Vorläufer dadurch, daß er die evolutionäre Selektion nicht von einem Ordnungswillen, sondern von der Umwelt her begriffen hat.“83 Die Ordnungsleistung dieses Prozesses basiert nicht auf einer Ordnungsmacht, die in der Lage ist, einem instabilen Zustand eine dauerhafte Gestalt zu verleihen. Im Gegenteil, weil es nur temporäre Ereignisse gibt, die an vorhergehende Ereignisse anschließen, lebt die permanent nötige Reproduktion des Selbst in der Simultanverweisung auf sich selbst und anderes von dem „ständigen Zerfall“ seines gerade bestehenden Zustands: „Entsprechend besteht ein hinreichend stabiles System aus instabilen Elementen; es verdankt seine Stabilität sich selbst, nicht seinen Elementen; es baut sich auf einer gar nicht ‚vorhandenen‘ Grundlage auf und ist gerade in diesem Sinne ein autopoietisches System.“84 Das Selbst kommt stets bei einem anderen Selbst an als dem, auf das es als sein Selbst verweist. Was in der immer zu vollziehenden Reproduktion auf Dauer gestellt wird, ist mit der Differenz zu anderem zugleich die Selbstdifferenz: „Reproduktion heißt also nicht einfach: Wiederholung der Produktion des Gleichen, sondern reflexive Produktion, Produktion aus Produkten.“85 Was sich somit organisierend auswirkt, besteht nicht in einer letzten Identität, die das Fundament dieses evolutionären Prozesses darstellt, sondern hat seinen Grund gerade im Nicht-Finden des Selbst im anderen. Ausgangspunkt der Ordnungsstiftung ist damit die Differenz als Differenz: „Die Differenz hält gewissermaßen das Differente auch zusammen; es ist eben different, und nicht indifferent.“86 Weil mit der „Differenz zu anderem“ zugleich die „Differenz zu sich selbst“ gegeben ist, sind Sozialsystem und Umwelt über diese Differenz miteinander verbunden, ohne ineinander übersetzbar zu sein. Das System kann seine Umwelt nicht als solche wahrnehmen, sondern nur so, dass jeder „Umweltkontakt“ in der Weise eines „Selbstkontakts“ stattfindet.87 Auch wenn Hegels Begriff der Gesellschaft am ökonomischen Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft im engeren Sinne orientiert und daher grundsätzlich anders angelegt ist als der von Luhmann, so lässt sich trotzdem schon allein anhand dieser Umstellung des identitätslogischen auf ein differenzlogisches Programm nachvollziehen, warum die Gesellschaft, die für Hegel im Gegensatz zum status des Staates und ohne diesen Staat einen Bereich der Unordnung, der Unsittlichkeit und des Zerfalls darstellt, für Luhmann hingegen zur umfassenderen Größe als der Staat aufrückt.

83 84 85 86 87

Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 72), S. 57. Ebd. S. 78. Ebd. S. 79. Ebd. S. 38 Zur historischen Genese dieser Denkfigur in der theoretischen Biologie vgl. Georges Canguilhem: Das Lebendige und sein Milieu, in: ders.: Die Erkenntnis des Lebens (1952), übers. v. Till Bardoux, Maria Muhle u. Francesca Raimondi, Berlin 2009, S. 233–279.

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Weil es keine zugrunde liegende Einheit des Sozialen mehr gibt, steigt mit der Abwertung des Staates als Ordnungsmacht zugleich die Umwelt als gewichtiger Faktor im evolutionären Prozess der Ordnungsstiftung auf. Das Entscheidende an Luhmanns Begriff der Umwelt ist, dass damit zwar Natur im traditionellen Sinne impliziert ist, es aber keinen vorab gegebenen Begriff von Natur mehr gibt, der es erlauben würde, das Soziale im antiken Sinne an eine definierbare Naturordnung zu binden. Und dennoch kommt der Umwelt gerade aufgrund ihrer Unbestimmtheit eine zentrale Rolle für das Selbstsein des Sozialen zu: „Man kann deshalb sagen, daß durch Bezug auf und Unbestimmtlassen von Umwelt das System sich selbst totalisiert. Die Umwelt ist einfach ‚alles andere‘.“88 Mit dem systemtheoretischen Begriff der Umwelt wird daher sowohl die antike Tradition einer Ableitung des Sozialen aus der Natur transzendiert als auch die moderne Tradition einer bloß negativen Grenzziehung zwischen dem Sozialem und einer außerhalb gegebenen Natur zurückgewiesen: „Die Umwelt ist ein notwendiges Korrelat selbstreferentieller Operationen, weil gerade diese Operationen nicht unter der Prämisse eines Solipsismus ablaufen können (man könnte auch sagen: weil alles, was in ihr eine Rolle spielt, einschließlich des Selbst selbst, per Unterscheidung eingeführt werden muß).“89 Weil die Umwelt „alles andere“ ist, das immer nur in der Unterscheidung vom Selbst als „alles andere“ sichtbar werden kann, ist die Umwelt auch stets komplexer als das System selbst und kann niemals in einer „systemadäquaten“ Weise wahrgenommen werden. – Für den Umweltbegriff im Sinne der ökologischen Bewegungen bedeutet dies, dass es kein „ecosystem“ im Sinne der Systemtheorie geben kann,90 da die natürliche Umwelt nicht wiederum als ein System verstanden werden kann: „Wer zwischen System und Komplexität nicht unterscheiden kann, verbaut sich den Zugang zum Problemkreis der Ökologie. Denn die Ökologie hat es mit einer Komplexität zu tun, die kein System ist, weil sie nicht durch eine eigene System-Umwelt-Differenz reguliert ist.“91 Gerade weil die natürliche Umwelt kein System ist, bei dem die „Einheit der Vielheit“ durch Selbstreferenz hergestellt wird, und Luhmann daher vorschlägt, anstelle von „ecosystem“ von einem „eco-complex“ zu sprechen,92 lässt sich die ökologische Krise als ein wirkmächtiger Hintergrund des systemtheoretischen Umweltbegriffs entziffern. Die Komplexität einer zum Problem gewordenen Natur lässt sich weder mittels der Erkenntnis einer Naturordnung bewältigen, in die sich die soziale Ordnung einzubetten hat, noch lässt sie sich als ein bloßes Außen eines sich aus sich selbst reproduzierenden Sozialen verstehen. Denn dass die reduzierte Komplexität des Sozialen jederzeit von der höheren Komplexität der Umwelt abhängig ist, kann unter der Bedingung einer „Autopoiesis“ dieses Sozialen nur dann sichtbar werden, wenn die Natur schon als „eco-complex“ pro88 89 90

91 92

Ebd. S. 249. Ebd. S. 25. Vgl. dagegen Gregory Bateson: Steps to an Ecology of Mind: Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution and Epistemology (1972), Chicago 2000, S. 405–476 (hier: S. 446), der explizit von einem „larger ecosystem“ spricht: „Three cybernetic or homeostatic systems will be considered: the individual human organism, the human society, and the larger ecosystem.“ Vgl. dazu Wolfram Lutterer: Auf den Spuren ökologischen Bewußtseins. Eine Analyse des Gesamtwerks von Gregory Bateson, Freiburg 2000, S. 180ff. Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 72), S. 55. Ebd. S. 55, Anm. 52.

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blematisch geworden ist und die „Existenz-Bedingungen“ nicht mehr selbstverständlich sind, die Ernst Haeckel noch bei der Etablierung der „Oecologie“ als „Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt“93 ins Zentrum seiner Schrift Generelle Morphologie der Organismen (1866) stellen konnte. Ansonsten würde es ausreichen, unter Umwelt entweder eine erkennbare Naturordnung zu verstehen, von der das Soziale seine spezifische Gestalt empfängt, oder lediglich ein Außen, das zwar vorausgesetzt werden muss, von dem jedoch kein unmittelbarer Weg zum Sozialen führt. Die „Unterscheidung der beiden Komplexitätsbegriffe“ zeigt jedoch an, dass „Systeme ihre eigene Komplexität (und erst recht: die ihrer Umwelt) nicht erfassen und doch problematisieren können“.94 Dass das Sozialsystem in der Lage ist, seine Umwelt zu „problematisieren“, könnte deshalb auf den vorgängigen Umstand verweisen, dass es das nur kann, weil diese Umwelt für das Sozialsystem historisch längst zum Problem geworden ist. – Die zentrale Neuerung, die Luhmann gegenüber älteren Fassungen des Systemdenkens zur Geltung gebracht hat, nämlich dass bei der differenzlogisch verstandenen Beziehung von System und Umwelt die rekursive Geschlossenheit des Systems zugleich die Bedingung für seine Offenheit darstellt, ließe sich dann als Reaktion auf den „Problemkreis der Ökologie“ und damit als Lernprozess systemischer Theoriebildung begreifen: „Durch Selbstreferenz wird rekursive, zirkelhafte Geschlossenheit hergestellt. Aber Geschlossenheit dient nicht als Selbstzweck, auch nicht als alleiniger Erhaltungsmechanismus oder als Sicherheitsprinzip. Sie ist vielmehr Bedingung der Möglichkeit für Offenheit. Alle Offenheit stützt sich auf Geschlossenheit, und dies ist nur möglich, weil selbstreferentielle Operationen nicht den Gesamtsinn absorbieren, nicht totalisierend wirken, sondern nur mitlaufen; weil sie nicht abschließen, nicht zum Ende führen, nicht das telos erfüllen, sondern gerade öffnen.“95 Auch wenn der systemtheoretische Ansatz von Luhmann wie kaum ein anderer der obsessiven Autologik der Moderne verpflichtet zu sein scheint, so könnte sich gerade in der von Luhmann diagnostizierten Unverfügbarkeit moderner Machtpotentiale ein historischer Lernprozess ausdrücken, der mit der damit gemachten Erfahrung von Ohnmacht dem autologischen Selbst die Verwiesenheit auf seine Umwelt zugänglich macht.

4.

Der Tod der Gemeinschaft

In seinem zeitkritischen Buch Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland (1971) hat Ernst Forsthoff anhand der Ausgestaltung des Rechtsstaats als Sozialstaat eine „Ausdehnung der staatlichen Kompetenzen in den gesellschaftlichen Bereich“ beschrieben, die zwar eine „Intensivierung der Staatlichkeit“ darstellt, tatsächlich aber als ein „Symptom der Schwäche“ gedeutet werden 93

94 95

Ernst Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie, Berlin 1866, Bd. 2, S. 286. Zur Geschichte des ökologischen Wissens vgl. Benjamin Bühler: Zukunftsbezug und soziale Ordnung im Diskurs der politischen Ökologie, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2 (2009), S. 35–44. Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 72), S. 51. Ebd. S. 606.

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muss, insofern „der Staat lediglich als Nothelfer in Situationen gerufen und akzeptiert wird, welche die Gesellschaft mit eigenen Kräften nicht bewältigen kann“.96 Bei seinem Plädoyer für eine Rückführung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft auf deren dialektische Unterscheidung im Sinne Hegels lässt Forsthoff keinen Zweifel daran, dass die zukünftige „Überlebenschance des Staates in der hergebrachten Struktur“ davon abhängt, ob der Staat in der Lage sein wird, wieder eine „reale, souveräne Macht“ zu sein: „[...] es bedarf eines Staates, dessen Selbstverständnis sich nicht darin erschöpft, ein perfekter Rechtsstaat zu sein. Ein solcher Staat braucht nicht aufzuhören, ein Rechtstaat zu sein, sondern die Rechtsstaatlichkeit würde er als Gewand verstehen, in das die Staatlichkeit als eine reale, souveräne Macht gekleidet ist.“97 Weil der moderne Rechtsstaat, im Sinne eines Ordoliberalismus verstanden, seine Legitimität von der Wirtschaft empfängt, insofern seine Zuständigkeit vor allem darin gesehen wird, auf die Einhaltung der „Spielregeln“ zu achten,98 reicht es für Forsthoff nicht aus, allein den Sozialstaat als „Nothelfer“ zurückzuweisen, um die Erosion des Staates in seiner „hergebrachten Struktur“ aufhalten zu können. Vielmehr muss die Grundlage des Staates, bevor er sich als Rechtsstaat oder gar Sozialstaat versteht, in einer „staatsbürgerlichen Verpflichtung“ bestehen, die aus einer am „Eigeninteresse orientierten Rationalität“ nicht ableitbar ist: „Je freiheitlicher ein Staat verfaßt ist, umso mehr ist er darauf angewiesen, daß der Gehorsam aus bejahter staatsbürgerlicher Verpflichtung jedes Einzelnen geleistet wird. Damit wird die Leistung des Gehorsams zu einem sittlichen Vorgang.“99 Dagegen erhält der moderne Staat der Industriegesellschaft seine Stabilität von der Stabilität der Industriegesellschaft, die keine „Tugenden im alten Sinne“ mehr verlangt, sondern allenfalls noch deren „moderne Derivate wie Loyalität, Solidarität und Adaption“.100 Weil der status des Staates nicht mehr aus sich selbst heraus verständlich ist und nicht mehr die spezifische Sphäre des „allgemeinen Lebens“ der Einzelnen im Sinne Hegels verkörpert, sondern deren „besonderer Befriedigung“ zu dienen hat, wächst mit der Ausdehnung der staatlichen Kompetenzen auch die Abhängigkeit des Staates von der Industriegesellschaft, sodass alle Risiken der Industriegesellschaft unmittelbar auch staatliche Risiken darstellen: „Damit hat die Krisenanfälligkeit des Staates eine neue Dimension ange96

97 98

99 100

Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971, S. 24. Zur verfassungsrechtlichen Diskussion um die Konstruktion des vermeintlichen Gegensatzes zwischen „freiheitschützender Rechtsstaatlichkeit“ und „teilhabeorientiertem Sozialstaat“ vor allem mit Wolfgang Abendroth vgl. Christoph Möllers: Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 2008, S. 40ff. Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft (Anm. 96), S. 46f. Vgl. dazu Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, übers. v. Jürgen Schröder, hg. v. Michel Sennelart, Frankfurt/M. 2004, S. 112–224 (hier: S. 124), der im Kontext seiner Genealogie des Ordoliberalismus nicht nur von einer wirtschaftlich erzeugten „Legitimität für den Staat“ spricht, sondern auch von einem „politischen Konsens“, den die Wirtschaft generiert: „Sie erzeugt einen permanenten Konsens, einen permanenten Konsens all derer, die als Handelnde innerhalb der Wirtschaftsprozesse auftreten können. Handelnde, die Investoren, Arbeiter, Arbeitgeber und Gewerkschaften sind. Alle diese Wirtschaftspartner erzeugen, insofern sie dieses wirtschaftliche Spiel der Freiheit akzeptieren, einen Konsens, der ein politischer Konsens ist.“ Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft (Anm. 96), S. 51. Ebd. S. 47.

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nommen.“101 Um diese Abhängigkeit wenigstens verringern und den Staat auch dann widerstandsfähig machen zu können, wenn die Gesellschaft in eine Krise gerät, ist es deshalb nötig, gemeinschaftliche Grundlagen zu finden, die über das Eigeninteresse hinausgehen. Für die Frage nach einer politischen Ökologie sind die Überlegungen von Forsthoff deshalb interessant, weil er zu den Ersten gehört, die den „Schutz der Umwelt“ als ein Feld ansehen, auf dem ein Staat, der sich von den partikularen Interessen der Gesellschaft abhängig macht, zwangsläufig versagen muss.102 Obwohl der Schutz der Umwelt nach der Meinung der Mehrheit zu den allgemeinen Interessen gehört, zeigt dessen Vernachlässigung für Forsthoff, dass die „demokratischen Grundsätze“ nicht ausreichen, um den Staat auf diesem existentiell wichtigen Feld zum Handeln zu befähigen: „Nach demokratischen Grundsätzen erscheint die Annahme als zwingend, daß die Realisationschance eines Interesses umso größer ist, je zahlreicher diejenigen sind, die an diesem Interesse Anteil haben, und daß ein Interesse Aller die sicherste Gewähr alsbaldiger Verwirklichung haben muß. Diese Annahme wird von der Wirklichkeit widerlegt.“103 Als hervorragendes Beispiel für diese Widerlegung durch die Wirklichkeit nennt Forsthoff die „Forderung nach Reinhaltung der Gewässer und der Luft“, die von keinem „organisierten gesellschaftlichen Patron“ erfüllt werden kann und für die sich daher der Staat verantwortlich zeigen muss. Neben den traditionellen Argumenten der Verantwortlichkeit für die Sicherheit des Gemeinwesens taucht hier also der „Schutz der Umwelt“ als eine neue Argumentationsquelle für einen starken Staat im Sinne Hegels auf, der aus dem Grund in der Lage ist, die Allgemeininteressen zu vertreten, weil er seine Existenz nicht ausschließlich der Gesellschaft zu verdanken hat. Weil die Gesellschaft nicht allein aus ihren Einzelinteressen heraus ihren dauerhaften Bestand sichern kann, sondern auf ihre Beschützung durch den Staat angewiesen ist, kann umgekehrt der so verstandene Staat auch nicht aus den Einzelinteressen der Gesellschaft abgeleitet werden. Aus diesem Grund ist das Defizit des Staates beim Schutz der Umwelt, obwohl es sich um ein Allgemeininteresse handelt, zugleich ein Defizit des Staatsverständnisses, das den Staatswillen allein auf „demokratische Grundsätze“ zurückführt. Um die verloren gegangenen gemeinschaftlichen Grundlagen des Staates wiederfinden zu können, muss der Schutz der Umwelt als ein Interesse verstanden werden, „das sich der Staat zueigen machen muß, der für die Wohlfahrt Aller verantwortlich ist und – in der gegenwärtigen Lage, in der sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft befindet – sich gerade derjenigen Interessen annehmen sollte, die keinen organisierten gesellschaftlichen Patron haben, der sich für ihre Realisierung einsetzt“: „Es liegt in der Natur der Sache, daß ein 101 102

103

Ebd. S.57. Zur historischen Diskussion zum „Umweltgrundrecht“ vgl. Michael Kloepfer: Zum Grundrecht auf Umweltschutz, Berlin/New York 1978, S. 10: „Gerade die starke Regierungsbeteiligung an der Forderung nach einem Umweltgrundrecht machen den Staatsrechtler außerordentlich sensibel und vorsichtig, denn sein professioneller Ansatz ist die Sicht der Verfassung auch als festgeschriebenes Mißtrauen gegen die Regierung. Er wird deshalb bei den exekutiven Forderungen nach einem Umweltgrundrecht nicht ohne Bedenken fragen, ob hier die Regierung wirklich sich selbst im Sinne des traditionellen Grundrechtsdenkens zusätzliche verfassungsrechtliche Beschränkungen auferlegen oder ob sie sich in Wahrheit nicht neue Handlungsbefugnisse verschaffen will.“ Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft (Anm. 96), S. 25.

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Interesse so allgemeiner Art mit partikularen Interessen in Widerspruch tritt.“104 – Bei seiner Erneuerung der traditionellen Argumentation für einen starken Staat im Angesicht der ökologischen Krise kommt Forsthoff entgegen, dass sich die Semantik des Schutzes, die in der traditionellen Argumentation eine zentrale Rolle spielt, mit der Semantik des Umweltschutzes berührt, auch wenn sich der Schutz dabei nicht unmittelbar auf das Gemeinwesen bezieht, sondern über den Schutz der Umwelt vermittelt ist. Denn was geschützt werden muss, ist nicht in erster Linie die Umwelt im Sinne eines „Eigenwerts der Natur“,105 sondern ein politisches Gemeinwesen, das in der „gegenwärtigen Lage, in der sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft befindet“, nicht im Stande ist, die nötige Sicherheit angesichts der selbst produzierten Risken zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum der Umweltschutz für Forsthoff genau den „Ernstfall“ darstellen kann, auf dessen Vergessen aus seiner Sicht ein politisches Gemeinwesen beruht, dessen Verfassung sich vor allem auf die Industriegesellschaft ausrichtet und damit eine „Kluft zwischen Ernstfall und Bürgerdasein“106 geschaffen hat. Weil an die Stelle der „staatsbürgerlichen Verpflichtung“, die jeden Einzelnen in der Doppelung von Staatsbürger und Privatbürger über sein unmittelbares Interesse hinaus im „Ernstfall“ an einen über der Gesellschaft stehenden Staat gebunden hat, eine Bedarfsstruktur getreten ist, die den Staat zum Objekt macht und lediglich noch „Normalitätsstörungen“ kennt, kann der „Staat ohne Ernstfall“ auch kein handelndes Subjekt mehr sein: „Staaten ohne Ernstfall werden sich damit bescheiden müssen, nicht mehr Subjekt, sondern nur noch Objekt dieses Geschehens zu sein. Mit diesem Schicksal steht die Bundesrepublik nicht allein.“107 Auch wenn die ökologische Krise für Forsthoff eine existentielle Situation darstellt, die es zwingend erfordert, mittels der Rückgewinnung von „Tugenden im alten Sinne“ die Hoheit des staatlichen Handelns wieder zu erlangen, so sind diese Tugenden gerade nicht durch die Krise gewonnen, sondern einer Tradition der politischen Willensbildung entnommen, deren imaginäre Zentrierung sich dadurch auszeichnet, dass sie keinen Zugang zum Umweltproblem gewährt. Weil aus dieser Sicht gar kein Eigenwert der Natur als das andere des Sozialen in den Blick kommen kann, empfängt der „sittliche Vorgang“, den Forsthoff im Angesicht der ökologischen Krise einklagt, seine Sittlichkeit nicht aus der ökologischen Krise, sondern aus der bedrohten Selbstidentität des Kollektivs. Ein starker Staat, der es ermöglichen soll, den Umweltschutz als ein Allgemeininteresse zu bewerkstelligen, ist gerade aufgrund seiner Stärke dazu nicht in 104 105

106 107

Ebd. S. 26. Vgl. dazu Jürgen Trittin: Ökologischer Materialismus. Wie die Natur politisch wird, in: Polar. Zeitschrift für politische Philosophie und Kultur, Heft 6 (2009), S. 15–19 (hier: S. 19), der die ökologische Problematik von der Frage nach einem „Eigenwert der Natur“ abgrenzt und ebenso wie Forsthoff zum Anlass nimmt, traditionelle Perspektiven politischer Argumentation zu aktualisieren, wobei es sich im Unterschied zu Forsthoff in diesem Fall um die marxistische Tradition handelt: „Ein materialistisches Vokabular aus Ressource, Nahrung, Lebensfähigkeit, Gesundheit und Wohlstand reicht aus, um ökologische Politik zu begründen. Es geht dabei um harte materielle Interessen und ihren Ausgleich. Ökologische Politik fällt daher heute zusammen mit der urlinken Forderung nach globaler materieller Gerechtigkeit.“ Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft (Anm. 96), S. 59. Ebd. S. 60.

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der Lage, weil er seine Verwiesenheit auf die Umweltproblematik nicht zur Kenntnis nehmen kann. Denn die „reale, souveräne Macht“, die ihn zum Handeln befähigen soll, bezieht ihre Stärke aus einer durch den „Ernstfall“ gewonnenen Selbstidentität, während der evolutionäre Lernprozess, der die Beziehung zur Umwelt als entscheidenden Faktor der Ordnungsstiftung zur Geltung bringt, einer vorgängigen Erfahrung von Ohnmacht geschuldet ist. Der Widerspruch, der den wünschenswerten Entschluss kennzeichnet, den zerstörerischen Tendenzen bezüglich der Lebensgrundlagen der modernen Gesellschaft endlich Einhalt gebieten zu wollen, wird besonders deutlich anhand der „Tugenden im alten Sinne“, auf die Forsthoff im Anschluss an die Auffassung der Sittlichkeit bei Hegel abzielt, zu deren „wichtigsten Pflichten“ die Aufopferung für das Kollektiv gehört.108 Denn für Hegel ist es keine Frage, dass nur derjenige als vollwertiges Mitglied der staatsbürgerlichen Gemeinschaft gelten kann, der bereit ist, im entscheidenden Moment seine „besondere Befriedigung“ zurückzustellen und das „Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte“ zu machen, das heißt, im Extremfall sein Leben zu opfern. Für Hegel zeichnet sich die moderne Sittlichkeit im aktualisierenden Rückgriff auf Platon und Aristoteles dadurch aus, dass der „öffentliche Mut“ angesichts der „Gefahr des Todes“, der nötig ist, um die Unabhängigkeit des Gemeinwesens zu gewährleisten, kein Privileg eines abgesonderten Standes mehr ist, sondern jedem Staatsbürger abverlangt werden muss, der ansonsten als Einzelner im Sinne von bourgeois eine „politische Nullität“ wäre.109 Im Unterschied zu der auf Einzelnes gerichteten Arbeit der „Privatleute“ handelt es sich bei der Arbeit im Zeichen der Allgemeinheit um eine solche Arbeit, „die nicht auf das Vernichten einzelner Bestimmtheiten geht, sondern auf den Tod, und deren Produkt ebenso nicht Einzelnes, sondern das Sein und die Erhaltung des Ganzen der sittlichen Organisation ist“.110 – In diesem Sinne versteht auch Forsthoff die „staatsbürgerliche Verpflichtung“, die durch die Vergegenwärtigung des „Ernstfalls“ wieder erlangt werden soll, wobei es darauf ankommt, diese Perspektive nicht allein einem aus gegenwärtiger Sicht übertriebenen Patriotismus zuzurechnen, sondern zu verstehen, warum die Anbindung an das Kollektiv über den „freien gewaltsamen Tod“ unmittelbar mit der Vorstellung zusammenhängt, dadurch die Erhaltung des „Ganzen der sittlichen 108

109

110

Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Anm. 78), S. 421: „Von Quäkern, Wiedertäufern usf. kann man sagen, daß sie nur aktive Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sind und als Privatpersonen nur im Privatverkehr mit anderen stehen, und selbst in diesem Verhältnis hat man ihnen den Eid erlassen; die direkten Pflichten gegen den Staat erfüllen sie auf eine passive Weise, und von einer der wichtigsten Pflichten, ihn gegen Feinde zu verteidigen, die sie direkt verleugnen, wird etwa zugegeben, sie durch Tausch gegen andere Leistungen zu erfüllen. Gegen solche Sekten ist es im eigentlichen Sinne der Fall, daß der Staat Toleranz ausübt; denn da sie die Pflichten gegen ihn nicht anerkennen, können sie auf das Recht, Mitglieder desselben zu sein, nicht Anspruch machen.“ Vgl. dazu Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts, übers. v. Eva Gilmer, Andreas Hofbauer, Hans Hildebrandt u. Anne von der Heiden, Frankfurt/M. 2001, S. 133: „Absolute Negativität, das Risiko des Todes, der alle Anbindungen an einen bestimmten Inhalt durchtrennt, ist nicht länger das Privileg eines spezifischen Standes, sondern wird zum allgemeinen Recht und zur allgemeinen Pflicht jedes Staatsbürgers.“ G. W. F. Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, Werke, Bd. 2, S. 434–530 (hier: S. 489, S. 494).

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Organisation“ zu gewährleisten. Denn weil sich die Stärke des Kollektivs an seiner Unabhängigkeit bemisst, besteht die höchste Tugend dementsprechend in der Bereitschaft, sich für das Kollektiv aufzuopfern und dadurch seine Loslösung von allen konkreten Einzelheiten unter Beweis zu stellen, indem man ein „allgemeines Leben“ führt: „[...] denn in diesem Tode, als der Aufopferung der zweiten Natur, ist der Tod bezwungen; [...].“111 Wenn Forsthoff diese Tradition angesichts der ökologischen Krise zu aktualisieren versucht, dann wird vor dem Hintergrund dieser Opferbereitschaft, in der unter dem Titel der Freiheit die Selbstidentität sowohl des Kollektivs als auch des Einzelnen die stärkste Anschauung im „freien gewaltsamen Tod“ erhält, auf zugespitzte Weise deutlich, warum gerade die „Tugenden im alten Sinne“ nicht in der Lage sind, die Abhängigkeit des Sozialen von seiner Umwelt zu ihrem Ausgangspunkt zu machen. In der Opferbereitschaft als der höchsten Tugend wird der Zusammenhang der obsessiven Autologik mit der Erhöhung des Todes zum Herrensignifikant in der modernen politischen Philosophie offenbar. Während die ökologische Krise die zugrunde liegende Einheit des Sozialen in Frage stellt und die Bindung des menschlichen Schicksals an das Schicksal nichtmenschlicher Wesen in die Aufmerksamkeit rückt, markiert der „freie gewaltsame Tod“ den entscheidenden Fluchtpunkt einer Freiheit, die es dem Selbst allererst erlaubt, sich in die imaginäre Autologik seiner Selbstidentität einzuschließen und mit der Loslösung von allem Partikularen deutlich zu machen, dass auch das Kollektiv seinem Selbstverständnis nach von allem Partikularen losgelöst existiert. Dass ein starker Staat gerade aufgrund seiner Stärke nicht dazu in der Lage ist, die Umweltproblematik angemessen zu registrieren, weil damit seine eigenen Grundlagen in Frage gestellt sind, hängt insofern unmittelbar mit dem identitätslogischen Programm zusammen, bei dem die letzte Identität als eine Identität von Identität und Differenz verstanden werden muss.

5.

Die ökologische Bedrohung

In diesem Zusammenhang kann man die von Luhmann in Konkurrenz zum idealistischen Systemdenken vorgenommene Umstellung von Identität auf Differenz als eine logische Konsequenz verstehen, die nicht bloß auf theorietechnische Probleme reagiert, sondern deren problemgeschichtlicher Hintergrund auf das Paradigma der ökologischen Krise verweist. Denn mit der Umstellung auf Differenz verschwinden auch die identitätslogischen Auffassungen einer „nützlichen Negativität“,112 in deren Horizont der negative Ausgangspunkt der symbolischen Ordnung in eine Teleologie der Identität eingebettet bleibt, während das differenzlogische Programm es erlaubt, eine unaufhebbare 111 112

Ebd. S. 495. Peter Sloterdijk: Luhmann, Anwalt des Teufels. Von der Erbsünde, dem Egoismus der Systeme und den neuen Ironien, in: ders.: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt/M. 2001, S. 82–141 (hier: S. 87, S. 105f): „Die Konsequenzen aus diesem Ansatz reichen außerordentlich weit. Man greift sie am deutlichsten in der für Luhmann charakteristischen Wahl seiner Schlüsselunterscheidung: der von System und Umwelt – einer Differenz, die eben eine Relation bezeichnet, an der sich keine Seite für Eliminierungen eignet. In dieser ersten Distinktion ist ein Aufeinanderbezogen-Sein der Pole ausgesagt, dem man durch Reflexe des Wegräumens eines vermeintlich widersacherischen Teils nicht gerecht werden kann.“

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Beziehung als solche zum Ausgangspunkt zu machen. Die damit einhergehende Umkehrung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft ist insofern der Umstellung von Identität auf Differenz geschuldet, als die Gesellschaft ihre Einheit nun nicht mehr von der staatsbürgerlichen Gemeinschaft erhält, die im entscheidenden Moment des „Ernstfalls“ sichtbar wird, sondern von der differenzlogischen Beziehung zu ihrer Umwelt. Aus systemtheoretischer Perspektive kann es daher keine Gemeinschaft geben, die der Gesellschaft im Sinne einer letzten Identität zugrunde liegt.113 Weil die „zirkelhafte Geschlossenheit“ des Sozialen jetzt die Bedingung für dessen Offenheit darstellt, kann die Gemeinschaft der Gesellschaft nur dort aufscheinen, wo die dauerhafte Grenze zur Umwelt gezogen wird. Der Ort der Gemeinschaft wird gewissermaßen in die Umwelt des Systems verschoben, aus der das Soziale seine Einheit gewinnt. – Besonders deutlich wird dieser Umstand am „Problem des Todes“, von dem Luhmann sagt, dass es als das „wohl wichtigste Problem der Autopoiesis des Bewußtseins“ seitens einer Theorie selbstreferentieller Systeme nicht erfasst werden kann: „Den eigenen Tod kann man sich als Ende des Lebens vorstellen, nicht aber als Ende des Bewußtseins. [...] Alle Elemente des Bewußtseins sind auf Reproduktion des Bewußtseins hin angelegt, und dies Undsoweiter kann ihnen nicht abgesprochen werden, ohne daß sie ihren Charakter als Element des autopoietischen Reproduktionszusammenhanges verlören.“114 In Analogie zur evolutionären Reproduktion der Gesellschaft, die auf kein télos mehr ausgerichtet ist, kann es auch in der Reproduktion des Bewusstseins „kein zukunftsloses Element“ geben, „weil ein solches Endelement nicht die Funktion eines autopoietischen Elements übernehmen, also nicht Einheit sein, also nicht bestimmbar sein könnte“. Nicht der „freie gewaltsame Tod“, um den sich das symbolische Gesetz der Freiheit bei Hegel anordnet, kann daher der Fluchtpunkt dieser Autologik sein, sondern allein die zukünftige Möglichkeit fortgesetzter Reproduktion: „Der Tod ist kein Ziel. Das Bewußtsein kann nicht an ein Ende gelangen, es hört einfach auf. Wenn es also neben der Einheit der Autopoiesis eine ‚zweite Einheit‘ der Totalität des Bewußtseins gibt, dann kann es nur diese unakzeptierte Einheit des Todes sein, nämlich die in jeder Erneuerung des entschwindenden Bewußtseins mitlaufende Möglichkeit, daß es aufhört.“115 Während in den Fassungen des Menschen als politikòn zôon die Bereitschaft, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, unmittelbar mit der Erfahrung von Freiheit verknüpft wird, erscheint mit dem Verschwinden des Primats des Politischen im Sinne solcher Fassungen zugunsten der Beziehung des Sozialen zu seiner Umwelt bei Luhmann die Freiheit als eine Größe, die sich allein den Spielräumen bei der jeweiligen Umweltanpassung verdankt. Nicht die Todesbeziehung ist in letzter Hinsicht die Quelle der Freiheit, sondern vielmehr die Möglichkeit, den nächsten Schritt zu tun: „Das Bewußtsein kann sich selbst also nicht 113

114 115

Vgl. Michael Opielka: Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons, Wiesbaden 2006, S. 352–388 (hier: S. 376), dessen Antwort auf die im Rahmen der KommunitarismusDebatte formulierte Frage, „was Luhmanns Systemtheorie in Bezug auf Gemeinschaft, sei es im kommunikativen, sei es im metakommunikativen-legitimativen Sinn, beizutragen hat,“ nicht zuletzt deshalb äußerst kritisch ausfällt, weil der Gemeinschaftsbegriff im Sinne einer Zusammengehörigkeit sozialer Gruppen hier ganz der humanistischen Tradition verhaftet bleibt. Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 72), S. 374. Ebd. S. 375.

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wirklich als beendbar wissen und spricht sich daher, weithin mit Erlaubnis der Gesellschaft, ewiges Leben zu, nur von allen bekannten Inhalten abstrahierend.“116 An die Stelle sowohl von religiösen als auch von staatlichen Verwaltungen der Grenze von Leben und Tod tritt damit eine durch den Evolutionsprozess geleistete Selektion, bei der es keinen aktiven Todesbezug mehr gibt, zumindest nicht im Sinne einer „Aufopferung der zweiten Natur“, die den Tod bezwingen soll, sondern nur noch einen Abbruch zukünftiger Reproduktion und damit der Möglichkeit, den nächsten Schritt zu tun.117 – Weil mit dem „neuartigen Individualismus“, dessen historische Karriere sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert beobachten lässt, der Tod weitgehend „privatisiert“ wird, rückt auch die Verbindung von Tod und Gemeinschaft zunehmend in den Hintergrund: „Je individueller ein psychisches System sich begreift und die eigene Autopoiesis reflektiert, desto weniger kann es sich ein Weiterleben nach dem Tode vorstellen und desto unvorstellbarer wird ineins damit der letzte Moment des Bewußtseins.“118 Mit der Abschiebung der „organisch-psychischen Einheit Mensch“ in die Umwelt im systemtheoretischen Sinne wird der Tod zur Angelegenheit eines umweltlich begegnenden Körpers, zu dem das Bewusstsein keine andere Beziehung haben kann als die differenzlogische Beziehung, die das Soziale insgesamt zu seiner Umwelt hat. In der zunehmenden Privatheit des Individuums spiegelt sich auch die zunehmende Privatheit seines eigenen Todes wider, sodass die Todesbeziehung keinen Ansatzpunkt mehr für Gemeinschaftserfahrung und die entsprechenden Ritualisierungen der Todespassagen hergibt: „Auch Kommunikation hilft dann nicht über das Unvorstellbare hinweg. Sie überläßt es sich selbst.“119 Weil das Soziale aus systemtheoretischer Perspektive nicht mehr als ein Zusammensein von Personen aufgefasst wird, sondern jedes Individuum in die Privatheit seiner Autopoiesis eingeschlossen ist, berühren sich die Individuen ebenfalls nicht entlang ihrer Sterblichkeit und sind auch in Gesellschaft stets allein: „Härter kann die Differenz von sozialem System und psychischem System kaum zur Geltung gebracht werden. Weder die Präsenz der laufenden Selbstkontinuierung noch die darin immer mitlaufende Möglichkeit des jederzeitigen Endes, weder die positive noch die negative Einheit der eigenen Autopoiesis kann dem psychischen System vom sozialen System garantiert oder gar abgenommen werden.“120 Man kann in dieser vermeintlich deskriptiven Auffassung selbst wiederum ein Symptom politisch-ökonomischer Privatisierung sehen, deren interessegeleitetes Ziel darin besteht, den politischen Raum der Öffentlichkeit so weit als möglich zurückzudrän116 117

118 119 120

Ebd. S. 375. Zur Verschiebung des Todesbegriffs bei Darwin vgl. Petra Gehring: Theorien des Todes, Hamburg 2010, S. 123–129 (hier: S. 126f): „Darwin kreiert eine Evaluationsperspektive, die den individuellen Tod gleichsetzt mit allen anderen Ereignissen, die für die Entwicklung der Art denselben Effekt haben. Es zählt die funktionale Äquivalenz. Hierzu passt Darwins auffälliger Sprachgebrauch, dem zufolge die Individuen einer Art nur ‚zerstört‘ werden und nicht sterben. Auf den Tod des einzelnen Merkmalsträgers wird derjenige Terminus übertragen, den Darwin verwendet, um den Untergang von Erbmerkmalen zu bezeichnen. Und so heißt der individuelle Tod nicht Tod.“ Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 72), S. 376. Ebd. S. 376. Ebd. S. 376.

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gen.121 Die Überführung jeglicher Gemeinschaftserfahrung zugunsten gesellschaftlicher Individualisierung wäre dann nicht nur ein historischer Umstand, dessen soziale Dynamik es zu konstatieren gilt, sondern ein politisches Vorhaben, das bestimmten Interessen zugute kommt. Trotz dieser berechtigten Kritik lässt sich der systemtheoretischen Perspektive jedoch gerade im Hinblick auf die radikale Verabschiedung der humanistischen Tradition eine implizit politische Dimension abgewinnen, die allererst im Zuge dieser Verabschiedung sichtbar werden kann und in der semantischen Doppeldeutigkeit des Umweltbegriffs zum Ausdruck kommt. Denn obwohl der evolutionstheoretische Ansatz nicht mehr um den Tod des Individuums und dessen Opferbereitschaft zentriert ist, sondern um die zukünftige Fortsetzung der Reproduktion, so lässt sich die damit einhergehende Abschiebung der Todesbeziehung in die Umwelt des Systems auch in dem Sinne verstehen, dass sich die Todesdrohung unter den Bedingungen der ökologischen Krise weg vom einzelnen Individuum auf die gesamte Art verschiebt. – In seinem Buch Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? (1986), in dem es um die Frage geht, ob eine „funktional ausdifferenzierte“ Gesellschaft im Unterschied zu einer „rituell regulierten“ Gesellschaft überhaupt in der Lage ist, auf ihre eigene ökologische Gefährdung angemessen zu reagieren, schreibt Luhmann: „Die Gesellschaft kann sich ökologisch nur selbst gefährden. Damit ist nicht nur gemeint, daß sie selbst die Umwelt so verändert, daß dies für die Fortsetzung gesellschaftlicher Reproduktion auf heutigem evolutionären Niveau Folgen hat. Entscheidend ist vor allem, daß die Gesellschaft Kommunikation nur durch Kommunikation gefährden kann, wenn man von dem immer noch unwahrscheinlichen Fall einer radikalen Auslöschung allen menschlichen Lebens einmal absieht.“122 Aber genau dieser „unwahrscheinliche Fall“ ist der entscheidende Fall, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an die vorderste Stelle imaginierbarer Bedrohungsszenarien aufrückt und dem gerade aufgrund seiner bis dahin undenkbaren Absolutheit auch eine entsprechende Einigungskraft zugetraut wird.123 Die Möglichkeit einer „radikalen Auslöschung menschlichen Lebens“ wird dabei hinsichtlich ihrer Imaginierbarkeit nicht 121

122 123

Zu dieser Diskussion vgl. Colin Crouch: Postdemokratie, übers. v. Nikolaus Gramm, Frankfurt/M. 2008, S. 101–147 (hier: S. 101), der mit der Kommerzialisierung von Öffentlichkeit einen unmittelbaren Verlust an demokratischer Partizipation gegeben sieht: „Die Idee, aber auch die praktische Umsetzung des öffentlichen Dienstes und des Wohlfahrtsstaates, die während des 20. Jahrhunderts verfolgt wurden, war ein wesentlicher Bestandteil der Demokratisierung von Politik.“ Zum funktionalen Begriff von Öffentlichkeit, der nicht in erster Linie auf demokratische Partizipation, sondern auf Stabilität des politischen Systems bei gleichzeitiger Flexibilität abstellt, vgl. Niklas Luhmann: Öffentliche Meinung und Demokratie, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.): Kommunikation, Medien, Macht, Frankfurt/M. 1999, S. 19–34. Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Wiesbaden 2008, S. 45. Vgl. dazu Norbert Elias: Wandlungen der Wir-Ich-Balance (1987), in: ders.: Die Gesellschaft der Individuen, hg. v. Michael Schröter, Frankfurt/M. 2003, S. 209–315 (hier: S. 302), der im Rahmen seiner Frage nach den historischen Kollektivbildungen von der Sippe bis zum Nationalstaat die umfassendste Ebene der „Menschheit“ mit der Möglichkeit der Auslöschung der menschlichen Existenz verknüpft: „Zu den Merkwürdigkeiten der gegenwärtigen Lage gehört unter anderem die Tatsache, daß auch auf dieser Ebene das Wir-Bild, die Wir-Identität der meisten Menschen hinter der Realität des tatsächlichen Integrationsniveaus herhinkt; das Wir-Bild bleibt weit hinter der

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zuletzt durch eine evolutionstheoretische Sicht stark begünstigt, wie Luhmann selbst in seinem Aufsatz Ökologie des Nichtwissens (1992) ausführt: „Die Evolution hat immer schon in hohem Maße selbstdestruktiv gewirkt. Kurzfristig und langfristig. Wenig von dem, was sie geschaffen hat, ist erhalten geblieben. Das gilt für die Mehrzahl der einst vorhandenen Lebewesen.“ Und ganz im Sinne der klassischen Evolutionstheorie, die den Todesbegriff im Unterschied zum Verschwinden der Individuen für das Aussterben von Arten reserviert, wird auch bei Luhmann aus dem „unwahrscheinlichen Fall einer radikalen Auslöschung allen menschlichen Lebens“ zuletzt ein wahrscheinlicher: „Es ist nicht auszuschließen, ja, genau betrachtet, wahrscheinlich, daß die Menschen als Lebewesen wieder verschwinden werden. Vielleicht werden sie sich selbst durch genetisch überlegene, humanoide Lebewesen ersetzen. Vielleicht werden sie ihre Gattung durch selbsterzeugte Katastrophen dezimieren oder auslöschen.“124 Indem die von Luhmann systemtheoretisch adaptierte Evolutionstheorie den Blick weg von Fragen nach dem Ursprung der Gesellschaft hin zu Fragen nach der Antizipation ihrer Reproduktion lenkt, wird dieser Blick keineswegs bloß deskriptiv wirksam, sondern bringt auch einen neuen Gegenstand theoretischer Überlegungen hervor, nämlich den möglicherweise drohenden Tod der Gesellschaft. Dieses Bedrohungsszenarium überschreitet den theoretischen Rahmen der in der modernen Philosophie eingeübten Perspektive auf „Binnenprobleme des Gesellschaftssystems“, insofern „nicht mehr das andere Individuum die primäre Quelle gesellschaftlicher Unsicherheit ist, sondern der ökologische Kontext, in dem das Gesellschaftssystem evoluiert“: „Alle Sozialformen sind jetzt zusätzlich mit der Unsicherheit belastet, daß man nicht (oder jedenfalls: nicht hinreichend) wissen kann, welche Auswirkungen gesellschaftliche Kommunikation auf die gesellschaftliche Umwelt und damit indirekt auf die Möglichkeit der Fortsetzung gesellschaftlicher Kommunikation haben wird. Dagegen kann man sich nicht durch Verträge absichern.“125 Mit der Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Sozialen auf dessen Beziehung zur Umwelt werden die theoretischen Instrumente, mit denen das soziale Verhältnis von ego und alter erfasst wird, dann unbrauchbar, wenn unter alter keine spiegelbildliche Position mehr, wie es in den modernen Vertragstheorien stets der Fall ist, verstanden werden kann.126 Auch wenn Luhmann den ökologischen Bewegungen vor allem hinsichtlich ihres ethischen Anliegens mehr als skeptisch gegenüber stand,127 so scheint sein systemtheoretischer Ansatz trotzdem

124 125 126

127

Realität der globalen Interdependenzen, also auch der möglichen Zerstörung des gemeinsamen Lebensraumes durch einzelne Menschengruppen zurück.“ Niklas Luhmann: Ökologie des Nichtwissens, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Wiesbaden 2006, S. 149–220 (hier: S. 149). Ebd. S. 191. Zur „Nichtigkeitserklärung“ der Natur im klassischen Gesellschaftsvertrag vgl. Michel Serres: Der Naturvertrag, übers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt/M. 1994, S. 63ff. Vgl. dazu auch Leander Scholz: Der Mythos von der schöpferischen Menge. Zum Problem des Ursprungs in der Vertragstheorie, in: Michael Cuntz/Ilka Becker/Astrid Kusser (Hg.): Unmengen. Szenen verteilter Handlungsmacht, München 2008, S. 373–387. Vgl. Niklas Luhmann: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hg. v. Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt/M. 1996, insbesondere die beiden Beiträge Systemtheorie und Protestbewegungen. Ein Interview (1994) und Protestbewegungen (1995), S. 175–200, S. 201–215.

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auf diese Problematik zu reagieren, insofern sich dessen kommunikationstheoretischer Einsatz zwar dem klassischen Verständnis von ego und alter verdankt, das im Kern auf eine Interaktion zwischen anwesenden Personen zurückgeführt werden kann, die entscheidende Leitunterscheidung von System und Umwelt jedoch dem Umstand geschuldet ist, dass der andere nicht mehr zum Arsenal der Anthropologie gehört. Dass die beiden „ineinander verschachtelten Umwelten“, zu denen Luhmann anmerkt, die „ökologische Perspektive“ sei nicht in der Lage, sie angemessen zu unterscheiden,128 auch in seinem eigenen Werk terminologisch nicht eindeutig getrennt werden, entspricht insofern der Überschreitung des anthropologischen Blickfelds, als das Problem schließlich darin besteht, dass bei einer Umwelt, die „alles andere“ umfasst, zwischen menschlichen und außermenschlichen Einflussfaktoren niemals hinreichend klar unterschieden werden kann. Gerade dieser problematische Übergang zwischen den beiden ehemals getrennten Zonen von Natur und Kultur, bei dem sowohl die Natur in den Bereich der Kultur einrückt, als auch die Kultur sich nicht mehr bloß negativ von der Natur absetzen kann, wird für eine evolutionstheoretische Perspektive zur dauerhaft gegebenen Ausgangslage einer „riskanten Verwicklung“ im Sinne des Komplexes einer „Natur/Kultur“, wie Latour ihn versteht. Denn in einem Punkt sind sich Latour und Luhmann auf signifikante Weise einig, nämlich dass es die ökologische Perspektive nicht nur mit einem gesteigerten Wissen über Umwelteffekte zu tun hat, sondern damit einhergehend mit einem ebenso gesteigerten Nichtwissen hinsichtlich zukünftig zu erwartender Kausalitäten. – Man kann daher nicht sagen, dass das ökologische Problem für die moderne Gesellschaft irgendwann gelöst werden sein wird. Vielmehr wird die unter der Hinsicht einer Umwelt zum Problem gewordene Natur zu einer dauerhaften Quelle politischer Ordnungsstiftung. Denn weil die „Planung und Steuerung in nichttrivialen (selbstreferentiellen) Organisationen“ nicht in der Lage ist, die „künftigen Zustände des Systems“ oder die „künftigen Beziehungen zwischen System und Umwelt“ im Vorhinein zu bestimmen, lautet die Botschaft einer „Ökologie des Nichtwissens“, die Probleme durch „Nichtlösen“ zu lösen: „[...] das heißt: sie als Moment der Autopoiesis des Systems durch laufende Zielsuche und durch ein Umdirigieren von Strukturen (Optimisten sagen: durch Lernen) zu erhalten. Je unlösbarer das Problem, desto größer sein Reproduktionswert.“129 Das mit der ökologischen Krise gegebene Bedrohungsszenarium, dessen Fluchtpunkt nun der Tod der Gesellschaft ist, ergibt sich dabei nicht nur aus den angenommenen Einwirkungen des Systems auf seine Umwelt, sondern darüber hinaus im Hinblick auf die Antizipation solcher Einwirkungen aus der evolutionären Perspektive selbst. Denn wenn man weiß, dass es sich nicht nur im Nachhinein um einen evolutionären Prozess gehandelt hat, sondern ebenfalls davon ausgeht, dass dies auch in Zukunft der Fall sein wird, dann geht es nicht nur darum, sich die Möglichkeit zu erhalten, den nächsten Schritt zu tun. Vielmehr muss dann diese Möglichkeit so in Betracht gezogen werden, dass sie zugleich auch die Möglichkeit eröffnet, daran noch weitere Schritte anschließen zu können.130 Das Thema der 128 129 130

Luhmann: Ökologie des Nichtwissens (Anm. 124), S. 163. Ebd. S. 208f. Vgl. dazu Reinhart Koselleck: Allgemeine und Sonderinteressen der Bürger in der umweltpolitischen Auseinandersetzung (1980), in: ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt/M. 2006, S. 516–526 (hier: S. 521),

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Antizipation, das im systemtheoretischen Ansatz von Luhmann unter dem Aspekt einer Temporalisierung des Sozialen eine zentrale Rolle spielt, lässt sich so vor dem Hintergrund der ökologischen Krise als Antwort auf die politische Frage entziffern, wie die Gesellschaft sich selbst durch ihren Umweltbezug auf Dauer stellt, wenn der Staat nicht mehr die Instanz ist, die dies zu leisten imstande ist.

6.

Abschied vom Willen

Während für Hegel der im Staat verkörperte Wille im Gegensatz zu den vielfältigen und allein schon aus diesem Grund unsittlichen Einzelwillen der Gesellschaft die entscheidende Garantie der Sittlichkeit abgibt, kann eine Gesellschaft, die ihre Einheit nicht mehr über den Staat, sondern durch ihren Umweltbezug gewinnt, die Endlichkeit ihrer vielfältigen Willensbildungen auch nicht mehr durch einen den unsittlichen Einzelwillen übergeordneten Staatswillen erfahren. In dem Moment jedoch, in dem an die Stelle sowohl von religiösen als auch von staatlichen Verwaltungen der Grenze von Leben und Tod ein evolutionärer Prozess tritt, bei dem der Todesbegriff in erster Linie für das Aussterben von Arten reserviert ist und bei dem es daher auf den ersten Blick keinen aktiven Todesbezug wie im Falle der „Tugenden im alten Sinne“ mehr zu geben scheint, verlagert sich allerdings auch die Verknüpfung von Todesbeziehung und Sittlichkeit vom Sozialen zum Umweltbezug dieses Sozialen. Das in die Umwelt des Systems abgeschobene Verhältnis von Tod und Gemeinschaft taucht unter der ökologischen Hinsicht einer bedrohten Gesellschaft insofern wieder aus dieser Umwelt auf, als der Umweltbezug jetzt selbst zu einer Quelle der Sittlichkeit wird. Deren Prinzipien können sich jedoch nicht mehr allein aus dem Binnenbereich des Sozialen und den traditionellen Symmetrievorstellungen sozialer Gerechtigkeit ergeben: „Es geht bei Moral und bei Ethik natürlich immer um eine soziale Regulierung; aber gerade deshalb wird man sich fragen müssen, ob sich die Bedingungen und Formen dieser Regulierung nicht ändern müssen, wenn sie auf einen Fremdbereich, auf nicht-soziale Problemquellen erstreckt werden soll.“131 Weil die ökologische Problematik sich mit den eingeübten theoretischen Instrumenten, die sich auf den Binnenbereich des Sozialen beziehen, nicht erfasst werden kann, gilt diese Unzulänglichkeit ebenfalls für die traditionellen Prinzipien der Sittlichkeit: „Wenn irgendwo, stellt jedoch in der ökologischen Kommunikation die Gesellschaft sich selbst in Frage; und es ist nicht einzusehen, wie die Ethik davon dispensiert und als Notanker mit festem Grund bereitgehalten werden könnte.“132 Was Luhmann demnach zurückweist, wenn er die Idee einer „Umweltethik“ nicht für ausreichend hält, um die „ganz neue Komplexitätsdimension“ der ökologischen Problematik bedenken zu können, betrifft in erster Linie derartige Versuche einer Regulierung des Sozialen, deren

131 132

der im „langfristigen Beweiszwang“, dem politische und ökonomische Entscheidungen ausgesetzt sind, das Spezifische der ökologischen Argumentation gegeben sieht: „Es ist geradezu ein Gradmesser für die Wichtigkeit ökologischer Argumente, daß sie ihre Evidenz aus der langfristigen und irreversiblen Folgewirkung heutiger politischer oder ökonomischer Entscheidungen ziehen.“ Luhmann: Ökologische Kommunikation (Anm. 122), S. 174. Ebd. S. 175.

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Prinzipien den klassischen „Bedingungen der Achtung bzw. Mißachtung“ einer „innersozialen Komplexität“ und nicht der „ökologischen Differenz“ geschuldet sind.133 Weil die „Struktur der Vernunft“ und die unterschiedlichen Fassungen der „Regel generalisierter Reziprozität“, wie sie im kategorischen Imperativ, in der Diskursethik oder einer Theorie der Anerkennung ausgearbeitet worden sind,134 vor allem auf „Probleme der sozialen Verständigung“ ausgerichtet sind, erscheinen diese „im historischen Rückblick“ daher als „rein gesellschaftsinterne Maximen“,135 die vor dem Problem der Ökologie versagen müssen. – In einem bemerkenswerten Satz, der eine geradezu programmatische Umkehrung der letzten Identität des identitätslogischen Denkens bedeutet, stellt Luhmann seinen differenzlogischen Ansatz explizit in den Horizont einer politischen Ökologie, wenn er bei seiner Antwort auf die Frage, woraus eine dem ökologischen Problem angemessene „Bemühung um Rationalität“ ihren Bezugshorizont gewinnen kann, die „ökologische Differenz“ als eine „Letztdifferenz“ bezeichnet: „Die hier versuchte Antwort lautet: aus dem Bezug auf die Letztdifferenz von System und Umwelt. Das heißt: aus der ökologischen Differenz.“136 Mit der Verschiebung von der „Leitdifferenz“ zur „Letztdifferenz“ scheint die systemtheoretische Perspektive in Luhmanns zweitem Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) nun unmittelbar mit der ökologischen Perspektive verknüpft zu sein, wenn der aktuelle Gegenstandsbereich der Soziologie wie folgt definiert wird: „Die Soziologie ist danach für eine bestimmte Systemreferenz zuständig, für das Gesellschaftssystem und dessen Umwelt. Sie kann sich nicht länger auf eine intrasoziale Perspektive beschränken. Ihr Thema ist die Gesellschaft und alles andere, sofern es von der Gesellschaft aus gesehen Umwelt ist. Eine systemtheoretische Grundlagenoption lenkt ihre Aufmerksamkeit auf die Erhaltung dieser Differenz von System und Umwelt.“137 Das Thema der „Erhaltung“ der Differenz von System und Umwelt, das zumindest latent an Forderungen nach Nachhaltigkeit im Umgang mit den Ressourcen der Natur erinnert, wird dabei von der Einsicht begünstigt, dass sich die soziale Evolution nicht umweltangepasst vollzieht: „Die Systemtheorie muss eine ihrer Lieblingsideen aufgeben, aus den kausalen Beziehungen zwischen System und Umwelt auf Anpassung 133

134

135 136 137

Vgl. dazu Peter Singer: Praktische Ethik, übers. v. Jean-Claude Wolf, Stuttgart 1984, S. 70–100 (hier: S. 70), dessen Ansatz zu den wenigen gehört, der über die soziale Binnenperspektive hinausgeht: „Ich schlage mit anderen Worten vor, daß wir, wenn wir das Prinzip der Gleichheit als eine vernünftige moralische Basis für unsere Beziehungen zu den Angehörigen unserer Gattung akzeptiert haben, auch verpflichtet sind, es als eine vernünftige moralische Basis für unsere Beziehungen mit Lebewesen außerhalb unserer Gattung anzuerkennen – den nichtmenschlichen Lebewesen.“ Zur intensiven Kontroverse zwischen Diskursethik und Systemtheorie vgl. Jürgen Habermas/Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt/M. 1971. Zu den historischen Hintergründen der Kontroverse vgl. Alex Demirovic: Demokratie, Politik und Staat in der transformistischen Gesellschaft. Vergleichende Anmerkungen zu den Gesellschaftstheorien Niklas Luhmanns und Jürgen Habermas‘, in: Kai-Uwe Hellmann/ Karsten Fischer/Harald Bluhm (Hg.): Das System der Politik: Niklas Luhmanns politische Theorie, Wiesbaden 2003, S. 336–357. Luhmann: Ökologische Kommunikation (Anm. 122), S. 94f. Ebd. S. 170. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/M. 1998, S. 129.

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des Systems zu schließen. Auch die Evolutionstheorie wird auf diesen Gedanken verzichten müssen. Systeme erzeugen durch operative Schließung eigene Freiheitsgrade, die sie ausschöpfen können, solange es geht, das heißt: solange die Umwelt es toleriert.“138 Mit dem deutlichen Subtext solcher Sätze gewinnt der systemtheoretische Bruch mit der humanistischen Tradition seinen konkreten historischen Sinn, nämlich die Aufmerksamkeit auf die „Erhaltung“ der Differenz von System und Umwelt und damit auf die sozialen „Freiheitsgrade“ zu lenken, die jederzeit durch die „ökologische Differenz“ bedingt sind. Luhmanns häufig geäußerte Skepsis hinsichtlich der Frage, ob die ökologischen Probleme in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, die über keine zentrale Instanz der Steuerung verfügt, überhaupt eine angemessene Resonanz finden können, wird so durch sein eigenes theoretisches Tun konterkariert. Denn gerade die durch den systemtheoretischen Ansatz geleistete Relativierung anthropologischer Motivationen beim Blick auf die Bedingungen des Sozialen zugunsten einer auf Funktionalität abstellenden Reproduktionslogik ermöglicht es allererst, dass deren ökologische Dimension in den Vordergrund rücken und zu einem theoriepolitisch derart wichtigen Thema werden kann.139 So lässt sich die oft als provokant wahrgenommene Diagnose der Systemtheorie, dass sich die jeweiligen Teilsysteme autopoietisch reproduzieren und damit nicht mehr im traditionellen Rahmen politischer Zwecksetzung kontrolliert werden können, rückblickend aus der ökologischen Perspektive auch in dem Sinne verstehen, dass mit dem Abbau anthropologischer Teleologien als dominantes Motiv allein das ökologische übrigbleibt. In dem Maße, in dem die Erzeugung von Dauer nicht mehr durch eine übergeordnete Instanz gewährleistet werden kann, wird diese zu einer entscheidenden Problematik der einzelnen Teilsysteme, die sich auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene als ökologische Problematik manifestiert. – So erscheinen die klassischen anthropologischen Grundbegriffe der Wirtschaftstheorie wie etwa Produktion, Tausch, Verteilung, Kapital oder Arbeit aus systemtheoretischer Perspektive nur noch als „derivative Sachverhalte“,140 wie Luhmann in seinem Buch Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988) schreibt. Was sich zunächst als Verselbständigung des Wirtschaftssystems gegenüber der anthropologischen Basis darstellen mag, ist für Luhmann bloß die Voraussetzung für die ökonomische Selbstreferenz: „Die Wirtschaft besteht aus unaufhörlich neuen Zahlungen. Würden keine Zahlungen mehr erfolgen, würde die Wirtschaft schlicht aufhören, als ausdifferenziertes System zu existieren. Ihre basalen Ereignisse stehen unter dem Zwang der Selbsterneuerung, und genau dies ist der Grund für die rekursive Geschlossenheit. Um selbst elementare Einheit sein zu können, muß die Zahlung sich auf andere Zahlung beziehen.“141 Die Befriedigung der Bedürfnisse, der Kampf um knappe Güter mögen am Anfang gestanden haben. 138 139

140 141

Ebd. S. 133. Vgl. dazu Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/ M. 1986, S. 300–374 (hier: S. 300, S. 313), für den hingegen die ökologische Krise unter dem Stichwort einer „Risikogesellschaft“ vor allem den Anlass einer „Selbstpolitisierung der industriegesellschaftlichen Moderne“ abgibt, um die „Halbierung der Demokratie“, die sich in der Spaltung von citoyen und bourgeois ausdrückt, zugunsten einer neuen „politischen Kultur“ zu überwinden, und der gerade darin einer noch gesteigerten Binnenperspektive des Sozialen verpflichtet bleibt. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1994, S. 55. Ebd. S. 52f.

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Aber aus systemtheoretischer Sicht vollzieht sich die ökonomische Autopoiesis entlang von Zahlungen, an die sich ganz unterschiedliche Motivationen sekundär anlagern können. Das heißt jedoch in letzter Konsequenz, dass gerade durch die Relativierung der als ursächlich verstandenen anthropologischen Basis die evolutionäre Zukunft der Anschlussmöglichkeiten von Zahlungen zum zentralen Motiv aufrückt. Auch hier bleibt als einziges télos die Abwehr eines drohenden Endes von Zahlungen und damit die „Erhaltung“ der Differenz von System und Umwelt übrig. In genau dem Moment, in dem die Evolution als Evolution verstanden wird, verändert sich die Sicht auf die Evolution dahingehend, dass sie als solche auch antizipiert werden muss. Diese gesteigerte Aufmerksamkeit auf die Zukunft, bei der die Einheit der Zeitstruktur selbst temporalisiert wird,142 hat Luhmann in seinem Buch Das Recht der Gesellschaft (1993) am Beispiel der Rechtsevolution als „Temporalisierung der Normgeltung“ beschrieben, was nicht nur meint, dass Normen veränderlich sind, sondern dass sie im Vorhinein als veränderlich verstanden werden: „Normen und die sie tragenden Geltungen werden nicht mehr in Konstanten der Religion oder der Natur oder einer unbefragten Sozialstruktur verankert, sondern als Zeitprojektionen erlebt und behandelt. Sie gelten ‚bis auf weiteres‘. Sie werden damit nicht nur als kontingent erfahren, sondern werden auch kognitiv empfindlich.“143 Dass die Normen des Rechts „kognitiv empfindlich“ werden, was nichts anderes als eine gesteigerte Interdependenz von gesellschaftlichen Entwicklungen bedeutet, ist aus systemtheoretischer Perspektive nicht nur dem Phänomen der Temporalisierung geschuldet, sondern dem diesem zugrunde liegenden Umstand, dass die Einheit des Rechts nicht mehr aus einem inneren Prinzip abgeleitet werden kann, sondern allein anhand der Unterscheidung des juridischen Systems von seiner Umwelt zu gewinnen ist. Zwar haben am Anfang des modernen Rechts universal gedachte Prinzipien gestanden, deren Aufstellung die Erklärung der Menschenrechte ermöglicht haben,144 aber die historische Ausdifferenzierung der juridischen Normen lässt sich nur entlang der systemischen Selbstreferenz verstehen und nicht anhand überrechtlicher Quellen etwa im Sinne eines Naturrechts oder eines Vernunftrechts: „Das Recht selbst bestimmt, was die Grenzen des Rechts sind; bestimmt also, was zum Recht gehört und was nicht. Damit verlagert sich der Punkt, an dem Meinungsverschiedenheiten ansetzen können, auf die Frage: wie das geschieht.“145 In diesem Sinne versteht Luhmann seinen eigenen Ansatz als eine theoretisch anspruchsvolle Aufarbeitung des „Rechtspositivismus“, wobei es nicht mehr um die Differenz von veränderlichem und unveränderlichem Recht 142

143 144

145

Vgl. Niklas Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 5: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S. 95–130 (hier: S. 129): „Die Unterscheidung aeternitas/tempus verliert ihren Ort in der Lebenswelt und damit ihren Sinn als duale Gesamtformel für die Zeit. Statt dessen wird die Differenz von Vergangenheit und Zukunft zum die Zeit beherrschenden Schema und zugleich die Zeit zu einem Welthorizont, den man nur von innen und nicht (wie von einer Position der Ewigkeit aus) von außen sehen kann.“ Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995, S. 557. Zur philosophischen Begründung der Menschenrechte vgl. Christoph Menke/Arnd Pollmann: Philosophie der Menschenrechte, Hamburg 2007. Vgl. die kritischen Einwände bei Detlef von Daniels: Eine unbezweifelbare philosophische Idee? Zu Menke/Pollmanns Philosophie der Menschenrechte, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 35. Jahrgang, Heft 2 (2010), S. 183–202. Luhmann: Das Recht der Gesellschaft (Anm. 143), S. 15.

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geht, sondern um eine Rechtsevolution, bei der Recht nur aus Recht hervorgehen kann. Die Auffassung der Einheit des Rechts im Sinne eines autopoietischen Systems mündet jedoch gerade nicht in einem „juristischen Solipsismus“,146 von dem Luhmann sich vor dem Hintergrund häufig geäußerter Kritik diesbezüglich abgrenzt. Sondern im Gegenteil, je weniger sich die Einheit des Rechts aus einem starken Prinzip ergibt, desto deutlicher kann dessen Umweltabhängigkeit trotz rekursiver Geschlossenheit seiner Reproduktionsbedingungen in den Vordergrund treten. Weil es auch für das Rechtssystem jenseits seiner evolutionären Kontinuität kein télos mehr gibt und sich das System von „Moment zu Moment“ und von „Operation zu Operation“ erhält, werden erst die Anstöße, die das System von außen erhält, als dessen entscheidende Evolutionsgründe sichtbar: „Das Rechtssystem ist, mit anderen Worten, auf Anstöße angewiesen, die vom Recht her gesehen als Zufall beschrieben werden müssen; und es wäre angesichts des Ausmaßes, in dem Prozeßausgänge von Faktenfragen (Beweisfragen) abhängen, eine Illusion, wollte man annehmen, das Recht könne die Anstoßabhängigkeit selbst steuern. Es ist in dieser Hinsicht zwar autonom im Sinne von operativer Geschlossenheit; aber es ist keine kybernetische Maschine, die, sofern sie nicht defekt ist, ihren eigenen Output als Input verwendet.“147 – Auch hier korrespondiert der Begriff der Umwelt, von deren problematischen Anstößen der Lerndruck des juridischen Systems ausgeht, mit dem Umweltbegriff der ökologischen Bewegungen, insofern dieser Lerndruck in letzter Hinsicht ein ökologischer ist, der die Rechtsevolution über die Binnenperspektive des Sozialen hinausträgt, sodass selbst der vermeintlich umfassendste Begriff der Menschheit, der in der modernen Rechtstradition spätestens seit dem Gesetzesdenken der Aufklärung eine äußerst zentrale Rolle spielt, kein allumfassender Begriff sein kann, von dem sich alle anderen ableiten lassen.148 Wie bei der Autopoiesis des Wirtschaftssystems sich die Motive für Zahlungen von ihrer anthropologischen Basis ablösen können, so können sich auch im Rechtssystem gegenüber den ursprünglich anthropologisch motivierten Rechtsprinzipien zunächst fremd erscheinende Normvorstellungen anlagern, wie es beim Umweltrecht der Fall ist, gerade weil das Rechtssystem in seiner Autopoiesis nicht mehr von einem starken Prinzip und dessen Einheitsstiftung beherrscht wird, sondern vielmehr außengeleitet erscheint. Für diese umweltbedingte Sicht auf das Rechtssystem hat Luhmann ein mehr als bloß metaphorisch gemeintes Bild angeführt, wenn er das Rechtssystem als „Immunsystem der Gesellschaft“ bezeichnet und dessen Regelbildung als „eine Art Antikörperbildung mit einer am Fall gewonnenen Spezifizität“ versteht: „Ein Immunsystem kommt ohne Kenntnis der Umwelt aus. Es registriert nur interne Konflik146 147 148

Ebd. S. 30. Ebd. S. 490. Zur Begriffsgeschichte der Menschheit, deren Einheitlichkeit in der Anthropologie des 18. Jahrhunderts aus der Distanz zu anderen Spezies gewonnen wird, vgl. Rudolf Stichweh: Fremde, Barbaren und Menschen. Vorüberlegungen zur einer Soziologie der ‚Menschheit‘, in: Peter Fuchs/ Andreas Göbel (Hg.): Der Mensch – das Medium der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1994, S. 72–91 (hier: S. 88): „Unter ökologischer Perspektive scheint es noch einmal (oder: erstmals) zu gelingen, ein Außen zu entdecken, das eine gemeinsame Außenbeziehung der Menschheit anzugeben erlaubt. Das verrät im übrigen, wie nahe der Begriff der Menschheit dem Begriff einer Spezies ist, weil aus ökologischer Sichtweise die Frage nach der Menschheit die Frage nach den (Über-)Lebensbedingungen einer unter den vielen Millionen die Erde bevölkernden Spezies ist.“

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te und entwickelt für fallweise auftretende Konflikte generalisierbare Lösungen, also mit Überschußkapazität für künftige Fälle. Statt die Umwelt zu erforschen, generalisiert es Erfahrungen mit sich selbst, die ihm als Anzeichen für unbekannt bleibende Störquellen dienen.“149 Gerade weil die Störquellen als solche unbekannt bleiben können, gibt es aus der Sicht einer „juridischen Immunologie“ keine Kluft zwischen menschlichen und außermenschlichen Störfaktoren, sondern nur derartige, die aus der Beziehung zwischen System und Umwelt resultieren, und das heißt zwischen „Recht und Gesellschaft und deren Umwelt“, sodass zur Umweltbeziehung des Rechts letztlich auch die Umwelt im ökologischen Sinne gehört. Auch wenn Luhmann sich an verschiedenen Stellen seines Werkes und insbesondere in seinem posthum erschienenen Buch Die Politik der Gesellschaft (2000) deutlich von der seit Aristoteles geläufigen Unterscheidung von oíkos und pólis abgesetzt hat, weil diese auf den Zusammenhang des Ganzen und seiner Teile ausgerichtete Unterscheidung es nicht ermöglicht, einen „Begriff für das umfassende System der Gesellschaft“150 zu gewinnen, kann man das differenzlogische Verständnis von System und Umwelt trotzdem als eine unter den Bedingungen der ökologischen Krise vorgenommene Aktualisierung der von Aristoteles ausformulierten Kontinuität zwischen natürlicher und politischer Teleologie auffassen.151 Damit ist jedoch nicht gemeint, dass sich Luhmanns systemtheoretischer Ansatz im Sinne politischer Ansätze zeitgenössischer „Neo-Aristoteliker“ verstehen ließe, denen Luhmann eine klare Absage erteilt, wenn er lapidar darauf hinweist, dass sich seit der Prägung der Unterscheidung von oíkos und pólis anhand des städtischen Zusammenlebens „vieles geändert“ habe.152 Dass man Luhmanns Ansatz mit Aristoteles in Verbindung bringen kann, ist in dem Sinne gemeint, in dem Hegel seine eigene Philosophie als moderne Aktualisierung der von Aristoteles formulierten Kontinuität zwischen natürlicher und politischer Teleologie begriffen hat. Während für Hegels Entfaltung dieser Kontinuität entlang der beiden Leitbegriffe Geist und Natur der Einbruch der Geschichte in die vermeintlich eindeutig interpretierbare Naturordnung den maßgeblichen Anlass der Aktualisierung abgibt, lässt sich für die systemtheoretische Aktualisierung dieses Zusammenhangs entlang der beiden Leitbegriffe System und Umwelt die ökologische Krise als die entscheidende Herausforderung ausmachen. Die Wiederkehr des Naturbegriffs unter der Hinsicht einer Umweltbeziehung wird dabei vom prinzipiellen Problematischwerden einer Naturinterpretation im Sinne einer „Ökologie des Nichtwissens“ getragen, sodass mit dem Verlust einer unmittelbar der Natur ablesbaren Teleologie folglich auch der Verlust einer politischen Teleologie einhergeht, die dem Zusammenhang von Natur und Kultur verpflichtet ist, und zwar auch dann, wenn dieser Zusammenhang im Sinne einer 149 150 151

152

Luhmann: Das Recht der Gesellschaft (Anm. 143), S. 567, S. 566. Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Frankfurt/M. 2002, S. 8. Zur damit einhergehenden Rechtfertigung des Sklavenstandes bei Aristoteles, die im Zentrum der neuzeitlichen Kritik einer von Natur aus gegebenen Ungleichheit stand, vgl. Pierre Pellegrin: Hausverwaltung und Sklaverei (I, 3–13), in: Otfried Höffe (Hg.): Aristoteles. Politik, Berlin 2001, S. 37–57. Vgl. auch die entsprechenden Passagen zum Sklavenstand bei Aristoteles: Politik, übers. u. hg. v. Franz F. Schwarz, Stuttgart 2003, S. 80–88 (I, 1253b–1255b). Luhmann: Die Politik der Gesellschaft (Anm. 150), S. 7.

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modernen Anthropologie begriffen wird. Während Hegel dem Einbruch der Geschichte in die vermeintlich eindeutig interpretierbare Naturordnung mit einer geschichtlich gefassten Teleologie begegnet, bei der sich der Geist aus der Natur herausarbeitet und dadurch zu sich selbst kommt, wird unter der evolutionären Perspektive von System und Umwelt der Zusammenhang von Natur und Kultur im Sinne des Komplexes einer „Natur/Kultur“ seinerseits geschichtlich und gerade dadurch einer geschichtlichen Teleologie der anthropologisch verstandenen Selbstaneignung entzogen. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum der Abwertung moderner Willenskonzepte bei Luhmann zwangsläufig die Aufwertung der Umweltbeziehung korrespondiert: Je schwächer und überforderter die Willensanstrengung intrinsischer Ordnungsstiftung erscheint, desto stärker muss die Ordnungsstiftung der Umweltbeziehung anheim gestellt werden.153 – Der dadurch bedingte Umbau von einer „zielorientierten Rationalität“ zu einer „zeitorientierten Reaktivität“, die Luhmann als eine „opportunistische, prinzipiell prinziplose Temporalisierung“154 sowohl diagnostiziert als auch empfiehlt, verdankt sich einem Lernprozess über die „Kausalvorstellungen politischen Handelns“, der jedoch in erster Linie durch die ökologische Problematik in Gang gesetzt worden ist. Denn was für die „Ökologie des Nichtswissens“ im Sinne des ökologischen Umweltbegriffs hinsichtlich feststellbarer Kausalitäten gilt, hat seine Gültigkeit ebenso für das politische System: „Die Politik kann ihre Umwelt nicht mehr nur im Schema festliegender Interessen wahrnehmen. Die Umwelt wird als chaotisch, als bestimmt durch nichtlineare Dynamiken und unberechenbare Wechselwirkungen erfahren.“155 Dieser Satz, der sich auf die soziale Umwelt des politischen Systems bezieht, könnte sich ebenfalls auf die Umwelt im ökologischen Sinne beziehen. Wie es in der Umwelt im ökologischen Sinne keinen Willen gibt, mit dem man rechnen und Verträge schließen kann, so gibt es auch in der Umwelt im sozialen Sinne „nichtlineare Dynamiken und unberechenbare Wechselwirkungen“, die sich nicht mehr durch einen „letztzuständigen Staat“ und einen entsprechend starken Staatswillen bewältigen lassen. Der systemtheoretisch verstandene Zusammenhang von natürlicher und politischer Teleologie erzwingt den Bruch mit derartigen politischen Ordnungsvorstellungen, die auf einem heute wie morgen gleichbleibenden Willen basieren, dessen Stärke die zeitimmanente Kontingenz überdauern soll.156 Die ontologische Einsicht der Systemtheorie, man könne nicht 153

154 155 156

Vgl. dagegen Helmut Willke: Staat und Gesellschaft, in: Klaus Dammann/Dieter Grunow/Klaus P. Japp (Hg.): Die Verwaltung des politischen Systems: neuere systemtheoretische Zugriffe auf ein altes Thema, Opladen 1994, S. 13–26 (hier: S. 26), der bei der Beantwortung der Frage, ob unter den Bedingungen einer „zentrifugalen Dynamik“ eine „vernünftige Identität moderner Gesellschaften“ möglich ist, noch einmal auf Hegel zurückgreift, wenn er den Staatswillen als eine „regulative Idee“ aufzufassen versucht, die als „internes Modell der Selbststeuerung“ die Selbstbindung des politischen Systems zu leisten hat: „Im Meer politischer Kontingenz repräsentiert die Idee des Staates die Notwendigkeit, welche zur Ordnung politischer Operationen unabdingbar ist, die aber nur noch virtuell als Selbstbindung und nicht mehr real als äußerer Zwang herstellbar ist.“ Luhmann: Die Politik der Gesellschaft (Anm. 150), S. 142f. Ebd. S. 143. Zur strategischen Depotenzierung des Willens und einer dementsprechend „postheroischen“ Klugheitslehre vgl. Dirk Baecker: Postheroisches Management. Ein Vademecum, Berlin 1994. Zur

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mehr davon ausgehen, dass „die Welt selbst schon kausal disponiert, etwa auf ein télos hin eingerichtet ist“,157 lässt sich daher auch so verstehen, dass sie originär der historischen Erfahrung einer problematisch gewordenen Beziehung von Welt und Umwelt im ökologischen Sinne geschuldet ist. Dass die daraus resultierende politische Evolution letztlich die demokratische Auffassung einer „Identität von Herrschern und Beherrschten“ übersteigt, hat seinen Grund nicht nur in der „nichtlinearen Dynamik“ des Sozialen, sondern in der ökologischen Überschreitung des Binnenbereichs des Sozialen, die sich mit dem demokratischen Ordnungsverständnis nicht mehr einholen lässt: „Diese Semantik [der Demokratie] verdeckt jedoch das, was die politische Evolution tatsächlich herbeigeführt hat, nämlich eine Umgründung der Politik auf Fluktuationen. Über den Begriff der Herrschaft, also der Durchsetzungsfähigkeit eines Willens, läßt diese Ordnung sich nicht mehr begreifen.“158 Zwar mag für das Selbstverständnis des politischen Systems auch weiterhin die „ökologische Differenz“ nicht die maßgebliche „Letztdifferenz“ sein, wohl aber für die Gesellschaft, von deren natürlicher Umwelt die soziale Umwelt des politischen Systems abhängig ist.

157 158

Geschichte neuzeitlicher Klugheitslehren vgl. Leander Scholz: Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700, Tübingen 2002, S. 43–104. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft (Anm. 150), S. 23. Ebd. S. 429.

XI Exkurs: Jenseits des Liberalismus

Der letzte Satz der Anmerkungen von Leo Strauss zu Carl Schmitts Begriff des Politischen (1932) lautet: „Zu zeigen, was für die Bewältigung dieser dringlichen Aufgabe von Schmitt zu lernen ist, war daher das hauptsächliche Anliegen unserer Anmerkungen.“1 Die dringliche Aufgabe, um die es hier geht, betrifft die Erinnerung eines Vergessens, auf dem nach Strauss die politische Philosophie der Moderne beruht und mit dem deshalb deren Legitimität zur Disposition steht. Was die moderne politische Philosophie vergisst und als Vergessen in Erinnerung gebracht werden muss, ist für Strauss das, was sie voraussetzt, wenn sie sich selbst als voraussetzungslos begreift: „Wie immer aber die Kultur verstanden wird – in jedem Fall ist ‚Kultur‘ Kultur der Natur. ‚Kultur‘ ist so sehr Kultur der Natur, daß sie nur dann als souveräne Schöpfung des Geistes verstanden werden kann, wenn die Natur, die kultiviert wird, als Gegensatz des Geistes vorausgesetzt und vergessen worden ist.“2 Noch die Voraussetzungslosigkeit, mit der die moderne politische Philosophie ihre ordnungspolitischen Gründungsakte von jeder vorgängigen Ordnung unabhängig macht, setzt eine Beziehung zu dem voraus, wovon sie sich unabhängig macht. Das Vergessen ist die Form, die diese Beziehung annimmt, wenn die „souveräne Schöpfung des Geistes“ die Gestalt ihrer eigenen Selbständigkeit errichtet hat.3 Das vorher Negierte wird dann zum schlichtweg Vergessenen: „Der Liberalismus, geborgen und befangen in einer Welt der Kultur, vergißt das Fundament der Kultur, den Naturstand, d. h. die menschliche Natur in ihrer Gefährlichkeit und Gefährdetheit.“4 Wenn der Naturzustand als Gegenteil der Gesellschaft verschwindet, dann droht die Emanzipation der Gesellschaft vom Naturzustand in eben diesen umzuschla1 2 3

4

Leo Strauss: Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: ders.: Hobbes’ politische Wissenschaft, Neuwied/Berlin 1965, S. 161–181 (hier: S. 181). Ebd. S. 161. Zur Diagnose des modernen Traditionsbruchs bei Strauss als Übergang von adligen zu bürgerlichen Tugenden im Sinne eines konstruktivistischen Bruchs vgl. Harald Bluhm: Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philosophieren von Leo Strauss, Berlin 2002, S. 100–109. Strauss: Anmerkungen zu Carl Schmitt (Anm. 1) S. 169.

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gen. Die Gefährlichkeit und Gefährdetheit, die der Emanzipation zugrunde liegt, wird dann zur Gefährlichkeit und Gefährdetheit dieser Emanzipation selbst. Ohne die Erinnerung an den unfreien Zustand, in dem die „Grundlegung des Liberalismus“ allererst durchgesetzt werden musste, droht dem Liberalismus das Schicksal dieses unfreien Zustands. – Sowohl für Leo Strauss als auch für Carl Schmitt kann der Liberalismus, wenn es darauf ankommt, daher nicht das letzte Wort sein.5 Eine politische Philosophie, die keinen Zugang zu ihren eigenen Grundlagen hat, ist der Gefahr ausgesetzt, im entscheidenden Moment unpolitisch zu werden. Die dringliche Aufgabe, in der sich Strauss mit Schmitt einig weiß,6 besteht deshalb in einer „radikalen Kritik des Liberalismus“, die nur dann gelingen kann, wenn sie selbst nicht in dessen Rahmen verbleibt: „Die von Schmitt eingeleitete Kritik am Liberalismus kann daher nur dann zur Vollendung kommen, wenn es gelingt, einen Horizont jenseits des Liberalismus zu gewinnen.“7 Um zu dem vorzudringen, was dem Liberalismus vorausgeht und was dieser als seinen eigenen Horizont vergisst, muss man sich die Grundlegung des Liberalismus als einen theoretischen Moment in Erinnerung rufen, in dem sich der Liberalismus keineswegs selbstverständlich ist und in dem dieser auf einen Horizont bezogen ist, den er zu überwinden vorgibt: „In einem solchen Horizont hat Hobbes die Grundlegung des Liberalismus vollzogen.“8 Was für die Aufgabe einer Liberalismuskritik von Schmitt zu lernen ist, meint daher die theoriegeschichtliche Auseinandersetzung mit seinem philosophischen Begründer: „Eine radikale Kritik am Liberalismus ist also nur möglich aufgrund eines angemessenen Hobbes-Verständnisses.“9

1.

Die theoretische Figur des Barbaren

Wenn auch in jeweils anderer Hinsicht, so besteht die Erinnerung, die Strauss und Schmitt dem Vergessen des Naturzustandes entgegensetzen, in einem Zugang zum Naturzustand, der auch dann noch einen existentiellen Bereich der menschlichen Ordnung beschreibt,10 wenn dieser als überwindbar angesehen wird. In beiden Fällen 5

6

7 8 9 10

Vgl. das Kapitel Argumente der „Aufhalter“: Carl Schmitt, Leo Strauss bei Martin Meyer: Ende der Geschichte?, München 1993, S. 129–202. Zur Konstruktion des Ernstfalls als Versuch, den kontingenten Ursprung der Gesellschaft einzuholen, vgl. Jürgen Fohrmann: Die Grenze der Politischen Theologie. Anmerkungen zu einem Konzept, in: ders./Jürgen Brokoff (Hg.): Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jahrhundert, Paderborn 2003, S. 29–38. Vgl. dazu Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1998, S. 47–57. Nach Meier sind sich Schmitt und Strauss darin einig, dass sich der Liberalismus dem stets nur vorläufig möglichen Aufschub der Frage nach der Wahrheit verdankt, während ihre Differenz darin besteht, dass Strauss den „Rechtsgrund des Politischen“ in der philosophischen Antwort auf die Frage nach dem „Richtigen“ sieht und für Schmitt die Antwort auf diese Frage letztlich eine Sache des „Glaubens“ ist. Strauss: Anmerkungen zu Carl Schmitt (Anm. 1), S. 181. Ebd. S. 181. Ebd. S. 181. Existentiell in dem Sinne, den Martin Heidegger dem „Vorlaufen zum unbestimmt gewissen Tode“ gegeben hat. Allein die Beziehung zur Sphäre des Todes kann demnach die Beziehung des Daseins zu sich selbst und seinem eigensten „Seinkönnen“ als eine vollständige erschließen. Vgl. Martin

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betrifft die Kritik daher das Unvermögen des Liberalismus, diesen existentiellen Bereich zu denken: „Hobbes unterscheidet sich vom ausgebildeten Liberalismus nur dadurch und allerdings dadurch, daß er weiß und sieht, wogegen das liberale, zivilisatorische Ideal durchzukämpfen ist: nicht bloß gegen verderbte Einrichtungen, gegen den bösen Willen einer herrschenden Schicht, sondern gegen die natürliche Bosheit des Menschen; [...].“11 Insofern das „zivilisatorische Ideal“ vor allem ein Ideal ist, muss es für Strauss zu jeder Zeit an das gebunden bleiben, wogegen es steht und angesichts dessen es aufgerichtet worden ist: „Hobbes versucht, angesichts des Naturstandes den Naturstand zu überwinden, in den Grenzen, in denen er sich überwinden läßt, während die Späteren sich einen Naturstand erträumen oder auf Grund einer vermeintlich tieferen Einsicht in die Geschichte und damit in das Wesen des Menschen den Naturstand vergessen.“12 Für Thomas Hobbes ist der Mensch im Naturzustand ein mangelhaftes Tier, das von Natur aus schlecht ausgestattet und in keine natürliche Ordnung eingebettet ist. Als mangelhaftes Tier ist der Mensch nicht in der Lage, seine Bedürfnisse zu befriedigen, und trotzdem ausschließlich über diese Bedürfnisse definiert. Allein der Zusammenschluss vieler Menschen zu einem großen Menschen erlaubt es, diese Mängel zu kompensieren und einen gemeinsamen Willen zu konstituieren, der in der Lage ist, eine menschliche Ordnung ins Werk zu setzen. Die Unabhängigkeit, mit der diese Ordnungsstiftung von jeder vorgängigen Ordnung gedacht wird, muss deshalb die Form einer Negation annehmen: Das mangelhafte Tier, das der Mensch im Naturzustand darstellt, bleibt zu jeder Zeit der Ausgangspunkt seiner unabschließbaren Überwindung. – Für Strauss liegt die komplexe Problematik dieses Gründungsaktes der modernen politischen Philosophie in der Frage nach den Grenzen, in denen der Naturzustand als überwindbar angesehen wird. Denn der gemeinsame Wille, der das Ideal der Zivilisation ins Werk setzen soll, ist an kein anderes Maß als an das Maß seiner Bewerkstelligung gebunden. In diesem Sinne hat Carl Schmitt am Beispiel von Jean-Jacques Rousseau den Punkt aufzuzeigen versucht, an dem die „Forderung der Freiheit in die des Terrors“13 umschlägt, wenn das Ideal der Zivilisation es erfordert, zu seiner Bewerkstelligung solche Mittel einzusetzen, die diesem Ideal entgegenstehen. Die Maßlosigkeit des Willens, der das Ideal der Zivilisation ins Werk setzen soll, ist der Grund dafür, dass diese Bewerkstelligung maßlos werden kann. Insofern man in Hobbes sowohl den Begründer des Liberalismus als auch den des Totalitarismus sehen kann, kommt es für Strauss darauf an, die Grenzen, in denen sich der Naturzustand und damit das mangelhafte Tier überwinden lassen, als Quelle des Politischen zu denken. Der Rückgriff auf die antike Philosophie, die Strauss gegen die Maßlosigkeit der Moderne in Stellung bringt, betrifft deshalb den Gründungsakt der modernen politischen Philosophie selbst: „Da also die Menschen im Hinblick auf die menschliche Vollkom-

11 12 13

Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1986, § 53, S. 265: „Im Vorlaufen kann sich das Dasein erst seines eigensten Seins in seiner unüberholbaren Ganzheit vergewissern. Daher muß die Evidenz einer unmittelbaren Gegebenheit der Erlebnisse, des Ich und des Bewußtseins notwendig hinter der Gewißheit zurückbleiben, die im Vorlaufen beschlossen lieg.“ Strauss: Anmerkungen zu Carl Schmitt (Anm. 1), S. 168. Ebd. S. 169. Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1994, S. 114.

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menheit, d. h. also im entscheidenden Punkt ungleich sind, so erschienen den klassischen Denkern gleiche Rechte für alle höchst ungerecht.“14 Das Ideal der Zivilisation, mit dem Hobbes zum Begründer des Liberalismus geworden ist, büßt demnach genau dann seine Idealität ein, wenn es sich „im entscheidenden Punkt“ auf alle Menschen als mangelhafte Tiere beziehen soll. Der Gleichheit des Naturzustandes, in der alle den gleichen Mangel teilen, kann für Strauss niemals eine Gleichheit der Menschen im Zustand der Gesellschaft entsprechen, in der alle Menschen ihre Mangelhaftigkeit überwunden haben. Weil das zivilisatorische Ideal ein Ideal ist, kann die Mangelhaftigkeit der Menschen nicht als allgemein beseitigbar angesehen werden. Die Grenze, die dem Ideal gesetzt ist, muss deshalb, um das Ideal als Ideal aufrecht zu erhalten, als Grenze zwischen den Menschen, die mehr oder weniger mangelhaft sind, gedacht werden: „We must not expect that liberal education can ever become universal education.“15 Ebenso wie der Horizont jenseits des Liberalismus, aus dem Strauss heraus den modernen Liberalismus vor seinen eigenen Abgründen zu retten versucht, den Zustand der Gesellschaft nicht als den gelungenen Zustand aller denken kann, darf umgekehrt auch der Naturzustand nicht als ein von allen geteilter Zustand des Mangels erscheinen. An die Stelle, an der im Gründungsakt der modernen politischen Philosophie alle Menschen als mangelhafte Tiere erscheinen, müssen deshalb die Wenigen treten, die von diesem Mangel ausgenommen sind: „The teachers themselves are pupils and must be pupils. But there cannot be an infinite regress: ultimately there must be teachers who are not in turn pupils. Those teachers who are not in turn pupils are the great minds or, in order to avoid any ambiguity in a matter of such importance, the greatest minds. Such men are extremely rare.“16 Das Ideal der Zivilisation, das Hobbes begründet hat, kann nur dann gegen seine moderne Maßlosigkeit gerettet werden, wenn an die Stelle des aus allen Menschen gebildeten großen Menschen wieder der große Einzelne tritt. Was der moderne Liberalismus vergisst, wenn er den Naturzustand vergisst, bedeutet daher in letzter Konsequenz, dass der Liberalismus zu keiner Zeit ein Liberalismus aller sein kann. Damit die Gefährlichkeit des mangelhaften Tieres, angesichts dessen das Ideal der Zivilisation aufgerichtet werden muss, nicht zur Gefährlichkeit dieses Ideals wird, muss diese Gefährlichkeit zu jeder Zeit nicht als eine überwindbare, sondern als eine zu überwindende gedacht werden: „Ebenso wünscht ein Volk in der Gefahr seine eigene Gefährlichkeit nicht um der Gefährlichkeit, sondern um der Rettung aus der Gefahr willen. Die Bejahung der Gefährlichkeit als solcher hat also keinen politischen, sondern nur einen ‚normativen‘, moralischen Sinn, auf ihren angemessenen Ausdruck gebracht, 14

15 16

Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte, übers. v. Horst Boog, Frankfurt/M. 1977, S. 139. Auch Peter Sloterdijks Versuchs, anhand von Friedrich Nietzsche und Platon den politischen Weisen als „Über-Humanisten“ ins Spiel zu bringen, geht vo einem Scheitern eines dem Humanismus zugrunde liegenden „kommunitarischen Phantasmas“ aus. Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/M. 1999, S. 10. Leo Strauss: What is liberal education?, in: ders.: Liberalism ancient and modern, Chicago/London 1995, S. 3–25 (hier: S. 24). Ebd. S. 3. Zur damit zusammenhängenden Unterscheidung zwischen einer exoterischen und einer esoterischen Lehre bei Strauss vgl. Thomas Gutschker: Aristotelische Diskurse. Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 2002, S. 93–129.

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ist sie die Bejahung der Kraft als staatenbildender Kraft, der virtù im Sinn Machiavellis.“17 Wo bei Hobbes als „staatenbildende Kraft“ das Bedürfnis der Vielen steht, muss deshalb, wenn man diesem Bedürfnis Grenzen setzen will, die kämpferische Tugend der Wenigen stehen. Was Strauss dem modernen Liberalismus in Erinnerung rufen will, sind die republikanischen Werte, ohne die das Gemeinwesen lediglich ein Zusammenschluss Einzelner wäre, die über ihre Interessen hinaus keine weitere Verpflichtung kennen.18 Wenn man den Staat nicht allein auf die Bedürfnisbefriedigung der Vielen zurückführen will, dann besteht das Politische des Liberalismus darin, die Grenzen dieses Liberalismus zu erkennen, die zugleich die Grenzen sind, in denen sich der Naturzustand als der Zustand aller überwinden lässt. Den Naturzustand nicht zu vergessen, heißt für Strauss, die Möglichkeit offen zu halten, das mangelhafte Tier im Sinne der antiken Philosophie auch weiterhin in der theoretischen Figur des Barbaren zu denken: Der Barbar ist weder derjenige, der erzogen werden muss, um zum Angehörigen der menschlichen Ordnung zu werden, noch derjenige, der vernichtet werden muss, weil er sich dieser Ordnung nicht fügt.19 Die Figur des Barbaren ist für Strauss nichts anderes als die Markierung der Grenze, die der menschlichen Ordnung gesetzt ist, insofern sie dauerhaft unter dem Ideal der Zivilisation stehen soll. Denn weil es immer solche Menschen geben wird, die aufgrund ihrer Mangelhaftigkeit keine Einsicht in die menschliche Ordnung haben, kann diese niemals die Ordnung aller sein. Aus diesem Grund ist ein Liberalismus, der nicht der Gefahr ausgesetzt sein soll, im entscheidenden Moment unpolitisch zu werden, auf die wenigen Hervorragenden angewiesen, die unabhängig sind von der Bedürfnisbefriedigung der Vielen. Das angemessene Hobbes-Verständnis, vom dem Strauss seine Kritik des Liberalismus abhängig gemacht hat, korrigiert die Negation des Naturzustandes, mit der sich die menschliche Ordnung aus diesem heraushebt, dahingehend, dass diese Negation als eine jeweils historisch konkrete gedacht werden muss. Der Bruch, den die moderne politische Philosophie mit der antiken Tradition vollzieht, kann niemals vollständig sein.20 Auch nach der Loslösung der modernen Politik von jeglichem natürlichen oder göttlichen Gesetz bleibt der Naturzustand die Quelle des Politischen, dessen existentielle Dimension keine Geschichte jemals wird beseitigen können. Insofern kann auch die Überführung der politischen Macht, die über Leben und Tod entscheidet, in eine Lebensmacht, de17 18

19

20

Strauss: Anmerkungen zu Carl Schmitt (Anm. 1), S. 173. Vgl. Wolfgang Kersting: Niccolò Machiavelli, München 1988, S. 123: „Die republikanische Bürger-virtù manifestiert sich in einer patriotischen Einstellung und einer aktiven Teilnahme am politischen Leben und an den militärischen Aktionen des Gemeinwesens.“ Zur männlichen Verkörperung der antiken Polis bei Platon und Aristoteles vgl. Alice Pechriggl: Chiasmen. Antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns, Bielefeld 2006, S. 166–181. Dazu dass die Figur des Barbaren schon in der Antike zu einer Rhetorik des Rassismus gehörte vgl. Jobst Paul: Das ‚Tier‘-Konstrukt – und die Geburt des Rassismus. Zur kulturellen Gegenwart eines vernichtenden Arguments, Münster 2004. Vgl. dazu ausführlich Heinrich Meier: Das theologisch-politische Problem, in: ders.: Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauss, Stuttgart/Weimar 2003, S. 13–48 (hier: S. 21): „Die fundamentale Alternative, so läßt sich Strauss’ Einwand formulieren, betrifft nicht die Frage, ob die Philosophie oder ob die Religion herrschen soll. Die fundamentale Alternative wird erst durch die Frage erschlossen: Was ist das richtige Leben?“

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ren Legitimität in der Vermeidung des Todes und der Steigerung des Lebens besteht, zu keiner Zeit vollständig sein. Die Rückführung des Politischen in die Bahnen der antiken Philosophie heißt für Strauss deshalb, den „Tugendcharakter der Tapferkeit“ in Erinnerung zu bringen, der dann verloren geht, wenn der Tod wie bei Hobbes ausschließlich als ein Übel erscheint, das es zu vermeiden gilt: „Hobbes schreckt nicht vor der Konsequenz zurück, den Tugendcharakter der Tapferkeit ausdrücklich zu leugnen.“21 Eine politische Macht, die sich allein über die Bedürfnisbefriedigung der Menschen definiert, kann von diesen Menschen, wenn es darauf ankommt, nicht das Opfer ihres eigenen Lebens verlangen. Wenn sich die politische Macht über die Vermeidung des Todes legitimiert, dann verliert diese Macht ihre Legitimität, wenn sie den Tod als höchsten Einsatz des Politischen nicht vermeiden kann.22 Eine solche Macht muss sogar so weit gehen, ein Lebensrecht anzunehmen, das alle Menschen in die politische Ordnung integriert: „Hobbes’ Begründung des naturrechtlichen Anspruchs auf die Sicherung des nackten Lebens legt den Fortgang zu dem ganzen System der Menschenrechte im Sinne des Liberalismus nahe, gesetzt, daß sie ihn nicht sogar erforderlich macht.“23 Was der Liberalismus nicht denken kann, wenn er ein solches Lebensrecht annimmt, sind seine eigenen Grenzen. Der Disqualifizierung des Todes, die mit der Überführung der Todesmacht in eine Lebensmacht einhergeht,24 steht bei Strauss daher der Tugendcharakter der Tapferkeit als Erinnerung an den politischen Tod als maximaler Einsatz im Kampf auf Leben und Tod entgegen. Auch nach der Errichtung des zivilisatorischen Ideals erfordert dieses Ideal zu seiner Verteidigung im äußersten Fall den politischen Einsatz des Todes. Sowohl an den historischen wie auch an den gegenwärtigen Grenzen des Liberalismus bleibt deshalb die Souveränität durch ihre privilegierte Beziehung zum Tod als das Fundament des Politischen definiert.

2.

Die theoretische Figur des Feindes

Auch bei Carl Schmitts ambivalentem Verhältnis zur politischen Philosophie von Hobbes steht die Frage im Zentrum, auf welche Weise die Negation des Naturzustandes gedacht werden muss. Denn eine vollständige Negation des Naturzustandes würde den 21 22

23 24

Strauss: Anmerkungen zu Carl Schmitt (Anm. 1), S. 168. Zu den neoliberalen Versuchen, auch den Einsatz des Todes vollständig in eine Ökonomie des Lebens zu überführen, vgl. Ulrich Bröckling: Menschenökonomie, Humankapital. Eine Kritik der biopolitischen Ökonomie, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 12. Jahrgang, Heft 1 (2003), S. 3–22. Strauss: Anmerkungen zu Carl Schmitt (Anm. 1), S. 168. Vgl. dazu Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt/M. 1983, S. 165: „So erklärt sich vielleicht die Disqualifizierung des Todes, die heute im Absterben der ihn begleitenden Rituale zum Ausdruck kommt. Die Sorgfalt, mit der man dem Tode ausweicht, hängt weniger mit einer neuen Angst zusammen, die ihn für unsere Gesellschaften unerträglich macht, als vielmehr mit der Tatsache, daß sich die Machtprozeduren von ihm abgewendet haben. [...] Jetzt richtet die Macht ihre Zugriffe auf das Leben und seinen ganzen Ablauf; der Augenblick des Todes ist ihre Grenze und entzieht sich ihr; er wird zum geheimsten, zum ‚privatesten‘ Punkt der Existenz.“

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Grund, warum sich die vielen Menschen überhaupt zu einem großen Menschen zusammenschließen, beseitigen und damit diesen Zusammenschluss selbst in Frage stellen: „Klarer als alle Anderen hat Hobbes diese einfachen Konsequenzen politischen Denkens mit großer Unbeirrbarkeit gezogen und immer wieder betont, daß die Souveränität des Rechts nur die Souveränität der Menschen bedeutet, welche die Rechtsnormen setzen und handhaben, daß die Herrschaft einer ‚höheren Ordnung‘ eine leere Phrase ist, wenn sie nicht den politischen Sinn hat, daß bestimmte Menschen auf Grund dieser höheren Ordnung über Menschen einer ‚niederen Ordnung‘ herrschen wollen.“25 Die Geste, mit der Hobbes jede Ableitung des Politischen aus einer höheren Ordnung abweist, ist für Schmitt deshalb im gleichen Moment auch der Grund, warum eine in der „Souveränität der Menschen“ gestiftete Gestalt der Einheit zwangsläufig gegen eine andere steht. Die Grenze, in der sich der Naturzustand überwinden lässt, ist die Grenze zwischen dem Lebensrecht der einen und dem der anderen.26 Der Liberalismus, den Hobbes dadurch begründet, dass dem vom Naturzustand emanzipierten Gesellschaftszustand außer diesem Naturzustand nichts Gemeinsames zugrunde liegt, hat seine Grenzen in eben dieser Ableitung aus der Souveränität der Menschen, die ihn ins Werk setzen. Denn insofern alle Menschen als mangelhafte Tiere nur den gemeinsamen Mangel teilen und sich nur aus dem Grund zu einer Gestalt der Einheit zusammenschließen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, können sie sich ebenso gut zu einer anderen Einheit zusammenschließen, in der sie ihre Bedürfnisse besser befriedigt sehen. Die Grenzen des Liberalismus tauchen immer dann auf, wenn die Souveränität der Menschen, der sich der Liberalismus verdankt, auf die Souveränität anderer Menschen stößt und zur Durchsetzung der liberalen Ordnung Mittel einsetzen muss, die dieser Ordnung vorhergehen. – Was Schmitt dem Liberalismus in Erinnerung ruft, ist die Unabschließbarkeit des Gründungsvorgangs, mit dem die liberale Ordnung als eine Ordnung der Vielen bewerkstelligt wird und der immer dann wieder sichtbar wird, wenn diese Ordnung überhaupt erst als solche ins Werk gesetzt werden muss. Auch nach dem Zusammenschluss der Vielen zu einem großen Menschen bleibt der Naturzustand eine existentielle Dimension, die zu keiner Zeit als solche verschwindet und nach wie vor das beschreibt, was dem Liberalismus vorausgeht. Der Gründungsakt der modernen politischen Philosophie kann für Schmitt niemals ein Gründungsakt aller Menschen sein, weil der Stiftung des gemeinsamen Willens die Gründungsgewalt der einzelnen Willen zugrunde liegt, die nur so lange an den gemeinsamen Willen gebunden sind, wie sie sich von diesem repräsentiert sehen.27 Dem so 25

26

27

Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen: Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 2002, S. 66. Vgl. dazu Reinhard Mehring (Hg.): Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003. Vgl. dazu Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, übers. v. Michaela Ott, Frankfurt/ M. 2001, S. 282–311 (hier: S. 301), der den politischen Unterschied zwischen den einen und den anderen in der Form des Rassismus als Erhaltung der Todesmacht analysiert hat, um in den Bereich des Lebens „die Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muß“ einführen zu können: „Die erste Funktion des Rassismus liegt darin, zu fragmentieren und Zäsuren innerhalb des biologischen Kontinuums, an das sich die Bio-Macht wendet, vorzunehmen.“ Zur Geschichte der „großen Wir-Formen“ vgl. Peter Sloterdijk: Nicht Vertrag, nicht Gewächs. Annäherungen an die Raum-Vielheiten, die bedauerlicherweise Gesellschaft genannt werden, in: Schäume, Sphären III, Frankfurt/M. 2004, S. 261–308.

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gestifteten Wir steht immer ein Nicht-Wir entgegen, selbst wenn es sich als ein Wir aller Menschen begreift. Das mangelhafte Tier bleibt auch nach seiner Überwindung ein gefährliches Tier.28 Während Strauss gegen die Maßlosigkeit der Moderne die Tugend der Wenigen ins Spiel bringt und das Bedürfnis der Vielen einzudämmen versucht, indem er die Wenigen aus der Versammlung der Vielen heraushebt, teilt Schmitt die Versammlung der Vielen in die Versammlung der einen und die der anderen, um auf diese Weise die Maßlosigkeit zu begrenzen, die von einer Versammlung aller Menschen ausgehen würde. Denn eine vollständige Negation des Naturzustandes müsste die Gründe beseitigen, aus denen heraus die Menschen überhaupt gezwungen sind, sich zu versammeln. Insofern die Souveränität der Menschen die Quelle des Politischen ist, müsste eine solche Negation daher die Souveränität der Menschen selbst beenden, und zwar auf eine unumkehrbare Weise. Eine solche unmögliche Negation zeichnet sich nach Schmitt in derartigen Begründungen des Krieges ab, die diesen als ein Mittel ansehen, den Krieg als solchen zu beenden, der sich dann in der Form eines jeweils „endgültig letzten Krieges der Menschheit“ abspielt: „Solche Kriege sind notwendigerweise besonders intensive und unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muß, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist.“29 Wenn das Recht nicht mehr als das Recht der einen im Unterschied zum Recht der anderen gedacht wird, sondern als das Recht aller, wird dieses Recht selbst maßlos und muss diejenigen, die diesem Recht entgegenstehen, als Rechtlose behandeln. Die Aufhebung der Grenze, in der sich der Naturzustand überwinden lässt, bedeutet daher die Vernichtung jeder anderen Quelle der Souveränität seitens derjenigen Souveränität, die aus dem Naturzustand hervorgegangen ist. Was der Liberalismus vergisst, wenn er die Unabschließbarkeit seines Gründungsvorgangs vergisst, ist die Maßlosigkeit einer Gewalt, die nötig wäre, um diesen Gründungsvorgang unumkehrbar abzuschließen.30 – In seiner Schrift Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen (1963) hat Schmitt diese Argumentation noch einmal prägnant zugespitzt, weil sich in den zeitgenössischen Kriegen diese Möglichkeit entlang einer absoluten Feindschaft abzuzeichnen scheint: „Es ist wirklich etwas Seltenes, ja unwahrscheinlich Humanes, Menschen dahin zu bringen, 28

29 30

Vgl. dazu Friedrich Balke: Zur politischen Anthropologie Carl Schmitts, in: Hans-Georg Flickinger (Hg.): Die Autonomie des Politischen, Weinheim 1990, S. 37–65 (hier: S. 50). Im Sinne einer existentialistischen Philosophie lässt sich auch für Schmitt das Handeln der Menschen nicht allein aus der Selbsterhaltung heraus begreifen: „Existentiell aber handelt, wer die Rücksicht auf seine eigene Selbsterhaltung hintanstellt und einen Kampf auf Leben und Tod riskiert, der sich um einen – im Sinne Lacans – wesentlich imaginären Einsatz dreht.“ Schmitt: Der Begriff des Politischen (Anm. 25), S. 37. So kann Norbert Bolz zu der von ihm nicht weiter problematisierten Feststellung gelangen, dass die weltweite „Verwandlung des politischen Feindes“ in den „ökonomischen Konkurrenten“ als gelungen anzusehen ist, weil es Feinde „nur noch an den Grenzen der Weltgesellschaft“ gebe, und zugleich einräumen, dass das Problem der Feindschaft damit entgrenzt sei, weil diese Grenzen „keine territorialen“ mehr sind. Norbert Bolz: Warum es keine Kriege mehr gibt, in: Bazon Brock/ Gerlinde Koschik (Hg.): Krieg und Kunst, München 2002, S. 149–160 (hier: S. 159).

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daß sie auf eine Diskriminierung und Diffamierung ihrer Feinde verzichten.“31 Im Unterschied dazu geht eine absolute Feindschaft nicht mehr von der Unterscheidung zwischen Freund und Feind aus,32 sondern von der vollständigen Vernichtung des Feindes und damit von der Aufhebung dieser Unterscheidung und somit des Politischen selbst: „Der Kern des Politischen ist nicht Feindschaft schlechthin, sondern die Unterscheidung von Freund und Feind und setzt beides, Freund und Feind voraus.“33 Mit der „Ableugnung“ der Feindschaft in der Form einer unaufhebbaren Differenz zur Freundschaft geht daher für Schmitt ihre gleichzeitige Verabsolutierung einher: „Die Feindschaft wird so furchtbar werden, daß man vielleicht nicht einmal mehr von Feind oder Feindschaft sprechen darf und beides sogar in aller Form vorher geächtet und verdammt wird, bevor das Vernichtungswerk beginnen kann. Die Vernichtung wird dann ganz abstrakt und ganz absolut. Sie richtet sich überhaupt nicht mehr gegen einen Feind, sondern dient nur noch einer angeblich objektiven Durchsetzung höchster Werte, für die bekanntlich kein Preis zu hoch ist. Erst die Ableugnung der wirklichen Feindschaft macht die Bahn frei für das Vernichtungswerk einer absoluten Feindschaft.“34 Den Naturzustand nicht zu vergessen, heißt für Schmitt deshalb, die Möglichkeit offen zu halten, das mangelhafte Tier auch nach seiner Überwindbarkeit weiterhin in der theoretischen Figur des Feindes zu denken. Die Grenze der Überwindbarkeit des Naturzustandes ist die Grenze zwischen Freund und Feind, weil diese Differenz alle Differenzen überlagert, die der Liberalismus zu organisieren vermag: „Der politische Gegensatz ist der intensivste und äußerste Gegensatz und jede konkrete Gegensätzlichkeit ist um so politischer, je mehr sie sich dem äußersten Punkte, der Freund-Feindgruppierung, nähert.“35 Die Unterscheidung zwischen Freund und Feind hält auch dann noch Kontakt zum Naturzustand, in dem jeder als Souverän seiner selbst eine unmittelbare Beziehung zur Sphäre des Todes hat, wenn dieser im Zustand der Gesellschaft zugunsten einer Selbstbeziehung aufgehoben erscheint, in der die Sphäre des Todes ein bloßes Außen markiert. Der „intensivste und äußerste Gegensatz“ von Freund und Feind ist in der Lage, alle in der Gesellschaft geordneten Differenzen der souveränen Menschen zu übersteigen, weil er es vermag, das Außen dieser geordneten Differenzen von jedem Moment dieser Ordnung aus zu erreichen.36 Im Unterschied zur Hobbesschen Souveränitätslogik, in der sich die Souveränität der Heraushebung aus der Sphäre des Todes verdankt, definiert sich bei Schmitt 31 32

33 34 35 36

Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 92. Zur Einordnung der Heimsuchung der „wirklichen“ durch die „absolute“ Feindschaft bei Schmitt in die Logik des Brudermords und „als Wahrheit des Politischen in dem Augenblick, da man an die eigene Grenze rührt, an sich selbst oder den Doppelgänger, den Zwilling, an jenen absoluten Feind, der stets wieder in den Zügen des Bruders begegnet“, vgl. Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt/M. 2002, S. 190–230 (hier: S. 204). Schmitt: Theorie des Partisanen (Anm. 31), S. 92. Ebd. S. 95f. Schmitt: Der Begriff des Politischen (Anm. 25), S. 30. Zur „Intensität“ der Freund-Feind-Unterscheidung vgl. Friedrich Balke: Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996, S. 39–90 (hier: S. 51): „Wenn die offizielle Politik sich also nicht davor scheut, die Feindschaft auf ‚irgendein antagonistisches Moment‘ zu reduzieren, [...] dann muß sich das Politische von dem mit der Gesellschaft fusionierten Staat

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die Souveränität über die Aufrechterhaltung ihres Bezugs zu dieser Sphäre: „Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, daß sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten.“37 Sowohl bei Strauss als auch bei Schmitt liegt der Kritik des Liberalismus die Diagnose zugrunde, dass dieser von einem Außen lebt, das er selbst nicht zu bestimmen und daher auch nicht zu kontrollieren weiß. In beiden Fällen besteht die Einbeziehung dieses Außen deshalb in einer Korrektur der Hobbesschen Negation des Naturzustandes, indem der von dieser Negation ausgehenden Gesellschaft, der außer dieser Negation nichts Gemeinsames zugrunde liegt, eine Gemeinschaft der Grenze eingeschrieben wird, mit der die entgrenzte Gesellschaft auf etwas Gemeinsames zurückgeführt werden soll. An den Grenzen der Gesellschaft taucht das Denken des politischen Todes als ein unvermeidlich tragisches Geschehen auf, das es aktiv zu begreifen gilt: „Die politische Einheit muß gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen. Für den Individualismus des liberalen Denkens ist dieser Anspruch auf keine Weise zu erreichen und zu begründen.“38 Verdeckt durch die imaginäre Lösung, der Hobbes das Paradox eines unvermeidlichen-vermeidbaren Todes zugeführt hat, scheint im Ernstfall die privilegierte Beziehung der Souveränität zum Tod als das eigentliche Fundament des Politischen auf: „In Wahrheit gibt es keine politische ‚Gesellschaft‘ oder ‚Assoziation‘, es gibt nur eine politische Einheit, eine politische ‚Gemeinschaft‘.“39 Während für Strauss die Unterscheidung zwischen einem qualitativen und einem quantitativen Leben das Politische fundiert, besteht das Politische für Schmitt in dem Leben der einen, das dem der anderen entgegensteht. Für beide gilt, dass die Grenze der Gemeinschaft, die diese Gemeinschaft stiftet, ob mit der Figur des Barbaren oder der des Feindes beschrieben, zuletzt an die unvermeidliche Existenz des Opfers geknüpft bleibt.

3.

Das Humane und das Animalische

Auch für Giorgio Agamben ist die Kritik des Liberalismus eine dringliche Aufgabe, die es zu leisten gilt, um sich angesichts der „neuen Realitäten und der unvorhergesehenen Konvergenzen dieses Jahrtausendendes zu orientieren und das Feld für jene Politik

37 38

39

trennen, sich ‚deinstitutionalisieren‘ und sich mit den ‚streitenden Subjekten‘ zu verbinden suchen, die allein noch über das zur Feindschaft nötige affektive Potential zu verfügen scheinen.“ Schmitt: Der Begriff des Politischen (Anm. 25), S. 33. Ebd. S. 70. Diese tragische Dimension findet sich auch bei Helmuth Plessners Versuch, mittels einer politischen Anthropologie die „natürlichen“ Grenzen einer in der Moderne „künstlich“ entgrenzten Gemeinschaft zu bestimmen: „Utopien können wohl helfen, die Herrschaft über die Natur auszudehnen. Aber zum sozialen Frieden im Reich einer die ganze Erde umspannenden Gemeinschaft führt weder äußere Technik noch innere Ethik, sondern einzig eine Veränderung der menschlichen Natur selbst, in der wir uns verzehren müssen und die doch zu vollziehen nicht in unserer Macht liegt.“ Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt/M. 2002, S. 131. Zum Verhältnis von Schmitt und Plessner vgl. Rüdiger Kramme: Helmuth Plessner und Carl Schmitt. Eine historische Fallstudie zum Verhältnis von Anthropologie und Politik in der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre, Berlin 1989. Schmitt: Der Begriff des Politischen (Anm. 25), S. 45.

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frei zu machen, die im wesentlichen noch zu erfinden ist“.40 Wie bei Leo Strauss und bei Carl Schmitt zielt die von Agamben unternommene Kritik des Liberalismus auf die von Hobbes ausgehende moderne politische Philosophie insgesamt, deren grundsätzliche Problematik sich nur mittels eines angemessenen Verständnisses ihres Begründers fassen lässt. Denn die „unvorhergesehenen Konvergenzen“, die Agamben als Ausgangspunkt seiner Analyse des Politischen wählt, meint die „unerklärliche Geschwindigkeit“, mit der sich im 20. Jahrhundert „parlamentarische Demokratien“ in „totalitäre Staaten“ verwandelt haben und umgekehrt.41 Will man den politischen Übergang zwischen Liberalismus und Totalitarismus, und zwar sowohl von dem einen in den anderen als auch umgekehrt, nicht als einen bloß von historisch singulären Voraussetzungen bedingten Übergang begreifen, sondern als einen stets möglichen, dann muss man die „innerste Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus“42 aufdecken, die diesen Übergang allererst möglich macht. Agamben verweist in diesem Zusammenhang explizit auf Leo Strauss, dessen philosophische These von einer „geheimen Konvergenz zwischen Liberalismus und Kommunismus, was ihr Endziel angeht“, ebenfalls keine „historiographische“ sei. Der Aufdeckung der innersten Solidarität von Demokratie und Totalitarismus kann es deshalb nicht um eine „Einebnung der enormen Unterschiede“ beider gehen, sondern um die Erinnerung der historisch-philosophischen Grundlagen, die beiden gemeinsam sind.43 Auch für Agamben kommt es darauf an, die grundsätzliche Maßlosigkeit der Moderne zu begreifen, die ihren Grund jedoch nicht wie bei Strauss im Übergang von einem „Law of nature“ zu einem „Right of nature“ bei Hobbes hat,44 also von einer auf der Frage nach dem richtigen Leben gegründeten Ordnung des Politischen zu einer politischen Ordnung, die ausschließlich durch die Bedürfnisse der Vielen legitimiert und ins Werk gesetzt wird. Denn im Unterschied zu Strauss sieht Agamben den Grund für die Maßlosigkeit der Moderne schon in der politischen Philosophie der Antike angelegt, deren fundamentale Unterscheidung zwischen einem qualifizierten und einem quantitativen Leben die Ursache dafür ist, dass in dem zunehmenden Maß, in dem sich die moderne Macht als eine Lebensmacht versteht, diese auch als eine Todesmacht auftritt: „In der aristotelischen Definition gilt es nicht nur, wie das bis anhin geschehen ist, den Sinn, die Modi und die möglichen Einteilungen des ‚guten Lebens‘ als télos des Politischen zu untersuchen; vielmehr ist es notwendig, sich zu fragen, warum die abendländische Politik sich vor allem über eine Ausschließung (die im selben Zug eine Einbeziehung ist)

40 41 42 43

44

Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt/M. 2002, S. 21. Ebd. S. 130. Ebd. S. 20. Zur Kritik seitens derjenigen, die mit der Infragestellung dieser historisch-philosophischen Grundlagen auch die Grundlagen für „Widerstandsmöglichkeiten“ in Frage gestellt sehen, vgl. Thomas Lemke: Die Regel der Ausnahme. Giorgio Agamben über Biopolitik und Souveränität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 52. Jahrgang, Heft 6 (2004), S. 943–963. Vgl. Strauss: Hobbes’ politische Wissenschaft (Anm. 1), S. 153: „Der Bruch mit dem Rationalismus ist also die entscheidende Voraussetzung sowohl des Souveränitätsbegriffs als auch der Verdrängung des ‚Gesetzes‘ durch das ‚Recht‘, d. h. der Verdrängung des Primats der Verpflichtung durch den Primat des Anspruchs.“

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des nackten Lebens begründet.“45 Während für Strauss die Aristotelische Unterscheidung zwischen einem guten und einem bloßen Leben diejenige Unterscheidung ist, die es erst ermöglicht, das Ideal der Zivilisation ins Werk zu setzen und dem Politischen ein télos abzulesen, sieht Agamben die eigentliche Leistung dieser Unterscheidung in der Absonderung eines bloßen Lebens von einem politisch qualifizierten Leben: „Dem nackten Leben kommt in der abendländischen Politik das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet.“46 Dem Ideal des politischen Lebens ist das natürliche Leben daher von Anfang an in der Form seiner Ausschließung eingeschrieben, sodass geradezu in Umkehrung zu Strauss das télos des Politischen nicht in den Möglichkeiten der Aufrichtung eines Ideals angesichts des natürlichen Lebens besteht, sondern in den Möglichkeiten, in denen das natürliche Leben negiert werden kann. Um das natürliche Leben als überschreitbar auf ein nichtnatürliches Leben hin begreifen zu können, muss dieses zunächst als ein bloßes Leben erscheinen, dem der Mensch nur insoweit angehört, als er außerhalb desselben steht. Die Möglichkeiten der Macht, die das gute Leben als solches zu qualifizieren vermag, verdanken sich den Möglichkeiten, das natürliche Leben zu disqualifizieren. Am Anfang des politischen Denkens steht für Agamben weder, wie bei Strauss, die Qualifizierung des menschlichen Lebens noch, wie bei Schmitt, menschliches Leben, das anderem menschlichem Leben unaufhebbar entgegensteht,47 sondern eine absichtsvolle Disqualifizierung des dem menschlichen Leben zugrunde liegenden natürlichen Lebens: „Das fundamentale Kategorienpaar der abendländischen Politik ist nicht jene Freund/FeindUnterscheidung, sondern diejenige von nacktem Leben/politischer Existenz, zoé/bíos, Ausschluß/Einschluß.“48 In der Unterscheidung zwischen einem qualitativen und einem quantitativen Leben wird aus dem natürlichen Leben deshalb ein nacktes Leben, weil sich die Qualitäten des politischen Lebens aus dem vorgängigen Abzug der Qualitäten des natürlichen Lebens ergeben. Die wesentliche Differenz des Menschen zu sich selbst, in der sich der Raum des Politischen allererst öffnet, ist die Differenz des Menschen als Nicht-Tier und des Menschen als Tier. Der Mensch als Nicht-Tier schließt sich im Menschen als Tier von sich selbst aus, sodass die positive Bestimmung des Menschen als Nicht-Tier zu jeder Zeit von der negativen Bestimmung des Menschen als Tier abhängig ist: „Der entscheidende politische Konflikt in unserer Kultur, der über jeden anderen Konflikt herrscht, ist derjenige zwischen Animalität und Humanität.“49 Die Grenzziehung des Politischen, auf die nach Strauss die menschliche Ordnung angewiesen ist, um dauerhaft unter dem Ideal der Zivilisation zu stehen, ist für 45 46 47

48 49

Agamben: Homo sacer (Anm. 40), S. 17. Ebd. S. 17. Vgl. Friedrich Balke: Gesetz und Urteil. Zur Aktualität einer Problemstellung bei Carl Schmitt, in: Joseph Vogl (Hg.): Gesetz und Urteil. Beiträge zu einer Theorie des Politischen, Weimar 2003, S. 35–56 (hier: S. 56): „‚Leben gegen Leben‘ lautet daher auf eine Formel gebracht die biopolitische Parole Carl Schmitts, wobei die Radikalität dieser Formel darin liegt, daß sie die Grenzen der Lebensformen gerade nicht mit den Grenzen des vormaligen Staates oder jetzigen politischen Einheiten zusammenfallen läßt.“ Agamben: Homo sacer (Anm. 40), S. 18. Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, übers. v. Davide Giuriato, Frankfurt/M. 2003, S. 88.

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Agamben keine äußere Begrenzung, die sich etwa mit der theoretischen Figur des Barbaren beschreiben ließe, sondern eine innere Grenze, in der sich der Mensch von sich selbst absondert, indem er sich als ein mangelhaftes Tier gegenübertritt. Insofern geht der Naturzustand des Menschen, in dem dieser überhaupt erst als mangelhaftes Tier erscheinen kann, nicht der Ordnung des Menschen als Nicht-Tier voraus, sondern stellt die Selbstdifferenz des Menschen dar, in der dieser sich auf sich selbst als Tier beziehen kann: „Die originäre Beziehung des Gesetzes mit dem Leben ist nicht die Anwendung, sondern die Verlassenheit. Die unüberbietbare Potenz des nómos, seine originäre ‚Gesetzeskraft‘, besteht darin, daß er das Leben in seinem Bann hält, indem er es verläßt.“50 Die Öffnung des politischen Raums verdankt sich der Selbstbeziehung des Menschen auf sein natürliches Leben als ein nacktes Leben, indem er das natürliche Leben aus dem Raum des Politischen ausschließt. Die Differenz zwischen dem Menschen im Naturzustand und dem Menschen im Zustand der Gesellschaft, die Agamben schon in der Aristotelischen Qualifizierung des menschlichen Lebens wirksam sieht, ist deshalb keine Negation des Naturzustandes, die den Naturzustand im Zustand der Gesellschaft aufheben würde. Denn indem sie sowohl eine Differenzierung als auch eine Entdifferenzierung hervorbringt, handelt es sich um eine alle weiteren Unterscheidungen bedingende souveräne Unterscheidung, die beide Seiten der Unterscheidung beherrscht. Um die grundlegende Unterscheidung der abendländischen Politik zwischen einem natürlichen Leben des Menschen und seinem politischen Leben treffen zu können, muss ein nicht-natürliches Leben des Menschen vorausgesetzt werden: „Der Mensch muß sich, um menschlich zu sein, als Nicht-Mensch erkennen.“51 Weil in diesem Sinne erst die Bedingung der zu treffenden Unterscheidung hervorgebracht wird, ist die erste Unterscheidung eine souveräne Unterscheidung: Der Differenzierung des menschlichen Lebens vom natürlichen Leben entspricht die Entdifferenzierung des natürlichen Lebens zum nackten Leben. – Agamben interpretiert diese souveräne Unterscheidung in der logischen Struktur des Banns, weil die erste Unterscheidung die „Grenzform der Beziehung“ darstellt, indem sie die Beziehung erst als Beziehung einsetzt: „Der Bann ist die reine Form des Sich-auf-etwas-Beziehens im allgemeinen, das heißt die einfache Setzung einer Beziehung mit einem Beziehungslosen. In diesem Sinn ist sie mit der Grenzform der Beziehung identisch.“52 In der logischen Struktur des Banns beherrscht die souveräne Unterscheidung beide Seiten der Unterscheidung, indem sie die nichtbestimmte Seite als die leer gelassene Seite der Unterscheidung bestimmt. Insofern bildet das nackte Leben die Grundlage, auf der die Beziehung zwischen Mensch und Tier als Selbstbeziehung des Menschen gedacht wird. Genauso wie die Souveränität außerhalb und innerhalb der menschlichen Ordnung steht, die 50 51

52

Agamben: Homo sacer (Anm. 40), S. 39. Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier (Anm. 49), S. 38. Im Sinne dieser Herstellung und Definition der Natur des Menschen zieht Agamben von der Figur des Barbaren als „Animalischem mit menschlichen Formen“ eine Linie bis zur nationalsozialistischen Biopolitik: „Vielleicht sind auch die Konzentrations- und Vernichtungslager ein Experiment dieser Art, ein rücksichtsloser und monströser Versuch der Unterscheidung zwischen dem Humanen und Inhumanen, der die Möglichkeit der Unterscheidung selbst in seinen Vernichtungssog gezogen hat.“ (S. 32) Agamben: Homo sacer (Anm. 40), S. 40.

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durch sie eingesetzt wird, befindet sich deshalb auch das menschliche Leben zugleich außerhalb und innerhalb der menschlichen Ordnung. Die Bestimmung der Menschen im begrenzten Raum des Politischen basiert darauf, dass es einen entgrenzten Raum außerhalb dieses Raumes gibt, in dem den Menschen diese Bestimmung nicht zukommt. So kann Agamben im Anschluss an Carl Schmitt sagen: „Die souveräne Entscheidung über die Ausnahme ist in diesem Sinn die originäre politisch-juridische Struktur, von der aus das, was in der Ordnung eingeschlossen, und das, was aus ihr ausgeschlossen ist, erst seine Bedeutung gewinnt.“53 Die Grenze zwischen dem Eingeschlossenen und Ausgeschlossenen besteht nicht in einer Grenzziehung, die das Eingeschlossene als diesseits der Grenze bestimmt, sondern in einem Kontakt jenseits der Grenze, der die Bestimmtheit des Eingeschlossenen an die Unbestimmtheit des Ausgeschlossenen bindet. Das Eingeschlossene erhält seine Bestimmtheit vor der bestimmten Unbestimmtheit des Ausgeschlossenen. Aus dem gleichen Grund, warum die Grenze des Politischen deshalb nicht die Grenze zwischen einem qualitativen und einem quantitativen Leben im Sinne von Strauss sein kann, insofern die Unbestimmtheit des quantitativen Lebens allererst ein Resultat der Bestimmtheit des qualitativen Lebens darstellt, kann es sich auch nicht um die Grenze von Freund und Feind im Sinne von Schmitt handeln, insofern sich diese Grenze nicht als eine zwischen einer Bestimmtheit begreifen lässt, die gegen eine andere Bestimmtheit steht: „Die Festlegung der Grenze zwischen dem Humanen und Animalischen scheint so nicht eine Frage unter vielen zu sein, denen sich Philosophen und Theologen, Wissenschaftler und Politiker widmen, sondern vielmehr eine grundlegende metaphysisch-politische Operation, durch die allein so etwas wie ein ‚Mensch‘ bestimmt und hergestellt werden kann.“54

4.

Die Politik des Naturzustandes

Die Aporie der Grenze zwischen dem Animalischen und dem Humanen, die am Anfang der abendländischen Politik steht, ist für Agamben der Grund, warum „die Errungenschaften und Anstrengungen der Demokratie“ genau in dem Moment, „da sie endgültig über ihre Gegner zu triumphieren und den Gipfel erreicht zu haben schien, sich wider alles Erwaten als unfähig erwies, jene zoé vor einem nie dagewesenen Ruin zu bewahren, zu deren Befreiung und Glückseligkeit sie alle ihre Kräfte aufgeboten hatte“.55 Die Maßlosigkeit der Moderne ist demnach ein Resultat der Einschreibung des Lebens aller in 53 54

55

Ebd. S. 29. Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier (Anm. 49), S. 31. Zu den gegenwärtigen Grenzregimen vgl. Gesa Lindemann: Die Grenzen des Sozialen. Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin, München 2002, S. 415–436 (hier: S. 425): „Aus der Frage – ‚Wer ist ein Mensch?‘ –, wird die Frage – ‚In welchen Deutungsprozessen wird entschieden, wer ein sozialer Akteur ist?‘ Eine reflexive Anthropologie enthält sich positiver Aussagen darüber, wie die Grenzen des Sozialen gezogen werden, und überläßt diese der empirischen bzw. der materialen historischen Forschung.“ Vgl. dazu auch Thomas Macho: Religion, Unsterblichkeit und der Glaube an die Wissenschaft, in: Konrad Paul Liessmann (Hg.): Ruhm, Tod und Unsterblichkeit. Über den Umgang mit der Endlichkeit, Wien 2004, S. 261–277. Agamben: Homo sacer (Anm. 40), S. 20.

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diese Aporie, die – „ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt“ – im „Gleichschritt mit dem Prozeß, durch den die Ausnahme überall zur Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt“, sodass „auf diesem Weg Ausschluß und Einschluß, Außen und Innen, zoé und bíos, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten“.56 Dass im Gründungsakt der modernen politischen Philosophie alle Menschen als mangelhafte Tiere erscheinen, heißt, dass die politische Gleichheit, in der alle gemeinsam den gleichen Mangel teilen, darauf basiert, dass zunächst alle in der gleichen Weise aus der menschlichen Ordnung herausgenommen sind, der sie angehören sollen. In dem Moment, in dem die Gleichheit aller gedacht wird, indem bei Hobbes jede von Natur aus gegebene Ordnung zurückgewiesen wird, kann diese Gleichheit nur dadurch gedacht werden, dass alle in die Aporie der Grenze zwischen dem Animalischen und dem Humanen eingetragen werden und in diesem Sinne aus dem natürlichen Leben herausfallen. Dass der Tod bei Hobbes als das größte Übel erscheint, durch dessen Vermeidung sich die politische Macht als eine Lebensmacht legitimiert, bedeutet deshalb umgekehrt, dass es vor dieser Macht nur nacktes Leben gibt: „Die großartige Metapher des Leviathan, dessen Körper aus sämtlichen Körpern geformt ist, muß in diesem Licht gelesen werden. Es sind die absolut tötbaren Körper der Untertanen, die den neuen politischen Körper der Untertanen des Abendlandes bilden.“57 Die historischphilosophische Grundlage, von der sowohl der Liberalismus als auch der Totalitarismus seinen Ausgang nimmt, besteht darin, dass der Stiftung des gemeinsamen Willens das aus dem natürlichen herausgenommene nackte Leben derjenigen zugrunde liegt, die sich zur Sicherung dieses Lebens zusammenschließen. Was die moderne politische Philosophie in dieser Hinsicht von der antiken unterscheidet, ist die Fundierung der Souveränität in der Souveränität jedes Einzelnen, sodass die Grenze, mit der sich die Menschen im Zusammenschluss zu einem großen Menschen von sich selbst als Nicht-Menschen absondern, jeden Einzelnen betreffen muss: „Es ist sogar möglich, daß diese Grenze, von der die Politisierung und die exceptio des natürlichen Lebens in der staatlichen Rechtsordnung abhängt, sich in der abendländischen Geschichte immer nur ausgedehnt hat und heute – im neuen biopolitischen Horizont der Staaten mit nationaler Souveränität – notwendigerweise durch das Innere jedes menschlichen Lebens und jedes Bürgers geht.“58 Die Maßlosigkeit der Moderne – und darin teilt Agamben seine Einschätzung mit Strauss und Schmitt – resultiert also unmittelbar aus der von Hobbes ausgehenden Verrechtlichung des Politischen, und zwar selbst dann, wenn diese Verrechtlichung aus solchen politischen Kämpfen hervorgegangen ist, die sich die Sicherung eines Lebensrechtes aller Menschen zum Ziel gesetzt haben: „Die Räume, die Freiheiten, die Rechte, welche Individuen in ihren Konflikten mit den zentralen Mächten erlangen, bahnen jedesmal zugleich eine stille, aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung an und liefern so der souveränen Macht, von der sie sich eigentlich freizumachen gedachten, ein neues und noch furchterregenderes Fundament.“59 Je umfangreicher die Verrechtlichung des Lebens gedacht und realisiert wird, desto umfangreicher ist 56 57 58 59

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

S. S. S. S.

19. 134. 148. 129.

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demnach auch die Heraussetzung des nackten Lebens im Gegenzug zur jeweiligen Hereinnahme. Konsequenterweise muss Agamben deshalb eine weltweite Verrechtlichung auch als eine weltweite Ausbreitung des Ausnahmezustands erscheinen: „Ja, der Ausnahmezustand hat heute erst seine weltweit größte Ausbreitung erreicht.“60 Während für Strauss und Schmitt diese vor allem vom Liberalismus betriebene Verrechtlichung von einem Außen lebt, zu dem der Liberalismus selbst keinen Zugang hat, und beide Denker dieses Außen in der existentiellen Dimension des Todes sehen und den Zugang zu dieser Dimension deshalb an die unvermeidliche Existenz des Opfers knüpfen, dechiffriert Agamben diese existentielle Dimension als eine Leere, die sich allererst im Zugriff des Rechts auf das Leben öffnet: „Was der Schrein der Macht in seinem Zentrum enthält, ist der Ausnahmezustand – aber dieser ist wesentlich ein leerer Raum, in dem sich menschliches Handeln ohne Bezug zum Recht mit einer Norm ohne Bezug zum Leben konfrontiert sieht.“61 Die Leerstelle des Todes, auf die für Strauss und Schmitt die Souveränität in der Figur des Opfers zuletzt bezogen bleibt, ist für Agamben die Leerstelle eines Lebens, das sich jedem Rechtszugriff entzieht.62 In der Herausarbeitung des Zusammenhangs von politischer Souveränität und nacktem Leben kann man deshalb eine Radikalisierung der Existenzphilosophie sehen, die dem Denken des Politischen sowohl bei Strauss als auch bei Schmitt zugrunde liegt. Der Erinnerung an den Naturzustand als Erinnerung der existentiellen Dimension des Menschen, die beide Denker entlang der von Hobbes vorgenommenen Bestimmung des Todes als das größte Übel auf jeweils andere Weise zur Geltung bringen, setzt Agamben die Erinnerung eines Lebens jenseits des Rechts entgegen: „Im Recht seine Nicht-Beziehung zum Leben und im Leben seine Nicht-Beziehung zum Recht offenbar werden zu lassen, heißt, zwischen ihnen einen Raum für menschliches Handeln zu eröffnen, der vormals den Namen des ‚Politischen‘ für sich einforderte. Politik aber hat eine dauerhafte Verdunklung erlitten, denn sie hat sich am Recht infiziert und im besten Fall selbst als konstituierende Gewalt (also als Gewalt, die Recht setzt) begriffen, sofern sie nicht einfach auf Gewalt, die mit dem Recht schachert, reduziert wird. Wahrhaft politisch ist indessen nur solches Handeln, das den Bezug zwischen Gewalt und Recht rückgängig macht.“63 Während das existentialistische Denken des politischen Todes das nackte Leben nur in der Form des Opfers als maximalen Einsatz des Kampfes auf Leben und Tod kennt, das zuletzt allein in der Lage ist, eine Gemeinschaft des Gemeinsamen zu stiften, geht es Agamben darum, das nackte 60

61 62 63

Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, übers. v. Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt/M. 2004, S. 102. Im Hinblick auf die politische Situation der Gegenwart schreibt Agamben: „Der normative Aspekt des Rechts kann so ungestraft entwertet, ihm kann widersprochen werden von einer Regierungsgewalt, die im Ausland internationales Recht ignoriert, im Inneren einen permanenten Ausnahmezustand schafft und dann vorgibt, immer noch das Recht anzuwenden.“ Zur Fortschreibung der Strategie Walter Benjamins bei Agamben, in Entwendung von Carl Schmitts Begriff im Ausnahmezustand die Regel zu erkennen, vgl. Bettine Menke: Giorgio Agambens Umschrift ‚Politischer Theologie‘, in: Jürgen Fohrmann/Jürgen Brokoff (Hg.): Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jahrhundert, Paderborn 2003, S. 131–152. Agamben: Ausnahmezustand (Anm. 60), S. 102. Vgl. dazu Johannes Scheu: Giorgio Agamben: Überleben in der Leere, in: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, S. 350–362. Agamben: Ausnahmezustand (Anm. 60), S. 104.

354

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Leben selbst als den Ausgangspunkt der Gemeinschaft zu denken. Wenn alle modernen Versuche, die privilegierte Beziehung der Souveränität zum Tod dadurch zu überwinden, dass der Tod an den Rand des Lebens gedrängt wird,64 insofern gescheitert sind, als sich die Lebensmacht an eben diesem Rand in dem Maß in eine Todesmacht verwandelt, in dem die Verdrängung des Todes als gelungen erscheint, dann stellt sich für ein solches Denken die Frage nach der Rolle, die dem Tod in einer Gemeinschaft zukommt, die sich nicht mehr um die privilegierte Beziehung der Souveränität zum Tod anordnet, sondern in der jeder gleichermaßen in dieser Beziehung steht. Für Agamben kommt es deshalb darauf an, die politischen Konsequenzen aus dem in der Existenzphilosophie formulierten Primat einer „Erfahrung der Faktizität“ zu ziehen, die dann zur einzig maßgeblichen Erfahrung wird, wenn „Natur und Politik, Außen und Innen, Ausschluß und Einschluß“ ununterscheidbar geworden sind: „Im Ausnahmezustand, der zur Regel geworden ist, verkehrt sich das Leben des homo sacer, der das Gegenstück des Souveräns war, in eine Existenz, auf welche die Macht keinerlei Zugriff mehr hat.“65 Die Ununterschiedenheit von Natur und Politik zu denken, heißt jedoch in letzter Konsequenz, genau denjenigen Naturzustand, auf dessen Negation die moderne Ordnungspolitik aufruht und der nach Hobbes deshalb kein dauerhafter Zustand sein kann, weil ihm keine privilegierte Differenz innewohnt, überhaupt erst als einen Zustand von Dauer zu denken: „Bei Heidegger dagegen wird der homo sacer, für den bei jeder Handlung sein Leben selbst auf dem Spiel steht, Dasein, für das in seinem Sein sein Sein selbst auf dem Spiel steht, untrennbare Einheit von Sein und Seinsweisen, Subjekt und Eigenschaft, Leben und Welt.“66

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Personenverzeichnis

Abel, Günter 215 Abendroth, Wolfgang 320 Adorno, Theodor W. 72, 220, 251 Agamben, Giorgio 51, 68, 187, 281, 288, 347– 354 Alberti, Leon Battista 40 Althusser, Louis 38, 48, 50, 61, 153f. Anders, Günther 294 Anderson, Benedict 89 Arendt, Hannah 70, 87, 146, 252, 307 Ariès, Philippe 13 Aristoteles 60, 122, 166, 183, 185, 189f., 193, 238, 323, 335, 342 Assmann, Jan 19 Augustinus von Hippo 199 Austin, John L. 48 Axelos, Kostas 173 Bacon, Francis 31, 55 Badiou, Alain 237 Baecker, Dirk 336 Balibar, Étienne 50, 156 Balke, Friedrich 34, 40, 64, 92, 146, 179, 231, 237, 258, 310, 345f., 349 Bamyeh, Mohammed A. 180 Barion, Hans 35 Barthes, Roland 150 Bataille, Georges 185, 187f., 270, 276–297 Bateson, Gregory 312, 318 Baudrillard, Jean 17, 147, 168, 286 Baugh, Bruce 135, 286

Baumanns, Peter 200 Beck, Lewis White 76 Beck, Ulrich 304, 332 Becker, Gary Stanley 26 Behler, Ernst 222 Benjamin, Jessica 135 Benjamin, Walter 37 Bentham, Jeremy 148 Bickel, Cornelius 233 Bickermann, Elias 39 Bischof, Rita 276 Bloch, Ernst 57 Bluhm, Harald 125, 157, 338 Blumenberg, Hans 33, 43, 99–101, 199, 247 Bodin, Jean 66 Böhme, Gernot 98 Böhme, Hartmut 169 Bohrer, Karl Heinz 212 Bolz, Norbert 167 Bosse, Heinrich 80 Bourdieu, Pierre 245 Brandt, Reinhardt 38, 102 Bredekamp, Horst 37f. Bröckling, Ulrich 343 Brunkhorst, Hauke 314 Bürger, Peter 278, 280 Busche, Hubertus 302 Butler, Judith 48, 130 Caillois, Roger 45, 283 Calliess, Christian 303

380 Calvin, Johannes 36 Camus, Albert 177 Canetti, Elias 30f., 57 Cassirer, Ernst 248 Castoriadis, Cornelius 32, 54, 62 Cohen, Hermann 256 Crary, Jonathan 84 Croce, Benedetto 25 Crouch, Colin 327 Därmann, Iris 49, 116, 210, 249, 290 Darwin, Charles R. 317, 319, 326 Davis, Mike 162 Debord, Guy-Ernest 193 Deleuze, Gilles 95, 192, 212 Demirovic, Alex 331 Derrida, Jacques 48, 67, 79, 101, 117, 120, 135, 175, 198, 216, 222, 226, 239f., 261, 263, 265, 268f., 274f., 282, 288f., 346 Descartes, René 65, 100–102, 137, 196, 240, 247, 249f., 285f. Deutsch, Helene 210 Didi-Huberman, Georges 20 Dreyfus, Hubert L. 150 Drury, Shadia B. 194 Durkheim, Émile 45, 86, 150, 283 Eagleton, Terry 73 Eco, Umberto 256 Ehrenberg, Alain 230 Elias, Norbert 14, 19, 223, 327 Ellrich, Lutz 142 Esposito, Roberto 30, 43, 81, 214, 234, 254, 276 Eucken, Walter 165 Farinelli, Franco 257 Fetscher, Iring 106, 160 Feuerbach, Ludwig 16 Fichte, Johann Gottlieb 108, 200, 203 Fink, Eugen 116, 211 Flasch, Kurt 199 Fohrmann, Jürgen 339 Ford, Henry 186 Forsthoff, Ernst 319–324 Foucault, Michel 40f., 59, 68–71, 76, 81, 88f., 101, 119, 124f., 148–151, 165, 170, 184, 193f., 214, 221, 280f., 290, 310, 313, 320, 343f. Frank, Manfred 134, 201

P Freud, Sigmund 23f., 45, 56, 64, 101, 103, 135, 145, 207, 221, 229, 253, 270–276, 284, 295f., 312 Frietsch, Ute 90 Fukuyama, Francis 174–176, 181f., 191–194 Gabriel, Markus 198 Gadamer, Hans-Georg 133 Gasché, Rudolphe 278 Gehlen, Arnold 305 Gehring, Petra 326 Gennep, Arnold van 132 Gerhardt, Volker 218f. Girard, René 45f., 55 Gondek, Hans-Dieter 103, 285 Greven, Michael 309 Guattari, Felix 192 Gutschker, Thomas 33, 341 Habermas, Jürgen 130, 134, 190, 273, 280, 305, 331 Haeckel, Ernst 319 Hardenberg, Friedrich von 149 Hardt, Michael 158, 181 Hare, Richard M. 21 Harrison, Lawrence E. 302 Haug, Wolfgang Fritz 166f. Hebekus, Uwe 39 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 25, 57, 61, 105, 107–121, 124–138, 140–142, 151– 153, 156–158, 160–165, 167f., 175–178, 180, 182–184, 187, 190f., 193, 235–237, 239, 243–245, 259, 262, 272f., 275–278, 286, 289, 315–317, 320f., 323, 325, 330, 335f. Heidegger, Martin 77, 83, 189, 196, 208, 232– 269, 293f., 324, 339–341, 354 Henrich, Dieter 72, 75 Hobbes, Thomas 22, 24f., 30–66, 86f., 92f., 98, 106, 109, 112, 114, 117, 124, 136–139, 142, 146–148, 150, 152, 170, 203, 213–215, 225, 230, 239, 252, 255, 276, 280, 292, 339– 344, 346–348, 352–354 Höffe, Otfried 74, 102 Holz, Hans Heinz 125 Honneth, Axel 22, 128–131, 134 Horkheimer, Max 220, 270 Horn, Christoph 75 Horstmann, Rolf-Peter 111 Hoyer, Timo 203 Huizinga, Johan 291

P Hume, David 233 Huntington, Samuel P. 302 Husserl, Edmund 240–242 Iber, Christian 115 Iser, Wolfgang 32, 55 Jaspers, Karl 243, 287 Jünger, Ernst 264 Kant, Immanuel 65, 67–104, 109f., 112–116, 119, 133, 141, 150, 160, 171, 173, 213, 233, 255–258, 261f., 269, 273 Kantorowicz, Ernst 37, 39 Kapp, Ernst 305 Kelsen, Hans 87 Kersting, Wolfgang 51, 78, 342 Keynes, John Maynard 292 Kierkegaard, Søren 206 Kittler, Friedrich 141, 149, 154, 206, 226, 305 Kittsteiner, Heinz Dieter 81, 205, 257 Kloepfer, Michael 303, 321 Klossowski, Pierre 227 Knorr Cetina, Karin 266 Kodalle, Klaus-Michael 31, 63 Kohl, Karl-Heinz 169 Kojève, Alexandre 114, 126–128, 131, 175, 177–189, 191–194, 286 Konersmann, Ralf 302 Koschorke, Albrecht 46 Koselleck, Reinhart 53, 161, 189, 329 Koyré, Alexandre 179 Kramme, Rüdiger 347 Lacan, Jacques 23–25, 44, 50, 62, 101, 104, 118, 124, 136, 144–146, 148, 169, 179, 197, 229, 252, 261f., 267f., 272f., 275f., 345 Laclau, Ernesto 150, 202 Lacoue-Labarthe, Philippe 238 Latour, Bruno 298–304, 329 Lefort, Claude 55 Leibniz, Gottfried Wilhelm 15, 199 Lemke, Thomas 221, 348 Lenin, Wladimir Iljitsch 161, 178 Lessing, Theodor 216 Lévinas, Emmanuel 122, 249 Liessmann, Konrad Paul 294 Lindemann, Gesa 299, 351 Link, Jürgen 86, 245 Locke, John 248

381 Löwith, Karl 176, 182 Loraux, Nicole 53 Losurdo, Domenico 243 Ludwig, Bernd 64 Lüdemann, Susanne 47, 58 Lütkehaus, Ludger 210 Luhmann, Niklas 54f., 142, 240, 298, 302– 315, 317–319, 324f., 327–336 Lukács, Georg 109, 153 Luther, Martin 36 Luxemburg, Rosa 163 Macho, Thomas 15, 295, 351 Majetschak, Stefan 139 Malthus, Thomas Robert 171 Man, Paul de 76 Manow, Philip 23, 146 Marchart, Oliver 159, 285 Marcuse, Herbert 271 Marin, Louis 65 Marquard, Odo 15f., 33, 98f., 188 Marx, Karl 125–128, 130f., 144, 153–173, 175, 178, 183, 185–187, 218, 224, 235, 316 Mauss, Marcel 45, 283, 290 Mead, George Herbert 130 Meier, Heinrich 250, 339, 342 Melville, Herman 164 Menke, Christoph 70, 138, 281, 333, 353 Menzel, Ulrich 180, 300 Meulen, Jan van der 316 Meyer, Martin 127, 179, 339 Mirandola, Giovanni Pico della 308 Moebius, Stephan 283 Möllers, Christoph 320 Montesquieu, Charles-Louis de 141 Mouffe, Chantal 150 Nancy, Jean-Luc 159, 213, 234, 285 Negri, Antonio 158, 181 Neumann, Franz 36 Newman, Saul 202 Nietzsche, Friedrich 60, 189, 193, 196, 201– 231, 239, 244f., 265, 287, 341 Nonnenmacher, Günther 41 Ockham, Wilhelm von 278 Opielka, Michael 235 Ottmann, Henning 186, 204 Paulus 20, 224f.

382

P

Pechriggl, Alice 342 Peirce, Charles Sanders 256 Pellegrin, Pierre 335 Petersen, Thomas 108 Pfaller, Robert 61, 144 Platon 20, 32, 65, 198, 238, 249, 323, 341f. Plessner, Helmuth 347 Pöggeler, Otto 174, 255, 264 Quante, Michael

112, 157, 316

Rabinow, Paul 150 Rancière, Jaques 31, 69, 96, 172 Rapp, Friedrich 298 Rawls, John 129 Recki, Birgit 248 Rehberg, Karl-Siegbert 236 Reich, Wilhelm 271 Ricardo, David 290 Ricken, Friedo 84 Riedel, Manfred 42, 110, 239, 244 Rilke, Rainer Maria 12 Ritter, Joachim 190 Rorty, Richard 65 Rotman, Brian 100 Rousseau, Jean-Jacques 17, 48, 105–108, 137, 216f., 340 Ruesch, Jürgen 312 Sahlins, Marshall 126 Sartre, Jean-Paul 134, 251, 277, 286 Savigny, Carl von 235 Schapiro, Meyer 260 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 196–201, 203 Schlesier, Renate 207 Schmidt, Alfred 155 Schmidt, Hajo 296 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 199 Schmitt, Carl 33–36, 53, 82, 127, 146, 152, 161, 164, 179, 186, 312, 338–340, 343–349, 351–353 Schopenhauer, Arthur 208 Schüttpelz, Erhard 290 Schulz, Walter 100 Schumpeter, Joseph 279 Serres, Michel 328 Siegert, Bernhard 40 Siep, Ludwig 112, 137 Sieyès, Emmanuel Joseph 67–70, 75f., 82 Simon, Josef 72, 77, 96, 118, 139, 225, 241 Singer, Peter 331

Sloterdijk, Peter 67, 191, 204–206, 208, 245, 303, 324, 341, 344 Smith, Adam 71, 165, 202 Sokrates 20f. Sombart, Werner 279 Spengler, Oswald 26, 243 Spinoza, Baruch de 21, 82 Starobinski, Jean 105 Stegmaier, Werner 229 Steigleder, Klaus 91 Stichweh, Rudolf 180, 300, 334 Stiegler, Bernard 264 Stirner, Max 202–204 Strauss, Leo 31–36, 127, 137, 180, 250, 338– 343, 345, 347–349, 351–353 Taubes, Jacob 20, 33, 35, 183–185, 188f., 224, 293 Taureck, Bernhard 85 Taylor, Charles 141 Thomä, Dieter 251 Thomasius, Christian 310 Tocqueville, Alexis de 282 Tönnies, Ferdinand 26, 53, 232–239 Trede, Johann Heinrich 96 Trittin, Jürgen 322 Trotzki, Leo 161 Tugendhat, Ernst 242 Uexküll, Jakob Johann von 254 Vico, Giambattista 25, 154 Virilio, Paul 183 Voegelin, Erich 36 Vogl, Joseph 48, 70, 152, 165 Vollrath, Ernst 252 Wahl, Jean 135 Wallerstein, Immanuel 302 Weber, Max 167 Werber, Niels 152 Wex, Thomas 279 Widmer, Thomas 189, 261 Wiener, Norbert 305 Willke, Helmut 336 Wingert, Lutz 110 Wirtz, Thomas 306 Wolin, Richard 267 Žižek, Slavoj 113, 124, 145, 175, 197, 260, 323