Vom erstrebenswertesten Leben: Aristoteles’ Philosophie der Muße 9781614517214, 9781614517764

Aristotle examines the role of leisure (scholé) in the optimal life of the citizen (Politics VII/VIII). In the quest for

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German Pages 212 Year 2014

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Table of contents :
Einführung
Teil A: Vom erstrebenswertesten Leben
1 Die Politik und die Frage der Lebensform
1.1 Zur Rezeptionsgeschichte der Politik
1.2 Die Philosophie der menschlichen Angelegenheiten
1.3 Grundlegung des hairetôtatos bios (Politik VII 1)
1.4 Diskussion der Lebensformen (Politik VII 2)
1.5 Theorie und Praxis (Politik VII 3)
2 Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung
2.1 Die aristê politeia: Utopie contra Realität
2.2 Äußere Verfassung: Zur (An-)Lage der Polis
2.3 Innere Verfassung: Zur (An-)Ordnung der Polis-Gesellschaft
2.4 (Interdisziplinäre) Kritiken am aristotelischen Staatsentwurf
2.5 Ein Staat nach bestem Ermessen
3 (Politische) Autarkie
3.1 Die sozialanthropologische Dimension
3.2 Die ökonomische Dimension
3.3 Die staatsbürgerliche Dimension
3.4 Die sozialethische Dimension
3.5 Die freundschaftliche Dimension
Exkurs I: Wesen und Autarkie der antiken Polis
Exkurs II: Kulturhistorische Splitter zur Muße
Teil B: Aristoteles' Philosophie der Muße
4 Muße in Politik VII und VIII
4.1 Grundthesen der scholê-Interpretation
4.2 Territorium und Bürgerschaft
4.3 scholê und ascholia
4.4 Genuss und Glückseligkeit
4.5 Eine scholê-Bilanz nach Politik VII und VIII
5 Die Gestaltung der Muße
5.1 Der hairetôtatos bios: Leben in ascholia und scholê
5.2 Die Tugenden in Nichtmuße und in Muße
5.3 Zur Funktion der Philosophie in Zeiten der Muße
5.4 Über den historischen Kontext des scholê-Denkens
5.5 Die Erziehung zum (politisch) gebildeten Bürger
6 Dimensionen der Muße
6.1 Muße als politische Leistung der Gemeinschaft
6.2 Muße als tugendhafte Haltung des Einzelnen
6.3 Muße als verantwortete Freiheit des Bürgers
6.4 Muße und Philosophie
6.5 Muße und Sinnerfüllung
7 Schlussbetrachtungen
7.1 Eine kritische Würdigung von Politik VII und VIII
7.2 Repliken auf die Kritiken am Staatsentwurf
7.3 Ein Fazit in fünf Punkten
Literaturverzeichnis
Namensregister
Stellenregister
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Vom erstrebenswertesten Leben: Aristoteles’ Philosophie der Muße
 9781614517214, 9781614517764

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Simon Varga Vom erstrebenswertesten Leben

Topics in Ancient Philosophy/ Themen der antiken Philosophie

Herausgegeben von/Edited by Ludger Jansen, Christoph Jedan, Christof Rapp

Band 6

Simon Varga

Vom erstrebenswertesten Leben

Aristoteles’ Philosophie der Muße

ISBN 978-1-61451-776-4 e-ISBN 978-1-61451-721-4 ISSN 2198-3100 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter Inc., Boston/Berlin Printing: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

| »Wer über die beste Verfassung die Untersuchung in sachgemäßer Weise anstellen will, der muss notwendig zuerst bestimmen, welches Leben das erstrebenswerteste ist.« Aristoteles Politik VII 1

Vorwort Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2012 von der Philosophischen Fakultät an der Universität Tübingen angenommen wurde. Sich auf ein Forschungsunternehmen zu Aristoteles einzulassen, benötigt unter anderem Zeit und Muße, notwendige äußere Rahmenbedingungen sowie kollegiale Unterstützung. Da ich mich in der glücklichen Lage befunden habe, auf all das zurückgreifen zu können, gilt es vorab der angenehmen Pflicht nachzukommen und „Danke“ zu sagen. Besonderer Dank gilt der Forschungsstelle für Politische Philosophie an der Universität Tübingen: zum einen für die offene und freundliche Annahme als Doktorand; zum andern für die umfassende Unterstützung durch den Leiter der Forschungsstelle und meinem Doktorvater Otfried Höffe. Ebenso bedanke ich mich herzlich bei dem Zweitgutachter Karl-Heinz Stanzel vom Philologischen Seminar der Universität Tübingen für die überaus lehrreiche Zusammenarbeit. Den Herausgebern dieser Reihe, Ludger Jansen, Christoph Jedan und Christof Rapp danke ich für die Bereitschaft, diese Studie zu veröffentlichen. Weiters danke ich unterschiedlichen Personen an den Universitäten Wien, Graz, Salzburg, Heidelberg, Darmstadt und Bonn, die es mir ermöglicht haben, Teile des Projekts in Vorträgen darzustellen und kritisch diskutieren zu können. Schließlich danke ich dem Stipendienfonds der Julius-Raab-Stiftung für die finanzielle Unterstützung meiner Forschungen in den letzten Jahren, ebenso der Dr.-Johann-Dorrek Stiftung für die Anerkennung des Förderpreises für mein Promotionsstudium sowie den verantwortlichen Personen für die Verleihung des Leopold-Kunschak-Wissenschaftspreises 2013 für diese vorliegende Studie. Nicht zuletzt sage ich auch allen Menschen in meinem familiären Umfeld, meiner Frau Elisabeth, meinen Eltern, Geschwistern und meinem Freundeskreis ein herzliches „Danke“ für viel Aufmerksamkeit und Verständnis.

Tübingen, Sommersemester 2014

Inhalt Einführung | 1 Teil A: Vom erstrebenswertesten Leben  1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Die Politik und die Frage der Lebensform | 9 Zur Rezeptionsgeschichte der Politik | 11 Die Philosophie der menschlichen Angelegenheiten | 16 Grundlegung des hairetôtatos bios (Politik VII 1) | 21 Diskussion der Lebensformen (Politik VII 2) | 25 Theorie und Praxis (Politik VII 3) | 29

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung | 36 Die aristê politeia: Utopie contra Realität | 37 Äußere Verfassung: Zur (An-)Lage der Polis | 40 Innere Verfassung: Zur (An-)Ordnung der Polis-Gesellschaft | 47 (Interdisziplinäre) Kritiken am aristotelischen Staatsentwurf | 50 Ein Staat nach bestem Ermessen | 54

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

(Politische) Autarkie | 58 Die sozialanthropologische Dimension | 61 Die ökonomische Dimension | 72 Die staatsbürgerliche Dimension | 76 Die sozialethische Dimension | 79 Die freundschaftliche Dimension | 83

Exkurs I: Wesen und Autarkie der antiken Polis | 89 Exkurs II: Kulturhistorische Splitter zur Muße | 97

X | Inhalt Teil B: Aristotelesʼ Philosophie der Muße  4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Muße in Politik VII und VIII | 107 Grundthesen der scholê-Interpretation | 108 Territorium und Bürgerschaft | 112 scholê und ascholia | 121 Genuss und Glückseligkeit | 131 Eine scholê-Bilanz nach Politik VII und VIII | 136

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Die Gestaltung der Muße | 140 Der hairetôtatos bios: Leben in ascholia und scholê | 140 Die Tugenden in Nichtmuße und in Muße | 145 Zur Funktion der Philosophie in Zeiten der Muße | 151 Über den historischen Kontext des scholê-Denkens | 157 Die Erziehung zum (politisch) gebildeten Bürger | 161

6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

Dimensionen der Muße | 165 Muße als politische Leistung der Gemeinschaft | 165 Muße als tugendhafte Haltung des Einzelnen | 166 Muße als verantwortete Freiheit des Bürgers | 168 Muße und Philosophie | 169 Muße und Sinnerfüllung | 170

7 7.1 7.2 7.3

Schlussbetrachtungen | 172 Eine kritische Würdigung von Politik VII und VIII | 172 Repliken auf die Kritiken am Staatsentwurf | 177 Ein Fazit in fünf Punkten | 183

Literaturverzeichnis | 187 Namensregister | 195 Stellenregister | 199

Einführung Die vorliegende Studie stellt den aristotelischen Begriff der Muße (scholê) in den Mittelpunkt der Untersuchung. Das Ziel ist der Nachweis, wie eng die Themen des hairetôtatos bios, der aristê politeia und jenes der scholê innerhalb von Politik VII und VIII zusammenhängen. Ohne einen jeweils gegenseitigen Bezug dieser genannten Themen zueinander, kann der Staatsentwurf, der in den beiden angesprochenen Büchern der Politik entwickelt wird, nicht zur Gänze nachvollzogen und verstanden werden. Dieser Tatsache wird innerhalb der Forschung allerdings derzeit nicht ausreichend bis gar nicht Rechnung getragen. Hinzu kommt, dass ein umfassender Versuch, Aristotelesʼ Ausführungen über die Muße in allen Facetten gerecht zu werden, noch nicht vorliegt. Die Studie möchte aufgrund dieses Befundes dazu beitragen, diese Forschungslücke durch intensive Textauslegung zu schließen. Mitunter soll die Arbeit weiters einen Beitrag leisten, die aristotelischen Grundaussagen zur Muße aus philosophischer – und teilweise auch aus historischer – Perspektive verorten und interpretieren zu können. Meine These ist, dass Politik VII und VIII ohne eine Auseinandersetzung mit der scholê letztendlich nicht verstanden werden kann. Denn das erstrebenswerteste Leben innerhalb der besten staatlichen inneren und äußeren Verfassung ist im aristotelischen Verständnis zu einem gewichtigen Teil am Mußehaben orientiert. Dabei zeigt sich allerdings, dass die scholê die Aristoteles für das Leben des Bürgers empfiehlt und die er in seinen Überlegungen in Politik VII und VIII herausarbeitet, weder etwas mit Müßiggang noch mit individualistischer bzw. egoistischer Passivität zu tun hat. Vielmehr setzt die Muße aus aristotelischer Perspektive geordnete Gemeinschaft, intakte politische Strukturen und umfassende Bildung des Einzelnen voraus. Dabei steht der Bürger in einer doppelten Pflicht: zum einen gegenüber der ganzen politischen Gemeinschaft der Polis in Bezug auf ihre umfassende politische Autarkie; und zum anderen gegenüber sich selbst in Bezug auf die – letztendlich selbstverantwortete – eudaimonia. Im Fokus dieser Untersuchung steht also Aristotelesʼ Begriff der scholê, die fest in den philosophischen Entwurf aus Politik VII und VIII eingebunden ist. Aufgrund dieser Tatsache ist es erforderlich, auch die anderen Themen die in diesen beiden Büchern angesprochen und bearbeitet werden, für eine Untersuchung der Muße ebenso zu thematisieren. Dabei handelt es sich insbesondere um die Fragen nach dem hairetôtatos bios und nach der aristê politeia, die im ersten Teil dieser Studie (Teil A) bearbeitet werden. Dabei stehen zwei Kernfragen im Mittelpunkt der Untersuchungen. Zum einen ist die Frage leitend,

2 | Einführung worin Aristoteles das „erstrebenswerteste Leben“ des Menschen ausmacht und was die (politischen) Voraussetzungen für diese Lebensform sind. Zum anderen soll nach den wichtigsten Bestimmungen zur aristê politeia, der besten äußeren und inneren Verfassung der aristotelischen „Polis nach Wunsch“ aus Politik VII und VIII, gefragt werden. Zu Beginn steht neben der Einführung (1.) die Darstellung einiger weniger Überlegungen zur Rezeptionsgeschichte der Politik im Vordergrund (1.1). Untrennbar damit verbunden sind die Datierungsdebatten rund um die einzelnen Bücher der Politik. Diese Diskussionen haben meiner Meinung nach den Aristoteles-Diskurs des 20. Jahrhunderts zwar bereichert, inhaltlich allerdings nicht wesentlich weiter gebracht. Daran anschließend frage ich nach dem Verhältnis von Ethik und Politik, zumal diese „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“ (1.2) für das politische Denken bei Aristoteles konstitutiv ist, so auch für Politik VII und VIII. Unmittelbar daran anschließend widme ich mich der Grundlegung des hairetôtatos bios in Politik VII 1 (1.3). Anhand des ersten Satzes aus Politik VII 1 zeige ich, dass für Aristoteles die Bestimmung des hairetôtatos bios für eine Auseinandersetzung mit der aristê politeia eine unabdingbare Prämisse ist. Solange die Frage nach dieser Lebensform noch nicht geklärt ist, muss auch die Frage nach der besten Staatsverfassung im Unklaren bleiben. Für den hairetôtatos bios kommen in Politik VII 2 insbesondere zwei Lebensformen in Frage, nämlich der bios praktikos kai politikos oder der bios theôrêtikos (1.4). Daran anschließend zeige ich, dass sich Aristoteles nicht ausschließlich für eine dieser Formen entscheidet, sondern sich viel eher um eine erkennbare Verbindung beider Lebensformen miteinander bemüht (1.5). Erst nach diesen angeführten Bestimmungen zum hairetôtatos bios kann ich mich den Gedanken zur „Polis nach Wunsch“ widmen (2.). Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob es sich bei dem Denken über dieses politische Gemeinwesen um eine ferne Utopie, schlichtweg um einen frommen Wunsch oder vielleicht doch eher um ein konkretes, erstens an der damaligen Zeit orientiertes und zweitens für die unmittelbare Umsetzung in die Praxis gedachtes PolisKonzept handelt (2.1). Danach fokussiere ich die Bestimmungen zur äußeren Verfassung, also sozusagen den „geistigen Stadtplan“ der Polis (2.2) und daran anschließend die innere Verfassung, nämlich die von Aristoteles skizzierte gesellschaftliche Struktur (2.3). Dass das Konzept der Polis nach Wunsch im Laufe der Geschichte der Philosophie nicht unkritisiert geblieben ist, soll im darauf folgenden Kapitel (2.4) primär mittels der Betrachtung von vier größeren Kritikströmungen nachgezeichnet werden, bevor eine eigenständige Interpretation der „Polis nach Wunsch“ als die eines „Staats nach bestem Ermessen“ entwickelt wird (2.5), womit ich mich gegen eine Utopie-Interpretation von Politik VII und VIII ausspreche.

Einführung | 3

Nach den Bestimmungen zum hairetôtatos bios als auch zur aristê politeia wende ich mich dem Bereich der politischen Autarkie zu (3.). Meine These hierbei ist, dass Muße ohne zuvor erfolgte und gesicherte politische Autarkie nicht möglich ist. Da – neben dem Thema der scholê – auch das Verständnis der politischen Autarkie bei Aristoteles innerhalb der Forschung noch nicht umfassend untersucht wurde, widmet sich dieses Kapitel einer Grundlegung anhand fünf unterschiedlicher Perspektiven. Erstens entwickle ich eine sozialanthropologische Dimension mit Hilfe von Politik I 2 (3.1), wo die Polis als Garant des „bloßen Lebens“ und für den Menschen als unverzichtbar ausgewiesen wird. Zweitens folgt die Darstellung der ökonomischen Dimension der politischen Autarkie (3.2), die im aristotelischen Konzept unmittelbar an die erste anschließt und die Güterlehre in den Mittelpunkt stellt. Drittens wird eine staatsbürgerliche Dimension entwickelt (3.3), bei der Aristoteles die Wichtigkeit einer politisch aktiven Bürgerschaft anspricht, die ihre Rechte aber auch ihre Pflichten kennt. Viertens entwickle ich eine sozialethische Dimension der politischen Autarkie, die jene zuerst angeführten sozialanthropologischen Ansichten ergänzt: nicht allein um des „bloßen Lebens“ willen lebt der Mensch in Gemeinschaft, sondern vor allem in Bezug auf das „gute und gelingende Leben“, dem eu zên. Zum Abschluss dieses Kapitels folgt ein kurzer Verweis auf Aristotelesʼ Theorie der Freundschaft, die freundschaftliche Dimension (3.5), die abermals wie auch schon die anderen Themen deutlich vor Augen führt, dass politische Autarkie bei Aristoteles nicht Isolation, sondern intakte Gemeinschaft bedeutet. Politik VII und VIII ist nicht nur aus philosophischer oder politischer, sondern auch aus althistorischer Perspektive von großem Interesse und Bedeutung. Der auf die Grundlegung der politischen Autarkie folgende erste Exkurs (Exkurs I) über Wesen und Autarkie der antiken Polis soll einen Überblick über die in der Alten Geschichte betriebene Polis-Forschung geben, um die in dieser Studie verwendeten aristotelischen Gedankengänge besser einordnen zu können sowie um eine ungefähre Vorstellung darüber zu erhalten, ob, und wenn ja, in welcher Weise Aristoteles sein Polis-Konzept aus Politik VII und VIII realitätsbezogen angelegt und angedacht hat. Das Thema der Muße ist innerhalb der Geschichte der Philosophie nicht bloß – wenn auch insbesondere – bei Aristoteles Gegenstand der Überlegungen, sondern wurde gelegentlich aber doch in den Philosophien anderer Denker bearbeitet. Der zweite Exkurs (Exkurs II) zeichnet die wichtigsten Linien der Philosophiegeschichte der Muße in aller Kürze nach. Ziel dieses Exkurses ist es, einen rudimentären Eindruck über das Thema der Muße und ihrer Bedeutung innerhalb der Philosophie in kompakter Art und Weise zu sammeln und zu vermitteln.

4 | Einführung Der zweite Teil dieser Studie (Teil B) beginnt mit den ersten spezifischen Bestimmungen zur scholê (4.). Einleitend dazu werden die wenigen scholêInterpretationen aus der Forschung diskutiert (4.1), die, wie ich aufzeige, teilweise doch recht deutlich divergieren. Aristoteles erörtert seine einführenden Gedanken zur scholê im Rahmen der Bestimmungen des Territoriums und der Bürgerschaft der aristê politeia (4.2). Dabei wird die wichtige Unterscheidung zwischen ascholia und scholê getroffen (4.3), eine für Aristoteles fundamentale Differenzierung für das Leben und für die Tätigkeiten des Bürgers. Dabei wird deutlich, dass die scholê und die sinnerfüllte Lebensgestaltung für die eudaimonia unverzichtbar ist (4.4). Daran anschließend folgt eine Bilanz der aristotelischen Überlegungen zur scholê anhand von Politik VII und VIII, die ich in acht Punkten ausformuliert habe und die alle wichtigen Aspekte der Überlegungen anführt. Das nächste Kapitel widmet sich der Gestaltung der Muße sowie der Verbindung des hairetôtatos bios, der aristê politeia sowie der scholê (5.). Erstens steht die Frage im Mittelpunkt, ob sich das erstrebenswerteste Leben ausschließlich als ein Leben der Muße verstehen lässt (5.1). Diese Vermutung wird aufgrund der Bedeutung der ascholia und der Notwendigkeit der politischen Autarkie für das Leben des Bürgers verworfen. Zweitens wird nach den konkreten Tugenden in „Nichtmuße“ und in „Muße“ gefragt (5.2), die allerdings von Aristoteles selbst – zumindest in Politik VII und VIII – wenig Aufmerksamkeit erfahren. Mit Hilfe der Nikomachischen Ethik lassen sich, wie ich zeige, die Überlegungen zu den Tugenden in der Politik allerdings in einigen Punkten trefflich ergänzen. Drittens wird nach der Bedeutung der Philosophie für das Leben des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen gefragt (5.3), zumal die Philosophie – so meine These – für Aristoteles eine große Bedeutung in Zeiten der Muße hat. Als Vorbild für dieses Philosophie-Verständnis könnten Aristoteles seine Überlegungen aus dem Protreptikos gedient haben. Viertens frage ich nach der historischen Authentizität der aristotelischen (politischen) Forderung nach ausreichender scholê für den Bürger (5.4). Fünftens schließt dieses Kapitel mit Überlegungen zur Erziehung des Bürgers, der paideia, die meiner Meinung nach für den Staat nach bestem Ermessen ein Kernthema ist und somit auch für eine Untersuchung der scholê unverzichtbar erscheint (5.5). In der Interpretation der aristotelischen Überlegungen zur scholê anhand von Politik VII und VIII biete ich unterschiedliche Auslegungen an, die sich alle anhand des Textes nachvollziehen lassen. Fünf Thesen stehen dabei im Vordergrund, die sich gegenseitig nicht ausschließen sondern jeweils ergänzen: Erstens wird die Muße als politische Leistung der ganzen politischen Gemeinschaft, der Bürger und der Nichtbürger, interpretiert (6.1), zweitens jedoch auch als eine tugendhafte Haltung des einzelnen Menschen (6.2), drittens als eine Art

Einführung | 5

von verantworteter Freiheit des Bürgers gegenüber der politischen Gemeinschaft (6.3), viertens als ein klares Bekenntnis zur Philosophie als Lebensgestaltung im breiteren Sinne und schließlich fünftens als (individuelle) Sinnerfüllung des Lebens des Menschen (6.5). Alle diese genannten Interpretationen lassen sich meiner Ansicht nach anhand der scholê in den aristotelischen Überlegungen belegen. In den folgenden Schlussbetrachtungen (7.) stehen drei Themen zur Diskussion. Erstens erfolgt eine kritische Würdigung des philosophischen Programms aus Politik VII und VIII (7.1), die zum einen sechs Kritiken entwickelt und zum anderen sechs nach wie vor aktuelle und teilweise auch brisante politische Themenfelder in den aristotelischen Überlegungen zur scholê ausfindig macht. Auf der Seite der Kritik steht das Problem der Trennung von Nichtbürgern und Bürgern innerhalb der Polis-Gesellschaft, der Ausgrenzung der Nichtbürger in Bezug auf scholê und eudaimonia, die Unbestimmtheit der Tugenden in Zeiten der Muße, der Nichteinbezug der philia für die Entwicklung der aristê politeia, der Verzicht auf panhellenische oder gar kosmopolitische Gedanken sowie die Überlegungen zur paideia als eine Art von staatlicher Kontrolle der Bürgerschaft. Auf der Seite der Würdigungen hingegen stehen die Bereiche der Bedeutung der politischen Autarkie für die Gemeinschaft, die Wichtigkeit der scholê für das gute und gelingende Leben, die Notwendigkeit der paideia für den Staat von morgen, das Prinzip der Mäßigkeit des Staates, der Beweis, dass sich Gemeinschaft, Verantwortung und Individualität nicht widersprechen und die immense Bedeutung der scholê für die politische Gemeinschaft als auch für den Einzelnen. Zweitens werden vier Repliken auf die Kritiken am Staatsentwurf aus Politik VII und VIII, dem Staat nach bestem Ermessen, entwickelt und diskutiert (7.2), zumal diese Staatskonzeption über die Fachphilosophie hinaus immer wieder kontrovers interpretiert und unterschiedlich betitelt wurde, zumeist allerdings ohne konkreten Miteinbezug der scholê oder der aristotelischen Suche nach der Bestimmung des hairetôtatos bios. Diese beiden Themen sind allerdings mit der aristê politeia bei Aristoteles unabdingbar verbunden. Dieser neue Blick auf Politik VII und VIII hat auf die Interpretation des Staats nach bestem Ermessen mit Sicherheit große Auswirkungen. Drittens und abschließend folgt ein Fazit aus der Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Begriff der scholê anhand von Politik VII und VIII in fünf Punkten (7.3).

| Teil A: Vom erstrebenswertesten Leben

1 Die Politik und die Frage der Lebensform Im Zentrum dieser Studie steht eine Auseinandersetzung mit der scholê bei Aristoteles – primär, aber nicht ausschließlich – anhand von Politik VII und VIII. Da es sich bei diesen beiden letzten Büchern der Schrift um eine eigenständige Abhandlung handelt, müssen wir die anderen Themen die darin angesprochen werden mit berücksichtigen und dabei fragen, in welches Gesamtkonzept Aristoteles sein scholê-Verständnis eingefügt hat. Dafür bietet bereits der erste Satz aus Politik VII einen wichtigen Anfang: »Wer über die beste Verfassung die Untersuchung in sachgemäßer Weise anstellen will, der muss notwendig zuerst bestimmen, welches das wünschenswerteste Leben ist« (Pol. VII 1, 1323a14ff).1

Zwei Themen werden hier deutlich angesprochen, die in den darauffolgenden Überlegungen Gegenstand der philosophischen Erörterungen sein werden und die bereits an dieser Stelle ein großes und dichtes Programm ankündigen. Zum einen fragt Aristoteles nach einer Untersuchung der besten Verfassung einer Polis, der sogenannten aristê politeia, im Grunde genommen ein klassisches Motiv – nicht ausschließlich aber insbesondere – der antiken politischen Philosophie. Zum anderen führt er an dieser Stelle an, dass eine Untersuchung der besten Verfassung aus seiner Perspektive nur dann in sachgemäßer Art und Weise erfolgen kann, wenn zuerst eine Bestimmung darüber getroffen wird, welches Leben das wünschenswerteste, der hairetôtatos bios, ist. Hiermit wird bei Aristoteles offensichtlich ein gegenseitiger Bezug zwischen diesen beiden Themenbereichen angedeutet, der heute auf einen ersten Blick vielleicht verwundern mag. Was hat das „wünschenswerteste Leben“ des einzelnen Menschen mit einer Untersuchung der „besten (staatlichen) Verfassung“ einer (politischen) Gemeinschaft zu tun? Gleichzeitig stellt sich die Frage, warum es für Aristoteles überhaupt wichtig erscheint, vor einer Untersuchung bzw. Darstellung seiner aristê politeia über den hairetôtatos bios zu sprechen und zusätzlich auch noch gleich einleitend dazu zu behaupten, dass eine Klärung des letzteren Bereichs für eine sachgemäße Auseinandersetzung mit dem ersteren vorab notwendig erscheint? Hinzu kommt die für diese Studie wichtigste Frage, nämlich mit welcher Absicht Aristoteles die scholê in diese philosophische Abhandlung eingebaut hat?

|| 1 »Περὶ δὲ πολιτείας ἀρίστης τὸν μέλλοντα ποιήσασθαι τὴν προσήκουσαν ζήτησιν ἀνάγκη διορίσασθαι πρῶτον τίς αἱρετώτατος βίος.«

10 | Die Politik und die Frage der Lebensform Diesen und anderen, weiterführenden Fragen rund um die scholê soll in dieser Studie anhand der aristotelischen Ausführungen sowie ihrer gegenwärtigen Auslegungen in der Forschung nachgegangen werden. Dabei möchte ich zeigen, dass die Interpretationen sowohl des hairetôtatos bios als auch jene der aristê politeia erstens divergieren und zweitens einige kleinere, aber nicht unbedeutende Details dieser beiden Bereiche zumeist unzureichend ausgelegt und gelegentlich in einen zumindest fragwürdigen Kontext gestellt werden. Hinzuzufügen ist dabei gleich vorweg, dass das Thema der aristotelischen Bestimmungen zum hairetôtatos bios im Kontext mit Politik VII und VIII über die aristê politeia in der Aristoteles-Forschung der vergangenen Jahrzehnte kaum eine Rolle gespielt hat, umso weniger noch in Bezug auf die aristotelische politische Philosophie im Gesamten. Meine These ist, dass zum einen die klare Frage nach dem wünschenswertesten Leben und zum anderen die Frage nach der besten Verfassung nur zusammen nachvollzogen und ausschließlich im gemeinsamen Wechselbezug aufeinander beantwortet und so auch umfassend verstanden werden können. Hinzu kommt, dass innerhalb dieser philosophischen Erörterungen der scholê ein wichtiger Wert zugesprochen wird und sie eine tragende Rolle innerhalb der Konzeption in Politik VII und VIII einnimmt. In der Aristoteles-Forschung findet die scholê allerdings wenig bis gar keine Beachtung. Meiner Ansicht nach lässt sich jedoch anhand dieser Überlegungen deutlich machen, wie eng die hier genannten Themen miteinander verknüpft sind und dass sie den eigentlichen Kern dieser beiden Bücher ausmachen, der sich ohne die scholê nicht gänzlich fassen lässt. Zumal sie eines der besten Beispiele dafür ist, wie Aristoteles innerhalb seiner politischen Philosophie die Verknüpfung von Politik im weiteren Sinne auf der einen Seite und der Glückseligkeit des einzelnen Menschen auf der anderen Seite gedacht hat. Hinzu kommt, dass die scholê, insbesondere in Bezug auf Politik VII und VIII, innerhalb der Aristoteles-Forschung heute zwar ein Schattendasein führt, jedoch ein reiches geistesgeschichtliches Erbe darstellt, dessen Wiederentdeckung sich durchaus lohnt. Doch bevor wir uns einer solchen Untersuchung der angesprochenen Themen zuwenden, also dem hairetôtatos bios, der aristê politeia und später insbesondere dem Hauptbegriff dieser Studie, der scholê, ist es um der Orientierung willen erforderlich, sich vorab Gedanken darüber zu machen, wo wir uns mit solch einem Vorhaben in dem umfangreichen aristotelischen Kanon befinden und in welchen Teilbereichen seiner (politischen) Philosophie wir uns bewegen werden. Erstens werde ich dafür auf Wirkung und Spezifika der aristotelischen Politik im Gesamten anhand einiger ausgewählter Ergebnisse der heutigen Forschung hinweisen (vgl. Kap. 1.1). Zweitens wird in den Bereich der sogenannten „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“ eingeführt, den

Zur Rezeptionsgeschichte der Politik | 11

Aristoteles in seiner Politik, aber auch in seiner Nikomachischen Ethik (EN) entwickelt hat, und im Zuge dessen wird ebenso die Systematik seiner Argumentation innerhalb dieses Bereiches angesprochen (vgl. Kap. 1.2).

1.1 Zur Rezeptionsgeschichte der Politik Die aristotelische praktische Philosophie, wie sie uns vor allem in den beiden großen Werken, der Politik sowie der Nikomachischen Ethik, überliefert wird, bildet „einen der wichtigsten Ausgangspunkte für die westliche Tradition politischen Denkens“ (Horn/Neschke-Hentschke: 2008, VII). In der Antike wurde sie umfassend aufgearbeitet und in der Stoa bereits teilweise kritisch rezipiert, im Hoch- und Spätmittelalter sehr geschätzt und vielfach kommentiert (so z.B. bei Thomas von Aquin), in der Neuzeit gelegentlich gerne als Ausgangspunkt und Reibefläche für die Entwicklung neuer politischer Theorien verwendet (unter anderen bei Thomas Hobbes); in der Gegenwart immer wieder Bezugspunkt unterschiedlicher philosophischer Fachdiskurse und aktueller Theorien, wie z.B. bei Hannah Arendt, Joachim Ritter, Otfried Höffe, John Rawls oder Martha Nussbaum.2 Die Rezeptionsgeschichte der aristotelischen praktischen Philosophie ist zwar nicht konfliktfrei und nicht ohne Bruchstellen, aber dennoch eindrucksvoll und nachhaltig.3 Insbesondere die Politik gilt als Meisterwerk der praktischen Philosophie. Sie gehört seit der Antike zu den Standardwerken und hat fachübergreifend Anklang gefunden. Höffe weist darauf hin, dass die Politik nicht ausschließlich von Philosophen, klassischen Philologen oder Althistorikern studiert und ausgelegt, sondern auch von Rechts- und Verfassungstheoretikern, von Politologen sowie von einigen empirisch ausgerichteten Sozialwissenschaftern interpretiert wird und dabei heute noch als anregender Bezugspunkt dient (vgl. Höffe:

|| 2 Gutschkers These ist, dass die „Aristoteles-Renaissance“ in der politischen Philosophie „erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als Reaktion auf den Niedergang des Politischen in Europa“ eingesetzt hat. Dabei teilt er die Aristoteles-Diskurse in drei Strömungen ein: 1. Deutsche Exilanten in Amerika, wie z.B. Eric Voegelin, Leo Strauss, Hannah Arendt. 2. Rehabilitierung der praktischen Philosophie in Deutschland, wie z.B. durch Hans-Georg Gadamer, Joachim Ritter, Dolf Sternberger ab den 1960er Jahren. 3. Amerikanischer Kommunitarismus, v.a. durch die starke Beteiligung von Alasdair MacIntyre und Martha Nussbaum seit den 1980er Jahren (vgl. Gutschker: 2002, 11). 3 Zu den Kritikern der aristotelischen Philosophie, insbesondere im Übergang zur Neuzeit, gehörten unter anderem Bernadino Telesio, Pierre de la Ramée oder (allerdings nicht uneingeschränkt) Martin Luther (vgl. Coreth/Schöndorf: 2008, 22).

12 | Die Politik und die Frage der Lebensform 2006a, 238). Speziell die gegenwärtige politische Philosophie und ihre unzähligen Diskurse wären in dieser Art und Weise ohne das aristotelische Erbe in diesen Angelegenheiten nur schwer vorstellbar, da sein Denken in der Politik als auch in der Nikomachischen Ethik dieses Feld maßgeblich geprägt hat. Auf diese Tatsache weist unter anderen auch Bien pointiert hin.4 Die Politik hat also über die Zeiten hinweg einen starken Nachhall gefunden. Grund dafür ist jedoch nicht nur der philosophische Inhalt, sondern auch die Charakteristik als Werk. Dabei sticht vor allem die Möglichkeit hervor – welche nicht ausschließlich als Problem, sondern ebenso als Chance verstanden werden kann –, die Politik unterschiedlich zu lesen und auszulegen. Die beeindruckende Nachwirkung ist also auch auf das Faktum zurückzuführen, dass die Politik dem aufmerksamen Leser verschiedene Lesearten möglich macht. Hinzu kommt, dass die Politik ein „stark inhomogener Text“ ist, der „keine kohärente Theorie anbietet, sondern divergierende Teilprojekte enthält, die aller Wahrscheinlichkeit verschiedenen Werk- und Reflexionsphasen des Aristoteles entspringen“ (Horn/Neschke-Hentschke: 2008, VIII). Bei einem Umgang mit dem gesamten Text sowie auch mit vereinzelten Passagen quer durch die Bücher der Politik erscheint es wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass sie als Ganzes betrachtet kein ausgeglichenes, in allen Bereichen in sich geschlossenes Werk darstellt (vgl. Mesk: 1973, 19).5 Es handelt sich vielmehr um einen antiken Text, der verschiedene philosophische Ansätze und Ausführungen des aristotelischen politischen Denkens zu den unterschiedlichsten Themen enthält. Die Politik ist demnach also „kein Werk aus einem Guss“ (Höffe: 2006a, 239). || 4 „Was Whitehead einmal in Bezug auf Platon gesagt hat, nämlich dass sich die gesamte europäische Philosophie wie Fußnoten zu ihm als den Haupt- und Grundtext verhalte, gilt in analoger Übertragung (und mit den notwendigen Einschränkungen) auch für die aristotelischen Politica; und so hieße, die Wirkungsgeschichte dieses Buches zu schreiben, die Geschichte der politischen Philosophie in ihrer Gesamtheit zu schreiben“ (Bien: 1990, 325f). 5 „That the Politics is the work of Aristotle is not a matter for doubt. What is doubted is whether it forms a single and coherent whole, planned by Aristotle as such, or whether instead it is a composite of disparate parts that where originally written in different times, on different assumptions and for different reasons, and that were put together in a not very convincing manner, by some editor“ (Simpson: 1998, XVI). Umstritten ist die These, dass es sich bei den Pragmatien um Vorlesungsnotizen gehandelt hat. Schütrumpf zweifelt diese seit Düring verbreitete Ansicht an. Vor allem anhand von Pol. V meint Schütrumpf zeigen zu können, dass dieses Buch „für eine Vorlesung denkbar ungeeignet ist und vielmehr den Leser, anstelle des Hörers voraussetzt“ (Schütrumpf: 1980, 190). Schütrumpf vertritt hingegen die These, dass Schriften, die „allgemein als Vorlesungsmanuskripte des Aristoteles angesehen wurden, stilistisch sich mit den Meisterwerken attischer Prosa des 4. Jahrhunderts messen lassen können“ (Schütrumpf: 1980, 177), trotz vielen sichtbaren Spuren der Überarbeitung (vgl. Schütrumpf: 1980, 189).

Zur Rezeptionsgeschichte der Politik | 13

Ein Grund für die angesprochene Möglichkeit unterschiedlicher Interpretationsarten der Politik, liegt mit Sicherheit in der Ausdruckskraft der altgriechischen Sprache und dem damit verbundenen Problem der Übersetzung.6 Der akademische Diskurs zu Aristoteles im 20. Jahrhundert hat unter anderem auch aufgrund dessen eine Vielzahl an philologisch geprägten Forschungen und Debatten in den Vordergrund gestellt. Dem Bereich der klassischen Philologie und den Altertumswissenschaften kommt daher an der Erneuerung der aristotelischen praktischen Philosophie im 20. Jahrhundert ein großer Anteil zu.7 Ziel der philologischen Forschung war es, innerhalb des aristotelischen Sprachgebrauchs eine spezifische Entwicklungsgeschichte herauszuarbeiten und nachvollziehbar zu machen. Diskutiert wurden dabei zum einen die Authentizität und zum anderen die Kohärenz der Werke. Keine andere Studie war dabei so prägend wie jene von Jaeger, die er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstellt hatte und die im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte intensiv diskutiert wurde. Das Ziel seiner Untersuchungen war es, das aristotelische Gesamtwerk als das Ergebnis eines dynamischen Lebensprozesses dieses antiken Philosophen darzustellen, der seine Werke immer wieder ergänzt sowie seine Themen stets weiterbehandelt und sich dabei Schritt für Schritt von der Philosophie seines Lehrers Platon entfernt hat. Diesen philosophisch-dynamischen Lebensprozess bezog Jaeger aber nicht nur auf die Texte der Politik, sondern vor allem auf jene der Metaphysik (Met.), die ähnlich wie die Politik kein gänzlich in sich geschlossenes Werk darstellt, sondern vielmehr den Aufzeichnungen selbstständiger Einzelabhandlungen gleicht (vgl. Höffe: 2006a, 145).8

|| 6 Adkins bringt dies anhand der Problematik einer englischen Übersetzung des ergon-Begriffs, an dem er die thematische Verbindung zwischen Ethik und Politik bei Aristoteles ausmacht, deutlich zum Ausdruck: „None of these versions is grossly incorrect; but none of them is adequate. Ergon is a word with a different range of usage and consequently different connotations from any available English word. In English translation some of the plausibility of Aristotleʼs Greek vanishes“ (Adkins: 1991, 82). Zweifelsfrei gilt dieses Urteil auch für Übersetzungen einiger anderer wichtiger Begriffe in das Deutsche, wie z.B. bei der scholê. 7 „Zweifellos scheint die Erneuerung des Aristoteles auf den ersten Blick eine exklusive Angelegenheit der Altertumswissenschaft und Philologie zu sein, denn die Philosophiehistorie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts hat sich kaum um die aristotelische Philosophie gekümmert. Das Dokument philologischer Anstrengungen ist zweifellos die große Edition der aristotelischen Werke, die unter der Leitung von Immanuel Bekker seit dem Jahr 1831 erscheint“ (Hartung: 2008, 297). 8 Kullmann weist in seiner Argumentation auf die Entstehung von Texten in der Antike im Allgemeinen hin: „Gewisse Unausgeglichenheiten in der Politik erklären sich wie in anderen Werken aus den Entstehungsbedingungen antiker Bücher, die diktiert wurden und nur unter großen Schwierigkeiten revidiert werden konnten“ (Kullmann: 2003, 10).

14 | Die Politik und die Frage der Lebensform In Bezug auf die Politik unternahm Jaeger den Versuch, die unterschiedlichen Bücher in von ihm zuvor datierte Lebensabschnitte des Aristoteles zu gliedern. Dabei stützte er sich auf philologisch und quellenkritisch angelegte Studien. Jaeger definiert eine „Urpolitik“, also einen Kern an Texten aus der Politik, die als erste entstanden sein sollen, nämlich die Bücher II, III, VII sowie VIII, und ordnet deren Entstehung in die zweite Lebensphase des Aristoteles, den von Jaeger sogenannten „Wanderjahren“, zu. Die Bücher IV, V und VI bezeichnet er als „empirische Bücher“ und ordnet ihre Entstehung in die „Meisterjahre“, also in die dritte Lebensphase des Aristoteles während seiner Zeit am Lykeum in Athen, ein. Das I. Buch der Politik, so Jaeger, sei zu einem späteren Zeitpunkt als eine Art Einleitung zu den anderen Büchern hinzugekommen (vgl. Jaeger: 1955, 271ff). Mit dieser Theorie wurde eine Debatte ausgelöst, die lange Zeit die Aristoteles-Rezeption in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt und die sich primär an diesen philologischen Untersuchungen orientiert hat, auch wenn sich diverse Buchfolgedebatten im Grunde genommen bis ins Mittelalter hinein zurückverfolgen lassen (vgl. Frank: 1999, 32). Vor allem in Bezug auf die Politik und ihre möglichen bzw. überaus wahrscheinlichen unterschiedlichen Entstehungsschichten, auf die wir zuvor schon mit Blick auf Horn und Neschke-Hentschke hingewiesen haben, wurde viel debattiert, was auch Keyt und Miller betonen.9 So fundiert und umfassend dargelegt diese und ähnliche philologisch orientierten Datierungs- und Entwicklungstheorien, die sich mit und um Jaeger herum entwickelt haben, sein mögen, so bleiben sie dennoch letztendlich Spekulation, da sie sich nicht gänzlich verifizieren lassen (vgl. Kullmann: 2003, 10). Zu Jaegers Datierungsvorschlag insbesondere im Hinblick auf die Politik ist hinzuzufügen, dass seine Ergebnisse in der neueren Aristoteles-Forschung insgesamt sowie auch in vielen Einzelheiten als verfehlt anzusehen sind (vgl. Depew: 1991, 348; Flashar: 2004, 169).10 Hinzu kommt, dass sich die Thesen Jaegers zeitweise überaus dominant innerhalb der Forschung gehalten haben, sodass der unmittelbare philosophische Inhalt der unterschiedlichen Werke in den Hintergrund trat und allein das philologische Argument einer etwaigen Entwicklungsgeschichte im Vordergrund stand. || 9 „Much ink has been spilled in this century [in der Aristoteles-Forschung speziell des 20. Jahrhunderts] attempting to discover different chronological strata in the Politics“ (Miller/Keyt: 1991, 5). 10 Frank dazu: „Insgesamt erweckt das Bild, das W. Jaeger von der Entwicklung des Aristoteles entwirft, den Eindruck zu großer Simplifizierung. Seine gesamte These beruht auf der Annahme, dass sich Aristoteles kontinuierlich von Platon innerlich ablöste“ (Frank: 1999, 53). Dazu auch ähnlich Ricken: „Jaegers These lautet: Aristoteles hat sich von einem Idealisten im Sinne Platons zu einem nüchternen Empiriker entwickelt“ (Ricken: 2007, 139).

Zur Rezeptionsgeschichte der Politik | 15

Dass es sich jedoch gerade in Bezug auf die Politik um einen primär philosophischen Text handelt, wurde bei einigen Diskursen aufgrund der Dominanz der Theorien Jaegers vernachlässigt (vgl. Flashar: 2004, 171). Eine Fortführung der umfassenden Datierungsdebatten sowie weitere Diskussionen über die Buchfolge der Politik, wie sie Jaeger angeregt und vorgelegt hat, sind für eine philosophische Auseinandersetzung mit den aristotelischen Thesen seines politischen Denkens zweitrangig, da eine mögliche Umschichtung der einzelnen Bücher auf den Inhalt im Grunde genommen keinen großen Einfluss hat (vgl. Flashar: 2004, 233). Eine Umordnung der einzelnen Partien in der Politik, z.B. in Anlehnung an Jaeger nach I, II, III, VII, VIII, IV, V, VI, wie sie auch heute noch gelegentlich in der Forschung vertreten wird (vgl. Simpson: 1998, XVI; NeschkeHentschke: 2001, 169), löst kein einziges inhaltliches Problem der Schrift, sondern versucht Übergänge zu erklären und die unterschiedlichen Bücher der Politik näher zusammenzubringen. Aus diesen Beobachtungen heraus erscheint es daher von Vorteil zu sein, die unterschiedlichen Zugänge zur Politik hervorzuheben und die Versuche, aus dem gesamten Text ein einheitliches Ganzes im Sinne einer Entwicklungsgeschichte zu erzeugen, hintanzustellen. Dennoch hat freilich, und dies muss hier auch deutlich angesprochen und wertschätzend anerkannt werden, die Datierungsdebatte rund um Jaeger der Aristoteles-Forschung im Gesamten betrachtet wichtige Impulse gegeben, und das nicht nur aufgrund der Tatsache, dass sie den Aristoteles-Diskurs im 20. Jahrhundert erst richtig in Schwung gebracht hat. Es ist den Theorien von Jaeger und anderen daran anschließenden, z.B. Hans von Arnim, vor allem das bereits angesprochene Bewusstsein darüber zu verdanken, dass die aristotelischen Werke nicht immer frei von Widersprüchen sind und keineswegs ausschließlich ein einziges philosophisches System im Gesamten verfolgen bzw. begründen wollen, sondern eben teilweise in sich kontrovers sind und nicht immer gänzlich zusammenpassend erscheinen. Dies sollte bei den AristotelesInterpretationen heute nicht vergessen werden. Insbesondere bei Vergleichen zwischen einzelnen Büchern untereinander, wie z.B. in der Politik selbst oder vor allem auch bei Vergleichen zwischen unterschiedlichen aristotelischen Werken, wie z.B. zwischen der Politik und der Nikomachischen Ethik, etc.11 || 11 Deutlich dazu Ricken: „Jaegers Methode hat sich insofern als äußerst fruchtbar erwiesen, als wir die einzelnen Pragmatien nicht mehr unkritisch als einheitliche Werke betrachten dürfen; wir müssen vielmehr nach der Datierung ihrer Bestandteile fragen und mit späteren Einschüben, Dubletten und der Überarbeitung durch Aristoteles (oder einen späteren Redakteur) rechnen. Davon ist die Frage zu unterscheiden, ob verschieden zu datierende Texte eine philosophische Entwicklung im Sinne Jaegers erkennen lassen. Die Annahme einer Entwicklung kann auch ein Ausweichen vor den Sachproblemen der Texte sein“ (Ricken: 2007, 139).

16 | Die Politik und die Frage der Lebensform Dieser Hinweis ist auch für eine Untersuchung der aristotelischen scholê sowie des ersten Satzes aus Politik VII 1 unverzichtbar, zumal wir uns in diesem Bereich der Politik in einem thematisch betrachtet speziellen Umfeld befinden, wie später noch genauer zu zeigen sein wird. Wir werden auch hier anhand der zu untersuchenden Textpassagen deutlich sehen, dass wir es in der Tat nicht immer mit zur Gänze in sich geschlossenen Schriften und Gedankengängen bei Aristoteles zu tun haben. Dies aufzuzeigen, zu thematisieren und bewusst zu machen, ist mit Sicherheit primär ein Verdienst der philologisch orientierten Textarbeit von Jaeger, den es ohne Zweifel in Bezug auf die AristotelesForschung im Gesamten zu würdigen gilt. Jaeger hat das durch Andronikos von Rhodos geschaffene und über die Jahrhunderte hindurch überlieferte Aristoteles-Bild im Sinne eines Gesamtwerkes durch seine Forschungen in Frage gestellt und damit der Aristoteles-Forschung neue, erfrischende Impulse gegeben (vgl. Ricken: 2007, 139).

1.2 Die Philosophie der menschlichen Angelegenheiten Im Mittelpunkt dieser Studie stehen Passagen aus der Politik sowie vereinzelt Stellen aus der Nikomachischen Ethik. Als charakteristisch für das Verhältnis dieser beiden Werke zueinander kann wiederum der erste Satz aus Politik VII 1 bezeichnet werden. Wenn Aristoteles über den hairetôtatos bios sowie über die aristê politeia verhandeln möchte, so wird mit dieser thematischen Zusammenrückung beider Bereiche auch das für Aristoteles und seine praktische Philosophie konstitutive Verhältnis von Ethik und Politik ansatzweise zur Sprache gebracht. Auf der einen Seite will er das wünschenswerteste Leben thematisieren, ein Bereich, der in Bezug auf die Bestimmungen zu den Lebensformen aus der Nikomachischen Ethik bekannt ist. Auf der anderen Seite will Aristoteles jedoch auch über die beste Verfassung sprechen, ein Bereich, welcher in der Politik viel Aufmerksamkeit erfährt. Aristoteles wird in der Politik sowie in der Nikomachischen Ethik nicht müde darauf hinzuweisen, dass Politik und Ethik eng miteinander verflochten sind. Exemplarisch dafür genügt ein weiterer, kurzer Blick in das VII. Buch der Politik. Mit den Betrachtungen über die eudaimonia des Staates und des Einzelnen aus Politik VII 1 oder mit der Diskussion der unterschiedlichen Lebensformen des Menschen aus Politik VII 2 und 3 rückt Aristoteles seine Politik als Ganzes nahe an die Erörterungen aus der Nikomachischen Ethik. Letztere behandelt primär die Prinzipien des guten und gerechten Lebens, die Tugendhaftigkeit des Charakters und des Denkens, Gerechtigkeit, Freundschaft und viele andere Bereiche des menschlichen Lebens, die ebenso in dieser Studie über die scholê,

Die Philosophie der menschlichen Angelegenheiten | 17

den hairetôtatos bios und die aristê politeia angesprochen werden müssen.12 Die inhaltliche Nähe zwischen diesen beiden Werken ist jedoch nicht zufällig. Daher sollen an dieser Stelle einige wenige einführende Gedanken diskutiert werden, die dabei helfen können, die aristotelische Systematik der praktischen Philosophie besser zu verstehen. Aristoteles gliedert die Bereiche der menschlichen Interessen unter anderem in seinem VI. Buch der Metaphysik im Zusammenhang mit den Bemerkungen zur Ersten Philosophie. Er differenziert hierbei zwischen einer betrachtenden (theoretischen), handelnden (praktischen) und herstellenden (poietischen) Philosophie (Met. VI 1, 1025b25f; ferner EN VI 2, 1139a26; Top. VI 6, 145a15f; VIII 1, 157a10; Met. XI 7, 1064a10). Innerhalb der praktischen Philosophie unterscheidet Aristoteles die Disziplinen der Ethik und der Politik, dazugehörend die Ökonomie, verstanden als die Frage nach der richtigen Haushaltsführung, und nimmt die Rhetorik als eine Art „Hilfswissenschaft“ hinzu (EN I 1, 1094b3; ferner: Rhet. I 1, 1354a1; Höffe: 2006a, 34). Die Unterscheidung von Politik und Ethik, welche bereits durch die Pragmatientrennung in die Politik auf der einen Seite und in die Nikomachische Ethik auf der anderen Seite deutlich wird, ist jedoch eine rein systematische Differenzierung und keine inhaltliche. Wie im Laufe dieser Studie öfter zu bemerken sein wird, weisen diese beiden Bereiche unzählige Verbindungen zueinander auf. Über dieses Verhältnis von Ethik und Politik im aristotelischen Verständnis wurde bereits viel diskutiert. Eine häufig gestellte Frage dabei lautet, welcher dieser beiden Bereiche die leitende Rolle innehat. Den Ausgangspunkt dieser Fragestellung bilden Äußerungen aus der Nikomachischen Ethik, in denen Aristoteles seine ethische Abhandlung zuweilen auch als „politische Wissenschaft“ bezeichnet (so u.a. in EN I 1, 1094b11, 15). Dabei handelt es sich allerdings um eine Sammelbezeichnung, einen Überbegriff für die beiden Disziplinen Politik und Ethik. Aristoteles erteilt keinem Bereich einen ausdrücklichen Vorzug, sondern fasst beide Gebiete als gleiche, unabdingliche Teile seiner sogenannten „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“ zusammen (EN X 10, 1181b15; Bien: 1985, 195ff; Höffe: 2006b, 13ff; Rapp: 2004, 14ff).13 || 12 Ackrill bringt den Charakter der EN auf den Punkt: „Like most great philosophical works Aristotleʼs Nicomachean Ethics raises more questions than it answers“ (Ackrill: 2006, 39). 13 Gigon übersetzt die Textstelle der „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“ aus EN X 10 mit „die Wissenschaft vom Menschen“. Rolfes übersetzt ähnlich wie Wolf mit „die Philosophie über die menschlichen Dinge“. Keyt und Miller sprechen dementsprechend über „the philosophy of human affairs“ (Keyt/Miller: 1991, 1). Flashar bezeichnet den Ethik und Politik umfassenden Bereich bei Aristoteles als „die sich auf die menschlichen Dinge beziehende Philosophie“ (Flashar: 1971, 280).

18 | Die Politik und die Frage der Lebensform Die Philosophie der menschlichen Angelegenheiten kann als Synonym für die aristotelische politische Philosophie im Gesamten gelten, die er in seinen Texten auch als politische Wissenschaft im weiteren Sinne bezeichnet und welche die Ethik mit einbezieht. Nach dieser Auffassung bestehen zwischen der Nikomachischen Ethik und der Politik enge, vielfältige inhaltliche Verbindungen, trotz der Tatsache, dass sie in zwei unterschiedlichen Pragmatien abgehandelt sind.14 Der Terminus der Philosophie der menschlichen Angelegenheiten bildet den gemeinsamen Rahmen von Ethik und Politik, die sich gegenseitig inhaltlich bedingen und die Kernstruktur dieser politischen Philosophie bilden. Es handelt sich bei Ethik und Politik um zwei verschiedene Bereiche einer Wissenschaft (vgl. Flashar: 1971, 280). Innerhalb dieser politischen Philosophie, sind Ethik und Politik die sich gegenseitig ergänzenden Bereiche der Philosophie der menschlichen Angelegenheiten (vgl. Buddensiek: 2012, 56), einer Art „Wissenschaft vom guten Leben“ (Ricken: 2004, 149). Mit diesen Auslegungen der Philosophie der menschlichen Angelegenheiten im Hintergrund, erscheint es nicht verwunderlich, dass Aristoteles in Politik VII 1 zum einen vom hairetôtatos bios sowie zum anderen von der aristê politeia handeln möchte und so diese beiden Themen unmittelbar miteinander in Verbindung bringt und gemeinsam diskutieren möchte, mit dem Fokus auf die scholê. Besonders in der Auseinandersetzung mit dem VII. und VIII. Buch der Politik wird es daher hilfreich sein, auch die Nikomachische Ethik in die Überlegungen – wo es sinnvoll erscheint – mit einzubeziehen. Dies wird nicht nur in Bezug auf den hairetôtatos bios oder auf die aristê politeia erforderlich sein, sondern insbesondere auch in Bezug auf das Thema der aristotelischen scholê. Damit soll allerdings nicht behauptet werden, dass sich zwischen der Nikomachischen Ethik und der Politik permanent Parallelen ziehen lassen können und es sich vielleicht sogar im Prinzip nur um eine einzige Untersuchung einer politischen Philosophie in zwei unterschiedlichen Pragmatien handelt. Dennoch soll an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen werden, dass eine Beschäftigung mit diesen Themen, wie sie in dieser Studie ausgehend vom ers-

|| 14 Flashar analysiert dazu treffend, dass es sich hier nicht um das bloße Nebeneinander zweier komplementärer Seiten einer praktischen Philosophie handelt. Das Verhältnis zwischen Ethik und Politik bestimmt sich bei Aristoteles durch das gemeinsame Objekt, nämlich den Menschen im Rahmen der Polis: „Wie dabei der Mensch als einzelner – freilich nicht im Sinne einer Individualethik – seine spezifische Leistung zum eigentlichen Menschsein entfaltet, ist Gegenstand der Ethik. Die öffentliche Sphäre des Polisbürgers und die Frage nach der Beschaffenheit der Institutionen, in denen er seine aretê verwirklicht, ist Gegenstand der Politik, wobei beide Aspekte in beiden Werken sich gelegentlich berühren, überschneiden und durchdringen“ (Flashar: 1971, 292).

Die Philosophie der menschlichen Angelegenheiten | 19

ten Satz aus Politik VII 1 angestrebt wird, Kenntnisse von Politik und Ethik erfordert. Diese beiden Bereiche hat Aristoteles selber verbunden, indem er im letzten Buch der Nikomachischen Ethik, welches gerne auch als Übergang zur Politik gelesen wird (vgl. Schütrumpf: 1991, 80), Ethik und Politik zusammenfassend als Philosophie über die menschlichen Angelegenheiten bezeichnet hat. Die Methodik der Argumentation in diesem Bereich der politischen Philosophie hat ebenso viele und überaus interessante Diskussionen hervorgerufen wie die Verflechtung von Politik und Ethik. Es ist Aristoteles selbst, der diese Methode des Argumentierens, der Beweisführung von sich aus anspricht, und das bereits zu Beginn der Nikomachischen Ethik. Dabei führt er aus, dass sich seine politische Philosophie darauf beschränkt, skizzenhaft entwickelt zu werden. Es muss seiner Ansicht nach genügen, in ethischen oder aber auch in politischen Untersuchungen die wichtigsten Eckpunkte anzugeben und zu erörtern. Denn dies reiche, so fährt Aristoteles fort, dazu aus, um zu den aus seiner Sicht wichtigen Schlussfolgerungen gelangen zu können. Es heißt dazu in der Nikomachischen Ethik I 1: »Es muss also, wenn wir über solche Dinge und ausgehend von solchen Voraussetzungen reden, genügen, grob und im Umriss (typô) die Wahrheit aufzuzeigen; und wenn wir über dasjenige reden, was meistens der Fall ist, und dies zur Voraussetzung haben, muss es genügen, zu Folgerungen zu kommen, die ebenso beschaffen sind« (EN I 1, 1094b19ff).

Weder politische noch ethische Untersuchungen können jeden Gegenstand und jede Handlung ausführlichst, in allen Facetten bestimmen und diskutieren. Warum Aristoteles deutlich darauf hinweist und dies zu seiner Methodik macht, hat nach Höffe primär zwei Gründe. Zum einen geschehe dies, um sich nicht in „überflüssigen Einzelheiten“ zu zerstreuen und dabei den Gesamtfokus zu verlieren und zum anderen, um nicht die Hauptsachen durch das Eingehen auf jedes Detail zu Nebensachen zu machen. Hinzu kommt, dass in Fragen der politischen Philosophie ab einem gewissen Zeitpunkt „sinnvollerweise“ keine weiterführenden, entweder noch mehr verallgemeinernde oder aber auch nicht noch mehr ins Detail gehende Antworten erwartet werden können (vgl. Höffe: 2005, 612). Aristoteles forscht also in den Untersuchungen seiner politischen Philosophie nach keinen vollständigen Beschreibungen einzelner, spezifischer ethischer oder politischer Problemfelder. Vielmehr ist er auf der Suche nach skizzenhaften Strukturen (vgl. Radermacher: 1973, 44). Dieser methodische Charakter wird in den unterschiedlichsten Abhandlungen seiner politischen Philosophie von ihm selbst angesprochen (EN II 2, 1104a1; ferner: EN II 9, 1109a25, b15; Pol. II 8, 1269a8; III 11, 1282b5). Rapp spricht in diesem Zusam-

20 | Die Politik und die Frage der Lebensform menhang von unterschiedlichen Graden der wissenschaftlichen Genauigkeit. Für einen so unbeständigen Gegenstand wie die Ethik kann beispielsweise nicht derselbe Grad an Genauigkeit erstrebenswert sein wie für die Geometrie.15 Aristoteles hat diesen Vergleich in seiner Metaphysik selbst angesprochen, wenn auch in einem anderen Kontext. Die vermeintliche Schärfe der Mathematik als Wissenschaft kann nicht für alle anderen Gegenstände der menschlichen Interessen gefordert werden (vgl. Met. II 3, 995a15ff). Ähnlich wie Rapp äußert sich auch Ricken dazu. Letzterer bringt dabei deutlich zum Ausdruck, dass es sich vor allem bei der Ethik, im Unterschied zu den theoretischen Wissenschaften, um einen anderen Grad an Genauigkeit handelt und letztendlich auch handeln muss.16 Ob diese aristotelische Methode einem modernen Wissenschaftsverständnis entspricht oder nicht, soll hier nicht weiter diskutiert geschweige denn entschieden werden. Wenn wir uns aber im Folgenden mit den Themen der scholê, und dabei auch mit dem hairetôtatos bios sowie der aristê politeia beschäftigen, muss uns diese aristotelische Methodik bewusst sein. Es gilt also nach den grundlegenden Strukturen der aristotelischen Argumentationen zu fragen und nicht nach jedem einzelnen Detail in dieser oder jenen Sache, wie es dem neuzeitlichen Wissenschaftsdenken bis heute entspricht. Denn bei der Suche nach solchen Einzelheiten, nach allen Eventualitäten, die auf die eine oder andere Problemlage zusätzlich zutreffen könnten – oder aber auf andere vielleicht auch nicht –, wird Aristoteles, so viel kann bereits an dieser Stelle vorweggenommen werden, in seiner Politik oder in der Nikomachischen Ethik zumeist schweigen. Doch das soll freilich nicht heißen, dass wir über die scholê, den hairetôtatos bios oder die aristê politeia keine grundlegenden Bestimmungen, Aussagen und Interpretationen treffen können. Weiters soll eine Berufung auf die aristotelische Methodik im Bereich der politischen Philosophie erstens nicht dafür || 15 Rapp führt dazu weiter aus: „Daher sei in den verschiedenen Wissenschaften eine je eigene Art von Klarheit und entsprechend eine je eigene Art von Genauigkeit zu suchen. Für verschiedene Disziplinen gibt es verschiedene epistemische Standards, [...]. Für den Status der Ethik bedeutet das, dass etwa Aristotelesʼ Beschränkung auf Aussagen, die ihren Gegenstand nur ,im Umriss‘ beschreiben oder die nur ,in der Regel‘ gelten, keinen Verzicht und keine epistemische Minderwertigkeit impliziert“ (Rapp: 2003, 17). 16 Ricken dazu weiter: „Schließlich unterscheidet sich die Ethik von den theoretischen Wissenschaften durch den Grad der Genauigkeit. Der Ethiker wäre schlecht beraten, wollte er sich die Mathematik zum Vorbild nehmen. Methode und Genauigkeit müssen vielmehr den verschiedenen Gegenstandsbereichen entsprechen. Sittliche Entscheidungen sind keine Konklusionen, die aus notwendigen Prämissen folgen. Die Ethik kann lediglich einen groben Umriss vom sittlich richtigen Handeln entwerfen; ihre Sätze sagen nicht was notwendig und immer, sondern nur, was meistens richtig ist“ (Ricken: 2007, 171).

Grundlegung des hairetôtatos bios (Politik VII 1) | 21

herangezogen werden, argumentative Schwächen oder offensichtliche Lücken zu kaschieren, und zweitens kann sie nicht dazu dienen, die Argumente von jeglicher Kritik auszunehmen.17

1.3 Grundlegung des hairetôtatos bios (Politik VII 1) Aristoteles ist also, beginnend mit Politik VII 1, auf der Suche nach der Bestimmung des hairetôtatos bios. Wie eingangs schon zitiert und erläutert, ist diese Untersuchung über das wünschenswerteste Leben für eine darauf folgende Entwicklung der aristê politeia, der besten Verfassung, der aristotelischen Argumentation nach Voraussetzung. Auf diesen Anfang soll an dieser Stelle nochmals aufmerksam gemacht werden. Nicht nur deshalb, weil er die Grundlage dieser Studie mit dem Fokus auf die scholê darstellt, sondern ebenso aufgrund der Tatsache, dass diese Art der Einleitung den gesamten Rahmen für den darauffolgenden Text, also die Bücher VII und VIII selbst, bildet: »Wer über die beste Verfassung die Untersuchung in sachgemäßer Weise anstellen will, der muss notwendig zuerst bestimmen, welches das wünschenswerteste Leben ist. Denn solange dies noch im unklaren ist, muss notwendig auch die beste Staatsverfassung im unklaren bleiben« (Pol. VII 1, 1323a14ff).

Priorität hat für Aristoteles zu Beginn also offensichtlich die Behandlung der Frage, welches Leben das wünschenswerteste Leben ist, wie das bereits schon Voegelin in seiner Auseinandersetzung mit der aristotelischen aristê politeia deutlich hervorgehoben hat.18 Eine Tatsache, die Kraut hingegen in seinem Kommentar zu übersehen scheint, wenn er ausführt, dass Aristoteles zu Beginn in Politik VII nach dem besten politischen System, dem „best political system“ || 17 Die aristotelische Methodik seiner politischen Philosophie fasziniert bis heute, und das auch über die philosophischen Fachgrenzen hinaus. Reese-Schäfer sieht in dieser hier dargestellten Systematik eine wichtige Methodik für das Denken der Gegenwart gegeben, die, gegenüber einigen anderen Inhalten der aristotelischen politischen Philosophie, nach wie vor Gültigkeit hat: „Im Bereich der Politik als einer praktischen Wissenschaft sind heute zwar viele seiner Ansichten, insbesondere sein Rechtfertigungsversuch für Sklaverei, vollkommen überholt, seine vergleichende Methode und auch seine Empfehlung, nur solche Grade an wissenschaftlicher Exaktheit anzustreben, die dem Gegenstand angemessen sind, sind es aber keineswegs“ (Reese-Schäfer: 2007, S. 21). 18 Voegelin zitiert ebenso die angesprochene Textstelle aus Pol. VII 1 und bringt dabei die von Aristoteles hier eingangs geplante Vorgangsweise deutlich zur Sprache: „If we want to know what the best constitution is, we must first determine what is „the most eligible life“; [...]“ (Voegelin: 1957, 350).

22 | Die Politik und die Frage der Lebensform in Bezug auf die „ideal city“ frage (Kraut: 1997, 51).19 Nussbaum bezieht sich in ihrer – nebenbei bemerkt durchaus fragwürdigen und daher auch zu recht vielfach kritisierten (vgl. Gordon: 2007, 333; Gutschker: 2012, 276) – Theorie eines „aristotelischen Sozialdemokratismus“ ebenso auf die Eröffnung von Politik VII 1 und erkennt dabei ähnlich wie Voegelin, dass es vor einer Entwicklung der besten Verfassung einer Vorstellung über das gute Leben bedürfe. Nussbaum spricht in ihrer Untersuchung von einer „Priorität des Guten“ (Nussbaum: 1999, 32). Dieser Interpretation ist im Grunde genommen zuzustimmen, jedoch ist sie ausschließlich anhand der Eröffnung von Politik VII 1 wohl zu vorschnell getroffen. Nussbaum präsentiert das dieser Studie zugrunde gelegte AristotelesZitat als eine Art Ergebnis unterschiedlicher bereits vorab geleisteter aristotelischer Bestimmungen, nicht als den eigentlichen Ausgangspunkt der von ihm angekündigten Untersuchungen über den hairetôtatos bios und die aristê politeia. Die darauffolgenden Überlegungen in Politik VII und VIII machen jedoch überaus deutlich, dass es hier in erster Linie um eine Form der Einleitung in die von Aristoteles noch zu untersuchenden Gegenstände geht und es sich daher erst in zweiter Linie um eine inhaltliche Bestimmung handelt. Bevor wir uns der Frage nach dem hairetôtatos bios anhand der entsprechenden Textstellen nähern, soll vorab der Begriff selbst unter die Lupe genommen werden. In der Politik-Übersetzung von Susemihl wird vom „wünschenswertesten Leben“ gesprochen. Bei Schütrumpf hingegen finden wir in Bezug auf die Eröffnung von Politik VII 1 einen anderen Übersetzungsvorschlag (Schütrumpf: 2005, 11): »Wer die beste Verfassung so, wie man sollte, untersuchen will, muss zuerst bestimmen, welche Lebensform am erstrebenswertesten ist; denn solange dies ungeklärt ist, muss auch die beste Verfassungsform ungeklärt bleiben« (Pol. VII 1, 1323a14ff).20

Hier wird für die Übersetzung des hairetôtatos bios das „erstrebenswerteste Leben“ vorgeschlagen. Auffällig dabei ist, dass Schütrumpf mit seiner Übersetzung die Fragestellung, wie sie hier am Anfang von Politik VII 1 entwickelt || 19 Erst in seinem Kommentar zu Pol. VII 2 weist Kraut darauf hin, dass Aristoteles zu Beginn von Politik VII 1 einleitend eigentlich die ganz grundsätzliche Frage stellt: „What is the best life?“ (Kraut: 1997, 59). 20 Schütrumpf weist ebenso darauf hin, dass Aristoteles hier zuerst nach dem hairetôtatos bios fragt, und erst daran anschließend nach der aristê politeia, wie wir das zuvor bereits festgestellt haben: „Diese Bestimmung des besten Lebens gibt Ar. in VII 1, zunächst für das Individuum; denn man könne nicht Klarheit über die beste Staatsordnung gewinnen, solange man nicht bestimmt habe, welche Lebensform am meisten erstrebenswert ist“ (Schütrumpf: 2005, 189).

Grundlegung des hairetôtatos bios (Politik VII 1) | 23

wird, nahe an die Diskussion der aristotelischen Lebensformen im Gesamten rückt, insbesondere an jene in der Nikomachischen Ethik, wenn er fragt, welche spezifische „Lebensform“ es denn nun sei, die „am erstrebenswertesten ist“.21 Bei einer Übersetzung des hairetôtatos bios ins Deutsche stellt sich aus philologischer Perspektive zuallererst die Frage nach der Übersetzung des Superlativs zum Verbaladjektiv von haireô. Dieses Verb wird aktiv zumeist mit „nehmen“, „fassen“ oder „ergreifen“, gelegentlich auch mit „wegnehmen“ übersetzt. Weiters sind Übersetzungen im medialen Sinne als „für sich nehmen“, „erwählen“ bzw. „vorziehen“ möglich. Die Übersetzung Schütrumpfs der „erstrebenswertesten Lebensform“ bringt mehr Zielgerichtetheit und Aktivität zur Sprache und scheint daher aus aristotelischer Perspektive, in Bezug auf seine Themen aus Politik VII und VIII, treffender zu sein als jene des „wünschenswertesten Leben“ bei Susemihl. Doch die Antwort auf die Frage, welche Übersetzung nun im Kontext der entsprechenden Belege aus Politik VII 1 vorzuziehen ist, muss an dieser Stelle noch offenbleiben, da der philosophische Rahmen aus Politik VII im Gesamten noch nicht geklärt ist. Aufgrund dessen kann eine Übersetzung des hairetôtatos bios vorerst (noch) nicht gegeben werden. Aristoteles fährt jedoch fort, den Begriff, dem er, wie wir gesehen haben, zunächst die Priorität zugesprochen hat, nun inhaltlich zu schärfen. Denn in Politik VII 1 führt Aristoteles eine erste Bestimmung ein, die ihm dabei helfen soll, den hairetôtatos bios in den darauffolgenden Überlegungen besser auszuloten. Dabei greift er interessanterweise auf Thesen und Modelle zurück, die sich ebenso in anderen Büchern seiner politischen Philosophie ausfindig machen lassen.22 »Hier aber sei nur so viel vorausgesetzt, dass das beste Leben sowohl für den einzelnen für sich genommen als auch für die Staatsgemeinschaft das Leben in einer mit den äußeren Mitteln in dem Grade ausgerüsteten Tugend ist, dass dadurch auch die Ausübung tugendhafter Handlungen ermöglicht wird« (Pol. VII 1, 1323b40ff).

In diesem Satz spricht Aristoteles unterschiedliche Themenbereiche an, die ihm wichtig erscheinen, um seine Thesen über den hairetôtatos bios später besser || 21 Rolfes wählt als Übersetzung des hairetôtatos bios das „begehrenswerteste Leben“: »Wer die beste Verfassung nach Gebühr in Betracht nehmen will, muss zuerst bestimmen, welches das begehrenswerteste Leben ist. Solange man das nicht weiß, kann man auch nicht wissen, welches die beste Verfassung ist.« Schwarz übersetzt hingegen das „wählenswerteste Leben“. 22 Kraut und Schütrumpf diskutieren in ihren Kommentaren diese Tatsache und führen dabei unterschiedliche (gewinnbringende) Vergleiche mit anderen Büchern an (vgl. Kraut: 1997, 51ff; Schütrumpf: 2005, 189ff).

24 | Die Politik und die Frage der Lebensform argumentieren zu können. Das beste Leben für den einzelnen Menschen, jedoch auch für die politische Gemeinschaft, ist demnach ein Leben, das durch äußere Mittel so weit ausgestattet ist, dass beiden, also sowohl dem Einzelnen als auch der Gemeinschaft, die Ausübung tugendhafter Handlungen möglich ist. Zwei aristotelische Systeme stehen hier offensichtlich im Hintergrund der Argumentation, die an dieser Stelle kurz ausgeführt werden sollen. Zum einen spricht Aristoteles über jenen Bereich, auf den er in seinen Untersuchungen zur politischen Philosophie immer wieder, fast in regelmäßigen Abständen, zu sprechen kommt, nämlich über den der Güterlehre. So erwähnt er auch in Politik VII 1, dass es seiner Ansicht nach drei Güterklassen gibt: die äußeren, die des Körpers sowie die der Seele, und dass die Gewährleistung und Sicherung dieser Güter für die umfassende Glückseligkeit des Menschen unabdingbar ist (Pol. VII 1, 1323a25ff).23 Ähnliche Bestimmungen zu dieser Theorie kennen wir aus der Nikomachischen Ethik (EN X 9, 1178b33ff), die dort eng mit der mesotês-Lehre, der Lehre vom rechten Maß, verbunden sind (EN II 2, 1104a15ff).24 Im Zusammenhang mit Politik VII 1 ist es demnach für Aristoteles vorab notwendig, dass der Mensch über äußere, körperliche und seelische Güter in dem Ausmaß verfügt bzw. verfügen kann, das ihm ein tugendhaftes Handeln für sich und auch für die Gemeinschaft möglich macht. Dies schließt hier die Tatsache mit ein, dass es für die umfassende Glückseligkeit des Menschen die Sicherstellung dieser drei Güter braucht (vgl. Schütrumpf: 2005, 190). Zum anderen kommt Aristoteles in Politik VII 1 zur Grundlegung des hairetôtatos bios auf das große Thema der Tugenden zu sprechen, das uns ebenso vor allem aus der Nikomachischen Ethik bekannt ist. Hier in Politik VII 1 beschränkt sich Aristoteles jedoch auf den Hinweis, dass er zwei unterschiedliche Arten von Tugenden kennt, nämlich zum einen die Tugenden des Verstandes (dianoia), sowie zum anderen die Tugenden des Charakters (êthos) (Pol. VII 1, 1323b4; ebenso EN I 13, 1103a4). Diese Differenzierung wird in Bezug auf die aristotelische Suche nach dem erstrebenswertesten Leben noch eine wichtige Rolle einnehmen. Auch hier im Bereich der genannten Tugenden aus Politik VII 1 wird das zuvor angesprochene Maßhalten thematisiert:

|| 23 Bereits in der EN führt Aristoteles die Dreiteilung in äußere, körperliche und seelische Güter (ta agatha) an (EN I 8, 1098b12). Schütrumpf übersetzt die drei Güter an der genannten Stelle Pol. VII 1, 1323a25 als die „drei Bestandteile des Glücks“. 24 Auch hier in Pol. VII 1 spricht Aristoteles die Lehre vom rechten Maß an, welches zwischen den beiden Extremen Mangel und Übermaß liegt: »Allein, wenn diese Behauptungen so gut wie jedermann zugibt, so ist man doch nicht mehr darüber einig, welches das Maß und welches das Übermaß ist« (Pol. VII 1, 1323a34ff).

Diskussion der Lebensformen (Politik VII 2) | 25

»Es ist leicht, sich darüber schon durch die Tatsachen zu vergewissern, denn jeder kann beobachten, dass nicht die Tugenden durch die äußeren Güter, sondern vielmehr diese durch jene erworben und bewahrt werden und dass das glückselige Leben, mag es nun in der Freude oder in der Tugend oder in beiden vereinigt bestehen, weit eher denen zuteil wird, die mit den Vorzügen des Verstandes (dianoia) und Charakters (êthos) bis zum Übermaß geschmückt sind, während sie von den äußeren Gütern nur einen mäßigen Teil besitzen, als solchen, die von den letzteren mehr haben, als sie brauchen können, und dagegen mit den ersteren nur mangelhaft versehen sind« (Pol. VII 1, 1323a40ff).

Vorrang gegenüber den äußeren Gütern haben zwar die Tugenden des Menschen im Gesamten, jedoch bedarf es eines Mindestmaßes an äußeren Gütern, auch wenn das glückselige Leben dieser Textstelle zufolge in einem tugendhaften Leben liegt und nicht in einem ausschließlich an den äußeren Gütern orientierten Leben. Unter dem hairetôtatos bios versteht Aristoteles also Politik VII 1 zufolge das möglichst beste Leben für den Einzelnen auf der einen Seite, aber auch für die Gemeinschaft als solche auf der anderen Seite. Es ist dies ein Leben, dass sich an der Güter- sowie an der mesôtes-Lehre orientiert und das in dem Grade mit den drei Güterklassen so umfassend ausgerüstet erscheint, vor allem in Bezug auf die äußeren und körperlichen Güter, dass dem Menschen und der Gemeinschaft tugendhaftes Leben zunächst einmal prinzipiell möglich ist. Genauere Bestimmungen dazu bleiben jedoch an dieser Stelle vorerst noch aus. Grund dafür ist Stilistik und Aufbau der überlieferten Passagen, die nach Schütrumpf jenen eines klassischen „Proömiums“ gleichen (Schütrumpf: 2005, 189), was jedoch nicht nur auf Politik VII 1 zutrifft, sondern ebenso auf Politik VII 2 und 3 (Schütrumpf: 2005, 193; 2012: 20).25 Dennoch sind diese Kapitel für das einführende Verständnis des hairetôtatos bios, der aristê politeia und später insbesondere auch der scholê unverzichtbar und werden einen wichtigen Bezugspunkt für die weiteren Argumente darstellen, wie noch zu zeigen sein wird.

1.4 Diskussion der Lebensformen (Politik VII 2) Der zuvor angesprochene Übersetzungsvorschlag von Schütrumpf, die entsprechende Stelle aus Politik VII 1 über den hairetôtatos bios als die Suche nach der „erstrebenswertesten Lebensform“ zu übersetzen, ist vor allem mit Blick auf das hier nun zu untersuchende Kapitel Politik VII 2 treffend. Aufgrund der inhaltlichen Argumentation in diesem Kapitel scheinen die Übersetzungs|| 25 Auf diese Charakteristik des Textes weist auch Depew hin, der in Bezug auf Pol. VII 1-3, ähnlich wie hier bei Schütrumpf gezeigt, von einem „Preface“ spricht (Depew: 1991, 346).

26 | Die Politik und die Frage der Lebensform vorschläge von Rolfes („begehrenswertestes Leben“) und Schwarz („wählenswertestes Leben“) im aristotelischen Kontext zumindest an dieser Stelle nicht gänzlich treffend zu sein. Denn in Politik VII 2 spricht Aristoteles seine große und überaus bekannte Diskussion der unterschiedlichen Lebensformen an, die wir ebenso wie die Erörterungen zur Güterlehre oder zu den Tugenden in Politik VII 1 eigentlich primär aus der Nikomachischen Ethik kennen (vgl. Kraut: 1997, 62).26 Aus Politik VII 2 wird nun deutlich, worauf die aristotelische Suche nach dem hairetôtatos bios hinauszulaufen scheint. Vorab fasst Aristoteles jedoch seine Überlegungen aus Politik VII 1 nochmals zusammen und führt dabei aus, dass für ihn an den zuvor getroffenen Definitionen keinerlei Zweifel bestehen. Das tugendhafte Leben sowohl des einzelnen Menschen als auch der Gemeinschaft, vorerst in welcher Form auch immer definiert, ist mit Sicherheit das erstrebenswerteste Leben. Diese These macht Aristoteles nun hier in Politik VII 2 umso deutlicher. Dabei leitet er zu der Diskussion der Lebensformen über, die in Bezug auf die Suche nach dem erstrebenswertesten Leben freilich alles andere als unbedeutend sind. Es heißt dazu: »[...]; strittig aber ist selbst unter denen, die darin übereinstimmen, dass das tugendhafte Leben auch das wünschenswerteste ist [βίον αἱρετώτατον, also das erstrebenswerteste ist], ob dabei ein den Staatsgeschäften (politikos) und der praktischen Tätigkeit (praktikos) gewidmetes Leben den Vorzug verdient oder vielmehr ein solches, das losgelöst von aller nach außen gerichteten Tätigkeit ist, also ein rein betrachtendes (theôrêtikos), welches einige für das allein philosophische erklären. Denn offenbar sind es diese beiden Lebensformen, welche die eifrigsten Verehrer der Tugend in der Vorzeit wie in der Gegenwart vorziehen, das staatsmännische und das philosophische Leben. Nun ist aber von nicht geringerer Bedeutung, auf welcher von beiden Seiten die Wahrheit liegt, denn notwendig muss im Hinblick auf das bessere Ziel jeder vernünftige Mensch seine Anordnungen treffen sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft des Staates« (Pol. VII 2, 1324a23ff).27

Aufgrund der philosophischen Dichte in der aristotelischen Argumentation wurde dieses längere Zitat aus Politik VII 2 nicht unterteilt, sondern im Ganzen angeführt. Wie gesagt, die Diskussion über die unterschiedlichen Lebensformen ist vor allem aus der Nikomachischen Ethik, eigentlich weniger aus der Politik bekannt. Aufgrund dessen soll an dieser Stelle ein kurzer Blick auf die ent|| 26 Kraut kommt diesbezüglich an dieser Stelle seiner Untersuchung zu dem Schluss: „Aristotleʼs train of thought in Pol. VII 1-2 resembles the one he pursues in the Nicomachean Ethics: [...].“ 27 Kraut betitelt seinen Kommentar zu diesem Kapitel aus Pol. VII 2 bezeichnend mit „Politics versus Philosophy“ und bringt damit den Charakter des Textes in Bezug auf die Frage nach den Lebensformen deutlich zur Sprache (Kraut: 1997, 59).

Diskussion der Lebensformen (Politik VII 2) | 27

sprechenden Passagen der Nikomachischen Ethik geworfen werden, wo Aristoteles über die unterschiedlichen Lebensformen spricht. Bereits am Anfang der Nikomachischen Ethik geht er der Frage nach, welche Lebensform den Menschen am ehesten zur eudaimonia, zur umfassenden Glückseligkeit, führen kann. Doch darüber, so schreibt Aristoteles, gebe es eine Vielzahl an Meinungen (EN I 2, 1095a20). Auf die wichtigsten dieser unterschiedlichen Ansichten geht er anschließend in Nikomachische Ethik I 3 genauer ein und stellt dabei insgesamt vier unterschiedliche Lebensformen vor, die, wie Aristoteles meint, als die gängigsten Lebensformen bzw. -konzepte gelten können. Zum einen spricht er über den bios apolaustikos, das Leben des Genusses und der Lust (hêdonê). Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass die Lust bei Aristoteles in erster Linie kein moralisch verdächtiger Begriff ist. Denn für die Theorie seiner politischen Philosophie sind die Bereiche von Lust und Unlust ein wichtiger Faktor in Bezug auf das menschliche Handeln und somit immer wieder Thema.28 Das wird vor allem in der Nikomachischen Ethik deutlich zur Sprache gebracht. So heißt es an einer Stelle, dass nicht derjenige ein unbeherrschter oder ein schlechter Mensch ist, der etwas aus Lust tut bzw. des Genusses wegen handelt, sondern derjenige, der dieser oder jener Handlung aufgrund einer niedrigen Lust oder eines niedrigen Genusses nachgeht (EN VII 7, 1151b21). Auch im X. Buch der Nikomachischen Ethik wird dieses Thema angesprochen, und spätestens dort wird klar, welch hohen Stellenwert diese Überlegungen für die Ethik als auch für die Politik haben. Denn hier wird deutlich ausgeführt, dass die Lust die Tätigkeit vollkommen macht und damit auch das Leben des Menschen, das nach Aristoteles – wie er zusätzlich anführt – etwas Erstrebenswertes ist (EN X 4, 1175a15ff).29 Unter der Lust haben wir also nicht ausschließlich ein hedonistisch ausschweifendes Leben zu verstehen. Kullmann übersetzt aufgrund dessen den bios apolaustikos auch als „genießende Lebensform“ (Kullmann: 1998, 383). Freilich kennt Aristoteles die Auswüchse des Lustlebens und kritisiert sie auch, wenn er meint, dass ein Leben, das einzig und allein an der Lust Orientierung nimmt und die Lust als einziges Motiv des Handelns ansieht, eine sklavenhafte Art des Lebens sei, das sich mit dem Leben der Tiere vergleichen lässt (EN I 3, 1095b19f). Somit ist der reine bios apolaustikos, trotz der Wichtigkeit des Motivs der Lust für das Handeln des Menschen in Bezug auf die Vollkommenheit der Handlung selbst, nicht jene Lebensform, die Aristoteles

|| 28 Nicht nur innerhalb der politischen Philosophie, auch in An., der Met., etc., wird die hêdonê thematisiert (vgl. Ricken: 2005, 242ff; Frede: 2011, 262ff). 29 Ricken untersucht speziell EN VII und EN X. Dabei weist er auch auf den Gebrauch in anderen aristotelischen Werken, wie z.B. in der EE hin (vgl. Ricken: 2006, 207ff).

28 | Die Politik und die Frage der Lebensform am Schluss der Nikomachischen Ethik im Kontext zur umfassenden Glückseligkeit des Menschen intensiver diskutieren bzw. in die engere Auswahl nehmen wird, so wie im Prinzip auch die nächste hier kurz zu erwähnende Lebensform. Zum anderen spricht Aristoteles in Nikomachische Ethik I 3 von dem bios chrêmatistês, dem Leben des Gelderwerbs und des Strebens nach Reichtum. Doch diese Lebensform ist für ihn nicht autark, zumal sie etwas Erzwungenes hat und nützlich ist, d.h. nicht um ihrer selbst willen angestrebt bzw. ausgeübt wird. Somit schließt Aristoteles auch diese Lebensform, ähnlich wie jene des bios apolaustikos zuvor, in Bezug auf ihre Bedeutung für die umfassende Glückseligkeit schon in dieser Textstelle aus (EN I 3, 1096a5ff).30 Drittens spricht Aristoteles in Nikomachische Ethik I 3 weiters vom bios politikos, der politischen Lebensform und schließlich viertens vom bios theôrêtikos, der betrachtenden Lebensform. Da Aristoteles, wie zuvor gezeigt, in Nikomachische Ethik I 3 den bios chrêmatistês und den bios apolaustikos in Bezug auf die umfassende Glückseligkeit des Menschen bereits ausschließt, treten vor allem der bios politikos und der bios theôrêtikos in den Vordergrund seiner Untersuchungen in der Nikomachischen Ethik, die daher auch für die Auseinandersetzung mit den Lebensformen in der Politik von Bedeutung sind, speziell in den hier zu untersuchenden Büchern VII und VIII. In Politik VII 2 hingegen spricht Aristoteles, wie zuvor zitiert, nur mehr ausschließlich von den beiden zuletzt genannten Lebensformen in Bezug auf seine Suche nach dem hairetôtatos bios.31 Die Frage, die er sich nun hier diesbezüglich stellt, lautet, welche der beiden Lebensformen nun am ehesten dem „erstrebenswertesten Leben“ entspreche und welche nicht. Dieser Themenkomplex wird in der zuvor zitierten Stelle aus Politik VII 2 sehr deutlich, wenn Aristoteles fragt, welche der beiden Lebensformen nun den Vorzug verdiene. || 30 Höffe macht auf die Problematik dieser von Aristoteles getroffenen, ausschließlich negativen Bewertung des „Kaufmannslebens“ aufmerksam: „Sein Argument, wer den Reichtum verabsolutiere, verkehre ein Mittel zum Zweck, ist zwar nicht falsch. Er blendet aber die positiven Aspekte aus, sowohl personal den Erwerbssinn und die dahintersteckende Anstrengung und Kreativität als auch politisch die Finanzierung der öffentlichen Aufgaben, die teils durch erzwungene Abgaben, durch Steuern, teils durch freiwilliges Mäzenatentum erfolgte“ (Höffe: 2004, 20). 31 Wie wir anhand des vorherigen Zitats aus Pol. VII 2 gesehen haben, spricht Aristoteles an dieser Stelle von der politischen (politikos) und der praktischen (praktikos) Tätigkeit in einem Atemzug [ὁ πολιτικὸς καὶ πρακτικὸς βίος] (Pol. VII 2, 1324a27) und stellt diese beiden gemeinsam der betrachtenden (theôrêtikos) Tätigkeit gegenüber (Pol. VII 2, 1324a28). Aufgrund dessen werden auch wir im Zuge dieser Studie von der praktisch-politischen Tätigkeit innerhalb von Pol. VII/VIII sprechen.

Theorie und Praxis (Politik VII 3) | 29

Aristoteles ist sich in Politik VII 2 bewusst, dass dies ein überaus strittiger Bereich ist. Denn selbst wenn darüber Einigkeit herrscht, dass das erstrebenswerteste Leben ein tugendhaftes Leben ist, so ist damit noch nicht geklärt, worin konkret ein solches Leben liegt oder liegen könne und woran es nun letztendlich Maß nehmen sollte (Pol. VII 2, 1324a25). Handelt es sich hier im Bezug auf die Suche nach dem hairetôtatos bios um ein an den praktischen Tätigkeiten und an den Staatsgeschäften orientiertes Leben, also um den von Aristoteles angesprochenen bios praktikos kai politikos, der sich an den ethischen Tugenden orientiert, oder um ein von allen nach außen gerichteten Tätigkeiten losgelöstes, also um den bios theôrêtikos, und somit um ein theoretisch-betrachtendes Leben, welches der dianoetischen Tugendhaftigkeit des Menschen bedürfen würde? Eine Entscheidung dieser ausgesprochen strittigen Frage, die, wie Aristoteles in dem Zitat meint, durchaus gesellschaftliche Relevanz habe, wird von ihm allerdings hier in Politik VII 2 noch nicht getroffen, sondern erst in dem darauffolgenden Kapitel.

1.5 Theorie und Praxis (Politik VII 3) Die Diskussion über den Vorzug des bios theôrêtikos gegenüber dem bios praktikos bzw. dem bios politikos bei Aristoteles ist eine durchaus bekannte, jedoch in der Forschung nach wie vor kontrovers und auch heute noch breit geführte. Bei dieser Debatte stehen vor allem Textstellen aus dem zweiten Teil des X. Buches der Nikomachischen Ethik im Mittelpunkt der Überlegungen. Jedoch handelt es sich hier um Passagen, deren Auslegung und Einordnung in der Forschung immer wieder die „größten Schwierigkeiten“ bereitet hat (Flashar: 1971, 285). Dennoch spricht die Nikomachische Ethik für sich allein betrachtet im Grunde genommen eine relativ deutliche Sprache. Aristoteles erteilt dem bios theôrêtikos in der Diskussion um die Lebensform, die zum Erreichen der umfassenden Glückseligkeit führen kann, eindeutig einen Vorzug (EN X 7, 8; vgl. Höffe: 2006a, 234ff).32 Die umfassende Glückseligkeit, die eudaimonia, scheint daher zumindest nach der Nikomachischen Ethik vor allem in der theoretischbetrachtenden Tätigkeit zu liegen und nur in zweiter Linie in der praktisch-

|| 32 Aristoteles führt in EN X 7 fünf Punkte an, die seine These über die theoretischbetrachtende Lebensform in Bezug auf die umfassende Glückseligkeit stützen sollen. Erstens ist sie nach Aristoteles die kontinuierlichste Tätigkeit, zweitens die lustvollste, drittens die am meisten autarke und daher viertens die einzige um ihrer selbst willen angestrebte Tätigkeit sowie fünftens eine Tätigkeit in der Zeit der Muße, der scholê (EN X 7, 1177a11ff).

30 | Die Politik und die Frage der Lebensform politischen.33 Die Frage, die sich nun daran anschließend stellt, lautet, ob diese Interpretation der Nikomachischen Ethik auch für die Suche nach dem hairetôtatos bios aus der Politik Gültigkeit hat oder nicht? Handelt es sich diesbezüglich um eine an der theoretisch-betrachtenden oder doch mehr an der praktischpolitischen Lebensform orientierten Existenz des Menschen? Bevor Aristoteles jedoch eine Antwort auf diese Frage gibt, fasst er nochmals die unterschiedlichen Positionen aus den Bestimmungen, die er in seinen vorherigen Überlegungen getroffen hat, hier in Politik VII 3 kompakt zusammen, was in dieser Art und Weise stark an jene im Kapitel zuvor zitierte Stelle aus Politik VII 2 erinnert und daher durchaus die Vermutung nahelegt, dass diese beiden Texte auch zur Zeit ihrer Entstehung bereits unmittelbar zusammengehört haben und eine Einheit bildeten, worauf ebenso Schütrumpf zu sprechen kommt (vgl. Schütrumpf: 2005, 231).34 Nach Aristoteles verhält es sich so, dass viele sich einig sein, dass »[...] das tugendhafte Leben das wünschenswerteste ist [βίον αἱρετώτατον], aber über die Anwendung desselben verschiedener Meinung sind, indem die einen alle Beteiligung an der Staatsregierung zurückweisen, weil sie meinen, dass ein Leben in wahrhafter Freiheit das wünschenswerteste von allen und dass dies nicht das des Staatsmannes sei, während die anderen umgekehrt das letztere für das beste erklären, weil es unmöglich mit der Tätigkeit desjenigen gut bestellt sein könne, welcher sich überall untätig verhalte, glückselig aber sei eben der, mit dessen Tätigkeit es gut bestellt sei. Gegen beide müssen wir bemerken, dass beide in gewisser Hinsicht recht und in gewisser unrecht haben« (Pol. VII 3, 1325a15ff).

Richten wir unseren Fokus auf den letzten Satz dieses Zitats. Beiden Positionen, also den Vertretern des bios theôrêtikos als höchste Lebensform auf der einen Seite, aber auch jenen Vertretern des bios politikos auf der anderen Seite, spricht Aristoteles hier in Politik VII 3 in Bezug auf die Suche nach dem || 33 Kullmann meint zu diesem Befund: „Die Darlegung des Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, dass das Ziel des menschlichen Lebens das Glück sei und der Mensch das höchste Glück in der betrachtenden [theoretischen] Lebensform finden könne (EN I 3 und 6, X 6-9), hat in der Antike und Neuzeit immer wieder fasziniert und den Beifall vieler Gebildeter erhalten, die sich in diesem Gedanken wiederfanden. Andererseits ist sie aber auch immer wieder Gegenstand der Kritik von Leuten gewesen, die das eigentliche Wesen des Menschen in dessen sozialer Komponente sahen und in erster Linie die politische Lebensform favorisierten, der Aristoteles nur den zweiten Rang zuzuerkennen schien, oder seinen Ansatz überhaupt für verfehlt hielten“ (Kullmann: 1998, 401). 34 Weiters führt Schütrumpf aus, dass sich zwischen Pol. VII 1-3 viele gemeinsame rhetorische Züge erkennen lassen (Schütrumpf: 2005, 269). Auch das kann wiederum als ein Beleg dafür angesehen werden, dass diese ersten drei Kapitel mit großer Wahrscheinlichkeit seit ihrer Entstehung zusammengehören und somit eine Diskurseinheit bilden.

Theorie und Praxis (Politik VII 3) | 31

hairetôtatos bios, wie es heißt, zu, dass sie in gewisser Weise Recht, aber auch Unrecht hätten. Es bahnt sich in diesen Kapitel, insbesondere im Vergleich zu dem Befund aus der Nikomachischen Ethik im X. Buch, ein anderer Vorschlag zur Betrachtung der Lebensformen an. Denn Aristoteles empfiehlt hier in Politik VII 3 in weiterer Folge eine (notwendige) Verbindung von bios theôrêtikos und bios politikos, die für seine weiteren Bestimmungen sowohl zur aristê politeia als auch zur scholê konstitutiv sein werden. So, wie es innerhalb eines Staates einer gegenseitigen Wechselwirkung der unterschiedlichen Gesellschaftsschichten untereinander bedarf, so verhält es sich auch beim einzelnen Menschen in Bezug auf sein Leben, meint Aristoteles abschließend in Politik VII 3 und bringt dabei nun auch seine Vorstellung über den hairetôtatos bios zum Ausdruck: »Drum, wenn dies alles wahr und die Glückseligkeit in die richtige Tätigkeit zu setzen ist, so wird sowohl für den Staat im ganzen als auch für den Einzelnen das beste Leben das tätige sein. Allein, das tätige braucht nicht notwendig auf andere gerichtet zu sein, [...]. [...], indem eben eine vielfache Art von Wechselwirkung zwischen den Teilen des Staates stattfindet, geradeso steht es auch mit jedem einzelnen Menschen. [...]. Dass nun also das nämliche Leben notwendig das beste ist sowohl für jeden einzelnen Menschen als für die Staaten und Menschen insgemein, liegt zu Tage« (Pol. VII 3, 1325b15ff).

Aristoteles hat dieser hier erfolgten Interpretation zufolge in Politik VII an einer Verbindung beider von ihm favorisierten Lebensformen gearbeitet, wohingegen, wie gezeigt, in der Nikomachischen Ethik X dem bios theôrêtikos gegenüber dem bios politikos grundsätzlich ein Primat erteilt wird in Bezug auf die Tauglichkeit zur umfassenden Glückseligkeit, der eudaimonia des Menschen. Damit wird deutlich, dass es zwei unterschiedliche Ergebnisse der aristotelischen Diskussion der Lebensformen zu geben scheint.35 Vor allem im Zuge der anglo-amerikanischen Debatten solcher und ähnlicher Zugänge zur Nikomachischen Ethik und zur Politik haben sich diese beiden unterschiedlichen Interpretationsarten über die Lebensformen bei Aristoteles entwickelt. Dabei wird zwischen dem „dominat end“ aus der Nikomachischen Ethik und dem „inclusive end“ aus der Politik unterschieden (vgl. Ackrill: 2006,

|| 35 Schütrumpf fasst den Diskurs über diese beiden verschiedenen Auslegungen der Lebensformen anhand der EN zusammen: „Seit etwa 40 Jahren wird hinsichtlich der EN diskutiert, ob Aristoteles das höchste Glück inklusiv verstand, sodass neben der Theorie die Verwirklichung der praktischen aretai als eine der es konstituierenden Aktivitäten darin eingeschlossen ist, oder dominant, sodass allein der Vollzug der Theorie (,monolithisch‘) das höchste Glück bildet, dem die Verwirklichung der praktischen aretai völlig untergeordnet ist – wenn sie überhaupt Teil dieses Lebens ist“ (Schütrumpf: 2005, 128).

32 | Die Politik und die Frage der Lebensform 40). Unter dem „dominat end“ wird der zuvor angesprochene Primat der theoretisch-betrachtenden Lebensform gegenüber der praktisch-politischen Lebensform aus der Nikomachischen Ethik verstanden und unter dem „inclusive end“ die wechselseitige Verknüpfung dieser beiden Formen in der Politik, wobei hierbei insbesondere Politik VII und VIII als Beweis herangezogen werden. Depew hat diese unterschiedlichen Positionen in seiner Untersuchung zusammengefasst und im Zuge dessen einer Systematisierung zugeführt (Depew: 1991, 346, 360). Für den Fokus dieser Studie scheint insbesondere die „inclusive end“-Interpretation in Bezug auf Politik VII interessant zu sein. Depew ist der Überzeugung, dass sich vor allem anhand der hier angesprochenen Texte von Politik VII 1 bis 3 deutlich machen lässt, dass Aristoteles an einer Verbindung beider Lebensformen gearbeitet hat.36 Diese Verbindung von bios politikos kai praktikos und bios theôrêtikos, die es in späterer Folge noch genauer zu untersuchten gilt, kann als der von Aristoteles gesuchte hairetôtatos bios verstanden werden, der sich nicht ausschließlich an der einen oder an der anderen der beiden primären Lebensformen aus der Nikomachischen Ethik orientiert, sondern vielmehr als ein „sui generis way of life“ aufzufassen ist.37 Die ersten drei Kapitel aus Politik VII legen, im Gesamten betrachtet in der Tat die Interpretation nahe, dass Aristoteles eine Verbindung beider Bereiche hier zumindest ansatzweise gedacht hat. Selbst wenn dies von Aristoteles nicht ausdrücklich angesprochen wird, wie es vielleicht mit Depew erscheinen mag, so werden dennoch auch die anderen Passagen aus Politik VII in späterer Folge diesen Eindruck Schritt für Schritt verstärken und die von Depew angesprochene „eigene bzw. spezifische Art des Lebens“, nicht zuletzt vor allem

|| 36 In Bezug auf die „inclusive end“-Interpretation fasst Depew zusammen: „When Aristotle claims ,happiness is activity in accord with complete virtue (teleia aretê)‘ [...], inclusivists interpret ,complete‘ to mean ‚including all virtues, moral as well as intellectual, in the flourishing or happy life (eudaimonia)‘“ (Depew: 1991, 346). Weiters werden von Depew noch weitere Interpretationsmuster angeführt, die sich in der Debatte an jenem des „inclusive end“ und des „dominat end“ orientieren. Innerhalb des „dominat end“, oder aber auch „strict intellectualism“, differenziert Depew zwischen einer „weaker version“ und einer „stronger version“, wie auch im Bereich des „inclusive end“ bzw. des „inclusivism“ (vgl. Depew: 1991, 360). 37 „My own view is that in Pol. VII 1-3 Aristotle does not intend to privilege and politicize the contemplative life, or to redefine it stipulativley as an active life. Rather, he rejects the ways of life of both apolitical intellectuals and conventionally political men as models for the happy life of both the individual and to the best state. The claim that contemplation is an activity serves to cancel both extremes, and to construct a space in which political and contemplative engagements can fuse into a sui generis way of life, or rather into a pair of possible lives that have more in common with each other than either has with conventionally political or exclusivley contemplative lives“ (Depew: 1991, 352).

Theorie und Praxis (Politik VII 3) | 33

durch den aristotelischen scholê-Begriff, deutlicher machen. Aristoteles, so argumentiert auch Flashar in eine ähnliche Richtung, hat sich insbesondere in Politik VII 1 bis 3 – im Gegensatz zur Nikomachischen Ethik – um den „Nachweis einer Verbindung von praktisch-politischer und theoretischer Lebensform bemüht“ (Flashar: 2004, 313). Schütrumpf spricht sich allerdings gegen diesen Ansatz von Depew aus. Seiner Ansicht nach wird der in der angelsächsischen Diskussion benutzte Terminus des „inclusive end“ der „Argumentation von Politik VII und VIII nicht gerecht“ (Schütrumpf: 2005, 138).38 Wie wir hier allerdings gesehen haben, zeigt sich insbesondere in Bezug auf das Verhältnis von bios theôrêtikos und bios praktikos in Politik VII 1 bis 3 ein spezielleres Verhältnis einer Verbindung, das von jenem aus der Nikomachischen Ethik abweicht. Aristoteles sieht demnach den hairetôtatos bios in dieser Wechselwirkung von bios politikos und bios theôrêtikos, ohne hier allerdings genauer auf diese Art der Verbindung einzugehen. Zumindest die zuvor angesprochenen Texte aus dem VII. Buch der Politik legen im Gesamten betrachtet, diese Interpretation überaus nahe, worauf auch Neschke-Hentschke hinweist. Zwar erkennt sie das erstrebenswerteste Leben als solches nicht, spricht aber in Bezug auf Politik VII über ein spezifisches Leben in der aristotelischen aristê politeia. Dieses ist ihrer Ansicht nach ein „gemischtes Leben, in dem alle Tugenden, die theoretischen eingeschlossen, gemäß der Situationskonstellation zur Ausübung kommen“ (Neschke-Hentschke: 2001, 180). Kullmann vertritt ebenso die Ansicht, dass Aristoteles zuweilen an eine Verknüpfung beider, in der Geschichte der Philosophie so oft und intensiv diskutierter, Lebensformen gedacht hat. Zwar ist die praktisch-politische Lebensform des Menschen gegenüber der theoretischbetrachtenden Lebensform eigenständig und verlangt nicht zwingend nach letzterer, jedoch ist umgekehrt die praktisch-politische Lebensform zugleich auch „die supplementäre Lebensform“ eines jeden Menschen, der die theoretisch-betrachtende Lebensform „zum Hauptinhalt seiner menschlichen Aktivität gemacht hat“ (Kullmann: 2006, 259).39

|| 38 Schütrumpf erkennt in Pol. VII kein „inclusiv end“-Denken. Für ihn ist das hier von Aristoteles entwickelte Modell „nicht das des Einschließens, sondern des Überbietens“ (Schütrumpf: 2005, 138). Auch wenn die „inclusive end“-Interpretation in der Forschung umstritten ist, so ist der zuvor genannte Ansatz von Flashar doch nicht von der Hand zu weisen, nämlich dass sich Aristoteles hier in Pol. VII 1-3 um den Nachweis einer Verbindung beider von ihm in der EN favorisierter Lebensformen bemüht hat. 39 Kullmann dazu weiter: „Es bleibt also dabei, dass der Vertreter der theoretischen Lebensform immer auch der praktisch-politischen Lebensform bedarf, da er ja ein aus Körper und Seele zusammengesetztes Lebewesen ist“ (Kullmann: 2006, 260).

34 | Die Politik und die Frage der Lebensform Zusätzlich wird anhand von Politik VII 1 bis 3 deutlich, dass diese Wechselwirkung offensichtlich ein Kennzeichen für das von Aristoteles gesuchte erstrebenswerteste Leben ist und dass dieses zur eudaimonia des Einzelnen und der Gemeinschaft beiträgt. Dennoch muss betont werden, dass die unterschiedlichen Positionen der Auslegung im Grunde genommen alle ihre Berechtigung haben und dass sich für sie diverse Anhaltspunkte in den entsprechenden Passagen finden lassen. Somit wird es diesbezüglich sicherlich auch weiterhin zu Kontroversen kommen, worauf Kenny hinweist. Die Diskussion, vor allem zwischen den Positionen des „dominat end“ und des „inclusive end“, „will no doubt continue“ (Kenny: 1992, 93). 40 Unsere Untersuchungen über den hairetôtatos bios müssen jedoch an dieser Stelle unterbrochen werden, da sich vorerst, auch aufgrund des angesprochenen Proömium-Charakters von Politik VII 1 bis 3, keine weiteren Bestimmungen darüber treffen lassen. Dennoch sind momentan folgende Schlüsse zulässig. Das erstrebenswerteste Leben erscheint als ein Leben in der Verbindung bzw. als ein Leben in der Wechselwirkung zwischen theoretisch-betrachtender und praktisch-politischer Tätigkeit. Dies legt nahe, dass Aristoteles hier auch an die Verknüpfung beider Arten von Tugend, also an die Verbindung von ethischen und dianoetischen Tugenden in Bezug auf die eudaimonia gedacht hat, da er, wie wir gesehen haben, in Politik VII 1 beiderlei Tugenden in direkte Verbindung mit dem hairetôtatos bios bringt. Auch wenn die inclusive end-Interpretation, wie mit Hinweis auf Schütrumpf angedeutet wurde, umstritten ist und es unterschiedliche Deutungen innerhalb dieser einen Auslegung gibt, wie mit Depew vor Augen geführt wurde, so kann dennoch mindestens von einer erkennbaren Annäherung der beiden Lebensformen, des bios praktikos kai politikos und des bios theôrêtikos, zueinander, hier in Bezug auf Politik VII 1 bis 3 – im Gegensatz zu ihrer Betrachtung in der Nikomachischen Ethik – im Sinne der Argumentation von Flashar gesprochen werden. Wie das genauer verstanden und in welcher Art und Weise das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis innerhalb dieser Wechselbeziehung gedeutet werden kann, lässt Aristoteles in diesen ersten drei Kapiteln aus Politik VII noch offen. Um uns einer möglichen Antwort anzunähern, müssen wir wei|| 40 Kenny bringt in Bezug auf die inclusive end-Interpretation die aristotelische EE mit ins Spiel (wie auch Kullmann) und setzt diese in Verbindung mit der EN: „In both, the EE and the NE the question is raised: Which is the best of the three traditional patterns of life: the life with pleasure, the political life, or the contemplative life? In the NE the answer is that the contemplative life is the most perfect life, and the political life is the next best thing; happiness can be found in either life. In the EE the answer is that of the three lives are exclusive alternatives, the best is none of the three. The best life is both political and theoretical“ (Kenny: 1992, 103).

Theorie und Praxis (Politik VII 3) | 35

terhin die philosophischen Bestimmungen untersuchen, mittels derer Aristoteles den hairetôtatos bios, die aristê politeia, später auch vor allem die scholê näher ausführen will.41

|| 41 Aristoteles wird seine Aussagen zum hairetôtatos bios aus Pol. VII 1-3 später noch konkretisieren, nämlich insbesondere in den für unsere Studie überaus wichtigen Abschnitten Pol. VII 13-15, auf die wir in Verbindung mit der scholê genauer eingehen werden (vgl. Kap. 4.3).

2 Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung Ab Politik VII 4 beginnt Aristoteles damit, die von ihm so genannte „Polis nach Wunsch“ (katʼ euchên polis bzw. politeia) zu entwickeln (Pol. VII 4, 1325b36, 39; VII 5, 1327a4; VII 10, 1330a26; VII 12, 1331b21; VII 13, 1332a31). Dieses PolisKonzept in seinen wichtigsten Grundzügen wird nun Gegenstand des zweiten Kapitels dieser Studie sein. Dabei ist vorab anzumerken, dass auch das VIII. und letzte Buch der Politik, wo Aristoteles primär, aber nicht ausschließlich über die paideia, die umfassende Erziehung spricht, zu diesem Polis-Entwurf gehört und beide Bücher zusammen eine Diskurseinheit darstellen, zumal der Übergang von Politik VII zu Politik VIII als überaus flüssig und inhaltlich unkompliziert erscheint. Diese Ansicht über die Zusammengehörigkeit der beiden Bücher scheint in der Forschung unumstritten zu sein.1 Aristoteles erörtert in diesen beiden Büchern der Politik eine Vielzahl an philosophischen, soziologischen, pädagogischen, ökonomischen und auch an militärischen Themen. Dieses breite Spektrum macht ein Urteil im Ganzen relativ schwierig. Vielleicht ist aber gerade diese Themenvielfalt ein Grund dafür, warum die Interpretationen einiger Details aus Politik VII und VIII, wie hinführend bereits erwähnt, in der Forschung divergieren, worauf wir schon im nächsten Kapitel deutlich zu sprechen kommen werden. Schütrumpf weist auf diese Themenvielfalt hin und spricht von einem „doppelten Antlitz“ der beiden Bücher. Auf der einen Seite stehen viele bekannte, aber auch neue Perspektiven der aristotelischen politischen Philosophie, und auf der anderen Seite werden im Gegenzug dazu unmittelbare „Realien der Staatsgründung“ erörtert.2 || 1 Neschke-Hentschke spricht von einer „Diskurseinheit der Bücher VII und VIII“ (NeschkeHentschke: 2001, 173). Flashar ist der Meinung, dass Pol. VII/VIII ursprünglich vielleicht eine selbstständige Abhandlung gewesen ist, was seiner Ansicht nach die ausgefeilte Stilistik der beiden Bücher belegt (vgl. Flashar: 2004, 310). Schütrumpf weist ebenso auf den Stil hin, der seiner Ansicht nach allerdings in der Forschung zu wenig Aufmerksamkeit erfahre, und führt weiters an, das Aristoteles in Pol. VII/VIII eine „Reihe von jeweils in sich geschlossenen Erörterungen zu einer Vielzahl an Fragen“ vorlege, die auch auf andere Themen aus anderen Werken zurückgreifen (Schütrumpf: 2005, 87ff). 2 „Die Bücher VII/VIII der Politik, in denen Aristoteles einen besten Staat entwirft, haben ein doppeltes Antlitz: Sie sind das Werk eines Philosophen und behandeln Glück; das theoretische Leben; Lust; Charakterqualität; Erziehung; die Rolle der Güter und vieles anderes mehr. [...]. Auf der anderen Seite äußert sich Aristoteles auch zu vielen Realien der Staatsgründung: zur politischen und sozialen Organisation der besten Polis; ihrer Stadtanlage; Krieg und Frieden; Grundbesitz; Ackerbau und Handel; Sklaverei; Religion; Familie; Gesundheitspflege; Erziehung; Musik und vielem anderen mehr“ (Schütrumpf: 2005, 7). Einen wichtigen Aspekt lässt Schütrumpf in dieser Auflistung hier jedoch vermissen, nämlich jenen der scholê.

Die aristê politeia: Utopie contra Realität | 37

Zu den bereits genannten größeren Themenkreisen kommt nach Schütrumpfs Auslegung also hinzu, dass sich Aristoteles hier in Politik VII und VIII über eine eventuelle Polis-Gründung Gedanken zu machen scheint. Diese Aspekte sollen nun in den kommenden Untersuchungen anhand der Darstellung der aristê politeia diskutiert werden. Ansätze davon zeigen sich unter anderem bereits darin, dass Aristoteles in diesem Zusammenhang z.B. über die territoriale Einbettung dieser Polis nach Wunsch in die griechische Landschaft spricht (Politik VII 5, ferner 11), sowie auch darin, dass er über die notwendige Verbindung dieses Polis-Gebiets mit dem Meer verhandelt (Politik VII 6). Diese, vor allem auch aus althistorischer Perspektive interessanten Themen werden jedoch in den meisten Untersuchungen entweder gar nicht oder wenn doch, dann zumeist nur andeutungsweise am Rande erörtert.

2.1 Die aristê politeia: Utopie contra Realität In vielen Kommentaren wird die aristotelische Polis nach Wunsch als ein klassisches utopisches Staatsmodell, als die Konzeption eines unrealistischen Idealstaats aufgefasst. So unter anderem, wie Schütrumpf genauer ausführt, der sich in jüngster Zeit deutlich gegen diese Interpretation einer „Idealstaatskonzeption“ ausgesprochen hat, z.B. bei Jaeger, Depew oder Neschke-Hentschke (vgl. Schütrumpf: 2005, 66). Diesen Namen können noch viele weitere hinzugefügt werden.3 Es lässt sich eine große Anzahl an Forschern benennen, welche die aristotelische Polis nach Wunsch so gut wie ausschließlich als Idealstaat verstehen und ihr dabei zumeist gleichzeitig einen starken Utopiecharakter zuschreiben, wobei sie die Meinung vertreten, dass Aristoteles an einer möglichen Realisierung bzw. Verwirklichung dieser Polis nicht einmal im Entferntesten gedacht habe.

|| 3 Stocks spricht in seiner Abhandlung kontinuierlich von der aristotelischen „ideal city“ (Stocks: 1936, 177-187). Solmsen hingegen spricht zwar gelegentlich von „the best constitution“, jedoch auch von „Aristotleʼs ideal State“. Er bezieht sich in seinem Text auf den zuvor genannten Stocks (Solmsen: 1964, 193-220). Mikkola spricht von einem aristotelischen „Idealstaat“ bzw. einem „Idealstaatsentwurf“ (Mikkola: 1958, 70, 83). Kraut hingegen handelt in Bezug auf Pol. VII/VIII gleich über „Utopia“ (Kraut: 2002, 192). Ricken bezeichnet die Bücher VII und VIII ebenso als den „Entwurf eines Idealstaats“ (Ricken: 2007, 146). Diese Stellenverweise sind freilich nicht alle gleichzusetzen, da sie unterschiedliche Argumentationen verfolgen. Es soll hiermit vielmehr gezeigt sein, dass viele Auslegungen von „Idealstaatstheorien“ und „utopischen Staatsgedanken“ sprechen, ohne hierbei aber genauer in Bezug auf die aristotelische aristê politeia zu differenzieren.

38 | Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung Einer der konsequentesten Vertreter dieser Auslegung ist Kullmann, der in verschiedenen Arbeiten zur aristotelischen Philosophie diesen Utopiecharakter ausfindig zu machen meint sowie für eine Idealstaatsinterpretation der entsprechenden Texte argumentiert. Er vertritt dabei die These, dass die aristotelischen Gedanken zur Polis nach Wunsch einen Idealstaat konstruieren, in dem es um das „Glück (eudaimonia) unabhängig von der jeweiligen politischen Realität“ gehe (Kullmann: 2003, 14). Es handle sich demnach bei Politik VII und VIII der Gattung nach um ein „Subgenos innerhalb der Staatstheorie“, nämlich um „die Utopie“ (Kullmann: 2003, 15). Kullmann spricht in Bezug auf die aristotelische Polis nach Wunsch weiter von einem „aristokratischen Wunschstaat“, auch an anderen Stellen wiederum von einer „Utopie“ sowie von dem „Wunschstaat einer imaginären Elite“ (Kullmann: 2003, 21). Alle diese Interpretationen scheinen letztendlich in der These zu münden, dass Aristoteles eine etwaige Realisierung der Polis nach Wunsch nicht ins Auge gefasst habe (vgl. Kullmann: 2006, 270).4 Aus den hier in aller Kürze dargelegten Interpretationen von Politik VII und VIII durch Kullmann wird seine Haltung relativ klar ersichtlich. Abgesehen davon, dass er offensichtlich die Polis nach Wunsch mit dem Begriff des „Idealstaats“ gleichsetzt und der Ansicht ist, vor allem in Politik VII spreche Aristoteles über die Verwirklichung der eudaimonia unabhängig von der politischen Realität, soll in der vorliegenden Studie insbesondere die Interpretation von Politik VII und VIII als Utopie sowie die Einordnung als „literarisches Genos der philosophischen Utopie“ kritisiert und widerlegt werden. Schütrumpf tritt, wie eingangs schon angemerkt, dieser Interpretationsrichtung, die an dieser Stelle stellvertretend auch für andere anhand einiger Thesen von Kullmann dargestellt wurde, entschieden entgegen. Der Staatsentwurf aus Politik VII und VIII ist erstens nicht als Utopie aufzufassen, zweitens ist dieser Entwurf nicht weit von der damaligen politischen Realität entfernt gedacht gewesen und drittens sagt Aristoteles an keiner Stelle, dass eine Realisierung dieser Polis nach Wunsch von vornherein ausgeschlossen ist. Schütrumpf spricht in seiner Auslegung hingegen bewusst von dem politischen Konzept einer „realen Aristokratie“ (Schütrumpf: 2005, 65). Diese Interpretation steht im Gesamten betrachtet deutlich im Gegensatz zu Kullmanns „Wunschstaat einer imaginären Elite“. Mit dieser Auslegung möchte sich Schütrumpf auch aus|| 4 Auf den Punkt gebracht vertritt Kullmann die Position, „dass es sich bei den Büchern VII und VIII um ein anderes literarisches Genos handelt, und zwar das der philosophischen Utopie. In dieser Teildisziplin der politischen Wissenschaft wird von Aristoteles dargelegt, wie aus der Sicht und Interessenslage des Gebildeten bzw. des Intellektuellen sein ,Wunschstaat‘ (man könnte auch sagen sein ,Traumstaat‘) aussehen würde. Von vornherein ist unterstellt, dass an eine Realisierung dieses Staates nicht zu denken ist“ (Kullmann: 1998, 15).

Die aristê politeia: Utopie contra Realität | 39

drücklich gegenüber anderen Interpretationen, die von „Utopie“ und bzw. oder einem „Idealstaat“ sprechen, abgrenzen.5 Seine Grundthese dabei lautet, dass eine politische Utopie der aristotelischen Gedankenwelt insgesamt eigentlich fremd ist (vgl. Schütrumpf: 2005, 67). Im Rahmen der Begründung der Argumentation bringt er seine Ansicht pointiert zur Sprache, wenn er sagt, dass der beste Staat im aristotelischen Denken aus Politik VII und VIII „kein Luftschloss“ sei (Schütrumpf: 2005, 100).6 Die aristê politeia – der Begriff ist bereits in Politik VII 1 ausfindig zu machen – bezeichnet demnach keinen „Idealstaat“, keine „utopische Polis“, sondern meint vielmehr eine „beste Polis“ und eine dafür erforderliche „beste Verfassung“, mit Schütrumpf gesprochen fernab jeglicher Utopietheorien und Idealstaatskonzepte sowie mit Voegelin argumentiert vielmehr im Sinne einer „kritischen Studie“. Dass Aristoteles die Entwicklung dieses besten Staates mit Realitätsanspruch und nicht das Konzept eines fernen utopisch-idealen Staates im Auge hatte, soll nun im Folgenden anhand der dafür wesentlichen Passagen aus Politik VII und VIII erstens diskutiert und zweitens auch belegt werden. Die These dabei lautet gegen die Auslegungen Kullmanns, dass Aristoteles mit seinem Polisentwurf deutlich außerhalb des Bereiches der „philosophischen Gattung“ der Utopie steht und vor allem eine etwaige Realisierung seines PolisEntwurfs in Politik VII und VIII nicht kategorisch ausgeschlossen hat. Gegenüber Schütrumpf werden wir prüfen, ob sich seine Interpretation mit dem aristotelischen Konzept gänzlich vereinbaren lässt oder nicht. Dazu werden wir die Polis nach Wunsch in ihren wichtigsten Bestimmungen durchleuchten.7

|| 5 Schütrumpf möchte mit der „realen Aristokratie“ eine Gegenposition zu Mulgan und dessen „ideal aristocracy“ entwickeln, von der auch Depew spricht (Depew: 1991, 362). Ober definiert eine „democratic aristocracy“ (Ober: 1999, 340f). Ähnlich gelangt Kraut zu dem Urteil: „It is likely that Aristotle thinks of the ideal city he portrays here as an aristocracy, although he does not explicitly say so“ (Kraut: 1997, 52). Horn spricht diesbezüglich überaus nah an der Terminologie aus Pol. VII/VIII von der Entwicklung einer „uneingeschränkt wünschenswerten Staatsform“ (Horn: 2008, 8). 6 Treffend hat vor Schütrumpf bereits Voegelin die Charakteristik der beiden Bücher Pol. VII/VIII auf den Punkt gebracht: „The exploration of the best constitution is not an exercise in wishful thinking; it is a critical study“ (Voegelin: 1957, 350). 7 An dieser Stelle ist vorweg bereits deutlich darauf hinzuweisen, dass erst beginnend mit dem 18. Jahrhundert von einer „utopischen Gattung“ in Philosophie und Literatur gesprochen werden kann, selbst wenn Werke wie Platons Politeia oder Utopia von Thomas Morus, der den Begriff der Utopie geprägt hat, zu den „klassischen“ utopischen Theorien gehören (vgl. HWPh: 2001, Bd. 11, Sp. 510, s.v. Utopie). In diesem Beitrag im HWPh zur Utopie wird Aristoteles und seine Pol. im Übrigen nicht erwähnt.

40 | Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung

2.2 Äußere Verfassung: Zur (An-)Lage der Polis Aristoteles lebte im 4. Jahrhundert v. Chr. gegen Ende einer Epoche, die wir heute historisch zumeist als klassische Zeit kategorisieren, wobei bereits erste Übergänge zum Hellenismus erkennbar werden. Abgesehen von seiner Kindheit, den wissenschaftlichen Reisetätigkeiten und seiner Zeit im Exil hielt er sich vermutlich hauptsächlich in Athen auf und zeigte dabei Zeit seines Lebens großes politisches Interesse, welches sich auch in der Politik immer wieder deutlich erkennen lässt. Die ihm zeitlich vorausgegangenen steten Kolonisierungsbemühungen der Griechen waren Aristoteles sicherlich nicht unbekannt gewesen. Es war dies die Zeit der apoikia, der großen griechischen Kolonisierung zwischen ca. 750 und 550 v. Chr., in der ganze Poleis im Bereich des Mittelmeerraums und an den Küsten des Schwarzen Meeres neu gegründet wurden (vgl. Meier: 1993, 44; Stein-Hölkeskamp: 2006, 112-117; Lotze: 2010, 26-31). Es ist daher anzunehmen, dass es auch noch zur Zeit des Aristoteles im Grunde nicht ungewöhnlich war, von der Gründung einer neuen Polis zu sprechen oder sich in der politischen Theorie darüber Gedanken zu machen. Diese Neugründungen dürften politisch relevante Themen gewesen sein und nicht lediglich als abstrakte, fernab der Realität angesiedelte utopische Theorien einiger weniger Wissenschafter existiert haben, was ein Blick in die Geschichte belegt. Aus der Tatsache, dass Aristoteles am Hofe des makedonischen Königs Philipp II. dessen Sohn, den kleinen bzw. später den jungen Alexander unterrichtet hat (vgl. Gehrke: 2008, 8), der später als Alexander der Große in die Geschichte eingegangen ist, könnte zusätzlich geschlossen werden, dass Aristoteles sich mit der Politik über die Erschließung neuer Regionen und auch neuer PoleisGründungen ebenso aus praktischer Perspektive beschäftigt haben könnte. So wird später Alexander der Große auf seinem Eroberungszug in Richtung Osten neue Kolonien und Städte gründen, vielleicht mit einigen Ideen des Aristoteles dazu vor Augen. Dies lässt jedoch nicht nur die Tatsache vermuten, dass Aristoteles ein Lehrer von Alexander war. Denn in dem Index des aristotelischen Verzeichnisses, das uns Diogenes Laertius überliefert hat, findet sich eine Schrift (bzw. ein Brief) mit dem Titel „Alexander oder Über Kolonien“ (Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, V 22). Da diese Abhandlung allerdings nicht überliefert ist, können nur Vermutungen über ihren Inhalt angestellt werden, so wie im Grunde ebenso über das Verhältnis zwischen Aristoteles und Alexander. Die ältere These, dass vielleicht Politik VII 1 bis 12 den Inhalt dieses verloren gegangenen Briefes an Alexander darstellen könnte, hält sich – wenn auch nur vereinzelt, aber dennoch – hartnäckig, und sie wurde „vor nicht langer Zeit erneut vorgetragen“ (Schütrumpf: 2005, 82).

Äußere Verfassung: Zur (An-)Lage der Polis | 41

Vielleicht, doch das ist mit Sicherheit eine überaus vage und wahrscheinlich auch kaum seriös aufzustellende These, hat Aristoteles bereits den ersten Satz aus Politik VII 1 – den Ausgangspunkt dieser vorliegenden Studie – direkt an Alexander gerichtet, um gleich zu Beginn der Botschaft an den Eroberer Alexander, klarzumachen, dass die Frage nach der Gründung bzw. Verwirklichung der aristê politeia die Beantwortung jener Frage nach dem hairetôtatos bios voraussetzt. 8 Ob Politik VII 1 bis 12 jedoch in der Tat jenen Text darstellt, dessen Titel uns Diogenes Laertius in seinem Index mit „Alexander oder Über Kolonien“ überliefert hat, bleibt derzeit wohl weiterhin ungeklärt.9 Schütrumpf verweist in seinem Kommentar diesbezüglich auf die Untersuchung von Ober. Letzterer vertritt die prüfenswerte These, dass die aristotelische Politik im Gesamten einen höheren praktischen Wert in Bezug auf damalige, neue PolisGründungen gehabt haben könnte als gegenwärtig in der Forschung angenommen wird.10 Das Kernargument bei Ober lautet, dass die aristotelische „Polis nach Wunsch“ nicht nur eine Konzeption auf dem Papier, ein einfaches theoretisches Gedankenexperiment darstelle, sondern durchaus einen gewissen Realitäts- bzw. Umsetzungsanspruch in der damaligen Zeit verfolgt haben könnte.11

|| 8 Plutarch skizziert ein ambivalentes Bild über die Beziehung von Aristoteles und Alexander. Auf der einen Seite dürften sich beide überaus nahegestanden und eine Freundschaft entwickelt haben. Auf der anderen Seite weiß Plutarch jedoch auch über kleinere Konflikte zwischen den beiden, vor allem damals, als Alexander seinen Asien-Feldzug begonnen hatte. In dieser Zeit, berichtet Plutarch weiter, soll es einen Briefwechsel zwischen Aristoteles und Alexander gegeben haben (Plutarch: Doppelbiographien, I 7, 8). Diogenes Laertius spricht ebenso das persönliche Verhältnis zwischen den beiden an, ohne jedoch darauf näher einzugehen als Plutarch (Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, V 10). 9 Dennoch eröffnet allein diese Vermutung weiteren Spekulationen zur Authentizitäts-Debatte Tür und Tor. Das breite Themenspektrum, die oftmals kompensierten Gedankengänge, die an viele andere Bestimmungen der Pol., aber auch der EN, erinnern, sowie die praktischen Hinweise zur unmittelbaren Polis-Errichtung könnten dafür sprechen, dass es sich um diese verloren geglaubte Schrift handelt. 10 „There is, therefore, reason to suppose that the general suggestions of the Politics regarding the establishment of a ,best possible‘ polis were augmented by more detailed discussions of how Aristotle supposed appropriate colonists might be chosen and settled in their new home, and how the relationship between the hegemon and the independent poleis might work in practice“ (Ober: 1999, 348). 11 Ober zu seiner eigenen Arbeitshypothese: „I will argue that Aristotle set himself the task, at the end of the Politics (as we have it), of designing a ,best polis‘ that was possible not only in conception, but also in fact. That is to say, unlike some authors of earlier utopian literature, Aristotle believed that his ,best polis‘ – or a very reasonable facsimile thereof – could be brought into being, within his own lifetime and with readily available human and material resources“ (Ober: 1999, 339).

42 | Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung Schütrumpf sieht dies allerdings anders als Ober. Auch wenn ersterer die „Polis nach Wunsch“, wie wir bereits angeführt haben, als „reale Aristokratie“ bezeichnet (Schütrumpf: 2005, 65) und Politik VII und VIII als Überlegungen zu den „Realien der Staatsgründung“ interpretiert (Schütrumpf: 2005, 7), so ist es für ihn dennoch strittig, ob es sich hier um unmittelbare Planungsanweisungen einer Polis-Gründung handelt oder nicht. Er gelangt zu dem Schluss, dass die entsprechenden Passagen alles andere als mögliche Planungsunterlagen für die Anlage einer neuen Stadt darstellen. Denn seiner Ansicht nach bietet Aristoteles „nur wenig – oder richtiger: gar keine – konkrete Hilfe für die Praxis und er warnt ausdrücklich davor, man solle von ihm keine detaillierten Ausführungen erwarten“ (Schütrumpf: 2005, 82). Ob es sich nun insbesondere bei Politik VII 1 bis 12 vielleicht in der Tat um Planungsunterlagen für Alexander gehandelt hat oder nicht, kann, wie bereits ausgeführt, nach derzeitigem Forschungsstand nicht eindeutig beantwortet werden und ist im Grunde genommen auch sekundär, selbst wenn die Themen und die Beschaffenheit einiger Kapitel zu dieser Interpretation einladen. Wichtiger erscheint, dass sich anhand dreier markanter Punkte aus Politik VII deutlich herausstellen lässt, dass Aristoteles eine Realisierung seiner Polis nach Wunsch durchaus im Auge gehabt bzw. zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen hat. Demnach dachte Aristoteles nicht über ein fernes, utopisches Ideal nach, welches nicht für die Realität bestimmt war und das vor allem nicht ohne Bezug auf damaligen politischen Gegebenheiten entwickelt wurde – eine Auffassung, die wir stellvertretend auch für andere anhand von Kullmanns Thesen erläutert haben. Wie aufgrund dieses Befunds im Gegenzug eine Positionierung zwischen den zuletzt besprochenen Thesen von Ober und Schütrumpf erfolgen kann, bleibt vorerst noch abzuwarten. Ein erster Beleg für die Realitätsbezogenheit der aristê politeia findet sich spätestens in Politik VII 4. Aristoteles spricht hier über die äußeren Bedingungen für die Einrichtung einer besten Polis in Bezug auf Anzahl und Beschaffenheit der Polisbürger, die in ihr leben sollen. Gleich zu Beginn lesen wir diesbezüglich eine zentrale Aussage, die den Charakter der Polis nach Wunsch in wenigen Worten eindeutig zum Ausdruck bringt: »Denn es ist unmöglich, dass die beste Verfassung [politeian aristên] sich verwirkliche, ohne dass die angemessenen äußeren Mittel vorhanden sind. Wir müssen daher vieles gleichsam als Wunsch voraussetzen, nur darf dabei nichts Unmögliches sein. Dies gilt unter anderem von der Zahl der Staatsbürger und vom Land« (Pol. VII 4, 1325b38ff).

Wenn Aristoteles an eine mögliche Realisierung seiner Polis nach Wunsch nicht gedacht hätte, wozu dann die Formulierung dieser Gedanken? Weshalb die

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Einschränkung, dass nichts Unmögliches gewünscht bzw. gefordert werden soll, wenn doch die Realität kein Maßstab dieses Entwurfs ist? Warum wäre es dann angebracht gewesen, über die Größe der besten Polis in Bezug auf deren Einwohnerzahl konkrete Überlegungen anzustellen? Aristoteles führt hingegen ausdrücklich an, dass es vieler (bzw. vielmehr angemessener) äußerer Mittel bedarf, die vorab bestimmt und abgestimmt werden müssten, da es sonst unmöglich sei, dass diese beste Verfassung sich verwirkliche, also auch in die Tat umgesetzt werden könne. Dabei darf jedoch nichts vorausgesetzt werden, was schlichtweg unmöglich, eben im heutigen Sprachgebrauch „utopisch“ ist, also der Realität nicht entgegenkommt bzw. ihr nicht entspricht, wie z.B. geographische Gegebenheiten oder klimatische Präferenzen bzw. andere Sonderwünsche, die Aristoteles hier nicht als Argumente gelten lassen will. Die ersten äußeren Bedingungen über die Verfassung der Polis, die es zu bestimmen gilt und die für den Aufbau und die Einrichtung einer Polis erforderlich sind, so fährt Aristoteles fort, betreffen die Zahl der Einwohner, deren „notwendige Naturbeschaffenheit“ sowie auch die Größe und die Beschaffenheit des Landes, in dem diese leben (Pol. VII 4, 1326a5ff). Die Beantwortung all dieser Fragen spielt an dieser Stelle noch keine große Rolle. Wir werden sie später in der Auseinandersetzung mit der scholê leisten. Festzuhalten ist, dass die Art und Weise dieser aristotelischen Einleitung zu seinen Überlegungen, auch und vor allem die Bestimmungen über notwendige äußere Mittel der PolisGestaltung, ein erster Hinweis darauf sind, dass ihm eine Verwirklichung der aristê politeia nicht unmöglich bzw. vorab bereits als ausgeschlossen erschien. Ein zweiter Beleg lässt sich anhand von Politik VII 6 nachweisen, wo Aristoteles über Vor- und Nachteile einer günstigen Verbindung der Polis mit dem Meer spricht: »Was nun aber die Verbindung mit der See anlangt, so ist es freilich eine vielumstrittene Frage, ob diese für Staaten, die sich einer guten gesetzlichen Ordnung erfreuen, wirklich heilsam oder vielmehr nachteilig ist« (Pol. VII 6, 1327a11ff).

Für Aristoteles ist eine für die Polis günstige Verbindung mit dem Meer aus zweierlei Sicht notwendig: zum einen für die Sicherheit der Polis, zum anderen für die ausreichende wirtschaftliche Versorgung ihrer Einwohner (Pol. VII 6, 1327a18ff). Wir sehen also auch hier wiederum in der Argumentation bzw. in der Fragestellung überhaupt eine durchaus an der Realität orientierte Vorgehensweise, die sich auch mit strategischen und ökonomischen Aspekten der PolisGründung sowie ihrer Erhaltung beschäftigt. Die Wichtigkeit einer strategisch günstigen Lage der Polis, die ihre Verteidigung einfacher macht und wobei sie dennoch handelstechnisch gut an die Umgebung angeschlossen ist, waren in

44 | Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung der damaligen Zeit unumgängliche Überlegungen für die Anlage einer Polis. Wir sehen also auch hier wieder eine durchaus an der Realität orientierte Vorgehensweise und Argumentation, die militärisch-strategische und ökonomische Gesichtspunkte nicht außer Acht lässt, sondern sie selbst einfordert. Um die Wichtigkeit solcher Überlegungen hervorzuheben und zu verdeutlichen, spricht Aristoteles zusätzlich noch über mögliche Lösungen etwaiger Problematiken, die er aus seiner Zeit heraus zu kennen scheint, wie eine andere Stelle aus Politik VII 6 deutlich macht: »Dagegen sehen wir ja aber auch in der Wirklichkeit [καὶ νῦν], dass es viele Länder und Städte gibt, deren Schiffsplätze und Häfen so vorteilhaft für die Stadt gelegen sind, dass sie weder eigentliches Stadtgebiet in Anspruch nehmen, noch von ihm entlegen sind, sondern vielmehr durch Mauern und andere Befestigungen beherrscht werden; [...]« (Pol. VII 6, 1327a32ff).

Dieses Zitat zeigt erneut, und das überaus deutlich, wie sich Aristoteles an der Realität, an den damaligen Gegebenheiten und Planungen auch anderer Poleis orientiert, daran Maß nimmt und diese Eindrücke für sein eigenes Denken über die aristê politeia in seinen Überlegungen verarbeitet hat: in diesem Falle und in diesem Bezug ein eindeutiger Beleg für den „Empiriker Aristoteles“. Ein dritter Beleg für den Realitätsbezug der aristotelischen besten Polis findet sich in Politik VII 12. Hier zeigt sich ebenso, wie detailliert und doch umfassend Aristoteles seine Polis nach Wunsch, die beste (äußere und innere) Verfassung gedacht und wie er sich die tatsächliche Errichtung, die städteplanerische Erbauung, vorgestellt hat. Er spricht hier nämlich über die gebäudetechnische Einrichtung der Polis. Aristoteles entwickelt in diesem Kapitel also sozusagen einen geistigen Stadtplan. Er erwähnt hier den Ort der gemeinsamen Speisungen, spricht kurz über Wachthäuser, über Turmbauten, sakrale Gebäude und schließlich über den Markt (agora). Aristoteles schlägt für seine Polis nach Wunsch vor, zwei solcher Plätze einzurichten, und er orientiert sich auch hier wiederum an damaligen, realen Gegebenheiten der Polis-Gestaltung: »Unterhalb dieses Ortes [der sakralen Einrichtungen und der Heiligtümer der Polis] dürfte sich dann die geeignete Stelle befinden für einen Marktplatz von der in Thessalien üblichen Art, die man dort den freien Markt nennt – das ist nämlich ein solcher, der freigehalten werden muss von allen Handelswaren –, und kein Handarbeiter noch Bauer, noch irgendein anderer Mann von ähnlichem Schlag muss denselben betreten dürfen, außer auf Vorladung der Behörden« (Pol. VII 12, 1331a30ff).

Aristoteles nimmt also auch hier Bezug auf die Gegebenheiten seiner Zeit und wählt als Beispiel die Einrichtung eines Marktplatzes „von der in Thessalien üblichen Art“. Gleichzeitig fällt auf, dass Aristoteles die Zutrittsrechte zur Agora

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einschränkt. Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir diesen Aspekt diskutieren müssen. Keine Händler, keine Arbeiter und auch keine Bauern sollen zu dieser ersten Art der Agora Zutritt haben, es sei denn, sie werden von den Behörden vorgeladen. Doch diese Art von Agora ist eben nur die eine. Aristoteles empfiehlt auch noch ein zweite: »Der Handelsmarkt aber muss nicht nur ein anderer sein, sondern auch eine ganz von diesem gesonderte Lage haben an einem Punkt, nach welchem leicht ebenso wohl die über See als auch die vom Lande kommenden Artikel hingeschafft werden können« (Pol. VII 12, 1331b1ff).

Die zweite Agora ist also jene, wo Handel betrieben werden kann, und diese muss nach zwei Gesichtspunkten ausgewählt werden. Sie darf zum einen nicht am selben Ort wie die erste Art der Agora sein und muss zum anderen in einem für den Handel günstig gelegenen Teil der Polis liegen. In Anknüpfung an das zuvor Ausgeführte bedeutet dies vor allem, dass diese zweite Art der Agora – die Handelsagora – nahe am Meer gelegen sein muss, damit eine rasche und unkomplizierte Lieferung der Waren vom Hafen aus zur Handelsagora möglich ist. Die erste Art von Agora – die Versammlungsagora – ist nach Aristoteles von der Handelsagora strikt zu trennen.12 Ob diese Aufteilung der Plätze der damaligen Realität entsprochen hat, und wenn ja, zu welchem Zwecke dies so gehandhabt wurde, soll in dem später folgenden Exkurs über das Wesen und die Autarkie der antiken Polis angesprochen werden (vgl. Exkurs I). Alle diese drei hier angesprochenen Punkte, die Ankündigung über die Überlegungen zur Anzahl und Beschaffenheit der Einwohner aus Politik VII 4, die Gedanken über die Verbindung der Polis zum Meer aus strategischer und ökonomischer Perspektive aus Politik VII 6 und schlussendlich die anlagetechnischen Überlegungen zu den wichtigsten Gebäuden der Polis, insbesondere der Agora aus Politik VII 12, zeigen, wie gründlich und zum Teil auch überaus realitätsbezogen Aristoteles über seine (äußere) Polis-Gestaltung nachgedacht und sich dazu geäußert hat.13

|| 12 Stocks zu dieser Differenzierung: „In Aristotleʼs city, accordingly, there are to be two agoras (1131a10) – a free agora, as the Thessalians call it, in which there is no buying and selling, and into which the banausos, etc. may not enter except on the summons of their rulers. The other agora is a market-place, and should be quite separate from this“ (Stocks: 1936, 180). 13 Es lassen sich noch weitere Bestimmungen anführen, die deutlich machen, wie realitätsbezogen Aristoteles diese Polis gedacht hat. In Pol. VII 11 spricht er über die günstigste Lage der Polis. Dabei denkt er auch an die strategische Verteidigung. Weiters spricht er über die Wasserversorgung und differenziert zwischen Trink- und Nutzwasser. Ebenso kommt er auf die öffentliche Verwaltung zu sprechen und über Nutzen und Nachteil einer Stadtmauer.

46 | Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung Dass sich seine Wünsche und Vorstellungen jedoch nicht immer auch in die Realität umsetzen lassen, ist Aristoteles durchaus selbst bewusst. Denn nicht immer wird es möglich sein, bei einer Polis-Errichtung z.B. Handels- und Versammlungsagora voneinander getrennt einzurichten. Ebenso wird auch nicht eine jede Polis einen eigenen Zugang zum Meer haben können, etc. Dennoch ist es Aristoteles wichtig darüber zu sprechen, trotz aller Einschränkungen, auch wenn er diesbezüglich eine argumentative Grenze kennt, welche in ihren Grundzügen an die Methode seiner politischen Philosophie selbst erinnert (vgl. Kap. 1.2): »Doch bei diesen Dingen lange zu verweilen und jetzt genau ins einzelne zu gehen ist müßig; denn die Schwierigkeit liegt nicht darin, diese Dinge einzusehen, sondern vielmehr sie durchzuführen; man redet nämlich von den Dingen, wie man sie wünscht, das Gelingen hängt aber vom Glück ab. Und so sparen wir uns denn für unsere jetzigen Zwecke jedes weitere Eingehen auf diese Dinge« (Pol. VII 12, 1331b18ff).

Über die hier angeführten Gegenstände kann Aristoteles nur ungefähre Vermutungen anstellen und Wünsche äußern, die er jedoch, wie zuvor gezeigt, nicht ins Unrealistische oder gar Utopische ausufern lässt. Denn es ist ihm wichtig, Dinge vorauszusetzen oder zu wünschen, die zumindest ansatzweise in der Realität verwirklicht oder vielleicht auch von Natur aus vorgefunden werden können. Wenn Aristoteles nach diesen, zugegebenermaßen rudimentären Bestimmungen abbricht und sagt, dass es nun nicht mehr sinnvoll sei, darüber weiter nachzudenken, so spiegelt auch das zum einen eine zutiefst realistische Denkweise wider und steht zum anderen im Grunde genommen im Einklang mit der Methode seiner politischen Philosophie selbst. Denn unmittelbar während einer Polis-Gründung ist es notwendig, mit den jeweiligen spezifischen Gegebenheiten in dieser oder jener Situation umzugehen und nicht vorab große, geistige Pläne zu schmieden, die sich dann letztendlich nicht verwirklichen lassen, weil sowohl der Ausgangspunkt als auch das eine oder andere Detail der Planungen nicht der unmittelbaren Realität entsprechen. Wie wir zuvor mit Schütrumpf angemerkt haben, ist das aristotelische Denken in diesem Bereich also in der Tat ein überaus realistisches, und es werden durchaus einige „Realien der Staatsgründung“ thematisiert. Selbst wenn Schütrumpf nicht so weit gehen würde, diese Abhandlungen als unmittelbare Pläne einer Polis-Gründung zu bezeichnen, da es seiner Ansicht nach an einer „konkreten Hilfe“ fehlt, so erscheint die Position von Ober dennoch nicht gänzlich verfehlt zu sein. Vielleicht wird der althistorische Wert der Politik als Ganzes und hier in Politik VII und VIII im Speziellen innerhalb der Forschung zu gering bewertet. Denn vor allem Politik VII macht deutlich, dass erstens eine etwaige Polis-Gründung nicht ausgeschlossen wird, dass es sich zweitens nicht

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um eine klassische Utopie handeln kann und dazu begründend drittens, dass das Polis-Konzept nicht weit von der damaligen politischen Realität entfernt gedacht wurde und sich – soweit heute nachvollziehbar – unmittelbar auf reale Gegebenheiten bezogen hat. Demnach geht es nicht, wie Kullmann behauptet, um die eudaimonia „unabhängig von der jeweiligen politischen Realität“, sondern vielmehr um die Optimierung der umfassenden Glückseligkeit auf der Basis von empirisch orientierten und im Sinne Voegelins überaus kritischen Studien zur Polis-Errichtung und ihrer Gestaltung. Ob, und wenn ja, für wen diese Gedanken eine Vorlage zur unmittelbaren Verwirklichung einer Polis-Neugründung gewesen sein sollen, lässt sich mit dem Wissen über Politik VII 1 bis 12 jedoch, wie gesagt, nicht restlos klären. Es kann aber nicht kategorisch ausgeschlossen werden, dass Aristoteles sich im Rahmen dieser Überlegungen nicht mit der unmittelbaren Neugründung einer Polis beschäftigen wollte, die er aufgrund des Bewusstseins darüber, dass es dabei viele Dinge vorauszusetzen gilt, die sich nicht immer und überall verwirklichen lassen, eben bewusst als das Konzept einer Polis nach Wunsch bezeichnet hat.

2.3 Innere Verfassung: Zur (An-)Ordnung der PolisGesellschaft An dieser Stelle soll nun nach der Darstellung der äußeren Verfassung in Bezug auf die Einrichtung einiger wichtiger Bestimmungen zur Stadtentwicklung, wie z.B. der Lage der Polis im Gesamten, der Agora im Speziellen, etc., ein erster Blick auf die Gesellschaftsordnung, also auf die innere Verfassung der aristê politeia, geworfen werden. Dabei werden die Aussagen, deren Basis Politik VII 8 und 9 bilden, auf ein Mindestmaß beschränkt, weil wir uns mit dieser nun folgenden Struktur in der restlichen Abhandlung des Öfteren auseinanderzusetzen haben werden.14 Denn diese Gesellschaftsstruktur ist vor allem für die scholê in der aristotelischen Verwendung überaus wichtig und zentral, wie wir im zweiten Teil dieser Studie deutlich sehen werden. Bien ist der Ansicht, dass Politik VII 8 und 9 in „komprimiertester Weise die gesamte politische Philosophie und Gesellschaftstheorie des Aristoteles in ihren prinzipiellen Bestimmungen“ wiedergeben (Bien: 1990, 346). Aristoteles beschäftigt sich beginnend ab Politik VII 8 mit der grundsätzlichen Frage, welche || 14 Auch auf die Diskussionen rund um diese gesellschaftliche Struktur und ihre Bedeutung für die Komposition von Pol. VII/VIII wird an dieser Stelle noch nicht im Detail eingegangen.

48 | Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung Arbeitsaufteilung es innerhalb der Polis nach Wunsch aus seiner Sicht geben muss, um ihre Funktionstüchtigkeit gewährleisten zu können (Pol. VII 8, 1328b2ff).15 Dafür differenziert er zwischen sechs unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen, die in der Polis nach Wunsch seiner Ansicht nach abgedeckt werden müssen (vgl. Bien: 1990, 348). Es sind dies: a) Nahrung b) Handwerk c) Landesverteidigung d) Finanzkraft e) Kultus f) Politik: - Rechtsentscheidungen - Politische Beratungen Gronemeyer spricht in Bezug auf diese Struktur von sechs „gesellschaftlichen Aufgabenbereichen“, die es in der Polis nach Wunsch zu erfüllen gilt. Er nennt diese Versorgung, Infrastruktur, Verteidigung, Erwerb, Gottesdienst und Rechtsprechung (vgl. Gronemeyer: 2007, 101). Aristoteles selbst spricht von der „Zahl der Staatsaufgaben“ (Pol. VII 8, 1328b5).16 Dabei formuliert er auch eine gewisse Rangordnung dieser sechs Staatsaufgaben: »Das erste Erfordernis nun ist Nahrung [a]; das zweite sind die Kunstfertigkeiten [b], denn das menschliche Leben bedarf einer Fülle von Werkzeugen; das dritte sind die Waffen [c], denn die Mitglieder der staatlichen Gemeinschaft bedürfen der Handhabung derselben ebenso nach innen, um die Herrschaft gegen diejenigen aufrechtzuhalten, welche nicht gehorchen wollen, wie nach außen zur Abwehr feindlicher Angriffe; ferner aber bedarf es eines gewissen Vorrats von Geldmitteln [d], um mit denselben sowohl die Bedürfnisse des inneren Staatslebens als auch die des Kriegswesens zu bestreiten; das fünfte sodann und dem Range nach das erste Erfordernis ist die Besorgung des Gottesdienstes oder des sogenannten Kultus [e]; das sechste endlich, der Zahl nach, aber der Sache nach das allernotwendigste ist die Entscheidung über das, was den Bürgern heilsam und was Rechtens ist unter denselben [f]« (Pol. VII 8, 1328b6ff).

|| 15 Schütrumpf meint in seinem Kommentar zu Pol. VII 8, dass es Aristoteles in diesem Kapitel vor allem darum gehe, darzulegen, welche Aufgaben „im Staat wahrgenommen werden müssen, damit die staatliche Gemeinschaft als autark gelten kann“ (Schütrumpf: 2005, 352). Dieser Ansatz wird in Kap. 3. zum Thema der politischen Autarkie zentral sein. 16 Der Stellenwert dieser Auflistung ist umstritten. Vielfach wird sie als unvollständig und ungenau kritisiert, wie u.a. bei Kraut: „Aristotleʼs list of necessary tasks is not exhaustive. For example, although he emphasizes throughout Book VIII the importance of education, he does not here put teaching on his list of tasks“ (Kraut: 1997, 102).

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Auf der Basis dieser von Aristoteles angeführten Tätigkeiten und Tätigkeitsbereiche lassen sich folgende Berufsgruppen ableiten, die in seiner Polis nach Wunsch für ihre Intaktheit unabdingbar sind, und das aus zweierlei Perspektive – zum einen, wie zuvor in der zitierten Textstelle von Aristoteles selbst angesprochen, aus der Perspektive der inneren, aber zum anderen auch aus der Perspektive der äußeren Polis-Verfassung. Es bedarf der Berufsgruppen der a) Bauern b) Handwerker c) Soldaten (bzw. wehrfähige Personen) d) vermögenden Bürgerklasse e) Priester f) Politiker:17 - Richter - Ratsmitglieder Wie genau sich Aristoteles diese einzelnen Tätigkeiten bzw. das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Berufsgruppen innerhalb seiner Polis nach Wunsch vorgestellt hat, wird nun nach und nach Gegenstand sein. Vor allem dann, wenn wir später im zweiten Teil über die scholê aus Politik VII und VIII sprechen wollen. Im Rahmen dessen müssen ebenso jene Themen in Bezug auf die innere Verfassung und die Gesellschaftsordnung deutlich angesprochen werden, die in der Forschung kontrovers diskutiert und interpretiert werden, wie auch jene, die auf einen ersten Blick im Gegensatz zur restlichen aristotelischen politischen Philosophie, insbesondere aber nicht ausschließlich in Verbindung mit den Thesen aus der Politik im Gesamten zu stehen scheinen.18 Vorerst soll jedoch mit diesen grundgelegten Skizzen festgehalten sein, dass Aristoteles seine Polis nach Wunsch, die aristê politeia, also die beste Verfassung, aus zweifacher Perspektive heraus entwickelt hat, und das durchaus mit einem Bezug zur damaligen, unmittelbaren politischen Realität. Zum einen

|| 17 Gronemeyer weist darauf hin, dass an dieser Stelle die Übersetzung von krites ausschließlich mit „Richter“ zu einseitig wäre: „Der Begriff krites ist weiter zu fassen und nicht nur auf den juristischen Richter (dikastes) zu beschränken. Er meint alle, die in öffentlichen Angelegenheiten Entscheidungen treffen, also insbesondere auch die höheren Staatsbeamten“ (Gronemeyer: 2007, 101). 18 Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass wir freilich nicht alle Problemzonen der aristotelischen politischen Philosophie im Rahmen dieser Studie erörtern und behandeln können, sondern uns zuweilen mit einem einfachen Verweis auf Schwierigkeiten und Problematiken beschränken müssen, um das Hauptanliegen nicht aus den Augen zu verlieren.

50 | Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung ist das der Bereich der äußeren Verfassung, der sich mit der Polis als Körper und ihrer städtebaulichen Einrichtung, eben dem geistigen Stadtplan, beschäftigt. Zum anderen ist das der Bereich der inneren Verfassung, der primär die Gesellschaftsstruktur und ihr inneres Zusammenspiel zum Gegenstand hat, sich mit der gesellschaftlichen Intaktheit und dem Fortbestehen der Polis beschäftigt, nach Schütrumpf insbesondere mit dem Fokus auf die Autarkie. Mit diesem Autarkie-Begriff in seiner spezifisch politischen Verwendung bei Aristoteles werden wir uns im 3. Kapitel dieser Studie umfassend beschäftigen. Nicht selten jedoch war vor allem die zuletzt angesprochene innere Verfassung dieses PolisEntwurfs der aristê politeia Gegenstand massiver Kritik.

2.4 (Interdisziplinäre) Kritiken am aristotelischen Staatsentwurf Ähnlich kontrovers wie die bislang in diesem Kapitel dargestellte Diskussion über die Interpretation der Polis nach Wunsch als „Wunschstaat einer imaginären Elite“, einer „philosophischen Utopie“ oder als realitätsbezogenes Konzept einer möglichen Polis-Gründung fallen auch die Auslegungen bei einer Gesamtbetrachtung und -beurteilung von Politik VII und VIII aus. Interessant an diesen Interpretationen ist, dass diese wiederum deutlich vor Augen führen, wie stark generalisierend vorgenommene Charakterisierungen im Vergleich zueinander divergieren können. Dies soll an dieser Stelle anhand ausgewählter Positionen deutlich gemacht werden. Die Einwände und Interpretationen des Gesamtkonzepts der aristotelischen aristê politeia lassen sich anhand von vier grundlegenden Positionen bzw. Kritiken vor Augen führen. Erstens wird in manchen Darstellungen angeführt, dass Aristoteles insbesondere in Politik VII und VIII ein totalitäres Staatskonzept vorgelegt habe und dass sich Spuren dieses Hanges zum Totalitarismus auch in anderen Aspekten seiner politischen Philosophie ausfindig machen ließen. Zweitens, im Vergleich zur ersten Kritik etwas abgeschwächt, lautet ein anderer Einwand, dass Aristoteles einen Paternalismus propagiere, der sich besonders in der aristê politeia bemerkbar mache, und zwar vor allem dann, wenn Aristoteles über das Thema der umfassenden paideia philosophiere und dazu seine Empfehlungen formuliere. Drittens lautet eine Kritikrichtung, dass Aristoteles nicht über die Polis als Lebensraum des Menschen hinausgedacht habe sowie dass sich generell in seiner politischen Philosophie keinerlei Ansätze etwaiger größerer politischer Konzeptionen und anderer politischer Lebensräume finden ließen und schon gar nicht Ansätze zu einem kosmopolitischen Denken. Viertens

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befindet sich oftmals die im Kapitel zuvor dargestellte Gesellschaftsordnung aus Politik VII und VIII im Kreuzfeuer der Kritik, also die innere Verfassung und dabei vor allem die Differenzierung in „Bürger“ und „Nichtbürger“, zu der wir später in Bezug auf die scholê noch ausführlicher zu sprechen kommen werden (vgl. Kap. 4.2). Diese vier Kritiklinien sollen nun in ihren Grundzügen skizziert werden, bevor wir mit unserer spezifischen Untersuchung des ersten Satzes aus Politik VII fortfahren. Diese Kritikpunkte sollen dann zu einem späteren Zeitpunkt nochmals aufgegriffen, diskutiert und dabei größtenteils auch widerlegt werden (vgl. Kap. 7.2). Stellvertretend für die Kritik an Aristoteles, er entwerfe in Politik VII und VIII ein totalitäres Staatssystem, soll an dieser Stelle die Position von Barnes angeführt werden. Dieser meint, innerhalb der aristotelischen politischen Philosophie, und hierbei vor allem in Politik VII und VIII, eine „tendency towards totalitarianism“ ausfindig machen zu können (Barnes: 1990, 259). Er begründet diese Beobachtung anhand einiger Passagen aus Politik VII 16 und 17, wo Aristoteles über die gesetzlichen Vorschriften zur Ehe, die Geburtenkontrolle, über die Erziehung, etc., spricht. Diese Texte und die darin getroffenen Bestimmungen legen für Barnes die Vermutung nahe, dass es sich bei der aristê politeia um ein totalitäres Staatskonstrukt handle. Die Taktik, die Barnes bei Aristoteles zu erkennen meint, lautet, dass Aristoteles einfach einen umfassenderen Begriff darüber entwickle, was als politische Frage zu gelten hätte und aufgrund dessen auch durch den Gesetzgeber beantwortet und geregelt werden sollte, wie z.B. eben Fragen zur Eheschließung oder Bestimmungen zur Geburtenkontrolle. Dies legt für Barnes die Interpretation nahe, dass hier Ansätze zum Totalitarismus zu finden seien.19 Diese überaus kritische Interpretation der Konzeption der aristê politeia und die Kritik an dem politischen Denken bei Aristoteles insgesamt, drückt sich auch an einer anderen Stelle bei Barnes aus, wo er sich wiederum explizit auf Politik VII und VIII bezieht. Es heißt dort, ähnlich wie im Falle der von ihm vermuteten „tendency towards totalitarianism“, dass erstens der Leser der Texte die Ansätze eines Totalitarismus finden könne, dass zweitens Aristoteles die Freiheit des einzelnen Menschen nicht hoch genug geschätzt hätte und dass schließlich drittens der Staatsentwurf hochgradig autoritär organisiert sei.20

|| 19 Barnes zu seiner Totalitarismus-These: „We should guess that he inclined to totalitarianism – that he tended to treat a very wide range of questions as political“ (Barnes: 1990, 260). 20 Barnes erneut zu seiner Interpretation speziell in Bezug auf Pol. VII/VIII: „[...] the reader may detect the infant voice of totalitarianism. If Aristotle loved liberty, he did not love it enough. His State is highly authoritarian“ (Barnes: 1999, 293).

52 | Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung Die Kritik von Barnes hat jedoch auch viel Widerspruch erfahren, der unter anderem bei Horn ausgemacht werden kann. Dieser vertritt die Position, dass es falsch sei, das aristotelische Denken als totalitär zu bezeichnen, nicht ohne dabei jedoch auf eine andere Problematik mancher aristotelischer Überlegungen hinzuweisen, die dennoch in eine ähnliche Richtung wie die Kritik von Barnes deutet, nämlich auf die unmittelbare Gefahr eines überzogenen Paternalismus.21 Selbst wenn Horn den Einwand eines staatlichen Paternalismus „als nicht sehr triftig“ ansieht (Horn: 2008, 7), so stellt sich dennoch bei einer genaueren Betrachtung insbesondere der Gesellschaftsordnung aus Politik VII und VIII die Frage, inwieweit die aristotelische Polis nach Wunsch nicht in der Tat eine Bevormundung des Einzelnen in seinen persönlichen Entscheidungen, zum Nutzen des Gemeinwohles und der staatlichen Verfassung im Sinne der aristê politeia, zulässt. Die zweite Kritik nach dem Vorwurf „Totalitarismus“ lautet also nun „Paternalismus“. Wie schon in Bezug auf die zuvor vorgetragene Kritik des TotalitarismusArguments angesprochen, stehen bei der Diskussion rund um einen möglichen Paternalismus ebenso jene Textstellen im Fokus, die sich mit der Erziehung, also der umfassenden paideia, auseinandersetzen. Diese Bestimmungen isoliert betrachtet, legen zum Teil die Vermutung überaus nahe, dass es um die Mündigkeit des Einzelnen innerhalb dieser Konzeption eher schlecht bestellt scheint. Denn offenbar werden die wichtigsten, grundlegenden Entscheidungen, also unter anderem die Erziehungsmethoden des (eigenen) Nachwuchses und vieles anderes mehr, nicht vom Individuum oder der jeweiligen Familie selbst, sondern von der Politik in einer Art Vorsorge – sei diese „Sorge“ gewollt oder ungewollt – getroffen. Vor allem an der staatlichen Bestimmung und der staatlichen Kontrolle der Erziehung wurde vielfach heftige Kritik geäußert, wie auch bei Gigon.22

|| 21 Horn dazu: „Zweifellos wäre es falsch zu behaupten, das aristotelische Denken sei totalitär oder organizistisch. Aristoteles reduziert Individuen nicht auf den Status von Instrumenten, die um der Zwecke des Staates willen existieren. Allerdings liegt im aristotelischen Ansatz eine andere Gefahr: die eines staatlichen Paternalismus“ (Horn: 2008, 7). 22 Gigon zur Kritik am aristotelischen paideia-Begriff aus Pol. VII/VIII: „Wie bedenklich dies ist, liegt für uns auf der Hand. [Denn bei Aristoteles] organisiert die Gesetzgebung buchstäblich alle Verhältnisse des Lebens, von der Zeugung des Kindes über die Pflege des Säuglings und die Ausbildung des jungen Menschen bis zu den Beschäftigungen des Greisenalters. Unter diesem Gesichtspunkt wird auch den Dichtern vorgeschrieben, was sie dichten, und den Lehrern, in welchen Disziplinen sie unterrichten sollen. Es bleibt kaum Spielraum, in welchem der Einzelne sich frei bewegen könnte“ (Gigon: 1973, 22f).

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Nachdem diese beiden Kritikpunkte, also zum einen der des Totalitarismus und zum anderen der des Paternalismus, kurz umrissen wurden, erscheint es an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen, dass bei anderen Textinterpretationen hingegen der liberale Charakter der aristotelischen politischen Philosophie im Gesamten hervorgehoben wird (z.B. bei Höffe: 2001, 187). Es werden demnach nicht immer ausschließlich totalitäre oder paternalistische Züge in dieser Staatskonzeption erkannt, sondern es wird auch ein Maß der Mitte, ein „Mischsystem“, wie es Höffe formuliert, zwischen den beiden Extremen von vollkommener Verstaatlichung auf der einen Seite und radikaler Privatisierung sämtlicher Lebensbereiche auf der anderen Seite betont (vgl. Höffe: 2001, 195).23 Eine weitere Kritik, welche nicht nur gegenüber der aristotelischen Polis nach Wunsch ausgesprochen wurde, sondern im Prinzip gegen das ganze Denken der politischen Philosophie sowohl aus der Politik als auch aus der Nikomachischen Ethik, wurde insbesondere von den Politik- und Sozialwissenschaften formuliert. Dabei wird argumentiert, dass Aristoteles nicht über die Grenzen des politischen Konstrukts der Polis hinausgedacht habe, sondern sich ausschließlich auf diesen einen Rahmen des politischen Gemeinwesens beschränkt habe. Es ließen sich demnach keine Ansätze eines kosmopolitischen Denkens ausfindig machen, sondern lediglich eine Fokussierung auf das Leben des oder der Menschen in Bezug auf das Konstrukt der Polis. Aristoteles kenne demnach keine „Weltgemeinschaft“, wie sie z.B. in späterer Folge die stoische Philosophie unter anderem bei Seneca entwickeln wird. Diese eingeschränkte Sichtweise von Aristoteles hat immer wieder Anlass zur Verwunderung gegeben (vgl. Flashar: 1971, 280). Schon in der bereits angesprochenen hellenistischen Philosophie wurde innerhalb der politischen Theorie dieser aristotelische Fokus kritisiert (vgl. Horn: 2008, 39). Denn die „entscheidende Bezugsgröße der Rechts- und Staatsphilosophie“, insbesondere aber nicht ausschließlich bei Platon und bei Aristoteles, liegt „im partikularen Gemeinwesen“ (Höffe: 2002, 14).24 Ähnlich finden wir diese Kritik unter an-

|| 23 Solmsen weist ebenso auf liberale Ansätze innerhalb des aristotelischen politischen Denkens hin, auch konkret in Bezug auf Pol. VII/VIII (vgl. Solmsen: 1964, 217). Zu dieser Ansicht auch Horn: „Die Tatsache, dass der politische Aristoteles nicht generell als antiliberal gelten kann, wird auch durch die lange Wirkungsgeschichte belegt, in der Aristoteles – sieht man einmal vom heiklen Thema Sklaverei ab – tendenziell freiheitliche Denkrichtungen inspiriert hat“ (Horn: 2008, 7). Zum Problem der Sklaverei in der aristotelischen politischen Theorie vgl. Kap. 3.1. 24 Höffe dazu weiter: „Die Ansätze zu einem Kosmopolitismus, die es in der griechischen Kultur durchaus gibt, finden sich außerhalb der dominierenden Philosophen Platon und Aristoteles“ (Höffe: 2002, 233-234).

54 | Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung derem auch bei Gutschker formuliert, der von einer intensiven Spannung zwischen Patriotismus und Kosmopolitismus bei Aristoteles spricht (vgl. Gutschker: 2002, 456). Auch diese Kritik erscheint, so wie auch das eine oder andere Argument der Totalitarismus- und der Paternalismus-Kritiken, anhand von Politik VII und VIII vorerst als nicht ganz unberechtigt. Denn an keiner Stelle äußert sich Aristoteles intensiver zum Thema überregionaler politischer Verbände oder über politische Partnerschaften zwischen einzelnen Poleis. Ausgenommen in Bezug auf diverse wirtschaftliche Beziehungen, die zur Deckung der Grundversorgung der Polis dienen sollen, scheinen Kontakte zu anderen politischen Gemeinschaften nicht wirklich geplant zu sein. Diese ausschließlich ökonomisch orientierte Perspektive über eine regionale Zusammenarbeit finden wir zuweilen in Politik I deutlich formuliert, aber auch in Politik VII. Das Gedankengut einer Art von „Kosmopolitismus“ scheint bei Aristoteles keine Bedeutung zu haben. Eine spezifische Beanstandung, die an Politik VII und VIII gerichtet ist, kritisiert die aristotelische Differenzierung in Bürger und Nichtbürger innerhalb der von ihm entworfenen gesellschaftlichen Struktur. Insbesondere diese Kritik hat über die Kreise der Fachphilosophie hinaus viel Resonanz erhalten, was auch zu durchaus überzogenen Beurteilungen geführt hat, die den PolisEntwurf als „Gemeinschaft von kulturschaffenden Rentnern, die als Freie und Gleiche auf Kosten einer Unterschicht von politisch rechtlosen Fremdarbeitern leben“ verstanden haben (Demandt: 1993, 131). Damit ist im Prinzip auch bereits der Kern dieser Kritikrichtung angesprochen. Das Gesellschaftssystem der aristê politeia wird demnach als ungerecht kritisiert, da es so scheint, als ob in diesem Staat eine der Gesellschaftsschichten auf Kosten einer anderen lebe. Wie eingangs zu diesem Kapitel der Untersuchung bereits angeführt, wurden diese vier dargelegten Kritikansätze nur in ihren wichtigsten Grundzügen wiedergegeben. Dabei steht die Intention im Vordergrund, einen ersten Eindruck über unterschiedlichste Auslegungen zu vermitteln, sowie vor allem ihr breites Spektrum ansatzweise vor Augen zu führen. Deshalb wurde nur exemplarisch auf einzelne Auslegungen hingewiesen, freilich ohne jedweden Anspruch auf Vollständigkeit.

2.5 Ein Staat nach bestem Ermessen An dieser Stelle ist es an der Zeit, eine erste Bilanz über die aristê politeia zu ziehen. Wie wir deutlich gesehen haben, stellt Aristoteles in seiner Planung der bestmöglichen Verfassung eines Staates die unterschiedlichsten Überlegungen an. Seine Gedankengänge erscheinen im Gesamten betrachtet als grundlegende

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philosophische Reflexionen über (s)eine Polis nach Wunsch. Er greift dafür auch auf Gegebenheiten der damaligen Zeit zurück, vor allem dann, wenn es um die Stadtplanung sowie um die Stadtentwicklung geht, wie wir es bei der Betrachtung der äußeren Bedingungen deutlich gesehen haben. Darauf weist auch Gehrke hin. Aus der „Welt der empirisch-historischen Realität ist reiches Material in das Blickfeld des Philosophen geraten und auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Kriterien sortiert worden“ (Gehrke: 1985, 138).25 Diese empirischen Realitäten nimmt Aristoteles auf und integriert sie nach kurzer Prüfung in sein eigenes Denken, wie z.B. in Bezug auf das System der Agora in Thessalien oder anderer städtebaulicher Einrichtungen (Pol. VII 12). Es sind viele solcher Einzelheiten, wie sie teilweise zuvor in diesem Abschnitt vorgestellt wurden, die mehr als deutlich machen, dass Aristoteles nicht an einer fernen Utopie, sondern an realitätsbezogenen und prinzipiell realisierbaren Überlegungen zur Polis-Gründung gearbeitet hat. Dies machen, wie wir in den Kapiteln zuvor anhand der aristotelischen Argumentation gesehen haben, auch Wörter wie „verwirklichen“ oder „durchführen“ in Bezug auf die Überlegungen zur Polis nach Wunsch deutlich (Pol. VII 4, 1325b38; VII 12, 1331b21). In dieser Art und Weise spricht Aristoteles auch bereits in Politik VII 1, direkt anschließend an die Formulierungen des Ausgangssatzes dieser Studie, über die beiden Kernbereiche des hairetôtatos bios und der aristê politeia: »Denen nämlich, welche nach den gegebenen Umständen die beste Staatsverwaltung haben, muss es auch verständlicherweise am besten ergehen, falls nichts Unberechenbares eintritt« (Pol. VII 1, 1323a18ff).

Aufgrund dieser und ähnlicher Bestimmungen und Berechnungen, wie sie zum Teil auch schon genannt wurden, scheint es angebracht zu sein, den Begriff der „Polis nach Wunsch“ und der von Aristoteles so bezeichneten aristê politeia zu schärfen und dadurch vielleicht die gesamte Konstruktion von Politik VII und VIII ein Stück weit deutlicher hervortreten zu lassen. Wegen der Exaktheit vieler Überlegungen und des rationalen und teils empirischen Kalküls der aristotelischen Gedanken zur Polis-Gründung scheint es treffender zu sein, von einem „Staat nach bestem Ermessen“ in Politik VII und VIII zu sprechen. Denn Aristoteles verwendet vor allem in Politik VII viel Energie dafür, grundlegende Aspekte der Polis-Errichtung zu erörtern und auf damalige Gegebenheiten in seinem

|| 25 Gehrke führt weiters aus, dass seiner Ansicht nach Aristoteles zuweilen an den unterschiedlichsten Stellen der Pol. auch ein Bild der „sozialen Realität seiner Zeit“ zeichnet (Gehrke: 1985, 139).

56 | Die Polis nach Wunsch als beste Verfassung Denken Rücksicht zu nehmen, um sie zugleich in seinen Konzeptionen selbst verwenden zu können. Dadurch wird Aristoteles freilich auch wiederum für die Alte Geschichte und die Altertumskunde zu einem wichtigen Zeitzeugen der damaligen, klassischen Polis-Idee, sofern davon gesprochen werden kann (vgl. Kap. Exkurs I). Ob es sich nun bei den untersuchten Texten in der Tat um Planungsunterlagen für Alexander den Großen gehandelt hat oder nicht, bleibt jedoch, wie schon an anderen Stellen gesagt, offen. Es ist aber nicht auszuschließen, dass Aristoteles mit Politik VII und VIII, wie Ober vermutet, durchaus in die damalige Polisgestaltung direkt einwirken wollte. Was allerdings nicht bestritten werden kann, ist, dass Aristoteles durchaus ein für damalige Zeiten realitätsbezogenes, ein realitätsnahes Polis-Konzept entwickelt hat, das nicht, wie Kullmann behauptet, unabhängig von der damaligen politischen Realität gedacht wurde (vgl. Kullmann: 2003, 14). Ebenso ist die These von Schütrumpf zu hinterfragen – der sich zwar, wie gezeigt, ausdrücklich gegen die Interpretation eines „Idealstaats“ wendet, aber dennoch der Ansicht ist, dass mit Politik VII und VIII keine konkrete Hilfe für die Praxis einer Polis-Gründung gegeben werde (vgl. Schütrumpf: 2005, 82). Auf der einen Seite mag es zutreffen, dass mit Politik VII und VIII kein tatsächlicher Plan im engeren Sinne für die unmittelbare Gründung einer Polis vorliegt. Auf der anderen Seite muss jedoch zugestanden werden, dass sich mit Sicherheit der eine oder andere überaus interessante und durchaus konkrete Hinweis für eine etwaige Neugründung ausfindig machen lässt, und zwar auch hier wieder aus zweifacher Perspektive: zum einen in Bezug auf die äußeren Bedingungen wie die Stadtanlage und die infrastrukturelle Einrichtung der Polis, wie z.B. in den Bestimmungen zur Agora in Politik VII 12 sichtlich wird; zum anderen in Bezug auf die inneren gesellschaftspolitischen Bedingungen, wie z.B. in den Ausführungen zur Gesellschaftsordnung in Politik VII 8. Alle nun zuvor dargestellten Thesen in diesem Abschnitt sind ebenso gleichzeitig Belege dafür, dass die Bücher Politik VII und VIII nicht in das literarische Genos der Utopie eingereiht werden können.26 Aristoteles entwirft, wie nun gezeigt, in Politik VII und VIII keine Utopie. Der Staat nach bestem Ermessen soll „vielmehr seinen Ort, einen Topos, in der Realität haben, soll nicht nur theoretisch zu verwirklichen sein, sondern tatsächlich realisiert werden“ (Frank: 1999, 171). Ob das in der Tat wie es Frank formuliert angestrebt wurde, bleibt zwar offen, kann aber auch nicht kategorisch ausgeschlossen werden.

|| 26 Dazu ist weiters zu bemerken, dass es vorab einer grundsätzlichen Analyse darüber bedürfen würde, was unter einem „literarischen Genos der Utopie“ im Allgemeinen überhaupt verstanden werden kann.

Ein Staat nach bestem Ermessen | 57

Der aristotelische Staat nach bestem Ermessen ist also diesem Abschnitt zufolge auf drei Säulen gebaut: zum einen auf der Säule vieler nachvollziehbarer, historischer Gegebenheiten und Überlegungen auf der Grundlage der damaligen Verhältnisse (Beispiel Agora), zum anderen auf deren gedanklicher Weiterentwicklung und der Optimierung einiger dieser Realitäten im aristotelischen Denken (Beispiel Gesellschaftsstruktur) sowie drittens auf der philosophischen Betrachtung und der Entwicklung eines gesamten, in sich kohärenten PolisKonzepts – was noch genauer unter besonderer Berücksichtigung der scholê zu zeigen sein wird –, das auch Begriffe wie autarkeia, paideia oder eudaimonia in das Denken mit einbezieht. Daraus erhält diese aristotelische Untersuchung aus Politik VII und VIII ihren großen Wert, der definitiv ein messbarer und bestimmbarer Charakter zugrunde liegt. Dieser ist fernab jeglicher Utopie sowie des klassischen Idealstaatsdenkens anzusiedeln und lässt sich, wie zuvor bereits dargestellt, treffender als Staat nach bestem Ermessen charakterisieren.27

|| 27 Auch anhand der Kritiken am Staatsentwurf, wie sie zum Teil im vorherigen Kapitel aufgezeigt wurden, lässt sich vor Augen führen, wie detailliert Aristoteles seine Polis gedacht hat. Insbesondere das Totalitarismus-, aber auch das Paternalismus-Argument kritisieren im Grunde genommen diese Detailliertheit des Denkens anhand des Begriffs der paideia aus Pol. VII/VIII, der bei Aristoteles große Aufmerksamkeit erfährt.

3 (Politische) Autarkie Eine der vielleicht wesentlichsten Bestimmungen des Staates nach bestem Ermessen, die Aristoteles in Politik VII 4, beginnend mit der Entwicklung seiner aristê politeia, trifft, ist die Forderung, dass diese autark, also sich selbst genügend (autarkês) sein soll (Pol. VII 4, 1326b3, 9, 24).1 In Politik VII 5 führt Aristoteles dazu weiter aus, dass die Selbstgenügsamkeit seiner Ansicht nach darin bestehe, keines anderen mehr zu bedürfen und sich selbst genügend, also unserem heutigen Verständnis nach eben autark zu sein: »[...], denn alles selbst zu besitzen und keines zu bedürfen, darin besteht eben die Selbstgenügsamkeit; [...]« (Pol. VII 5, 1326b30).

Da Aristoteles in Politik VII und VIII neben dem hairetôtatos bios vor allem seine aristê politeia entwickelt, lässt sich weiterführend schließen, dass dieser Staatsentwurf, der Staat nach bestem Ermessen, ein in allen Facetten autarker, d.h. sich selbst genügender Staat sein soll. Doch in Politik VII 6 heißt es in Bezug auf die Bestimmungen des Staatswesens weiter: »Obendrein aber gehört es zu den notwendigen Dingen, dass der Staat das, was ihm fehlt, einführe und den Überfluss seiner eigenen Landeserzeugnisse ausführe« (Pol. VII 6, 1327a26f).

Wie passen nun diese beiden Bestimmungen, die Aristoteles zur Autarkie in Bezug auf seine Staatsentwicklung innerhalb von Politik VII 4 bis 6 trifft, zusammen? Auf der einen Seite wird nach Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit verlangt, auf der anderen Seite jedoch nach wirtschaftlichen Transaktionen, nach geregeltem Import und Export der Polis. Eine Beschäftigung mit dem aristotelischen Verständnis der Autarkie ist für eine Auseinandersetzung mit dem hairetôtatos bios und mit der aristê politeia konstitutiv. Hinzu kommt, dass der Begriff der Autarkie auch für eine Klärung des aristotelischen scholêBegriffs von großer Wichtigkeit ist. Gründe genug also, sich diesem Thema, der Autarkie in der aristotelischen politischen Philosophie, an dieser Stelle intensiver zuzuwenden.

|| 1 Bereits in Kap. 2.3 haben wir mit Schütrumpf gezeigt, dass es innerhalb von Pol. VII 8 und 9, also bei der Entwicklung der inneren Verfassung, der Gesellschaftsordnung des Staats nach bestem Ermessen, insbesondere darum geht, welche Aufgaben „im Staat wahrgenommen werden müssen, damit die staatliche Gemeinschaft als autark gelten kann“ (Schütrumpf: 2005, 352).

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Der allgemeine Begriff der Autarkie (autarkeia) hat eine lange Geschichte, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann. Eine rein sprachliche Übersetzung in das Deutsche sowie auch eine etymologische Herleitung der Begriffe „Autarkie“ und „autark“ fällt im Vergleich zu den Möglichkeiten der Übersetzung anderer Begrifflichkeiten aus dem Bereich der griechischen Terminologie im Prinzip jedoch relativ eindeutig aus. „Selbstgenügsamkeit“ bzw. „sich selbst genügend“ lauten die gängigsten Übersetzungsvorschläge in den diversen Lexika. Nicht ganz so eindeutig gestaltet sich hingegen eine inhaltliche Klärung dieser Begriffe. Zum einen wird die Autarkie als jener Zustand bezeichnet, in dem z.B. der Mensch „sich selbst genügt“, also erstens keines anderen Menschen mehr bedarf und zweitens von allen äußeren Gütern unabhängig ist. Zum anderen, diese Verwendung wird insbesondere Aristoteles zugeschrieben, bezeichnet die Autarkie schlicht ein gegenwärtiges, genügendes Auskommen des Menschen, wie es unter anderen Passow in seinem Handwörterbuch der griechischen Sprache zum Ausdruck bringt (vgl. Passow: 1841, S. 443, s.v. αὐτάρκης). Dem Begriff „autark“ wird gelegentlich auch noch die Konnotation von „zufrieden“ oder „sicher“ zugesprochen. In der heutigen Sprachverwendung wird der Begriff der Autarkie primär im wirtschaftlichen Kontext gebraucht und bringt dabei zumeist die materielle und ökonomische Unabhängigkeit eines Einzelnen, einer Gruppe oder eines ganzen Staates zum Ausdruck. Autarkie beschreibt im zuletzt genannten Aspekt einen Zustand der Selbstversorgung, in dem ein Land nicht mehr auf die Einfuhr oder Ausfuhr von Waren angewiesen ist sowie auf sämtliche auswärtige finanzielle Transaktionen verzichten kann, in diesem Sinne also vollständige wirtschaftliche Selbstständigkeit erlangt hat (vgl. WdW: 2003, S. 49, s.v. Autarkie).2 Im Grunde genommen besagt der Begriff heute also genau das Gegenteil davon, was Aristoteles in Politik VII 6 in Bezug auf seinen Staat nach bestem Ermessen, wie wir zuvor bereits zitiert haben, gefordert hat, nämlich dass es für den Staat zu den notwendigen Aufgaben und Dingen gehört, geregelten Import und Export zu betreiben (Pol. VII 6, 1327a26). Im antiken Griechenland ist die Autarkie ein zentraler Aspekt des politischen Denkens gewesen und war dabei schon nahe an den Bereichen der Politik und der Ökonomie angesiedelt. So ist bereits bei Herodot das Wesen der Autarkie ein „politisches Ideal“ (Gigon: 1973, 12). Das Territorium einer Polis sollte in || 2 Im Oxford Dictionary for the Business World steht zum Begriff der Autarkie, an das zuvor Gesagte sinngemäß anschließend: „An economic policy of autarky aims to prevent a country from engaging in international trade“ (ODBW: 1993, S. 49, s.v. autarky). Der Autarkie-Begriff in diesem modernen Verständnis, als eine Art von „Schutz gegenüber dem internationalen Handel“, wird an dieser Stelle mit Adam Smith in Verbindung gebracht.

60 | (Politische) Autarkie Bezug auf die landwirtschaftlichen Tätigkeiten so ertragreich sein, dass alle Bewohner dieses Landes mit ausreichenden Gütern versorgt waren und so ernährt werden konnten. Doch schon Herodot ist sich bewusst, dass dies nicht der Realität entspricht (Herodot: Historien, I 32). Thukydides lässt in seiner Gefallenenrede den Perikles sprechen, dass die Ausbauten der Stadt bereits so weit vorangetrieben worden seien, dass sie in allen Beziehungen auf das beste ausgerüstet sei, um für die Zeiten des Krieges und auch für die Zeiten des Friedens sich selbst genug zu sein (Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, II 36). Anhand dieser beiden Geschichtsschreiber soll gezeigt sein, dass die Verwirklichung des Ideals der Autarkie politische Ideen geleitet und dabei gesellschaftliche Relevanz, speziell später in der klassischen Zeit, gehabt hat. Die Autarkie einer Polis war demnach ein wichtiges Politikum. Auch hier sehen wir also wiederum: wenn Aristoteles auf den Begriff der Autarkie in Bezug auf seinen Staat nach bestem Ermessen zu sprechen gekommen ist, hat er sich auf damalige unmittelbare, reale politische Situationen und Probleme bezogen und diese in sein Denken aufgenommen. Die Autarkie erweist sich innerhalb der aristotelischen Philosophie als ein überaus dynamischer Begriff. Sie wird in den verschiedensten Abhandlungen angewendet, und in fast jeder dieser Abhandlungen in unterschiedlicher Art und Weise. In der Biologie, der Metaphysik und in der politischen Philosophie, in Ethik und Politik, wird die Autarkie bzw. das Autarksein eines Individuums, einer Gemeinschaft, einer Tätigkeit oder aber auch eines Endzweckes thematisiert. Autarkie kann demnach einem Tier, einer Handlung, einer Lebensform, einem Gut, dem Menschen, einer Gemeinschaft, einer Polis oder aber auch dem Göttlichen zukommen. Das Tier gilt beispielsweise dann als autark, wenn es genügend Nahrungsvorrat in sich trägt und aufgrund dessen dazu in der Lage ist, sich von einem Ort zu einem anderen fortzubewegen (vgl. Ricken: 2005, 90). »The part below is the place for the nourishment and the residue, in order that those animals which move about may have within them a sufficient independent (autarkeian) supply of nourishment and be able to go about from place to place« (Gen. an. IV 8, 776b8).

Die Autarkie im umfassendsten, uneingeschränkten Sinne kommt nach Aristoteles jedoch nicht dem Tier oder dem Menschen zu, sondern allein dem Göttlichen, was insbesondere aus der Metaphysik, aber auch aus anderen Texten deutlich hervorgeht (Met. XIV 4, 1091b16; EE VII 12, 1244b7; MM II 15, 1212b36). Die nun folgende Untersuchung der Autarkie im aristotelischen Verständnis klammert diese eben genannten biologischen und theologischen AutarkieVerwendungen explizit aus und fokussiert sich gänzlich auf dessen politische Verwendungsweise, damit vorrangig auf die Thematisierungen der Autarkie in

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der Politik und der Nikomachischen Ethik. Um dies leisten zu können, wird es erforderlich sein, in Bezug auf die Politik die Bücher VII und VIII gelegentlich zu verlassen und in die anderen Bücher dieses umfassenden Werks zu blicken, um den politischen Begriff der Autarkie besser fassen zu können. Bereits an dieser Stelle ist vorwegzunehmen, dass der politisch besetzte Autarkie-Begriff bei Aristoteles vielschichtig und aus heutiger Perspektive nicht leicht zu verstehen ist, da er sich nicht allein auf das wirtschaftliche Denken beschränkt, sondern auch andere Bereiche der Philosophie der menschlichen Angelegenheiten mit einbezieht (vgl. Pellegrin: 2001, 43). In den kommenden Kapiteln dieses dritten Abschnitts wird ein Modell entwickelt, das Aristoteles und sein Verständnis von „politischer Autarkie“ in fünf unterschiedlichen Dimensionen entfaltet und so zu einem besseren Verständnis dieses komplexen Themas beitragen möchte. Diese einzelnen Dimensionen sind jedoch nicht als jeweils eigene Autarkie-Begriffe zu verstehen, sondern als unterschiedliche Ausrichtungen einer „politischen Autarkie“.3

3.1 Die sozialanthropologische Dimension Der zentrale Text für eine Untersuchung der sozialanthropologischen Dimension ist in Politik I 2 zu finden. Aristoteles entwickelt hier die Grundlegung einer politischen Anthropologie, die für seine gesamte Philosophie der menschlichen Angelegenheiten überaus wichtig ist – und so auch für eine Untersuchung des politisch besetzten Autarkie-Begriffs. Hinzu kommt, dass dieser sozialanthropologische Ansatz, den Aristoteles an dieser Stelle entwickelt und der zu den Grundkategorien seines Denkens gehört, bis in die Gegenwart hinein fester Bestandteil des philosophisch-politischen Diskurses ist (vgl. Kullmann: 1998, 313).

|| 3 Bereits Gigon führt den Begriff der „politischen Autarkie“ bei Platon und Aristoteles an, ohne diesen jedoch genauer zu untersuchen bzw. auszulegen (Gigon: 1973, 12). Gelegentlich spricht er in Bezug auf Aristoteles von jeweils unterschiedlichen Ebenen der Autarkie, jedoch fehlt diesbezüglich eine Präzisierung. Neschke-Hentschke deutet in ihrer Untersuchung von Pol. VII/VIII unterschiedliche Komponenten der Autarkie an, beschränkt sich dabei jedoch letztendlich auf zwei: „Der Begriff ,Autarkie‘ enthält somit immer eine ökonomische und eine ethische Komponente“ (Neschke-Hentschke: 2001, 175). Aufschlussreicher dagegen erscheint die Darstellung der aristotelischen Autarkie bei Kampert, der sich jedoch nicht explizit auf die politische Sichtweise konzentriert, sondern eine umfassendere Untersuchung auch im Sinne der zuvor angesprochenen biologischen und theologischen Aspekte vorlegt (Kampert: 2003, 297ff).

62 | (Politische) Autarkie Aristoteles spricht zu Beginn von der Notwendigkeit, dass sich das, was nicht ohne einander bestehen kann, paarweise miteinander verbindet. So vollzieht sich zum einen die Verbindung von Mann und Frau um der Fortpflanzung willen, sowie zum anderen jene des von Natur aus Regierenden und dem von Natur aus Regierten um der Lebenserhaltung willen (Pol. I 2, 1252a25ff).4 Mann und Frau, Regierender und Regierter, sind also nach Politik I 2 die grundlegendsten politischen Gemeinschaften. Zu dem Verhältnis zwischen dem von Natur aus Regierenden und dem von Natur aus Regierten gehört die viel diskutierte Abhandlung über die Beziehung von (Haus-)Herr (despotês) und Sklave (doulos), die ebenso mit Politik I 2 eröffnet wird und für ein umfassendes Verständnis von Politik VII und VIII nicht unbedeutend ist. Denn im Rahmen der Gesellschaftsstruktur, also der zuvor angeführten inneren Verfassung des Staats nach bestem Ermessen – vor allem in der Trennung von Bürgern und Nichtbürgern, die noch genauer zu untersuchen sein wird – wird deutlich, dass selbst dieser Staat aus Politik VII und VIII auf Sklaven nicht verzichten kann. Um das Verhältnis zwischen Herr und Sklave ansatzweise einordnen zu können, ist ein kurzer Seitenblick auf die aristotelische Seelenlehre in Bezug auf den Menschen notwendig, wie sie z.B. in Nikomachische Ethik I 13 dargestellt wird (vgl. Busche: 2005, 505).5 Anhand dieser skizzenhaften Darstellung der menschlichen Seele lässt sich erklären, warum die Beziehung von Herr und Sklave für Aristoteles eine naturbedingte Gemeinschaft eines Regierenden und eines Regierten ist und warum sie zu den politischen Gemeinschaften gehört. Vorweg: Nach De Anima ist die Seele jenes Prinzip, wodurch wir leben, wahrnehmen und denken (An. II 2, 414a12). Aristoteles unterteilt die Seele des Menschen in der Nikomachischen Ethik in einen vernunftlosen Teil (alogos) und einen vernunftbegabten Teil (logon echon) (EN I 13, 1102a27). Der vernunftlose Teil der Seele, den der Mensch mit allem Lebendigen bzw. allen wachsenden Wesen gemeinsam hat (An. II 2, 413b7), kann auch als vegetativer Teil bezeich|| 4 Der Begriff der Natur (physis) hat bei Aristoteles zeitweise unterschiedliche Bedeutungen. In Met. V 4, 1015a13ff heißt es z.B.: »Nach dem Gesagten ist also Natur im ersten und eigentlichen Sinne die Wesenheit der Dinge, welche das Prinzip der Bewegung in sich selbst haben, insofern sie das sind, was sie sind; denn der Stoff wird Natur genannt, weil er diese aufzunehmen fähig ist, das Werden und Wachsen darum, weil es Bewegungen sind, die von dieser ausgehen.« Später werden wir sehen, dass es keineswegs unproblematisch erscheint, dass Aristoteles hier in Pol. I 2 von dem „von Natur aus Regierten und dem von Natur aus Regierenden“ spricht. 5 Aristoteles verwendet den Begriff der psychê nicht nur in Bezug auf den Menschen und nicht ausschließlich in der EN, sondern vor allem in seiner Naturphilosophie und in der Schrift An. Die psychê kommt dabei nicht nur dem Menschen, sondern ebenso Tieren und Pflanzen zu, wenn auch in einer gegenüber jener des Menschen abgeschwächten Art und Weise.

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net werden. Er ist der Antrieb für die Ernährung, für das dem Menschen nicht bewusste Wachstum, etc., (EN I 13, 1102a33). Innerhalb des vernunftbegabten Teiles der psychê des Menschen erfolgt eine Differenzierung in einen überlegenden Teil (logistikon) und in einen denkenden Teil (epistêmonikon). Der überlegende Teil ist für das Handeln (praxis) und das Hervorbringen (poiêsis) zuständig. Aristoteles ordnet diesem Seelenteil später die Tugenden des Charakters (êthikê) zu. Der denkende Teil hingegen ist für das intuitive Denken (nous) und für die Wissenschaft (epistêmê) zuständig, die beide letztendlich zur Weisheit (sophia) führen und die Tugenden des Denkens (dianoêtikê) verkörpern (vgl. Wolf: 2006, 351). Bei Aristoteles heißt es dazu: »Der eine seiner Teile [der denkende] besitzt die Vernunft im eigentlichen Sinn und in sich selbst, der andere [der überlegende] in der Weise, dass er auf sie hören kann, wie man auf den Vater hört« (EN I 13, 1103a3ff).

Dieser kurze Blick auf die Seelenlehre ermöglicht es, das Verhältnis des von Natur aus Regierenden und Regierten innerhalb der aristotelischen politischen Philosophie zumindest ansatzweise zu begründen, ohne es jedoch in irgendeiner Art und Weise in dieser Form rechtfertigen oder verteidigen zu wollen. Aristoteles spricht nämlich dem Sklaven den denkenden Teil der Seele in Politik I 5 schlichtweg ab. »Von Natur aus Sklave ist mithin derjenige, welcher einem anderen anzugehören vermag – und deshalb eben gehört er auch wirklich einem anderen an – und der an der Vernunft nur so weit teilhat, um ihre Gebote zu verstehen, ohne sie zu besitzen« (Pol. I 5, 1254b22ff).

Aristoteles spricht hier deshalb von dem „Sklaven von Natur aus“, weil jenem von Natur aus der zuvor beschriebene Seelenteil des Denkvermögens fehle. Außerdem führt Aristoteles in Politik I 6 zusätzlich noch den „Sklaven nach dem Gesetz und dem Kriegsrecht nach“ ein, der wiederum eigenen Bestimmungen unterliegt. 6 || 6 Nach Lauffer erwachte das Interesse an der kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema der Sklaverei in der Antike insbesondere im 18. Jahrhundert, mit dem Beginn der „neuzeitlichen konstruktiven Gesellschaftskritik aus der Idee der Freiheit“ (Lauffer: 1961, 370). Dabei war Aristoteles ein wichtiger, wenn auch vielfach kritisierter Gesprächspartner, wie z.B. bei Rousseau. Im 19. Jahrhundert bezieht sich unter anderen Hegel auf dieses Thema, bevor sich Nietzsche – weitaus weniger kritisch – dazu äußert und sich nicht davor scheut, die „Sklaverei grundsätzlich zu verteidigen“, nämlich als die „Bedingung jeder höheren Kultur“, und dabei ausführt, dass sich der antike Sklave keineswegs in einer schlechteren Lage als der Arbeiter der neueren Zeit befunden hätte (Lauffer: 1961, 372). Nicht zuletzt finden wir an der Schwelle zum 20. Jahrhundert bei Max Weber eine Auseinandersetzung mit der aristotelischen Sklavenlehre.

64 | (Politische) Autarkie Diese sogenannte aristotelische Sklavenlehre ist heute noch innerhalb der Forschung ein brisantes Thema – worauf wir nun einen kurzen Blick werfen wollen – und war auch in der Vergangenheit im Rahmen der Debatten der politischen Philosophie immer wieder Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen, beginnend in der Philosophie der Neuzeit. Grund dafür ist vielleicht weniger die Lehre selbst, welche für die damalige antike Gesellschaft zumindest in Attika nüchtern betrachtet eher als gängige Praxis bezeichnet werden kann, als vielmehr die unmittelbare aristotelische Argumentation. Zwei prominente Kritikpunkte an dieser Argumentation innerhalb der Forschung fasst Smith zusammen. Die aristotelische Sklavenlehre sei erstens eine inkohärente und zweitens eine logisch problematische Theorie.7 Die teilweise vorhandene Inkohärenz sowie die logischen Defizite der Sklavenlehre aus Politik I haben die These aufkommen lassen, dass diese Lehre mehr Ideologie als Philosophie verkörpere und von Aristoteles möglicherweise in sein philosophisches Denken gewissermaßen unreflektiert und unkritisch übernommen wurde. Mit dieser These hat sich vor allem Schofield intensiv auseinandergesetzt.8 Er gelangt allerdings zum Ergebnis, dass die Sklavenlehre nicht als eine unreflektierte Ideologie innerhalb der aristotelischen politischen Anthropologie verstanden werden kann, sondern vielmehr (zumindest potentiell) eine kritische Theorie zur damaligen Praxis der Sklaverei gewesen sei und somit ein wesentlicher Teil der Lehre von den politischen Gemeinschaften bei Aristoteles ist.9 Bei Höffe, der das ideologische Argument nicht völlig von der Hand weist, wird der Kontext zwischen Sklavenlehre und politischer Anthropologie ebenso deutlich angesprochen. Zwar wird bei Aristoteles der Mensch durch seine Sprach- und Vernunftbegabtheit im Allgemeinen definiert, jedoch impliziert || 7 „Specifically, critics have argued that the theory he offers is itself incoherent and that many of the uses to which he proposes putting slaves in subsequent books of the Politics are unwarranted, or even proscribed, by the theory of Book I. [...], critics have charged that this aspect of Aristotleʼs philosophy is logically problematic“ (Smith: 1991, 142). 8 „Aristotleʼs views on slavery are an embarrassment to those who otherwise hold his philosophy in high regard. To the modern mind they are morally repugnant. Many find them poorly argued and incompatible with more fundamental tenets of his system, and they certainly contain at least apparent inconsistencies. Worst of all, perhaps, is the suspicion that his theory of slavery is not really philosophy“ (Schofield: 1990, 1). 9 Schofield zu seinem Ergebnis: „To my own suprise I conclude that Aristotleʼs theory is not to any interesting extent ideological“ (Schofield: 1990, 1). „Aristotleʼs theory of natural slavery is at least potentially a critical theory. [...]. Aristotleʼs theory of natural slavery is presented as an outwork of his general philosophy of man; it establishes a criterion of who is or is not suited to slavery against which actual cases of enslavement could be judged just or unjust; it is therefore not plausibly explained as ideology“ (Schofield: 1990, 11-12).

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diese anthropologische Grundkonstante keine rechtliche und keine politische Gleichheit der Menschen untereinander. Im Gegenteil meint Höffe, Aristoteles unternehme vielmehr den Versuch, die Ungleichheiten seiner Zeit zu rechtfertigen, die „fehlende Gleichberechtigung der Sklaven, der Barbaren und der Frauen. Mindestens ein Teil der vorgetragenen Argumente hat ideologischen Charakter“ (Höffe: 2006a, 255). Es ist nicht zur Gänze von der Hand zu weisen, dass wir es bei der Sklavenlehre beginnend mit Politik I ein Stück weit mit dem gesellschaftlichen Denken einer speziellen historischen Epoche, wie schon gesagt zumindest in Attika, zu tun haben, wo das Sklaventum im Großen und Ganzen eine Selbstverständlichkeit war. Hinzu kommt, dass Aristoteles im Prinzip alle Barbaren, das sind für ihn alle diejenigen, die keine Griechen sind, pauschal als Sklaven bezeichnet. Das muss gegen Schofield eingewandt werden. So ist auch in Politik VII und VIII ein eher verächtlicher Blick auf fremde Kulturen bemerkbar, der sich aber im Grunde genommen ebenso als typisch griechische Weltanschauung der damaligen Zeit deuten lässt (Pol. I 2, 1252b7; VII 7, 1327b23). Diese genannten Textstellen bei Aristoteles können mit Sicherheit nicht auf eingehende, philosophische Reflexionen zurückgeführt werden, wie wir es aus anderen Stellen von Aristoteles eigentlich gewöhnt sind. Dennoch ist es wichtig, an dieser Stelle deutlich zu machen, dass Aristoteles in dem grundlegenden politischen Verhältnis von Regierenden und Regierten, auch in diesem soeben besprochenen speziellen Verhältnis von Herr und Sklave, kein einseitig dominierendes Macht- oder Nutzenverhältnis ausschließlich für eine der beiden Seiten gegeben sieht. Diesen Bereich weist Höffe exakt aus. Die Beziehung des Herren zum Sklaven soll primär dem wechselseitigen Wohlergehen dienen und ist zum einen auf Gegenseitigkeit und zum anderen auf Gerechtigkeit hin angelegt (vgl. Höffe: 2006a, 256). Denn auch für den Sklaven von Natur aus, so Aristoteles, ist es aufgrund des eigenen Lebenserhaltungswillens von Vorteil, wenn er durch seinen Herrn als Sklave regiert wird. Der Regierende hingegen wird durch die Arbeit des Sklaven von alltäglichen Tätigkeiten entlastet und ist dadurch in der Lage, sich anderen Dingen, wie etwa der Politik oder Ähnlichem, zuzuwenden. Dieser Aspekt wird vor allem für die spezifischen Bestimmungen der scholê im zweiten Teil dieser Studie von Bedeutung sein. Die Beziehungen von Mann und Frau, Regierendem und Regiertem und insbesondere von Herr und Sklave spiegeln alle keine einseitigen Machtverhältnisse wider, sondern sind aufeinander abgestimmt und ergänzen sich gegenseitig. In der Erklärung des Verhältnisses von Herr und Sklave bringt Aristoteles das von Höffe zuvor angesprochene „wechselseitige Wohlergehen“ deutlich zur Sprache:

66 | (Politische) Autarkie »[...]; denn was vermöge seines Verstandes vorauszuschauen vermag, ist von Natur das Regierende und Herrschende, was aber nur vermöge seiner körperlichen Kräfte das Vorgesehene auszurichten imstande ist, ist von Natur das Regierte und Dienende, daher denn auch Herr und Sklave das nämliche Interesse haben« (Pol. I 2, 1252a32ff).

Das gemeinsame, „nämliche Interesse“ der von Aristoteles bestimmten grundlegenden politischen Gemeinschaften steht deutlich im Vordergrund. Jeder Teil dieser Beziehungen, so die aristotelische Argumentation, zieht aus der spezifischen Lebenssituation den für seinen Lebensbereich notwendigen (und zum Teil auch überlebenswichtigen) Nutzen. Diese Darstellung soll jedoch, auch mit Schofields Einwand diese Passagen nicht als einfache Ideologie zu lesen im Hintergrund, die aristotelische „Theorie des Sklaven“ keineswegs schönreden. Tatsache bleibt, dass der Sklave gegenüber dem freien Bürger nur niedere (wenn überhaupt) Rechte hatte. Als besonders problematisch muss ebenso angesehen werden, dass Aristoteles erstens dem Sklaven gewisse Seelenteile abspricht, zweitens ihn als Werkzeug definiert und drittens einen Vergleich zwischen Sklaven und Nutztieren anstellt (Pol. I 5, 1254b25ff). Dazu ist jedoch gleichzeitig zu sagen, dass Aristoteles dem Sklaven an keiner Stelle das Menschsein prinzipiell abspricht (vgl. Pellegrin: 2001, 53), wenn auch zeitweise im Vergleich zum Menschsein des Herren deutlich abschwächt.10 Somit sind die aristotelischen Ausführungen in diesem Kontext aus heutiger Perspektive nach wie vor mit Sicherheit überaus problematisch und abzulehnen, gleichgültig ob sie als Ideologie oder als Philosophie im Sinne einer kritischen Theorie aufgefasst werden. Für unsere spätere Untersuchung der scholê ist es, wie bereits kurz anhand der Position von Höffe und Pellegrin angedeutet, wichtig festzuhalten, dass die grundlegenden politischen Gemeinschaften keine einseitigen, machtbezogenen Verbindungen darstellen, sondern einen gemeinsamen Nutzen dieser Beziehungen für jeweils beide Seiten erkennen lassen.11 Auf dieses gegenseitige Nützlichkeitsprinzip weist auch Ricken deutlich hin. Herr und Sklave sind demnach in der aristotelischen Argumentation aufeinander angewiesen, der „Sklave auf die planende, vorausschauende Vernunft des Herrn und der Herr auf die Kör|| 10 Pellegrin führt weiter dazu aus, dass der „Sklave von Natur aus“ seiner Interpretation nach grundsätzlich nicht für eine bestimmte Arbeit, sondern für eine Beziehung vorgesehen ist. Hinzu kommt, dass der Sklave es durch seine Tätigkeiten erst möglich macht, dass der Regierende sich dem Leben des Bürgers und dabei seinen bürgerlichen Pflichten zuwenden kann (vgl. Pellegrin: 2001, 57). Dies ist wiederum für den Sklaven selbst von Interesse und wohl auch im Sinne der ganzen Polis. 11 In Pol. I 4 wird zusätzlich zu den Paaren Mann und Frau, Herr und Sklave auch die Beziehung Vater und Kind eingeführt (Pol. I 3, 1253b6).

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perkraft des Sklaven“ (Ricken: 2007, 200). Ähnlich dazu Gigon: streng genommen „würde also jeder von beiden zugrunde gehen, wenn er auf sich allein gestellt wäre“ (Gigon: 1973, 107). Aus den zuvor genannten natürlichen Verhältnissen bzw. Gemeinschaften entsteht, so fährt Aristoteles in Politik I 2 fort, die häusliche Gemeinschaft, das Haus (oikos) (Pol. I 2, 1252b9). Das Haus setzt sich aus Mann und Frau, deren etwaigen Kindern sowie dem Sklaven (bzw. dem Knecht) zusammen. Der oikos verkörpert für Aristoteles jene Art von Gemeinschaft, die das tägliche Leben praktisch zu organisieren und möglichst vorausschauend zu verwalten hat. Auch die Eudemische Ethik verweist auf die Wichtigkeit der Hausgemeinschaft, die ebenso in Politik I 2 deutlich angesprochen wird: »Denn der Mensch ist nicht nur ein für die Polisgemeinschaft, sondern auch ein für die Hausgemeinschaft bestimmtes Wesen, [...]« (EE VII 10, 1242a23).

Dieser Satz aus der Eudemischen Ethik erinnert stark an die erste Grundlegung der aristotelischen politischen Anthropologie des Menschen als ein politisches Lebewesen, auf die wir gleich zu sprechen kommen werden. Zuerst finden wir jedoch weiters in der Eudemischen Ethik eine Begründung für die Aussage des Aristoteles, dass der Mensch ein Wesen ist, das nicht ausschließlich in die Polis gehört, sondern auch in das Haus. Denn: »In der Hausgemeinschaft also (werden) zuerst die Anfänge und Quellen von Freundschaft und Recht (sichtbar)« (EE VII 10, 1242b1).

Somit ist ersichtlich, dass oikos nicht nur Haus oder Haushalt meint, sondern insbesondere eine häusliche Gemeinschaft bedeutet. Bemerkenswert an der Argumentation in der Politik ist, dass Aristoteles die zuvor gebrachte Ableitung des Hauses aus seinen beiden eingangs genannten natürlichen Gemeinschaften mit Verweisen auf Hesiod, Charondas und Epimenides entwickelt und wenige Zeilen später Homer zitiert, wenn auch bereits in einem anderen Kontext (Pol. I 2, 1252b10ff). Der Bezug auf so viele Dichter macht deutlich, wie wichtig diese Stelle Aristoteles gewesen sein muss, wenn er z.B. auf die bekannte und vielfach zitierte Aussage Hesiods aus dem Lehrgedicht der Werke und Tage zurückgreift: »Erst ein Haus, dann eine Frau und den Ochsen zum Pflügen; [...]« (Hesiod: Werke und Tage, 404).

Es ist ebenso an dieser Stelle wichtig darauf hinzuweisen, dass Aristoteles im Hinblick auf das Verhältnis von Mann und Frau, wie auch schon zuvor bei jenem von Herr und Sklave, nicht von einem einseitigen Nutzens- oder Machtver-

68 | (Politische) Autarkie hältnis des Mannes spricht, wie wir bereits gemeinsam mit Höffe und insbesondere mit Ricken argumentiert haben. Denn für das Haus haben beide Partner, Mann und Frau, nach aristotelischer Auffassung Verantwortung, selbst wenn der Mann derjenige ist, der dem Haus vorsteht.12 Aus mehreren dieser Häuser tritt eine weitere Gemeinschaft zusammen, um spezifisch jene Dinge zu regeln und zu verwalten, die über die tagtäglichen Bedürfnisse hinausgehen und mehrere Menschen, nicht nur ausschließlich die Mitglieder einer Familie untereinander, betreffen. So bildet sich das Dorf (kômê). Mehrere Dörfer bzw. unterschiedliche „Bezirke“ zusammen bilden letztendlich die Polis. So heißt es bei Aristoteles an einer für die hier vorliegende Studie zentralen Stelle in Politik I 2: »Die aus mehreren Dörfern sich bildende vollendete Gemeinschaft nun aber ist bereits der Staat, welcher, wie man wohl sagen darf, das Endziel völliger Selbstgenügsamkeit (autarkeia) erreicht hat, indem er zwar entsteht um des bloßen Lebens [zên], aber besteht um des vollendeten Lebens willen [eu zên]« (Pol. I 2, 1252b27ff).

An dieser Stelle in Politik I 2 begegnen wir also nun dem Begriff der Autarkie und stellen fest, dass dieser in einem starken Bezug zur politischen Gemeinschaft der Polis verwendet wird. Die Bildung einer Polis ist für Aristoteles ebenso natürlich wie jene anfangs beschriebenen Gemeinschaften von Mann und Frau, Regierenden und Regierten sowie die Gemeinschaft des Hauses oder des Dorfes. Die Polis ist das Endziel der politischen Gemeinschaften, da sie dem Menschen Autarkie ermöglicht. Aristoteles bezeichnet die Selbstgenügsamkeit in diesem Zusammenhang als „Endzweck und das Beste“ (Pol. I 2, 1252b33). Aristoteles geht auf seinen Autarkie-Begriff an dieser Stelle jedoch nicht genauer ein, sondern leitet gleich zu seinen beiden fundamentalen anthropologischen Definitionen über, dem zôon politikon – dem Menschen als politisches Lebewesen, sowie dem zôon logon echon – dem Menschen als vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen (Pol. I 2, 1253a1ff). Diese beiden Definitionen wurden in der philosophischen Forschung und darüber hinaus vielfach und überaus heterogen interpretiert, worauf unter anderen Kullmann hinweist.13 Einer der vielleicht wichtigsten Aspekte bei der Auslegung des Begriffs zôon politikon || 12 Höffe äußert sich zu den Problematiken des Verhältnisses von Mann und Frau in der aristotelischen Argumentation, hierbei insbesondere in der Pol. (vgl. Höffe: 2006a, 258ff). 13 „Zu den geflügelten Worten des Aristoteles gehört der Satz, dass der Mensch ein zôon politikon ist. Er teilt das Schicksal aller geflügelten Worte, unabhängig von seiner ursprünglichen Verwendung gebraucht zu werden“ (Kullmann: 1980, 419). Eine leicht überarbeitete Version dieses Textes, aus dem das angeführte Zitat von Kullmann stammt, findet sich in Kullmann: 1998, 334-361.

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ist, dass Aristoteles das Adjektiv „politisch“ nicht allein auf den Menschen bezieht, sondern ebenso auf andere Lebewesen. In der Tierkunde I 1 differenziert er die allein existierenden Lebewesen von denen, die in Herden leben. Die in Herden existierenden Lebewesen teilt er weiter in verstreut lebende und eben auch in politisch lebende Tiere. Als Beispiel solcher „politischen Tiere“ nennt Aristoteles nicht nur den Menschen, sondern auch die Bienen, die Wespen, die Kraniche und die Ameisen. Sie alle sind seiner Einschätzung nach Lebewesen, die durch ihr Zusammenleben in Gemeinschaft ihre jeweilige Natur entfalten. Alle diese Lebewesen vollbringen im Zusammenleben eine gemeinschaftliche Leistung, das koinon ergon (vgl. Höffe: 2001, 24). Wir sehen also, dass die Definition des Menschen als zôon politikon in ihrem Ursprung zuerst einmal als eine biologische Aussage zu verstehen ist, die Aristoteles offensichtlich auch in seine Politik übernommen hat (vgl. Kullmann: 1980, 430). Der Mensch wird in Tierkunde I 1, wie gezeigt, nur als eines unter vielen anderen „politischen Tieren“ angesehen, die alle diese spezifische Eigenschaft „politisch“ aufweisen.14 Die Bezeichnung „politisches Tier“ wird insbesondere im anglo-amerikanischen Diskurs hervorgehoben, wo als Übersetzung des aristotelischen Begriffs zôon politikon fast ausschließlich „political animal“ gewählt wird (vgl. Keyt/Miller: 1991, 9). Auf diesen Zusammenhang von Natur und Mensch im aristotelischen Denken weist auch erneut Höffe deutlich hin. Trotz aller Sonderstellung des Menschen ist er ein Teil der Natur. Vor allem mit dem Tier, in Abgrenzung zu den Pflanzen, hat der Mensch „Wesentliches gemeinsam“ (Höffe: 1992, 10).15 Dennoch spricht Aristoteles dem Menschen im Vergleich zu den anderen Lebewesen einen besonderen Stellenwert zu. Der Mensch ist zwar, wie auch das Tier, auf der einen Seite ein biologisches Lebewesen, dennoch steht er auf der anderen Seite mit seinen (spezifisch menschlichen) Fähigkeiten eindeutig an der || 14 Kullmann dazu weiter: „Ich denke, es ist angemessen festzuhalten, dass wir es bei Aristotelesʼ Satz mit einer grundlegenden biologisch-anthropologischen Einsicht zu tun haben, die von vornherein seine politischen Untersuchungen auf ein sehr festes Fundament stellt, das fester ist als viele Grundlegungen neuerer Zeit“ (Kullmann: 1980, 434). 15 Höffe streicht in dieser Untersuchung weiters hervor, dass die philosophische Anthropologie ihrer Wortgeschichte nach zwar erst in der Neuzeit beginne, die Sache selbst jedoch deutlich älter sei: „Die abendländische Anthropologie besteht aus einer Reihe von Fußnoten zu jenen zwei auf die griechische Antike zurückgehenden Grundaussagen, die vielfach miteinander verklammert sind. Erstens ist der Mensch ein Tier, das – sowohl mit sich wie mit anderen – spricht: zôon logon echon; zweitens ist er darauf angelegt, in einem Gemeinwesen nach selbstgegebenen Gesetzen zu leben; er ist ein politisches Tier [von Natur aus]: physei politikon zôon“ (Höffe: 1992, 5). Vgl. weiters zum Begriff und den Themen der philosophischen Anthropologie als Fachdisziplin in der Neuzeit Haeffner: 2000, 13ff.

70 | (Politische) Autarkie Spitze der Natur (Part. an. II 10, 656a7ff; Hist. an. VIII 1, 588b4ff; Gen. an. II 1, 732b15ff). Oftmals wurde das Politische jedoch als das spezifisch menschliche Charakteristikum, welches er dem Tier voraus hat, verstanden, was jedoch eine verkürzte Ansicht dieser Anthropologie darstellt.16 Der zôon politikon ist zu einem Grundbegriff der abendländischen philosophischen Anthropologie geworden und ist eng mit dem zôon logon echon verschränkt.17 Mit diesem Zusatz wird deutlich, was den Menschen gegenüber den anderen Tieren und Lebewesen hervorhebt, wie Aristoteles ausführt: »Dass ferner der Mensch in weit höherem Maße als die Bienen und alle anderen herdenweise lebenden Tiere ein politisches Lebewesen ist, liegt klar zutage. [...]. Der Mensch ist aber das einzige Lebewesen, das Sprache (logos) besitzt« (Pol. I 2, 1253a8ff).

Stimme (phônê), so fährt Aristoteles fort, haben viele andere Lebewesen auch. Dem Menschen kommt jedoch alleine der logos, also Sprache und Vernunft zu. Die Stimme eines Lebewesens kann generell das Angenehme und das Unangenehme kundtun und so voneinander trennen. Die Sprache des Menschen, so Aristoteles, ist jedoch alleine dazu in der Lage, das Nützliche und das Schädliche, das Gerechte und das Ungerechte im moralischen Sinne zur Sprache zu bringen. »Denn das ist eben dem Menschen eigentümlich im Gegensatz zu den Tieren, dass er allein fähig ist, sich vom Guten (agathon) und Schlechten (kakon), von Recht und Unrecht Vorstellungen zu machen. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Vorstellungen ruft aber eben Haus und Staat ins Leben« (Pol. I 2, 1253a15ff).

Der Mensch ist also im Vergleich zu allen anderen politischen Tieren ein Wesen, das sich über Recht und Unrecht Gedanken machen und diese artikulieren, reflektieren bzw. systematisieren kann. In der Einigung über diese Vorstellungen entstehen nach Aristoteles das Haus und die Polis. Das Ziel des menschlichen Zusammenlebens in dieser Gemeinschaft hat Aristoteles, wie zuvor gezeigt, in Politik I 2 kurz angedeutet. Es heißt zunächst einmal Selbstgenüg|| 16 „Wir sehen daraus auf jeden Fall, dass ,politisch‘ nach Aristoteles nicht etwa die spezifische Differenz des Menschen ausmacht. Dies muss gegen Eduard Meyer und einige andere von Hegel bzw. Karl Marx her den Aristoteles interpretierende Gelehrte gesagt werden. ,Politisch‘ ist eine wesentliche Eigenschaft des Menschen, sie ist aber nicht auf diesen eingeschränkt“ (Kullmann: 1983, 461). 17 Hierbei wird ein Problem virulent, das zwischen der zôon logon echon-Anthropologie und der „Lehre des Sklaven von Natur aus“ besteht. Ist jeder Mensch ein vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen oder bilden die Sklaven von Natur aus eine Gruppe, die von dieser Definition ausgeschlossen sind? Siehe dazu Gigon: 1973, 20ff.

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samkeit, Autarkie. Denn der Mensch kann alleine, kann sich selbst nicht genug sein und bedarf deshalb der Gemeinschaft mit dem jeweiligen Partner, der Gemeinschaft der Familie, des Hauses, des Dorfes und der Polis (Pol. I 2, 1253a26). Aufgrund dessen gehört der Mensch für Aristoteles von Natur aus in die Gemeinschaft. Denn den Menschen, losgerissen von diesen zuvor genannten Gemeinschaften und den gemeinsamen Vorstellungen von Recht und Unrecht, bezeichnet Aristoteles als das schlimmste und übelste Lebewesen; den Menschen in seiner vollen Natur entfaltet, also innerhalb von Gemeinschaft hingegen, als das edelste (Pol. I 2, 1253a31).18 Wer als Mensch jedoch keiner (politischen) Gemeinschaft bedarf, da er sich selbst vermeintlich genug, also autark ist, der ist für Aristoteles kein Teil der Polis und somit entweder ein „wildes Tier“19 oder aber ein Gott (Pol. I 2, 1253a28).20 In diesen von Aristoteles entwickelten Strukturen der menschlichen politischen Gemeinschaften entfaltet sich die sozialanthropologische Dimension der Autarkie – beginnend mit dem Verhältnis von Mann und Frau, dazu gehörend auch das Verhältnis von Vater und Kind, über das Verhältnis des von Natur aus Regierenden und des Regierten bis hin zu den sozialen Bindungen von Haus, Dorf und Polis. Im politischen Verband der Polis letztendlich, die zu Beginn um des „bloßen Lebens willens“ entsteht (Pol. I 2, 1252b29), bietet sich dem Menschen der notwendige Rahmen für seine Lebensgestaltung, für seine Existenz als Mensch in Gemeinschaft. Ziel von Politik I 2 ist nicht die Bevorzugung der Gemeinschaft vor dem Einzelnen, auch nicht die des Staates gegenüber dem Einzelnen, sondern die Herausarbeitung der Mangelhaftigkeit der Autarkie des einzelnen Menschen, sowie dieser auf sich alleine gestellt wäre. Ohne die Gemeinschaft mit anderen Menschen erscheint demnach der Einzelne als nicht lebensfähig (vgl. Kullmann: 1998, 318). Da jener isoliert betrachtet sich selbst nicht genug sein kann, bedarf es dieser Dimension der Autarkie, die ihm zunächst das physische Überleben ermöglicht und absichert. Denn Aristoteles || 18 So liest auch Ricken die entsprechende Stelle bei Aristoteles: „Löst der Mensch sich aus der Gemeinschaft von Recht und Gesetz, so wird er zum schlimmen Tier“ (Ricken: 2007, 199f). 19 In der MM finden wir genauere Angaben zu diesem Terminus. So heißt es in Bezug auf die Tugendhaftigkeit des Menschen und dessen Gegenteil: »Das tierische Wesen ist, so kann man sagen, Schlechtigkeit im Übermaß. Wenn wir nämlich einen durch und durch minderwertigen Menschen sehen, so sagen wir, er sei nicht einmal mehr ein Mensch, sondern ein Tier, setzen also dabei voraus, dass eine gewisse Form von Schlechtigkeit tierisches Wesen ist.« Später heißt es dazu: »Und weiter (ist es so) wie bei der von uns als „tierisches Wesen“ bezeichneten Schlechtigkeit: sie ist nicht am Tier zu beobachten, sondern am Menschen – „tierisches Wesen“ ist ja der Name für die alles Maß übersteigende Schlechtigkeit« (MM II 5, 1200b13ff). 20 Denn wie bereits zuvor in der allgemeinen Betrachtung der Autarkie einleitend angeführt (vgl. Kap. 3.), ist für Aristoteles das Göttliche autark.

72 | (Politische) Autarkie beschreibt zu Beginn des zentralen Kapitels Politik I 2 jene Gemeinschaften, die ohne den jeweils anderen Teil nicht bestehen können. Der Mensch findet in diesen Gemeinschaften sein vorläufiges Auskommen in Bezug auf sein „bloßes Leben“. Diese sozialanthropologischen Grundlagen aus Politik I 2, die aufgrund ihrer Wichtigkeit für die Politik umfangreicher dargestellt wurden, bilden eine erste Dimension der politischen Autarkie. Doch Aristoteles deutet weitere Bedeutungen an, wenn er sagt, dass die Polis um des bloßen Lebens willen entsteht, aber fortbesteht um des vollendeten Lebens willen (Pol. I 2, 1252b30).

3.2 Die ökonomische Dimension Der zweite Aspekt der politischen Autarkie bei Aristoteles ist die ökonomische Dimension, verstanden als wirtschaftliches Genügen bzw. Auskommen, als das „Rundum-Genughaben“ des Menschen aus primär materieller Sichtweise heraus (Höffe: 2001, 188).21 Dieses Thema wird vor allem in Politik I 8 bis 11 behandelt, wo Aristoteles über jeglichen Erwerb von Gütern sowie über die von ihm so bezeichnete „natürliche“ und „unnatürliche“ Erwerbskunst spricht. Die Erwerbskunde (ktêtikê), die ein Teil der Hausverwaltungskunde (oikonomikê) ist, hat zum Ziel, einen ausreichenden Vorrat an jenen Gegenständen und Gütern zusammenzubringen, die für das Leben als notwendig erachtet werden (für einen absehbaren Zeitraum) und sich als nützlich oder aber auch als angenehm für die häusliche oder staatliche Gemeinschaft erweisen (Pol. I 8, 1256b27ff); sei es durch Erträge des eigenen Ackerbaus, der Vieh- oder Fischzucht, durch die Jagd oder aber durch den Tausch- und Handelsverkehr von Waren aller Art. Aristoteles bezeichnet diese Tätigkeiten als „natürliche Erwerbskunst“. Es sind dies jene Tätigkeiten, welchen die Hausverwalter, aber ebenso die Staatsmänner nachgehen (Pol. I 8, 1256b36). Ziel dieses Handelns ist es, den Mangel dort, wo er lokalisiert wird und die Selbstgenügsamkeit stört bzw. beeinflusst, auszugleichen. In dem geordneten Erwerb und in der sachgemäßen Verwaltung wirtschaftlicher Grundgüter ortet Aristoteles den wahren Reichtum einer politischen Gemeinschaft, sei es innerhalb des Hauses oder der Polis.

|| 21 Meikle weist in seiner Untersuchung zur aristotelischen Ökonomie auf die Problematik der Übersetzung von autarkês hin und dabei, ähnlich wie Höffe, auf seine Bedeutung als ein „Rundum-Genughaben“. „[...] the usual translation of autarkês as self-sufficient is not always appropriate. The main meaning Aristotle gives is that of having enough, and its secondary meaning is that of being independent of others, [...]“ (Meikle: 1995, 44).

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Doch das ökonomische Auskommen und die Güteransammlung ist keine unbegrenzte Tätigkeit. Denn das zu einem zweckentsprechenden Leben genügende Maß des Besitzens setzt sich, so Aristoteles, nicht ins Unendliche fort. Vielmehr liegt der Reichtum in der ökonomischen Dimension der Autarkie darin, dass die politische Gemeinschaft eine ausreichende Menge an Mitteln und an Werkzeugen zur Verfügung hat, die für die Erwerbstätigkeiten zur Erlangung des Notwendigen benötigt werden. Dies ist jedoch, wie gesagt, kein unendlicher Prozess: »Denn in keiner einzigen Kunst gibt es Werkzeuge, denen die Unendlichkeit zukäme weder an Menge noch an Größe, der Reichtum aber ist eben nichts anderes als die Menge von Mitteln und Werkzeugen für die Haus- und Staatsverwaltung« (Pol. I 8, 1256b35ff).

Die Ökonomik als Lehre von Besitztum und den Werkzeugen im weiteren Sinne für das eigene Wirtschaften ist ebenso durch das Prinzip des Maßes bestimmt, wie es in der gesamten Lehre von Ethik und Politik bei Aristoteles Thema ist. Dies gilt auch in Bezug auf das Geld und die Geldwirtschaft. In Politik I 9 widmet sich Aristoteles der Kunst des Gelderwerbs (chrêmatistikê), welche für ihn keine naturgemäße Erwerbskunst ist, sondern vielmehr das Ergebnis aus Erfahrung und Kunstfertigkeit. Die Kunst des Gelderwerbs trägt jedoch dazu bei, dass es scheinbar für Reichtum und Besitz keine Grenzen zu geben scheint.22 Der anfängliche Tauschhandel, den Aristoteles in Politik I 8 als naturgemäße Erwerbskunde definiert hat, sei zu dem Zweck entstanden, jene Mängel der politischen Gemeinschaften auszugleichen, die der „natürlichen Selbstgenügsamkeit des Lebens im Wege stehen“ (Pol. I 9, 1257a30). Das Geld als Tauschmittel, fährt Aristoteles fort, entstand vielmehr aus praktischen Gründen und wurde als Instrument für weit reichende Transaktionen eingeführt, um den Handel zu erleichtern, jedoch nicht als Selbstzweck. Das Geld ist somit aus der unmittelbaren Praxis des Handels heraus entstanden, für die Vereinfachung der Tauschgeschäfte, nicht zur blinden Anhäufung, worin Aristoteles das Übermaß erkennt. Die aristotelische Ökonomik ist demnach, wie Koslowski analysiert, keine moderne Wirtschaftstheorie im Sinne einer Theorie optimaler Produktion nach primär ökonomischen Prinzipien. Vielmehr lehnt Aristoteles eine Wirtschaftstheorie, verstanden als Nutzen- und Gewinnmaximierung bzw. -optimierung, ab

|| 22 Wie schon anhand der Diskussion der Lebensformen in EN I 3 gezeigt, setzt sich Aristoteles auch mit dem Leben des Gelderwerbs auseinander und prüft es hinsichtlich der Tauglichkeit für die umfassende Glückseligkeit (vgl. Kap. 1.4): »Das Leben des Gelderwerbs hat etwas Erzwungenes, und der Reichtum ist sicher nicht das gesuchte Gut. Denn er ist nützlich, das heißt, er wird (nur) anderem zuliebe erstrebt« (EN I 3, 1096a5ff).

74 | (Politische) Autarkie (vgl. Koslowski: 1993, 50). Denn die Gelderwerbskunde betreibt den Tausch nicht mehr zu dem Zweck, einen Mangel auszugleichen und daher nicht mehr um der Autarkie willen, sondern um durch den Tausch Geld und Reichtümer anzusammeln und somit stetig zu vermehren (vgl. Koslowski: 1993, 57).23 Gronemeyer hat die Interpretationen von Koslowski teilweise einer Kritik unterzogen (vgl. Gronemeyer: 2007, 17, 196, 208). Jedoch weist in ähnlicher Art und Weise auch dieser darauf hin, dass die aus seiner Sicht nach wie vor aktuelle Forderung des Aristoteles hier darin liege, dem Humanen gegenüber dem Ökonomischen prinzipiell einen Vorrang einzuräumen (vgl. Gronemeyer: 18, 211ff).24 Aus den zuvor zitierten Kapitel Politik I 8 und 9 geht hervor, dass die ökonomische Dimension der Autarkie, verstanden als wirtschaftliche Selbstgenügsamkeit in Bezug auf äußere und körperliche Güter, nicht ins Uferlose reicht. Aristoteles ist sich jedoch der Wichtigkeit dieser ökonomischen Dimension und der Notwendigkeit der einzelnen Güter für den Menschen durchaus bewusst, was wir auch schon in Bezug auf Politik VII 1 bis 3 gesehen haben, als er davon gesprochen hat, dass es ausreichender äußerer Güter bedarf, wenn der Mensch ein tugendhaftes Leben führen möchte. Das „wirtschaftliche Wohlergehen“, mit dem Fokus auf der temporären „Selbstversorgung einer Gemeinschaft“, ist also bei Aristoteles durchaus Thema (Höffe: 1994, 266). Denn es bedarf eben, so auch ganz im Verständnis der Nikomachischen Ethik, der Erfüllung und der Absicherung von äußeren, körperlichen und seelischen Gütern.25 Die beiden zuerst genannten Güter, so Aristoteles, sind jedoch jene, die dem Menschen zumeist als primäre Güter erscheinen,

|| 23 Koslowski dazu weiter: „Die Wirtschaftswissenschaft im modernen Sinn ist für Aristoteles demnach kein Gegenstand der Praktischen Philosophie. Fragen der maximalen Produktion bei minimalen Kosten, der Nutzenmaximierung, der optimalen Ressourcenallokation und ähnliche Fragen optimalen Wirtschaftens liegen ebenso außerhalb des Interesses der Praktischen Philosophie wie technische Fragen“ (Koslowski: 1993, 59). 24 Generell ist anzumerken, dass die aristotelische Ökonomie nach wie vor zu Diskussionen anregt, worauf unter anderem Bürgin hinweist: „Ebenso umstritten bleibt bis heute insbesondere die Lehre über die Wirtschaft des Aristoteles, die Ökonomik: ist er ein Vorläufer der modernen Ökonomie oder sind bei ihm in keinster Art und Weise Ansätze dazu anzufinden?“ (Bürgin: 1996, 29). Auch Bürgin setzt sich im Übrigen teilweise kritisch mit den Thesen von Koslowski auseinander (vgl. Bürgin: 1996, 122ff). 25 Vgl. dazu: EN I 8, 9; Rhet. I 5, 1361a14ff. In der Rhet. findet sich eine lange Auflistung des menschlichen „materiellen und körperlichen Wohls“, wozu unter anderem Freunde, Reichtum, Nachwuchs, glückliches Altern, Gesundheit, Schönheit, Kraft, etc., zählen. In Pol. VII 1, 1323a25ff heißt es dazu: »Denn in der Tat wird niemand diese eine Einteilung bestreiten wollen, dass es dreierlei Güter gibt, die äußeren, die des Leibes und die der Seele, und dass zur Glückseligkeit diese alle erforderlich sind; [...]«. Vgl. dazu auch: EN VII 14, 1153b15ff.

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auch wenn sie das eigentlich seinem Verständnis nach nicht sind. Den Grund dafür lotet Aristoteles wie folgt aus und thematisiert dabei den Unterschied zwischen dem bloßen Leben und dem guten Leben: »Die Ursache solcher Denkweise aber liegt darin, dass die meisten Menschen nur um das Leben [τὸ ζῆν,] und nicht um das vollkommene Leben [τὸ εὖ ζῆν] sorgen, und da nun die Lust zum Leben ins Endlose geht, so trachten sie auch, die Mittel zum Leben ins Endlose anzuhäufen« (Pol. I 9, 1257b40ff).26

Das Wirtschaften ist für Haus und Polis gleichermaßen, zur Sicherung der temporären Autarkie aus ökonomischer Perspektive – im Sinne des vorübergehenden Auskommens und des „Rundum-Genughabens“ – eine der grundlegendsten Tätigkeiten, die jedoch dem aristotelischen Verständnis nach ihre natürlichen Grenzen haben. Denn Ziel des Wirtschaftens ist die „hinreichende Ausstattung mit äußeren Gütern“. Somit ist die Ökonomie dem aristotelischen Verständnis nach „Grundlage, nicht Inhalt des guten Lebens“ (Gronemeyer: 2007, 107). Um im Sinne der ökonomischen Dimension autark zu werden, bedarf es ausschließlich der richtigen Zusammensetzung aller Güter in einem ausreichenden Maß, nicht des Überflusses.27 Darauf weist Aristoteles, wie wir es einleitend zu dieser Untersuchung der politischen Autarkie angeführt haben, ebenso in Politik VII 1 hin. Die beiden ersten genannten Dimensionen der politischen Autarkie, die sozialanthropologische wie auch die ökonomische, beziehen sich demnach primär, aber letztere nicht ausschließlich, auf das physische Überleben des Menschen innerhalb von Gemeinschaft.

|| 26 Die hier von Aristoteles angedeutete Differenzierung von „bloßem Leben“ auf der einen Seite und „vollkommenem Leben“ auf der anderen Seite wird später auch in Pol. VII/VIII in Bezug auf die scholê thematisiert werden. 27 Dazu nochmals Koslowski: „Daraus folgt, dass die Aristotelische Ökonomik keine Theorie des ,rationalen‘ Wirtschaftens, keine Wirtschaftswissenschaft, sondern ein Teil der Wissenschaft der vernünftigen Herrschaft, der Politik ist und höchstens als ,Metaökonomie‘ beschrieben werden kann. Die Wirtschaftswissenschaft im eigentlichen Sinn hat Aristoteles aus der Behandlung der Praktischen Philosophie ausgeschlossen“ (Koslowski: 1993, 64). Dieser Auffassung widerspricht Gronemeyer zum Teil. Er meint hingegen zu erkennen, dass „sich zu Aristotelesʼ Zeit die Wirtschaft aus ihrer gemeinschaftlichen Einbettung herauszulösen beginnt – d.h. die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen tritt aus dem privaten Rahmen des oikos heraus an die Öffentlichkeit – und mit dieser separaten Existenz [wird die Wirtschaft] zugleich Gegenstand eigenständiger Forschung“ (Gronemeyer: 2007, 17).

76 | (Politische) Autarkie

3.3 Die staatsbürgerliche Dimension In Politik III 1 bearbeitet Aristoteles mehrere Themen, setzt sich jedoch im Prinzip insbesondere mit zwei Fragen auseinander. Zum einen mit der Frage, was ein Bürger überhaupt ist, sowie zum anderen mit der Frage, welchen Einwohnern einer Polis allgemein betrachtet Bürgerrechte zugesprochen werden sollen (Pol. III 1, 1275a1ff).28 Aufgrund dessen soll Politik III 1 hier kurz Erwähnung finden, da sich anhand einiger Gedanken daraus die staatsbürgerliche Dimension der politischen Autarkie kompakt nachzeichnen lässt, – selbst wenn, wie Frede bemerkt, es sich bei Politik III formal und inhaltlich im Vergleich zu den anderen Büchern um einen neuen Ansatz handelt (vgl. Frede: 2001, 75). Für unser Ziel, Politik VII und VIII in Bezug auf den hairetôtatos bios und die aristê politeia mit dem besonderen Fokus auf die scholê zu interpretieren, ist Politik III 1 überaus interessant, zumal Aristoteles sich mit Themen auseinandersetzt, die für den Staat nach bestem Ermessen ebenso Relevanz haben. Das Bürgerrecht ist in der Antike ein streng geregeltes Recht. Die PolisGemeinschaften, z.B. in Athen oder in Sparta, hatten ihr Bürgerrecht genau definiert und dadurch in gewisser Hinsicht auch limitiert. Nicht jedem Einwohner einer Polis kam automatisch aufgrund seines Wohnorts das Bürgerrecht zu. Darüber spricht nun Aristoteles in Politik III 1, wenn er klarstellt, dass das Wohnen an einem bestimmten Ort noch nicht automatisch Bürgerrechte mit sich bringt. Als Beispiele führt er die zugezogenen Übersiedler (metoikoi) an, zu denen Aristoteles selbst gehört hat, sowie die Sklaven, welche ebenfalls keine Bürgerrechte besaßen. Diese Gruppen, Sklaven und Zuwanderer, wohnen zwar mit den Bürgern einer Polis in dieser zusammen, können jedoch keine bürgerlichen Rechte ihr eigen nennen (Pol. III 1, 1275a6ff). Auf die erste der beiden eingangs gestellten Fragen antwortet Aristoteles, dass jene Menschen als Bürger zu bezeichnen sind, die am Regieren und am Richten einer Polis teilhaben (Pol. III 1, 1275a23). Um diese Aussage besser verstehen zu können, werfen wir einen kurzen Blick auf die aristotelische Sichtweise von den politischen Ämtern. Diese sind in zweifacher Weise zu unterscheiden. Zum einen gibt es innerhalb der Polis die zeitlich befristeten Regie-

|| 28 „Die Entscheidung, den Erörterungen der Staatsverfassung eine Analyse des Staatsbürgers voranzustellen, ist keine pragmatische Entscheidung für den Teil vor dem Ganzen. Sie gibt vielmehr Auskunft über das Thema, das hier zur Diskussion ansteht, nämlich eine Analyse der Polis unter dem Aspekt der Interpendenzen von Staatsbürger (politês) und Verfassungsform (politeia)“ (Frede: 2001, 76).

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rungsämter, die von bestimmten Personen nur für einen gewissen Zeitraum wahrgenommen werden. Zum andern gibt es jene Ämter, die ohne zeitliche Beschränkung und von jedem Bürger der Polis aufgrund der Bürgerschaft selbst wahrgenommen werden müssen, so z.B. die Mitgliedschaft im Volksgericht als Richter oder Geschworener (dikastês) sowie die Verpflichtung als ständiger Teilnehmer an der Volksversammlung (ekklêsiastês). Diese beiden zuletzt genannten politischen Gremien – deren Darstellungen bei Aristoteles einen hohen althistorischen Wert besitzen – bezeichnet er als „nicht an besondere Bestimmungen gebundene Regierungsgewalt“ (Pol. III 1, 1275a33), zumal jene nicht als politische Ämter im klassischen Sinne zu verstehen sind, sondern mehr als grundsätzliche politische Verpflichtungen des Bürgers schlechthin. Bürger, in unserem heutigen Sinne Staatsbürger, sind also jene, die zum einen an Regierungs- oder höheren Verwaltungstätigkeiten des Staates Anteil haben oder haben können, und zum anderen auch (oder zugleich) jene, die aufgrund ihrer Bürgerschaft Zugang zu den beschlussfassenden Gremien, wie zur Volksversammlung oder zum Volksgericht, haben. An dieser Stelle angekommen entwickelt Aristoteles die staatsbürgerliche Dimension der politischen Autarkie. Eine Polis sei nämlich erst dann als eine Polis zu bezeichnen, wenn sich eine Vielzahl von Bürgern, die am Richten und am Regieren derselben Anteil haben können, in ausreichender Zahl zusammenschließen, um ein selbstgenügsames Leben miteinander zu leben. Es heißt dazu an der entsprechenden Stelle: »Was also der Staatsbürger sei, ist hiernach klar. Jeden nämlich, dem in einem Staat der Zutritt zur Teilnahme an der beratenden und richtenden Staatsgewalt desselben offensteht, haben wir auch als Bürger eben dieses Staates zu bezeichnen und den Staat selbst, um es kurz zu sagen, als eine Vielheit solcher Bürger von ausreichender Zahl zu einem selbstgenügsamen (autarkês) Leben« (Pol. III 1, 1275b18ff).

Aristoteles geht an dieser Stelle nicht genauer darauf ein, was eine „ausreichende Zahl“ an Bürgern sein könnte. Dies ist auch gar nicht möglich, da sich diese Definition an der jeweiligen Verfassung der Polis orientieren muss. In einer Demokratie zum Beispiel bedarf es einer größeren Anzahl solcher Bürger als in einer Aristokratie. Auffallend ist allerdings, dass diese Textstelle sehr stark an eine Passage aus Politik VII 8 erinnert, wo es ähnlich heißt: »Denn Staat ist nicht jede beliebige Menschenmenge, sondern eine solche, wie gesagt, die ein sich selbst genügendes Leben zu führen imstande ist; [...]« (Pol. VII 8, 1328b16ff).

Wie eingangs ausgeführt, ist das Bürgerrecht in den unterschiedlichen Poleis der klassischen Zeit ein sehr ausgeklügeltes Recht. Sklaven, Bauern und (Wander-)Händler sind zumeist von diesem Recht ausgeschlossen. Selbst wenn Aris-

78 | (Politische) Autarkie toteles einräumt, dass die Bestimmungen über die Bürgerschaft von Verfassungsform zu Verfassungsform unterschiedlich festzulegen sind (Pol. III 1, 1275b5), so zählt dennoch in keinem Fall die ganze Bevölkerung, also alle Einwohner einer Polis, auch zur Bürgerschaft, was zur damaligen Zeit gängige politische Praxis war. Dennoch soll dieser kritische Punkt nicht unerwähnt bleiben. Wenn Aristoteles in Politik III 1 die staatsbürgerlichen Rechte auf eine gewisse Gruppe einschränkt und dadurch z.B. Metöken und Sklaven von diesen politischen Kompetenzen ausgeschlossen werden, deutet er bereits hier auf eine wichtige und in der Beurteilung und Bewertung seiner politischen Philosophie folgenschwere Differenzierung hin: nämlich auf die Trennung innerhalb der Polis in Bürger und Nichtbürger, auf die wir bereits in den Kritikpunkten an der aristotelischen aristê politeia zu sprechen gekommen sind (vgl. Kap. 2.4). Um die Autarkie einer Polis zu ermöglichen und auch zu bewahren, bedarf es, darauf ist jetzt schon hinzuweisen, sowohl der Bürger als auch der Nichtbürger, selbst wenn diese letzte Gruppe vom Richten und Regieren der Polis und von den politischen Entscheidungsfindungen der Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Es muss betont werden, dass alle Berufsgruppen einer Polis, in diesem Falle bezogen auf die Bürger und die Nichtbürger, stets Teile der Polis sind. Denn auch letztere tragen, so wie die Bürger innerhalb ihrer primär im politischen Bereich angesiedelten Tätigkeiten, dazu bei, dass die Polis autark werden und vor allem auch autark bleiben kann. Bürger einer Polis sind jedoch nur jene, die politische Rechte ihr eigen nennen können. Die Verwaltung der (höheren) öffentlichen, politischen Angelegenheiten sowie auch das Richten sind aus aristotelischer Perspektive ebenso in Politik VII und VIII allein dem Bürgerstand vorbehalten. Zur sozialanthropologischen Autarkie und zur Errichtung und Erhaltung der ökonomischen Autarkie bedarf es der gemeinsamen Tätigkeit und der Anstrengung aller Teile der Polis. Die tatsächlichen Bürgerrechte sind hingegen nur einer gewissen Gruppe vorbehalten, die (historisch betrachtet) meistens sogar eine Minderheit innerhalb der Bevölkerung einer Polis darstellten.29 Die

|| 29 Auf die sozialen Verhältnisse der damaligen Zeit macht unter anderen Gronemeyer aufmerksam. Eigentlich war die klassische Bürgerschaft innerhalb der unterschiedlichen Poleis, im Vergleich zu der Gruppe der Sklaven und Metöken, numerisch in der Unterzahl. Trotzdem hatte der Bürger einen höheren Lebensstandard und genoss eine gesonderte Stellung: „Der steuerpflichtige attische Vollbürger des 4. Jahrhunderts ging, im Großen und Ganzen, keiner Arbeit im heutigen Sinne nach, zumindest keiner produktiven – sein Bestreben war immer, vom Kapitalzins leben zu können. Nahezu die gesamte produktive Wirtschaftsleistung wurde von Sklaven und Metöken (Ausländern mit Bleiberecht) erbracht, die zu dieser Zeit sicherlich über die Hälfte der Bevölkerung stellten“ (Gronemeyer: 2007, 63).

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Autarkie des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen wird sich in der später folgenden Untersuchung darin zeigen, dass er aufgrund seiner vorab zu sichernden Existenz den politischen Verpflichtungen innerhalb der Gemeinschaft der Polis nachkommen kann, und, zumindest in diesem Polis-Konzept, bis zu einem gewissen Grad auch nachkommen muss. Denn so wie die Nichtbürger ihre Tätigkeiten für den Erhalt und somit für die Autarkie der Polis das Ihre beitragen, was zusätzlich in ihrem eigenen Interesse ist, so hat ebenso der Bürger seine Verpflichtungen gegenüber dieser (politischen) Gemeinschaft zu erfüllen. Diese Anforderungen an die Bürgerschaft im Staat nach bestem Ermessen sind bei Aristoteles sehr hoch angesetzt. Doch dieser Aspekt ist später wieder aufzunehmen und genauer zu untersuchen. Der Ansatz dazu lässt sich jedoch schon hier anhand von Politik III 1 ausfindig machen, auch wenn wir hier über zwei Texte mit jeweils unterschiedlicher Ausrichtung sprechen. Wichtig ist es aber festzuhalten, dass Aristoteles an dieser Stelle eigentlich keine bürgerlichen Grundrechte formuliert (vgl. Frede: 2001, 79); vielmehr entwickelt er hier das Grundkonzept einer seiner Ansicht nach erforderlichen, unmittelbaren aktiven Bürgerbeteiligung an der politischen Gestaltung der Polis. Im Hinblick auf die beiden zuvor zitierten Passagen aus Politik III 1 und VII 8 ist festzuhalten, dass für Aristoteles eine Polis dann als politisch autark gelten kann, wenn sie eine ausreichend politisch handlungsfähige und damit verbunden auch eine politisch aktive Bürgerschaft hat, die an die jeweilige Verfassung angepasst ist, politische Entscheidungen in ihren Gremien treffen kann und an dieser Art der Verwaltung selbst Interesse hat. Aristoteles betrachtet den Bürger hier also nicht, wie zuvor schon anhand von Frede gezeigt, ausschließlich nach seinen Rechten, sondern insbesondere auch aufgrund seines Beitrages zur Funktion und zum Erhalt des Staates im Sinne der Autarkie (vgl. Schütrumpf: 1991, 383), also ebenso nach seinen Pflichten.

3.4 Die sozialethische Dimension Das bereits eingangs zu diesem dritten Abschnitt der Untersuchung diskutierte Kapitel Politik I 2, wo unter anderem darüber gesprochen wird, dass die Polis zwar um des bloßen Lebens willen entsteht, jedoch fortbesteht um des guten und gelingenden Lebens willen (Pol. I 2, 1252b27), entfaltet in der gesamten politischen Philosophie des Aristoteles eine große Tragweite. Selbst wenn sich aufgrund der facettenreichen Diskussion der unterschiedlichen Verfassungsformen der Polis in der Politik, von Monarchie, Aristokratie und Politie, ein jeweils anderes Verständnis von „Staatlichkeit“ zeigt, so haben diese PolisVerfassungen, diese Staatsverfassungen dennoch eines gemeinsam. Sie begrei-

80 | (Politische) Autarkie fen die Polis, den politischen Raum des Menschen nicht als zufällige Gemeinschaft des Wohnorts oder als bloßen Garant für die Absicherung der Existenz des Einzelnen. Zwar ist sich Aristoteles bewusst, dass die in den Kapiteln zuvor entwickelten sozialanthropologischen, ökonomischen und auch staatsbürgerlichen Rahmenbedingungen gegeben bzw. geklärt und gut im Sinne ihrer Funktionstüchtigkeit in Bezug auf die Verfassung eingerichtet sein müssen, damit eine Polis überhaupt entstehen und später auch fortbestehen kann. Doch diese Entwicklung allein entspricht nicht dem vollen Verständnis vom Wesen der Polis in Politik I 2. Denn darüber hinaus, und mit dieser Bestimmung eröffnet Aristoteles auch eine sozialethische Dimension der politischen Autarkie, bedarf es der Gemeinschaft von Familien und Häusern, die sich mit dem Ziel eines guten und gelingenden Lebens, dem eu zên, zusammenschließen und dieses realisieren wollen. Um dieses Ziel zu verwirklichen, ist es aus aristotelischer Perspektive zwar notwendig, in denselben Gegenden zu wohnen, Ehebündnisse und Schwägerschaften einzugehen, Freundschaften zu schließen sowie auch in Gemeinschaft den Kultus zu pflegen, wie es Aristoteles in Politik III 9 genauer formuliert (Pol. III 9, 1280b35). Dies alles kann jedoch nur die Grundlage und die Grundvoraussetzung für ein gutes und gelingendes Leben sein, jedoch nicht jenes selbst. Denn in Politik III 9 heißt es in diesem Kontext: »Ein Staat ist also eine Gemeinschaft (koinônia) von Geschlechtern und Dorfgemeinden (kômê) zum Zweck eines vollendeten und sich selbst genügenden Lebens [κοινωνία ζωῆς τελείας καὶ αὐτάρκους], ein solches aber besteht, wie wir behaupten, in einem glückseligen und guten Leben. Als eine Gemeinschaft in guten Handlungen müssen wir mithin die staatliche Gemeinschaft bezeichnen und nicht im bloßen Zusammenleben« (Pol. III 9, 1280b41ff).

Autarkie in der sozialethischen Dimension bedeutet demnach ein unabhängiges Streben des Menschen nach dem guten und gelingenden Leben sowie nach guten Handlungen und Tätigkeiten innerhalb der Gemeinschaft. Den Kernbegriff bei dieser Argumentation bildet die koinônia (vgl. Schütrumpf: 1991, 475). Sie ist, wie Ricken in Bezug auf die aristotelischen Freundschaftsformen argumentiert, auf die wir im nächsten Kapitel zu sprechen kommen werden, ein „Zusammenschluss von Menschen um eines gemeinsam zu verwirklichenden Gutes willen“ (Ricken: 2007, 195).30 Durch diese Lebensweise ist es dem Menschen innerhalb der Gemeinschaft möglich, das letzte, abschließende und daher ebenso autarke Gut, die eudaimonia, zu verwirklichen, wie es Aristoteles zu || 30 Vgl. weiters zum Begriff der koinônia, einem der Grundbegriffe der aristotelischen politischen Theorie, verstanden als Gemeinschaft, Gemeinsamkeit bzw. Teilnahme, Geiger: 2005, 321ff.

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Beginn seiner Nikomachischen Ethik an mehreren Stellen, vor allem aber in I 5 ausführt. Die eudaimonia gilt deshalb als autark, weil sie ein Gut ist, dem nichts mehr hinzugefügt werden kann (bzw. muss) und das nicht um eines anderen Guts willen angestrebt wird. Dieses Gut wird in der Nikomachischen Ethik genauer bestimmt. »Es ist aber klar, dass das beste Gut abschließenden Charakter hat [τὸ δ᾿ ἄριστον τέλειόν τι φαίνεται]. Daher wird, wenn es nur ein einziges Abschließendes gibt, dieses das Gesuchte sein, wenn aber mehrere, dasjenige unter ihnen, welches am meisten abschließend ist« (EN I 5, 1097a27ff).

Die Bestimmung dieses Guts durch Aristoteles in diesem Kapitel der Nikomachischen Ethik lässt nicht lange auf sich warten, denn nur wenige Zeilen später heißt es dazu: »Als derartiges Ziel gilt aber insbesondere das Glück (eudaimonia); dieses nämlich wählen wir immer nur um seiner selbst willen und niemals um anderer Dinge willen, [...]« (EN I 5, 1097b1f).

Am Ende dieses zentralen Kapitels Nikomachische Ethik I 5 bringt Aristoteles schlussendlich den Kern seiner Lehre über die eudaimonia verbunden mit der Autarkie auf den Punkt: »Das Glück erweist sich also als etwas, das abschließend und autark ist; es ist das Ziel all dessen, was wir tun« (EN I 5, 1097b20).

Das bloße Zusammenleben des Menschen, die Gemeinschaft des Wohnorts, die Gemeinschaft des Tauschhandels, etc., macht für sich genommen noch keine Polis aus. Es bedarf vielmehr, wie Politik I 2 zum Ausdruck bringt, der Bereitschaft, sich für ein gutes und gelingendes Leben, mit dem Fokus auf die umfassende eudaimonia gerichtet, (politisch) zusammenzuschließen. In dieser Gemeinschaft – die über jene bloße Form der räumlichen und materiellen Lebensgemeinschaft hinausgehen muss, wenn diese Gemeinschaft ein Leben führen will, das die aristotelische eudaimonia zum Ziel hat, entfaltet sich die sozialethische Dimension der politischen Autarkie. Um diese ansatzweise nachvollziehen zu können, müssen wir erneut die Verschränkungen von Ethik und Politik bemühen (vgl. Kap. 1.2). Denn für eine Untersuchung der sozialethischen Dimension brauchen wir, wie schon zuvor in Bezug auf die eudaimonia, Hinweise aus der Nikomachischen Ethik, in diesem konkretem Falle aus EN I 5, 1097b10, die zur Verdeutlichung in zwei unterschiedlichen Übersetzungsvarianten angeführt wird:

82 | (Politische) Autarkie In der Übersetzung nach Wolf: »Mit „autark“ meinen wir nicht, was für einen Menschen allein genügt, für jemanden, der ein isoliertes Leben führt, sondern was auch für die Eltern, Kinder, Ehefrau, allgemein für die Freunde und Mitbürger genügt, da der Mensch seiner Natur nach in die politische Gemeinschaft gehört.«

In der Übersetzung nach Dirlmeier: »Den Begriff „für sich allein genügend“ wenden wir aber nicht an auf das von allen Bedingungen gelöste Ich, auf das Ich-beschränkte Leben, sondern auf das Leben in der Verflochtenheit mit Eltern, Kindern, der Frau, überhaupt den Freunden und Mitbürgern; denn der Mensch ist von Natur bestimmt für die Gemeinschaft.«

Diese Textstelle beinhaltet den zentralen Gedanken der politischen Autarkie bei Aristoteles. Dieser Ansatz umfasst demnach, in Dirlmeiers Worten, nicht das auf das eigene Ich beschränkte Leben des Menschen, losgelöst von sozialen Strukturen und Bindungen, wie die Übersetzungen von Autarkie und autark als Selbstgenügsamkeit und sich selbst genügen auf einen ersten Blick vielleicht aus heutiger Perspektive vermuten lassen, sondern das Leben des Menschen innerhalb von Gemeinschaft unter anderen Menschen und sozialer Interaktivität in Bezug auf das eu zên. Die Grundlage der politischen Autarkie bildet das im Rahmen der sozialanthropologischen Dimension diskutierte Kapitel Politik I 2, wo Aristoteles den Menschen als zôon politikon und zôon logon echon definiert (vgl. Kap. 3.1). Denn Aristoteles bezeichnet auch hier in Nikomachische Ethik I 5 den Menschen als ein Wesen, das von Natur aus in die politische Gemeinschaft gehört. Diesen politischen Charakter des Autarkie-Begriffs bringt auch Kampert in seiner Autarkie-Studie zur Sprache. Er ist der Ansicht, dass die Autarkie im politischen Verständnis nicht Unabhängigkeit beinhaltet von allem, was „nicht das eigene Selbst“ betrifft, sondern die „Ausbildung und Harmonisierung der eigenen naturgegebenen Anlagen im gemeinschaftlichen Leben“ (Kampert: 2003, 242). In allen bislang interpretierten Dimensionen wurde bereits deutlich, dass der Mensch als Gemeinschaftswesen verstanden wird. Die spezifisch sozialethische Bedeutung des politisch besetzten Autarkie-Begriffs zeigt sich nun darin, dass die Menschen nicht allein um des bloßen Lebens und Überlebens willen zusammenleben, sondern in Bezug auf das gute und gelingende Leben, dem eu zên, das aus aristotelischer Sicht die eudaimonia, das autarke Gut schlechthin, ermöglicht. Dabei ist der Mensch in seiner politischen Existenz auf das Leben und Handeln in Gemeinschaft mit anderen Menschen angewiesen.

Die freundschaftliche Dimension | 83

3.5 Die freundschaftliche Dimension Wie gezeigt wurde, bedarf es für das gute und gelingende Leben des Menschen sozialer Bindungen. Eine besondere Form davon nennt Aristoteles die Freundschaft (philia). Die wichtigsten Gedanken und Ansätze zum Begriff der Freundschaft formuliert er in der Nikomachischen Ethik, und dort in den Büchern VIII und IX. Ricken weist darauf hin, dass Aristoteles somit knapp ein Fünftel seiner ganzen Nikomachischen Ethik der Freundschaft widmet (vgl. Ricken: 2007, 191). Dieses Thema hat jedoch nicht nur eine genuin ethische, sondern auch eine politische Relevanz. Die philia ist in der aristotelischen Terminologie ein relativ weit gefasster und facettenreicher Begriff, der in viele Bereiche der Philosophie der menschlichen Angelegenheiten hineinreicht. Ricken weist unter anderen darauf hin, dass die Übersetzung der philia ins Deutsche mit dem Begriff der Freundschaft nicht gänzlich getroffen wird, da er zu eng erscheint. Denn der Begriff der Freundschaft bei Aristoteles erstreckt sich im Grunde genommen so weit wie jener der politischen Gemeinschaft selbst.31 Mit der Einflechtung der Freundschaft in die politischen Überlegungen, die auch Ricken anspricht, wird die philosophische Ausformulierung des Polis-Gedankens näher an die Ausführungen aus Politik I 2 herangeführt. Die Polis ist, im Kontext mit der philia betrachtet, spätestens mit diesem Zeitpunkt eindeutig mehr als ein bloß „merkantiler Zweckverband“ (Flashar: 1971, 283). Dies lässt sich nicht nur aus der Nikomachischen Ethik herauslesen, sondern wird auch durch eine Stelle aus der im Kapitel zuvor bereits angesprochenen Passage aus Politik III 9 belegt und überaus deutlich, wo es in Bezug auf das menschliche Zusammenleben im Gesamten betrachtet heißt: »Dies alles aber ist ein Werk der Freundschaft, denn Freundschaft ist nichts anderes als die freie Entscheidung (prohairesis), miteinander zu leben« (Pol. III 9, 1280b38).

|| 31 Ricken dazu: „Das deutsche Wort Freundschaft ist zu eng, um das von Aristoteles mit dem griechischen Wort philia Gemeinte zu bezeichnen. Das zeigt die Aufzählung der verschiedenen Formen der philia in EN VIII 11-14. Der aristotelische Begriff der Freundschaft erstreckt sich so weit wie der der Gemeinschaft; in jeder Form der Gemeinschaft findet sich Freundschaft. Freundschaft besteht zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, zwischen Brüdern und Vettern; sie besteht zwischen Reisegefährten und Kriegskameraden und nicht zuletzt zwischen den Bürgern einer Polis und Regierenden und Regierten; die verschiedenen guten Polisverfassungen sind Formen der philia“ (Ricken: 2007, 191).

84 | (Politische) Autarkie Die Freundschaft ist für Aristoteles eine wichtige Grundlage des Lebens in der Polis überhaupt. Aufgrund dessen spricht er auch öfters von der politischen Freundschaft, der politikê philia (EN IX 6, 1167b2). Auf diesen wichtigen Charakter der Freundschaft aus politischer Perspektive kommt Aristoteles gleich zu Beginn seiner Freundschaftsabhandlung in der Nikomachischen Ethik VIII zu sprechen. Denn die philia ist es, so Aristoteles, die ganze Poleis zusammenhält: »Außerdem scheint die Freundschaft die Staaten zusammenzuhalten, und die Gesetzgeber scheinen sich mehr um sie zu bemühen als um die Gerechtigkeit. [...]. Und wenn Menschen Freunde sind, bedarf es nicht der Gerechtigkeit; hingegen bedarf es, wenn sie gerecht sind, zusätzlich der Freundschaft, und als das Gerechteste innerhalb des Gerechten gilt das Freundschaftliche« (EN VIII I, 1155a23ff).

Dieser Gedanke, dass die Freundschaft selbst die große Tugend der Gerechtigkeit übertreffe, hat in vielen Philosophien, die auf Aristoteles folgten, Anklang gefunden, auch in der frühen Neuzeit wie z.B. bei Michel de Montaigne, der sich in seiner Abhandlung über die Freundschaft deutlich und mehrmals auf Aristoteles und dessen Freundschaftsabhandlung bezieht.32 Die Freundschaft wird in dieser Passage aus der Nikomachischen Ethik sehr stark gemacht. Erstens scheint sie, so Aristoteles, ganze Staaten zusammenzuhalten, und zweitens ist sie im Grunde genommen höher zu bewerten als die Gerechtigkeit. Dieser politische Aspekt der philia wird in der Nikomachischen Ethik VIII und IX immer wieder thematisiert. So auch in dem bereits zuvor zitierten Kapitel Nikomachische Ethik IX 6, wo Aristoteles über die Eintracht spricht. Die Freundschaft ist demnach auch für den Gesetzgeber noch wichtiger als die Gerechtigkeit, denn „sie ist der Eintracht (homonoia) ähnlich und vertreibt die Zwietracht (stasis)“ (Höffe: 2005, 446); die Freundschaft im Polis-Verband beruht auf der Basis der Eintracht (vgl. Flashar: 1971, 283). Aristoteles ist es gleich zu Beginn von Nikomachische Ethik IX 6 wichtig, darauf hinzuweisen, dass die homonoia nicht mit der homodoxia, der Gleichheit der Meinung, identisch ist (EN IX 6, 1167a22). Für den zuvor eingeführten Begriff der politischen Freundschaft, der politikê philia, ist die Eintracht, die homonoia, eine überaus wichtige Ergänzung: »Offenbar ist also die Eintracht eine politische Freundschaft, wie sie auch genannt wird. Sie bezieht sich nämlich auf das Förderliche und auf das, was das Leben betrifft« (EN IX 6, 1167b2).

|| 32 »Zu nichts scheint uns die Natur so sehr bestimmt zu haben wie zur Geselligkeit. Und Aristoteles sagt, dass die guten Gesetzgeber mehr Sorge für die Freundschaft als für die Gerechtigkeit trugen. In ihr aber findet die Geselligkeit den letzten Grad ihrer Vollendung« (Montaigne: Von der Freundschaft, 9).

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Die politische Freundschaft lässt sich somit in mindestens zweifacher Art und Weise verstehen: zum einen als Übersteigerung der Gerechtigkeit, die ganze Staaten zusammenhalten und so auch indirekt für politische Stabilität und Sicherheit sorgen kann, worauf auch Höffe, wie zuvor gezeigt, hinweist; zum anderen als eine Form der Eintracht innerhalb der Gemeinschaft, die aber keine Meinungsgleichheit bedeutet, sondern eher eine Art von freundschaftlicher Harmonie im Zusammenleben und im Umgang miteinander bezeichnen soll, wie wir anhand des letzten Zitats gesehen haben.33 In Bezug auf das gute Leben insgesamt spielt die philia ebenso eine bedeutende Rolle. Denn durch freundschaftliche Beziehungen, so Aristoteles, ist es dem Menschen möglich, sein Handeln in Bezug auf die Tugendhaftigkeit hin zu überdenken und so auch zu optimieren. Im Zusammenleben mit Menschen, die in guten Handlungen geschult sind, kann eine gewisse Übung (askêsis) der Menschen untereinander in Bezug auf die Tugenden entstehen (EN IX 9, 1170a11). Selbst der Glücksbegriff wird im letzten Satz in Nikomachische Ethik IX 9 auf die Gemeinschaftlichkeit bezogen, wenn Aristoteles ausführt, dass der glückliche Mensch Freunde braucht, die gute Menschen sind.34 Nach dieser kurzen Einführung zur philia gilt es nun nach ihrer spezifischen Beziehung zur Autarkie zu fragen. In der Nikomachischen Ethik IX 9 wird die Frage aufgeworfen, ob der autarke, also der sich selbst genügende Mensch überhaupt der Freundschaft mit anderen Menschen bedürftig ist, da er ja eigentlich per Definition sich selbst genug sein müsste. Die Antwort auf diese Frage lautet: »Ferner besteht die Meinung, dass der Glückliche angenehm leben müsse. Für einen Einsamen aber ist das Leben beschwerlich. Denn es ist nicht leicht, für sich allein kontinuierlich tätig zu sein, mit anderen zusammen jedoch und in Beziehung auf andere ist es leichter« (EN IX 9, 1170a5ff).

|| 33 In der EE führt Aristoteles aus, dass Eintracht die Freundschaft unter Bürgern sei (EE VII 7, 1241a34). Wenig später heißt es dazu: »Man spricht aber von Freundschaft der Verwandten, der Kameraden und der Genossen, der sogenannten Bürgerfreundschaft. [...]. Bei der Entstehung der Bürgerfreundschaft ist zumeist der Nutzen maßgebend, denn man ist der Ansicht, dass sich die Menschen zusammengeschlossen haben, weil sie nicht autark waren – obwohl sie sich immerhin wohl auch zum Zwecke gemeinschaftlichen Lebens zusammengeschlossen hätten« (EE VII 10, 1242a1ff). Vgl. weiters dazu: EE VII 10, 1242b22ff. 34 Dieser Aspekt ist eine deutlich erkennbare Steigerung gegenüber dem Begriff der Eintracht, also der politischen Freundschaft bzw. der Bürgerfreundschaft, die nach der EE vor allem auf dem Nutzen für die Bürger untereinander basiert. Hier erscheint die philia hingegen als ein eigener Wert für sich.

86 | (Politische) Autarkie Autarkie, hier auch als die Möglichkeit zur kontinuierlichen Tätigkeit schlechthin verstanden, kann der Mensch nur innerhalb der Gemeinschaft erlangen und in ihr aufrecht erhalten. Denn für ein angenehmes Leben, wie Aristoteles hier ausführt, bedarf es des Bezugs des Einzelnen zu anderen Menschen.35 Mit dem philia-Begriff lässt sich auch wiederum die Definition des Menschen als zôon politikon und zôon logon echon ergänzen. Der Mensch kann sich mit anderen Menschen durch Sprache und Vernunft über die Prinzipien des guten und gerechten Lebens austauschen. Diese Beschäftigung erfordert die freundschaftliche Gemeinschaft mit anderen. Darin sieht Aristoteles den Kern des menschlichen Zusammenlebens überhaupt und bringt dabei eine artenspezifische Differenzierung gegenüber anderen Lebewesen ins Spiel, die den Menschen in seiner Art hervorhebt: »Daher muss man zugleich auch vom Freund wahrnehmen, dass er ist; und das wird geschehen im Zusammenleben und im Teilen von Worten (logos) und Gedanken (dianoia). Denn dies dürfte die Rede vom Zusammenleben bei Menschen bedeuten, und nicht wie beim Vieh das Grasen auf derselben Weide« (EN IX 9, 1170b10ff).

Das Grasen auf derselben Weide, also das unbewusste bzw. oberflächliche Nebeneinanderherleben, ist nicht jene Art von politischer Gemeinschaft, für das der Mensch nach Aristoteles von Natur aus angelegt ist. Vielmehr ist es ein Leben in ständiger Anteilnahme auch für andere Menschen, mit dem Fokus auf das gute und gelingende Leben, dem eu zên. In Bezug auf die zuvor gestellte Frage, ob der autarke Mensch überhaupt der Gemeinschaft bedürftig sei, antwortet Aristoteles aber nicht ausschließlich mit Argumenten, die die Vorteilhaftigkeit des Zusammenlebens in Gemeinschaft in Bezug auf Bequemlichkeit, Arbeitsteilung und Nutzen betreffen. Vielmehr scheint die philia ein eigener Wert zu sein. Denn niemand, so schreibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, würde ein Leben ohne Freunde wählen, selbst wenn er alle übrigen Güter hätte, weder Reiche noch Mächtige wollen demnach ohne Freunde leben (EN VIII 1, 1155a5). Doch diese Interpretation ist nicht unumstritten. Gigon meint, bei Aristoteles einen flagranten Widerspruch ausfindig machen zu können, der zwischen der „Autarkie des Einzelnen und der bekannten Bestimmung des Menschen als zôon politikon besteht“ (Gigon: || 35 Ricken führt das aus: „Freundschaft als koinônia bedeutet Arbeitsteilung, durch die allein das menschliche Leben mit der Vielfalt seiner Bedürfnisse und Ziele gelingen kann. Dadurch ist sie sittlich gerechtfertigt, und sie ist insoweit sittlich notwendig, als der einzelne Mensch seinen Beitrag zum gemeinsamen Nutzen nur in einer solchen Gemeinschaft leisten kann“ (Ricken: 2007, 195).

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1973, 15). Wie wir jedoch in den vergangenen Kapiteln begonnen haben aufzuzeigen und zu belegen, steht die Grundlegung der politischen Anthropologie des Aristoteles zumindest zu seinem politischen Begriff der Autarkie keineswegs im Widerspruch.36 Dennoch haben auch wir anhand von Politik VII eingangs dieses dritten Abschnitts gesehen, dass es zeitweise bei Aristoteles in der Tat zu einem Widerspruch kommt, und zwar zwischen der Forderung nach Autarkie für den Einzelnen und den Staat auf der einen Seite sowie der Forderung nach wirtschaftlicher Interaktivität im Rahmen seiner aristê politeia auf der anderen Seite. Wir haben nun im Laufe der Untersuchung der politischen Autarkie jedoch festgehalten, dass diese eng an die Gemeinschaft des Menschen mit anderen Menschen gebunden ist. Eine Autarkie im Sinne von ganzheitlicher Isolierung oder Zurückgezogenheit des Einzelnen von der Gemeinschaft hat Aristoteles mit diesem politisch geprägten Autarkie-Begriff mit Sicherheit nicht vor Augen gehabt. Bei ihm steht zum einen keine Absonderung des Einzelnen vom Rest der Gemeinschaft im Vordergrund. Dieses Sich-Herausnehmen des Einzelnen wäre auf der Basis der politischen Anthropologie aus Politik I 2 im Grunde genommen gar nicht möglich. Ebenso bedeutet zum anderen eine Forderung des Staates nach Autarkie keine völlige Isolierung von anderen Poleis, sondern vielmehr eine ausreichende Verbindung in Bezug auf das gegenwärtige Auskommen. Wichtig ist weiters darauf hinzuweisen, dass die Freundschaft zu anderen, die Aristoteles sowohl für den Menschen als auch für Staaten als bedeutsam erachtet, keine Aufgabe der jeweils eigenen Identität beinhaltet. Freundschaft impliziert in diesem Kontext vielmehr die Fähigkeit, „echte Beziehungen zu anderen einzugehen, ohne sich dabei in seiner Selbstständigkeit zu verlieren“ (Höffe: 2006a, 251). Demnach steht vielmehr das Miteinanderleben im Vordergrund, und das mit dem Fokus auf das eu zên. Nicht das Keines-anderen-mehrBedürfen, die unabhängige Identität, ist das Ziel der politischen Autarkie, sondern die gemeinschaftliche Erschaffung und Erhaltung jener Bedingungen, die für das gute und gelingende Leben für diese jeweilige Polis-Gemeinschaft, unter welcher Verfassung sie auch stehen mag, erforderlich erscheinen. Autarkie, verstanden als Selbstgenügsamkeit im Sinne einer inneren und äußeren Zufriedenheit des Menschen, kann sich nur im Bezug zu anderen Menschen entwickeln. Autarkie in diesem politischen Verständnis bedeutet also nicht die Unabhängigkeit von allem, was nicht das eigene Selbst betrifft (vgl. Kampert:

|| 36 Gigon dürfte in der Formulierung seines „flagranten Widerspruchs“ wohl eher den Autarkie-Begriff aus EN X 7 im Auge gehabt haben, wo Aristoteles auf die Autarkie der theoretischen Lebensform zu sprechen kommt.

88 | (Politische) Autarkie 2003, 240), sondern die Beschaffung und Erhaltung dessen, was der Einzelne in seinem gemeinschaftlichen Leben in Bezug auf das eu zên benötigt: nach Aristoteles das eigene Haus im Sinne der sozialanthropologischen Dimension, ökonomische Grundlagen, staatsbürgerliche Organisation und Kompetenzen, soziale Bindungen und letztendlich darüber hinausgehend, ebenso auch Freundschaften.

Exkurs I: Wesen und Autarkie der antiken Polis Die sogenannte „Polis-Forschung“ stellt innerhalb der Alten Geschichte einen eigenen Forschungsbereich dar, dessen Zielsetzung es ist, ein möglichst authentisches Bild über die Lebensweise in den griechischen Poleis nachzuvollziehen. Im folgenden Exkurs sollen die derzeitigen Ergebnisse dieser Forschungen in aller Kürze anhand von drei Fragen nachskizziert werden. Erstens soll der Frage nachgegangen werden, wie die antike griechische Polis in ihrem Gesamtkonzept angelegt war und welche Eigenheiten diese Form des Zusammenlebens geprägt haben. Zweitens soll gefragt werden, wie es aus historischer Perspektive um Autarkie und Autonomie der einzelnen Poleis bestellt war. Drittens soll der Gesellschaftsordnung innerhalb der Poleis und deren Spezifika nachgegangen werden.* Eine Übersetzung des Begriffs „Polis“ ins Deutsche ist ein schwieriges Unternehmen. Die oft gewählte Übersetzung mit „Staat“ oder „Stadtstaat“ ist zwar im Prinzip naheliegend, bei genauerer Untersuchung jedoch unzureichend, worauf Bürgin, zuvor Bien aufmerksam machen.1 Denn der Staatsbegriff aus heutiger Perspektive scheint in Bezug auf die Polis zu weit gefasst, wohingegen die Übersetzung mit „Stadtstaat“ als zu eng erscheint, da er teilweise die Vorstellung suggeriert, dass die antike Polis ausschließlich eine Art städtisches Zentrum war. Dies trifft jedoch nicht zu, denn eine Polis umfasste ebenso ländliche Gebiete außerhalb des Poliskerns, deren Bevölkerung zumeist die Mehrheit der Polis ausmachte. Der spezifische Begriff für das Wort „Stadt“ lautet im altgriechischen nicht Polis, sondern asty, worunter die Stadt als Baukomplex verstanden werden kann. Das ländliche Umland der Polis hingegen wird als chôra bezeichnet, was für „Land, „Gegend“ oder „Gebiet“ stehen kann. Die antike Polis setzt sich also aus dem Stadtzentrum (asty) und dem ländlichen

|| * Ich danke an dieser Stelle dem Althistoriker Thomas Corsten – Universität Wien – für überaus wertvolle Hinweise zu diesem Kapitel. 1 Bürgin gelangt unter Berufung auf Finley I. Moses zu dem Schluss, dass „die übliche Übersetzung des Wortes Polis mit Stadtstaat schlecht ist. Sie führt zu Missverständnissen; sie setzt unrichtige Akzente: sie lässt die auf dem Lande wohnende Bevölkerung unberücksichtigt, die die Mehrheit der Bürger ausmachte. Sie suggeriert die Vorstellung, als habe die Stadt das Land regiert, was falsch ist“ (Bürgin: 1996, 31). Bien kritisiert die Übersetzung von „Polis“ heute vor allem in Bezug auf Aristoteles und dessen Verwendung des Begriffs innerhalb seiner politischen Philosophie. Bien möchte darauf hinweisen, dass sich die aristotelische Polis nicht eins zu eins mit dem modernen Staatsbegriff übersetzen lässt: „Was bei Aristoteles als Polis thematisiert wird, ist etwas grundsätzlich anderes als das, was in der Moderne ,Staat‘ heißt [...]“ (Bien: 1990, 339).

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Umland (chôra) zusammen. So gehörte zur Polis Athen ganz Attika. Die Bürger dieser Polis waren Athener, und sie nannten sich auch so, selbst wenn sie in einem von der Stadt Athen weit entfernten Dorf sesshaft waren (vgl. Lotze: 2010, 21). Zur klassischen Zeit – also im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. – dürfte diese Polis zwischen 200.000 und 300.000 Einwohner gehabt haben, wobei die Mehrzahl der damaligen Einwohner der Polis Athen in den ländlichen Gebieten lebten (vgl. Bürgin: 1996, 30). Die Wurzeln der Entwicklungsgeschichte der Polis reichen im Grunde genommen bis in das mykenische Griechenland zurück. Jedoch besteht zwischen den mykenischen Palastburgen und dem klassischen Konzept der Polis keine unmittelbare Kontinuität (vgl. DNP: 2001, Bd. 10, S. 22, s.v. Polis). Aufgrund der in der althistorischen Forschung vermuteten Auflockerung der Sesshaftwerdung in den sogenannten „Dark Ages“ und des zuvor erfolgten Zusammenbruchs der Palaststaaten der mykenischen Zeit wurde es offensichtlich erforderlich, beginnend mit der archaischen Zeit eine neue Form des Zusammenlebens zu entwickeln und zu gestalten. Dies führte schrittweise zur klassischen Polis. Der Lebensraum Polis wurde durch die bereits angesprochene große griechische Kolonisation, im gesamten Mittelmeerraum und an den Küsten des Schwarzen Meeres weiter verbreitet (vgl. Kap. 2.2). In der klassischen Zeit, in der auch Aristoteles lebte, erlangte die antike Polis schließlich ihre entwicklungsgeschichtliche Blüte. Die Zahl der antiken Poleis schwankte im Laufe der Geschichte zwar sehr stark, jedoch kann davon ausgegangen werden, dass es insgesamt annähernd 1.500 Siedlungen des Typs „Polis“ gegeben hat (vgl. DNP: 2001, Bd. 10, S. 22, s.v. Polis). Neben den beiden bekannten Poleis wie Athen und Sparta auch Theben, Korinth, Poteidaia oder Megara (vgl. Funke: 2006, 130). Bereits in der Antike herrschte ein spezifisches Bild über die notwendigen Charakteristika des politischen Gemeinwesens der Polis vor. Das belegt ein Ausschnitt aus den Reiseberichten des Pausanias, verfasst im 2. Jahrhundert n. Chr., wo es heißt: »Von Chaironeia sind es zwanzig Stadien nach Panopeus, einer phokischen Stadt, wenn man auch einen solchen Ort eine Stadt (polis) nennen darf, der weder Amtsgebäude, noch ein Gymnaseion, noch ein Theater, noch einen Markt besitzt, nicht einmal Wasser, das in einen Brunnen fließt, sondern wo man in Behausungen etwa wie den Hütten in den Bergen an einer Schlucht wohnt« (Pausanias: Reisen in Griechenland, X 4.1).

Anhand dieses Textausschnittes zeigt sich deutlich, woran Pausanias das Wesen einer Polis, zumindest aus infrastruktureller Perspektive, festgemacht hat. Diese Aspekte lassen sich ebenso auf die Vorstellungen über das damalige Leben im Gesamten umlegen. Erstens bedarf es, so Pausanias, politischer Verwaltung, zweitens eines Ortes für die körperliche Ertüchtigung sowie für die Er-

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ziehung, drittens kultureller und gesellschaftlicher Einrichtungen, viertens braucht es einen Ort für den Handel (vielleicht auch einen Versammlungsplatz) und fünftens eben noch verschiedene andere, infrastrukturelle Einrichtungen, die das Zusammenleben einfacher machen sollen, z.B. diverse Brunnensysteme. Zumindest einige dieser Dinge scheinen für Pausanias notwendig zu sein, um von einer Polis sprechen zu können.2 Auf ähnliche Charakteristika sind wir auch zuvor bei der Darstellung der aristotelischen aristê politeia und ihrer äußeren Verfassung in Politik VII und VIII gestoßen (vgl. Kap. 2.2). Kolb hat in einer seiner Untersuchungen zur Stadt im Altertum einen aktuellen Katalog über jene Kriterien erstellt, die seiner Meinung nach erfüllt sein sollen, will man ein antikes Zusammenleben als städtisches Leben bzw. eine Siedlung als Stadt (nicht als Polis im Ganzen) bezeichnen. Dazu formuliert er sechs Charakteristika (vgl. Kolb: 1984, 15): (1) Die topographische und administrative Geschlossenheit der Siedlung. (2) Eine Bevölkerungszahl von mehreren tausend Einwohnern. (3) Eine ausgeprägte Arbeitsteilung und soziale Differenzierung. (4) Eine gewisse Mannigfaltigkeit der Bausubstanz. (5) Ein urbaner Lebensstil der Bevölkerung im Gesamten. (6) Die Funktion der jeweiligen Siedlung als Zentralort für das Umland.3 Trotz dieser und ähnlicher Versuche, das Wesen der Polis in seiner Gesamtheit zu erfassen, die freilich innerhalb der Polisforschung nicht unkritisiert geblieben sind, erscheint es dennoch schwierig, von einer „Stadt-Gattung“ oder einer „Polis-Gattung“ zu sprechen, worauf Kolb selbst hinweist. Dabei formuliert er

|| 2 Kolb zu diesen Charakteristika des Pausanias: „Diese armselige Siedlung war nach unseren heutigen Vorstellungen mit Sicherheit keine Stadt; wohl aber muss Pausanias, wenn auch zögernd, zugestehen, dass es eine Polis ist. Seine Bedenken resultieren aus der Mehrdeutigkeit dieses Begriffs. Die Qualität von Panopeus als Polis ist nach seinen eigenen Worten dadurch garantiert, dass es sich um eine sich selbst verwaltende, autonome Bürgergemeinde handelt, welche ein fest umgrenztes Territorium (chôra) besitzt und [sic! „an“] außenpolitische Beziehungen anknüpfen kann. Dies waren in der Tat die wesentlichen Merkmale einer griechischen Polis“ (Kolb: 1984, 59). 3 Kolb zu seinen Kriterien: „Eine Stadt muss nicht alle diese Bedingungen erfüllen, zumal es von der Quellenlage her häufig unmöglich ist, deren Vollständigkeit zu überprüfen (dies gilt insbesondere für Nr. 5). Auf die vier erstgenannten Kriterien kann mein Stadtbegriff freilich nicht verzichten. Von den Zentralortfunktionen wird man jedenfalls die ökonomische als unentbehrlich betrachten können, weil von ihr in der Regel die Kriterien Nr. 2 und 3 abhängig sein dürften, während die übrigen Zentralortfunktionen keines der anderen Kriterien bedingen“ (Kolb: 1984, 15).

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die These, dass aufgrund der unterschiedlichen ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen in den damaligen Regionen davon ausgegangen werden muss, dass es einen einzigen, den klassischen Stadt-Typus, von dem oftmals die Rede ist, nicht gegeben hat.4 In eine ähnliche Richtung weist auch Welwei, der ebenso anführt, dass es die eine Polis-Gattung nicht gegeben habe, sondern vielmehr „eine Fülle von unterschiedlich organisierten Gemeinwesen, die im griechischen Sprachgebrauch als Poleis galten“ (Welwei: 1998, 7). Dennoch lassen sich einige wenige Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Poleis ausmachen. Wie eingangs des dritten Abschnitts über die Autarkie anhand der Ausführungen von Herodot und Thukydides bereits kurz angesprochen, war einer der Grundgedanken der antiken Polis die dauerhafte Versorgung der Einwohner mit den für das damalige Leben notwendigen Gütern. Aufgrund dessen liegt es nahe, dass viele der Poleis untereinander in regem wirtschaftlichem Austausch standen. Kennzeichnend für jede einzelne Polis war im Grunde das Ideal der „politischen Selbstverwaltung und -regierung durch ihre Bürger und das Streben nach innerer und äußerer Unabhängigkeit“ (DNP: 2001, Bd. 10, S. 23, s.v. Polis). Diese äußere und innere Unabhängigkeit kam unter anderem auch dadurch zum Ausdruck, dass die meisten Poleis über ein eigenes Heer, ein eigenes Rechtswesen und über einen eigenen Kalender verfügten. Nicht jede Polis wurde jedoch diesem Ideal der Autarkie und der Autonomie gerecht. Militärisch und ökonomisch schwächere Poleis mussten sich mit anderen Zentren verbünden, um die eigene Existenz vorübergehend sichern zu können. Die großen und bekannteren Poleis, wie Athen, Sparta, Syrakus oder Milet waren militärische, politische und ökonomische Ausnahmen in der antiken Polislandschaft; ebenso auch ihre städtebauliche Pracht sowie das dichte Netz an sozialen Errungenschaften und die politischen Verwaltungsstrukturen. Um Autarkie und Autonomie vieler kleinerer Poleis war es vor allem in der klassischen Zeit „oft schlecht bestellt“ (Gehrke/Schneider: 2006, 177).5 || 4 Kolb dazu weiter: „Es ist sogar fraglich, ob wir die altorientalische und die griechischrömische Stadt antreffen werden, denn die Gemeinsamkeiten [...] zwischen dem griechischen Mutterland und der römischen Provinz Nordafrika waren geringer als die Unterschiede“ (Kolb: 1984, 16). 5 Darauf deutet unter anderen auch Welwei hin. Der Verlust von Autarkie und Autonomie, insbesondere der kleineren Poleis, bedeutete die Abhängigkeit von größeren Poleis: „Viele kleinere Polisstaaten vermochten auf die Dauer ihre Autonomie nicht oder nur bedingt zu behaupten und gerieten in Abhängigkeit von größeren Poleis. [...]. Infolge des Machtgefälles zwischen stärkeren und schwächeren Poleis entwickelte sich eine Dynamik, die bereits in archaischer Zeit zur Entstehung von außenpolitischen Abhängigkeitsverhältnissen führte und im 5. und 4. Jahrhundert unter dem Zeichen hegemonialer Bestrebungen einzelner „Großpoleis“ stand“ (Welwei: 1998, 14).

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Aus sozialpolitischer Sicht handelt es sich bei „der Polis“ um das Gemeinwesen eines Bürgerverbandes. Aufgrund dessen erscheint der Begriff der Polis in erster Linie eigentlich als ein öffentlich-rechtlicher und erst in zweiter Linie als ein geographischer bzw. territorialer Begriff. Kennzeichnend für diese Art von Gemeinschaft war unter anderem der Marktplatz, die Agora (vgl. Kap. 2.2). Bereits in der Odyssee wird das Fehlen einer solchen Agora bzw. eines entsprechenden (politischen) Platzes für die Zusammenkünfte der Bürger konstatiert. Das Fehlen eines solchen politischen Raumes wird hier mit der Abwesenheit von Recht und Gesetz sowie mit dem Vorherrschen individueller Willkür gleichgesetzt: »Und sie [die Kyklopen] haben nicht Ratsversammlung (agorai) und nicht Gesetze, sondern sie wohnen auf Gipfeln der hohen Berge in hohlen Grotten; für seine Kinder und seine Frauen setzt jeder eigene Ordnungen fest, und sie kümmern sich nicht umeinander« (Homer: Odyssee, IX, 111).

Es dürfte wohl kaum möglich sein, eine Polis auszumachen, die nicht wenigstens über eine Agora verfügt hätte (vgl. Eich: 2006, 35). Dieser These fügt Eich hinzu – wie wir es auch zuvor bei Aristoteles in Bezug auf die Stadtplanung der aristê politeia thematisiert haben –, dass es in vielen Poleis üblich war, die politische Agora von der Handelsagora zu trennen. Eine Agora war im Prinzip nichts anderes als eine freie Fläche des urbanen Teils der Polis, die zum einen für den Handel und/oder zum anderen für die politischen Versammlungen und die gerichtlichen Tagungen genutzt wurde. Sie war vor allem aufgrund der politischen Tätigkeiten, aber auch aufgrund der alltäglichen Kommunikation zwischen den Menschen der Brennpunkt des öffentlichen Lebens der gesamten Polisgesellschaft.6 Die Agora war gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und auch religiöser Mittelpunkt des Zusammenlebens. Die Polis als politische Gemeinschaft entfaltete sich auf der Agora (vgl. Bürgin: 1996, 96), wobei dieser Stellenwert in der Forschung nicht unumstritten ist.7

|| 6 Kolb führt dazu aus: „Mit der Marktfunktion eines Ortes ist häufig auch diejenige eines Kristallisationspunktes sozialer Aktivitäten gegeben“ (Kolb: 1984, 15). 7 Bürgin führt aus, dass die Agora nicht nur Ort des gemeinsamen Zusammenlebens, des Markttreibens bzw. der Politik gewesen ist, wie es aus heutiger Perspektive gelegentlich hochstilisiert wird, sondern dass die Agora ebenso auch Schatten geworfen hat: „Andererseits – und hier kommt ein negatives Moment ins Spiel – war der gleiche Markt, der die innenpolitische Festigkeit förderte [...], ebenso die Quelle spießbürgerlicher Beschränktheit. Der durch die Agora geschürte Populismus war gekennzeichnet durch eine Fremdenfeindlichkeit, [...]" (Bürgin: 1996, 34).

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Die gesellschaftlichen Strukturen innerhalb der einzelnen Poleis zu verallgemeinern ist ebenso schwer wie eine generelle Polis-Definition aufzustellen. Dennoch bieten einige Althistoriker in ihren Untersuchungen interessante Einblicke in das soziale Gefüge der antiken Polis an, die auch für eine Untersuchung des aristotelischen scholê-Begriffs später und für ein umfassenderes Verständnis seiner aristê politeia nicht uninteressant erscheinen. Dabei beginnen wir nun bei der untersten Gruppe, den Sklaven, die wir auch bereits schon in Bezug auf die sozialanthropologische Dimension der politischen Autarkie angesprochen haben (vgl. Kap. 3.1). Sklave war in der griechischen Antike nicht gleich Sklave. Denn selbst unter ihnen gab es eine Hierarchie. An der oberen Spitze dieser Ordnung standen die Staatssklaven, die eine eigene Gruppe für sich bildeten. Sie waren Scharfrichter, Finanzbeamte, Polizisten, Gerichtsdiener, etc. In einer engen Beziehung zum Haus und zu ihren Herren standen die Ammen, die Lehrer sowie die Leibärzte, die zumeist ebenso Sklaven, also unfrei waren. Einige antike Werkstätten hatten sogenannte Obersklaven, denen innerhalb des Betriebs höhere Aufgaben anvertraut wurden als den Arbeitssklaven. An der untersten Stelle dieser Hierarchie standen die Bergwerkssklaven (vgl. Bürgin: 1996, 130). Wir finden in der antiken griechischen Polis also viele unterschiedliche Arbeiten des Sklaven vor: von Beamten, Ärzten und Ammen bis hin zu Bergwerkssklaven. Bürgin und Gronemeyer weisen darauf hin, dass die Sklaven in den Gesellschaften der antiken Poleis allerdings keine eigene Klasse für sich bildeten, die der Bürgerschaft gegenübergestanden hätte.8 Wir sind hier an einem wichtigen Punkt angelangt, der uns dabei behilflich sein kann, die aristotelische Sklavenlehre besser einordnen zu können, als wir es bisher mit Blick auf die Ausführungen von Smith, Schofield und Höffe getan haben. Wir sehen hier anhand des von Bürgin skizzierten Bildes über die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche des Sklaven, dass der Sklave in der Antike dem Grundverständnis nach vor allem einmal der arbeitende Mensch schlechthin ist und erst in zweiter Linie unfrei, worauf Lauffer hinweist. Der Sklave diente als Arbeitskraft im Allgemeinen, war Angestellter, Beamter, erzog die Kinder der Bürger oder kurierte den Hausherren im Krankheitsfall (vgl. Lauffer: 1961, 380). || 8 Bürgin dazu: „Die Sklaven bildeten keine Klasse, die einem Bürgertum als Klasse gegenübergestanden hätte – Klassenkämpfe auslösend. Ihre Berufe, ihr Einkommen und ihre gesellschaftliche Einordnung waren zu verschieden, als dass sie ein Klassenbewusstsein hätten entwickeln können. Ein solches zu suchen, wäre anachronistisch, entspräche dem Denken in neuzeitlichen sozio-ökonomischen Kategorien“ (Bürgin: 1996, 130). Gronemeyer deutet diesen Befund ebenso in Bezug auf Athen an: „Die attischen Sklaven waren keine soziale Klasse“ (Gronemeyer: 2007, 67).

Exkurs I: Wesen und Autarkie der antiken Polis | 95

Es erscheint daher nicht als unwesentlich darauf hinzuweisen, dass an den Stellen, an denen Aristoteles von Sklaven spricht, nicht immer automatisch der schuftende Bergwerkssklave gemeint ist, der sich am ehesten noch mit dem in der Neuzeit in Amerika gewaltsam eingeführten Plantagensklaven vergleichen lässt. Sklaven konnten in der Antike z.B. ebenso Mägde oder Knechte auf Bauernhöfen sein, die es in Mitteleuropa noch bis weit in das letzte Jahrhundert hinein in landwirtschaftlichen Betrieben gegeben hat, wenn auch freilich unter anderen Vorbedingungen. Ebenso waren antike Sklaven aber auch Lehrer, Beamte oder Ärzte, denen ein spezielles Vertrauen entgegengebracht wurde. Trotz alledem ist die Sklaverei, so wie sie in der Antike im griechischen Raum sich entwickelt und stattgefunden hat, aus heutiger Perspektive untragbar. Es bleibt ein Makel des antiken Griechentums, Sklaverei zum festen Bestandteil ihrer Gesellschaft gemacht und Menschen als Handelsware betrachtet zu haben (vgl. Lauffer: 1961, 384). Eine andere, nicht unbedeutende Gesellschaftsschicht der klassischen Polis, die auch Aristoteles anführt, waren die Bauern. Sie galten wegen ihres Grundbesitzes im Grunde als plousioi, als Besitzende. Dennoch war ihr Eigentum zumeist gering, und sie mussten mit einem oder zwei Sklaven (bzw. Knechten) die Felder bewirtschaften. In Bezug auf ihren sozialen Status sind sie der damaligen Mittelschicht zuzurechnen, obwohl ihre Einkünfte zumeist eher gering ausfielen (vgl. Welwei: 1998, 216). Die Handwerker, ebenso im aristotelischen Staat nach bestem Ermessen erwähnt, waren in der Regel Kleinproduzenten, die ähnlich wie die Bauern mit vielleicht ein oder zwei Sklaven Waren herstellten und zumeist direkt von ihrer Werkstatt aus verkauften. Hinzu kamen auch Kleinhändler, die den Binnenhandel durchführten. Sie standen in geringerem Ansehen als die Großhandelsleute oder die Schiffseigentümer (vgl. Welwei: 1998, 216). Die Kerngruppe einer Polis waren die Bürger, auf die auch Aristoteles sein Hauptaugenmerk in Politik VII und VIII richtet. Sie gingen in der klassischen Antike größtenteils unterschiedlichen beruflichen Tätigkeiten nach. Sie waren also in der Regel meistens durchaus erwerbstätig und nicht ausschließlich Rentner; arbeiteten im Handwerk oder im Kleinhandel (vgl. Bürgin: 1996, 73). Die Bürger trafen alle politischen Entscheidungen, leiteten die Polis nach innen und nach außen, waren Dreh- und Angelpunkt jedweder Politik und bildeten im Grunde genommen die Polis als politisches Gemeinwesen für sich selbst.9 Das

|| 9 Darauf weist auch Meier hin: „Wenn die Griechen das der Polis Eigene politisch nannten, so meinten sie im spezifischen Sinne die mit der Bürgerschaft identische Stadt, die in der Gesamtheit der Bürger gründete und von ihr ausgemacht war“ (Meier: 1995, 27).

96 | Exkurs I: Wesen und Autarkie der antiken Polis

Bürgerrecht war jedoch von der jeweiligen Verfassung der Polis abhängig. So liegen zweifelsohne gravierende Unterschiede zwischen einer demokratischen und einer oligarchischen Verfassung und ihrer jeweiligen Definition des Bürgers innerhalb der Polis vor. Bei Aristoteles nimmt die Bürgerschaft ebenso eine wichtige Rolle ein, wie wir auch speziell anhand der Untersuchung der scholê im nächsten Teil der Studie sehen werden. Mit diesen Bemerkungen zur Polis-Forschung, dem Versuch einer Charakterisierung dieses Lebensraumes im antiken Griechenland, dem historischen Bezug der einzelnen Regionen zu Autarkie und Autonomie und den Grundlegungen zur damaligen Gesellschaftsordnung soll auch an dieser Stelle erneut gezeigt sein, wie sehr sich Aristoteles in seiner politischen Philosophie aus Politik VII und VIII an seiner Zeit und ihren politischen Gegebenheiten orientiert hat, was hier insbesondere die Überlegungen zu den gesellschaftlichen Strukturen der Poleis deutlich machen, die stark an die innere Verfassung der aristotelischen aristê politeia erinnern (vgl. Kap. 2.3).10 Wenn Aristoteles in seiner Politik das politische Zusammenleben des Menschen behandelt, dann beschreibt er zuweilen auch das Leben der damaligen Zeit (vgl. Varga: 2011, 217ff).

|| 10 Siehe weiter auch Pol. VII 2, 1324b5ff. Aristoteles spricht hier über die Verfassungsformen in Makedonien, Karthago sowie auf Kreta und spricht dabei die Skythen, Perser, Thraker, Iberer und Kelten an.

Exkurs II: Kulturhistorische Splitter zur Muße Wie einleitend zu dieser Studie bereits erwähnt, zählt die scholê weder in Bezug auf Aristoteles noch aus philosophiehistorischer Perspektive insgesamt betrachtet zu den klassischen Themen des Denkens, wie das z.B. bei den Themen Wahrheit, Freiheit oder Gerechtigkeit der Fall ist. Dennoch ist die scholê ein Bereich, der immer wieder, zwar zumeist vereinzelt, aber im Grunde genommen doch kontinuierlich im philosophischen Diskurs aufgegriffen wurde und auch heute noch aufgegriffen wird. Dies soll in diesem zweiten Exkurs nach einer kurzen, allgemeinen Einführung in den Begriff ansatzweise thematisiert werden, wobei gleich vorweg anzumerken ist, dass es hierbei unerlässlich war, eine Auswahl an Bezügen zu treffen. Verwunderlich ist, dass das Thema der Muße und ihre Bedeutung für das Leben des Menschen aus philosophie- sowie aus kulturhistorischer Perspektive bislang kaum größere Beachtung gefunden hat, und das trotz der Tatsache, dass sie immer wieder im Laufe der Geschichte der Philosophie thematisiert und angesprochen wurde. Hinzu kommt die Beobachtung, dass die bereits vorhandenen vereinzelten Abhandlungen zur Muße, z.B. jene von Welskopf, Brühweiler oder im Rahmen diverser Lexika, z.B. im HWPh, zumeist ein lückenhaftes Bild vermitteln. Aufgrund dessen soll in diesem zweiten Exkurs der Versuch unternommen werden, die unterschiedlichen Überlegungen zur Muße bzw. zur scholê aus philosophiehistorischer Perspektive ausfindig zu machen und rudimentär nachzuzeichnen. Nichtsdestotrotz dienen dafür die bislang vorliegenden Überlegungen – freilich auch jene der genannten Autoren – als überaus interessante Anknüpfungspunkte, die ergänzende Erörterungen durchaus lohnend machen. Das Spektrum der folgenden Betrachtungen reicht von der Antike bis hin zur Gegenwart, von Pindar bis zu Josef Pieper. In der Entwicklung dieses zweiten Exkurses wurde besonders darauf viel Wert gelegt, die einzelnen Autoren (auszugsweise) in ihren Überlegungen zur Muße selbst zu Wort kommen zu lassen. Die scholê wird zumeist mit „Muße“ (lat.: otium, frz.: loisir, engl.: leisure) übersetzt (vgl. HWPh: 1984, Bd. 6, Sp. 257, s.v. Muße). Eine Übertragung in das Deutsche ist jedoch, wie bei vielen anderen altgriechischen Begriffen auch und wie z.B. zuvor in Bezug auf die autarkeia oder die philia bereits angesprochen, keine einfache und vor allem keine eindeutige Sache. Allgemeine Übersetzungsangebote in den unterschiedlichsten Studien lauten „Anhalten“, „Rast“, „freie Zeit“ und „Nichtstun“. Das etymologische Wörterbuch von Frisk kennt für die scholê zusätzlich die Bedeutung „(gelehrte) Unterhaltung“ bzw. „Ort des Vortrags“ (vgl. Frisk: 1991, Bd. II, S. 841, s.v. σχολή). Aus dem Begriff

98 | Exkurs II: Kulturhistorische Splitter zur Muße der scholê hat sich, auch aufgrund der zuletzt genannten Bedeutung, das Wort „Schule“ abgeleitet (vgl. HWPh: 1984, 257; Frisk: 1991, 841; Mikkola: 1958, 68; Welskopf: 1962, 5; Brühweiler: 1971, 1; Pieper: 2007, 48). In das Englische wird die scholê zumeist mit „leisure“, „rest“ oder „ease“ übersetzt (vgl. Liddell/Scott: 1996, S. 1747, s.v. σχολή), also mit „arbeitsfreie Zeit“, „ausruhen“ und „erholen“ oder aber auch mit „Ruhe“ bzw. „Ungezwungenheit“. Das deutsche Wort Muße ist seinem Ursprung nach erstmals im 8. Jahrhundert n. Chr. auszumachen. Das althochdeutsche muoza bzw. das mittelhochdeutsche muoze (vgl. Kluge: 2002, S. 639, s.v. Muße) hatte zu Anfang die Bedeutung von „Gelegenheit“ oder „Möglichkeit“ mit dem Zusatz „etwas tun zu können“ (vgl. Duden: 2007, S. 546, s.v. Muße). Trübners Deutsches Wörterbuch kennt zusätzlich die Bedeutungen von „freie Zeit“, „Bequemlichkeit“ sowie „Untätigkeit“. Der Wortstamm Muße ist mit „müssen“ verwandt, wobei sich beide Begriffe ihrem Wortsinn nach in unterschiedliche Richtungen entwickelt haben. Bei Trübner ist die Muße ebenso als eine „Möglichkeit“ oder als eine „Gelegenheit wozu“ charakterisiert. Der Mensch ist demnach dazu in der Lage, etwas zu tun, wobei es gleichzeitig erforderlich ist, dass er durch nichts anderes davon abgehalten wird. Allerdings führt das Wörterbuch auch die Konnotationen des „Unbeschäftigtseins“, der „Freizeit“ bzw. der „Ruhe“ sowie die Kennzeichnung als „pflichtlose Stunde“ an (vgl. Trübner: 1943, S. 711, s.v. Muße. Für uns nachvollziehbar haben die beiden Dichter Aischylos und Pindar das Wort scholê im 5. Jahrhundert v. Chr. zum ersten Mal verwendet. Bei den Tragödien des Aischylos finden wir den Begriff sowohl im Stück Gefesselter Prometheus (818)1 als auch in der Orestie, und zwar in Agamemnon (1055)2 sowie bei Pindar in dem Siegerlied für den Ringer Theaios aus Argos, der zehnten Nemeische Ode (46). Neben der scholê lässt sich bei Pindar ebenso der Gegensatz zur scholê ausfindig machen, nämlich die ascholia, auf die wir später in Bezug || 1 Prometheus, der von Hephaistos im Auftrag des Zeus zur Bestrafung seines Verhaltens an einen Felsen gekettet wurde, weil er den Göttern das Feuer gestohlen und den Menschen gegeben hatte, spricht zu Io: »Denn Muße, mehr als ich verlange, hab ich hier«. Welskopf weist dies treffend als die „erzwungene Muße“ des Prometheus aus (Welskopf: 1962, 15). 2 Klytaimnestra, die Frau von König Agamemnon, sagt zu dem Chorführer über Kassandra, der sie ein Verhältnis mit ihrem Mann Agamemnon nachsagt: »Mir fehltʼs an Muße, vor den Pforten mich mit ihr herumzuquälen«. Interessant erscheint eine weitere Stelle, die Welskopf in ihrer Untersuchung auslässt. In den einleitenden Ausführungen des Chors im Stück Agamemnon ist von einer κακόσχολοι die Rede, also von einer schlechten bzw. üblen Muße: »Da brachten die Stürme her üble Muße, Hunger, Verzug, Irrsal den Menschen, und schonten nicht die Schiffe und die Taue, und dehnten die zwiefach lange Zeit und rieben der Griechen Blüte auf [...]« (Aischylos: Agamemnon, 190).

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auf Aristoteles und Politik VII und VIII genauer einzugehen haben.3 Bei Aischylos findet sich zusätzlich noch das Verb scholazein, nämlich in Den Schutzsuchenden (207, 882). Die Untersuchung von Welskopf weist diese Ursprünge bei Aischylos und Pindar exakt aus und diskutiert diese aus einem philologischen Blickwinkel. Dafür nimmt sie bis zu den Dichtern Homer und Hesiod zurückgehend Bezug. Welskopf bezeichnet dabei diese beiden Dichter als Vorarbeiter des späteren scholê-Begriffs, den sie in ähnlicher Art und Weise auch durch die späteren Geschichtsschreiber Herodot und Thukydides geprägt sieht (vgl. Welskopf: 1962, 11ff).4 Eine philosophische Betrachtung der Muße können wir vor der Verwendung bei Aristoteles bereits (gelegentlich) bei seinem Lehrer Platon in den unterschiedlichsten Dialogen ausfindig machen (vgl. HWPh: 1984, Bd. 6, Sp. 257f, s.v. Muße). Dabei scheint die Muße vor allem für die Philosophie und für das sokratische Gespräch eine unentbehrliche Voraussetzung zu sein, wie es z.B. in der Apologie des Sokrates zum Ausdruck kommt. Sokrates vertritt hier die Ansicht, dass es für die philosophische Ermahnung „der freien Muße bedarf“ (Apol. 36 d).5 Im Phaidon wird die Bedeutung der Muße sowohl für das Gespräch als auch für die Philosophie selbst deutlich zur Sprache gebracht, und das an zwei unterschiedlichen, nicht unbedeutenden Stellen. Erstens geschieht dies im Rahmen der Einleitung zu diesem Dialog. Echekrates bittet Phaidon, ihm vom Tod des Sokrates möglichst ausführlich zu erzählen, sowie dieser gerade über die notwendige Muße dazu verfüge: »Echekrates: Alles dieses bemühe dich doch uns recht genau zu erzählen, wenn es dir nicht etwa an Muße fehlt. Phaidon: Nein, ich habe Muße und will versuchen, es euch zu erzählen. Denn des Sokrates zu gedenken, sowohl selbst von ihm redend als auch anderen zuhörend, ist mir immer von allem das Erfreulichste.

|| 3 Pindar sagt von sich selbst in der Ehrung des Ringers, dass es ihm nicht möglich ist, alle aus Erz gestalteten Trophäen und Auszeichnungen des Athleten abzuzählen. Denn »[...] – längerer Muße Geschäft nämlich, es zu zählen –, [...]« (Pindar: Siegeslieder, X 46). 4 Selbst wenn diese Studie von Welskopf aufgrund ihres Alters an einigen Stellen der Überarbeitung bedarf, bietet sie dennoch einen überaus lohnenswerten Einblick in die Begriffsgeschichte der scholê, insbesondere in Bezug auf die Anfänge der Verwendung in der Antike. 5 Gleich daran anschließend folgt die bekannte Stelle, an der Platon den Sokrates mit ironischem Unterton argumentieren lässt, dass es seiner Ansicht nach eigentlich eher angebracht wäre, ihn im Prytaneion speisen zu lassen, anstatt ihm den Prozess zu machen.

100 | Exkurs II: Kulturhistorische Splitter zur Muße Echekrates: Und eben solche, o Phaidon, hast du jetzt auch zu Hörern. Also versuch nur alles, so genau du immer kannst, uns vorzutragen« (Phaid. 58 d).6

Zweitens findet der Begriff der Muße später in diesem Dialog Phaidon in Bezug auf die Diskussion der Leib-Seele-Problematik Anwendung. An dieser Stelle scheint die scholê fest in die philosophische Argumentation mit eingebunden zu sein: »Denn über den Besitz von Geld und Gut entstehen alle Kriege, und dieses müssen wir haben des Leibes wegen, weil wir seiner Pflege dienstbar sind, und daher fehlt es uns an Muße, der Weisheit nachzutrachten, um aller dieser Dinge willen. Und endlich noch, wenn er uns auch einmal Muße lässt und wir uns anschicken, etwas zu untersuchen: so fällt er uns wieder bei den Untersuchungen selbst beschwerlich, macht uns Unruhe und Störung und verwirrt uns, so dass wir seinetwegen nicht das Wahre sehen können« (Phaid. 66 c).

Die Muße ist dieser Textstelle zufolge nicht nur Bedingung für das Gespräch oder für die Philosophie, sondern eine unumgängliche Voraussetzung für die Erkenntnis des Wahren und für die Weisheit, die beide jedoch durch die körperlichen Bedürfnisse des Menschen zeitweise verhindert werden und daher auch die Zeit der Muße empfindlich stören. Die Güter des Körpers, wie auch das Geld und andere äußere Güter, sind diesem Ausschnitt zufolge der Anlass für Kriege und Unruhen, weil der Mensch sich von ihnen verwirren, ablenken bzw. teilweise auch versklaven lässt und ihm deshalb „keine Muße für die Philosophie bleibt“ (Frede: 1999, 21). Ob und, wenn ja, in welcher Weise die Verwendung der scholê bei Platon auf Aristoteles und dessen späteren Gebrauch in Politik VII und VIII Einfluss gehabt hat, ist mit Sicherheit eine spannende Frage, die jedoch eine eigene Untersuchung verlangen würde, und dabei insbesondere eine intensivere Auseinandersetzung mit den Texten Platons sowie in diesem Rahmen auch mit dessen Staatskonzeption in den Nomoi, vielleicht im Gegensatz zum aristotelischen Staat nach bestem Ermessen.7

|| 6 Auch im Dialog Phaidros wird die Muße einleitend angesprochen, und das in ähnlicher Art und Weise wie hier in der ersten Stelle des Phaidon. Phaidros fragt Sokrates, ob dieser Zeit und Muße (σχολὴ) habe, ihm während des Gehens zuzuhören, was Sokrates durch eine Rückfrage bejaht (Phaidr. 227 b). 7 Einen überaus anregenden Versuch der Gegenüberstellung der scholê bei Platon und Aristoteles bietet Stocks an, der jedoch nur kleine Teile der entsprechenden Passagen in seinem Aufsatz diskutieren kann und dessen Diskussion bereits lange zurückliegt (vgl. Stocks: 1936, 177ff).

Exkurs II: Kulturhistorische Splitter zur Muße | 101

Eine der wenigen philosophischen Schriften, die sich ausdrücklich, wie bereits schon dem Titel zu entnehmen ist, mit der Muße des Menschen beschäftigt, finden wir bei Seneca mit De otio. Seneca führt vor Augen, wofür die Muße seiner Ansicht nach unabdingbar ist. Die Antwort auf diese Frage bei Seneca erinnert stark an die Verwendung der scholê bei Platon in dem Dialog Phaidon. Die Leitfrage Senecas lautet, wozu der Mensch überhaupt so etwas wie Muße brauche? Die Antwort ist: »[...], dass wir untersuchen, was ist die sittliche Vollkommenheit, gibt es eine oder mehrere, macht die Natur oder das Wissen die Menschen gut; gibt es einzig das was Meere und Länder und das in Meer und Ländern Enthaltene umfasst, oder hat viele Körper dieser Art der Gott verstreut; ist gänzlich zusammenhängend und voll die Materie, aus der alles entsteht, oder zerteilt, und ist mit Festem Leeres gemischt; was ist der Platz Gottes, betrachtet er sein Werk oder leitet er es; umgibt er es von außen, oder ist er in dessen Ganzem enthalten; ist unsterblich die Welt, oder muss sie zum Hinfälligen und auf Zeit Geschaffenen gerechnet werden?« (Seneca, Über die Muße, IV 2).

Kurzum: Zum Philosophieren, für eine Auseinandersetzung mit den Kernthemen des philosophischen Denkens wie Natur, Mensch, Moral und Gott, die in der zuvor zitierten Stelle angesprochen werden, meint Seneca sinngemäß, bedarf es der Muße. Es verwundert im Grunde genommen nicht, dass der ScholêBegriff in der lateinischen Otium-Übertragung im Zusammenhang mit der stoisch geprägten Philosophie Senecas vermehrt Anklang gefunden hat, wie auch De tranquillitate animi deutlich macht, wo die Muße ebenso thematisiert wird (Seneca: Über die Seelenruhe, II 9; III 3; V 4). Bei Augustinus ist auffällig, dass er – ähnlich wie Aristoteles – drei primäre Lebensformen des Menschen kennt: „[...] die müßige, die geschäftige und die aus beiden zusammengesetzte [...]“ (Augustinus: Vom Gottesstaat, XIX 19). Augustinus sieht in allen drei Formen die Möglichkeit gegeben, ein gottgefälliges Leben führen zu können. Niemand darf jedoch so müßig leben, dass er das Wohl des Mitmenschen dabei vergisst. In der Wahl der Lebensform gelte es auf die „Liebe zur Wahrheit“ zu achten und ihr entsprechend das Leben auszurichten. Denn das „Streben nach Wahrheitserkenntnis“, so Augustinus weiter, gehört zu einer „löblichen Muße“ dazu (Augustinus: Vom Gottesstaat, XIX 19). »Demnach darf niemand so müßig sein, dass er in seiner Muße das Wohl des Nächsten vergisst, aber auch nicht so geschäftig, dass er die geistliche Betrachtung versäumt. Bei der Muße soll nicht etwa träges Nichtstun locken, sondern das Erforschen und Auffinden der Wahrheit, und jeder darauf bedacht sein, in der Erkenntnis fortzuschreiten und, was er gefunden, auch dem Nächsten zu gönnen« (Augustinus: Vom Gottesstaat, XIX 19).

102 | Exkurs II: Kulturhistorische Splitter zur Muße Bei Benedikt von Nursia wird – in dessen Ordensregel – das von Augustinus angesprochene träge Nichtstun des Menschen in Bezug auf die Muße angesprochen, und zwar in der Form eines schädlichen Müßiggangs, wovor Benedikt ausdrücklich warnt: »Müßiggang ist der Seele Feind. Deshalb sollen die Brüder zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit, zu bestimmten Stunden mit heiliger Lesung beschäftigt sein« (Benedikt von Nursia: Ordensregel, 48.1).

Bei Thomas von Aquin lassen sich deutliche Verweise auf Augustinus und dessen drei Lebensformen aus De civitate Dei ausfindig machen, die Thomas auch zitiert und sich damit auseinandersetzt (S. theol. II/q.179, 2.2; q.182, 1 ad 3). Ein kurzer Blick in die Philosophie der Neuzeit zeigt, dass wir auch hier der Muße zwar zumeist eher am Rande der Argumentationen begegnen, allerdings zumindest das doch kontinuierlich. So auch bei René Descartes in seinen Meditationen über die Erste Philosophie. Dort heißt es einleitend zur ersten Meditation, wo Descartes in sein Vorhaben einführt und dabei erklärt: »Da trifft es sich sehr günstig, dass ich heute meinen Geist von allen Sorgen losgelöst und mir ungestörte Muße verschafft habe. Ich ziehe mich also in die Einsamkeit zurück und will ernst und frei diesen allgemeinen Umsturz aller meiner Meinungen vornehmen« (Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, I 1).

Auch hier sehen wir, dass die Muße offensichtlich, ähnlich wie zuvor bei Platon und Seneca schon angedeutet, eine Art der Vorbedingung für die Philosophie und das ruhige und konzentrierte Denken zu sein scheint, auch wenn das Zitat von Descartes eher als eine Art Einleitung in seine Meditationen aufzufassen ist und weniger als eine spezifisch philosophische Aussage. Bei Immanuel Kant wird die Muße verbunden mit einem gesellschaftskritischen Aspekt in seiner Kritik der Urteilskraft angesprochen, nämlich in dem Bereich der Muße einer sozialen Klasse auf Kosten einer anderen: »Die Geschicklichkeit kann in der Menschengattung nicht wohl entwickelt werden, als vermittelst der Ungleichheit unter Menschen; da die größte Zahl die Notwendigkeiten des Lebens gleichsam mechanisch, ohne dazu besonders Kunst zu bedürfen, zur Gemächlichkeit und Muße anderer, besorget, welche die minder notwendigen Stücke der Kultur, Wissenschaft und Kunst, bearbeiten, und von diesen in einem Stande des Drucks, saurer Arbeit und wenig Genusses gehalten wird [...]« (Kant: Kritik der Urteilskraft, A 388).

In der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner Wissenschaft der Logik zitiert G.W.F. Hegel eine Stelle aus der aristotelischen Metaphysik I 1. Dort hält Aristoteles fest, wie in Ägypten die Entwicklung der Mathematik möglich gewesen sei, nämlich deshalb, weil dort dem Priesterstand Muße zur Betrachtung und für die

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Forschung gegeben wurde (Aristoteles: Metaphysik, I 1, 981b20ff; Hegel: Wissenschaft der Logik, 22-23). In der Untersuchung der aristotelischen scholê werden auch wir auf diese Stelle aus der Metaphysik Bezug nehmen (vgl. Kap. 5.3). Ein anderes Licht auf die Muße, das an die zuvor angeführten Übersetzungen aus den diversen Lexika erinnert und im Grunde genommen der Verwendung bei den zuvor genannten Philosophen konträr gegenübersteht, wirft ein Gedicht von Friedrich Hölderlin, welches er der Muße gewidmet hat und mit dem Satz einleitet: »Sorglos schlummert die Brust und es ruhn die strengen Gedanken« (Hölderlin: Die Muße, 1).

Der Dichter lobt die Muße in Bezug auf den Genuss, die Erholung, bzw. er bezeichnet sie auch als eine rundum friedliche Zeit, die vor allem dadurch gekennzeichnet sei, dass sie frei von Arbeit ist. Hölderlin spricht allerdings in seinem Gedicht ebenso das Gegenteil von Muße an. Er nennt das den geheimen Geist der Unruhe, der „in der Brust der Erdʼ und der Menschen zürnet und gärt“ (Hölderlin: Die Muße, 28-30). Arthur Schopenhauer hingegen schließt in seiner Argumentation an die vor Hölderlin angeführten Argumente über die Muße an. Für ihn ist die Muße von einem unschätzbaren Wert. Dabei wiegt Schopenhauer auf der einen Seite Muße und Geistesbildung und auf der anderen Seite Luxus und Wohlleben gegeneinander ab. Sein pointiertes Resümee lautet, dass seiner Ansicht nach viele den Champagner der Muße vorziehen: »Daher wird ein Solcher es vorziehn, nöthigenfalls in der beschränktesten Lage zu leben, wenn sie ihm den freien Gebrauch seiner Zeit zur Entwickelung und Anwendung seiner Kräfte, also die für ihn unschätzbare Muße, gewährt. Anders freilich steht es mit den gewöhnlichen Leuten, deren Muße ohne objektiven Werth, sogar für sie nicht ohne Gefahr ist: sie scheinen Dies zu fühlen. Denn die zu beispielloser Höhe gestiegene Technik unsrer Zeit giebt, indem sie Gegenstände des Luxus vervielfältigt und vermehrt, den vom Glücke Begünstigteren die Wahl zwischen mehr Muße und Geistesbildung einerseits und mehr Luxus und Wohlleben, bei angestrengter Thätigkeit, andererseits: sie wählen, charakteristisch, in der Regel das Letztere, und ziehn Champagner der Muße vor« (Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, II 81).

Karl Marx sieht in der freien Zeit des Menschen, in Abgrenzung zum Arbeitsprozess, die Möglichkeit zur vollen Entwicklung des Individuums gegeben. Diese Entwicklung ist jedoch nicht nur für den Menschen selbst und für sein individuelles Leben von Bedeutung, sondern hat auch auf den Arbeits- und Produktionsprozess der Gesellschaft selbst Auswirkungen:

104 | Exkurs II: Kulturhistorische Splitter zur Muße »Die Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktionskraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit. [...]. Die freie Zeit – die sowohl Mußezeit als Zeit für höhre Tätigkeit ist – hat ihren Besitzer natürlich in ein andres Subjekt verwandelt und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozess« (Marx: Grundriss der Kritik der politischen Ökonomie, 599).

Friedrich Nietzsche zieht die Muße heran, um seiner kritischen Einstellung gegenüber den zeitgenössischen Gelehrten und deren Habitus Ausdruck zu verleihen: »Während der wirkliche Denker nichts mehr ersehnt als Musse, flieht der gewöhnliche Gelehrte vor ihr, weil er mit ihr nichts anzufangen weiss« (Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher, 6/24).

Viele Menschen sind, so Nietzsche, zwar tätig, allerdings nicht im Sinne einer höheren Tätigkeit. Für ihn teilt sich die Gesellschaft daher nach wie vor in Sklaven und in Freie, wie das auch schon in der Antike der Fall war. Dabei stellt Nietzsche fest, dass derjenige, der nicht zwei Drittel des Tages für sich zur Verfügung hätte, ein Sklave ist. Egal, ob derjenige Staatsmann, Kaufmann, Beamter oder Gelehrter sei (Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, 283). »Die Gelehrten schämen sich des otium. Es ist aber ein edel Ding um Musse und Müssiggehen. – Wenn Müssiggang wirklich der Anfang aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der nächsten Nähe aller Tugenden; der müssige Mensch ist immer noch ein besserer Mensch als der thätige« (Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, 284).

Tatsache ist jedoch, dass wir, abgesehen von den literarischen Ursprüngen bei Aischylos, Pindar und der philosophischen Verwendung bei Platon, vor allem bei Aristoteles und in seiner politischen Philosophie der Anwendung der scholê in einer systematischen Art und Weise begegnen. Durch ihn ist die Muße des Menschen zu einem größeren philosophischen Thema geworden, als sie es vermutlich zuvor war und eigentlich auch, als sie es danach gewesen ist. Deshalb knüpften viele Denker immer wieder gerne an Aristotelesʼ Überlegungen zur Muße an. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts dient die aristotelische scholê hingegen nur noch sehr selten als Ausgangspunkt für philosophische Projekte, wie z.B. bei dem Buch von Pieper mit dem Titel Muße und Kult, der sich erstens ausdrücklich an der aristotelischen scholê orientiert – unter Berufung auf Stellen sowohl aus der Nikomachischen Ethik als auch aus der Metaphysik –, und zweitens die Muße im aristotelischen Verständnis als eines der Fundamente der abendländischen Kultur schlechthin ausweist (vgl. Pieper: 2007, 48).

| Teil B: Aristotelesʼ Philosophie der Muße

4 Muße in Politik VII und VIII Mit der Grundlegung des hairetôtatos bios anhand von Politik VII 1 bis 3 haben wir zu Beginn der Studie zumindest ansatzweise in Erfahrung bringen können, was unter dem „erstrebenswertesten Leben“ verstanden werden kann. Aristoteles spricht diesbezüglich eine Wechselbeziehung von theoretischbetrachtender und praktisch-politischer Tätigkeit an (Pol. VII 3, 1325b15ff). Anders formuliert, wie schon zuvor mit Depew argumentiert, zeigt Aristoteles auf, dass „political and contemplative engagements can fuse into a sui generis way of life“ (Depew: 1991, 353). Anhand von Politik VII 3 lässt sich – wenn auch die These des „inclusive end“ generell als umstritten gilt – ein „Nachweis um eine Verbindung von praktischer-politischer und theoretischer Lebensform“ zeigen (Flashar: 2004, 313). Somit sind für das erstrebenswerteste Leben beide Arten der Tugend gefordert, nämlich sowohl die ethischen als auch die dianoetischen, die Aristoteles zu Beginn in Politik VII auch anspricht (Pol. VII 1, 1323b3). In ihrer philosophischen Dichte betrachtet sind die Bestimmungen des erstrebenswertesten Lebens aus Politik VII 1 bis 3 jedoch relativ dünn. Denn auf diese Kapitel allein beschränkt, bleiben nicht unwesentliche Fragen vorerst ungeklärt: Wie lässt sich diese Lebensform genauer charakterisieren? Worauf ist ihr spezieller Fokus nach Politik VII und VIII gerichtet? Was ist zu tun, was ist zu denken? Wem wird dieses erstrebenswerteste Leben im Staat nach bestem Ermessen zugesprochen und wem nicht? Wer soll dieses spezifische Leben wie verwirklichen und welche Auswirkungen hat diese Lebensform auf die Verfassung des gesamten Polis-Entwurfs? Denn dem ersten Satz aus Politik VII 1 zufolge muss die Bestimmung des erstrebenswertesten Lebens Einfluss auf die Verfassung des Staates haben. Wie wir als These einleitend angeführt haben, stehen der hairetôtatos bios, die aristê politeia, aber auch die scholê in der Konzeption aus Politik VII und VIII in einer engen Verbindung zueinander. Vor allem die scholê nimmt in der Theorie des erstrebenswertesten Lebens und im Staat nach bestem Ermessen eine wichtige Rolle ein. Diese These soll in den kommenden Abschnitten des zweiten Teils dieser Studie diskutiert und belegt werden. Die scholê ist zwar kein Thema, dem Aristoteles in seiner politischen Philosophie im Gesamten betrachtet oberste Priorität eingeräumt hat, wie er das z.B. bei der eudaimonia, dem eu zên oder bei seinen beiden anthropologischen Grundkonstanten aus Politik I 2 getan hat, jedoch werden wir feststellen können, dass die scholê für Politik VII und VIII in vielerlei Hinsicht konstitutiv und daher für eine umfassende Interpretation dieser beiden Bücher schlichtweg unverzichtbar ist, weil sie einen gewichtigen Teil der gesamten Konzeption trägt, was nun zu beweisen sein wird.

108 | Muße in Politik VII und VIII

4.1 Grundthesen der scholê-Interpretation Die scholê findet bei Aristoteles vor allem in seiner politischen Philosophie, in der Politik sowie in der Nikomachischen Ethik, die zentrale Anwendung. Interessanterweise finden wir jedoch die mit Abstand häufigste Verwendung der scholê sowie etymologisch verwandter Wörter und Wortgruppen erstens in der Politik (nicht wie auf einen ersten Blick vielleicht angenommen werden mag, in der Nikomachischen Ethik in Bezug auf die umfassende Glückseligkeit, die Tugenden oder den bios theôrêtikos) und zweitens insbesondere in den beiden Büchern VII und VIII (vgl. Bonitz: 1870, 741; Mikkola: 1958, 70). Vor allem die Überlegungen zum Staat nach bestem Ermessen wurden bereits in vielen Studien untersucht und aus den unterschiedlichsten Perspektiven diskutiert und kritisiert, wie wir an anderer Stelle bereits ausgeführt haben (vgl. Kap. 2.4): in den Altertumswissenschaften, der klassischen Philologie, den Politikwissenschaften, aber natürlich vor allem in der Philosophie. Eine spezifische Untersuchung zum Begriff der Muße bei Aristoteles im Kontext seiner politischen Philosophie scheint bislang, bis auf einige wenige, in die Jahre gekommene Ausnahmen im Rahmen kleinerer Abhandlungen, hingegen noch nicht vorzuliegen. Diese Lücke zeigt sich auch darin, dass selbst in namhaften Lexika das Stichwort scholê selten bis gar nicht geführt wird, und wenn doch, dann eher spärlich ausformuliert und interessanterweise kaum in direkter Verbindung mit der Politik.1 Dem steht eine kleine Zahl an Forschern gegenüber, welche den Begriff der Muße in der spezifisch aristotelischen Verwendung thematisieren und dessen Bedeutung für ein umfassendes Verständnis von Politik VII und VIII ansatzweise hervorheben. Eine erste Auswahl davon soll nun vorgestellt werden, um eine Annäherung an die aristotelische scholê zu ermöglichen, und erste Sichtweisen vor Augen zu führen. Neschke-Hentschke bezeichnet in ihrer Untersuchung der Bücher VII und VIII der aristotelischen Politik die Muße als einen für das Verständnis dieser beiden Texte zentralen Begriff. Zum einen beinhalte die Muße negativ die Freiheit vom Erwerb des Lebensnotwendigen, zum anderen positiv die Freiheit zur || 1 So findet sich im Philosophischen Wörterbuch (Schmidt/Schischkoff: 1991) kein Eintrag zur Muße; ebenso nicht im Aristoteles-Lexikon (Höffe: 2005). Auch das Lexikon Grundbegriffe der antiken Philosophie (Bächli/Graeser: 2000) führt den Begriff nicht an. Im Wörterbuch der antiken Philosophie findet sich hingegen ein kurzer Eintrag zur scholê, wobei hier der Begriff mehr Platon als Aristoteles zugeordnet wird (vgl. Horn/Rapp: 2008, S. 392, s.v. scholê). Im Historischen Wörterbuch der Philosophie (HWPh: 1984) findet sich ein kurzer Überblick über die Verwendung der Muße von Platon bis Schopenhauer, welcher die spezifischen Bestimmungen bei Aristoteles jedoch nur streift (vgl. HWPh: Bd. 6, Sp. 257, s.v. Muße).

Grundthesen der scholê-Interpretation | 109

Realisierung des Glücks.2 Der Muße, so Neschke-Hentschke, kommt demnach eine zweifache Bedeutung zu. So geht es zum einen um das Erlangen eines Grundmaßes an Autarkie, verstanden als das zum Leben Notwendige, primär in ökonomischer Hinsicht, sowie zum anderen um die prinzipielle Möglichkeit zur Realisierung des Glücks bzw. der Glücksseligkeit, der eudaimonia. Diese liegt nach Aristoteles bekannterweise in der Verwirklichung des guten und gelingenden Lebens, des eu zên. Es scheint also so, als ob sich in der scholê aus Politik VII und VIII eine Vielzahl an grundlegenden Charakteristika der aristotelischen politischen Philosophie in ihrer Gesamtheit widerspiegeln. Denn die Themen der Autarkie und der Glückseligkeit sind von konstitutiver Bedeutung für die Philosophie der menschlichen Angelegenheiten im Allgemeinen und für den Staat nach bestem Ermessen im Speziellen. Der Muße kommt demnach, so eine der vorläufigen Arbeitshypothesen, wie sie Neschke-Hentschke formuliert hat, eine zentrale, vermittelnde Rolle zu, zumal sie nach Politik VII und VIII zwei wichtige Themen, Autarkie und Glückseligkeit, miteinander verbindet. Neschke-Hentschke deutet diesen Kontext in ihren Ausführungen an, wenn sie anhand von Politik VII 10 über die Polis als „eine autarke Gemeinschaft des guten Lebens“ spricht (Neschke-Hentschke: 2001, 175). Dieser verbindende Charakter, so kann bereits an dieser Stelle zustimmend argumentiert werden, zeigt sich rein äußerlich bereits darin, dass Aristoteles in der Politik die Autarkie in all ihren Facetten behandelt (wie wir zuvor in unserer Untersuchung speziell der politischen Autarkie gesehen haben, vgl. Kap. 3.) und die Gründe für ihre unmittelbare Notwendigkeit für den Menschen als ein soziales Lebewesen darlegt. Das gute und gelingende Leben des einzelnen Menschen mit dem Fokus auf der eudaimonia, thematisiert Aristoteles hingegen vorrangig, aber auch hier nicht ausschließlich, in der Nikomachischen Ethik. Für Neschke-Hentschke zeigt sich die Aufgabe bzw. der Nutzen der Muße darin, dass der Bürger, dem Aristoteles in Politik VII und VIII eine besondere Stellung zuspricht, neben seinen praktischen, d.h. in diesem Falle politischen Tätigkei-

|| 2 Neschke-Hentschke: „Muße ist ein Zentralbegriff: Er beinhaltet negativ die Freiheit vom Erwerb des Lebensnotwendigen (ta anankaia, VIII 15, 1333a32-36), positiv die Freiheit zur Realisierung des Glücks (VIII 3, 1338a1-6)“ (Neschke-Hentschke: 2001, 172). Der Verweis auf Pol. VIII 15, 1333a32-36 bedarf einer zweifachen Korrektur. Zum einen hat das VIII. Buch der Pol. in der uns vorliegenden Überlieferung bloß sieben Kapitel, dass VII. Buch hingegen 17. Zum anderen ist die angeführte Stelle nicht in Kapitel 15, sondern in Pol. VII 14 zu finden. Gemeint sein könnte somit die Stelle Pol. VII 14, 1333a32-36. Neschke-Hentschke zitiert in ihrem Text auch kurz zuvor diese Stelle, wo Aristoteles über den allgemeinen Charakter der Muße spricht.

110 | Muße in Politik VII und VIII ten auch dafür Zeit hat, sich der Philosophie (oder aber auch der „Musik“) zu widmen, welche ihm die „Aktualisierung seiner theoretischen Fähigkeiten erlaubt“ (Neschke-Hentschke: 2001, 172). Ob und, wenn ja, in welcher Weise dieser Interpretation von Neschke-Hentschke zuzustimmen ist, wird sich im Laufe unserer Untersuchung noch zeigen. Einen sehr hohen Wert für eine Beschäftigung mit der scholê bei Aristoteles hat die Untersuchung von Mikkola. Das zeigt sich schon allein darin, dass er jene Textstellen zur Muße und verwandter Wortgruppen erfasst, die Bonitz im Index Aristotelicus auslässt. Auch Mikkola erkennt dabei klar, dass die scholê bei Aristoteles in Politik VII und VIII am häufigsten thematisiert wird.3 Die restliche Verwendung findet sich entweder verteilt auf die anderen sechs Bücher der Politik oder in anderen Werken, etwa in der Nikomachischen Ethik, vereinzelt auch in der Metaphysik. Mikkola interpretiert das, was wir bei NeschkeHentschke zuvor, in Verbindung mit der Polis, als „autarke Gemeinschaft des guten Lebens“ angeführt haben, als ein spezifisch „sozialpolitisches Denken“, von dem er glaubt, es bei Aristoteles in Politik VII und VIII insbesondere anhand der scholê ausfindig machen zu können (Mikkola: 1958, 70). Besonders prüfenswert erscheint die These, dass Aristoteles „mit dem Begriff der scholê dynamisch eine bestimmte, höhere Lebensform“ entwickelt hätte (Mikkola: 1958, 84), womit wir wieder bei der Frage nach dem hairetôtatos bios angelangt sind. Offensichtlich nimmt die scholê in Bezug auf das erstrebenswerteste Leben einen wichtigen Stellenwert ein, den es jedoch deutlicher aufzuzeigen gilt. Neschke-Hentschke und Mikkola betonen die zentrale Rolle der scholê für Politik VII bzw. VIII und ordnen der Muße Verbindungen sowohl zur Autarkie als auch zur Eudaimonie zu, ohne diese jedoch genauer auszulegen und ohne einen deutlich erkennbaren Bezug dieser Schlüsselfunktion zur aristotelischen Suche nach dem hairetôtatos bios aus Politik VII 1 bis 3 im Zusammenhang mit der aristê politeia. Hinzuzufügen ist, dass Mikkola in seiner Interpretation weitsichtiger argumentiert als Neschke-Hentschke, wenn er die zuvor zitierte These entwickelt, dass es sich bei der Muße aus Politik VII und VIII um eine „höhere Lebensform“ handelt (Mikkola: 1958, 84). Das deutet auch Flashar an, wenn er von einer umfassenden Diskussion der Lebensformen insbesondere in Politik VII 2 spricht und diese Diskussion mit der Nikomachischen Ethik vergleicht, worauf schon einleitend aufmerksam gemacht wurde (vgl. Flashar: 2004, 313). || 3 Mikkola zählt insgesamt 89 Stellen, an denen sich die scholê bzw. mit ihr verwandte Begriffe wie die ascholia oder ascholazein finden lassen: „Von dem Gesamtbetrag 89 kommt die Hälfte (46), die den Sinn des Begriffs am besten beleuchtenden Stellen, in den Büchern ΗΘ des Werkes Πολιτικά vor, deren Zweck ist, ein Bild von dem Idealstaat zu geben (ἀριστη πολιτεία)“ (Mikkola: 1958, 70).

Grundthesen der scholê-Interpretation | 111

Schütrumpf setzt sich in seinem umfassenden Kommentar zur Politik, hierbei speziell in jenem zu den Büchern VII und VIII, auch kurzzeitig mit der Muße auseinander. Er bezeichnet die scholê, ähnlich wie zuvor Mikkola als „die höchste Form der Lebensgestaltung“ (Schütrumpf: 2005, 157) und kommt an anderer Stelle des Kommentars zu dem Ergebnis, die Muße sei „das Ziel des Lebens“ (Schütrumpf: 2005, 133). Bei einer genaueren Untersuchung dieses Ansatzes ist zu bemerken, dass Schütrumpf offensichtlich ebenso eine genuin sozialpolitische Bedeutung der scholê erkennt, wie es Neschke-Hentschke oder mehr noch Mikkola andeuten. So spricht auch Schütrumpf im Zusammenhang mit Politik VII und VIII über die Themen Autarkie, Muße und Glück und führt neben dem letzten Aspekt, dem Glück, noch ein anderes Thema ein, nämlich jenes der Tugenden, das auch wir bereits einleitend mit Politik VII 1 bis 3 angesprochen haben. Dabei räumt Schütrumpf der aretê, im Hinblick auf den Aufbau des Staates nach bestem Ermessen, einen großen Stellenwert ein. Sie sei seiner Ansicht nach das ausschlaggebende Kriterium für die Bestimmung der sozialen Struktur, der inneren Polis-Verfassung, und ist damit für die ganze politische Gemeinschaft ein maßgeblicher Faktor.4 Anhand der Ausführungen von Neschke-Hentschke, Mikkola und Schütrumpf lässt sich ein erster Eindruck darüber vermitteln, warum eine intensive Auseinandersetzung mit der aristotelischen scholê überaus lohnend ist. Zum einen bezeichnet Neschke-Hentschke die Muße innerhalb von Politik VII und VIII als einen „Zentralbegriff“, der für die autarke Polis-Gemeinschaft des guten Lebens von großer Bedeutung sei. Zum anderen ortet Mikkola in der scholê ein spezifisches „sozialpolitisches Denken“ und kommt dabei zu dem Schluss, dass die Muße eine „höhere Lebensform“ darstelle. Hinzu kommt die Interpretation Schütrumpfs, der in der scholê aus Politik VII und VIII überhaupt „die höchste Form der Lebensgestaltung“, das „Ziel des Lebens“ im Staat nach bestem Ermessen gegeben sieht. Abgesehen davon, dass diese drei hier angeführten Interpretationen unterschiedliche Überlegungen anstellen, muss erstens nachgefragt werden, worin die „zentrale Rolle“ der scholê genau liegt, zweitens wie das „sozialpolitische Denken“ diesbezüglich charakterisiert werden kann (sofern es in dieser hier angesprochenen Form überhaupt vorhanden ist) und drittens, ob es sich tatsächlich bei der scholê aus Politik VII und VIII um die „höchste Lebensform“ handelt oder gar um das „Ziel des Lebens“ – und somit vielleicht um den von

|| 4 Schütrumpf dazu: „Am bedeutsamsten für den Aufbau des besten Staates ist aretê in ihrer Rolle als Kriterium für die Bestimmung der sozialen Struktur dieser Gemeinschaft als Ganzer und ihrer politische [sic!] Organisation im Besonderen“ (Schütrumpf: 2005, 101).

112 | Muße in Politik VII und VIII Aristoteles zu Beginn von Politik VII 1 bis 3 gesuchten hairetôtatos bios, das erstrebenswerteste Leben, innerhalb seiner aristê politeia? Diesen Fragestellungen soll nun in den kommenden Untersuchungen nachgegangen werden.

4.2 Territorium und Bürgerschaft Innerhalb von Politik VII und VIII wird die scholê in VII 5 eingeführt. Aristoteles handelt in diesem Text über die notwendigen territorialen Bestimmungen für seinen Staat nach bestem Ermessen. Auf einen ersten Blick scheint diese Kombination zu verwundern, vor allem dann, wenn wir an die inhaltliche Auslegung des Begriffs der Muße z.B. bei Platon und Seneca oder an seine angesprochene Verwendung bei Descartes denken. Schütrumpf vertritt in seiner Interpretation von Politik VII 5 die Position, dass es sich hier eindeutig um die Situation der Neugründung einer Polis, begonnen bei ihren Grundmauern, handele (vgl. Schütrumpf: 2005, 308). Diese Überlegung liegt in der Tat nahe, da Aristoteles hier über viele äußere Bedingungen der Polis-Gestaltung spricht, die er sich bei einer Er- bzw. Einrichtung wünschen würde (Pol. VII 5, 1327a4). Jedoch ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass sich Aristoteles hier in Bezug auf das Territorium der Polis vor allem zur Struktur des ländlichen Umfelds äußert, also zur chôra und weniger zum Stadtkern (asty) selbst (vgl. Kraut: 1997, 84), dessen Gestaltung wir zuvor im Hinblick auf die äußere Verfassung der aristê politeia zur (An-)Lage der Polis angesprochen haben (vgl. Kap. 2.2). In Bezug auf die Bestimmungen zum Territorium macht Aristoteles zwar knappe, jedoch überaus aussagekräftige Angaben. Er unterscheidet zwischen zwei unterschiedlichen Ebenen. Er spricht zum einen über die notwendige Beschaffenheit der Landschaft, die Topographie, sowie zum anderen über die Größe, die notwendige Ausdehnung des Polis-Gebiets. Erstens muss das Land in seiner Topographie so beschaffen sein, dass es autark ist, und zweitens muss es über eine Ausdehnung verfügen, die es den Einwohnern ermöglicht, „in Muße freigiebig und zugleich enthaltsam“ leben zu können (Pol. VII 5, 1326b33).5 || 5 Im Text heißt es: »Denn fragen wir nach der erforderlichen Beschaffenheit desselben, so wird ohne Zweifel jedermann dasjenige loben, welches am meisten sich selbst genug ist, und dies wird notwendig ein solches sein, das alle Erzeugnisse selber hervorbringt, denn alles selbst zu besitzen und keines anderen zu bedürfen, darin besteht die Selbstgenügsamkeit; fragen wir aber nach der richtigen Größe und Ausdehnung des Landgebiets, so wird wiederum jedermann sagen, es müsse so groß sein, dass es den Einwohnern die Möglichkeit gewährt, in Muße freigiebig und zugleich enthaltsam zu leben« (Pol. VII 5, 1326b26ff).

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Bereits an dieser Stelle in Politik VII 5, an der die scholê innerhalb von Politik VII und VIII erstmals erwähnt wird, sehen wir den Zusammenhang von Autarkie und Muße angedeutet, selbst wenn diese beiden Themen hier noch in unterschiedlichen Kontexten verwendet werden. Für kurzzeitige Verwirrung in Bezug auf den politischen Autarkie-Begriff sorgt, dass Aristoteles zu Beginn von Politik VII 5 in Verbindung mit der Autarkie von völliger Selbstgenügsamkeit spricht, als „keines anderen mehr zu bedürfen“ (Pol. VII 5, 1326b28). Doch dies ist nicht seine eigene Meinung, sondern eine Zusammenfassung gängiger Auffassungen, die Aristoteles hier anspricht und die er daraufhin prüfen bzw. widerlegen möchte. In Bezug auf seinen Staat nach bestem Ermessen kommt er im gleichen Text zu dem Ergebnis, dass eine völlige Autarkie, verstanden als Isolation von der Um- und Mitwelt, ihm als nicht wünschenswert erscheint: »Was ferner die Lage der Stadt [der Polis, τῆς δὲ πόλεως] betrifft, so muss, wenn man sie nach Wunsch einrichten soll, die Stadt [die chôra, τε τὴν χώραν] sowohl in bezug auf die See- wie auf die Landverbindung gut gelegen sein. Eine Bestimmung nun in bezug auf ihre Lage ist die eben angegebene: es muss leicht von ihr aus zur Verteidigung gegen einfallende Feinde nach allen Punkten des Landes hin und umgekehrt Hilfe gebracht werden können. Ein zweiter Punkt aber ist der: es müssen ihr leicht von allen Seiten her die Erzeugnisse an Feldfrucht sowie an Holz, und was das Land [ἡ χώρα] sonst etwa an Hilfsquellen für den Betrieb darbietet, zugeführt werden können« (Pol. VII 5, 1327a3ff).

Die Tatsache, dass sich Aristoteles hier in Politik VII 5 mit den äußeren Gegebenheiten der Polis-Gestaltung, der Topographie sowie der Größe auseinandersetzt und in diesem Zusammenhang seinen scholê-Begriff einführt, macht ein weiteres Mal deutlich, dass es sich in seiner Staatskonzeption nicht um ein rein theoretisches Gedankenkonstrukt handelt, welches für eine etwaige Verwirklichung nie vorgesehen war (vgl. Kap. 2.5). Drei Aspekte scheinen in der zuvor zitierten Textstelle vorrangig zu sein. Zum einen muss die Polis gute Verbindungen auf Landwegen und Meerstrecken nach außen, also eventuell auch zu anderen Poleis, haben. Zum anderen muss die territoriale Beschaffenheit eine günstige militärische Verteidigung und im Notfall, wiederum von außen, rasche Hilfestellungen ermöglichen. Drittens muss die Lage der Polis vor allem ökonomische Transaktionen begünstigen. Dies macht auch Politik VII 6 deutlich, wo Aristoteles über die Vor- und Nachteile einer Verbindung der Polis mit dem Meer spricht und zu dem Ergebnis kommt, dass eine solche Verbindung zwar auch Nachteile mit sich bringt, jedoch in Bezug auf Wirtschaft und Verteidigung durchaus wünschenswert ist (Pol. VII 6, 1327a11ff; vgl. Kap. 2.2). Wir sehen also auch hier deutlich, dass eine autarke Polis im aristotelischen Verständnis keine nach außen hin isolierte Polis bedeutet. Politische Autarkie meint vielmehr eine ausreichende, ausgereifte, d.h. gut strukturierte und durchdachte Vernetzung.

114 | Muße in Politik VII und VIII Politik VII 5 kann als eine Art Vorbereitungskapitel für spätere Argumentationen in Bezug auf die scholê gelesen werden. Es geht Aristoteles hier zunächst einmal offensichtlich darum, äußere Bedingungen zu definieren, die in späterer Folge einen bestimmten Lebensstil des Menschen zulassen bzw. ermöglichen sollen (vgl. Schütrumpf: 2005, 308). Ziel dieser Gedanken zur Topographie und zur Größe des Gebiets ist es, dass in dieser Polis ein Leben in Muße, in der aristotelischen Terminologie „freigiebig und zugleich enthaltsam“, möglich sein soll. Im Rahmen seiner territorialen Bestimmungen fordert Aristoteles also ein autarkes Gebiet in Hinsicht auf die Beschaffenheit des Landes, im Grunde die Versorgung mit den notwendigsten Ressourcen, wie z.B. Wasser, Wald und Ackerland, sowie die Möglichkeit für wirtschaftliche Transaktionen. Als Maßstab für die Größe des Landes gibt er, wie gesagt, hingegen an, dass es jedem möglich sein muss, in Muße freigiebig und enthaltsam zu leben. Wie genau dies zu interpretieren ist, bleibt an dieser Stelle vorerst noch offen. Aristoteles kündigt jedoch an, dass er diesen Thesen weiter nachgehen und sie später einer etwas umfassenderen Prüfung unterziehen möchte: »Ob wir diese Bestimmung mit Recht treffen oder nicht, wird später genauer zu untersuchen sein, wenn wir auf den Besitz im allgemeinen und auf den Wohlstand zu sprechen kommen und darauf, wie und auf welche Weise man davon Gebrauch zu machen hat. Denn über diese Frage herrscht große Meinungsverschiedenheit, weil die Menschen zu einem der beiden Extreme neigen, die einen zur Kargheit, die anderen zum Luxus« (Pol. VII 5, 1326b33ff).

Die darauffolgenden Kapitel Politik VII 7 bis 10 sind eng miteinander verflochten und sehr umfangreich. Insgesamt betrachtet geht es um die Bestimmungen über die Bürger sowie um ihre notwendige „natürliche Beschaffenheit“ (Pol. VII 7, 1327b20). Aristoteles spricht zu Beginn dieser Kapitel, als Art Einleitung zu seinen Theorien über den Bürger im Staat nach bestem Ermessen, in großer, generalisierender Manier über die Kulturen im Norden Europas sowie über die Kulturen in Asien. Dabei attestiert er den Menschen im Norden Europas pauschal ein großes Potential an Mut, jedoch ein geringeres Potential an Denkvermögen und Kunstfertigkeit. Den Asiaten hingegen wird genauso pauschal ein hohes Maß an Denkvermögen, jedoch ein geringeres Maß an Mut zugeschrieben. Aber, wie sollte es auch anders sein, die meisten Griechen, die Aristoteles auch in der geographischen Mitte zwischen Nordeuropa und Asien anordnet, vereinen in idealer Art und Weise beide Fertigkeiten in sich, weisen also ein hohes Maß an Mut und zugleich an Denkvermögen auf (Pol. VII 7, 1327b23ff). Bei diesen Ansichten brauchen wir uns nicht lange aufzuhalten und sie sind in der Antike, in Literatur sowie auch in der Geschichtsschreibung, keine Seltenheit. So z.B. bei Thukydides, der in der „Gefallenenrede“ den Perikles die Wich-

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tigkeit einer Kombination von Mut und Intellekt hervorheben lässt und diese schließlich bei den Athenern zu finden glaubt (Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, II 39). Die aristotelische Ansicht ist eine für die damalige Zeit eher gängige. Schütrumpf meint dazu, dass lediglich die Tatsache, dass „Aristoteles bei einigen Griechen die gleiche Einseitigkeit konstatiert (1327b33-36)“, ihn gegen den Vorwurf des „rassistischen Vorurteils“ schützt (Schütrumpf: 2005, 327). Schofield sieht in den aristotelischen Äußerungen die Grundlegungen einer prinzipiell „rassistischen Idee“ gegeben (Schofield: 1990, 21). Zumindest, soviel soll an dieser Stelle festgehalten werden, haben wir es hier wohl mit einer durch und durch nationalistischen Perspektive zu tun. Wichtig ist jedoch für unseren Fokus eine andere These, die Aristoteles aus dem zuvor Gesagten ableitet. Denn er gelangt zu dem Ergebnis, dass die Menschen in einer Polis sich für den Gesetzgeber als lenksam zur Tugend erweisen sollen und daher von Natur aus mit Denkvermögen, aber ebenso mit Mut begabt bzw. ausgestattet sein müssen (Pol. VII 7, 1327b35). Dies ist demnach auch für seinen Staat nach bestem Ermessen ein wichtiges Kriterium. Die Tragweite dieser Bestimmung wird erst durch die späteren Texte erkennbar werden, so z.B. mit Politik VII 13 und 15. Für das politische Leben des Menschen in der Polis bzw. hier im Staat nach bestem Ermessen sind nach Aristoteles insgesamt drei Charakteristika unentbehrlich: Denkvermögen (dianoia), Kunstfertigkeit (technê) und Mut (thymos). Dabei leitet er aus diesen drei Fähigkeiten folgende potentielle Wirkungen ab: Mut, Denkvermögen und Kunstfertigkeit ermöglichen bzw. begünstigen zum einen die Freiheit der Polis, zum anderen gewähren sie eine innere staatliche Ordnung, und des Weiteren ermöglichen sie prinzipiell die Herrschaft über andere Völker (Pol. VII 7, 1327b31; vgl. Schütrumpf: 2005, 327). Noch brisanter als diese Thesen aus Politik VII 7 erscheinen aus heutiger Perspektive jedoch jene aus Politik VII 8, wo Aristoteles über die für den besten Staat notwendigen sozialen Stände spricht, die wir bereits zuvor in dieser Studie angesprochen haben (vgl. Kap. 2.3). Dabei trifft Aristoteles jene Unterscheidung, die innerhalb der politischen Philosophie, aber ebenso auch in den Politikwissenschaften und in der Soziologie, vielfach und überaus kontrovers diskutiert wurde: »Da nun aber überhaupt bei allem, was ein Zusammengesetzes von Natur ist, nicht all das auch schon wirkliche Teile der ganzen Zusammensetzung sind, ohne welches dies Ganze nicht bestehen kann, so darf man offenbar auch als wirkliche Teile des Staates nicht alles dasjenige hinstellen, was für die Staaten unentbehrlich ist, [...]« (Pol. VII 8, 1328a1ff).

116 | Muße in Politik VII und VIII Aristoteles bereitet mit dieser Aussage seine Differenzierung der Polis in die „notwendigen Voraussetzungen“ und die „tatsächlichen Teile“ dieser politischen Gemeinschaft vor, wie auch Kraut in seinem Kommentar bemerkt.6 Die innere Verfassung des Staats nach bestem Ermessen ist sehr komplex und bedarf daher einer genaueren Untersuchung, da sie für ein umfassendes Verständnis der scholê bei Aristoteles unentbehrlich ist. In Politik VII 8 kommt Aristoteles, wie gesagt, auf die grundlegenden Tätigkeitsbereiche zu sprechen, die sich auch in der Gesellschaftsstruktur dieser Art der Polis im Ganzen widerzuspiegeln haben. Diese sechs Kerntätigkeiten umfassen die Nahrungswirtschaft, die Kunstfertigkeiten, welche primär als Handwerk zu verstehen sind, die Waffenkunde, die Geldwirtschaft, die Pflege und Betätigung des Kultus und der Religion sowie die Rechtsberatung und Rechtsprechung, also die Entscheidungen darüber, was „das Beste und das Rechte ist“ (Pol. VII 8, 1328b5). Eine Polis besteht nach Aristoteles nicht aus einer beliebigen Menschenmenge, sondern aus einer gewissen Anzahl an Menschen, die dazu in der Lage sind, gemeinsam ein selbstgenügsames Leben in Bezug auf die notwendigsten und wichtigsten Lebensbereiche zu führen, jedoch mit dem Fokus auf das eu zên. Sollte es an einem der zuvor genannten sechs Tätigkeitsbereiche mangeln, so ist es nach Aristoteles unmöglich, dass diese Gemeinschaft erstens sich selbst genügt und zweitens ihren Fortbestand sichern kann. Dies bringt er in Politik VII 8 deutlich auf den Punkt: »Es muss also eine gewisse Zahl von Ackerbauern da sein, um die Nahrung zu beschaffen, sodann von Handwerkern, ferner eine streitbare Macht, eine Zahl wohlhabender Leute, Priester und endlich Männer, welche die Entscheidung darüber zu fällen haben, was Rechtens und was heilsam ist« (Pol. VII 8, 1328b20ff).

Es bedarf aller hier angesprochenen Teile dieser Polis, damit diese im aristotelischen Verständnis existieren kann. Dennoch entfaltet Aristoteles eine Differenzierung innerhalb dieses gesellschaftlichen Systems, die für die ganze weitere Entwicklung des Staats nach bestem Ermessen, und somit auch für die scholê, von Bedeutung ist. Um diese Differenzierung besser verstehen zu können, ist es notwendig, Politik VII 8 noch näher zu untersuchen. Denn dort findet sich ein Abschnitt über die Zielgerichtetheit sowie über die Gliederung des Gemeinwesens. Darin wird die Polis zuerst als eine Gemeinschaft von Gleichen definiert, zum Zweck, das bestmögliche Leben zu erreichen (Pol. VII 8, 1328a36).

|| 6 Kraut führt dazu in seinem Kommentar aus: „The main thesis Aristotle defends in this passage is that there is a distinction between (1) that without which the city could not exist and (2) the parts of the city“ (Kraut: 1997, 98).

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Daran schließt sich eine Art Zusammenfassung aus vielen bekannten aristotelischen Konzeptionen an, die er an anderen Stellen in der Politik, aber auch in der Nikomachischen Ethik genauer ausführt. Er gelangt zu dem Schluss, dass das dem Menschen beste mögliche Leben die Erlangung bzw. Verwirklichung der eudaimonia ist, der umfassenden Glückseligkeit. Diese kann jedoch nur durch ein tugendhaftes Leben und daher nur durch die Ausübung der Tugenden verwirklicht werden. Jedoch, und darüber wurde schon in Bezug auf die Sklavenlehre gesprochen, haben nach Aristoteles nicht alle Menschen im gleichen Maße (oder aber manche auch schlichtweg gar nicht) an den Tugenden des Denkens Anteil (vgl. Kap. 3.1). Darin sieht Aristoteles den Grund gegeben, warum es verschiedene Staatsverfassungen gibt: denn die jeweiligen Gesellschaften der diversen Poleis bestehen aus unterschiedlichen Menschen, die mehr oder aber auch weniger für ein tugendhaftes Leben geeignet sind und die daher unterschiedlich angeleitet bzw. regiert werden müssen. »Der Staat nun aber ist eine Gemeinschaft (koinônia) von Gleichen, und zwar zum Zweck des möglichst besten Lebens. Da indessen Glückseligkeit (eudaimonia) das Beste ist, und diese in der Verwirklichung und vollendeten Ausübung der Tugend besteht und da endlich die Umstände es so mit sich bringen, dass nur ein Teil der Menschen an der Tugend teilzuhaben vermag und ein anderer dagegen wenig oder gar nicht, so liegt offenbar hierin der Grund davon, weshalb mehrere verschiedene Arten von Staat (polis) und Staatsverfassung (politeia) entstehen. Denn indem eben die Menschen auf verschiedene Weise und mit verschiedenen Mitteln jenem Zweck nachjagen, rufen sie dadurch auch eine Verschiedenheit der Lebensformen und der Staatsverfassung hervor« (Pol. VII 8, 1328a36ff).

Aufgrund dieser unterschiedlichen Staatsverfassungen und der sich daraus ergebenden, jeweils unterschiedlichen politischen Leitung der jeweiligen Bewohner entsteht zusätzlich eine Verschiedenheit der Lebensformen, worauf Aristoteles ebenso in Politik VII 8 hinweist. Festzuhalten ist, dass er in der Gliederung seines Staats nach bestem Ermessen zwar viele Teile des Staates kennt, mitunter fundamentale Tätigkeitsbereiche, ohne die ein Staat nicht entstehen und schon gar nicht fortbestehen könnte, diese jedoch nicht als vollwertige Teile ebendieses Staates anerkennt, sondern zwischen „notwendigen Voraussetzungen“ und „tatsächlichen Teilen“ des Staates differenziert.7 Warum Aristoteles diese Differenzierung so ausführlich vorbereitet und durchführt, wird in Politik VII 9 deutlich, durch eine erneute Verwendung des scholê-Begriffs. Schütrumpf sieht in diesem Text das „zentrale Kapitel in Politik VII und VIII für die Herleitung der politischen und sozialen Ordnung“ || 7 Kraut meint dazu treffend: „His disputable step is taken when he excludes certain groups of human beings from membership in the community“ (Kraut: 1997, 98).

118 | Muße in Politik VII und VIII (Schütrumpf: 2005, 366). Die aristê politeia soll diejenige Verfassung sein, so Aristoteles, unter welcher der Mensch am ehesten glückselig werden kann. Umfassende Glückseligkeit, eudaimonia, zu erlangen, ist jedoch ohne Tugend nicht möglich (Pol. VII 9, 1328b34). Doch um die Tugenden des Denkens und die Tugenden des Charakters zu entwickeln, sind eine intensive ethische und moralische Auseinandersetzung mit diesen Tugenden sowie eine intensive Bildung notwendig, wie wir auch aus der Nikomachischen Ethik wissen. Doch damit es dem Menschen möglich ist, sich in dieser Art und Weise mit dem tugendhaften Leben auseinanderzusetzen, braucht dieser Zeit und vorab einen gesicherten äußeren, also auch einen wirtschaftlichen und politischen Rahmen. Mit der Entwicklung dieses Rahmens beschäftigt sich Aristoteles nun in Politik VII 9. Es ist demnach erforderlich, dass manche der Einwohner dieses Staates, »[...] weder das Leben eines Handwerkers noch das eines Kaufmanns führen dürfen, denn ein solches ist unedel und der Tugend zuwider, und dass auch Ackerbauern diejenigen nicht sein dürfen, welche hier Staatsbürger sein wollen, denn es bedarf voller Muße (scholê) zur Ausbildung der Tugend und zur Besorgung der Staatsgeschäfte« (Pol. VII 9, 1328b40ff).

Wir können nun zusammenfassen: Teile dieses Staates im weiteren Sinne sind alle diejenigen, die an dem Entstehen und an der Erhaltung des Staates, also primär des wirtschaftlichen und teilweise auch des politischen Systems, beteiligt sind. Dies sind im Grunde alle sechs zuvor genannten Klassen. Bürger des Staates sind jedoch nicht alle aus diesen Klassen, sondern nur eine spezifische Gruppe. Bürger sind demnach jene, denen volle Muße zur Ausbildung der Tugend und zur Besorgung der Staatsgeschäfte zugute kommt. Diese Differenzierung ist jedoch nicht einfach zu fassen. In vielen Interpretationen findet sich die Auslegung, wonach Aristoteles die Bauern, Handwerker und Kaufleute nicht als Teile des Staates, sondern als die angesprochenen, bloß notwendigen Voraussetzungen angesehen hat, also nicht als Mitglieder der Polis (so z.B. bei Kampert: 2003, 111; siehe weiters auch Schütrumpf: 2005, 115, 368). Dem gegenüber steht die These, dass Aristoteles eine andere Bestimmung geben wollte. Er unterteilte den Staat nach bestem Ermessen in die notwendigen Voraussetzungen, zu denen z.B. die äußeren Bestimmungen wie Landschaft, ein Zugang zum Meer, etc., gehören und nahm daran anschließend seine soziale Differenzierung zwischen Bürger und Nichtbürger vor. Beide dieser zuletzt genannten Gruppen sind Teile des Staates, jedoch haben nur die Bürger auch das, was wir heute Bürgerrechte und -pflichten, auch die kennt Aristoteles, nennen würden. Aber es sind insbesondere die Nichtbürger, wie Aristoteles selbst deutlich macht, die für das Entstehen und für das Fortbestehen der Polis unverzichtbar und daher freilich Teile des Staates, wenn auch keine Bürger sind.

Territorium und Bürgerschaft | 119

Diese Trennung ist demnach keine von Teilen und Nichtteilen der Polis, da alle Gruppen Anteil am Entstehen und Fortbestehen der politischen Gemeinschaft haben, sondern sie ist vielmehr eine Unterscheidung in Bürger und Nichtbürger. Depew weist auf diesen wichtigen Stellenwert der Nichtbürger für die Polis, und somit natürlich auch für den Bürger selbst, hin (vgl. Depew: 1991, 363). Demnach ist das Urteil von Frank zu widerlegen, der die Auffassung vertritt, dass die außerhalb der Bürgerschaft stehenden Menschen bei Aristoteles in Politik VII und VIII nicht als Teile des Staates anerkannt werden (vgl. Frank: 1999, 64). Diese Unterscheidung in Bürger und Nichtbürger, und nicht in Teile und Nichtteile, formuliert hingegen andeutungsweise Rapp. In Politik VII und VIII wird zwar eine funktionale Unterteilung vorgenommen, da es jedoch um die beste Verfassung geht, wird „unterschieden zwischen Teilen der Polis, die für das Erreichen der Selbstgenügsamkeit [und für das Entstehen und für den Fortbestand] notwendig sind, und Teilen im emphatischen Sinn, dass es um Gruppen geht, die an den öffentlichen Geschäften selbst Anteil haben“ (Rapp: 2003, 29). Aristoteles beginnt mit Politik VII 9, die gesellschaftliche Ordnung seines Staats nach bestem Ermessen auszudifferenzieren. Es erscheint ihm notwendig, dass die Klassen der Krieger, der Richter und der politischen Berater sowie jene der Priester, an der Politik der Polis im Gesamten teilhaben. Dies schließt die Notwendigkeit „voller Muße“ für diese Gruppe ein (Pol. VII 9, 1329a1). Sie hätten schließlich auch aufgrund ihrer Veranlagung, ihrer Tätigkeiten und ihrer Leistungen für die Gemeinschaft den meisten Anspruch auf solch eine Teilhabe. Sie sind demnach Bürger des Staates, da sie die Verantwortung und die Fürsorge für die vielleicht wichtigsten Tätigkeiten, nämlich die politischen Belange, übernehmen. Dies sind zum einen Verwaltungstätigkeiten und andere politische Aufgaben, wie beratende und richtende Tätigkeiten, zum anderen militärische Verantwortung oder aber drittens die Pflege des Kultus (Pol. VII 9, 1329a2ff). Aristoteles schreibt diese Bereiche jedoch nicht drei unterschiedlichen Gesellschaftsschichten innerhalb dieser Polis zu, sondern der Bürgerklasse schlechthin. Er sieht alle drei zuvor genannten Aufgaben in der Hand des Bürgers, der diese aufgrund seines Bürgerseins in der jeweiligen entsprechenden Phase seines Lebens für die politische Gemeinschaft wahrzunehmen hat. Ist der Bürger noch jünger und verfügt über ausreichend Kraft (dynamis), so soll er Waffen- und Wehrdienst leisten. Ist er in den darauffolgenden Jahren schließlich körperlich sowie auch geistig gereift und verfügt nun im ausgeprägten Maße über Einsicht bzw. Verstandesschärfe (phronêsis), so hat er an den politisch beratenden und richtenden Systemen der Polis Anteil. Im fortgeschrittenen Alter zuletzt soll der Bürger auch an der Pflege des Kultus mit beteiligt sein. Im

120 | Muße in Politik VII und VIII Staat nach bestem Ermessen kommen diese drei Tätigkeiten allein dem Bürger zu, nicht jedoch den anderen Teilen. Aristoteles hält diese Zuteilung für zweckmäßig und gerecht (Pol. VII 9, 1329a17).8 Bauern, Handwerker, Kaufleute, etc., haben keinen Anteil an dieser Bürgerschaft, da sie zum einen aufgrund mangelnder Einsicht zur Tugend nicht in der Lage dazu sind, sich zu bilden, wie es (vermeintlich) der Bürger kann; zum anderen sind sie schon aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit selbst davon ausgeschlossen, da diese Beschäftigungen, wie zitiert, nach Aristoteles der notwendigen Muße entbehren (Pol. VII 9, 1329a20). Hinzu kommt, dass Aristoteles den Bürgern des Staats nach bestem Ermessen auch den Großteil an Besitz und Reichtum zuordnet. Denn für das Leben des Bürgers ist es erforderlich, dass dieser wohlhabend ist und sich der meiste und wichtigste Besitz in dessen Händen befindet (Pol. VII 9, 1329a16). Die Zeit der scholê wird also ausschließlich dem Bürger für die volle Entwicklung und Förderung seines tugendhaften Lebens sowie zur Führung der Politik zugestanden (Pol. VII 9, 1329a1ff), den anderen Teilen, den Nichtbürgern der Polis, jedoch dadurch abgesprochen. Der Bürger grenzt sich nicht nur durch seinen sozialen Stand und seine Tätigkeiten, die ausschließlich militärischer, politischer und religiöser Natur sind, gegenüber den anderen Teilen des Staates ab, sondern vor allem durch die Möglichkeit des Mußehabens aufgrund seiner Lebensart. Die scholê ist somit spezifisch an den Bürger geknüpft, und steht nicht allen Einwohnern dieser Polis zu. Gegenüber den zuvor getroffenen Bestimmungen über das Territorium, das so groß sein soll, dass die Polis autark ist und ein Leben in Muße, freigiebig und enthaltsam, ermöglicht, präzisiert Aristoteles hier also, wem überhaupt das Mußehaben zukommen soll bzw. wer dafür überhaupt als geeignet erscheint, nämlich allein der Bürger. Nach Politik VII 9 ist die Bürgerschaft zum einen durch ihre Naturveranlagung definiert (Denkvermögen, Kunstfertigkeit, Mut), zum anderen durch ihre Aufgaben und Tätigkeiten (Militär, Politik, Religion) sowie drittens durch die Muße, die scholê. Dennoch ist der Nichtbürger innerhalb des Konzepts unverzichtbar, da er am Entstehen und am Fortbestand der Polis durch seine Tätigkeiten unmittelbar beteiligt und somit für die politische Autarkie des Gemeinwesens unentbehrlich ist. Jedoch ist der Nichtbürger für Aristoteles aufgrund seiner Naturanlage und seiner permanenten äußeren oder „beruflichen“ Tätigkeiten, die er im Rahmen der Autarkie-Erhaltung zu leisten hat, vom Mußehaben ausgeschlossen.

|| 8 Aristoteles scheint hier in Ansätzen das zu entwickeln, was im antiken Rom der cursus honorum genannt wurde, also eine geregelte Ämterlaufbahn die der Bürger – in Rom der angehende Politiker – in den verschiedensten Funktionen des Staatsdienstes zu durchlaufen hatte.

scholê und ascholia | 121

4.3 scholê und ascholia a.) Regieren und regiert werden: gute Menschen, gute Bürger Nachdem Aristoteles die Gestaltung seines Staats nach bestem Ermessen mittels der äußeren und inneren Bestimmungen formuliert hat, setzt er sich in Politik VII 13 mit weiteren Gedanken über die Tugenden und erneut mit dem großen Leitbegriff seiner politischen Philosophie, der eudaimonia, auseinander. Ziel ist eine genauere Untersuchung der Beschaffenheit der Bürger, die er zuvor, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, gegenüber den anderen Teilen der Polis deutlich abgegrenzt hat. Es geht also um die Bürgerschaft in Bezug auf ihre Verwirklichung der eudaimonia sowie auch weiterhin um die Gestaltung der politischen Ordnung des gesamten Polis-Konzepts (vgl. Schütrumpf: 2005, 441). Einige dieser Bestimmungen sind aus der Nikomachischen Ethik bekannt, worauf Aristoteles selbst verweist (Pol. VII 13, 1332a5). Auf diese Parallelen kommt auch Kraut zu sprechen, vor allem zwischen Politik VII 13 und Nikomachische Ethik VI 8 und 9 sowie Eudemische Ethik II 11 und III 3 (vgl. Kraut: 1997, 123). Zur Verwirklichung der eudaimonia bedarf es, so setzt Aristoteles an, eines tugendhaften Umgangs mit den Gütern. Selbst wenn die Grundlegung der Güterlehre an vielen anderen Stellen der Politik sowie der Nikomachischen Ethik ebenso thematisiert wird (vgl. Kap. 1.3), so begegnen wir in Politik VII 13 dennoch einer anderen Perspektive. Denn hier wird gefragt, wie der Bürger zu einem richtigen Umgang mit den Gütern gelangen kann und wann eine Polis bzw. ein Staat als Ganzes tüchtig im Sinne der Tugenden genannt werden kann? Der Staat nach bestem Ermessen ist ein Staat, in dem alle Bürger dazu in der Lage sind, sich mit den Tugenden aufgrund ihrer Naturanlage auseinanderzusetzen. Das ist der Anspruch, den Aristoteles in Bezug auf seine aristê politeia erhebt. Da es sich dabei um eine beste Verfassung handeln soll, ist er der Ansicht, diesen Anspruch auch stellen zu können. Weiters haben die Bürger an den Verfassungsrechten Anteil und sind aufgrund ihrer entsprechenden Naturanlage von sich aus an einer solchen Teilhabe interessiert (Pol. VII 13, 1332a34). Die Fragen nach der richtigen Verwaltung des besten Staates werden durch die Bürger selbst und ihre Ausübung des Wissens (epistêmê) und des Vorsatzes (prohairesis) in Bezug auf die Tugenden beantwortet (Pol. VII 13, 1332a33). Da aber im besten Staat alle Bürger an der Tüchtigkeit des Staates teilhaben und Anteil haben wollen, wie bereits zuvor in der Aufteilung der Bürgerpflichten in militärische, politische und religiöse Tätigkeiten angeklungen ist, und diesen Anteil aufgrund ihres Bürgerseins wahrzunehmen haben, ist die Frage nach der Tüchtigkeit des Bürgers zwar im engeren Sinne eine individuelle, aber ebenso

122 | Muße in Politik VII und VIII auch eine gemeinschaftliche Frage, da sie die Polis als Ganzes und ihren Fortbestand betrifft. Hiermit eröffnet Aristoteles im Grunde bereits seine Abhandlung über die Erziehung (paideia) des Bürgers in seinem Staat nach bestem Ermessen.9 Als Basis der Erziehung des Bürgers, vor allem in Hinblick auf seine Tugendhaftigkeit, sind für Aristoteles primär drei Faktoren maßgeblich: erstens die Naturanlage (physis), zweitens die Gewöhnung (ethos) und drittens die Vernunft (logos): »Denn zunächst muss man eine bestimmte Natur haben, z.B. die eines Menschen und nicht die eines anderen Lebewesens, und sodann eine bestimmte Beschaffenheit des Körpers und der Seele« (Pol. VII 13, 1332a41ff).

Die Naturbeschaffenheit des Menschseins allein reicht für ein tugendhaftes Leben nicht aus. Vielmehr bedarf es der Gewöhnung an die Gemeinschaft, an das Verständnis für Politik und des Trainings von Körper und Seele, um sich später einmal selbst mit den Tugenden beschäftigen zu können. Davon wird später noch genauer die Rede sein (vgl. Kap. 5.2). Wie bereits in Bezug auf die sozialanthropologische Dimension der Autarkie angesprochen, ist für Aristoteles das Verhältnis von Regierenden und Regierten innerhalb des Hauses, aber auch für die staatliche Gemeinschaft (politikê koinônia) im Gesamten, erstens ein Verhältnis, das von Natur aus besteht, und zweitens daher ein grundlegendes Prinzip menschlicher Gemeinschaft. An diese Grundlegung seiner politischen Anthropologie aus Politik I 2 scheint er in Politik VII 14 nahezu nahtlos anzuschließen und darauf aufbauend die Frage nach der richtigen paideia für den Bürger zu stellen: »Da nun aber jede staatliche Gemeinschaft aus Regierenden und Regierten besteht, so erhebt sich die Frage, ob die Regierenden und die Regierten dieselben Leute sein sollen oder ihr ganzes Leben hindurch verschiedene. Denn es ist klar, dass nach der Bestimmung hierüber auch die Erziehung sich wird richten müssen« (Pol. VII 14, 1332b12ff).

Aristoteles deutet hier eine Untersuchung auf zwei Ebenen an. Zum einen geht es ihm um das grundlegende Verhältnis von Regierenden und Regierten auf der Basis seiner politischen Anthropologie, zum anderen um dessen Bedeutung für die Erziehung des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen. Regieren also immer dieselben und werden auch immer dieselben regiert, oder variiert dieses Herr-

|| 9 Mikkola spricht unter Berufung auf Nilsson in Bezug auf den Begriff der umfassenden paideia pathetisch, allerdings nicht untreffend, von „dem inneren Wachsen des griechischen Menschen“, dem Weg, den der „hellenische Jüngling von der Gebundenheit der Kindheit nach der Autarkie und der vollberechtigten Bürgerschaft zu gehen hatte“ (Mikkola: 1958, 68).

scholê und ascholia | 123

schaftsverhältnis in irgendeiner Art und Weise? Von der Beantwortung dieser Frage macht es Aristoteles schließlich auch abhängig, wie die Erziehung der Bürger zu erfolgen hat. Für ihn ist jedoch klar, dass »[...] alle Staatsbürger in gleicher Weise an dem abwechselnden Regieren und Regiertwerden Anteil haben müssen« (Pol. VII 14, 1332b25).

Unbestritten ist für Aristoteles aber auch, dass der Regierende dem Regierten etwas voraushaben muss, zumal ersterer für zweiteren den Weg zur Tugend und zur Gerechtigkeit im Staat vorzeigen und durch sein politisches Handeln gestalten soll. Im Gegensatz dazu ist es freilich ebenso erforderlich, dass der zuerst Regierte auch einen Anteil am Regieren bekommt. Die Lösung habe die Natur selbst vorgegeben, da sie den Menschen, der seiner Gattung nach gleich sei, in Generationen, in jüngere und ältere geteilt hat, von denen es der einen zukomme zu regieren und der anderen, regiert zu werden (Pol. VII 14, 1332b37). Daher kann nach Aristoteles niemand daran Anstoß nehmen, dass er beizeiten selbst regiert wird und zu einem späteren Zeitpunkt dann selbst einmal regieren wird. Der Grundsatz dabei lautet, dass der, der gut regieren soll, zuvor (gut) regiert werden muss (Pol. VII 14, 1333a2). Die Herrscher und Regenten von morgen werden also demnach heute zum Regieren erzogen. Diese Ansicht hat für Aristoteles nicht allein für den Staat nach bestem Ermessen Gültigkeit. Ein Staat, dem sein Fortbestand wichtig ist, sollte sich generell intensiv mit dem Thema der Erziehung auseinandersetzen. Dies ist der Grund dafür, warum sich Aristoteles an dieser Stelle auch so umfassend mit diesem Thema beschäftigt.10 »Da wir nun aber behaupten, dass die Tugend des Staatsmannes und Regierenden einerlei sei mit der des besten Mannes und dass eben derselbe Mensch zuerst regiert werden muss und dann regieren, so ist dies dasjenige, was in dieser Hinsicht der Gesetzgeber ausfindig zu machen hat, wie und durch welche Beschäftigungen man tüchtige Männer bildet und was das Endziel des tugendhaften Lebens ist« (Pol. VII 14, 1333a10ff).

Im Staat nach bestem Ermessen geht Aristoteles von einer Bürgerschaft aus, die an diesem Konzept, also auch an den Tugenden und an deren Praktikabilität, gleichermaßen interessiert sind. Deshalb kann er an dieser Stelle den „guten Bürger“ mit dem „guten Menschen“ gleichsetzen. Eine Definition, die Aristo-

|| 10 Dass Aristoteles hier in Pol. VII 14 einen Rückbezug auf seine Seelenlehre einbaut, ist mit Hilfe der EN relativ einfach zu erklären. Denn nach EN I 13, 1102a23, ist es die Aufgabe des wahren Staatsmannes, die Seele des Menschen zu untersuchen und Kenntnis über sie zu haben. Denn der wahre Politiker, so auch in EN I 13, 1102a6, kümmert sich um die Tugenden, da er die Bürger seiner Polis gut und gehorsam gegenüber den Gesetzen machen will.

124 | Muße in Politik VII und VIII teles in seiner Nikomachischen Ethik freilich nicht getroffen hätte, da die Tugenden des Bürgers von Verfassung zu Verfassung variieren, wo hingegen die Tugenden eines guten Menschen allgemeine Gültigkeit haben. b.) Nichtmuße und Muße, Krieg und Frieden, notwendig und an sich gut Aristoteles kommt hier in Politik VII 14 erneut auf die Muße zu sprechen und formuliert an dieser Stelle, inmitten des Beginns seiner Abhandlung über die paideia, die zentralen Charakteristika der scholê, die für eine Interpretation unverzichtbar sind: »Ferner aber zerfällt das ganze Menschenleben in Arbeit (ascholia) und Muße (scholê), Krieg und Frieden und die Gegenstände unserer Tätigkeit in notwendige und an sich gute, und bei diesem allen muss notwendig dieselbe Wertschätzung stattfinden wie bei den Teilen der Seele und ihren Tätigkeiten: der Krieg ist nur um des Friedens willen da, die Arbeit um der Muße, das bloß Notwendige und Nützliche um des Guten willen« (Pol. VII 14, 1333a30ff).11

Erstens tritt hier das Begriffspaar scholê und ascholia deutlich in den Vordergrund. Die Übersetzung von ascholia mit „Arbeit“, wie in der hier zitierten Übersetzung der Politik von Susemihl, aber auch in der Übersetzung der Nikomachischen Ethik von Wolf, wo das Wort ebenso vorkommt, greift in diesem Kontext deutlich zu kurz. Denn der Begriff der ascholia bedeutet vielmehr, einen „Mangel an Muße“ zu haben, also im Prinzip „Nichtmuße“. Die ascholia lässt sich daran anknüpfend eher mit „Beschäftigung“ übersetzen, vielleicht ebenso mit „Ablenkung“, oder aber auch mit „Verhinderung“. Arendt z.B. hat in Vita activa die aristotelische ascholia nicht mit „Arbeit“, sondern mit „Unruhe“ übersetzt (Arendt: 2010, 25), was in diesem Falle der „Ablenkung“ nahekommt. Die Übersetzung mit „Arbeit“, inklusive des Verständnisses als ausschließliche Erwerbstätigkeit des Menschen, liegt diesem Begriff der ascholia hier in Politik VII und VIII fern. Denn sie ist in erster Linie als Gegenstück zur scholê in Verwendung und umfasst weitere Bereiche der Beschäftigung, nicht nur die bloße Erwerbstätigkeit im Sinne der Arbeit bzw. der beruflichen Tätigkeit.12 Hinzu kommt, dass wir uns hier innerhalb der Definition der scholê des Bürgers befin|| 11 Diese Stelle erinnert stark an EN X 7, wo es heißt: »Weiter nimmt man an, dass das Glück in der Muße (scholê) besteht. Denn wir sind geschäftig (ascholazein), um Muße zu haben, und führen Krieg, um in Frieden zu leben« (EN X 7, 1177b5f). 12 Unter dem Begriff der Arbeit wurde lange „eine schwere körperliche Tätigkeit“ verstanden (Höffe: 2004, 20). Die ascholia aus Pol. VII 14 kann somit keine Arbeit im engeren Sinne meinen, zumal von der ascholia des Bürgers die Rede ist.

scholê und ascholia | 125

den, der nach aristotelischer Auffassung innerhalb des Staats nach bestem Ermessen keiner Arbeit im Sinne von Erwerbstätigkeit nachzukommen hat, da er zur Entfaltung der Tugenden und für die Beschäftigung mit der Politik der Polis der „vollen Muße“ bedarf (Pol. VII 9, 1328b40ff; vgl. Kap. 4.2). In vielen, jedoch nicht in allen englischen Übersetzungen, wird ascholia ebenso kurzerhand mit „work“ übersetzt, wie z.B. bei Kraut, der in Bezug auf die zuvor zitierte Textstelle übersetzt: „The whole life is also divided – into work and leisure“ (Kraut: 1997, 25). Jedoch lassen sich noch andere Übersetzungsvorschläge ausfindig machen, wie z.B. bei Schütrumpf, der die ascholia mit „Tätigsein“ übersetzt.13 Diese Übertragung kommt an den aristotelischen Text deutlich näher heran als jene mit „Arbeit“, jedoch steht selbst diese von Schütrumpf gewählte Übersetzung nicht in einer klaren Gegenposition zur scholê, da auch letztere, wie wir später noch deutlicher sehen werden, selbst eine gewisse Art der Tätigkeit ist. Eine weitere Übersetzungsalternative findet sich bei Stocks, wo es heißt: „Life similary is divided into unleisure and leisure, war and peace“ (Stocks: 1936, 178). Ähnlich lautet bei Depew die Übertragung der ascholia schlichtweg „unleisured“ (Depew: 1991, 363). Auf einen ersten Blick scheint dieser Übersetzungsvorschlag der ascholia mit „Nichtmuße“ der treffendere zu sein und die Intention dieses Begriffspaars genauer wiederzugeben. Wichtig ist es festzuhalten, dass Aristoteles zu seiner scholê, die wir vorab ausschließlich dem Bürger zugeschrieben haben (vgl. Kap. 4.2), auch ein Gegenstück kennt, nämlich die ascholia, welche als ein „Mangel an Muße“ bzw. als Zeit der „Nichtmuße“ verstanden werden kann. Auf das Problem der Übersetzung von ascholia und scholê aus dem altgriechischen bei Aristoteles, hat bereits Voegelin umsichtig hingewiesen und dabei festgehalten, dass es fast unmöglich erscheint, diese beiden Begriffe angemessen zu übertragen.14

|| 13 Die Übersetzung von Pol. VII 14, 1333a30ff lautet in der Fassung von Schütrumpf: »Auch das ganze Leben ist unterteilt in Tätigsein und Muße bzw. in Krieg und Frieden und bei allem, was man tut, gilt die Unterscheidung von einerseits Dingen, die notwendig bzw. nützlich sind, und andererseits solchen, die die Vollendung in sich tragen. Hierbei muss man die gleiche Wahl wie bei den Seelenteilen und ihren Handlungen treffen: Krieg muss man um des Friedens willen wählen, die Unrast von Beschäftigung wählen, um in Muße leben zu können, und Notwendiges oder Nützliches um der in sich vollendeten Dinge willen wählen.« 14 „It is practically impossible to render the terms ascholia and scholê adequately in English. In Greek (as in Latin otium and negotium) leisure, scholê, has the positive connotation, while business (ascholia) negatively denotes the absence of scholê. The etymological connection with schein (from echo) suggests a stopping from activity, a rest, resulting in a ,having of oneself‘ or holding of oneself, as the basic meaning; while ascholia would correspondingly suggest a losing of oneself in peripheral activity“ (Voegelin: 1957, 354).

126 | Muße in Politik VII und VIII Zweitens ist hervorzuheben, dass scholê und ascholia, zwei weitere Begriffe hinzugestellt werden, nämlich Krieg (polemos) und Frieden (eirênê). Aristoteles geht auf dieses Begriffspaar nicht genauer ein, jedoch ist anzunehmen, dass Krieg und Frieden das Verhältnis von Nichtmuße und Muße zueinander deutlicher machen sollen. Die Tätigkeit des Bürgers in den Zeiten der Nichtmuße erscheint als eine Verstrickung in permanente Ablenkungen und in äußere Bedingtheiten zu sein, wie eben in den Zeiten des Krieges, der die ganze Aufmerksamkeit erfordert und sämtliche Bereiche des Lebens beeinflusst und demnach keine Muße zulässt. Auch Schütrumpf weist auf dieses zweite Begriffspaar deutlich hin. Seiner Ansicht nach bezieht sich das Verhältnis von scholê und ascholia auf den Menschen, das von polemos und eirênê hingegen auf den Staat (vgl. Schütrumpf: 1980, 9).15 Drittens schließt sich diesen beiden Begriffspaaren, scholê und ascholia, Krieg und Frieden, noch ein weiteres, fundamentales Verhältnis an, welches für das Leben des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen konstitutiv ist. Denn die Gegenstände der Tätigkeiten des Bürgers, so argumentiert Aristoteles in Politik VII 14, teilen sich in „notwendige Tätigkeiten“ und in „an sich gute Tätigkeiten“.16 Das Leben des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen teilt sich also in Nichtmuße und Muße sowie in Krieg und Frieden, weiters in notwendige und an sich gute Tätigkeiten. Die Nichtmuße, die der Muße gegenübersteht, ist nach Politik VII 14 nur um der Muße selbst willen, der Krieg um des Lebens in Frieden und das bloß Notwendige und Nützliche um des Guten willen zu leisten. Aristoteles misst dieser Auflistung noch wenig Wertigkeit bei. Vielmehr deutet er darauf hin, dass jede dieser Tätigkeiten jeweils ihre spezifische Zeit zu haben scheint, so wie z.B. die Zeiten des Krieges oder des Friedens, der Nichtmuße oder der Muße. Auffallend ist, dass Aristoteles nach dieser Auflistung davon spricht, dass allen Bereichen Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegengebracht werden müsse. Dem Bürger werden also demnach nicht ausschließlich die scholê und auch nicht ausschließlich die an sich guten Tätigkeiten zugesprochen, wie auf einen ersten Blick hin angenommen werden mag, sondern sein Leben umfasst auch den Bereich der ascholia und der notwendigen Tätigkeiten, sowie freilich || 15 Stocks sieht in dem polemos-Begriff hier in Pol. VII 14 das perfekte Beispiel für die Zeit der Nichtmuße im Gesamten gegeben: „War evidently is the perfect type of unleisure because war is essentially a threat to life“ (Stocks: 1936, 181). 16 In seiner Kritik an MacIntyre hat Rapp auf die wichtige Differenzierung zwischen Leben/Überleben und dem guten/geglückten Leben hingewiesen (vgl. Rapp: 1997, 63ff). Die Differenzierung in „notwendige“ und „an sich gute“ Tätigkeiten scheint hier eine ähnliche zu sein, was später noch zu zeigen sein wird (vgl. Kap. 5.1).

scholê und ascholia | 127

auch den des Krieges, der den Bürger und dessen Leben genauso betrifft und bedroht wie den Nichtbürger der Polis. Das führt eine weitere Textstelle deutlich vor Augen, wo Aristoteles auf die Tätigkeiten des Gesetzgebers hinweist. Dieser müsse demnach »[...] dahin streben, dass die Staatsbürger imstande sind, der Arbeit zu obzuliegen und Krieg zu führen, aber noch mehr, ihre Muße richtig zu benützen und den Frieden zu erhalten,17 ferner das Notwendige und Nützliche zu tun, aber noch mehr das Gute, und auf dies Ziel hin muss man sie erziehen, sowohl die Kinder als auch die übrigen Lebensalter, soweit dieselben noch der Erziehung bedürfen« (Pol. VII 14, 1333a43ff).

Schütrumpf wählt wiederum eine etwas andere Übersetzung dieser Passage. Hier scheint es, als ob er mit seiner vorgeschlagenen Übersetzung an die Terminologie sowie an die Gesamtkonzeption speziell von Politik VII und VIII näher herankommt. Hinzuzufügen ist, dass diese Übersetzung einen für die spezifische Untersuchung der aristotelischen scholê hohen Wert hat, vor allem in Bezug auf die Diskussion der Lebensform des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen. Schütrumpf übersetzt: »Das Gleiche gilt für die Lebensformen und die Wahl der (entsprechenden) Handlungen: man muss zwar die Fähigkeit besitzen, tätig zu sein und Krieg zu führen, in höherem Maße aber Frieden zu halten und in Muße zu leben; und ebenso (muss man fähig sein), Notwendiges oder Nützliches zu tun, eher aber die Dinge, die in sich vollendet sind« (Pol. VII 14, 1333a43ff).

Mit dieser Übersetzung wird deutlicher zum Ausdruck gebracht, welches Tätigkeitsspektrum der Bürger im Staat nach bestem Ermessen wahrzunehmen hat. Demnach führt er kein ausschließlich praktisch-politisches oder ausschließlich theoretisch-betrachtendes Leben. Vielmehr muss er sich in dieser Staatskonzeption beider Bereiche annehmen, wie wir schon im ersten Kapitel dieser Studie in den Einleitungen zum hairetôtatos bios angedeutet haben (vgl. Kap. 1.5). Zum einen muss sich der Bürger um die politischen Realitäten, wie z.B. um die angesprochene Kriegsführung in Krisenzeiten und die dazugehörige KriegsPolitik, kümmern und sich ihrer annehmen. Zum anderen aber muss der Bürger ebenso auch dazu in der Lage sein, in Frieden und in Muße leben zu können und sich den „an sich guten Tätigkeiten“, die an dieser Stelle noch nicht genauer erörtert werden, widmen. Jedoch das Leben in Frieden und in einer Zeit der Muße auch tatsächlich umzusetzen, ist – und so schließt der Text aus Politik VII

|| 17 Kraut übersetzt: „For one should be able to work and go to war, but even more to keep the peace and be at leisure; [...]“ (Kraut: 1997, 26).

128 | Muße in Politik VII und VIII 14 –, kein leichtes Unterfangen. Im Verhältnis dazu leichter erscheint, so paradox es auf einen ersten Blick wirken mag, ein Leben in Krieg und permanenter Tätigkeit, in Ablenkung, zu sein. Deshalb sieht Aristoteles auch die Hauptaufgabe des Gesetzgebers darin gegeben, die Angelegenheiten der Polis so zu ordnen und vorzubereiten bzw. vorauszuplanen – ganz im Sinne der fünf Dimensionen der politischen Autarkie –, dass dem Bürger in Friedenszeiten ein Leben in ungestörter Muße tatsächlich möglich ist. Darin besteht die eigentliche Herausforderung für den Gesetzgeber, auch in Bezug auf die umfassende paideia, denn diese Art des Lebens ist nach Politik VII und VIII alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Denn die meisten Staaten, so führt Aristoteles aus, erhalten sich in ihrer Organisation und in ihrer Politik, solange sie Krieg gegen andere Staaten führen bzw. ein äußeres Feindbild haben und bekämpfen können. Sobald sie jedoch diesen Krieg beendet bzw. den Gegner besiegt und die Macht übernommen haben, gehen sie langsam aber doch wieder zugrunde, weil sie es nicht verstehen, in Frieden und in Muße miteinander zu leben.18 Die Verantwortung für diesen krisenhaften Untergang liegt für Aristoteles ganz klar bei der Politik. Denn, so sagt er, an einer solchen Entwicklung »[...] ist ihr Gesetzgeber schuld, indem er sie nicht dazu erzogen hat, dass sie der Muße zu leben verstehen« (Pol. VII 14, 1334a10).

Grund genug also für Aristoteles, sich intensiv mit den Themen der Erziehung und der scholê des Bürgers zu beschäftigen. Die Kernstruktur dieser Untersuchung ist mit den soeben paraphrasierten Überlegungen ausgedrückt. Der Gesetzgeber hat im Staat nach bestem Ermessen die Aufgabe, die notwendigen Rahmenbedingungen und Strukturen zu schaffen, damit der Bürger in Friedenszeiten ein Leben der Muße führen kann und charakterlich, durch die zuvor erfolgte Erziehung, dazu auch in der Lage ist und es versteht, so ein Leben in Muße zu führen. Weiters hat der Gesetzgeber dafür Sorge zu tragen, dass die Erziehung der Bürger dahingehend ausgerichtet ist, dass diese zu einem späteren Zeitpunkt dazu fähig sein werden, am Regieren der Polis Anteil zu haben und dann im Sinne der Verfassung des Staats nach bestem Ermessen regieren zu können.

|| 18 Stocks weist darauf hin, dass die Verhältnisse von scholê und ascholia, Krieg und Frieden, sowie die notwendigen und an sich guten Tätigkeiten für die Philosophie aus Pol. VII/VIII alles andere als unbedeutend sind, und macht dabei auch die hier bereits angesprochene Beziehung zur paideia deutlich: „These relations must rule education“ (Stocks: 1936, 178).

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c.) Muße und Tugend: Enthaltsamkeit, Gerechtigkeit, Philosophie In Politik VII 15 setzt sich Aristoteles weiterhin mit dem Thema der Erziehung auseinander und bezieht sich dabei wiederum auf die Muße. Die ersten Zeilen dieses Kapitels lesen sich wie eine kurze Zusammenfassung seiner bisherigen Thesen und Argumente rund um das Thema der scholê, weshalb sie hier Erwähnung finden sollen: »Da nun das Endziel (telos) der Menschen sowohl in ihrer Gemeinschaft wie auch jedes einzelnen für sich allein als das gleiche erscheint und dieselbe Bestimmung notwendigerweise dem besten Manne und der besten Staatsverfassung zugrunde liegt, so ist klar, dass die Tugenden der Muße den Vorrang haben müssen, denn eben, wie wiederholt gesagt, der Krieg hat im Frieden und die Arbeit (ascholia) [bzw. die „Nichtmuße“] in der Muße ihr Endziel. Nur sind freilich für die Muße und das freie Leben nicht nur diejenigen Tugenden vonnöten, die ihren Wirkungskreis in der Muße, sondern auch solche, die ihn in der Arbeit haben, denn es muss viel Notwendiges [τῶν ἀναγκαίων] schon vorhanden sein, damit man sich der Muße hingeben könne« (Pol. VII 15, 1334a11ff).

Welche „Notwendigkeiten“ meint nun Aristoteles, wenn er sagt, dass vieles bereits vorhanden sein müsse, damit sich der Bürger in der Polis dem Leben der Muße in Friedenszeiten widmen könne? Aristoteles spricht diesbezüglich drei unterschiedliche Aspekte an. In der Zeit der Nichtmuße, also der ascholia, bedürfe es zum einen der sôphrosynê, der Besonnenheit, der Selbstbeherrschung bzw. der Enthaltsamkeit, letztere insbesondere in Bezug auf die äußeren und körperlichen Güter. Dies ist nicht im Sinne einer absoluten Askese zu verstehen, denn solch eine Interpretation widerspricht der aristotelischen Lehre der für das Leben des Menschen notwendigen Güter. Vielmehr wird hier wiederum die Notwendigkeit eines maßvollen Umgangs mit den äußeren und körperlichen Gütern zum Ausdruck gebracht. Zum anderen bedarf es in der Zeit der Nichtmuße der andreia, der Tapferkeit, und drittens der karteria, der Ausdauer. In der Zeit der ascholia sind für Aristoteles also vor allem die Tugenden der Enthaltsamkeit, der Tapferkeit und der Ausdauer primär. In der Zeit der scholê hingegen, so Aristoteles, bedarf es insbesondere der Philosophie. Der Gerechtigkeit und der Enthaltsamkeit, so fährt er fort, bedarf es in beiden Zeiten, also sowohl in der scholê als auch in der ascholia. »Und daher ist es denn erforderlich, dass der Staat Enthaltsamkeit und Tapferkeit und Ausdauer besitze. [...]. Man bedarf also der Tapferkeit und der Ausdauer zur Arbeit [in der Zeit der Nichtmuße, τὴν ἀσχολίαν], der Philosophie zur Muße, der Enthaltsamkeit und Ge-

130 | Muße in Politik VII und VIII rechtigkeit aber zu beiden Zeiten, und besonders im Frieden und in der Muße.19 Denn der Krieg zwingt schon von selbst dazu, Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit zu üben, der Genuss des Glücks und der Muße des Friedens aber machen eher übermütig; [...]« (Pol. VII 15, 1334a20ff).

Hieraus erklärt sich also, warum Aristoteles das Leben in Muße als schwierig betrachtet. Denn in der scholê und in Zeiten des Friedens besteht demnach die größte Gefahr, sich dem Genussleben, den rein äußerlichen und körperlichen Gütern zuzuwenden.20 Die Philosophie hingegen soll dabei helfen, die richtigen Prioritäten zu setzen und das richtige Maß im Umgang mit den Gütern zu finden. Wir können anhand dieser Stelle nur erahnen, welchen Philosophie-Begriff Aristoteles hier vor Augen gehabt haben könnte, worauf wir später noch genauer eingehen werden (vgl. Kap. 5.3). Diese zitierte Stelle aus Politik VII 15 erinnert an jene aus Politik VII 14 zuvor, wo Aristoteles darüber gesprochen hat, dass es viele Poleis zwar verstünden, im Krieg zu leben, in der Zeit des Friedens jedoch nichts mit sich anzufangen wüssten und daher zugrunde gingen. Auch in Bezug auf diese Bereiche ist es also die Aufgabe des Gesetzgebers, den Bürger zu einem richtigen Gebrauch der Muße zu erziehen (Pol. VII 14, 1334a6). Die Warnung vor einer Erziehung, die dem nicht entspricht, kommt in Politik VII 15 deutlich zur Sprache. Sie ist daran aufgemacht, dass der Genuss des Glücks und die Muße in Zeiten des Friedens die Menschen übermütig machen würden und sie daher eines hohen Grades an Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit bedürften, was wiederum nach einem gewissen philosophischen Bewusstsein verlange. Gerade die Zeiten des Friedens und der scholê erfordern es also, ein tugendhaftes Leben zu führen. Dies ist für Aristoteles letztendlich nur durch die Beschäftigung mit der Philosophie möglich. Mit Politik VII 16 zeigt sich erneut in deutlicher Art und Weise, wie intensiv und detailliert Aristoteles über seinen Staat nach bestem Ermessen nachgedacht hat, wenn er an dieser Stelle über diverse Bestimmungen zur Beziehung von Mann und Frau spricht. Diese Gedanken haben zwar nicht direkt mit der scholê zu tun, sollen an dieser Stelle dennoch in aller Kürze angesprochen werden, da sie einen wichtigen Kern der Kritiken an der aristê politeia darstellen (vgl. Kap. 2.4; Kap. 7.2). Aristoteles „philosophiert“ hier über das richtige Alter für die || 19 »ἀνδρείας μὲν οὖν καὶ καρτερίας δεῖ πρὸς τὴν ἀσχολίαν, φιλοσοφίας δὲ πρὸς τὴν σχολήν, σωφροσύνης δὲ καὶ δικαιοσύνης ἐν ἀμφοτέροις τοῖς χρόνοις, καὶ μᾶλλον εἰρήνην ἄγουσι καὶ σχολάζουσιν.« 20 Bereits Stocks hat diesen Aspekt in der aristotelischen scholê-Konzeption hervorgehoben: „Otherwise peace will corrupt the citizens, and it will be the fault of the legislator for not having developed by education their capacity for leisure“ (Stocks: 1936, 178).

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Eheschließung, über die richtige Jahreszeit für die Kinderzeugung und über den richtigen Zeitpunkt einer Schwangerschaft der Frau, weiters über die Geburtenkontrolle durch den Gesetzgeber innerhalb der Polis, aber auch über Schwangerschaftsabbruch. Selbst diese Dinge gehören für Aristoteles zu einer umfassenden Untersuchung über die Erziehung bzw. über die Aufgaben des Gesetzgebers in Bezug auf die umfassende paideia. Aristoteles lotet den idealen Zeitpunkt für den Beginn einer Ehe und der Kinderzeugung bei Männern mit ungefähr 37 Jahren und bei Frauen mit 18 Jahren aus. Er empfiehlt weiter, das es Gesetz sein sollte, keine körperlich eingeschränkten Kinder in der Polis aufzuziehen (Pol. VII 16, 1335b20). Die Zahl der Kinder müsse für die Ehepaare begrenzt sein. Für die Einhaltung dieses Gesetzes empfiehlt er, im Fall des Falles, den „rechtzeitigen“ Abbruch der Schwangerschaft. Ehebruch, so fährt Aristoteles fort, solle dem Gesetz nach verboten sein, und bei besonders schwerwiegenden Umständen eines diesbezüglichen Verstoßes empfiehlt er, dass das Vergehen nicht nur bestraft wird, sondern im Extremfall den völligen Verlust der Bürgerrechte bedeuten solle. Warum wir diese Bestimmungen hier kurz angeführt haben, ist wohl nun klar, denn sie wurden vor allen von vielen Kritikern des aristotelischen Staats nach bestem Ermessen innerhalb der facettenreichen Debatten über dieses PolisKonzept ins Feld geführt.

4.4 Genuss und Glückseligkeit Für Aristoteles ist das Thema der paideia in Bezug auf seinen Staat nach bestem Ermessen also überaus wichtig. Aufgrund dessen widmet er dieser Untersuchung große Aufmerksamkeit, was spätestens mit bzw. ab Politik VII 17 deutlich und in Politik VIII nahtlos fortgesetzt wird. Aristoteles entwickelt hier einen detaillierten Erziehungsplan, spricht dabei über die notwendigen Erziehungsmaßnahmen und über die Erziehungsmittel für die heranwachsenden, zukünftigen Bürger. Innerhalb dieser umfassenden Überlegungen und Planungen nimmt die scholê einen wichtigen Stellenwert ein. Tatsache ist, wie wir im Kapitel zuvor gesehen haben, dass Aristoteles das Leben des Bürgers in „notwendige Tätigkeiten“ und in „an sich gute Tätigkeiten“ geteilt hat. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass er dem Bürger beide Tätigkeiten zugeschrieben und keine Zweiteilung der Bürgerschaft vorgenommen hat. Der Bürger hat sich demnach mit beiden Tätigkeitsbereichen zu befassen. Dies hat wiederum Auswirkungen auf das Erziehungssystem in diesem Staat nach bestem Ermessen, da der angehende Bürger eben auf beide Tätigkeiten hin erzogen bzw. vorbereitet werden muss. Er soll also später als Bürger dazu in der Lage sein, zum einen notwendige Tä-

132 | Muße in Politik VII und VIII tigkeiten, z.B. im Sinne der unterschiedlichen Dimensionen der politischen Autarkie, erfüllen und wahrnehmen zu können, sowie zum anderen ebenso in der Lage sein, sich mit den an sich guten Tätigkeiten auseinanderzusetzen. Dennoch ist der Bürger nicht für alle notwendigen, d.h. praktischen Tätigkeiten der gesamten Polis zuständig. Der Bürger hat nach Aristoteles ausschließlich das Unentbehrliche zu lernen, da diese praktischen Tätigkeiten differenziert werden müssen in die Tätigkeiten der freien und der unfreien Teile des Staates. Im Hinblick auf die Beschäftigungen des Bürgers dieses aristotelischen Staats nach bestem Ermessen ist demnach klar, dass der Bürger »[...] sich nur an denjenigen unter den nützlichen Tätigkeiten beteiligen muss, die einen nicht zu handwerksmäßigem Charakter herabdrücken« (Pol. VIII 2, 1337b7).

Um diese These nun zu begründen, greift Aristoteles erneut auf die scholê zurück. Der „handwerksmäßige Charakter“ mancher praktischer Tätigkeiten zeigt sich für ihn darin, dass diese zum einen den Körper in eine schlechte Verfassung bringen und zum anderen das Denken durch die körperliche Tätigkeit in der Zeit der Muße beeinträchtigen. Aristoteles versteht unter solchen Beschäftigungen zum Beispiel jegliche Art von Lohnarbeit (Pol. VIII 2, 1337b11). Dieses Denken lässt sich aus dem politisch besetzten Autarkie-Begriff heraus erklären. Taglöhnerarbeit, zu der Aristoteles später auch sämtliche Arbeiten des Sklaven hinzuzählen wird, versteht er als die tagtägliche Arbeit allein um des Geldes und um der eigenen Lebenserhaltung willen. Es handelt sich dabei also um keine freie, für sich autarke Tätigkeit, die keinen anderen Nutzen verfolgt als diese eine Betätigung schlechthin. Diese Fokussierung auf alltägliche Tätigkeiten erlaube es jedoch nicht, dass derjenige, der solch einer Art von Tätigkeit nachgehen müsse, Muße zur Ausbildung der Tugendhaftigkeit haben könne. Denn es stehe vielmehr die permanente Auseinandersetzung mit dem Lebensnotwendigen, die Beschäftigung mit den alltäglichen Mühen des Erwerbs im Vordergrund. Es handelt sich dabei also, in der aristotelischen Terminologie gesprochen, um ein ausschließliches Leben in der ascholia, der Nichtmuße, die jedoch das Gegenstück dazu, die scholê, nicht kennt. Dieses Leben ist aber nicht jenes, das Aristoteles für den Bürger in seinem Staat nach bestem Ermessen vorgesehen hat. Es sind die anderen Teile des Staates, die nicht Bürger sind, die sich diesen Aufgaben zu widmen haben, aber dennoch gerade durch diese Tätigkeiten zum Entstehen und für den Fortbestand des Staates beitragen. Das sind, wie in Bezug auf die Gesellschaftsstruktur der aristê politeia zuvor nun schon öfters dargestellt, Bauern, Handwerker, Kaufleute, etc. (vgl. Kap. 2.3).

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In Politik VIII 3 kommt Aristoteles schließlich zu der Erörterung der erforderlichen Bildungsmittel. Er spricht in diesem Zusammenhang von vier Gegenständen, in welchen in der Regel die heranwachsende Jugend der Polis unterrichtet werden soll. Lesen und Schreiben (grammata), Leibesübung (gymnastikê), musische Kunst (mousikê) und Zeichnen (graphikê) (Pol. VIII 3, 1337b25). Lesen und Schreiben sowie auch das Zeichnen, führt Aristoteles aus, erweisen sich als sehr brauchbar und nützlich für das Leben im Gesamten und sollen deshalb erlernt werden. Die Gymnastik dient zur generellen körperlichen Ertüchtigung und Entwicklung, ebenso ist sie eine gute Schule für die Tugend der Tapferkeit, welche Aristoteles zuvor als eine der notwendigen Tugenden des Bürgers definiert hat. Der musische Unterricht, der seiner Ansicht nach vor allem in früheren Zeiten sehr gepflegt worden sei, wird ebenso für die Erziehung des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen empfohlen.21 In der Argumentation für einen solchen musischen Unterricht, greift Aristoteles hier in Politik VIII 3 auf seinen scholê-Begriff zurück. »[...]; über den Zweck des musischen Unterrichts aber kann man bereits zweifelhaft sein, denn jetzt treiben die meisten die musische Kunst nur so zum Vergnügen, vor Zeiten aber rechnete man sie zur Erziehung, weil die menschliche Natur, wie mehrfach bemerkt, selbst dahin strebt, dass man nicht bloß auf die rechte Weise der Arbeit (ascholia) obzuliegen, sondern auch die Muße (scholê) auf die rechte Weise auszufüllen versteht. Ja, dies ist sogar, um es noch einmal zu sagen, das Grundprinzip (archê) von allem« (Pol. VIII 3, 1337b28ff).

Für unsere Untersuchung sind hier vor allem die Bestimmungen zur Muße von Interesse, weniger der Bezug auf den Unterrichtsgegenstand der musischen Künste, der Musik. Es bedarf also, wie bereits ausgeführt, beiderlei Tätigkeitsformen, jenen in der Zeit der ascholia als auch jenen in der Zeit der scholê. Selbst wenn beides wichtig erscheint, ascholia und scholê, so ist der Zeit der Muße doch eindeutig der Vorzug zu geben, auch wenn beides nottut. Dennoch, und das ist als ein deutlicher Hinweis einerseits an den Gesetzgeber, anderer|| 21 Koller bezeichnet die mousikê im „wunschgemäßen Staat des Aristoteles“ aus Pol. VII/VIII als den „wichtigsten Inhalt der Muße“ (Koller: 1956, 1). In der Tat räumt Aristoteles den musischen Künsten, und dabei insbesondere der Musik, einen hohen Stellenwert ein, wie es vor allem Pol. VIII 5-7 deutlich macht. Nach Brüllmann stehen in diesen Kapitel jedoch zwei andere Fragen im Mittelpunkt: (1) Weshalb sollte die Musik einen Teil der Erziehung bilden? (2) Was sollte die Musikerziehung beinhalten? (vgl. Brüllmann: 2005, 371). Die mousikê ist für Aristoteles ein überaus wichtiges Thema und auch für die umfassende paideia des Bürgers relevant, allerdings können wir bereits an dieser Stelle festhalten, dass anhand von Pol. VII/VIII die These von Koller nicht haltbar erscheint. Die mousikê bildet zwar einen der vier genannten Erziehungsbereiche, ist jedoch nicht der wichtigste Inhalt der scholê.

134 | Muße in Politik VII und VIII seits aber auch an den Bürger innerhalb des Staats nach bestem Ermessen zu verstehen, ist es das Grundprinzip (archê) des gemeinsamen Zusammenlebens, zumindest hier innerhalb von Politik VII und VIII, dass der Bürger dazu in der Lage ist und es versteht, in den Zeiten der Nichtmuße und in den Zeiten der Muße sich angemessen zu verhalten bzw. zu beschäftigen oder zu betätigen. Es handelt sich hier um eine überaus zentrale Stelle der aristotelischen scholêKonzeption, in der die Unterscheidung von scholê und ascholia als das Grundprinzip des bürgerlichen Lebens schlechthin ausgewiesen wird. Dass aber dennoch die Zeit der Muße gegenüber der Zeit der Nichtmuße den Vorzug hat, jedoch nicht ausschließlich die einzige Tätigkeit des Bürgers darstellt, macht Aristoteles kurz darauf ein weiteres Mal überaus deutlich: »Die Muße dagegen scheint den Genuss, die Glückseligkeit und das selige Leben in sich selbst zu tragen. Denn dies wird uns nicht in der ascholia, sondern nur in der scholê zuteil, weil der Arbeitende ja eben durch seine Arbeit einen Zweck erst zu erreichen sucht und nicht also sich schon im Besitz desselben befindet, während die eudaimonia selber Endziel (telos) ist und jedermann sich dieselbe nicht mit Unlust, sondern mit Genuss verbunden denkt« (Pol. VIII 3, 1338a1ff).

Die Tätigkeiten in der Zeit der Muße tragen den Genuss und die Glückseligkeit in sich, da sie in sich zielgerichtet sind und um keines anderen willen betrieben werden als um ihrer selbst willen. Deshalb sind sie auch für ein glückliches Leben des Bürgers unentbehrlich. Dieser Bereich erinnert stark an die Suche nach dem höchsten Gut, der eudaimonia aus der Nikomachischen Ethik. Um sich in den Zeiten der Muße jedoch gewissermaßen zurechtzufinden, bedarf es also der richtigen Erziehung hin zu der Fähigkeit, die eigene Zeit der Muße selbst zu gestalten. Um dies gewährleisten zu können, ist nach Aristoteles jedoch bereits vorab ein umfassender Unterricht erforderlich, um zum einen die notwendigen Tätigkeiten aber zum anderen auch die an sich guten Tätigkeiten kennenzulernen bzw. sich in der Übung anzueignen. So sind Lesen und Schreiben für die Haushaltsführung von großer Wichtigkeit, ebenso der richtige Gebrauch und die grundlegenden Kenntnisse über Geldgeschäfte. Diese Dinge sind aber nicht nur für das Haus und die häusliche Gemeinschaft notwendig, sondern ebenso für den Staat und die Staatsgeschäfte aus politisch-ökonomischer Perspektive. Die Leibeserziehung soll die Gesundheit fördern, die Körperstärke entwickeln und bereits erste Züge der Tapferkeit vermitteln. Diese Dinge versteht Aristoteles als wichtige bzw. notwendige Voraussetzungen, die dem Bürger ein Leben in Muße prinzipiell möglich machen sollen, da er sich dadurch rascher und wahrscheinlich auch effizienter seinen an sich notwendigen Tätigkeiten, wie sie zuvor zum Teil in Bezug auf die politische Autarkie entwickelt wurden, zuwenden und diese in gewissem Sinne klären kann.

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Hiermit, vor allem anhand der zuletzt zitierten Textstelle, wird abermals deutlich, dass die umfassende Glückseligkeit, die eudaimonia, nichts Zufälliges bzw. sich von selbst Einstellendes ist, sondern Tätigkeit bedeutet (vgl. Ricken: 2007, 174). Das Grundprinzip (archê) dabei lautet jedoch, dass sich der Bürger in Zeiten von scholê und ascholia von sich aus recht zu beschäftigen und um die jeweiligen Tätigkeiten Bescheid weiß (Pol. VIII 3, 1337b28ff) – zum einen aufgrund seiner umfassenden Erziehung die er vorab als Kind und Jugendlicher innerhalb der Polis erhalten hat, zum anderen aufgrund seiner eigenen Fähigkeit dazu, ein tugendhaftes Leben als Bürger innerhalb der politischen Gemeinschaft auch in der Tat leben zu können. Die scholê ist es jedoch allein, die den Genuss und die Glückseligkeit des Lebens in sich trägt (Pol. VIII 3, 1338a1ff). Die weiteren Bestimmungen zur paideia in Politik VIII sind vielfältig und wurden mit sehr großer Sorgfalt ausgearbeitet. Daher würden sie eine ausführlichere Betrachtung auch verdienen. Da sie jedoch in Bezug auf die scholê im Grunde nicht weiterhelfen und Aristoteles in den folgenden Überlegungen keine weiteren Bestimmungen zu ihr gibt, konzentrieren wir uns, anstelle einer Paraphrasierung der weiteren Thesen zur paideia, nochmals auf seine Kernaussagen zur scholê und fassen diese in einem eigenen Kapitel zusammen. Festgehalten werden soll jedoch an dieser Stelle nochmals ausdrücklich, dass die paideia in Bezug auf die scholê in Politik VII und VIII eine wichtige Rolle innehat.22 || 22 Aristoteles legt bereits zu Beginn von Pol. VII 17 einen spezifischen Erziehungsplan vor: »Die eigentliche Erziehung aber ist in zwei Abschnitte zu teilen, in die Zeit vom siebenten Jahr bis zur Pubertät und in die von dieser bis zum einundzwanzigsten Jahr« (Pol. VII 17, 1336b39). In der EN weist Aristoteles darauf hin, dass Sparta zu den wenigen Poleis gehöre, wo der Gesetzgeber die Fürsorge für die Erziehung trage (EN X 10, 1180a25), so wie er sich das für seinen Staat nach bestem Ermessen wünschen würde. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Aristoteles in Pol. VII 17 an dem damaligen Erziehungssystem in Sparta orientiert hat, der sogenannten agôgê. Diese war eine umfassende, zentral organisierte und vor allem militärisch orientierte Erziehung, welche die schrittweise Sozialisation des Heranwachsenden in die Gesellschaft Spartas zum Ziel hatte. Diese Erziehung war, so wie es Aristoteles auch vorschlägt, in zwei Hauptphasen unterteilt. Zum einen jene der 7- bis 12-Jährigen sowie zum anderen die der 13bis 17-Jährigen. In der ersten Phase – so wird vermutet, die Quellenlage zur agôgê ist sehr dünn – wurden Leibesübung, Musik sowie auch Lesen und Schreiben unterrichtet. In der zweiten Phase standen vor allem körperliche Ertüchtigungen und spezielle Kriegsübungen im Vordergrund. Mit 17 Jahren endete die agôgê, wobei der Nachwuchs erst mit 30 Jahren zum sogenannten „Bürgerkrieger“ wurde (vgl. DNP: 1996, Bd. 1, Sp. 265, s.v. agôgê). Ein in Einzelheiten leicht abweichendes, jedoch im Grundkontext ähnliches Bild zur agôgê WdA: 2002, S. 12, s.v. Agôgê. Auch wenn Aristoteles in Pol. VII/VIII nicht explizit auf dieses Erziehungsmodell zu sprechen kommt, so ist die Ähnlichkeit zwischen den Konzeptionen nicht von der Hand zu weisen – selbst wenn Aristoteles an der Verfassung Spartas auch genügend zu kritisieren weiß, wie vor allem Stellen aus Pol. II 9 und VII 14 deutlich erkennen lassen.

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4.5 Eine scholê-Bilanz nach Politik VII und VIII Eine Vielzahl an aristotelischen Gedankengängen, die wir in den letzten Kapiteln erörtert haben, setzen sich mit der scholê und ihrer philosophischen Eingliederung in Politik VII und VIII auseinander. Immer wieder kommt Aristoteles, wie wir gesehen haben, an den unterschiedlichsten Stellen, bei unterschiedlichen Themen auf diesen Begriff zu sprechen und entwickelt ihn Schritt für Schritt weiter. Dass die scholê gerade innerhalb des Staats nach bestem Ermessen angesprochen wird, wo Aristoteles über äußere und innere Bedingungen seiner aristê politeia handelt und dabei sowohl facettenreiche Aspekte der Gesetzgebung, der Erziehung im Gesamten thematisiert als auch über den hairetôtatos bios spricht, hat Anlass zu unterschiedlichsten Interpretationen gegeben (vgl. Kap. 4.1). Solmsen meint dazu treffend: „Much of what we read in Books VII and VIII is presented as a legislation for scholê“ (Solmsen: 1964, 220). Viele Ausführungen aus Politik VII und VIII scheinen zum einen in der Tat eine Art „Gesetzgebung“ für die Muße des Bürgers zu sein. Diese Bestimmungen sind zum anderen aber auch eine Art der „Legitimation“ für die Muße des Bürgers. Die wichtigsten Eckpunkte dieses aristotelischen scholê-Denkens, wie wir es anhand von Politik VII und VIII kennengelernt haben, sollen nun an dieser Stelle zusammenfassend erörtert werden, um sie darauffolgend im Rahmen einiger Rückfragen verwenden (vgl. Kap. 5.) und später in der Interpretation (vgl. Kap. 6. und 7.) fokussierter auslegen zu können: (A) Das Ziel des Lebens im Staat nach bestem Ermessen ist die eudaimonia, die umfassende Glückseligkeit des Einzelnen und der politischen Gemeinschaft als Ganzes. Um die eudaimonia verwirklichen zu können, ist eine intensive Beschäftigung mit den Tugenden des Charakters zum einen und den Tugenden des Denkens zum anderen erforderlich. Jedoch bedarf es zur Ausbildung dieser Tugenden voller Muße, und vorab vor allem der für Aristoteles notwendigen natürlichen Veranlagung dazu, wie wir es zu Beginn der Untersuchung im Zuge der sozialanthropologischen Dimension der Autarkie erörtert und anhand von Politik VII 13 weiter ausgeführt haben. (B) Aufgrund dessen, also aufgrund der Notwendigkeit, über volle Muße zur Ausbildung der Tugenden zu verfügen, differenziert Aristoteles die Einwohner der Polis in Politik VII und VIII in Bürger und in Nichtbürger. Die Muße wird dabei eindeutig zum Spezifikum der Bürger, die sich durch die prinzipielle Fähigkeit zum Mußehaben von den restlichen Teilen der Polis unterscheiden. Alle Menschen im aristotelischen Staat nach bestem Ermessen sind Teile der Polis,

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da sie unmittelbar zum Entstehen und zum Fortbestehen des Gemeinwesens beitragen. Bürger sind innerhalb dieser Gemeinschaft jedoch nur Angehörige einer spezifischen Gruppe. Nochmals sei auch an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass diese Differenzierung anhand des Kriteriums der Muße eine Unterscheidung zwischen Bürgern und Nichtbürgern, nicht zwischen Teilen und Nichtteilen der Polis-Gemeinschaft darstellt. (C) Jedem Bürger muss es in dieser Polis möglich sein, ein Leben führen zu können, das sich primär, aber nicht ausschließlich, an der Muße und dem Mußehaben orientiert. Jeder Bürger soll sowohl „äußerlich“ als auch „innerlich“ in der Lage dazu sein, im Sinne der politischen Autarkie in Muße freigiebig und enthaltsam, also weder geizig noch überschwänglich, in Bezug auf die Güter und die Tugenden leben zu können. Wie gezeigt, gehen diese Bestimmungen Hand in Hand mit den unterschiedlichsten Erörterungen über das Territorium des Staats nach bestem Ermessen, die Topographie und die Größe des Landes. (D) „Beruflichem“, d.h. tagtäglichem Erwerbsdienst um der Selbsterhaltung willen, soll der Bürger im Staat nach bestem Ermessen nicht nachgehen, da diese Beschäftigungen die Muße beeinträchtigen und von politischen Aufgaben, die der Bürger dieser Konzeption nach zu übernehmen hat, ablenken. Darunter versteht Aristoteles vor allem die handwerklichen Tätigkeiten sowie auch jegliche anderen, übermäßigen körperlichen und generell zeitraubenden Belastungen, die seiner Meinung nach vor allem jene Prozesse mit sich bringen, die ausschließlich auf Erwerbsarbeit hin ausgerichtet sind, also nicht um ihrer selbst willen angestrebt bzw. verfolgt werden. Solchen Beschäftigungen haben die anderen Teile des Staates, also die Nichtbürger, nachzukommen. (E) Das Leben des Bürgers in der aristê politeia ist jedoch nicht, wie in Punkt C bereits angesprochen, ausschließlich ein Leben der Muße. Denn dieses teilt sich nach Aristoteles, wie in Kapitel 4.3 ausgeführt, in ascholia und scholê, also in die Zeiten der Nichtmuße und der Muße. Zur Verdeutlichung dieser beiden Bereiche führt er zusätzlich polemos und eirênê, Krieg und Frieden, an. Als drittes Begriffspaar erwähnt Aristoteles die Zeiten der „notwendigen“ sowie der „an sich guten“ Tätigkeiten. Alle drei Bereiche mit ihren jeweiligen, gegensätzlichen Spannungen sind Tätigkeitsfelder des Bürgers, selbst wenn scholê, eirênê und den „an sich guten Tätigkeiten“ im Vergleich zu den anderen drei Bereichen eine höhere Bedeutung zukommt, da sie Zweck an sich sind und nicht um eines anderen willen ausgeführt werden.

138 | Muße in Politik VII und VIII (F) Der Bürger bedarf allerdings für eine spätere etwaige Erfüllung seiner „notwendigen“ Tätigkeiten und für eine Beschäftigung mit den „an sich guten“ Tätigkeiten der Erziehung. Ihm muss demnach vorgezeigt werden, wie er das Notwendige und Nützliche, vor allem in ökonomischer und in politischer Hinsicht, erfüllen und wahrnehmen kann. Noch mehr, allerdings nicht in erster Linie, muss der Bürger ebenso dahingehend erzogen werden, das Gute zu tun bzw. aus eigenen Überlegungen heraus tun zu können. Dafür ist es allerdings erforderlich, dass der (angehende) Bürger bereits als Kind und Jugendlicher auf das Ziel hin erzogen wird, seine Muße später einmal richtig im aristotelischen Verständnis zu gebrauchen. Die Verantwortung für die Gestaltung dieser Erziehung trägt die politische Gemeinschaft, die Polis selbst, und zwar in der Form des Gesetzgebers, der das in seinen Grundpfeilern einheitliche Erziehungssystem für die heranwachsenden Bürger, nach reiflichen Überlegungen und Beratungen und in Anpassung an die Verfassung, festzulegen hat. Ziel der Erziehung ist es, dass der spätere Bürger einmal dazu in der Lage sein wird, politische Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen, sich in seiner Zeit der Muße zurechtzufinden und sich rechtens zu beschäftigen weiß. Der Gesetzgeber hat also nach Aristoteles die Aufgabe, die richtige Erziehung der Bürger sicherzustellen, damit sie erstens es verstehen, ihren Tätigkeiten nachzugehen und auch Krieg zu führen, zweitens die Muße richtig zu gebrauchen wissen und Frieden erhalten sowie ausfüllen können und drittens es verstehen das Notwendige und das Nützliche zu tun, aber noch mehr das Gute, wie es Aristoteles selbst formuliert hat. (G) Das Mußehaben des Bürgers scheint demnach ein hohes, frühzeitig geplantes Gut zu sein, welches viel Notwendiges bereits voraussetzt, worauf wiederum Aristoteles selbst hinweist. So auch in Bezug auf die im ersten Teil dieser Studie im dritten Abschnitt erörterten Dimensionen der politischen Autarkie. Denn, so Aristoteles, es müsse bereits viel Notwendiges vorhanden sein, damit sich der Bürger tatsächlich in der Zeit der Muße den entsprechenden Tätigkeiten überhaupt zuwenden könne. Unserer Interpretation nach müssen also sowohl die sozialanthropologische, die ökonomische, die staatsbürgerliche, die sozialethische sowie die freundschaftliche Dimension der politischen Autarkie gewährleistet sein bzw. zumindest vorübergehend als gesichert gelten, damit der Bürger innerhalb der Gemeinschaft überhaupt ansatzweise so etwas wie Muße haben kann. Daraus, und bereits schon aus den in Punkt E angesprochenen Gegensätzen von ascholia und scholê, Krieg und Frieden sowie der notwendigen und an sich guten Tätigkeiten, lässt sich schließen, dass es sich beim Mußehaben des Bürgers nicht um einen konstanten Zustand handelt, sondern um einen zeitlich begrenzten, der das Ergebnis einer komplexen gemeinschaft-

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lichen Leistung des Polis-Verbandes, also von Bürgern und Nichtbürgern darstellt, selbst wenn die politische Autarkie, noch mehr aber die Muße selbst, ausschließlich den Bürgern zugesprochen wird. Es lässt sich also erkennen, dass es zur Verwirklichung der scholê des Bürgers, ähnlich wie bereits zuvor bei der politischen autarkeia angeführt, einer funktionierenden und in sich geordneten Polis-Gemeinschaft im Ganzen bedarf und nicht nur einiger weniger Teile. (H) Zur seiner Auffassung nach richtigen Gestaltung der Zeit in der Muße, so Aristoteles, bedarf der Bürger der Enthaltsamkeit, der Gerechtigkeit und der Philosophie. Zu diesem Charakteristikum der scholê können wir anhand von Politik VII und VIII im Grunde genommen nichts Genaueres aussagen. Dennoch soll dieser Bereich in den folgenden Rückfragen an das Konzept angesprochen und einer möglichen Klärung zugeführt werden. Gleichzeitig können wir nun auch damit beginnen, die Begriffe des hairetôtatos bios, der aristê politeia und der scholê Schritt für Schritt zusammenzuführen.

5 Die Gestaltung der Muße Auf einen ersten Blick scheinen die Überlegungen aus Politik VII und VIII, im Gesamten betrachtet, gut zusammenzupassen, was erneut die These (und die derzeitige Forschungsmeinung) nahelegt, dass es sich bei diesen beiden Büchern in der Tat um eine Diskurseinheit handelt. Auf dem Weg unser Leitmotiv, nämlich die Frage nach der scholê anhand von Politik VII und VIII, zu bearbeiten, wurde aufgezeigt, dass mit ihr die Frage nach dem hairetôtatos bios als auch nach der aristê politeia einhergeht und eine nachvollziehbare, geschlossene Argumentationseinheit bildet. Dennoch bedarf es diesbezüglich weiterer Rückfragen, wobei abermals die scholê das Zentrum der Untersuchung bildet. Fünf Fragen stehen dabei im Mittelpunkt. Erstens: Woran lässt sich nun die erstrebenswerteste Lebensform bei Aristoteles festmachen und worin liegt dabei im Konkreten die Bedeutung der Muße? Zweitens: Welche Tugenden hat Aristoteles für das Leben des Bürgers in ascholia und scholê thematisiert und wie lassen sich diese Tugenden im Kontext zur politischen Philosophie aus Politik VII und VIII charakterisieren? Drittens: Welchen Philosophie-Begriff hat Aristoteles vor Augen, wenn er meint, dass die Philosophie für die an sich guten Tätigkeiten und für die Zeit der scholê unentbehrlich ist? Viertens: Wie steht es um den historischen Rahmen aus Politik VII und VIII in Bezug auf unseren Fokus und wie weit ist der aristotelische Entwurf, insbesondere die Forderung nach der Zeit der scholê des Bürgers, von den damaligen politischen Realitäten in den unterschiedlichen Poleis entfernt gewesen? Fünftens: Nicht zuletzt stellt sich freilich auch die Frage, worin das konkrete Ziel bestanden haben könnte, das Aristoteles mit seinen Bestimmungen vorrangig zur scholê, aber auch in Bezug auf den hairetôtatos bios und die aristê politeia im Gesamten verfolgt hat?

5.1 Der hairetôtatos bios: Leben in ascholia und scholê Die erste Frage, die sich im Anschluss an die bisherigen Untersuchungen stellt, lautet also, ob es sich bei den Überlegungen zur scholê um den von Aristoteles gesuchten hairetôtatos bios aus Politik VII 1 bis 3 handelt oder nicht? Eine Beantwortung dieser Frage scheint auf den ersten Blick einfacher zu sein, als sie es tatsächlich ist, da die Bestimmungen zu diesen Bereichen eng miteinander verknüpft sind und zum Teil in Politik VII und VIII selbst als vage erscheinen, insbesondere im Bereich des hairetôtatos bios.

Der hairetôtatos bios: Leben in ascholia und scholê | 141

Nach den bisherigen Ergebnissen dieser Studie liegt es auf der Hand, die von Aristoteles thematisierte Suche nach dem erstrebenswertesten Leben aus Politik VII 1 als die Suche nach einer Lebensform des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen zu charakterisieren, die sich weitestgehend an der scholê und an ihren spezifischen Charakteristika orientiert, jedoch nicht ausschließlich. Denn in den angesprochenen Passagen wird deutlich, dass das Leben des Bürgers nicht einzig und allein ein Leben der scholê ist, selbst wenn Aristoteles der Muße einen wichtigen Stellenwert in seiner gesamten philosophischen Konzeption aus Politik VII und VIII zuspricht. Dennoch kennzeichnet das Leben des Bürgers nicht nur die Zeit der scholê, sondern ebenso die Zeit der ascholia. Bereits anhand von Politik VII 9 haben wir das deutlich gemacht, wo Aristoteles ausführt, dass der Bürger zwar der vollen Muße bedarf, jedoch für die Staatsgeschäfte auf der einen Seite und die Ausbildung der Tugend auf der anderen Seite, also nicht bloß für die an sich guten Tätigkeiten, sondern ebenso für die notwendigen Tätigkeiten (Pol. VII 9, 1329a1ff). Schütrumpf wird dazu bereits überaus deutlich, was innerhalb der Forschung jedoch bislang wenig Resonanz erhalten hat. Im Staat nach besten Ermessen kann kein Bürger ein Leben führen, bei dem „er sich ausschließlich den in sich vollendeten Dingen widmen kann oder darf, jeder muss auch Notwendiges oder Nützliches tun, dabei jedoch die hier [in Politik VII und VIII] entwickelten Prioritäten beachten“ (Schütrumpf: 2005, 132). Ascholia und scholê, die auch für die notwendigen und die an sich guten Tätigkeiten stehen, sind charakteristisch für den Bürger der aristê politeia. Der Lebensbereich der Bürger umfasst also nicht ausschließlich das Mußehaben, sondern ebenso auch die Bereiche der Hauswirtschaft, der Politik inklusive der Kriegsführung sowie der Ausübung und der Organisation des Kultus. Selbst wenn Aristoteles der scholê des Bürgers prinzipiell gegenüber der ascholia den Primat des Erstrebenswerten zuerkennt, so scheint er dennoch an einem philosophischen Ansatz in seinem Staat nach bestem Ermessen interessiert zu sein, der das politische Ideal des Mußehabens des Bürgers zwar als wichtig und gleichzeitig als ein hohes gesellschaftliches Gut erachtet, jedoch dem bürgerlichen Leben nicht ausschließlich eine Zeit der Muße zuspricht. Neschke-Hentschke ist daher in zweifacher Weise Recht zu geben, aber sie ist auch in einem doppelten Sinne zu ergänzen. Zum einen ist die scholê in der Verwendung von Politik VII und VIII in der Tat ein „Zentralbegriff“ (NeschkeHentschke: 2001, 172). Jedoch nicht nur für die Betrachtung des Staats nach bestem Ermessen ist die scholê wichtig und zentral, sondern vor allem auch für die aristotelische Suche nach dem erstrebenswertesten Leben des Bürgers innerhalb dieser politischen Gemeinschaft, die Neschke-Hentschke allerdings nicht thematisiert. Zum anderen handelt es sich bei dem Polis-Entwurf aus Poli-

142 | Die Gestaltung der Muße tik VII und VIII in der Tat um eine „autarke Gemeinschaft des guten Lebens“ (Neschke-Hentschke: 2001, 175). Jedoch bedarf es auch hier wiederum einer Präzisierung, erstens in Bezug auf das Wort „autark“ und zweitens in Bezug auf das „gute Leben“. Politisch autark sein meint eine ausreichende Versorgung und Ausgestaltung im Sinne der fünf Dimensionen des politischen AutarkieBegriffs (vgl. Kap. 3.). Das gute Leben ist in dieser Konzeption ein Leben des Bürgers, das sich in die Zeiten von ascholia und scholê, in notwendige und an sich gute Tätigkeiten teilen lässt, wobei auch hier den an sich guten Tätigkeiten gegenüber den notwendigen Tätigkeiten prinzipiell ein Vorzug zu geben ist, wie auch in Bezug auf ascholia und scholê, jedoch beide Bereiche für das Leben des Bürgers in diesem Staat nach bestem Ermessen konstitutiv sind. Das ist eine der Kernaussagen die Aristoteles in Politik VII und VIII mit dem Fokus auf die scholê formuliert hat. Der Bürger ist demnach nicht ausschließlich ein Mußebürger. Das Leben im Staat nach bestem Ermessen verlangt demnach Kompetenzen des Bürgers in Bezug auf die praktisch-politische Lebensform, aber auch in Bezug auf die theoretisch-betrachtende Lebensform, wie wir einleitend bereits festgestellt bzw. Politik VII 1 bis 3 interpretiert haben, wo Aristoteles diese Diskussion, die wir auch von seiner Nikomachischen Ethik her kennen, angesprochen und hier in der Politik erneut diskutiert hat.1 Für beide Bereiche scheint Aristoteles jedoch nur ansatzweise Bestimmungen zu geben, wie er sich die Tätigkeiten des Bürgers in den jeweiligen Zeiten vorstellt. Zwei Einschränkungen stehen dabei im Vordergrund. Erstens ist der Bürger nicht für alle praktisch-politischen Tätigkeiten der gesamten politischen Gemeinschaft verantwortlich, sondern ausschließlich für jene, die im Umfeld von Wirtschaft, Politik und Religion zu finden sind, nicht jedoch für die unmittelbare, alltägliche Erwerbstätigkeit und ebenso nicht für das fachspezifische Handwerk. Denn diesen Bereichen und Tätigkeiten haben die Nichtbürger nachzukommen. Zweitens empfiehlt Aristoteles für die Zeit der Muße des Bürgers einen Umgang mit der Philosophie, worauf wir später noch genauer eingehen werden (vgl. Kap. 5.3). Mikkola argumentiert, wie wir zu Beginn der scholê-Untersuchung angeführt haben, mit dem Begriff der Muße bei Aristoteles werde ein spezifisches „sozialpolitisches Denken“ zum Ausdruck gebracht (Mikkola: 1958, 70). Auch dieser Interpretation ist im Grunde genommen zuzustimmen. Die sich daran anschließende Frage ist jedoch die entscheidendere und vermutlich auch span|| 1 Auch wenn die Interpretationen des „inclusive end“, wie z.B. einleitend anhand von Schütrumpf gezeigt, innerhalb der Forschung umstritten sind und unterschiedliche Argumentationen aufweisen, so ist doch Flashars Interpretation, die wir ebenso angeführt haben, nämlich dass Aristoteles einleitend mit Pol. VII 1-3 begonnen habe, beide Lebensformen, anders als in der EN, gegenseitig anzunähern, unverkennbar zutreffend.

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nendere Frage als jene, ob sich in dem Begriff der scholê ein sozialpolitisches Denken des Aristoteles erkennen lässt. Es stellt sich nämlich vielmehr die Frage, wie dieses sozialpolitische Denken, das anhand der scholê aus Politik VII und VIII abgeleitet werden kann, beurteilt werden soll und welche Konsequenzen diese Beurteilung für das Gesamtkonzept hat (vgl. Kap. 7.2)? Dass die scholê, so eine andere These Mikkolas, die wir vorab angeführt haben, eine „bestimmte, höhere Lebensform“ für sich darstellt (Mikkola: 1958, 84), geht aus den zuvor angestellten Überlegungen dieser Studie jedoch nicht in dieser Form hervor. Die scholê ist zwar ein unverzichtbarer Teil des bürgerlichen Lebens im Staat nach bestem Ermessen, der einen überaus bedeutenden Stellenwert hat, jedoch ist dieses Leben – wie zuvor gezeigt – kein ausschließliches Leben in permanenter Muße, sondern primär ein Leben der (an-)dauernden Wechselwirkung von ascholia und scholê. Die Zeit der Muße allein stellt demnach keine eigene Lebensform dar, sondern sie erhält ihren Stellenwert nur zusammen mit den restlichen Bestimmungen in Bezug auf das erstrebenswerteste Leben im Gesamten, die Aristoteles getroffen hat. Ein ausschließliches Leben des Bürgers in der Zeit der Muße, ist in diesem Staatsentwurf der Politik nicht vorgesehen. Schütrumpf hat in seiner Interpretation die Muße aus Politik VII und VIII als „höchste Form der Lebensgestaltung“ bezeichnet (Schütrumpf: 2005, 157). In der Tat scheint Aristoteles der scholê einen überaus hohen Wert beigemessen zu haben, der sich zumindest im Staat nach bestem Ermessen nicht überbieten lässt. Denn Aristoteles kennt in Bezug auf den hairetôtatos bios und die scholê keine Steigerung mehr. Die Interpretation der Muße als „höchste Form der Lebensgestaltung“ ist somit sicherlich berechtigt, auch wenn deutlich hinzugefügt werden muss, dass es sich hier um die höchste Form der Lebensgestaltung des Bürgers handelt. Zusätzlich zur scholê bedarf es jedoch aus aristotelischer Perspektive zweier wichtiger Voraussetzungen, die in diesem Kontext nicht unerwähnt bleiben dürfen: zum einen einer vorab erfolgten Erziehung, die zu einem richtigen (d.h. auch sinnvollen) Gebrauch der Zeit der Muße anleiten soll, und zum anderen eines geübten Umgangs mit der Philosophie für die unmittelbare Zeit des Mußehabens selbst. Die zweite Interpretation von Schütrumpf, die wir angeführt haben, bestimmt die Muße als „Ziel des Lebens“ (Schütrumpf: 2005, 133). Diese Auslegung scheint jedoch dem aristotelischen Konzept, wie wir es bis hierher nachvollzogen haben, nicht gänzlich zu entsprechen. Denn das Ziel bleibt im Grunde genommen weiterhin die Suche nach der Verwirklichung der eudaimonia und den dazu erforderlichen Bedingungen sowie die grundsätzliche Frage nach dem guten und gelingenden Leben sowohl des Einzelnen als auch der Gemeinschaft der Polis im Gesamten. So steht die eudaimonia in Politik VII 8 sowie 9 und auch

144 | Die Gestaltung der Muße in VII 14 deutlich im Mittelpunkt. Ebenso in Bezug auf den hairetôtatos bios erscheint also die eudaimonia weiterhin als das aristotelische Leitziel schlechthin. Bei dieser Suche entwickelt Aristoteles einen aus seiner Sicht heraus erstrebenswerten Weg des Bürgers hin zur eudaimonia, der in der Verbindung von bios praktikos kai politikos und bios theôrêtikos, mit einer deutlichen Präferierung des Mußehabens und der Zeit der Muße – hauptsächlich aber nicht ausschließlich – ausgemacht werden kann. Die scholê ist somit eine wesentliche Voraussetzung der eudaimonia.2 Der ganze Staat nach bestem Ermessen scheint in großem Maße auf die scholê, und hier auf die scholê des Bürgers hin, fokussiert zu sein. Dies zeigt sich darin, dass die gesamte Gesellschaftsstruktur aus Politik VII und VIII sich anhand von scholê und ascholia aufarbeiten lässt. Der Bürger ist aufgrund seiner Naturanlage, der Erziehung unter Gleichen, die er erhalten hat, sowie aufgrund seiner eigenen Vernunft, die Aristoteles voraussetzt, dazu in der Lage, sich in Zeiten der Nichtmuße, insbesondere aber in Zeiten der Muße sinnerfüllt und von sich aus beschäftigen zu können und durch diese Beschäftigung die eudaimonia zu verwirklichen. Dies alles scheint jedoch erst dann möglich zu sein, wenn zum einen der Einzelne, zum anderen aber auch die politische Gemeinschaft als Ganzes sich ökonomisch, politisch und sozial engagiert und in diesen Bereichen vorab politisch autark ist. Ohne diese grundlegenden Voraussetzungen, ohne die Regelung der notwendigen Tätigkeiten während oder in der Zeit der ascholia, ist die scholê nicht denkbar. Aristoteles ist es, der selbst deutlich darauf hinweist, wenn er sagt, dass vieles Notwendige bereits vorhanden sein muss, um sich der Zeit in der Muße zuwenden zu können (Pol. VII 15, 1334a18ff). Darum ist es auch erforderlich, dass der Bürger im Staat nach bestem Ermessen den ethischen aber auch den dianoetischen Tugenden zugewandt bzw. verpflichtet ist. Mit Blick auf diese dargelegte Interpretation der scholê sowie auf die Bestimmungen zur umfassenden paideia bei Aristoteles, erscheint die Auslegung Kullmanns zu diesen Themen unverständlich, der es als „bemerkenswert“ ansieht, dass im Rahmen des Staats nach bestem Ermessen für den Bürger die Möglichkeit bestehe, „sich vom politischen Leben zurückzuziehen und sozusagen ,unpolitisch‘ zu leben“. Kullmann sieht dabei keine Verpflichtung des Bürgers „zur Beteiligung an der Politik wegen der genossenen Erziehung“. Davon sei, so Kullmann, bei Aristoteles „auch nicht andeutungsweise die Rede“

|| 2 Bien erkennt treffend, dass die scholê nicht das Ziel des Lebens ist, und definiert diese mehr als eine Art der Vorbedingung für die eudaimonia: „Überhaupt aber gehört die Muße zu den Dingen, die vorauszusetzen sind, wenn man von Glück sprechen will“ (Bien: 1985, 146).

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(Kullmann: 2006, 270). Dem steht unsere scholê-Interpretation konträr gegenüber. Jedoch auch Schütrumpf weist darauf hin, dass das Leben des Bürgers in der aristê politeia nicht in einem „Entweder – oder“ besteht. Der Bürger hat hier im Staat nach bestem Ermessen nicht die Wahl, zwischen Politik oder Philosophie zu entscheiden. Die politische Existenz und die Verantwortung auf der einen Seite und das Leben in Zeiten der Muße auf der anderen Seite, sind, wie Schütrumpf treffend bemerkt, „nicht sich widersprechende Konzeptionen, sondern sich zeitlich ablösende Schwerpunkte im Leben des Menschen“ (Schütrumpf: 2006, 252f). Die scholê ist somit als ein Teilbereich des hairetôtatos bios des Bürgers zu verstehen, dem jedoch ein überaus bedeutender Stellenwert innerhalb von Politik VII und VIII zukommt. Die scholê schließt dabei die ascholia keineswegs aus. Es ist nicht Ziel bei Aristoteles, die ascholia vom Bürger fernzuhalten, ihn davon freizusprechen oder ihm ein permanentes Leben in der Zeit der scholê zu ermöglichen, fernab von den politischen Realitäten der Polis und befreit von politischer Verantwortung für die Gemeinschaft bzw. die Gesellschaft. Das gelingende Gesamte, das im Leben des Bürgers die Bereiche Krieg und Frieden, Nichtmuße und Muße sowie die an sich notwendigen und an sich guten Tätigkeiten umfasst, ist das Ziel, wobei der Zeit der scholê und ihren Tätigkeiten die sie ermöglicht, der Vorzug zu geben ist. Denn nach Aristoteles ist die scholê ein erstrebenswerter Zustand, der ihm hier im Staat nach bestem Ermessen aus Politik VII und VIII in hohem Maße als eudaimonia-tauglich erscheint.

5.2 Die Tugenden in Nichtmuße und in Muße Glückseliges Leben ist für Aristoteles notwendig mit Tugend verbunden (Pol. VII 9, 1329a22). In Politik VII 15 hält er fest: »Nur sind freilich für die Muße (scholê) und das freie Leben nicht nur diejenigen Tugenden vonnöten, die ihren Wirkungskreis in der Muße, sondern auch solche, die ihn in der Arbeit (ascholia) haben, denn es muss viel Notwendiges schon vorhanden sein, damit man sich der Muße hingeben könne« (Pol. VII 15, 1334a17ff).

Abgesehen davon, dass Aristoteles hier erneut deutlich darauf hinweist, dass sich das Leben des freien Bürgers im Staat nach bestem Ermessen in Nichtmuße und in Muße teilt, spricht er hier weiters eine Unterscheidung zwischen den Tugenden der Muße und den Tugenden der Nichtmuße an, verbunden mit dem Hinweis darauf, dass die Zeit der Muße viel Notwendiges voraussetzt. Kurz darauf benennt Aristoteles diese Tugenden:

146 | Die Gestaltung der Muße »Man bedarf also der Tapferkeit (andreia) und der Ausdauer (karteria) zur Arbeit (ascholia), der Philosophie zur Muße, der Enthaltsamkeit (sôphrosynê) und Gerechtigkeit (dikaiosynê) aber zu beiden Zeiten, und besonders im Frieden und in der Muße« (Pol. VII 15, 1334a23ff).

In Zeiten der Nichtmuße, so setzt Aristoteles an, bedarf es der Tapferkeit und der Ausdauer, der Enthaltsamkeit sowie der Gerechtigkeit. In Zeiten der Muße der Philosophie und ebenso der Enthaltsamkeit sowie der Gerechtigkeit. Der Philosophie im Rahmen dieser Aufzählung hier in Politik VII 15, werden wir uns in einem eigenen Kapitel zuwenden (vgl. Kap. 5.3), womit an dieser Stelle die Tugenden Tapferkeit, Ausdauer, Enthaltsamkeit und Gerechtigkeit für eine nähere Untersuchung in den Vordergrund rücken. Aristoteles führt diese Tugenden im Rahmen von Politik VII und VIII jedoch nicht näher aus. Er belässt es bei diesem allgemeinen Verweis an dieser Stelle. Für etwaige weitere Erklärungen können wir allerdings die Nikomachische Ethik heranziehen. Als erstes spricht Aristoteles in Politik VII 15 von der Tapferkeit, der andreia, der auch die darauffolgende Ausdauer, die Schütrumpf mit Standhaftigkeit übersetzt, zugeordnet werden kann, zumal sie im aristotelischen Tugendkatalog der Nikomachischen Ethik nicht gesondert angeführt wird. Aristoteles macht in Politik VII 15 deutlich, dass es ihm hier primär um die Tapferkeit im Krieg in Bezug auf die Verteidigung der Freiheit des Bürgers geht (Pol. VII 15, 1334a20ff). Es bedarf hier der Tapferkeit, um „nicht der Möglichkeit eines Lebens der Muße beraubt zu werden“ (Schütrumpf: 2005, 498), und um nicht der Versklavung durch andere Staaten zu unterliegen. Auch wenn Aristoteles dieses Beispiel in Bezug auf die andreia selbst anführt, so lohnt es sich dennoch zusätzlich zu Schütrumpfs Interpretation von Politik VII 15 einen intensiveren Blick in die Nikomachische Ethik zu werfen. In Nikomachische Ethik III 9 bis 12 führt Aristoteles aus, was er unter der Tugend der Tapferkeit versteht, die er zu den Charaktertugenden, den aretai êthikai, zählt, wie auch jene der Enthaltsamkeit und der Gerechtigkeit. Die andreia ist eine Mitte (mesotês) in Bezug auf die Furcht bzw. Feigheit als Mangel, und der Tollkühnheit bzw. dem Übermut als Übermaß an Tapferkeit (EN III 9, 1115a7ff). Tapferkeit bedeutet für Aristoteles allerdings nicht das sture Ausharren und Aussitzen, sondern vielmehr die Fähigkeit, Situationen richtig einschätzen zu können in denen es notwendig erscheint, entweder mehr Furcht oder mehr Mut an den Tag zu legen. Im Vordergrund der Tapferkeit steht also die richtige Einschätzung der Situation verbunden mit einer daraus resultierenden, überlegten Handlung. Aristoteles hält dazu in Nikomachische Ethik III 10 fest:

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»Wer also den Dingen standhält und die Dinge fürchtet, die man soll und weswegen man soll, ferner wie und wann man soll, und wer ebenso bei den richtigen Dingen Mut empfindet, der ist tapfer. Denn der Tapfere fühlt und handelt, wie es der Situation angemessen ist und wie die Überlegung vorschreibt. Ziel jeder Betätigung ist nämlich, was im Sinn der entsprechenden Disposition ist« (EN III 10, 1115b17ff).

In Nikomachische Ethik III 11 führt Aristoteles fünf Arten der Tapferkeit an. Es ist dies die Tapferkeit des Staatsbürgers, die des Soldaten, Tapferkeit im Rahmen der Empfindung des Zorns, im Rahmen der Hoffnung und der Unwissenheit. Die erste Art scheint insbesondere in Bezug auf Politik VII und VIII von Interesse zu sein, nämlich die Tapferkeit des Staatsbürgers (politikê).3 Nach Aristoteles hat diese erste Form der Tapferkeit die größte Ähnlichkeit mit der eigentlichen Tugend der andreia (EN III 11, 1116a15). Die Tapferkeit des Staatsbürgers zeigt sich in dem Streben nach dem Werthaften, das eng mit der (politischen) Ehrenhaftigkeit des Bürgers und dem Bemühen der Vermeidung der Unehrenhaftigkeit verbunden ist (EN III 11, 1116a28). Es ist anzunehmen, dass Aristoteles hier eine aktive Teilnahme des Bürgers an den politischen Entscheidungsprozessen im Rahmen der geltenden Gesetze der Polis vor Augen hatte. Tapferkeit sollte jedoch nicht, wie Aristoteles kritisierend ausführt, eine Sache des Zwangs sein, also durch Gesetze eingefordert, sondern aufgrund der Werthaftigkeit der Tugend selbst im Leben des Bürgers Anreiz und Anwendung finden (EN III 11, 1116b2). Es liegt nicht fern, dass Aristoteles in seinem Staat nach bestem Ermessen die andreia neben dem Aspekt der Verteidigung der Freiheit der Polis auch als Form der Tapferkeit speziell des Bürgers nach Vorstellungen aus Nikomachische Ethik III 11 eingeführt hat, zumal er im Gesamten betrachtet an die Bürgerschaft in Politik VII und VIII hohe Ansprüche stellt, wozu das Streben nach dem Werthaften auch im Sinne der staatsbürgerlichen Ehre, gut passt. Somit gilt es sich tapfer – nach eigener Abwägung und Abschätzung der spezifischen Situation – den Belangen der praktisch-politischen Tätigkeiten, auch des Krieges, in Zeiten der Nichtmuße zuzuwenden, und sich nicht ausschließlich dem Genussleben, insbesondere nicht in Friedenszeiten, hinzugeben. In diesem Kontext scheint die Tapferkeit, wie zuvor bereits angeführt, mit der Ausdauer und der Beharrlichkeit in diesen Belangen verbunden zu sein.

|| 3 Da Aristoteles bei der zweiten Art der andreia in EN III 11, der Tapferkeit des Soldaten, ausschließlich auf das Söldnertum zu sprechen kommt, erscheint diese Passage für eine Auseinandersetzung mit Politik VII und VIII in Bezug auf die Tapferkeit des Bürgers der aristê politeia weniger von Interesse.

148 | Die Gestaltung der Muße Susemihls Übersetzung der sôphrosynê mit Enthaltsamkeit in Politik VII 15 ist auf einen ersten Blick, vor allem in Bezug auf den Bürger aus Politik VII und VIII, irritierend. In der Nikomachischen Ethik übersetzt Wolf die sôphrosynê treffender mit Mäßigkeit. Die Mäßigkeit ist nach Nikomachische Ethik III 13 eine mittlere Disposition zwischen dem Übermaß der Unmäßigkeit und dem Mangel der Empfindungslosigkeit. Aristoteles unterscheidet dabei zwei Arten der Lust, nämlich die der körperlichen und der seelischen. Gegen die seelische Lust, wie z.B. die Liebe zur Ehre oder die Liebe zum Lernen, hat Aristoteles der Nikomachischen Ethik zufolge nichts einzuwenden (EN III 13, 1117b28ff). Vielmehr möchte er auf die Mäßigkeit in Bezug auf die körperlichen Lustempfindungen zu sprechen kommen, dabei jedoch nicht auf alle, wie Aristoteles anführt (EN III 13, 1118a2). Sein Fokus liegt auf denjenigen „Lustempfindungen, an denen auch die Tiere teilhaben, weshalb diese Empfindungen auch sklavisch und animalisch erscheinen“ (EN III 13, 1118a24). Besonders die Unmäßigkeit in den Sinneswahrnehmungen und deren permanente Befriedigung ist Zielscheibe der aristotelischen Kritik. »Mit der Unmäßigkeit ist also derjenige unserer Sinne (aisthêsis) verbunden, der allen Tieren gemeinsam ist; und die Unmäßigkeit dürfte mit Recht besonders tadelnswert sein, weil sie uns nicht als Menschen zukommt, sondern insofern wir Tiere sind. Sich an solchen Dingen zu freuen und sie über alles zu lieben ist daher animalisch« (EN III 13, 1118b1ff).

Auch hier wird (abermals) deutlich, dass der Mensch mit dem Tier wesentliche Eigenschaften teilt, wie wir das bereits schon in Bezug auf die sozialanthropologische Dimension der politischen Autarkie festgehalten haben (vgl. Kap. 3.1). Aristoteles geht es hier in der Nikomachischen Ethik jedoch nicht um ein schlichtes Verbot, sondern um einen mäßigen, bewussten Umgang mit dem Genuss (hêdonê) und mit der genussvollen Sinneswahrnehmung und ihrer Befriedigung. Explizit erwähnt Aristoteles Nahrung und Sexualität (EN III 13, 1118b10). Zur Nahrung führt Aristoteles aus, dass die natürliche Begierde ausschließlich das Bedürfnis des Verlangens eines Ausfüllens des Mangels fordert, und nicht willkürlichen, lukullischen Exzess. Die Quantität ist hier für Aristoteles kein Maßstab, da sie das dem Menschen naturgemäße übersteigt und somit keine Mitte darstellt. »Denn zu essen oder zu trinken, was sich gerade bietet, bis man übervoll ist, bedeutet, dass man hinsichtlich der Quantität über das Naturgemäße hinausgeht; denn die natürliche Begierde ist [nur] die Auffüllung des Mangels« (EN III 13, 1118b17f).

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Diese Maßstäbe lassen sich wohl auch an den Staat nach bestem Ermessen anlegen. Mäßigkeit erscheint Aristoteles nach Politik VII 15 für ascholia und scholê unverzichtbar. Insbesondere aber in Zeiten der Muße, wie er in Politik VII und VIII nicht müde wird zu betonen, zumal hier die Verlockungen des exzessiven, übermäßigen Genusses verstärkt vorhanden sind und dadurch auch mehr reizen (Pol. VII 14, 1333b31ff; VII 15, 1334a23ff). In dem besonnenen und mäßigen Umgang des Bürgers im Bereich des Genusslebens, ortet Aristoteles allerdings keinen schmerzhaften Verzicht, dem sich der Bürger im Rahmen eines asketischen Lebensstiles unterwerfen muss. »Und der Mäßige heißt so, weil er nicht darunter leidet, wenn das Angenehme fehlt oder er sich seiner enthält« (EN III 13, 1118b33).4

Der Mäßigkeit bedarf es, wie auch der Gerechtigkeit, in Nichtmuße und in Muße, wie Aristoteles in Politik VII 15 festgehalten hat. Der dikaiosynê widmet er in Nikomachische Ethik V besondere Aufmerksamkeit und eine intensive Untersuchung. Eine spezifische Verortung der Gerechtigkeit als Tugend anhand von Politik VII und VIII im Abgleich mit der Nikomachischen Ethik, fällt allerdings schwer, zumal Aristoteles in Nikomachische Ethik V unterschiedliche Formen der Gerechtigkeit kennt (vgl. Bien: 1995, 162f; vgl. Höffe: 2005, 130ff), wobei er in Politik VII 15 es allein mit dem Verweis auf die dikaiosynê für Nichtmuße und Muße beruhen lässt. Allgemein gesprochen lässt sich festhalten, dass die Gerechtigkeit für Aristoteles eine innere Haltung (hexis) des Menschen ist. Er grenzt sie gegenüber der Wissenschaft (epistêmê) und der Fähigkeit (dynamis) ab (EN V 1, 1129a11). Die Gerechtigkeit ist eine Tugend, die um ihrer selbst willen an dem Gerechten orientiert ist. Aristoteles kennt zwar die Gerechtigkeit im Rahmen der Gesetztestreue (EN V 2, 1129a33), jedoch nicht ausschließlich nur diese eine Art der Gerechtigkeit. Vielmehr kommt es auf das gerechte Handeln an, und das in jeder Situation (EN V 13, 1137a10ff). Dass Aristoteles für die Entwicklung seines Staats nach bestem Ermessen auch die Tugend der Gerechtigkeit anführt und sich auf sie beruft, überrascht im Grunde genommen nicht, zumal die dikaiosynê als politisches Grundprinzip gelten kann und viel Aufmerksamkeit in der Nikomachischen Ethik erfährt. Da-

|| 4 Auch in Pol. VII wird das Thema des Maßhaltens angesprochen, und zwar bei der Bestimmung der Größe des Staats: »[...]; es gibt nämlich auch für den Staat ein bestimmtes Maß dieser seiner Größe, ebenso wie für alles andere, Tiere, Pflanzen, Werkzeuge. Denn auch ein jedes von diesen kann, weder wenn es allzu klein, noch auch wenn es allzu übermäßig an Größe ist, sein eigentümliches Vermögen (dynamis) behalten, vielmehr wird es dadurch entweder ganz seiner Natur beraubt oder doch in einen mangelhaften Zustand versetzt« (Pol. VII 4, 1326a35).

150 | Die Gestaltung der Muße mit verbunden überrascht jedoch die Tatsache, dass Aristoteles bei seinem Verweis auf die Tugenden in Zeiten der Nichtmuße, aber noch viel mehr in dem Verweis auf die Zeiten der Muße, die philia, die Freundschaft, nicht anführt, zumal sie zumindest der Nikomachischen Ethik nach selbst die große Tugend der Gerechtigkeit übersteigt (vgl. Kap. 3.5). Es ist verwunderlich, dass in Politik VII und VIII die philia – zumindest jene unter den Bürgern – nicht erwähnt wird. »Und wenn Menschen Freunde sind, bedarf es nicht der Gerechtigkeit; hingegen bedarf es, wenn sie gerecht sind, zusätzlich der Freundschaft« (EN VIII 1, 1155a27).

Die Zuteilung der Tugenden in Zeiten der Nichtmuße und der Muße in Politik VII 15 gibt einen Einblick dahingehend, wie sich Aristoteles die charakterliche Gutheit, die ethischen Tugenden des Bürgers, vorgestellt hat. An diesen Tugenden muss sich der Bürger orientieren, wenn er tüchtig und glückselig werden will (Pol. VII 15, 1334a35). Spätestens hier wird überaus deutlich, dass die Bürgerschaft für die Muße als auch für die Nichtmuße gerüstet sein muss. Die Bürger sollen nach Aristoteles dazu in der Lage sein, z.B. sowohl ihre Freiheit verteidigen als auch dazu befähigt sein, in Friedenszeiten mit den Gütern rechtens umgehen zu können (vgl. Schütrumpf: 2005, 499). Dabei ist für Aristoteles vor allem der maßvolle Umgang mit den Gütern und den Ressourcen der Polis ein wichtiges Anliegen, wie gesagt insbesondere in Zeiten der Muße: »Denn wenn es überhaupt schon schimpflich ist, sich auf den rechten Gebrauch der Güter nicht zu verstehen, so ist es noch schimpflicher, sich auf den Genuss der Muße nicht zu verstehen, sondern in Krieg und Arbeit sich tüchtig zeigen, in Frieden und Muße aber knechtisch« (Pol. VII 15, 1334a36ff).

Aristoteles erwähnt daran anschließend den Staat der Lakedaimonier und kritisiert deren Einübung der Tugenden (Pol. VII 15, 1334a40). Ihr Staat habe sich nur solange aufrecht halten können, so lange die kriegerischen Auseinandersetzungen dauerten und sie sich in ihrer ascholia tüchtig zeigten. In den Friedenszeiten, der Zeit der scholê jedoch, ging der Staat schließlich zu Grunde, weil sie es nicht verstanden hätten, in Muße friedlich und enthaltsam zu leben. Wir sehen damit auch hier, dass sich das aristotelische scholê-Denken an damaligen Polis-Entwicklungen orientiert hat (vgl. Kap. 5.4). Mit den Tugenden, die Aristoteles für seinen Staat nach bestem Ermessen als notwendig und wichtig erachtet, soll sich der Bürger vor allem in der Muße auseinandersetzen und sie einüben (Pol. VII 15, 1334b3). Erforderlich für diese Auseinandersetzung sind Natur (physis), Gewöhnung (ethos) und Vernunft (logos) (Pol. VII 15, 1334b6), die Aristoteles schon zuvor in Politik VII 13 angesprochen hat.

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»Gut und tüchtig nun wird man durch dreierlei, Naturanlage (physis), Gewöhnung (ethos) und Vernunft (logos)« (Pol. VII 13, 1332a40).

Erstens bedarf es der Natur des Menschen, ein anthropologisches Motiv, zweitens einer bestimmten Beschaffenheit des Körpers und drittens auch der Seele. Die Sorge für den Körper, hier dachte Aristoteles wohl an eine gesundheitliche Perspektive, muss der Sorge für die Seele, die Perspektive der Tugend, vorangehen: »Also muss die Sorge für den Körper der für die Seele notwendig vorangehen, und dann muss zunächst die richtige Pflege des Strebevermögens (orektikon) nachfolgen, so jedoch, dass man bei der Ausbildung des Körpers die der Seele und bei der des Strebevermögens die des Einsehvermögens als Ziel im Auge hat« (Pol. VII 15, 1334b25ff).

Unter der Gewöhnung (ethos) versteht Aristoteles die Erziehung, die paideia, die den jungen Bürger dahingehend anleiten soll, im Erwachsenenalter tugendhaft zu leben sowie die unterschiedlichen Lebenssituationen aufgrund der Vernunft selbst einschätzen und daher tugendhaft handeln zu können. Der logos wird, wie auch schon zuvor physis und ethos, von Aristoteles in Politik VII und VIII nicht intensiver ausgeführt. Zusammen mit dem Hinweis auf das Strebevermögen des Menschen in Politik VII 15 erinnert diese Stelle an die Seelenlehre aus der Nikomachischen Ethik (EN I 13; An. II 2; vgl. Kap. 3.1), wo Aristoteles auch die Differenzierung zwischen den Tugenden des Charakters (êthikê) und den Tugenden des Denkens (dianoêtikê) vornimmt (EN I 13, 1103a5). In Politik VII 15 hat sich Aristoteles allerdings ausschließlich auf die ethischen Tugenden bezogen, eben auf Tapferkeit und Ausdauer für die Nichtmuße, Philosophie für die Muße sowie Mäßigkeit und Gerechtigkeit für beide Zeiten. Dabei werden dianoetische Tugenden nicht explizit erwähnt, zumal nach der Nikomachischen Ethik die Philosophie nicht als solche gilt. Doch es stellt sich nun die Frage, wie Aristoteles den Bereich der Philosophie für die Zeit der Muße des Bürgers in seinem Entwurf eingeplant hat?

5.3 Zur Funktion der Philosophie in Zeiten der Muße In Politik VII 15 führt Aristoteles an, dass es zur Zeit der Muße der Philosophie bedarf (Pol. VII 15, 1334a23). Somit wird klar, dass die scholê des Bürgers eine spezifische Tätigkeit impliziert und daher von den heute gängigen Übersetzungen abweicht, die vom „Nichtstun“, von „Rast“ oder von „Freizeit“ sprechen (vgl. Exkurs II). Im Kontext von Politik VII und VIII erscheinen diese und ähnliche Übersetzungen unpassend. Denn die scholê im aristotelischen Ver-

152 | Die Gestaltung der Muße ständnis im Staat nach bestem Ermessen ist keineswegs als Untätigkeit oder als Müßiggang des Bürgers zu verstehen (vgl. Schütrumpf: 2005, 133). Sie beinhaltet nicht ausschließlich ein körperliches Ausruhen oder meint nicht schlichtweg einfach eine freie Zeit des Bürgers zu dessen beliebiger Selbstverwendung. Hinzu kommt, dass die scholê, worauf wir nochmals zu sprechen kommen werden, vor allem keine pflichtlose Zeit des Bürgers bedeutet (vgl. Mikkola: 1958, 73; Flashar: 2004, 312; vgl. Kap. 7.1). Die Frage, die sich anschließend an Politik VII 15 stellt, lautet, wie Aristoteles den Verweis auf die Philosophie in Zeiten der Muße des Bürgers verstanden hat? Tatsache ist, dass Aristoteles auf seine Vorstellungen über die spezifischen Tätigkeiten des Bürgers, sei es in Bezug auf die notwendigen oder aber auch in Bezug auf die an sich guten Tätigkeiten, die konkreten Beschäftigungen des Bürgers in Zeiten der scholê, nicht näher zu sprechen kommt. Freilich liegt die Vermutung nahe, dass es sich in der Zeit der scholê vor allem um eine am bios theôrêtikos orientierte Lebensweise handeln könnte. Doch die zuvor angesprochene argumentative Lücke der Bestimmungen aus Politik VII und VIII betrifft nicht nur den Bürger in der Zeit der scholê, sondern ebenso auch die Tätigkeiten der theoretisch-betrachtenden Lebensform im Gesamten, die ebenso vage erscheinen. Denn auch in diesem Bereich erfahren wir, vor allem mit der Nikomachischen Ethik vor Augen, im Prinzip gleich wenig Genaues. Zur Frage, auf welche Gegenstände sich die Theorie, die Betrachtung, im Speziellen richtet oder richten sollte, wird bei Aristoteles nicht konkret Stellung genommen (vgl. Kullmann: 1998, 403). Auch die Politik bietet diesbezüglich allgemein und auch in unserem speziellen Fall wenig Hilfe. Wer bei Aristoteles dennoch einen solchen Hinweis auf die Gegenstände und Tätigkeiten der theoretisch-betrachtenden Lebensform sucht, der kann in der Metaphysik fündig werden. Es heißt dort in VI 1: »Hiernach würde es also drei betrachtende philosophische Wissenschaften geben: Mathematik, Physik, Theologie« (Met. VI 1, 1026a18).5

Hier finden wir also einen Hinweis darauf, welche Betätigungen Aristoteles zumindest für den Bereich der theôria vorgesehen hat. Im wissenschaftlichen Diskurs haben diese Bestimmungen jedoch kontroverse Diskussionen und In-

|| 5 „In Met. VI 1, 1026a18f spricht er von ,drei theoretischen Philosophien‘ und meint damit die Naturlehre (Physik), Mathematik und Theologik (treis philosophiai theôrêtikai, mathêmatikê, physikê, theologikê). Theoretisch sind diese Wissenschaften, weil sie ihre Gegenstände von ihnen selbst her, das Seiende in seinen notwendigen Gründen und Ursachen primär betrachten und so begreifen wollen“ (Elm: 2005, 585).

Zur Funktion der Philosophie in Zeiten der Muße | 153

terpretationen mit sich gebracht. Ritter hat die theôria dabei vor allem als „theologische Wissenschaft“ interpretiert (vgl. Ritter: 1953, 17),6 wohingegen Kullmann darauf hinweist, dass hier im Bereich der theôria bei Aristoteles nicht ausschließlich an das Studium theologischer und astronomischer Gegenstände gedacht werden kann. Kullmann spricht sich vielmehr gegen eine solche Interpretation und für ein breiteres Verständnis der theôria aus.7 Der Theologie kommt zwar ein besonderer Stellenwert innerhalb der theôria zu, worauf Aristoteles selbst in Metaphysik VI 1 im Anschluss an die zuvor angeführte Textstelle hinweist, sie ist jedoch nicht ausschließlich als absolut primäre Tätigkeit dieser Lebensform aufzufassen. An dieser Stelle ist nochmals festzuhalten, dass Aristoteles in der Metaphysik drei „theoretische Tätigkeiten“ kennt, nämlich die Mathematik, die Physik und die Theologie. Eine andere Stelle aus der Metaphysik deutet darauf hin, dass diese drei Bereiche auch für die Zeit der scholê des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen von Interesse sein könnten. »Als daher schon alles Derartige geordnet war, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich weder auf die notwendigen Bedürfnisse (anankaia) noch auf das Vergnügen (hêdonê) des Lebens beziehen, und zwar zuerst in den Gegenden, wo man Muße hatte [καὶ πρῶτον ἐν τούτοις τοῖς τόποις οὗπερ ἐσχόλασαν]. Daher bildeten sich in Ägypten zuerst die mathematischen Wissenschaften, weil dort dem Stand der Priester Muße [σχολάζειν] gelassen war« (Met. I 1, 981b20ff).

Die Terminologie dieser Stelle aus der Metaphysik erinnert an jene aus Politik VII und VIII, und zwar in Bezug auf die Hauptaussagen zur scholê. Denn auch hier in Metaphysik I 1 wird der Zusammenhang zwischen Autarkie, verstanden als die schlichtweg notwendigen Voraussetzungen, die notwendigen Bedürfnisse (anankaia), für die Zeiten der Muße deutlich angesprochen sowie auch das Thema der hêdonê, das in dem Bereich der Tugenden des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen ebenso Thema ist. Die Klärung dieser Voraussetzungen scheint hier für Aristoteles eine Art Vorbedingung zu sein, um „Wissenschaft“ bzw. die „Betrachtung“ überhaupt betreiben zu können. Weiters macht diese Stelle aus Metaphysik I 1 deutlich, dass die scholê des Menschen – hier müssen wir uns anders als bei Politik VII und VIII nicht explizit auf den Bürger allein beschränken – also auch für die theoretisch-betrachtende Lebensform unent|| 6 Ritter zu seiner These: „So ist nach Aristoteles die freie Theorie ihrem Ursprung und Sinn nach ,Theologie‘“ (Ritter: 1953, 31). 7 „Wir sind also frei, alle drei theoretischen Wissenschaften, die in Met. E 1 genannt werden – Erste Philosophie bzw. Theologik, Naturwissenschaft (zu der nach aristotelischem Verständnis auch die Astrophysik zählt) und die mathematischen Disziplinen – unter die Gegenstände der Glück bringenden Aktivitäten unserer Psyche zu rechnen“ (Kullmann: 1998, 403).

154 | Die Gestaltung der Muße behrlich erscheint.8 Diesen Zusammenhang deutet ebenso Elm an und beruft sich dabei auch auf die Stelle aus Metaphysik I 1. Die theôria vollzieht sich demnach „im Raum der Muße“, jedoch „beruht sie auch auf praktischen Voraussetzungen. Denn Bedingung für das Entstehen und für die Bewahrung von Muße und freien Wissenschaften ist die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen durch Politik und Künste in Richtung der Autarkie der politischen Gemeinschaft“ (Elm: 2005, 587).9 Scholê zu haben ohne eine vorausgehende Klärung der wichtigsten, notwendigsten Tätigkeiten und Bereiche des Menschen in Bezug auf sein unmittelbares Leben als Einzelner, aber auch in Bezug auf sein Leben in politischer Gemeinschaft, erscheint demnach als nicht möglich. Daran ist auch die Wissenschaft und die theôria gebunden, wie es Aristoteles in der Metaphysik deutlich zum Ausdruck bringt. Der Philosophie-Begriff, den Aristoteles in Politik VII und VIII in Bezug auf die scholê des Bürgers gebraucht, ist nicht eindeutig zu klären. Es liegt jedoch die Vermutung überaus nahe, dass es sich hierbei um einen breiter gefassten Begriff handelt und nicht ausschließlich um einen spezifisch wissenschaftlichen Begriff, wie er vielleicht mit der Hilfe der Metaphysik nachgewiesen werden könnte. Zwar ist die scholê auch für die theôria erforderlich, allerdings ist im Kontext zur aristê politeia nicht anzunehmen, dass Aristoteles eine Bürgerschaft bestimmen wollte, die sich ausschließlich den theoretischen Wissenschaften, der Mathematik, der Physik oder der Theologie zuwendet, oder aber auch nicht ausschließlich den Wissenschaften (im engeren Sinne) im Gesamten. Schütrumpf interpretiert dies ähnlich. Die Philosophie stehe in Politik VII und VIII für „Geistesbildung“ und „Kultur“, die davor bewahren soll, den „vulgären Versuchungen der Muße zu erliegen“.10 Seiner Ansicht nach ist der Philosophie|| 8 Bien dazu in Bezug auf Met. I: „Dort wird das, was hier für den einzelnen, welcher in der Theorie lebt, gesagt wird, für die geschichtliche Verwirklichung der Theorie und Philosophie insgesamt behauptet bzw. am ,tatsächlichen Verlauf der Dinge‘ beobachtet: erst nachdem alles vorhanden war, was zum Leben notwendig ist (und außerdem noch das, was einer leichteren Lebensführung und der geistigen Kultur förderlich ist), begann das Suchen nach der zweckfreien Erkenntnis, und zwar zuerst an den Orten, an denen man Muße hatte. Deshalb gab es die mathematischen Künste zuerst in Ägypten; denn dort wurde der Klasse der Priester Muße gegönnt (981b20-25)“ (Bien: 1985, 146). 9 Elm belegt diese Interpretation mit jenen Passagen, die auch wir für die Untersuchungen der hier angesprochenen Themen verwendet haben. Für das Thema der Autarkie sind das Met. I 1, 981b20ff; I 2, 982b22ff; Pol. I 1-2. Für den Bereich der Muße sowie der notwendigen Erziehung dazu insbesondere Pol. VII 14, 1333b31ff; VII 15, 1334a15ff. 10 Auf diese Gefahr weist Aristoteles, wie bereits im Laufe der Studie des Öfteren gezeigt, mehrmals deutlich hin. Die große Herausforderung sieht er darin gegeben, in Frieden und in Zeiten der scholê angemessen, enthaltsam und tugendhaft zu leben.

Zur Funktion der Philosophie in Zeiten der Muße | 155

Begriff hier nicht als „philosophisch-theoretisches Bemühen“ zu verstehen (Schütrumpf: 2005, 134), worauf auch schon Depew hingewiesen hat (Depew: 1991, 345).11 Dem Urteil von Schütrumpf ist hinzuzufügen, dass es sich nicht ausschließlich um ein philosophisch-theoretisches Bemühen handeln muss, jedoch auch handeln kann. Denn Aristoteles schließt dies an keiner Stelle explizit aus. Es ist aber anzunehmen, dass sich ein Großteil der Bürger an einem philosophischen „Kultur-Begriff“ orientieren soll, um in der Zeit des Friedens und der Muße einer sinnerfüllten Lebensgestaltung nachgehen zu können, wohingegen sich eine Minderheit freilich auch der theôria widmen kann. Grundsätzlich soll die Philosophie dem Bürger im Staat nach bestem Ermessen dabei behilflich sein, die (kostbare) Zeit der Muße nicht durch sinnlose Tätigkeiten zu vergeuden.12 Eine Vorstellung davon, wie ein breiteres Philosophie-Verständnis bei Aristoteles in Bezug auf die Lebensgestaltung, Kultur und Geistesbildung aufgefasst werden kann, bietet der Protreptikos, die Hinführung zur Philosophie, in der Aristoteles die Philosophie als „Sinn und Erfüllung des menschlichen Daseins“ ansieht (Schneeweiß: 2005, 9). Der Protreptikos des Aristoteles steht in der klassischen Tradition einer „Literaturgattung, die in der Sokratesnachfolge begründet worden war“ und ist „von der pädagogischen Absicht geprägt, den Leser zu einem bestimmten Tun oder gar zu einer besonderen Lebensart hinzuführen“ (Schneeweiß: 2005, 14). Es handelt sich um eine philosophische Werbeschrift des Aristoteles an den König Themison von Zypern, die uns jedoch nur in Fragmenten überliefert ist, und das auch nur durch zweite Hand, also durch Zitate und Auseinandersetzungen bei anderen antiken Schriftstellern (vgl. Schneeweiß: 2005, 19), was eine Gesamteinschätzung deutlich erschwert. In einem dieser Fragmente wird die Philosophie als grundlegende Tätigkeit für ein nützliches und sinnerfülltes Leben im Gesamten angesehen, und das aus zweierlei Perspektive: zum einen in Bezug auf die notwendigen Tätigkeiten, die hier als

|| 11 Depew spricht sich ebenso für einen breiteren Philosophie-Begriff hier in Pol. VII/VIII, ähnlich wie Schütrumpf, aus: „[...] ,philosophia‘ should be taken broadly“ (Depew: 1991, 347). 12 Was Schütrumpf an diesem Punkt angekommen zusätzlich anspricht, kann als ein weiterer Beleg für die Theorie der Annäherung zwischen bios praktikos kai politikos und bios theôrêtikos in Pol. VII/VIII gewertet werden. Hier, wo Aristoteles „eigentlich den Punkt erreicht hat, um entsprechend der Zuordnung von Seelenteilen und Lebensformen das philosophische Leben zu empfehlen“, vollzieht er diesen Schritt nicht: „er stellt nicht dem Leben der Praxis das der Philosophie gegenüber, sondern er kontrastiert in allgemeinster Form Tätigsein und Muße“ (Schütrumpf: 2005, 104, 467). Dieses Argument schärfend: Aristoteles skizziert hier das Verhältnis von ascholia und scholê, da beide Bereiche „Tätigkeiten“ sind.

156 | Die Gestaltung der Muße „Staatsangelegenheiten“ bezeichnet werden und zum anderen auch für den Bereich des „Privatlebens“. So heißt es in einem der Fragmente des Protreptikos in der Übersetzung von Düring: »Wir müssen Philosophen werden, wenn wir den Staatsangelegenheiten richtig nachgehen und unser Privatleben auf eine nützliche Weise gestalten wollen« (Protr. B 8).

Wir können also prinzipiell davon ausgehen, trotz der Schwierigkeiten in Bezug auf die Überlieferung des Protreptikos, dass Aristoteles einen breiteren Philosophie-Begriff gekannt hat, wie hier im Protreptikos in Bezug auf die „Staatsangelegenheiten“ und das „Privatleben“ (zugegeben rudimentär) angedeutet wird. Dieses Verständnis der Philosophie beschränkt sich nicht alleine auf die wissenschaftliche Tätigkeit. Dieser Begriff unterscheidet sich vielmehr von der theôria zum einen, jedoch ebenso von der Aufteilung der menschlichen Interessen zum anderen (Met. VI 1, 1025b25f; vgl. Kap. 1.2). Muße und Philosophie sind diesem Verständnis nach für eine sinnerfüllte und daher gelingende Lebensgestaltung erforderlich. Diese Interpretation legen ebenso andere Stellen im Protreptikos überaus nahe, wo die Bedeutung der Philosophie für das Leben des Menschen klar zum Ausdruck gebracht wird, wie auch der gegenseitige Bezug zwischen Theorie und Praxis. »Nachdenken und Erkennen sind für den Menschen an sich erstrebenswert, denn ohne beides kann man ein menschenwürdiges Leben nicht leben. Sie sind aber auch nützlich für das praktische Leben, denn nichts erscheint uns als gut, wenn es nicht mit Überlegung durch einsichtsvolle Tätigkeit zur Vollendung gebracht wird. Mag das glückliche Leben in Freude und Wohlbefinden bestehen oder im Besitz ethischer Trefflichkeit oder in Ausübung der Geisteskraft, in jedem dieser Fälle muss man philosophieren; denn zu einer klaren Ansicht über diese Dinge gelangen wir allein durch das Philosophieren« (Protr. B 41).

Mit dieser angesprochenen Verschränkung von Theorie und Praxis in Bezug auf das Leben des Menschen, geht nach den Fragmenten des Protreptikos auch die Glückseligkeit des Menschen einher, die unterschiedliche Aspekte umfasst. »Wir definieren Lebensglück entweder als Geisteskraft und eine Art von Weisheit oder als ethische Trefflichkeit oder als ein Höchstmaß an Freude oder alles dieses zusammen« (Protr. B 94).

Hier im Protreptikos sehen wir deutlich, dass Aristoteles die Glückseligkeit des Menschen nicht bloß in einer bestimmten Tätigkeit des Menschen auslotet, sondern sie entweder in der Weisheit, einer dianoetischen Tugend (EN VI 7), oder aber in ethischer Trefflichkeit, also in ethischen Tugenden, in einem Höchstmaß an Freude oder aber auch in allen diesen Dingen zusammen, kennt.

Über den historischen Kontext des scholê-Denkens | 157

Dennoch haben gerade die Texte der Nikomachischen Ethik dazu beigetragen, dass den dianoetischen Tugenden gegenüber den ethischen Tugenden der Vorzug eingeräumt wurde: »Denn es wäre seltsam, wenn jemand das politische Wissen (politikê) oder die Klugheit (phronêsis) für die beste Wissenschaft hielte, es sei denn, der Mensch wäre das beste Wesen im Universum« (EN VI 7, 1141a20).

Dennoch kennt Aristoteles, und das haben wir bereits in Politik VII und VIII gesehen (vgl. Kap. 1.5), nicht nur entweder Theorie oder Praxis, sondern auch Theorie und Praxis. Die Verbindung von Glückseligkeit und Philosophie ist es, die die Fragmente des Protreptikos auch für eine Auseinandersetzung mit Politik VII und VIII interessant machen. Das Philosophie-Konzept für den Bürger im Staat nach bestem Ermessen könnte demnach wie folgt ausgesehen haben: Zum einen hat Aristoteles die Philosophie für die Zeit der Muße des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen als wichtiges Instrument angesehen, um sich in dieser Zeit sinnvoll nach eigenem dafürhalten, aber nicht belang- und orientierungslos, beschäftigen zu können. Wichtig ist dafür allerdings bereits eine zuvor erfolgte gute Erziehung. Der Fokus scheint dabei ganz auf die Tugenden gerichtet zu sein, die nach aristotelischer Ansicht das Leben des Bürgers zur Glückseligkeit lenken. Zum anderen dient die Philosophie dabei als Korrektiv, zumal sie die Reflexion über das eigene Leben, den eigenen Lebensstil und über die Tugenden ermöglicht.

5.4 Über den historischen Kontext des scholê-Denkens Einleitend zu dieser Studie haben wir angeführt, dass die aristotelische politische Philosophie vor allem nach einer philosophischen Interpretation verlangt. Es ist jedoch ein Charakteristikum der Politik, dass sie nicht nur philosophische Zeugnisse der griechischen Antike, des damaligen politischen Denkens, wiedergibt und so in heutigen Debatten zum Weiterdenken anregt.13 Es handelt sich vor allem im Bereich der Politik ebenso um Abhandlungen, die einen hohen historischen Wert besitzen. Dass dies der Fall ist, lässt sich jedoch nicht nur im Hinblick auf die spezifischen Bestimmungen zur äußeren und

|| 13 Darin sieht Ackrill die unmittelbare Aktualität der aristotelischen Philosophie im Gesamten gegeben. Aristoteles ist heute als Ausgangspunkt zu begreifen, nicht als Antwort. Hinzu komme der offene Charakter vieler, wenn auch nicht aller seiner Argumente (vgl. Ackrill: 1995, 7ff; vgl. Kap. 1.1; 1.2).

158 | Die Gestaltung der Muße inneren Verfassung des Staats nach bestem Ermessen erkennen und auch nicht bloß aufgrund des von Aristoteles selbst angesprochenen Vergleichs mit den anderen Poleis, deren Geschichte, Sitten- und Politik-Verständnis. Vielmehr zeigt auch die scholê selbst politisch-historische Komponenten auf. Bürgin hat die These entwickelt, dass die klassische Polis durch ein Spannungsverhältnis geprägt war, das durch die „Einheit von Gemeinsamem und Individuellem“ entstand. Diese die klassische Polis charakterisierende Konstellation verhinderte seiner Ansicht nach eine „extreme Individualisierung“ und führte dennoch zugleich „zu einer reichen Entfaltung persönlicher Fähigkeiten, ermöglichte jene Mischung von Gemeinschaftlichem und Individuellem, was wir im eigentlichen Sinne Urbanität nennen“ (Bürgin: 1996, 107). Dieser allgemeine Polis-Befund von Bürgin, einer Mischung von Gemeinschaft und Individualität im damaligen antiken Leben des Bürgers innerhalb der griechischen Polis, von privat und öffentlich, lässt sich auch in Politik VII und VIII im Staat nach bestem Ermessen ausmachen. Um diesen Aspekt allerdings vor Augen führen zu können, ist der Miteinbezug der aristotelischen scholê in diese Überlegungen unverzichtbar, zumal sie für ein umfassendes Verständnis für die aristê politeia grundlegend ist. Dieses Mußehaben, das Aristoteles in Politik VII und VIII dem Bürger der aristê politeia zuerkennt und gewissermaßen auch für jenen einfordert, ist keine Erfindung oder neue politische Forderung der antiken politischen Philosophie. Vielmehr war die scholê, worauf Lauffer bereits hinweist, zur Zeit des Aristoteles bereits ein wiederum vergangenes politisches Ideal der Bürgerschaft, das in den meisten Poleis-Gesellschaften allerdings auch in Zukunft nur noch ein solches geblieben ist. Denn die Lebensvorstellung der Bürger über ein Leben ausschließlich in Muße und somit fernab von beruflichen Tätigkeiten im Sinne einer Erwerbsarbeit, konnte nach Lauffer bereits in der bürgerlichen attischen Demokratie des 5. Jahrhunderts keineswegs mehr verwirklicht werden. Die meisten Bürger Athens mussten ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit verdienen, um so ihren Lebensstandard halten und ihre Existenz langfristig sichern zu können. Sie waren Geschäftsleute, Handwerker, Bauern oder Seeleute und gingen durch diese Tätigkeiten dem Erwerb für ihre Existenz und für den Fortbestand des oikos nach. Die meisten Bürger „arbeiteten selbstständig mit eigener Hand“ (Lotze: 2010, 63). Rund 80 Prozent der Erwerbstätigkeit entfiel dabei noch in klassischer Zeit auf den Bereich der Landwirtschaft (vgl. Funke: 2006, 172). Diese historischen Befunde sprechen im Prinzip eine deutliche Sprache, die auch für die aristotelische Politik von Interesse ist und dabei ebenso für den Staat nach bestem Ermessen. Von einer Mußegesellschaft kann aus historischer Perspektive demnach in der klassischen Zeit keine Rede sein. Eine solche Interpretation geht an der historischen Auf-

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arbeitung vorbei und dabei im Grunde genommen auch an der aristotelischen politischen Philosophie aus Politik VII und VIII. Denn bereits Aristoteles war sich bewusst, dass der Bürger innerhalb der politischen Gemeinschaft der Polis nicht ausschließlich ein Leben in Muße, der ausschließlich an sich guten Tätigkeiten, führen kann, sondern auch um die Zeiten der Nichtmuße, den an sich notwendigen Tätigkeiten, annehmen muss. Selbst wenn sich Aristoteles für seinen Staat nach bestem Ermessen eine Bürgerschaft wünscht, die keiner klassischen Erwerbsarbeit nachzugehen hat.14 Spahn betrachtet die aristotelische Politik insgesamt aus einer nicht ausschließlich philosophischen Perspektive. Er ist der Ansicht, vor allem anhand der Bücher aus dem Mittelteil der Politik erkennen zu können, dass die aristotelische politische Theorie unter anderem eine spezifische Antwort auf die damalige Zeit der politischen und sozialen Krisen der unterschiedlichen Poleis enthält (vgl. Spahn: 1988, 434). Spahn spricht dabei vor allem über Krisen im 4. Jahrhundert v. Chr., also in jenem Jahrhundert, in dem Aristoteles gelebt hat, und dabei ebenso über die verschiedensten Reaktionen darauf im politischen Denken und in der politischen Praxis auf diese krisenhaften Zustände, wie z.B. die Entwicklung des Idealstaatsdenkens in Verbindung mit dem Blick auf eine mögliche, bessere Zukunft des politischen Gemeinwesens.15

|| 14 „Die frühere verbreitete Ansicht, der Freie habe hauptsächlich der Muße, der körperlichen und geistigen Ausbildung, der Politik gelebt, während der Sklave die produktive Arbeit für seinen Herren und für die Gesellschaft leistete, war eine unzutreffende Verallgemeinerung besonderer Verhältnisse. Die aristokratische Oberschicht der attischen Grundbesitzer des 7. Jahrhunderts ließ Halbfreie und Unfreie für sich arbeiten, wie Sparta die Heloten, doch schon die bürgerliche attische Demokratie des 5. Jahrhunderts konnte das Lebensideal der Muße und des Rentnertums nicht mehr aufrechterhalten; die meisten Freien arbeiteten und verdienten sich ihren Lebensunterhalt als Handwerker und Geschäftsleute, Bauern und Seeleute, [...]. Auch im hellenistischen Bürgertum vermochte nur eine kleine Schicht von Grundrente oder Sklavenrente zu leben; [...]“ (Lauffer: 1961, 381). Diese Ansicht ist konträr zu Gronemeyer, der bereits zuvor zitiert wurde: „Der steuerpflichtige attische Vollbürger des 4. Jahrhunderts ging, im Großen und Ganzen, keiner Arbeit im heutigen Sinne nach, zumindest keiner produktiven – sein Bestreben war immer, vom Kapitalzins leben zu können. Nahezu die gesamte produktive Wirtschaftsleistung wurde von Sklaven und Metöken (Ausländern mit Bleiberecht) erbracht, die zu dieser Zeit sicherlich über die Hälfte der Bevölkerung stellten“ (Gronemeyer: 2007, 63; vgl. Kap. 3.2). Im Sinne von Lauffer, Lotze und Funke ist Gronemeyer hier zu korrigieren. 15 „Im politischen Denken des 4. Jahrhunderts lassen sich verschiedene Reaktionen auf diese politische und soziale Krise beobachten: die Glorifizierung der Vergangenheit, nämlich der Zeiten von Solon und Kleisthenes, und das Schlagwort der ,väterlichen Verfassung‘ (patrios politeia); Idealstaatsentwürfe, die teils der Vergangenheit, teils in einer imaginären Zukunft angesiedelt waren; monarchische Tendenzen, die sich partiell mit dem Idealstaatsdenken verbanden; [...]“ (Spahn: 1988, 434).

160 | Die Gestaltung der Muße Politik VII und VIII stellt einen philosophischen Entwurf dar, der sich in die von Spahn angesprochene Kategorie des politischen Denkens der damaligen Zeit einreihen lässt, wenn auch mit den wichtigen und notwendigen Einschränkungen zum Thema „Idealstaat“ bzw. „Utopie“, welche wir im Rahmen dieser Studie bereits an anderer Stelle vorgenommen haben (vgl. Kap. 2.1). Aristoteles hat damalige reale politische Zustände aufgegriffen, in sein Denken integriert und auf deren Basis seinen Staat nach bestem Ermessen, seine Überlegungen zum erstrebenswertesten Leben philosophisch weiterentwickelt, mit dem Fokus auf die bürgerliche scholê. Vielleicht auch in der Tat mit dem Ziel vor Augen, die Polis in ihrer äußeren und inneren Struktur als Lebensraum des Menschen in der Gegenwart politisch zu rechtfertigen – zumal auch seine Zeit von politischen Problemen in den Poleis gezeichnet war (vgl. Leidhold: 2005, 20) – und auch für die Zukunft, für die nachfolgenden Generationen, als wichtigste Lebensform des Menschen oberhalb des oikos zu empfehlen.16 Thesen über die aristotelische Politik in Bezug auf die althistorische Forschung anzustellen, erscheint jedoch vor allem mit dem Fokus speziell auf das 4. Jahrhundert v. Chr. als ein überaus schwieriges Unternehmen. Denn, so Schuller, während „das fünfte Jahrhundert auch insofern zu Recht klassisch heißt, als die politische Entwicklung wirkungsmächtig und in klaren Formen verlaufen ist, fehlen der Folgezeit diese Charakteristika“ (Schuller: 2008, 45). Die Zeit, in der Aristoteles gelebt hat, gilt in der althistorischen Forschung als politisch unruhige, teilweise auch undurchsichtige Epoche, was diverse Kategorisierungen problematisch machen. Das betrifft auch die gerne so bezeichnete „Krise der Polis“. In der neueren Forschung wird die These des 4. Jahrhunderts als Zeit der Polis-Krise stark angezweifelt (vgl. Schuller: 2008, 144).17 Auch wenn nicht mehr pauschal von der Polis-Krise zur Zeit des Aristoteles gesprochen werden kann, so scheint das Wort der Krise selbst jedoch dennoch nicht ganz unangebracht zu sein. Denn innerhalb vieler Poleis der damaligen Zeit lassen sich in den politischen und sozialen Verhältnissen diverse Spannungen ausfindig machen, die das damalige Leben freilich beeinflusst haben. So kam es zu Verfassungs- und politischen Interessenskämpfen, zu sozialen Konflikten, die teilweise aus einer Überbevölkerung resultierten. Teile Griechen|| 16 Ob es sich nun in der Tat bei Pol. VII 1-12 um eine Sendschrift an Alexander den Großen gehandelt hat oder nicht, haben wir bereits an anderer Stelle diskutiert: diese These lässt sich weder eindeutig belegen noch widerlegen (vgl. Kap. 2.2). 17 „Die oft angenommene Krise der griechischen Polis im 4. Jahrhundert hat es also weder in einem unmittelbaren, etwa ökonomischen, noch im politischen Sinn gegeben; schließlich ist die Polisstruktur für die gesamte antike Folgezeit die maßgebende geblieben“ (Schuller: 2008, 56).

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lands wurden von plündernden Räuberbanden durchzogen, was wiederum für politische Konflikte und für sozialen Zündstoff sorgte (vgl. Schuller: 2008, 54). So kann im 4. Jahrhundert v. Chr. von einer prinzipiellen „Instabilität der inneren politischen und sozialen Verhältnissen in den Poleis“ gesprochen werden (Schuller: 2008, 149), und auch von einer großteils zerstrittenen und verfeindeten griechischen Staatenwelt, wie es der zweite Attische Seebund oder der Bundesgenossenkrieg deutlich machen (vgl. Funke: 2006, 162ff). Auch wenn der Begriff der Polis-Krise vermehrt Ablehnung findet, so unterlag das politische Gemeinwesen dennoch einer Zeit der „Wandlung“, eine Charakterisierung, die heute in der Forschung vermehrt anstelle der „Polis-Krise“ Anwendung findet (vgl. Schuller: 2008, 144), und auch für die Zeit des Aristoteles treffend erscheint. Die These, dass Aristoteles mit Politik VII und VIII vielleicht auch auf die angesprochenen politischen und sozialen Wandlungen innerhalb des antiken politischen Lebens seiner Zeit Antwort geben wollte, erscheint mit Blick auf die neuere althistorische Forschung vertretbar zu sein. Worin konkret die spezifischen philosophischen Weiterentwicklungen in Politik VII und VIII im Vergleich zur damaligen Realität des Polis-Lebens liegen, ist jedoch heute im Detail nicht mehr ausfindig zu machen. Aufgrund der vermehrten Thematisierung und der Überlegungen zur scholê in Politik VII und VIII, liegt es allerdings nahe, dass es vor allem dieser angesprochene Bereich des bürgerlichen Lebens innerhalb des politischen Rahmens der Polis ist, welchen Bürgin in dem Verhältnis zwischen dem Gemeinschaftlichen und dem Individuellen skizziert, dem Aristoteles in seinem Denken über den Staat nach bestem Ermessen eine zentrale Rolle zugesprochen hat. Die Forderung nach der scholê für den Bürger scheint dabei mehr als eine bloße Empfehlung oder ein frommer Wunsch des Aristoteles zu sein.

5.5 Die Erziehung zum (politisch) gebildeten Bürger Aufgrund der philosophischen Dichte erscheint es schwierig, eine Kernbotschaft in Politik VII und VIII ausfindig zu machen. Dennoch lässt sich gelegentlich erkennen, worauf der Hauptfokus zu liegen scheint. Aristoteles sieht es als erforderlich an, dass der Bürger im Staat nach bestem Ermessen dazu in der Lage ist, sich nicht nur den notwendigen, sondern auch den an sich guten Tätigkeiten im Leben zuwenden zu können. Deshalb möchte er mit der Forderung der scholê für den Bürger einen dafür notwendigen Rahmen entwickeln, damit sich dieser mit der Philosophie im breiteren Sinne und dabei auch mit den unumgänglichen Fragen nach dem eu zên auseinandersetzen kann. Um jedoch überhaupt in diesem Sinne philosophieren zu können, ist der einzelne Bürger

162 | Die Gestaltung der Muße auf andere angewiesen. Somit ist die scholê im aristotelischen Denken eng an die (intakte) politische Gemeinschaft gebunden, weshalb es naheliegt, von einer politischen Philosophie der Muße zu sprechen. Ohne die anderen Menschen innerhalb der Polis, also auch ohne die Nichtbürger, ist es dem einzelnen Bürger nicht möglich, Muße zu haben. Das, was Aristoteles in Politik VII und VIII bei der Entwicklung der aristê politeia scholê nennt, ist ohne die gesamte politikê koinônia nicht zu verwirklichen. In der Zeit der Muße soll dem Bürger der notwendige Raum gegeben werden, sich insbesondere mit der Philosophie im breiteren Sinne zu beschäftigen. Diese Zeit ist jedoch nichts, was dem Bürger aufgrund seines Bürgerseins zusteht oder sich im Laufe der Zeit von sich aus selbst entwickelt, sondern etwas, dass sich aufgrund der zuvor geleisteten politischen Arbeit einstellt, anschließend an die permanente Fürsorge und auch die Vorsorge für die Verwirklichung und den Erhalt der politischen Autarkie der Gemeinschaft. Denn die Erziehung und auch das Bewusstsein über die politischen Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft sind jene Bereiche, denen sich jeder Bürger im Laufe seines Lebens zuzuwenden hat. Denken wir dabei an die bürgerlichen Pflichten und Aufgaben, die Aristoteles in Politik VII und VIII selbst anspricht, nämlich die Bereiche von Militär, Politik und Religion bzw. Kult in Politik VII 9 (vgl. Kap. 4.2). Doch das ist nur die eine Seite des bürgerlichen Lebens. Die andere Seite ist fernab dieser politischen und gesellschaftlichen Verpflichtung des Einzelnen und lässt sich als ein individueller, freier Raum der menschlichen Selbstverantwortung verstehen. Diese beiden Bereiche zusammen betrachtet machen eine Interpretation von Politik VII und VIII als paternalistisch oder gar als totalitär unmöglich (vgl. Kap. 7.2). Denn die „Bevormundung“ der jüngeren, angehenden oder heranwachsenden Bürger durch die Gesetze und Vorschriften der älteren Bürger erfolgt nach Aristoteles erstens im Sinne der ganzen Gemeinschaft sowie der Verfassung des Staates und ist zweitens auch auf das Wohl des einzelnen Kindes oder Jugendlichen selbst hin angelegt, da diese für die Aufgaben, die ein Gesetzgeber später zu übernehmen und auch zu wahren hat, vorab erzogen und vorbereitet werden müssen. Das impliziert die Erziehung des angehenden Bürgers hin zum richtigen, d.h. hier bei Aristoteles in erster Linie im breiteren Sinne philosophischen Gebrauch der scholê. Es ist seiner Ansicht nach wichtig, so ausführlich über die paideia zu sprechen, weil er der Meinung ist, dass viele Polis-Gemeinschaften deshalb zu Grunde gehen oder zu Grunde gegangen sind, weil sie es nicht verstanden haben, in Frieden und in den Zeiten der Muße (sinnvoll) und an ihrem eigenen Glück und an ihrer Glückseligkeit orientiert zu leben.

Die Erziehung zum (politisch) gebildeten Bürger | 163

Dies alles sind Gründe, die dafür sprechen, die umstrittene Abhandlung über die umfassende paideia nicht ausschließlich im Hinblick auf den „Regelund Verbotskatalog“ zu interpretieren, sondern umfassender, wie es auch unter anderem Schütrumpf nahegelegt hat und so die hier zuvor vorgelegte Interpretation des Bürgerseins bei Aristoteles in Politik VII und VIII unterstreicht. Bei Aristoteles erfolge demnach eine Erziehung „zum selbstverantwortlichen, zum mündigen Bürger“ (Schütrumpf: 2006, 248). Denn nach der Lebensphase, die so gut wie ausschließlich durch die Erziehung geprägt ist, beginnt der Bürger politische Verantwortung zu übernehmen und ist ab diesem Zeitpunkt auf sich selbst und seine eigene (politische) Entschlusskraft und sein Wissen in diesen Dingen angewiesen. So soll dieser politische Entscheidungen zum einen im Sinne der Polis-Gemeinschaft vorbereiten und letztendlich zum anderen auch später einmal Entscheidungen für die bzw. im Sinne der Gemeinschaft treffen. Demnach ist der Staat nach bestem Ermessen keineswegs ein in allen Bereichen geregelter Staat ohne Freiheiten. Denn werden alle Thesen aus Politik VII und VIII in die Betrachtung miteinbezogen, unter besonderer Berücksichtigung der scholê, so wird ein anderer Eindruck vermittelt, der jedoch nur aus einer Gesamtperspektive deutlich sichtbar wird. Dies scheint aber in der Forschung noch nicht in vollem Umfang erkannt worden zu sein, worauf abermals Schütrumpf hinweist: „Ich sehe in Aristotelesʼ bestem Staat durchaus die Etablierung von Freiräumen, die der Uniformität staatlich kontrollierten Lebens eine Grenze setzen. Pauschale, plakative Charakterisierungen des besten Staates im Sinne von totalitär oder „moderate individualism“ werden der Komplexität der aristotelischen Vorstellungen nicht gerecht. Es gibt beides, Beschränkung und Befreiung der Individualität, wobei die Befreiung der Individualität in dem Ideal der Muße Privates sichert“ (Schütrumpf: 2006, 251). Die Komplexität dieses Staatsentwurfs, die auch Schütrumpf hier anspricht, liegt in der Verbindung der Suche nach dem erstrebenswertesten Leben mit der Frage nach der besten äußeren und inneren Verfassung der Polis sowie insbesondere in der Bedeutung, die Aristoteles der scholê für den einzelnen Bürger zuspricht und die daran unmittelbar anknüpfende Bedeutung für die eudaimonia. Anhand dieser hier getroffenen Bestimmungen, die die Erziehung des Einzelnen hin zum verantwortungsbewussten Bürger zum Ziel haben, lässt sich auch der hairetôtatos bios besser ausloten. Es ist dies ein Leben zwischen politischer Verantwortung auf der einen Seite (ascholia) und der selbstbestimmten Freiheit auf der anderen Seite (scholê). Innerhalb der scholê ist der Mensch temporär autark und in diesem Falle, anders als in Bezug auf die politische Autarkie im Gesamten, die eng an die Gemeinschaft des Einzelnen mit anderen Menschen gebunden ist, sich selbst genug. In dieser Zeit soll dieser, so die Empfehlung, sich mit der Philosophie und seinem Leben auseinandersetzen.

164 | Die Gestaltung der Muße Die Zeit der scholê erscheint daher als äußerer Rahmen der diagôgê, der sinnerfüllten Lebensgestaltung, die einen „gebildeten Lebensgenuss“ möglich macht (Kampert: 2003, 111). Dies ist aus aristotelischer Perspektive ohne eine darauf hinführende Erziehung mit dem Ziel des verantwortungsbewussten Bürgers in Bezug auf die politische Gemeinschaft, aber auch in Bezug auf den Bürger selbst, nicht verwirklichbar. Dadurch, dass der Bürger in der aristê politeia selbst bestimmt, wie und womit er die Zeit der scholê gestalten möchte, und dadurch, dass Aristoteles diese Entscheidung dem Bürger aufgrund der zuvor erfolgten umfassenden paideia auch zutraut, wird die Muße in der Tat zu einer „privacy of life“ (Solmsen: 1964, 219). Scholê ist demnach die freie Zeit des Bürgers nach der Deckung des Bedarfs der Lebensnotwendigkeiten und nach der Erfüllung der politischen Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft, zur freien und selbstbestimmten Sinnerfüllung des Lebens. Hilfestellung dazu bietet die Philosophie.18

|| 18 „Wenn Aristoteles auf die höchste Lebensform eingeht, dann benutzt er den Ausdruck ,sinnerfüllter Lebensstil von Freien‘ (δίαγωγή), der vielfältige Möglichkeiten künstlerischer und geistiger Tätigkeiten abdeckt und auch das theoretische Leben einschließen kann, aber gerade nicht darauf eingeengt ist“ (Schütrumpf: 2005, 134).

6 Dimensionen der Muße Gegen Ende dieser Studie soll nun an dieser Stelle nach einer ausschließlichen Auslegung der scholê im Kontext zur politischen Philosophie aus Politik VII und VIII, losgelöst von dem spezifischen Thema der Bürgerschaft (vgl. Kap. 2.3; 4.2) innerhalb der aristê politeia und abseits anderer, weiterer problematischer inhaltlicher Verflechtungen dieser beiden Bücher der Politik gefragt werden. Dazu biete ich in diesem Kapitel fünf Ansätze, die sich alle am aristotelischen scholêVerständnis aus Politik VII und VIII orientieren, an: Erstens möchte ich zeigen, dass die Muße bzw. die Zeit des Mußehabens als das (komplexe) Ergebnis einer politischen Leistung der Gemeinschaft zu verstehen ist, das ohne der Funktionstüchtigkeit der politikê koinonia unmöglich wäre. Zweitens bin ich der Auffassung, dass die scholê als eine tugendhafte Haltung des einzelnen Menschen interpretiert werden kann, wenn auch mit deutlichen Abstrichen gegenüber der klassischen aristotelischen Tugendlehre z.B. aus der Nikomachischen Ethik. Drittens, so meine ich, lässt sich aus der ascholia und der scholê sowie den daran anknüpfenden Bestimmungen über Krieg und Frieden, den notwendigen und den an sich guten Tätigkeiten, eine „verantwortete Freiheit“ des Bürgers, zum einen gegenüber sich selbst und zum anderen gegenüber der politischen Gemeinschaft, ableiten. Viertens bin ich der Überzeugung, dass der Zugang zur scholê als ein klares Bekenntnis zur Philosophie im umfassenderen Sinne zu verstehen ist, wiewohl eine dementsprechende deutliche Aussage von Aristoteles in Politik VII und VIII nicht vorhanden ist. Fünftens und abschließend soll gezeigt werden, dass die Muße als die Zeit einer individuellen Sinnerfüllung des Lebens im Verständnis der diagôgê charakterisiert werden kann, die letztendlich für die eudaimonia des Menschen unabdingbar ist. Diese fünf Ansätze sollen in den folgenden fünf Kapiteln kompakt vorgestellt werden.

6.1 Muße als politische Leistung der Gemeinschaft Das, was wir in den letzten Untersuchungen dieser Studie als Muße und als Zeit des Mußehabens des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen aus Politik VII und VIII bei Aristoteles kennengelernt haben, ist ohne eine funktionierende, d.h. in sich geordnete und untereinander abgestimmte politische Gemeinschaft nicht zu verwirklichen. Dieser Ansatz wurde meiner Ansicht nach bereits im Rahmen der Untersuchungen des politisch besetzten Autarkie-Begriffs im dritten Abschnitt dieser Studie grundgelegt. Die Bereiche des hairetôtatos bios, der aristê

166 | Dimensionen der Muße politeia und jener der scholê sind daher im Grunde genommen unauflöslich mit dem verbunden, was Aristoteles die politische Gemeinschaft nennt. Ohne die Einbindung des Einzelnen in eine politische Gemeinschaft ist es diesem unmöglich, Muße zu haben und sich den an sich guten Tätigkeiten zuzuwenden. Dabei kann an dieser Stelle erneut auf Aristoteles verwiesen werden, der in Politik I 2 in der Grundlegung seiner politischen Anthropologie anführt, dass derjenige, der nicht der Gemeinschaft bedarf, entweder ein wildes Tier oder aber ein Gott sein muss (Pol. I 2, 1253a28; vgl. Kap. 3.1). Alleine und auf sich gestellt wäre der Mensch ausschließlich dazu in der Lage, sich um die notwendigen Tätigkeiten des Lebens zu kümmern, also unter Umständen um die Bereiche des physischen Überlebens, um die Ernährung, etc., aber er könnte sich aufgrund seiner permanenten, nach außen gerichteten Tätigkeiten, die er um seiner Existenz willen verfolgt, nicht jenen Dingen zuwenden, die Aristoteles an sich gut nennt. Dafür bedarf er der politischen Gemeinschaft, die es dem einzelnen Menschen durch ihr Zusammenwirken abnimmt, sich um einige der Lebensnotwendigkeiten kümmern zu müssen, die für das bloße Leben unverzichtbar sind. Dadurch schafft die Gemeinschaft Freiräume für das an sich gute Leben, wie sie für die Zeit der Muße unerlässlich sind. Diesen Ansatz hat Aristoteles selbst deutlich gemacht „[...], denn es muss viel Notwendiges schon vorhanden sein, damit man sich der Muße hingeben könne“ (Pol. VII 15, 1334a18ff). So verwunderlich es also vielleicht auf einen ersten Blick wirken mag, die Muße des Einzelnen ist in der Grundlegung eng an die politische Gemeinschaft gebunden. Nur die Intaktheit des politischen Gemeinwesens und ihre permanente, gemeinsame Fürsorge für die notwendige äußere als auch innere Verfassung des Polis-Lebens im Gesamten (sowie in vielen – aus heutiger Perspektive würden manche auch vielleicht zu Recht sagen in zu vielen – Bereichen des Lebens), mit dem Fokus auf den Aspekten der politischen Autarkie, kann dem Einzelnen das zeitweilige Mußehaben für sich innerhalb der Gemeinschaft möglich gemacht werden.

6.2 Muße als tugendhafte Haltung des Einzelnen Der Bürger verfügt nach Aristoteles im Staat nach bestem Ermessen über die grundlegenden bzw. notwendigen Voraussetzungen und Fähigkeiten, sich in den ethischen als auch in den dianoetischen Tugenden zu üben und sich umfassend mit der Tugendhaftigkeit auseinanderzusetzen, sie in seinem Leben auch anzuwenden und sich an ihnen zu orientieren. Dazu bedarf es jedoch, wie Aristoteles ausgeführt hat, „voller Muße“ zur Ausbildung dieser Tugenden (Pol.

Muße als tugendhafte Haltung des Einzelnen | 167

VII 9, 1329a1). Nicht nur hat diese Feststellung Aristoteles wahrscheinlich dazu veranlasst, seine Differenzierung der Polis-Gemeinschaft in Bürger und Nichtbürger vorzunehmen, sondern er formuliert meiner Ansicht nach hier die Muße selbst als eine Art der tugendhaften Haltung des Bürgers, wenn auch nicht, wie schon einleitend zu diesem Abschnitt angesprochen, im Stile der großen Tugendabhandlungen aus der Nikomachischen Ethik, z.B. zur Tapferkeit oder zu dem großen Thema der Gerechtigkeit (EN III 9-12; V insbesondere 1-10). Dennoch lässt sich diese These, dass die scholê aus Politik VII und VIII als eine Art von tugendhafter Haltung des Einzelnen ausgelegt werden kann, meiner Ansicht nach auf mindestens zweifache Art und Weise belegen. Erstens ist Aristoteles der Meinung, dass der (spätere) Bürger zum richtigen Gebrauch der Muße und zur sinnvollen Gestaltung der Zeit in der Muße vorab erzogen werden muss (Pol. VII 14, 1333a10ff; 43ff; 1334a10). Auch hier sehen wir also wiederum einen Aspekt der politischen Gemeinschaft in Bezug auf die scholê, wie schon im vorherigen Kapitel angesprochen (vgl. Kap. 6.1). Ähnlich wie bei den anderen aristotelischen Tugenden bedarf also vor allem der heranwachsende, zukünftige Bürger der Polis im Rahmen seiner umfassenden paideia einer Hinführung zu dem richtigen Gebrauch der Zeit in der Muße, ähnlich wie in Bezug auf die Erziehung hin zu anderen Tugenden, seien sie ethisch oder aber auch dianoetisch. Diese Erziehung hin zum richtigen Gebrauch der Muße ist der aristotelischen Argumentation folgend vor allem in den Zeiten des Friedens überaus wichtig, da es eines tugendhaften Lebens aus beiderlei Perspektive und eines sinnvollen Umgangs mit der Zeit der Muße insbesondere in Zeiten des Wohlstandes und des Friedens bedarf, wie Aristoteles zu wissen meint (Pol. VII 15, 1334a20ff; vgl. Kap. 4.3). Zweitens kennt Aristoteles, wie bei einigen anderen seiner Tugenden auch, zwei Extreme, einen Mangel an Muße auf der einen Seite und ein Übermaß an Muße auf der anderen Seite. Zum einen ist dies die permanente Beschäftigung, letztendlich bis hin zu kriegerischen Konflikten, Ablenkungen und der Unruhe, die ascholia, zum anderen das Übermaß des Müßiggangs, der Langeweile und des Nichts-mit-sich-anzufangen-Wissens, das sich bis hin zu einer übermäßigen und ausschließlich am Genussleben orientierten Existenz steigern kann, wie gesagt vor allem in Zeiten des Friedens und in den Zeiten des Wohlstandes. In der Mitte, so könnte in Bezug auf die Muße als tugendhafte Haltung gesagt werden, auch wenn dies Aristoteles nicht in dieser Form explizit ausspricht, steht nun die scholê, die zwar diese beiden zuvor genannten Extreme nicht ausschließt, vor allem, wie wir gesehen haben, die ascholia nicht, aber dennoch den Zeiten der scholê einen erstrebenswerten Primat im Leben einräumt bzw. zuspricht.

168 | Dimensionen der Muße Die Muße im aristotelischen Verständnis aus Politik VII und VIII verlangt demnach vom Bürger eine tugendhafte Grundhaltung, die sich an der Tapferkeit und der Ausdauer, an der Mäßigkeit und an der Gerechtigkeit orientiert und sich dabei der Philosophie im breiteren Sinne zuwendet (Pol. VII 15, 1334a23ff).

6.3 Muße als verantwortete Freiheit des Bürgers Die umfassende Erziehung, die paideia, ist eines der zentralen Elemente in Politik VII und VIII. Diese zum Teil durchaus strengen und vielleicht im Vergleich zu so manch anderen Inhalten von Aristotelesʼ politischer Philosophie fast schon peniblen Ausführungen zur Erziehung peilen meiner Ansicht nach vor allem zwei Ziele an. Zum einen sollen sie vor Augen führen, dass der Bürger für das politische Gemeinwesen Verantwortung zu übernehmen hat. Da der zu erziehende und angehende Bürger über kurz oder lang den Staat nach bestem Ermessen selbst mitleiten sowie politische Entscheidungen für die ganze Polis-Gemeinschaft treffen wird, denn so sieht es das Konzept der Herrschaft in der aristê politeia vor, ist es unumgänglich, diesen Bürger im Rahmen der Erziehung auf seine spätere politische Verantwortung hin vorzubereiten. Zum anderen soll die umfassende paideia dazu anleiten, dass der Einzelne sich in der Zeit der scholê, die außerhalb dieser zuvor genannten politischen Verantwortung liegt, zurechtfindet und etwas mit sich anzufangen weiß. Noch bevor sich der Bürger in dieser Staatskonzeption dieser individuellen Zeit der Muße jedoch zuwenden kann, hat er vorab auch Gemeinschaftsdienst zu leisten, wie wir anhand mehrerer Stellen in dieser Untersuchung festgestellt haben, z.B. im Rahmen militärischer, politischer oder kulturell-religiöser Tätigkeiten (Pol. VII 9, 1329a1ff). Zum Leben des Bürgers gehört also auch das Erfüllen politischer, d.h. hier vor allem gemeinschaftlicher Aufgaben und Pflichten, die nicht ausschließlich das eigene (private) Leben, sondern die politische Gemeinschaft im Ganzen und ihre Zukunft aus politischer Perspektive betreffen. Von dieser Verantwortung ist der Bürger an keiner Stelle in Politik VII und VIII ausgenommen, im Gegenteil. Dieses Prinzip der politischen Verantwortung des Bürgers gegenüber der politischen Gemeinschaft ist für den ganzen Staat nach bestem Ermessen konstitutiv. Doch das ist nur ein Aspekt des Lebens des Bürgers im Staat nach bestem Ermessen. Aristoteles kennt nicht nur diese verantwortete Seite des Bürgers gegenüber dem Gemeinwesen, wie sich bereits in der fundamentalen Differenzierung von ascholia und scholê selbst erkennen lässt. In der Zeit der Muße hingegen ist der Mensch trotz seiner permanenten zôon politikon-Anthropologie

Muße und Philosophie | 169

auch sich selbst Gegenstand und kann die Inhalte seiner Beschäftigung in dieser Zeit selbst wählen, mit Hilfe des erlernten und angeeigneten Grundwissens, das ihm durch die vorab erfolgte Erziehung vermittelt wurde und ihn in die Grundprinzipien sowie vielleicht auch in die Grundthemen der Philosophie im breiteren Sinne eingeführt hat, mit dem Fokus auf der Selbstverantwortlichkeit für ein gutes und gelingendes Leben, das eu zên. Diese Form einer verantworteten Freiheit, die die politische Verantwortung und die Pflichten des Bürgers gegenüber der ganzen Polis-Gemeinschaft auf der einen Seite und die Freiheiten des Bürgers in der Zeit der scholê auf der anderen Seite umfasst, führt meiner Ansicht nach deutlich vor Augen, dass es im Staat nach bestem Ermessen nicht Freiheit oder Gemeinschaft, sondern Freiheit und Gemeinschaft heißen kann. Der Bereich der Verantwortung ist dabei aus zweifacher Perspektive heraus zu begreifen: erstens ist es die Verantwortung des Bürgers gegenüber der Gemeinschaft in Bezug auf ihre Intaktheit und ihren eventuellen Wohlstand, zweitens die Verantwortung gegenüber sich selbst, in Bezug auf das eu zên und die eigene eudaimonia.

6.4 Muße und Philosophie Für Aristoteles ist klar, dass die Zeit der Muße vor allem jene Zeit sein sollte, zumindest im Staat nach bestem Ermessen, in der sich der Mensch der Philosophie im breiteren Sinne zuwendet bzw. widmet (Pol. VII 15, 1334a23). Wie bereits in den vorgehenden Untersuchungen dieser Studie dargelegt (vgl. Kap. 5.3), ist anzunehmen, aber nicht gesichert nachzuweisen, dass Aristoteles hier vor allem an einen umfassenden Philosophie-Begriff gedacht hat und nicht ausschließlich an einen spezifisch wissenschaftlich orientierten Begriff wie an jenen der theôria, wie wir ihn aus anderen Textstellen, beispielsweise aus der Nikomachischen Ethik oder aus der Metaphysik, kennen. Vielleicht geben ja, wie zuvor gezeigt, vor allem die Passagen aus dem Protreptikos eine Andeutung dahingehend, wie ein solcher eher weiter gefasster Philosophie-Begriff bei Aristoteles ausgesehen haben könnte, auch wenn es sich bei dem Protreptikos um eine andere Literaturgattung handelt als bei den Pragmatien wie der Politik oder der Nikomachischen Ethik. Die Zeit der Muße ist demnach eine Zeit, in der sich der Mensch mit den ethischen, aber auch den dianoetischen Tugenden in philosophischer Art und Weise auseinandersetzen, sie einüben, reflektieren und sie praktizieren kann und das nach Aristoteles vor allem soll, insbesondere im Hinblick auf ein sinnerfülltes Leben, das zu einem guten Leben führen soll. Darin liegt seiner Ansicht nach das Hauptmotiv für eine Verwirklichung der eudaimonia, der umfassenden Glückseligkeit des Menschen.

170 | Dimensionen der Muße Diese Auseinandersetzung kann auch dazu dienen, das eigene Leben zu hinterfragen, zu gegebener Zeit vielleicht auch neu auszurichten und an den eigenen, in den Zeiten der Muße getroffenen Entscheidungen zu orientieren. Dies ist demnach aber eben nur dann möglich, wenn der Mensch in einem zumindest temporär gesicherten Umfeld leben und sich darin abgesichert bewegen kann, also vorübergehend politisch autark ist. Denn dadurch erst ist es ihm möglich, den in sich gerichteten Tätigkeiten, dem an sich Guten nachzugehen. Darin scheint Aristoteles das eu zên des Menschen, zumindest in Politik VII und VIII, im Staat nach bestem Ermessen zu sehen, das letztendlich zur eudaimonia, zur umfassenden Glückseligkeit durch das eu zên führen kann. Hierbei handelt es sich meiner Ansicht nach um das gesuchte erstrebenswerteste Leben aus Politik VII 1, dem hairetôtatos bios, den Aristoteles gleich zu Beginn in Politik VII als eines seiner beiden Leitziele der Untersuchung, neben der aristê politeia, formuliert hat, wobei die scholê dabei einen unverzichtbaren Bestandteil dieses Lebens bildet und den Dreh- und Angelpunkt der aristotelischen Argumentation darstellt, wie wir im Verlaufe dieser Studie immer wieder gesehen haben.

6.5 Muße und Sinnerfüllung Die Zeit des Mußehabens und der Philosophie ist jedoch kein garantiertes Erfolgsrezept zur Erlangung der Glückseligkeit. Denn diese ortet Aristoteles im Grunde genommen vielmehr in der Verwirklichung einer zuvor in der Zeit der Muße entworfenen und durch die Philosophie bestimmten sinnerfüllten Lebensgestaltung, der diagôgê. Diese Bestimmung steht dem einzelnen Bürger letztendlich frei. Sie erfolgt nicht durch die politische Gemeinschaft, sondern allein durch den Einzelnen und dessen Interessen, solange sich diese nicht störend auf das politische Gesamtgefüge auswirken. Auch deshalb ist für Aristoteles die Erziehung ein so immens wichtiges Thema. Denn durch die Erziehung sieht er die unmittelbare Möglichkeit gegeben, den Heranwachsenden Orientierung zu geben und ihnen ethisch wie auch dianoetisch das notwendige Rüstzeug zu vermitteln, um später selbst Entscheidungen in Bezug auf die individuelle sinnerfüllte Lebensgestaltung treffen zu können. Dies ist nicht ausschließlich im Interesse des Einzelnen, sondern ebenso im Interesse der gesamten Gemeinschaft. Denn auch dieser kommen die ethischen und dianoetischen Kompetenzen des Einzelnen zugute, da der Einzelne, zumindest im Staat nach bestem Ermessen, aktiv an der Politik der Polis teilnimmt und so zur Gestaltung des Gemeinwesens beiträgt. Dieser Punkt geht aus Politik VII und VIII deutlich hervor.

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Es zeigt sich hier bei Aristoteles, dass die Gemeinschaft für den einzelnen Menschen überaus wichtig und im Grunde genommen unverzichtbar ist. Dennoch hat die Aufgabe, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, jeder Einzelne selbst zu bewältigen, und die Gemeinschaft kann sie ihm nicht abnehmen. Die politische Tätigkeit, auch im Sinne der Autarkie, ist vorab eine notwendige und gehört deshalb in die Zeit der ascholia. Erst in einem zweiten Schritt verfolgt der Einzelne die individuelle Sinnerfüllung. Auch hier trifft also eine bereits zuvor getroffene Bestimmung zu. Ohne das funktionierende Gemeinwesen ist eine sinnerfüllte Lebensgestaltung des Einzelnen nicht zu verwirklichen (vgl. Kap. 6.1). Dass Aristoteles diesen Bereich des Privaten nicht allgemein weiter bestimmen und ausformulieren kann und somit auch nicht den Bereich der Philosophie im breiteren Sinne detailliert auszulegen vermag, liegt auf der Hand. Hierzu können wir von Aristoteles in Politik VII und VIII in der Tat keine weiterführenden Ausführungen erwarten.

7 Schlussbetrachtungen 7.1 Eine kritische Würdigung von Politik VII und VIII Unbestritten ist, dass nicht jede Bestimmung, die Aristoteles in Politik VII und VIII trifft, aus heutiger (politischer) Perspektive uneingeschränkte Zustimmung finden kann, was allerdings auch nicht sonderlich überrascht, zumal es im politischen Denken – insbesondere in der Neuzeit sowie in der Gegenwart – viele Veränderungen und Entwicklungen im politischen Verständnis von politischer Gemeinschaft gegeben hat. Selbst die scholê, ihre Voraussetzungen und letztendlich auch ihre Konsequenzen für den ganzen Staatsentwurf erscheinen bei einer näheren Betrachtung unter Miteinbezug des gesamten thematischen Umfelds und der systematischen Verflechtungen mit anderen Bereichen, als keineswegs unproblematisch. Auf die wichtigsten Kritikpunkte soll hier näher eingegangen werden, selbst wenn sich einige dieser Ansätze anhand antiker Perspektiven sowie anhand des aristotelischen Verständnisses des Politischen erklären lassen. Erstens erscheint die Konzeption der Gesellschaftsordnung, die Trennung zwischen Bürgern und Nichtbürgern, wobei letzteren das Recht der scholê abgesprochen wird, problematisch (vgl. Kap. 2.3; 4.2). Einem großen Teil der PolisGesellschaft keine politischen Rechte zuzusprechen und sie trotz ihrer Tätigkeiten für das Wohl der Polis dennoch nicht an den politischen Beratungen und Entscheidungsfindungen teilhaben zu lassen, zwischen Freien und Unfreien zu differenzieren (vgl. Kap. 3.1) sowie den Menschen als Handelsware und Kriegsbeute zu verstehen (Pol. I 4-6), entspricht in großen Teilen der Welt nicht mehr dem Verständnis von Staat und Staatlichkeit. Die allgemeinen Menschenrechte aus dem Jahr 1948 und die darin in der Präambel zum Ausdruck gebrachte angeborene Würde und Freiheit des einzelnen Menschen, die uns zwar auch heute noch vor große Herausforderungen stellen, wie z.B. in den Bereichen der Medizin- oder der Friedensethik, stehen diesem antiken Gesellschaftssystem – und das zu Recht – diametral gegenüber. Zweitens ist damit verbunden das Problem der Ausgrenzung der Nichtbürger in Bezug auf die scholê, was gleichzeitig bedeutet, dass einem Großteil der Polis-Bevölkerung eine sinnerfüllte Lebensgestaltung mit dem Fokus auf das eu zên und der eigenen eudaimonia nicht zugestanden und damit abgesprochen wird (vgl. Kap. 4.3). Doch dieses Problem ist im Grunde genommen nicht ausschließlich ein Problem der aristê politeia, sondern vielmehr eines der gesamten aristotelischen politischen Anthropologie bzw. Philosophie, dem anti-

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ken Menschenbild als solches, worin auch immer es seinen Ursprung haben mag. Aufgrund dieser politischen Anthropologie erscheint es für Aristoteles auch nicht möglich zu sein, eine Polis – nicht einmal nach seinem besten Ermessen – zu denken, die allen Teilen der Polis, also auch den Nichtbürgern, die Zeit der scholê möglich macht bzw. zuspricht. Drittens erscheint es verwunderlich, dass Aristoteles die Tugenden des Bürgers in ascholia und scholê in Politik VII und VIII nicht einer näheren Betrachtung unterzieht, sondern sich auf einen allgemeinen Hinweis auf Tapferkeit, Ausdauer, Mäßigkeit und Gerechtigkeit beschränkt (vgl. Kap. 5.2), auch wenn die Nikomachische Ethik in dieser Frage weiterhelfen kann (EN III 9-13; V 13; VIII 1). Mit dem Hinweis, dass sich der Bürger in Zeiten der Muße insbesondere der Philosophie zuwenden soll, stellt sich die Frage, warum Aristoteles dieses Verständnis von Philosophie nicht etwas näher beschrieben oder zumindest rudimentäre Vorstellungen dazu formuliert hat. Der Logik des Staatsentwurfs folgend kann hier, wie gezeigt, nicht an ein ausschließlich wissenschaftlich orientiertes Philosophie-Verständnis gedacht werden, was jedoch gleichzeitig die Frage nach sich zieht, warum Aristoteles nicht zumindest für einige wenige Bürger die Philosophie auch speziell im Sinne des bios theôrêtikos empfiehlt, mit dem Fokus auf eine philosophische Forschung, ähnlich wie er es in der Metaphysik mit dem Hinweis auf die Mathematik der Ägypter ausgeführt hat (Met. I 1, 981b20ff). Viertens fällt auf, dass Aristoteles in seiner Aufzählung der Tugenden für scholê und ascholia das große Thema der philia nicht zur Sprache bringt, dem er doch in der Nikomachischen Ethik viel Aufmerksamkeit zuwendet (vgl. Kap. 3.5). Gerade im Staat nach bestem Ermessen könnte angenommen werden, dass Aristoteles hier das Prinzip der Freundschaft, zumindest speziell das der Bürgerfreundschaft, erwähnt, und in seine Argumentation mit einbezieht. Da er die Gerechtigkeit anspricht, läge auch der darauf folgende Schritt aus der Nikomachischen Ethik heraus hier relativ nahe, nämlich die Wichtigkeit der Freundschaft der Bürger untereinander im Staat nach bestem Ermessen zu thematisieren. Ein deutlicher Bezug zur philia lässt sich jedoch in Politik VII 15 nicht ausfindig machen, obwohl es sich gerade hier besonders angeboten hätte. Fünftens leuchtet es nicht ganz ein, dass Aristoteles weder ein kosmopolitisches noch ein regionalpolitisches Denken zum ernsthaften Thema macht. Auf der einen Seite ist es nicht verwunderlich, dass die genuin kosmopolitische Perspektive fehlt, zumal zum einen das Denken in diese Richtung damals noch nicht wirklich ausgeprägt war und zum anderen in Politik VII und VIII ein politisches Gemeinwesen nach bestem Ermessen, also eine einzelne Polis, beschrieben und entwickelt wird. Auf der anderen Seite ist allerdings überaus auffällig, dass Aristoteles für diese eine Polis offensichtlich auch keine spezi-

174 | Schlussbetrachtungen fisch hellenischen Aspekte und Themen in Bezug auf das Wesen der Polis zu kennen scheint, oder sie zumindest in Politik VII und VIII nicht anspricht. Kein alle Hellenen miteinander verbindendes Element, weder das Orakel von Delphi noch die olympischen Spiele, Homer, Hesiod oder die erforderliche gemeinsame, hellenische Verteidigung gegenüber den Persern finden im aristotelischen Denken ernsthafte politische Auswirkungen bzw. Einflüsse auf die philosophische Entwicklung des politischen Gemeinwesens. Homer und Hesiod finden zwar gelegentliche Erwähnung (Pol. I 2; 13; III 5; 14; IV 4; V 10; VIII 3), wie auch andere der genannten Themen teilweise am Rande, jedoch nicht im direkten Kontext ihrer Bedeutung für die politische Gemeinschaft der Polis und ohne ihren spezifisch griechischen Ausprägungen und überregionalen Gemeinsamkeiten, die es ja auch in den fernen Poleis im Mittelmeerraum und am Schwarzen Meer zu damaliger Zeit durchaus gegeben hat. Sechstens ist festzuhalten, dass Aristoteles in seinen Bestimmungen zur paideia (Pol. VII 14 bis VIII 7) offensichtlich deutlich über das Ziel hinausgeschossen ist. Manche seiner Überlegungen zur Geburtenkontrolle, zur Aussetzung und Abtreibung von Kindern oder zum Umgang mit körperlich beeinträchtigten Menschen (Pol. VII 16) sind stellenweise nicht nachvollziehbar. Doch die philosophische Abhandlung über die paideia lässt sich nicht ausschließlich auf diese zuvor genannten Aspekte reduzieren. Denn gerade die umfassenden Erörterungen zur Erziehung führen ein hohes Maß an politischer Aktualität auch heute noch vor Augen, was uns nun zu den vielen wichtigen, anzuerkennenden Überlegungen und philosophischen Leistungen rund um das Thema der scholê bringt. Denn trotz alledem bleibt derselbe Aristoteles und sein Denken ebenso in diesem Bereich seiner politischen Philosophie, in Politik VII und VIII, abseits mancher kritischer Punkte, ein überaus anregender und nach wie vor lohnender sowie aktueller Diskurspartner, und auch das in vielerlei Hinsicht. Erstens ist auf die politische Autarkie und ihre Bedeutung für das Zusammenleben des Menschen in politischer Gemeinschaft zu verweisen, vom eigenen Haus und dem Familienverband bis hin zur Polis und ihren politischen Strukturen und Einrichtungen (vgl. Kap. 3.). Der autarke Mensch ist dem aristotelischem Verständnis nach kein isoliertes Wesen, das ohne Bezug zur Mit- und Umwelt lebt, das über allem erhaben, ausschließlich in sich gekehrt ist und nur so sein eigenes Glück fernab von anderen Menschen finden bzw. verwirklichen kann. Vielmehr erscheint der Mensch im aristotelischen Denken als ein Gemeinschaftswesen mit sozialen Bedürfnissen und Bindungen, bis hin zu engen Freundschaften, an denen er sein ganzes Leben hindurch Orientierung nimmt und die für sein Leben im Prinzip unverzichtbar erscheinen. Diese Bezugspunkte wurden in den fünf Dimensionen der politischen Autarkie ausfindig gemacht.

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Sowie eine Ausgewogenheit in diesen Bereichen hergestellt ist, kann der Mensch für sich temporär autark sein, im Sinne eines (vorübergehenden) sichselbst-Genügens. Diese politische Autarkie des Menschen entreißt ihn jedoch nicht der Gemeinschaft des Polis-Verbands, im Gegenteil, sie verwurzelt den Menschen im Grunde genommen noch stärker in die aristotelische zôon politikon-Anthropologie selbst. Dieser Ansatz ist auch heute noch von Interesse und einer ernsthaften Überlegung in aktuellen Debatten wert, z.B. in Bezug auf die Diskussionen über den vor allem in der Soziologie vermuteten neuerlichen Individualisierungsschub, insbesondere innerhalb westlicher Gesellschaften. Honneth weist diesbezüglich auf einen kulturellen Umbruch hin, in dem „sich gegenwärtig in den hochentwickelten Gesellschaften die überkommenen Muster sozialer Beziehungen befinden“ (Honneth: 1997, 15). Dass es in diesem Bereich bereits in den letzten Jahrzehnten zu gesellschaftlichen Veränderungen gekommen ist, darauf weist auch Ricken hin, wenn er über „Grenzen und Gefahren eines neuzeitlichen Individualismus“ spricht: „Die Soziologen sprechen von einer fortschreitenden Individualisierung unserer Gesellschaft; wir erleben den Verfall von Gemeinschaftsformen, die über lange Zeit das menschliche Leben geprägt haben“ (Ricken: 2004, 7). Zweitens ist die scholê und ihr Bezug zur eudaimonia des Einzelnen hervorzuheben. Mit der Grundlegung der scholê spricht Aristoteles aus heutiger Perspektive einen selbstverantworteten Bereich des Menschen an, welcher von der politischen Gemeinschaft im Großen und Ganzen ausgenommen ist, jedoch in unmittelbarem Zusammenhang zur politischen Autarkie steht. Die Zeit der scholê, anschließend an die Bemühungen um Politik und Autarkie, soll nach Politik VII und VIII dem Einzelnen dazu dienen, einer sinnerfüllten Lebensgestaltung nachzugehen, wie auch immer diese der Einzelne im Speziellen für sich bestimmt, wo auch immer er seine Begabungen und Interessen auslotet. Dieses Denken ist Aristoteles im Grunde genommen hoch anzurechnen. Denn mit diesen Bestimmungen bietet er ein attraktives Spannungsfeld zwischen politischer Mitbestimmung und politischer Verantwortung auf der einen Seite, im Sinne der Autarkie des Einzelnen und des Polis-Verbands, sowie einer Eigenverantwortlichkeit in Bezug auf die Verwirklichung der individuellen Glückseligkeit auf der anderen Seite. Für beide Bereiche gleichermaßen Sorge zu tragen und sich in deren Gestaltung zurechtzufinden, sowie sich in der Zeit der scholê zu beschäftigen zu wissen, darin meint Aristoteles in seinem Staat nach bestem Ermessen das erstrebenswerteste Leben des Bürgers ausfindig machen zu können. Nochmals soll auf diesen zentralen Punkt der scholê-Lehre hingewiesen werden, den Aristoteles inmitten der Abhandlung über die paideia entwickelt. Ziel der umfassenden Erziehung müsse es sein, den angehenden Bürger dahingehend vorzubereiten,

176 | Schlussbetrachtungen »[...], dass man nicht bloß auf die rechte Weise der Arbeit [der ascholia, der Nichtmuße, der tagtäglichen Beschäftigung mit dem Lebensnotwendigen und der „Ablenkung“ durch das (politische) Alltägliche] obzuliegen, sondern auch die Muße (scholê) [die Zeit der individuellen, sinnerfüllten Lebensgestaltung durch eine Auseinandersetzung mit der Philosophie im breiteren Sinne] auf die rechte Weise auszufüllen versteht. Ja, dies ist sogar, um es noch einmal zu sagen, das Grundprinzip (archê) von allem« (Pol. VIII 3, 1337b32ff).

In der scholê dürfte demnach ein Verständnis über das gute und gelingende Leben des Einzelnen innerhalb der politischen Gemeinschaft begründet liegen, das sich Staaten und Demokratien heute in Bezug auf Mündigkeit und Eigenverantwortlichkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger aus sowohl politischer, ethischer als auch aus individueller Sicht nur wünschen können. Drittens: wenn zuvor die aristotelische paideia insbesondere im Bereich der Geburtenkontrolle und der anderen angeführten Themen kritisiert wurde, so müssen dennoch auch die Vorzüge des intensiven Nachdenkens über die Erziehung des Bürgers angesprochen werden, die im Prinzip auch heute noch Vorbild sein können, zumindest ihrem systematischen Ansatz und ihrem Bemühen nach, Erziehung zu reflektieren und politisch verantwortungsvoll zu diskutieren. Erziehung ist für das Wohl des Staates ein immens wichtiges Thema, dem größte Aufmerksamkeit entgegengebracht werden muss, sozusagen für das politische Gemeinwesen von morgen. Hier hat nicht nur die Familie, sondern auch der Staat Verantwortung für die Erziehung zu übernehmen, da die Erziehung nicht nur individuelle Sache, sondern auch für den Staat essentielles Thema ist. Kritisch bleibt dabei jedoch, bei Aristoteles wie auch heute noch, die Frage, in welche Bereiche der Erziehung sich der Staat einzubringen hat und wo es ihm nicht zusteht einzugreifen, da es Sache der Familie oder vielleicht auch schon Sache des Kindes selbst ist, eine Entscheidung für die Zukunft zu treffen. Viertens ist anzuführen, dass Aristoteles seinen Staat nach bestem Ermessen unter anderen nach dem Prinzip der Mäßigkeit gestaltet (Pol. VII 15). Immer wieder ruft er in Politik VII und VIII zu einem maßvollen Umgang mit den Gütern der Polis auf, vor allem in Zeiten des Friedens und der scholê. Im Vordergrund steht dabei zwar nicht der schonende Umgang des Menschen mit den natürlichen Ressourcen aufgrund von Nachhaltigkeit, möglicher Güterknappheit oder gar aufgrund einer Art von Verteilungsgerechtigkeit, sondern eher die These des Aristoteles, dass das Übermaß an äußeren und körperlichen Gütern allein nicht glücklich machen und für den Menschen bei exzessivem Gebrauch auch schädlich sein kann. Dennoch ist der von Aristoteles politisch geforderte rücksichtsvolle Umgang mit Ressourcen heute noch – nach wie vor – aktuell, zum einen aus ethischer und zum anderen heute zusätzlich auch aus ökologisch-ökonomischer Perspektive.

Repliken auf die Kritiken am Staatsentwurf | 177

Fünftens ist festzuhalten, dass dem Bürger im Staat nach bestem Ermessen ein hohes Maß an Eigenverantwortung für die eigene eudaimonia zugesprochen wird. Die politikê koinonia ist für den Bürger zwar wesentlich, sie regelt jedoch nicht alle Bereiche des Lebens und ist letztendlich für die eudaimonia zwar mit-, aber keineswegs haupt- oder alleinverantwortlich. Der Staat – so könnte es in das Heute übersetzt werden – hat politische Hilfe und den politischen Rahmen für das Leben zu bieten, der Sinnerfüllung und dem Weg zur Glückseligkeit muss allerdings selber nachgegangen werden. Hiervon ist in letzter Konsequenz die politische Gemeinschaft ausgeschlossen. Vorab hat der Bürger allerdings auch politische Verantwortung für die Ordnung des politischen Gemeinwesens zu übernehmen, und Seines zu einem guten Gedeihen beizutragen. Aus dieser Verantwortung kann sich der Bürger im Staat nach bestem Ermessen nicht davonstehlen. Sechstens letztendlich, ist Aristoteles zu Gute zu halten, dass er die scholê, wie gezeigt, von zweierlei Seiten aus betrachtet: zum einen aus der Perspektive der politischen Gemeinschaft sowie zum anderen aus der Perspektive des einzelnen Bürgers. Somit entsteht um die scholê ein Bereich der allgemeinen politischen Verantwortung zum einen und der Freiheit im Bereich der individuellen Sinnerfüllung zum anderen, somit eine verantwortete Freiheit (vgl. Kap. 6.3).

7.2 Repliken auf die Kritiken am Staatsentwurf Im ersten Teil dieser Studie wurden unterschiedliche Kritikpositionen am aristotelischen Staatsentwurf angesprochen, die sich aus der Philosophie, der Soziologie oder der Alten Geschichte heraus entwickelt haben (vgl. Kap. 2.4). Diese Kritiken beziehen sich in erster Linie auf die innere Struktur der aristê politeia, dabei insbesondere auf die Gesellschaftsordnung, die jedoch, wie gezeigt wurde, eng mit der scholê verbunden ist. Somit stellen die Kritikpunkte eine Art von Gesamtkritik an Politik VII und VIII dar, die bei einer Studie wie dieser nicht unkommentiert bleiben können. Prinzipiell ist vorwegzunehmen, dass mit einem „-ismus“ allein einer Charakterisierung des Staats nach bestem Ermessen nicht gänzlich Recht getan werden kann. Denn dafür stellt sich die Konzeption im Gesamten betrachtet als zu komplex dar. Die unterschiedlichen Positionen lassen sich auf vier Hauptkritikpunkte reduzieren. Sie umfassen: (1) eine grundsätzliche Kritik an der Einteilung im Staat nach bestem Ermessen in „Bürger“ und in „Nichtbürger“, wobei die scholê allein zu einem Charakteristikum des Bürgers wird, sozusagen auf Kosten anderer in der Gesellschaft (u.a. bei Demandt, vgl. Kap. 2.4);

178 | Schlussbetrachtungen

(2) die Kritik, im Staatsentwurf aus Politik VII und VIII, wie auch in anderen Texten der aristotelischen politischen Philosophie, keine Ansätze eines kosmopolitischen Denkens ausfindig machen zu können, sondern ausschließlich eine Polis-Fokussierung (u.a. bei Flashar, vgl. Kap. 2.4); (3) die Kritik, bei Aristoteles einen übersteigerten Paternalismus vorzufinden, der als eine Art von übervorsorglicher Bevormundung des Einzelnen durch den Gesetzgeber, hier vor allem in Bezug auf die paideia, verstanden werden kann (u.a. bei Gigon, vgl. Kap. 2.4); (4) die Kritik, in der aristotelischen Argumentation, insbesondere in Politik VII und VIII, Ansätze eines Totalitarismus innerhalb der Polis-Konstruktion und in ihren politischen Strukturen und Mechanismen erkennen zu können (u.a. durch Barnes, vgl. Kap. 2.4). (ad 1) Aristoteles teilt in seinem Staat nach bestem Ermessen die gesamte Gesellschaft dieser Polis in Bürger und in Nichtbürger. Auf dieses Faktum wurde mehrmals hingewiesen. Der Bürgerschaft gegenüber stehen alle anderen Gesellschaftsschichten, wie unter anderem die Bauern, die Handwerker, die Kaufleute, etc. Wichtig ist jedoch, in diesem Zusammenhang nochmals hervorzuheben, dass diese Trennung keine Spaltung der Gesellschaft in Teile und Nichtteile der Polis bedeutet. Denn Aristoteles ist sich bewusst, dass es zum Entstehen und für den Fortbestand der Polis nach Wunsch der Gemeinschaft aller bedarf, also sowohl der Bürger als auch der Nichtbürger. Demnach sind alle Gruppen Teile der Polis, auch die Sklaven, selbst wenn nur einer Minderheit der Bevölkerung Bürgerrechte und somit auch politische Kompetenzen zugesprochen werden. Die von vielen Positionen aus kritisierte Trennung in Bürger und Nichtbürger im Staat nach bestem Ermessen kann bei einer intensiveren Auseinandersetzung mit der aristotelischen politischen Philosophie im Grunde genommen nicht besonders überraschen. Zwei Punkte sollen als Begründung für diese These dienen. Erstens: Die Grundlage dieser Teilung erfolgt auf dem Boden der politischen Anthropologie aus Politik I 2, wie wir sie in Bezug auf die sozialanthropologische Dimension der politischen Autarkie entwickelt haben (vgl. Kap. 3.1). Aristoteles handelt dort über die unterschiedlichen Formen des menschlichen Zusammenlebens und dabei insbesondere über das Verhältnis des Regierenden zum Regierten und vice versa. Dabei macht er deutlich, dass es sich hier nicht um einseitige Machtverhältnisse der Regierenden zu den Regierten handelt, sondern dass es auch im Interesse des Regierten ist, um seines eigenen Lebens

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willen regiert zu werden. Der Nutzen dieser Beziehungen ist für Aristoteles in allen Formen des menschlichen Zusammenlebens für jeweils beide Seiten gegeben, selbst in dem überaus strittigen Verhältnis von Herr und Sklave. Für manche, so Aristoteles, sei es durchaus von Vorteil, regiert zu werden.1 Vor diesem Hintergrund ist es demnach auch nur wenig verwunderlich, dass Aristoteles in Politik VII und VIII an diese seine Fundamente der politischen Anthropologie anschließt und so zwischen Bürgern und Nichtbürgern unterscheidet, auch wenn uns das aus unserer aktuellen Sichtweise des Politischen und des allgemeinen Menschenbildes heute befremden mag. Zweitens: Hinzu kommt, dass diese Trennung der Gesellschaft in unterschiedliche Gruppen, die sich größtenteils durch ihre beruflichen Tätigkeiten definieren, dem aristotelischen Denken von Staatlichkeit überhaupt zu entsprechen scheint, welches im Einklang mit der zuvor angesprochenen politischen Anthropologie steht. Bereits in der Nikomachischen Ethik lassen sich Ansätze dieses Denkens deutlich erkennen: »Denn nicht aus zwei Ärzten entsteht eine Gemeinschaft [κοινωνία], sondern aus einem Arzt und einem Bauern und allgemein aus Menschen, die verschieden und nicht gleich sind« (EN V 8, 1133a17ff).

Ähnlich dazu Politik II 2: »Und nicht nur eine Mehrheit von Menschen gehört zum Staat, sondern auch eine Mehrheit von Menschen, die der Art nach verschieden sind. Denn aus ganz gleichen Menschen entsteht kein Staat« (Pol. II 2, 1261a23ff).

Mit diesen beiden Stellen soll die Trennung in Bürger und Nichtbürger aus Politik VII und VIII weder gerechtfertigt noch begründet oder gar verteidigt werden, sondern es soll allein darauf hingewiesen werden, dass sie auf der Basis seiner politischen Anthropologie und seines Denkens über Staat und Staatlichkeit erfolgt und somit keine Inkonsequenz in seinem Denken darstellt. Wenn hingegen Demandt behauptet, dass der Staat nach bestem Ermessen eine Gemeinschaft von „kulturschaffenden Rentnern“ sei, die „als Freie und Gleiche auf

|| 1 Hierin liegt eines der Hauptprobleme der aristotelischen politischen Philosophie: Denn Aristoteles ist der Ansicht, dass nicht alle Menschen in gleicher Art und Weise über die unterschiedlichen Seelenteile verfügen (können), wie unter anderem in der EN ausgeführt wird. Die Konsequenz daraus, nämlich dass Menschen unterschiedlich angeleitet und regiert werden müssen, ihrem je eigenen Vermögen entsprechend, erscheint dabei weitaus weniger problematisch zu sein als jene der prinzipiellen Ungleichheit der Menschen untereinander in Bezug auf ihre seelischen Veranlagungen (vgl. Kap. 3.1).

180 | Schlussbetrachtungen Kosten einer Unterschicht von politisch rechtlosen Fremdarbeitern leben“ (Demandt: 1993, 131), so verlässt er mit dieser einseitigen Interpretation die Basis der aristotelischen Argumente und dabei auch das Verständnis von politischer Gemeinschaft, Staat und Staatlichkeit aus der Nikomachischen Ethik sowie der Politik. Denn Aristoteles ortet in den unterschiedlichen Bereichen der politischen Gemeinschaft keine bloß einseitigen Vorteile und keinen ausschließlichen Nutzen für einen der Teile, sondern einen Nutzen für beide Seiten, für die Bürger und die Nichtbürger. Dieser Ansatz hat auch im Bereich der aristê politeia seine Gültigkeit. (ad 2) Die Beobachtung, dass sich die aristotelische politische Philosophie so gut wie ausschließlich im Rahmen der Polis entwickelt, sich größtenteils direkt auf diese als politisches Gemeinwesen bezieht sowie wenig bis gar keine Ansätze eines kosmopolitischen Denkens aufweist, ist mit Sicherheit zutreffend. Doch wie wir bereits im ersten Exkurs über Wesen und Autarkie der antiken Polis gesehen haben, war die Polis ein überaus wichtiger Bezugspunkt des Menschen innerhalb der antiken griechischen Welt. Das belegt auch hier wiederum die Grundlegung der politischen Anthropologie aus Politik I 2, auf die wir bereits an anderer Stelle hingewiesen haben (vgl. Kap. 3.1): »Die aus mehreren Dörfern sich bildende vollendete Gemeinschaft nun aber ist bereits der Staat [κοινωνία τέλειος πόλις], welcher, wie man wohl sagen darf, das Endziel völliger Selbstgenügsamkeit erreicht hat, indem er zwar entsteht um des bloßen Lebens, aber besteht um des vollendeten Lebens willen« (Pol. I 2, 1252b27ff).

Dieses Denken mag wohl mit ein Grund dafür gewesen sein, warum die Polis eine derart zentrale Rolle im politischen Denken des Aristoteles eingenommen hat. Die klassische griechische Staatsphilosophie hat sich so gut wie ausschließlich um die Polis selbst sowie um ihre äußere und innere Verfassung gedreht. Diese Vermutung wird im Bereich der althistorischen Forschung deutlich angesprochen und thematisiert, wie unter anderem bei Patt. Er bezeichnet die Polis als „das wohl kostbarste Gebilde, dass die Griechen hervorgebracht haben, innerhalb dessen die klassische Kunst und Literatur wie auch die klassische Staatsphilosophie erst möglich wurde“ (Patt: 2002, 99). Ein starker Rückbezug der Philosophie auf die Polis erscheint daher nicht fern. Auch wenn innerhalb der Alten Geschichte Entstehung, Entwicklung und die Ausformung der Polis als Lebensraum des Menschen unterschiedlich rekonstruiert und teilweise auch kontrovers beurteilt wird, so bleibt dennoch ihr Stellenwert und ihre Bedeutung für das damalige Leben des Menschen unangefochten. Denn, so auch Meier, die Polis war für die Griechen der einzige wichtige gemeinschaftliche

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Zusammenhalt oberhalb des eigenen Hauses (vgl. Meier: 1995, 27). Diese Tatsache erklärt allerdings nicht die zur Gänze fehlende kosmopolitische- oder aber auch nicht die fehlende Hellas-Perspektive in der politischen Philosophie bei Aristoteles, zumal es doch gemeinsame griechische Anliegen zu damaliger Zeit gegeben hat (vgl. Kap. 7.1). Das Konzept der politischen Gemeinschaft der Polis ist für das Denken des Aristoteles überaus bedeutsam. Die Politik kann als ein klares Bekenntnis zur Polis als der für Aristoteles besten Form des menschlichen Zusammenlebens gelesen werden. Darauf kommt auch Kullmann zu sprechen, wenn er meint, dass es aufgrund der damaligen politischen Situation als durchaus nachvollziehbar erscheint, warum die Politik eine so starke „Tendenz der Bewahrung“ der politischen Gemeinschaftsform der Polis durchzieht (Kullmann: 1998, 314). Vielleicht liegt darin auch der Grund dafür, warum so mancher Aristoteliker, wie Gutschker formuliert, einer „romantischen PolisNostalgie“ verfallen ist, wie es seiner Ansicht nach bei Eric Voegelin, Leo Strauss oder Hannah Arendt zu beobachten sei (Gutschker: 2002, 341). (ad 3) Der Vorwurf des Paternalismus ist, wie mit Horn bereits gezeigt wurde (vgl. Kap. 2.4), nicht triftig (vgl. Horn: 2008, 7). Orientierung nimmt diese Kritikrichtung an der Abhandlung über die paideia. Einige jener Argumente, die gegen eine paternalistische Auslegung sprechen, lassen sich auch in Bezug auf die Totalitarismus-Kritik als Gegenargumente formulieren. Deshalb sollen sie gemeinsam angesprochen werden. (ad 4) Es sind vor allem zwei Argumente, die gegen die unter anderen von Barnes formulierte Totalitarismus-Kritik sprechen. Bereits der von Aristoteles gewählte Zugang zu seiner Untersuchung in Politik VII 1 führt mit aller Deutlichkeit vor Augen, worauf er seinen Schwerpunkt legt und wie seine Untersuchung in den darauffolgenden Überlegungen auch systematisch angelegt werden soll. Mit diesem allerersten Satz, der auch im Zentrum dieser Studie steht, wird seine Methode und sein Ansatz überaus klar zur Sprache gebracht: »Wer über die beste Verfassung die Untersuchung in sachgemäßer Weise anstellen will, der muss notwendig zuerst bestimmen, welches das wünschenswerteste Leben [der hairetôtatos bios, das erstrebenswerteste Leben] ist. Denn solange dies noch im unklaren ist, muss notwendig auch die beste Staatsverfassung im unklaren bleiben« (Pol. VII 1, 1323a14ff).

Zu Beginn fragt Aristoteles vorab nach dem erstrebenswertesten Leben, dann erst in einem zweiten Schritt nach der dafür notwendigen Verfassung, die dieses Leben ermöglichen soll, nicht umgekehrt. Er spricht nicht darüber, dass im Staat nach bestem Ermessen alle unter einer Verfassung leben und sich daher

182 | Schlussbetrachtungen ausschließlich nach dieser richten müssen, damit sich dieser Staat verwirkliche. Aristoteles handelt darüber, dass die Einigung über das erstrebenswerteste Leben, das für ihn zumindest in seiner Polis nach Wunsch für den einzelnen Bürger wie auch für die Gemeinschaft identisch ist, diese Gemeinschaft begründet und sich so eine Polis im Sinne einer politischen Gemeinschaft bilden kann. Doch zunächst muss eben dieses spezifische Leben bestimmt werden und erst daran anschließend die Verfassung einer solchen möglichen politischen Ordnung. Auf dieses aristotelische Vorgehen weist auch Schütrumpf hin. Für ihn ist in Politik VII und VIII die Bestimmung des „besten Lebens der Menschen“ die Grundlage für die „Festlegung der Form des besten Staates und nicht umgekehrt“ (Schütrumpf: 2006, 247). Der Staat nach bestem Ermessen wird vorrangig durch die Übereinkunft über das erstrebenswerteste Leben begründet, nicht durch die Staatlichkeit an sich oder durch die Notwendigkeit, das Leben der Menschen untereinander durch eine Verfassung zu regeln. Hinzu kommt, und hierbei ist nun die scholê das wichtigste Argument, dass die politische Gemeinschaft im Staat nach bestem Ermessen nicht jeden Bereich des Menschen regelt. Selbst wenn im Vorfeld vieles durch die Erziehung, die umfassende paideia, als bestimmt und von oben herab festgelegt erscheint, so wird dem einzelnen Bürger dennoch auch ein Bereich zugesprochen, über den er im Prinzip selbst verfügen und bestimmen kann, nämlich die Zeit der scholê.2 Dieser Bereich des Lebens ist von der politischen Gemeinschaft ausgeschlossen, und somit steht es jedem einzelnen Bürger frei, über diese Zeit selbstbestimmt zu verfügen, wie es Nussbaum in konkretem Bezug auf Politik VII und VIII ebenso auf den Punkt gebracht hat.3 Selbst wenn viele Bereiche im Staat nach bestem Ermessen von Aristoteles vorgedacht und festgelegt werden, vor allem im Bereich der Erziehung, so bedeutet das nicht automatisch, dass alle Bereiche des Lebens bereits geregelt sind und der Bürger daher seine Freiheit einbüßt. Erstens ist das aufgrund der Bedeutung der scholê in diesem Staat, wie wir sie hier in dieser Studie ent-

|| 2 Schütrumpf fragt sich in ähnlicher Art und Weise, ob Aristoteles in Pol. VII/VIII „Individualität zulässt“, oder ob es sich um eine „Unterordnung individueller Strebungen unter die Diktate der Gemeinschaft handle“ (Schütrumpf: 2006, 239). Seine Antwort auf die gestellte Frage rückt ebenso die von uns zuvor untersuchte scholê in den Mittelpunkt der Argumentation: „In seinem besten Staat ist Glück nur im Zustand der Muße möglich, es ist damit ein eminent privates Glück“ (Schütrumpf: 2006, 250). 3 „Kurz gesagt: Der Mensch, dem sauberes Trinkwasser zur Verfügung gestellt wird, kann dieses Wasser jederzeit verschmutzen. Der Mensch, der eine Erziehung erhalten hat, hat die Freiheit, sie später zu vergeuden. Der Mensch, der gute Freizeiteinrichtungen hat, braucht sie nicht in Anspruch zu nehmen“ (Nussbaum: 1999, 41).

Ein Fazit in fünf Punkten | 183

wickelt haben, schlichtweg nicht der Fall und zweitens ist eine allumfassende Regelung aller Bereiche aufgrund der politischen Herrschaft innerhalb dieses Staats nach bestem Ermessen, die jedem Bürger das Recht zuspricht, selbst einmal zu regieren, nicht möglich. 4 Mit Sicherheit ließen sich noch viele andere interessante Aspekte der Kritiken am Staat nach bestem Ermessen diskutieren. Ziel dieser Überlegungen ist es allerdings, wie einleitend zu den Schlussbetrachtungen gesagt, aufzuzeigen, dass mit einer „-ismus“-Kritik allein dem Polis-Konzept nicht Recht getan werden kann. Insbesondere ist anzumerken, dass totalitaristische oder paternalistische Interpretationen nicht das ganze aristotelische Staatskonzept in einem umfassendem Sinne mit einbeziehen, wie sich anhand der scholê deutlich machen lässt.

7.3 Ein Fazit in fünf Punkten Anhand der Beschäftigung insbesondere mit dem aristotelischen Verständnis der scholê aus Politik VII und VIII im Rahmen dieser Studie, ziehe ich folgende Schlüsse: (1) Wenn Aristoteles nach dem hairetôtatos bios des einzelnen Menschen einleitend in Politik VII 1 fragt, dann ist das eine zutiefst politische Frage, die auch die politische Gemeinschaft als solche betrifft und daher nicht unberücksichtigt bleiben kann. Die beste äußere und innere staatliche Verfassung hat sich, so der eigene Anspruch bei Aristoteles, an den Bestimmungen zum erstrebenswertesten Leben des Einzelnen zu orientieren, nicht umgekehrt. Zuerst soll (und muss) die Frage nach dem guten und gelingenden Leben im Zentrum der Betrachtung stehen und erst daran anschließend sowie darauf aufbauend die Frage nach Staat und Staatlichkeit, nach Verfassung und Institutionen. (2) Ich komme zu dem Schluss, dass Aristoteles das gute und gelingende Leben des Menschen im Staat nach bestem Ermessen nicht im bios praktikos kai politikos oder im bios theôrêtikos bestimmt, sondern in der Verbindung beider Lebensformen miteinander den hairetôtatos bios ausmacht. Der Bürger ist jedoch

|| 4 Auch an dieser Stelle dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass sich die Bürgerschaft im Grunde genommen vorab über das politische System und somit auch über die Formen der Erziehung und das Erziehungssystem geeinigt hat – zumindest hier in der Polis nach Wunsch.

184 | Schlussbetrachtungen nicht nur für sein eigenes, individuelles Leben verantwortlich, sondern hat auch an dem Zusammenleben der gesamten politischen Gemeinschaft seinen Anteil und dabei mitunter die Pflicht, sich politisch in das Gemeinwesen einzubringen und sich für das Wohl aller sowie für die politische Autarkie der Polis zu engagieren. (3) Doch die politische Sphäre alleine ist nicht der einzige Lebensbereich des Menschen. Denn mit der Einführung der scholê spricht Aristoteles dem Bürger seiner aristê politeia einen privaten und selbstverantworteten Bereich zu, worin der Bürger vom Politischen und jedweder Politik, d.h. hier in diesem Falle auch vom Rest der politischen Gemeinschaft, temporär entbunden ist. Dafür ist jedoch eine geregelte und auch umfassende politische Autarkie erforderlich, die für Aristoteles allerdings nicht Isolation des Einzelnen, sondern ausgewogene soziale Verbindungen hinsichtlich aller politischer Dimensionen der Autarkie bedeutet. (4) In der Zeit der Muße selbst hingegen, die die Möglichkeit und den äußeren Rahmen einer jeweils individuell zu bestimmenden sinnerfüllten Lebensgestaltung bietet, kann der Einzelne das eu zên, das nach Aristoteles eine gute und gelingende Lebensführung bedeutet, verwirklichen, mit dem Ziel der eudaimonia vor Augen. Hilfestellung und Orientierung dafür bietet die Philosophie im umfassenden Sinne. (5) Die Definition des Bereichs der individuellen Lebensgestaltung bleibt von Aristoteles unbestimmt, zumal er sie im Sinne der verantworteten Freiheit des einzelnen Menschen auch gar nicht leisten kann. Neben den politischen Pflichten ist der Mensch für sich und sein eigenes Leben letztendlich selbstverantwortlich, auch wenn der notwendige politische Rahmen für ein erfülltes und zufriedenes Leben zu einem großen Teil von der Gemeinschaft geschaffen und auch gesichert wird. Meine eingangs aufgestellte These der unverzichtbaren Rolle der scholê innerhalb des politischen Konzepts aus Politik VII und VIII, die, wie gezeigt wurde, als Verbindung zwischen politischer Gemeinschaft auf der einen Seite und selbstverantworteten individuellem Leben auf der anderen Seite verstanden werden kann, ist meiner Ansicht nach anhand der vorliegenden Studie bewiesen. Demnach müssen die Bücher VII und VIII der Politik insbesondere von diesem Punkt aus betrachtet und interpretiert werden. Denn ohne eine Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Verständnis der scholê bleibt der Staatsentwurf letztendlich unvollständig und auch unverständlich, was die

Ein Fazit in fünf Punkten | 185

vielen bereits vorhandenen, zum Teil diametral gegenüberstehenden Auslegungen und Zusammenfassungen des Staatsentwurfs innerhalb der Forschung deutlich machen, die wie gezeigt vom „Liberalismus“ bis zum „Totalitarismus“ reichen (vgl. Kap. 2.4; Kap. 7.2). Der Staat nach bestem Ermessen ist meiner Ansicht nach ein durch und durch gelungenes Beispiel dafür, wie Aristoteles innerhalb seiner politischen Philosophie die Verknüpfung von Politik im weiteren Sinne auf der einen Seite und der Glückseligkeit des einzelnen Menschen auf der anderen Seite gedacht hat. Es ist mir daher gänzlich unverständlich, warum die scholê innerhalb der Aristoteles-Forschung aktuell ein Schattendasein führt. Zum einen erscheint das insbesondere in Bezug auf die aristê politeia und die Aristoteles-Forschung im Speziellen überraschend. Zum anderen ist es jedoch auch im Allgemeinen verwunderlich, dass der scholê bei Aristoteles bislang weniger Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Denn sie enthält ein reiches geistesgeschichtliches Erbe der gesamten griechischen Antike, ihrer Kultur und beinhaltet die praktische Anwendung vieler aristotelischer (politischer) Prinzipien, dessen Entdeckungen sich durchaus lohnen. Allen voran die Wichtigkeit der scholê für ein glückliches und sinnerfülltes Leben des Bürgers innerhalb der politischen Gemeinschaft. Die aristotelischen Überlegungen zur Muße sind auch für die politische Praxis der Gegenwart durchaus von Interesse. Erstens zeigt sich, dass das gute und gelingende Leben ohne Politik und ohne die politische Gemeinschaft nicht zu verwirklichen ist. Zweitens zeigt sich anhand der scholê, dass das Leben des Menschen innerhalb von (politischer) Gemeinschaft nicht bloß Rechte beinhaltet, sondern auch Pflichten im Sinne politischer Partizipation und gesellschaftlichem Engagement. Drittens zeigt sich, dass in demokratischen Staaten jedoch nicht nur der Einzelne für das Ganze gefordert ist, sondern auch das Ganze für den Einzelnen. Auch diese Perspektive lässt Aristoteles nicht unberücksichtigt, zumal er die Muße des Menschen als Gelegenheit zur individuellen Sinnerfüllung betrachtet, die jedoch eine funktionstüchtige politische Gemeinschaft und die politische Verantwortung des Einzelnen voraussetzt. Dass gerade dieser Staatsentwurf mit dem Fokus auf die scholê des Bürgers aus Politik VII und VIII auch Probleme mit sich bringt, vor allem aus der Perspektive des Politischen der Gegenwart, soll dabei keineswegs ausgeblendet werden. Dennoch meine ich, dass die positiven wie anregenden Themen innerhalb der beiden Bücher gegenüber den kritischen und aus heutiger Sicht problematischen Themen bei weitem überwiegen. Dabei sticht vor allem das aristotelische scholê-Konzept hervor, welches in beeindruckender Art und Weise die politische Natur des Menschen unterstreicht, dennoch die Züge einer individuellen, sinnerfüllten Lebensgestaltung anerkennt und in der Verbindung beider Bereiche miteinander das erstrebenswerteste Leben sieht.

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Namensregister A Ackrill, John 17, 31, 157 Adkins, Arthur 13 Aischylos 98f., 104 Alexander der Große 40-42, 56, 160 Andronikos von Rhodos 16 Arendt, Hannah 11, 124, 181 Arnim, Hans von 15 Augustinus 101f.

B Bächli, Andreas 108 Barnes, Jonathan 51f., 178, 181 Bekker, Immanuel 13 Benedikt von Nursia 102 Bien, Günther 12, 17, 47f., 89, 144, 149, 154 Bonitz, Hermann 108, 110 Brühweiler, Hans 97f. Brüllmann, Philipp 133 Buddensiek, Friedemann 18 Bürgin, Alfred 74, 89f., 93-95, 158, 161 Busche, Hubertus 62

C Charondas 67 Coreth, Emerich 11 Corsten, Thomas 89

D Demandt, Alexander 54, 177, 179f. Depew, David 14, 25, 32-34, 37, 39, 107, 119, 125, 155 Descartes, René 102, 112 Diogenes, Laertius 40f. Dirlmeier Franz, 82 Düring, Ingemar 12, 156

E Echekrates 99f. Eich, Armin 93 Elm, Ralf 152, 154 Epimenides 67

F Flashar, Hellmut 14f., 17f., 29, 33f., 36, 53, 83f., 107, 110, 142, 152, 178 Frank, Markus 14, 56, 119 Frede, Dorothea 27, 76, 79, 100 Frisk, Hjalmar 97f. Funke, Peter 90, 158f., 161

G Gadamer, Hans-Georg 11 Gehrke, Hans-Joachim 40, 55, 92 Geiger, Rolf 80 Gigon, Olof 17, 52, 59, 61, 67, 70, 86f., 178 Gordon, John-Stewart 22 Gronemeyer, Matthias 48f., 74f., 78, 94, 159 Graeser, Andreas 108 Gutschker, Thomas 11, 22, 54, 181

H Haeffner, Gerd 69 Hartung, Gerald 13 Hegel, G.W.F. 63, 70, 102f. Hephaistos 98 Herodot 59f., 92, 99 Hesiod 67, 99, 174 Hobbes Thomas 11 Höffe, Otfried 11-13, 17, 19, 28f., 53, 6466, 68f., 72, 74, 84f., 87, 94, 108, 124, 149 Hölderlin Friedrich 103 Homer 67, 93, 99, 174 Honneth, Axel 175 Horn, Christoph 11f., 14, 39, 52f., 108, 181

196 | Namensregister

J Jaeger, Werner 13-16, 37

Nietzsche, Friedrich 63, 104 Nussbaum, Martha 11, 22, 182

K Kampert, Heinz 61, 82, 87, 118, 164 Kant, Immanuel 102 Kenny, Anthony 34 Keyt, David 14, 17, 69 Kleisthenes 159 Kluge, Friedrich 98 Kolb, Frank 91-93 Koller, Ernst 133 Koslowski, Peter 73-75 Kraut, Richard 21-23, 26, 37, 39, 48, 112, 116f., 121, 125, 127 Kullmann, Wolfgang 13f., 27, 30, 33f., 38f., 42, 47, 56, 61, 68-71, 144f., 152f., 181

O Ober, Josiah 39, 41f., 46, 56

L Lauffer, Siegfried 63, 94f., 158f. Leidhold, Wolfgang 160 Liddell, Henry 98 Lotze, Detlef 40, 90, 158f. Luther, Martin 11

M MacIntyre, Alasdair 11, 126 Marx, Karl 70, 103f. Meier, Christian 40, 95, 180f. Meikle, Scott 72 Mesk, Josef 12 Meyer, Eduard 70 Mikkola, Eino 37, 98, 108, 110f., 122, 142f., 152 Miller, Fred 14, 17, 69 Montaigne, Michel de 84 Morus, Thomas 39 Mulgan, Richard 39

N Neschke-Hentschke, Ada 11f., 14f., 33, 36f., 61, 108-111, 141f.

P Patt, Walter 180 Pausanias 90f. Pellegrin, Pierre 61, 66 Perikles 60, 114 Phaidon 99-101 Phaidros 100 Pieper, Josef 97f., 104 Pindar 97-99, 104 Platon 12-14, 39, 53, 61, 99-102, 104, 108, 112 Plutarch 41 Prometheus 98

R Radermacher, Hans 19 Ramée, Pierre de la 11 Rapp, Christof 17, 19f., 108, 119, 126 Rawls, John 11 Reese-Schäfer, Walter 21 Ricken, Friedo 14-16, 18, 20, 27, 37, 60, 66-68, 71, 80, 83, 86, 135, 175 Rolfes, Eugen 17, 23, 26 Rousseau, Jean-Jacques 63 Ritter, Joachim 11, 153

S Schneider, Helmuth 92 Schischkoff, Georgi 108 Schöndorf, Harald 11 Schofield, Malcolm 64-66, 94, 115 Schütrumpf, Eckart 12, 19, 22-25, 30f., 33f., 36-42, 46, 48, 50, 56, 58, 79f., 111f., 114f., 117f., 121, 125-127, 141143, 145f., 150, 152, 154f., 163f., 182 Schmidt, Heinrich 108 Schneeweiß, Gerhart 155

Namensregister | 197

Schopenhauer, Arthur 103f., 108 Schuller, Wolfgang 160f. Schwarz, Franz 23, 26 Scott, Robert 98 Seneca 53, 101f., 112 Simpson, Peter 12, 15 Smith, Adam 59 Smith, David 64, 94 Sokrates 99f., 155 Solmsen, Friedrich 37, 53, 136, 164 Solon, 159 Stein-Hölkeskamp, Elke 40 Sternberger, Dolf 11 Stocks, John 37, 45, 100, 125f., 128, 130 Spahn, Peter 159f. Strauss, Leo 11, 181 Susemihl, Franz 22f., 124, 148

T Telesio, Bernadino 11 Themison von Zypern 155 Thomas von Aquin 11, 102 Thukydides 60, 92, 99, 114f. Trübner, Karl 98

V Varga, Simon 96

W Weber, Max 63 Welskopf, Elisabeth 97-99 Welwei, Karl-Wilhelm 92, 95 Whitehead, Alfred North 12 Wolf, Ursula 17, 63, 82, 124, 148

Z Zeus 98

Stellenregister Politik I 2, 1252a25ff: 62 I 2, 1252a32ff: 66 I 2, 1252b7: 65 I 2, 1252b9: 67 I 2, 1252b10ff: 67 I 2, 1252b27: 79 I 2, 1252b27ff: 68, 180 I 2, 1252b29: 71 I 2, 1252b30: 72 I 2, 1252b33: 68 I 2, 1253a1ff: 68 I 2, 1253a8ff: 70 I 2, 1253a15ff: 70 I 2, 1253a26: 71 I 2, 1253a28: 71, 166 I 2, 1253a31: 71 I 3, 1253b6: 66 I 5, 1254b22ff: 63 I 5, 1254b25ff: 66 I 8, 1256b27ff: 72 I 8, 1256b35ff: 73 I 8, 1256b36: 72 I 9, 1257a30: 73 I 9, 1257b40ff: 75 II 2, 1261a23ff: 179 II 8, 1269a8: 19 III 1, 1275a1ff: 76 III 1, 1275a6ff: 76 III 1, 1275a23: 76 III 1, 1275a33: 77 III 1, 1275b5: 78 III 1, 1275b18ff: 77 III 9, 1280b35: 80 III 9, 1280b38: 83 III 9, 1280b41ff: 80 III 11, 1282b5: 19 VII 1, 1323a14ff: 9, 21f., 181 VII 1, 1323a18ff: 55 VII 1, 1323a25ff: 24, 74 VII 1, 1323a34ff: 24 VII 1, 1323a40ff: 25 VII 1, 1323b3: 107

VII 1, 1323b4: 24 VII 1, 1323b40ff: 23 VII 2, 1324a23ff: 26 VII 2, 1324a25: 29 VII 2, 1324a27: 28 VII 2, 1324a28: 28 VII 3, 1325a15ff: 30 VII 3, 1325b15ff: 31, 107 VII 4, 1325b36, 39: 36 VII 4, 1325b38: 55 VII 4, 1325b38ff: 42 VII 4, 1326a5ff: 43 VII 4, 1326a35: 149 VII 4, 1326b3, 9, 24: 58 VII 5, 1326b26ff: 112 VII 5, 1326b28: 113 VII 5, 1326b30: 58 VII 5, 1326b33: 112 VII 5, 1326b33ff: 114 VII 5, 1327a3ff: 113 VII 5, 1327a4: 36, 112 VII 6, 1327a11ff: 43, 113 VII 6, 1327a18ff: 43 VII 6, 1327a26: 59 VII 6, 1327a26f: 58 VII 6, 1327a32ff: 44 VII 7, 1327b20: 114 VII 7, 1327b23: 65 VII 7, 1327b23ff: 114 VII 7, 1327b31: 115 VII 7, 1327b35: 115 VII 8, 1328a1ff: 115 VII 8, 1328a36: 116 VII 8, 1328a36ff: 117 VII 8, 1328b2ff: 48 VII 8, 1328b5: 48, 116 VII 8, 1328b6ff: 48 VII 8, 1328b16ff: 77 VII 8, 1328b20ff: 116 VII 9, 1328b34: 118 VII 9, 1328b40ff: 118, 125 VII 9, 1329a1: 119, 167 VII 9, 1329a1ff: 120, 141, 168

200 | Stellenregister VII 9, 1329a2ff: 119 VII 9, 1329a16: 120 VII 9, 1329a17: 120 VII 9, 1329a20: 120 VII 9, 1329a22: 145 VII 10, 1330a26: 36 VII 12, 1331a30ff: 44 VII 12, 1331b1ff: 45 VII 12, 1331b18ff: 46 VII 12, 1331b21: 36, 55 VII 13, 1332a5: 121 VII 13, 1332a31: 36 VII 13, 1332a33: 121 VII 13, 1332a34: 121 VII 13, 1332a40: 151 VII 13, 1332a41ff: 122 VII 14, 1332b12ff: 122 VII 14, 1332b25: 123 VII 14, 1332b37: 123 VII 14, 1333a2: 123 VII 14, 1333a10ff: 123, 167 VII 14, 1333a30ff: 124f. VII 14, 1333a43ff: 127 VII 14, 1333b31ff: 149, 154 VII 14, 1334a6: 130 VII 14, 1334a10: 128, 167 VII 15, 1334a11ff: 129 VII 15, 1334a15ff: 154 VII 15, 1334a17ff: 145 VII 15, 1334a18ff: 144, 166 VII 15, 1334a20ff: 130, 146, 167 VII 15, 1334a23: 151, 169 VII 15, 1334a23ff: 146, 149, 168 VII 15, 1334a35: 150 VII 15, 1334a36ff: 150 VII 15, 1334a40: 150 VII 15, 1334b3: 150 VII 15, 1334b6: 150 VII 15, 1334b25ff: 151 VII 16, 1335b20: 131 VII 17, 1336b39: 135 VIII 2, 1337b7: 132 VIII 2, 1337b11: 132 VIII 3, 1337b25: 133 VIII 3, 1337b28ff: 133, 135 VIII 3, 1337b32ff: 176 VIII 3, 1338a1ff: 134f.

Nikomachische Ethik I 1, 1094b3: 17 I 1, 1094b11, 15: 17 I 1, 1094b19ff: 19 I 2, 1095a20: 27 I 3, 1095b19f: 27 I 3, 1096a5ff: 28, 73 I 5, 1097a27ff: 81 I 5, 1097b1f: 81 I 5, 1097b10: 81 I 5, 1097b20: 81 I 8, 1098b12: 24 I 13, 1102a6: 123 I 13, 1102a23: 123 I 13, 1102a27: 62 I 13, 1102a33: 63 I 13, 1103a3ff: 63 I 13, 1103a4: 24 I 13, 1103a5: 151 II 2, 1104a1: 19 II 2, 1104a15ff: 24 II 9, 1109a25, b 15: 19 III 9, 1115a7ff: 146 III 10, 1115b17ff: 147 III 11, 1116a15: 147 III 11, 1116a28: 147 III 11, 1116b2: 147 III 13, 1117b28ff: 148 III 13, 1118a2: 148 III 13, 1118a24: 148 III 13, 1118b1ff: 148 III 13, 1118b10: 148 III 13, 1118b17f: 148 III 13, 1118b33: 149 V 1, 1129a11: 149 V 2, 1129a33: 149 V 8, 1133a17ff: 179 V 13, 1137a10ff: 149 VI 2, 1139a26: 17 VI 7, 1141a20: 157 VII 7, 1151b21: 27 VII 14, 1153b15ff: 74 VIII 1, 1155a5: 86 VIII 1, 1155a27: 150 IX 6, 1167a22: 84 IX 6, 1167b2: 84 IX 9, 1170a5ff: 85

Stellenregister | 201

IX 9, 1170a11: 85 IX 9, 1170b10ff: 86 X 4, 1175a15ff: 27 X 7, 1177a11ff: 29 X 7, 1177b5f: 124 X 9, 1178b33ff: 24 X 10, 1180a25: 135 X 10, 1181b15: 17

Part. an. II 10, 656a7ff: 70

Metaphysik I 1, 981b20ff: 103, 153f., 173 I 2, 982b22ff: 154 II 3, 995a15ff: 20 V 4, 1015a13ff: 62 VI 1, 1025b25f: 17, 156 VI 1, 1026a18: 152 X 10, 1181b15: 17 XI 7, 1064a10: 17 XIV 4, 1091b16: 60

Rhetorik I 1, 1354a1: 17 I 5, 1361a14ff: 74

De Anima II 2, 413b7: 62 II 2, 414a12: 62

Gen.An. II 1, 732b15ff: 70 IV 8, 776b8: 60

Hist. An. VIII 1, 588b4ff: 70

Eudemische Ethik VII 7, 1241a34: 85 VII 10, 1242a1ff: 85 VII 10, 1242a23: 67 VII 10, 1242b1: 67 VII 10, 1242b22ff: 85 VII 12, 1244b7: 60

Magna Moralia II 5, 1200b13ff: 71 II 15, 1212b36: 60

Protreptikos B 8: 156 B 41: 156 B 94: 156

Topik VI 6, 145a15f: 17 VIII 1, 157a10: 17