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German Pages 269 Year 1998
Opfer und Täter im SED-Staat
SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 58
Opfer und Täter im SED-Staat
Herausgegeben von
Lothar Mertens und Dieter Voigt
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Opfer und Täter im SED-Staat I hrsg. von Lothar Mertens und Dieter Voigt. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 58) ISBN 3-428-09422-0
Alle Rechte vorbehalten
© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gennany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-09422-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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INHALT Vorwort..........................................................................................................
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Katja Schweizer Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Vergangenheitsbewältigung ............. ll Manfred Graf von SchwerinlDieter Voigt Enteignung - Voraussetzung der kommunistischen Diktatur in der SBZIDDR ......................................................................................................... 41 Daniela Beutler/Wemer König "Geheime Lizenz zum Töten". Liquidierung von Feinden durch das Ministerium rur Staatssicherheit ...................................................................... 67 Wolfgang Welsch Repression und Folter an Untersuchungshäftlingen des MfS ........................ 101 Bemhard Marquardt Zur geheimdienstlichen Zusammenarbeit von MfS und KGB ....................... 115 Frank Petzold Der Einfluß des MfS auf das DDR-Grenzregime an der innerdeutschen Grenze. Anmerkungen zur Rolle des MfS bei der Errichtung des DDRGrenzregimes ................................................................................................. 135 Sabine Gries Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums rur Staatssicherheit der DDR: Täter oder Opfer? Eine Analyse von Diplomarbeiten und Dissertationen der Juristischen Hochschule Potsdam ............................................................ 169 Rainer Eckert Wissenschaftler als Täter - Wissenschaftler als Opfer. Die DDR-Intelligenz zwischen wissenschaftlichem Ethos und geheimdienstlicher Verstrickung ... 199 Wolfgang Buschfort Das Ostbüro der FDP und die Staatssicherheit .............................................. 209 Lothar Mertens "Überkommenes bürgerliches Relikt". Kriminalität in der DDR .................. 243 Verfasserinnen und Verfasser ........................................................................ 267
VORWORT Wer ist Opfer, wer ist Täter? Zu den politischen Intentionen der SEDFührer und denen ihres Ministeriums fUr Staatssicherheit gehörte es, möglichst viele DDR-Bürger durch Zwang und VerfUhrung zu ungesetzlichen Handlungen letztlich in kriminelles Handeln zu verstricken und dadurch fUr ihre Ziele zu instrumentalisieren und operationalisieren, um so das Machtmonopol der ParteifUhrer zu stabilisieren. Zum einen lassen sich Unrechtssysteme nur mit Unrecht errichten und erhalten. Zum anderen - so das Kalkül der Machthaber - konnte sich eine Person, die fUr die SED-Führung kriminell handelte (z.B. ein Todesschütze am "antifaschistischen Schutzwall") nicht mehr gegen sie stellen, ohne selbst zur Verantwortung gezogen zu werden. Es galt die Regel: Je größer die fUr die ErfUllung der SED-Ziele eingesetzte kriminelle Energie, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit der Flucht in den Westen oder der Opposition gegen das System. Und: Je mehr Mittäter, um so gesicherter war das Unrechtssystem. So vermischen sich in weiten Bereichen die Spuren von Opfern und Tätern - so wie nur frei sein kann, wer andere nicht unterdrückt. Doch die Giftmischer, Erpresser, Drehbuchschreiber, EntfUhrer, Mörder etc. des SED-Geheimdienstes waren auch selbst Opfer des kommunistischen Systems, das sie zum Verbrechen erzog. So sagte Erich Mielke auf der Delegiertenkonferenz der SEDGrundorganisation der Bezirksverwaltung Cottbus im Jahre 1979: "Man muß solche jungen· Tschekisten heraussuchen, herausfinden und erziehen, daß man ihnen sagt, du gehst dorthin, den erschießt du dort im Feindesland Da muß er hingehen und selbst wenn sie ihn kriegen [sic], dann steht er vor dem Richter und sagt: 'Jawohl, den hab ich im Auftrag meiner proletarischen Ehre erledigt!' So muß es sein! Das sind Aufgaben der FDJ". I Sicher, die von den ParteifUhrern verlangte "massenhafte Produktion" solcher "sozialistischen Persönlichkeiten" - zuverlässiger, SED-höriger Befehlsempfänger - mißlang; doch wurden wohl einige Hunderttausend zur Durchsetzung kommunistischer Ziele in den 40 Jahren in kriminelle Handlungen verstrickt. Zu konstatieren ist: Das Ministerium fUr Staatssicherheit war eine kriminelle Vereinigung.
Zit. in Auerbach, Thomas/Sailer, Wolf-Dieter: Vorbereitung auf den Tag X. Die geplanten Isolierungslager des MfS. Hg.: Der Bundesbeauftragte rur die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Reihe B: Analysen und Berichte, Nr. 1/95. Berlin 1995, S. 126.
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Vorwort
Viele Millionen wurden hingegen Opfer der SED-Diktatur. Etwa vier Millionen Menschen flohen aus der DDR. Wer blieb, konnte sich dem permanenten Druck kommunistischer Diktatur und allgegenwärtiger Indoktrination in der Regel nicht entziehen. Vor diesem Hintergrund wurde die 7. Tagung der Fachgruppe Sozialwissenschaft der Gesellschaft tUr Deutschlandforschung e.V. zusammen mit der Akademie für politische Bildung, Tutzing, zum Thema" Opfer und Täter im SED-Staat" konzipiert; dieser Band enthält die Referate, die im März 1997 in der Akademie tUr politische Bildung Tutzing gehalten wurden. Die Ergebnisse der Beiträge stimmen überein und ergänzen sich. Die schlimmste Folge aus vielen Jahrzehnten verbrecherischer Diktatur ist, daß sie die Menschen tief zeichnete, ihre Persönlichkeit verbog, verkrüppelte und zerstörte. Ganze Generationen wurden um Lebensglück und Freiheit betrogen, wurden der Arbeit entfremdet und jeder demokratischen Tradition und Erfahrung beraubt. Genau wissen das die, die aus dem Leben in der DDR flohen. Für sie waren die Diktatur der SED, die ständige Unfreiheit und Heuchelei unerträglich. Erziehung zum Haß, Zersetzung, EnttUhrung, Mord etc. waren gängige Arbeitsmethoden des SED-Geheimdienstes. Weder erklärte die Bundesregierung das Ministerium tUr Staatssicherheit zur kriminellen Organisation noch wurden die meisten SED-/MfS-Täter bestraft. Recht wurde in der DDR zur Beliebigkeit. Die Einsatzgruppen des SED-Geheimdienstes mit Mordauftrag wurden bisher noch kaum identifiziert. Extrem, wenn nicht bewußt verzögert verläuft auch die Enttarnung der westdeutschen informellen und hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Darin ist ein untragbarer Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz zu sehen. Wer als Westdeutscher tUr den SED-Geheimdienst arbeitete, hat sich doch unzweifelhaft (mehrfach) strafbar gemacht; übrigens auch wohl wegen Steuerhinterziehung. Die heute geübte Praxis, amtlich die Identifikation westdeutscher Mitarbeiter des Ministeriums tUr Staatssicherheit und des sowjetischen Geheimdienstes zu verschleppen, ist skandalös. Ist diese bewußte Vertuschung nicht Amtsmißbrauch, Strafvereitelung im Amt und strafbare Mitwisserschaft? Wer hat das angeordnet, und in wessen Auftrag geschah und geschieht dies? Opfer und kommunistische Täter stehen sich in der ehemaligen DDR wie ehedem in ihren alten Rollen gegenüber. Das ist eine beschämende, erniedrigende und unerträgliche Verhöhnung der Opfer der SED-Diktatur und stellt den Rechtsstaat in seinen Fundamenten in Frage. Erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland ist der Rechtsstaat ernsthaft gefahrdet. Die SED-Täter instrumentalisieren ihn tUr ihre Ziele und pervertieren und zerstören ihn damit. Heute bilden diese Täter das entscheidende Wähler- und Handlungspotential der PDS. Während alte Seilschaften der SED und ihres Repressionsapparates inzwischen Entscheidungspositionen in Politik, Rechtswesen, Wirtschaft und
Vorwort
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Kultur einnehmen und diese Kräfte den Aufbau Ost mit allen Kräften sabotieren bzw. für ihre eigenen Zwecke mißbrauchen, wird die moralische Kraft des Widerstandes gegen das verbrecherische SED-System nicht nur nicht genutzt, sondern geradezu ausgegrenzt. Die ehrenwerte öffentliche Anerkennung der wenigen Bürgerrechtler blieb bisher dem größten Teil der Opfer der SEDDiktatur versagt, obwohl sie unvergleichlich wichtiger für den Zerfall des kommunistischen Systems waren. Dabei war es für die Betroffenen weit gefahrvoller und schwieriger, diesen Widerstand vor der Wendezeit zu leisten; und das im gesamten Zeitraum der kommunistischen Diktatur von 1945 bis 1988. Sicher, schon 1990 finden wir in einer Erklärung der CDU: " Wir möchten lernen von denen, die in diesen dunklen Zeiten politischen Widerstand gewagt und geleistet haben. Diese Menschen sind der Stolz, und ihre Leistung ist der moralische Schatz unseres Volkes." Bundeskanzler Helmut Kohl erklärte auf dem CDU-Parteitag in Hannover: " Wer einmal die Käfige von Bautzen gesehen hat, den lassen diese Bilder nicht mehr los. Wir haben das nicht vergessen. Die, die sich der Diktatur mutig entgegengestellt haben und dafür ins Gefängnis gingen, die Widerstand leisteten, sind uns [... ] willkommen. .. Doch die Wirklichkeit in Deutschland sieht ganz anders aus. Die Repräsentanten der Republik haben noch keinen besucht oder empfangen, der aktiv vor der Wende Widerstand gegen das SED-Unrechtssystem leistete, dafür viele Jahre seines Lebens in DDR-Zuchthäusern verbringen mußte und sein Leben für die Freiheit einsetzte. Die Opfer der kommunistischen Diktatur werden wieder zu Unpersonen. Im Gegensatz dazu erhalten die Feinde der Demokratie und des Rechtsstaates bereits wieder Unterstützung durch unseren Staat. Durch die Implantation der Überbleibsel des kommunistischen Unrechtssystems in unser freiheitliches Gesellschaftssystem - ohne die Feinde der Demokratie vorher zu entmachten - wird zunehmend der Werte- und Normenkonsens in Deutschland gestört. Recht mutiert zur Beliebigkeit. Am schmerzlichsten spüren das zunächst die Opfer, denn sie verharren in ihrer sozialen Rolle. Der schon im Einigungsvertrag verhängnisvolle starke Einfluß der SED-Kader hat sich verstärkt. Schon jetzt haben die SED/PDS-Genossen mehr Macht, Einfluß und Einkommen als vor der Wende. Der Grund: Die Täter benutzen die Freiheit der bürgerlichen Demokratie und deren Institutionen für ihre systemzerstörerischen Ziele. Unser demokratischer Rechtsstaat ist der kompletten Eingliederung eines hochorganisierten Unrechtssystems nicht gewachsen. Er konnte nicht einmal das durch Verbrechen angehäufte Vermögen der SED vollständig beschlagnahmen, das letztlich doch ihren Opfern gehört. Bochum, im Juni 1997
Dieter Voigt
Katja Schweizer
MÖGLICHKEITEN UND SCHWIERIGKEITEN DER VERGANGENHEITSBEWÄL TIGUNG I. Einleitung Nach der Entnazifizierung muß sich das vereinigte Deutschland heute mit der "Entstasifizierung" auseinandersetzen. Nicht nur der Politikwissenschaftler Jesse spricht in diesem Zusammenhang von der "doppelten Vergangenheitsbewältigung" (1992, S.9) der Deutschen, da die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit selbstverständlich durch die neue Aufgabe nicht abgeschlossen ist, sondern wohl immer eine Herausforderung und ein aktuelles Thema rur alle Arten der Forschung bleiben wird. Die kommunistische Diktatur in der DDR und die verschiedenen Vorschläge oder Forderungen, wie in unserer Demokratie mit dieser Vergangenheit umzugehen sei, sind ein permanent aktuelles und heftig umstrittenes Thema der täglichen politischen Diskussion. "Mit einer Mischung aus wohliger Neugier und schauderndem Entsetzen verfolgt die Öffentlichkeit das Spektakulum, wer mit dem 'Stasi-Gift' - tatsächlich oder auch nur vermeintlich - kontaminiert ist. Mehr als 200 km Aktenbestand von über vier Millionen DDR- und zwei Millionen Bundesbürgern harren der Sichtung und bergen Sprengstoff in sich. Tun sich Abgründe auf? Hat man mit der Öffnung der Akten des Staatssicherheitsdienstes seit dem I. Januar 1992 auch die Büchse der Pandora geöffnet?" (ebd.).
Wie auch immer die strafrechtliche Aufarbeitung durch Gesetze und den Rechtsstaat die begangenen Taten beurteilt, welche Strafen auch ausgesprochen werden (können), es steht doch fest, daß die strafrechtliche Schuld nicht mit der historischen Schuld gleichbedeutend ist und daß ein freigesprochener Täter nicht gleichzeitig auch frei von Verantwortung und frei von Schuld ist, nur weil er strafrechtlich nicht zu belangen ist. Die Aufarbeitung der Vergangenheit hat also viele Gesichter. Die juristische Bewältigung steht gleichbedeutend neben der historischen, der politischen und der gesellschaftlich-moralischen. Jeder Zweig hat seine Beschränkungen und Probleme, doch in der komplexen, vernetzten Summe tragen sie der gesamtstaatlichen Verantwortung rur die Vergangenheit Rechnung. Exemplarisch rur die verschiedenen Varianten der Ver-
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Katja Schweizer
gangenheitsbewältigung soll hier die juristische und die gesellschaftlich-moralische in ihren Grundgedanken und Problemen ansatzweise dargestellt werden.
11. Juristische Vergangenheitsbewältigung - Siegerjustiz? Das Problem der juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit besteht zum einen in der Bestrafung der Täter, die sich in der DDR solcher Verbrechen bzw. allgemein: Straftaten - schuldig gemacht haben, die unter dem Begriff der Regierungskriminalität subsumiert werden können, also Taten, die im Namen, im Auftrag oder mit Billigung der SED-Regierung geschehen sind. Vor allem werden darunter die Tötung, die Inhaftierung, die Folterung, die Bespitzelung, die Verfolgung, die Erpressung, die EntfUhrung, die Zwangsadoptionen usw. hauptsächlich von politisch unliebsamen Personen oder Gruppen verstanden. Aber auch die Mauerschüsse und die Beschneidung von Rechten ganz "normaler", nicht-oppositioneller Bürger der DDR gehört in diesen Bereich. Des weiteren hat sich die Justiz auch mit der Rehabilitation von politisch Verfolgten zu befassen und u.a. Unrechtsurteilei aufzuheben, die in der DDR aus politischen Gründen und nicht selten im Auftrag und sogar mit Hilfe genauer "Regieanweisungen" der SED-Führung und des MfS geflillt wurden. Die bundesrepublikanische Justiz - in oberster Instanz der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht - ist in diesem Zusammenhang fUr die Klärung von Verantwortlichkeiten und Strafbarkeit bestimmter Delikte oder Personen zuständig (Grundsatzurteile \lnd -entscheidungen). Ein weiterer Bereich ist der Komplex Rückerstattung und Entschädigung, der Flüchtlinge oder politisch Verfolgte bzw. Gefangene betrifft. Seine Bewältigung ist Aufgabe der Justiz wie auch der Politik. Ebenfalls sind Fälle von Grundbuchflilschungen, also Verwaltungsunrecht zu ahnden, Wiedergutmachungsregelungen, offene Vermögensfragen zu klären,2 die Polizei und die Justiz neu zu ordnen. Alle diese Fälle sind unter die juristische Vergangenheitsbewältigung zu subsumieren. In den folgenden Punkten soll hauptsächlich auf die Fragen der Strafbarkeit, die Probleme einer Verfolgung von in der DDR geschehenen Straftaten, die Klärung der Verantwortlichkeiten (Beispiel: Mauerschützen), die Kritik an der Vorgehensweise und die formalen Bedingungen einer Strafverfolgung durch Z.B. Erstes und Zweites Unrechtsbereinigungsgesetz. 2
Gesetz zur Regelung offener Vennögensfragen, Entschädigungs- und Leistungsausgleich (EALG) vom 27. September 1994.
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die Bundesrepublik eingegangen werden, während die Rehabilitation und die Entschädigungsproblematik als eigene komplexe Themen in dieser Abhandlung nicht weiter vertieft werden.
111. Problematik der juristischen Aufarbeitung Der deutsche Rechtsstaat von heute hat große Schwierigkeiten mit der juristischen Vergangenheitsbewältigung eines totalitären Unrechtsregimes wie der SED-Diktatur in der DDR. Formale Gründe erschweren eine Vorgehensweise, die dem Gerechtigkeitsgefiihl der Menschen entspräche. Andererseits wird das bundesrepublikanische Rechtssystem heute häufig mit dem Vorwurf der Siegerjustiz konfrontiert. Diesem Vorwurf ist einiges entgegenzusetzen: Grundsätzlich gilt bei der juristischen Vergangenheitsbewältigung - wie bei allen juristischen Problemstellungen - das Legalitätsprinzip. Darunter wird verstanden, daß die Staatsanwaltschaft alle Straftaten, die ihr bekannt werden, zu verfolgen hat. Außerdem muß die DDR zur Zeit ihrer Existenz als eigener Staat gesehen werden, wodurch die Bundesrepublik verpflichtet ist, nur diejenigen Delikte zu verfolgen, die auch in der DDR nach ihrem eigenen Recht strafbar gewesen sind. Dabei ergeben sich verschiedene Schwierigkeiten. Zum Beispiel war der Strafrahmen nach DDR-Gesetz häufig wesentlich niedriger als in der Bundesrepublik, wobei allerdings die Richter diesen Rahmen nicht selten viel intensiver ausschöpften als im Westen üblich (EisenmannlHirscher 1993, S. 10). Die Einbeziehung der Rechtspraxis ist also in ihrer Bedeutung und ihren Auswirkungen nicht zu unterschätzen, das heißt, daß jetzt im Nachhinein schwer zu beurteilen ist, inwiefern fiir die heutige Strafbarkeit das kodifizierte Recht oder die Rechtspraxis entscheidend sind. Wenn also nach DDR-Recht geurteilt werden soll, welches Maßstab ist dann entscheidend? Ein besonders pikantes Beispiel ist dabei der Fall des Mauerschützen, der auch nach DDRRecht nur in Notwehr oder zur Abwehr von Gefahren jemanden töten oder verletzen durfte, aber praktisch bekanntlich nie dafiir bestraft, sondern - im Gegenteil - ausgezeichnet und beilirdert wurde. Diese Punkte sind allerdings nur die offensichtlichsten und weniger diffizilen, doch läßt sich anband dieser unschwer demonstrieren, mit welchen unendlichen Problemen die juristische Vergangenheitsbewältigung behaftet ist. Menschenrechtsverletzungen wären da leichter zu entscheiden, da die DDR die Menschenrechtskonvention unterzeichnet - allerdings nicht ratifiziert und nicht in innerstaatliches Recht transformiert - hat, worin dann wieder eine besondere Schwierigkeit besteht. Doch im § 95 StGBIDDR wurde ausge-
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schlossen, nationale Gesetze zu verabschieden, die gegen Völkerrecht verstoßen würden (EisenmannlHirscher 1993, S. 10 f.). Die bei den Aspekte der juristischen Vergangenheitsbewältigung bestehen in der Bestrafung der Täter und in der Rehabilitation der Opfer. Auch in der Frage der Rehabilitierung der Opfer der SED-Justiz ist die bundesrepublikanische Rechtsprechung gefordert. Die Rehabilitation tritt allerdings in den Hintergrund angesichts der als dringender empfundenen Verfolgung der Täter. Die Opfer drängen jedoch nach wie vor auf ihre Rehabilitierung - häufig mehr als auf die Verurteilung der Menschen, die an ihrem Schicksal schuld waren. Rachegelüste können der Mehrzahl der Opfer also schwerlich unterstellt werden.
IV. Kritik an der juristischen Aufarbeitung Der erste der entscheidenden Kritikpunkte in der Diskussion ist also der Vorwurf der Siegerjustiz, die einem souveränen Staat seine eigenständigen Rechtsprinzipien und seine eigene Rechtspraxis abspreche, indem im Nachhinein zu Unrecht würde, was zur Zeit der DDR Recht gewesen sei. 3 Die juristische Auf- bzw. Bearbeitung entbehre jeder Rechtsgrundlage und entspringe einer Macht, die die Sieger über die Besiegten heute ausüben könnten. Die andere völlig entgegengesetzte Auffassung, zu deren provokativem Sprachrohr sich Bärbel Bohley machte, als sie voller Ungeduld und Resignation meinte, man habe Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen, beklagt, eine zu milde Behandlung der Täter, die quasi höhnisch auf den Rechtsstaat blickten, der ihnen nichts antun könnte und eine zu langsame Vorgehensweise bei der Untersuchung und gerichtlichen Verfolgung der Straftaten (Schroeder 1993, S. 40). Zum Vorwurf Bohleys ist mit Wolfgang Thierse zu sagen, daß der Rechtsstaat sich eben gerade dadurch auszeichnet, daß er nicht auf Rache aus ist und sich auch nicht zum Instrument einer als gerecht empfundenen Rache machen wird (Thierse 1996, o.S.). Langsam mahlen die Mühlen der Justiz vor allem deshalb, weil es ihre Aufgabe ist, individuelle Schuld, individuelle Verantwortung festzustellen und das Ausmaß der Beteiligung zu klären, was nur zu oft sehr schwer ist. Verständlich ist allerdings eine gewisse Empörung oder Verbitterung angesichts der Tatsache, daß genau die Menschen, die während der gesamten Existenz der DDR die Prinzipien des Rechtsstaates verhöhnt und mit Füßen getreten haben, jetzt von den Vergün3
Man filhlt sich an den Fall Filbinger erinnert.
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stigungen eben dieses von ihnen nie respektierten Rechtsstaates profitieren werden. Gemeinhin wird angenommen, daß solche Menschen den Anspruch auf eine rechtsstaatliche Behandlung verwirkt haben. "So einleuchtend der Gedanke dieser Verwirkung ist, so läßt sich wohl kein Rechtsstaat darauf aufbauen, daß man ihn zunächst verletzt. Der Rechtsstaat ist unverwirkbar " (Schroeder 1993, S. 41). Vor allem bedrängte Täter wiederum sehen sich gerne als Opfer einer bundesrepublikanischen "Siegerjustiz" , um den Spieß der Opfer-Täter-Rollenverteilung umdrehen zu können, was auch zur Erleichterung des Gewissens beitragen mag. Doch "Siegerjustiz" ist den Behörden genauso wenig eindeutig zu unterstellen wie eine zu milde Behandlung der Täter. Der so oft zitierte Volksmund beklagt stets, man ließe die Großen laufen, während man die Kleinen hänge. Diesen Vorwurf kann die bundesrepublikanische Justiz deshalb zurückweisen, weil sie sich an bestimmte, juristisch zwingende Abläufe halten muß, die bestimmen, mit dem Tatnächsten sei bei der Strafverfolgung zu beginnen und von dort die Täterkette bis zum Auftraggeber, bzw. in diesem Fall Staatsmann und Gesetzgeber, weiterzuverfolgen. Inzwischen stehen ja auch Mitglieder der DDR-Führungsriege vor Gericht. Andere - immer noch streitbare Punkte - sind allerdings das Strafmaß der Urteile, die ausgesprochen und von Kritikern als viel zu milde bezeichnet wurden, sowie die unzähligen, vor allem aus Gründen des Alters oder Krankheit der Angeklagten eingestellten Prozesse. Die einzige Alternative zur zwingenden Strafverfolgung gemäß dem Legalitätsprinzip wäre eine Generalamnestie, die der Gesetzgeber beschließen müßte und die offensichtlich nicht im Interesse der Mehrzahl der Bevölkerung der ehemaligen DDR liegt, die auf eine strafrechtliche Aufarbeitung drängt und hofft. Es kann also festgehalten werden, daß es nicht im persönlichen Ermessen einzelner oder irgendwelcher "Rächer" liegt, welche Taten verfolgt werden (Kittlaus 1995, S. 4). In Bezug auf den Vorwurf der Siegerjustiz ist zudem der Frage nach dem vermeintlichen Sieger nachzugehen. Wer waren denn die Sieger, wenn nicht die DDR-Bevölkerung selber, die in ihrer Volksbewegung von 1989 und in ihrer frei gewählten Volkskammer die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit forderten? Außerdem sind es ja vor allem Stimmen aus der ehemaligen DDR, welche die strafrechtliche Verfolgung der Täter fordern. Der Vorwurf entbehrt auch der Beweiskraft angesichts der Unbeholfenheit, mit der die angeblichen Sieger sich durch formale Schwierigkeiten der strafrechtlichen Verfolgung quälen und die u.a. darin zum Ausdruck kommt, daß trotz umständlicher Konstruktionsversuche es in vielen Fällen bisher nur möglich war, "große" SED-
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Verbrecher wie Mielke - und nicht nur ihn4 -, wegen nicht verjährter früherer StraftatenS und nicht wegen ihrer Taten und ihrer Verantwortlichkeit in der DDR zu belangen. Dies ist allerdings auch ein Umstand, der zu recht zu unzähligen Irritationen in der Bevölkerung - West wie Ost - führt. In den Augen der Opfer hat die juristische Vergangenheitsbewältigung, verbunden mit juristischer Verfolgung und Prozessen gegen die Täter, eine nicht zu leugnende Bedeutung. Müssen sich die Täter konkreten Anklagen und ihren juristischen Folgen stellen - so die Hoffnung der Opfer -, können sie sich der Bewältigung ihrer eigenen Vergangenheit nicht länger verschließen, sie nicht mehr länger ignorieren oder vergessen. Sie müssen sich ihrer eigenen Taten bewußt werden und ihren Opfern gegenübertreten, die auch das Recht haben, von denjenigen, denen sie früher wehr- bzw. chancenlos ausgeliefert waren, Rechenschaft zu verlangen. Konkret sind unter die zu bestrafenden Straftaten des SED-Regimes, die der juristischen Aufarbeitung harren, eine lange Liste von Einzelhandlungen zu subsumieren, die Schroeder zusammenfaßt: "Das war vor allem die grausame Unterbindung von Versuchen zur Gewinnung der Freizügigkeit mit gezielten Todesschüssen, mit Todesautomaten, mit völkerrechtlich verbotenen Dumdumgeschossen, mit Minen und Einsperrung; dann die rücksichtslose Ausbeutung und die Tötung und Gesundheitsbeschädigung durch die Vernachlässigung der ärztlichen Hilfe und der Sicherheitsbestimmungen im Strafvollzug; die Unterstützung von terroristischen Attentaten im Westen; der Kinderraub durch Wegnahme von Kindern und Vermittlung der Adoption durch Fremde; die Zerstörung von Kulturdenkmälern zur Auslöschung der Vergangenheit (es ist bekannt, daß vor allem in den ersten Nachkriegsjahren viele durchaus noch reparaturfähigen Gebäude zerstört worden sind, um auf diese Weise mit der Vergangenheit rücksichtslos zu brechen); die Zerstörung der Umwelt (die nicht nur fahrlässig erfolgte, sondern sehenden Auges, um die übermäßige Rüstung, den Grenzschutz und andere Unterdrückungsziele finanzieren zu können); die Entziehung des Eigentums gegenüber weiten Schichten der Bevölkerung; ein ständiger Betrug bei Wahlen; die Vernichtung von Ausbildungsund Berufschancen; die Ausspionierung aller privaten Lebensäußerungen und die Zerstörung der Vertrauensbeziehungen durch ein ausgeklügeltes Spitzelsystem; die planmäßige seelische Zerrüttung von politischen Gegnern (für die der schreckliche Begriff der 'Zersetzung' geprägt worden war); Hirnoperationen an Geisteskranken zur Reduzierung des Pflegeaufwands; Tötung Frühgeborener zur Verbesserung der Statistik der Säuglingssterblichkeit - die Liste der Taten, 4
Harry Tisch, Vorsitzender des Freien Gewerkschaftsbundes und langjähriges Mitglied des Politbüros wurde nach DDR-Gesetzen wegen finanzieller Untreue angeklagt und verurteilt.
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Mielke stand wegen des Mordes an zwei Polizisten im Jahre 1931 vor Gericht.
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die für unser Rechtsgefühl unerträglich sind, reißt gar nicht ab" (Schroeder 1993, S. 39 f.).
V. Rechtliche Grundlagen der strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Unrechts Wenn also die moralischen und juristischen Argumentefür eine Strafverfolgung der SED-Verbrechen und -Vergehen akzeptiert wurden, stellt sich das nächste - schon angesprochene - Problem, wie die Strafverfolgung anzugehen sei. Nach welchen Gesetzen und welchem Recht sollen und können die Taten der Angeklagten verhandelt werden? Der Rechtsstaat verbietet es, jemanden nach Gesetzen zu richten, die zur Zeit der Tat nicht rur ihn galten. Räumliche Bedingungen rur die Anwendung des bundesrepublikanischen Strafrechts sind wesentlicher Konfliktstoff rur die justizielle Strafbarkeitsdiskussion. Nach dem Krieg betraf § 3 des StGB - das deutsche Strafrecht gilt rur Taten, die im Inland begangen werden - zunächst nach offizieller Definition das Staatsgebiet in den Grenzen vom 31. 12. 1937, was schon deshalb paradox war, weil die Bundesrepublik danach Taten eines Gebietes strafrechtlich verfolgen konnte, das gar nicht ihrer Ordnung unterworfen war. Durch die vorläufige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze 1970 und den Grundlagenvertrag 1972 wurde dieses Mißverhältnis beendet. Rechtspraxis und kodifiziertes Recht gingen seitdem bei dem Begriff Inland vom Bundesgebiet sowie West-Berlin aus. Diese Definition entsprach dem "funktionalen Inlandsbegriff' und war von keiner völkerrechtlichen Bedeutung. Man spricht in diesem juristischen Zusammenhang vom Territorialitätsprinzip (Jakobs 1992, S. 49). Erkennt man die DDR als (benachbartes) Ausland an, so muß klar werden, wie heikel eine Verurteilung einzelner Menschen eines Staates durch einen anderen ist. Also stellt sich schnell heraus, daß rur die Strafverfolgung von Bürgern der ehemaligen DDR einzig und allein DDR-Recht gelten darf. Problematisch dabei ist wiederum, daß von den Menschen in einem Rechtsstaat dieses DDR-Recht als Unrecht empfunden wurde, weshalb es mit der Vereinigung am 3. Oktober 1990 aufgehoben wurde. Damit wurde ausgeschlossen, die Verbrechen nach diesem Recht zu verfolgen, da es ja nicht mehr existierte. "Das Recht, das wir für gerecht halten, hat für die Täter nicht gegolten, als sie ihre Taten begangen haben; das Recht, das für sie gegolten hat, ist jetzt als ungerecht beseitigt" (ebd., S. 50) Geregelt wurde diese Konfliktsituation im Einigungsvertrag so, daß angenommen wurde, das Recht hätte sich in einem Staate einfach geändert - wie beispielsweise mit einer neuen Gesetzgebung; in diesem Fall hat im Zweifel 2 Merlens I Voigt
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gemäß § 2 Abs. 3 des Strafgesetzbuches das mildere Recht zu gelten, damit dem Angeklagten kein Nachteil entstehen kann. Was die Behandlung nach dem milderen Recht betrifft, ist die Durchfilhrung jedoch komplizierter als anzunehmen, denn nicht in allen Fällen war der Straftatbestand in beiden Gesetzesbüchern vorhanden und wurde nur unterschiedlich geahndet. Eine Tat fällt nach bundesrepublikanischem Recht nicht selten unter einen Straftatbestand, den es in der DDR gar nicht gegeben hat und umgekehrt. In diesen kritischen Fällen entscheidet sich der Bundesgerichtshof filr die ihm angemessen erscheinende Lösung und bleibt von heftiger Kritik nicht verschont. Wieder zeigt sich auch die Problematik (wie im Fall der Behandlung von Mauerschützen durch die DDR-Justiz) des Unterschiedes zwischen kodifiziertem Recht und der Rechtspraxis. Überraschenderweise waren nämlich - wie zuvor erwähnt - in der DDR die gesetzlich vorgegebenen Höchststrafen geringer als in der Bundesrepublik. Doch in der Praxis wurden diese gesetzlichen Rahmenbegrenzungen meist bis zur Obergrenze ausgeschöpft, während in der Bundesrepublik die ausgesprochenen Strafen geringer ausfielen, aber der gesetzlich vorgegebene Rahmen weiter ging. Welches ist also das mildere Recht? Wie läßt sich feststellen, wie ein DDR-Richter im jeweiligen Fall entschieden hätte, falls die Rechtspraxis als ausschlaggebend gelten soll? Entscheiden sich die Richter filr das unzweifelhafter festzustellende kodifizierte Recht, so kommt meist DDR-Recht zur Anwendung - also Unrecht. Ein wahres Dilemma offenbart sich den Entscheidungsträgern. Die Regelung des milderen Rechtes birgt noch weiteren Konfliktstoff. Das anschauliche Beispiel der Mauerschützen, bei dem dem Außenstehenden die Lösung so einfach erscheint, verdeutlicht dies: Tötung, Körperverletzung und Freiheitsberaubung waren auch in der DDR strafbar. Allerdings ließ das Gesetz vielfiiltigere Rechtfertigungsgründe zu. Das Grenzgesetz der DDR erlaubte beim Versuch der "unerlaubten Grenzübertretung .. den Gebrauch von Schußwaffen - wobei konkret immer Grenzübertritte und Angriffe von außen explizit erwähnt wurden. Damit ist es eindeutig das mildere Recht - so sehr es Bürgern eines Rechtsstaates widerstrebt. Die Frage stellte sich, ob dieses Recht deshalb zur Anwendung kommen darf und der Mauerschütze freigesprochen wird. Diese Fragestellung kann wiederum auf verschiedene Arten gelöst werden. Die eine Auffassung besagt, daß diese Fälle den Menschenrechten widersprechen und deshalb das DDR-Recht nicht gelten darf. Dies birgt das Problem in sich, daß es den Anschein haben könnte, man bediene sich nur in manchen eventuell willkürlich gewählten - Fällen der DDR-Recht-Regelung, in anderen dagegen behelfe man sich mit dem Bezug auf Menschenrechtsverletzungen. Ein Nachgeschmack bleibt also. Die andere Möglichkeit dieses Problem zu lösen, fand der Erlanger Strafrechtsprofessor Hruschka, indem er der DDR generell abspricht, daß dort
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irgendein Recht geherrscht habe. Doch er erklärt damit die DDR zu einem Gebiet ohne Rechtsordnung, wodurch Verbrechen, die in diesem rechtlosen Gebiet begangen wurden, nach bundesrepublikanischem Recht abgeurteilt werden können (gemäß § 7 StGB). Der gedankliche Hintergrund dieser Regelung ist eigentlich ein Gebiet wie die Wüste oder die Antarktis; auf die DDR angewandt, bedeutet dies, sie zu einer "rechtlichen Antarktis" zu erklären (Schroeder 1993, S. 46). Das ist natürlich schon deshalb Unsinn, weil auch Unrecht" irgendein Recht" ist. Sicherlich kein harmloser Scherz, sondern eher ein unangenehmer und heikler Vergleich. Das Landgericht Berlin entschied nach einer dritten Variante. § 27 des Grenzgesetzes der DDR besagt nämlich, die Anwendung der Schußwaffe sei nur zur Verhinderung von Verbrechen erlaubt, wodurch ausgeschlossen wird, daß ein Grenzschützer jeden, der einen Fluchtversuch unternahm, erschießen dürfte. Um das "Verbrechen" der "Republikflucht' zu verhindern, wäre wohl in den meisten Fällen ein Schuß beispielsweise in die Beine ausreichend gewesen. Feuerte nun also ein Grenzer fanatisch und unverhältnismäßig auf einen Flüchtling, so handelte er auch nach DDR-Recht strafbar (Schroeder 1993, S.46). Die Rechtspraxis allerdings war in der DDR eine bekanntermaßen andere. Doch auch in der DDR war niemand gesetzlich verpflichtet zu morden oder gar flüchtige Frauen und Kinder zu metzeln, teilweise nachdem sie sich schon ergeben hatten und umgekehrt waren. Zumindest diese Menschen zu bestrafen, ist den Gerichten mit dieser Regelung inzwischen relativ problemlos möglich.
VI. Schießbefehl Seit das Protokoll einer Geheimsitzung des Nationalen Verteidigungsrates6 vom 3. Mai 1974 gefunden wurde, in dem die Anordnungen zum Schußwaffengebrauch an der Grenze erneuert wurden, sind die Verantwortlichkeiten nicht mehr ungeklärt. Der entscheidende Passus dieses Protokolls lautet: "Nach wie vor muß bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die von der Schußwaffe Gebrauch gemacht haben, zu belobigen" (zitiert nach Wassermann 1991, S.121). In der Folge der Entdeckung dieses Protokolls wurde in erster Linie gegen Erich Honecker ein Haftbefehl ausgestellt, der zu dieser Zeit in der Sowjet6 2"
vgl. GKdos-Nr. 19/74
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union Zuflucht gesucht hatte und deshalb nicht belangt werden konnte. Nachdem die Berliner Staatsanwaltschaft die Statuten und die Abstimmungsgepflogenheiten im Nationalen Verteidigungsrat näher untersucht hatte, nahm sie keines der Mitglieder von der Verantwortung für die Beschlüsse aus. Die 1991 noch nicht verstorbenen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates und diejenigen, die nicht am 3. Mai 1974 gefehlt hatten - also alle, die an dieser Sitzung teilgenommen hatten - wurden daraufhin im Mai 1991 verhaftet: der ehemalige Ministerpräsident Stoph, der ehemalige DDR-Verteidigungsminister Keßler, der langjährige Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Suhl Hans Albrecht und der frühere Sekretär des Verteidigungsrates Streletz (späterer Generaloberst und stellvertretender DDR-Verteidigungsminister). Die Problematik des Schießbefehls muß sich neben der Zuordnung der Verantwortung auch der Frage der Verhältnismäßigkeit stellen, einem Prinzip, das zu den Rechtsgrundsätzen gehörte, die ihre Geltung von der Antike bis heute bewahrt haben; die Frage ist, ob ein Schießbefehl dem angestrebten Ziel nämlich die DDR-Bürger auch gegen ihren Willen in der DDR zu halten verhältnismäßig entspricht. Ist das Ziel die vielen Menschenleben wert gewesen? Nach überpositiven Rechtsprinzipien muß diese Frage aus menschenrechtlichen Gründen verneint werden. Die für den Schießbefehl Verantwortlichen können also gemäß dieser Regelung dafür belangt werden, diesen Befehl gesetzmäßig verankert zu haben. Bei den ausführenden Schützen ist die Problemstellung noch komplexer. Die DDR-Grenztruppen waren eine elitäre Gruppe, deren Mitglieder allesamt Mitarbeiter der Staatssicherheit waren. Als Elitetruppe wurde auf ihre ideologische Schulung besonderer Wert gelegt; sie waren damit der Indoktrination zum sozialistischen Haß gegen die imperialistische Bundesrepublik in extremem Maße ausgesetzt. Dadurch galt ihnen jeder "Republikflüchtling" als Feind der DDR und Verräter. Doch allein die Tatsache, daß immer wieder selbst Grenzsoldaten zu den Flüchtlingen gehörten, demonstriert anschaulich, wie wenig absolut selbst eine solche ständige "Einhämmerung" von Denkvorgaben möglich war (Wassermann 1991, S. 126). Damit kann den Grenzsoldaten nicht pauschal unterstellt werden, daß sie unreflektiert einem Denkschema und einem Befehl gefolgt seien. Selbst auf solche Art intensiv beeinflußte Menschen konnten also nicht zu gefühl- und kritiklosen Werkzeugen einer menschenverachtenden Diktatur gemacht werden. Es gab auch Gegenbeispiele. Ihnen muß in jedem Fall unterstellt werden, daß sie sich ihre eigenen Gedanken gemacht und selbst entschieden haben, wie sie sich im Falle einer Flucht bzw. eines Grenzdurchbruchs während ihres Dienstes verhalten würden. Es zeugt fUr die Unsicherheit der menschlichen Natur, daß die meisten Grenzsoldaten beteuern, stets gehofft zu haben, nicht auf diese Probe gestellt zu werden, d.h. sich in einem akuten Fall aus der jeweiligen Situation heraus nicht entscheiden zu müssen. Des weiteren gab es
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immer auch Fälle, in denen bewußt daneben geschossen wurde. Dies und die Tatsache, daß die Zentrale Stelle in Salzgitter bei den Grenzsoldaten so gefUrchtet war, belegt, daß diese Menschen den Befehl durchaus vor ihrem Gewissen in Frage gestellt haben. Ein Unrechtsbewußtsein kann damit unterstellt werden. Wassermann führt ein BGH-Urteil ins Feld, das sich zur rechtlichen Beurteilung von Straftaten äußert, die staatliche Machthaber unter Mißbrauch ihrer Befugnisse befohlen haben. Im Stachinski-Urteil vom 19. Oktober 1962 7 wird klargestellt, daß diese Befehle nicht von einer strafrechtlichen Schuld der ausfUhrenden Befehlsempfänger befreien. "Jedermann, so der Bundesgerichtshof, muß sich von Verbrechen fernhalten, auch wenn diese unter Mißbrauch staatlicher Befugnisse gefordert werden" (Wassermann 1991, S. 126).
VII. Befehlsnotstand - entschuldigender Notstand Den Entschuldigungstatbestand des Befehlsnotstandes kennen sowohl bundesrepublikanisches wie auch DDR-Recht nur dann, wenn sich der Betreffende selbst im Falle der Befehlsverweigerung in akuter Gefahr befunden hätte und sich nicht anders retten konnte, als mit der Ausführung des Schießbefehls. Unter Gefahr wird ein Zustand verstanden, der eine Schädigung in Aussicht stellt oder höchstwahrscheinlich macht. D.h. es ist zu fragen, ob sich der Grenzsoldat nicht anders als mit dem Einsatz der Waffe helfen konnte und ob er sich in akuter Gefahr befunden oder gefühlt habe. Dabei stellt sich die Frage nach den möglichen Folgen einer Verweigerung der Ausführung des Schießbefehls. "Das bedeutet, daß Befehlsnotstand ausgeschlossen ist, wenn der Schütze dem Befehlsgeber willfährig sein oder bei seinem Vorgesetzten nicht den Eindruck der Unfähigkeit erwecken wollte, ferner wenn der Gehorsam ihm selbstverständlich oder unter den gegebenen Umständen als bequem erschien, sozusagen als Weg des geringsten Widerstandes; Karrierestreben, Charakter- oder Willensschwäche entschuldigen nicht. Es ist bemerkenswert, daß in den NS-Gewaltverbrecherprozessen selbst bei SS-Angehörigen kein Fall nachgewiesen werden konnte, in dem die Verweigerung verbrecherischer Tötungsbefehle zu anderen Nachteilen als dem einer Nichtbeförderung führte" (Wassennann 1991, S. 127 f.).
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vgl. BGHSt Bd. 18, S. 87
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Laut DDR-StrafgesetzbuchS wurde den Grenzsoldaten allerdings mit Freiheitsstrafen oder Strafarrest gedroht, sollten sie die Vorschriften des Grenzgesetzes oder ihre Dienstvorschriften verletzen. Deshalb darf in keinem Fall von vornherein ausgeschlossen werden, daß sich der Betreffende im Befehlsnotstand befand oder zumindestjUhlte. Doch nach Aussagen von NVA-Angehörigen bestand die Möglichkeit, sich dem Dienst an der Grenze ganz zu entziehen. Die Alternative, im akuten Fall daneben zu schießen, die während des Dritten Reiches ebenfalls bestand, und in beiden Diktaturen auch praktiziert wurde, war auch jedem DDR-Grenzsoldaten unbenommen. Daß die vor Gericht stehenden Grenzschützen(r) ein Unrechtsbewußtsein haben bzw. hatten, wird dadurch bewiesen, daß kaum einer von ihnen sich darauf berief, im unerschütterlichen Glauben an die Richtigkeit des Schießbefehls gehandelt zu haben (Wassermann 1991, S. 128). In Bezug auf mögliche Rechtfertigungsgründe wird untersucht, ob den Grenzsoldaten, die geschossen haben, nach ihren "Erkenntniskräften und sittlichen Wertvorstel/ungen" eine Prüfung ihres Gewissens möglich gewesen wäre, die sie hätte erkennen lassen können, daß das Schießen auf einen Menschen, der die DDR verlassen wollte, um in die Freiheit zu gelangen, Unrecht war. Dies wird positiv beantwortet. "Der Verbotsirrtum,[9; K.S.] auch wenn er auf Indoktrination beruht, entschuldigt also in diesem Falle nichts" (ebd., S. 129). In jedem Fall müssen aber die genauen Umstände (evtl. Abhängigkeiten), unter denen es zum Schuß bzw. zu den Schüssen kam, im jeweiligen Einzelfall untersucht und geprüft werden; der Ausgang des Urteils steht durch die grundsätzliche rechtliche Beurteilung keinesfalls schon vorher fest. Verstrickung und Indoktrination dürfen allerdings keine Milderungsgründe darstellen, auch wenn dies verfilhrerisch nahe liegen würde, da dies die Täter zu Opfern machen würde, unter die sie aus den genannten Gründen wohl in den seltensten Fällen wirklich einzuordnen sind. Die rechtliche und moralische Verantwortung darf den Todesschützen nicht abgenommen oder abgesprochen werden. Im übrigen enthält interessanterweise gerade das Strafgesetzbuch der DDR eine Regelung, die genau dies bestätigt - § 95 StGB/DDR: "Auf Gesetz, Befehl oder Anweisung kann sich nicht berufen, wer in Mißachtung der Grund- und Menschenrechte, der völkerrechtlichen Pflichten oder der staatlichen Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik handelt; er ist strafrechtlich verantwortlich ".
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DDR-StGB von 1974: § 262.
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gern. § 17 StGB.
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VIII. Rechtliche Regelungen zur Grenz-"sicherung" Um besser verstehen und sich ein Urteil bilden zu können, auf welche gesetzlichen Grundlage die Mauer- bzw. Grenzschützen sich heute zu ihrer Rechtfertigung berufen, werden im folgenden die rechtlichen Regelungen ausgefUhrt. Die Anordnung über die Ordnung in den Grenzgebieten und den Territorialgewässern der DDR (GrenzO) vom 15. Juni 1972 (GBI 11, S. 483) hielt in § 62 fest, daß die Angehörigen der Grenztruppen von der Schußwaffe nur nach entsprechenden militärischen Bestimmungen des Nationalen Verteidigungsrates Gebrauch machen durften. Damit ist die Verantwortung des Nationalen Verteidigungsrates fUr die Schüsse an der Grenze eindeutig und unbestreitbar. Zusätzlich zu den oben aufgefUhrten Bestimmungen des VoPoG ist im Gesetz über die Staatsgrenze der DDR (GrenzG) vom 25. März 1982 (GBI I, S. 197) im IV. Abschnitt den Regelungen über den Einsatz von Schußwaffen hinzugefUgt, daß "die Anwendung der Schußwaffe {..] die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen" darstellt, die unter anderem dann gerechtfertigt ist, wenn damit" die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern" ist, "die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt" (BVerfG-Urteil vom 24.10.1996 zu 2 BvR 1851/94 u.a., S. 10). "Die vom Minister fllr Nationale Verteidigung erlassenen Befehle und Dienstvorschriften fllr den Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze sollten nach einem Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates vom 14. September 1962 den Angehörigen der Grenztruppen verdeutlichen, daß sie 'auf ihren Posten in vollem Umfang fllr die Gewährleistung der Unantastbarkeit der Staatsgrenze in ihrem Abschnitt verantwortlich sind und Grenzverletzer in jedem Fall als Gegner gestellt, wenn notwendig, vernichtet werden müssen'" (ebd. S. 10 f.)
In regelmäßigen Abständen beschloß der Nationale Verteidigungsrat neue Maßnahmen, um die Sicherung der Grenze weiter auszubauen, unter anderem um überall ein einwandfreies Schußfeld zu gewährleisten, wie aus einem Protokoll hervorgeht. Des weiteren wurde genauestens festgelegt, daß und wie die "Genossen, die die Schußwaffe erfolgreich angewandt" hatten, zu belobigen seien. Gegenargumente oder Einwände sind nicht protokolliert (ebd. S. 12). Der unbedingte Schutz der Grenze hatte Priorität vor Menschenleben; so wurde in Anordnungen und Befehlen des Ministers fUr Nationale Verteidigung ausdrücklich gefordert, Grenzverletzer festzunehmen bzw. zu vernichten (ebd. S. 12). Streletz und Keßler lO waren als Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates - NVR - (bis 1989) und als Minister fUr Nationale Verteidigung 10 Keßler war außerdem ab 1957 Chef der Luftwaffe der NVA, ab 1967 Leiter des Hauptstabes der NVA und damit Mitglied des NVR).
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(Keßler, seit 1985) und dessen Stellvertreter (Streletz, seit 1979) - laut BVerfG - "am Zustandekommen dieser Befehle an maßgebender Stelle beteiligt, ebenso am Inkrafttreten des entsprechenden Befehls aus dem Jahre 1976, in dem die Formulierung, Grenzverletzer seien 'zu vernichten', nicht mehr enthalten war" (ebd. S. 12). Deshalb wurden sie wegen des Deliktes der Anstiftung zum Totschlag und Albrecht, der seit 1963 Mitglied des Zentralkomitees der SED und ab 1972 Mitglied des NVR war, wegen Beihilfe zum Totschlag verurteilt. Ziel aller geplanten und durchgefiihrten Maßnahmen zur Verschärfung der Grenzsicherung war es, "günstigere Bedingungenfür den Einsatz der Grenztruppen der DDR zu schaffen, politischen Schaden von der DDR abzuwenden und zu verhindern, daß Personen verletzt das Territorium der BRD erreichten" (ebd. S. 13). Trotz der Theorie der Abwehr des Angriffs von außen durch die Grenzschützer wurde unauffiillig der folgende Unterpunkt in 204 der "DV-30/10 Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie" miteingebracht, der besagt, die Schußwaffe sei auch "zur vorläufigen Festnahme von Personen, die sich den Anordnungen der Grenzposten nicht fügen, indem sie auf den Anruf 'Halt - Grenzposten - Hände hoch!' oder nach Abgabe eines Warnschusses nicht stehenbleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu durchbrechen, und keine andere Möglichkeit zur vorläufigen Festnahme besteht, [.. .]" (ebd. S. 14) zu gebrauchen.
Wobei nicht erwähnt wird, in welcher Richtung der Grenzdurchbruch erfolgt sein müsse, um Schüsse zu rechtfertigen. Allerdings durften die Schüsse "nur in Richtung des Territoriums" der DDR" oder parallel zur Staatsgrenze " abgegeben werden. Streletz und Keßler warf das Landgericht vor, von den sog. Zwischenfallen an der Grenze Kenntnis gehabt zu haben und mit diesen befaßt gewesen zu sein. Diese beriefen sich zu ihrer Rechtfertigung darauf, sich stets an die Gesetze und das Recht der DDR gehalten zu haben und beharrten darauf, die Grenzsicherung hätte lediglich der Abwehr von äußeren Angriffen gedient. Ein generelles Ausreiseverbot fiir die Bürger der DDR habe nicht bestanden. "Im Nationalen Verteidigungsrat sei keine Entscheidung gefallen, die unmittelbar zu den Todesfällen an der Grenze hätte beitragen können" (ebd. S. 15). Das Landgericht Berlin befand anderes: Anstifter der Tat sind gern. § 22 II Nr. 1 StGB/DDR die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates, während die sog. Mauerschützen sowie diejenigen, die Minen im Grenzgebiet gelegt haben, als verantwortliche Täter eingestuft werden, und zwar rein auf Grund von DDR-Gesetzen, ohne daß bundesrepublikanisches Recht zur Anwendung gekommen wäre. Als Rechtfertigungsgrund können weder Notwehr ll bzw. 11 gern. § 17 StGB/DDR.
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Notstand,12 noch widerstreitende Ptlichten 13 angefiihrt werden. Ebenfalls ist das Grenzgesetz der DDR fiir die Taten, die nach dem 1. Mai 1982 geschehen sind, nicht entscheidend, da darin weder die Verlegung von Minen noch der Gebrauch von Schußwaffen 14 als adäquates Mittel zur Verhinderung der Flucht von DDR-Bürgern angefiihrt werden. Die Praxis der an der Grenze ergriffenen Maßnahmen zur Hinderung der DDR-Bürger am Verlassen ihres Landes ist deshalb - auch laut BGH15 - kein Rechtfertigungsgrund, weil diese ganz offensichtlich und in unerträglichem Maße "gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstoßen" (ebd. S. 18 f.).
IX. Die Prozesse und das Bundesverfassungsgericht Nachdem Hans Albrecht, Heinz Keßler und Fritz Streletz 1993 vom Landgericht Berlin 16 verurteilt worden waren 17 und der Bundesgerichtshof mit seinen Entscheidungen im Juli 1994 18 diese Urteile bestätigt hatte, legten sie beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde ein. Die Beschwerde bezog sich auf folgende Punkte: - Die Zuständigkeit bundesdeutscher Gerichtsbarkeit - Verletzung des Art. 101 Abs. 1 GG: Albrecht beschwerte sich, er sei "ausschließlich wegen einer als
Mitglied eines Staatsorganes der ehemaligen DDR begangenen Tat verurteilt worden [ ..]. Für diese Tat sei jedoch weder die Zuständigkeit eines internationalen Strafgerichtshofes noch die bundesdeutscher Strafgerichte gegeben" (BVerfG-Urteil vom 24.10.1996 zu 2 BvR 1851/94 u.a., S. 24 f.).
12 13 14 15 16 17
gern. §
18 StGBIDDR.
gern. § 20 StGBIDDR. gern. § 27 DDR-Grenzgesetz. vgl. BGHSt 39,1 vgl. Urteil vom
Urteil vom 3.11.1992 - 5 StR 370/92. 16. September 1993 - (527) 2 Js 26/90 Ks (10/92).
Das Gericht hielt Albrecht und Streletz der Beteiligung an der Tötung von sechs und Keßler an der Teilnahme der Tötung von sieben Menschen rur überftlhrt, die zw. 1971 und 1989 über die innerdeutsche Grenze aus der DDR fliehen wollten. Albrecht wurde wg. Beihilfe zum Totschlag unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einem anderen Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Keßler und Streletz wurden wegen Anstiftung zum Totschlag zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten (Keßler) bzw. funf Jahren und sechs Monaten (Streletz) verurteilt.
18 vgl. Urteil des Bundesgerichtshofes vom 26. Juli 1994 - 5 StR 98/94, JZ 1995, S. 94 ff.
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- Der Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, da der BGH den Rechtfertigungsgrund des § 27 GrenzGIDDR nachträglich anders interpretiert habe, als dies der Staatspraxis der DDR zur Tatzeit entsprochen habe, und damit die Strafbarkeit begründete (ebd. S. 25). Auch rechtsstaatliche Ordnungen wie die der Bundesrepublik hätten gesetzliche Einschränkungen vorgesehen, die z.B. den Schußwaffengebrauch gegenüber Straftätern rechtfertigen würden und insoweit mit dem Grenzgesetz der DDR vergleichbar wären und damit auch dem Völkerrecht entsprächen. 19 - Die Heranziehung übergeordneten Naturrechts - die Radbruchsche Forme1. 20 Es wurde bemängelt, daß dieser Rückgriff auf nationalsozialistisches Unrecht zugeschnitten gewesen sei, aber dieses nicht im entferntesten mit dem Geschehen in der DDR zu vergleichbar wäre (ebd. S. 25). - Die Beurteilung ihres Tatanteils als mittelbare Täterschaft (ebd. S. 25). - Die nicht ausreichende Berücksichtigung des unvermeidbaren Verbotsirrtums gern. § 17 StGB (ebd. S. 25). - Das zur strafrechtlichen Beurteilung heranzuziehende Recht müsse das zur Tatzeit geltende DDR-Recht sein, "und zwar in der Form und Auslegung, wie es zur Tatzeit praktiziert worden sei" (ebd. S. 26). Dieser Beschwerdegrund bezieht sich auf die Anerkennung der Rechtfertigungsgründe, die DDR-Regelungen vorsahen. - Die Tätigkeit Keßlers als Mitglied des Politbüros des ZK der SED, als Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates und als Minister fUr Nationale Verteidigung der DDR ziehe keine strafrechtliche Verantwortlichkeit nach sich; "sein Verhalten sei durch die Verfassung und die Gesetze der DDR gedeckt gewesen und habe den Befehlen des Oberkommandierenden der Vereinigten Streitkräfte des Warschauer Vertrages und damit seinen Pflichten gemäß §§ 9 und 258 StGB/DDR entsprochen" (ebd.). Keßler und Streletz fUhren beide an, daß Beweise vorlägen,21 die belegten, daß die UdSSR auf die "Ausgestaltung des sogenannten Grenzregimes" in 19 Allerdings wurde dabei der Art. 2 Abs. 2 GG außer Acht gelassen, der das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit garantiert (Anrn.; K.S.).
20 Radbruchsche Formel (nach Gustav Radbruch, Jurist, Rechtslehrer an den Universitäten Königsberg, Kiel und Heidelberg und Mitglied des Reichstages sowie Reichsjustizminister in der Weimarer Republik) nach der einem Gesetz die Geltung zu versagen sei, das in einem so unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit stehe, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen habe.
21 u.a. Auslegungen von Erklärungen Gorbatschows, des letzten Präsidenten der UdSSR, Abrassimows, des ehemaligen Botschafters der UdSSR und Luschews, des früheren Oberkommandierenden der russischen Streitkräfte der UdSSR in der DDR.
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erheblichem Maße Einfluß genommen hätten, wodurch die Handlungsspielräume der DDR-Staatsfiihrung entscheidend eingeschränkt gewesen wären. Der Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht schloß sich auch ein sog. Mauerschütze an, den das Landgericht Berlin am 17. Juni 1993 22 wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von einern Jahr und zehn Monaten verurteilt hatte, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden war. Das Landgericht Berlin entschied in seinem Fall, Handeln auf Befehl könne nicht als Rechtfertigungsgrund gelten, auch wenn regelmäßige politische Schulungen und Indoktrination berücksichtigt würden. Das Verhalten des Grenzschützers sei ein offensichtlicher Verstoß gegen die Menschlichkeit, da der Flüchtende unbewaffnet gewesen wäre und nichts weiter vorgehabt hätte, als ohne irgendjemanden oder irgendetwas zu gefährden, das Land zu verlassen. Hierbei handelt es sich um die Problematik der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen. Im Fall der DDRGrenz- oder Mauerschützen wurde offensichtlich gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßen, indern der Schutz der Grell:ze über das Leben von Menschen gestellt wurde. "Das auch in der DDR vorrangige Menschenrecht auf Leben, das durch das grundsätzliche Tötungsverbot (§§ 112, 113 StGBIDDR) konkretisiert gewesen sei, habe auch den Straftäter geschützt. Es sei daher für die Angeklagten, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, daß von dem Grenzverletzer keine Gefahr ausgegangen sei, offensichtlich gewesen, daß das nachrangige Verbot des 'ungesetzlichen Grenzübertritts' hinter diesem elementaren Tötungsverbot habe zurücktreten müssen" (ebd.,S. 32, Hervorhebungen; K.S.).
Ein Notstand hätte nicht vorgelegen, befand das Landgericht, auch wenn die Mitglieder der Grenztruppen befilrchtet hätten, im Falle des Nichteingreifens bzw. Nichtschießens zur Verantwortung gezogen zu werden (Befehlsnotstand). Den Grenzschützern hätte außerdem die Möglichkeit offengestanden, daneben zu schießen, ohne daß es Vorgesetzten möglich gewesen wäre, dies nachzuweisen. Die Anwendung bundesrepublikanischen Strafrechtes leite sich daraus ab, daß es sich um eine sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik strafbare Tat handelte, aber das bundesrepublikanische Recht nach der Regel der Geltung des milderen Rechtes zur Anwendung zu kommen hätte. 23 Die Revision, in der der verurteilte ehemalige Grenzsoldat argumentierte, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sei zwar in der DDR in Kraft getreten, doch niemals in innerstaatliches Recht transformiert worden, damit sei keine unmittelbare Rechtswirkung rur den einzelnen daraus abzuleiten, wurde abgelehnt. Der Bundesgerichtshof berief sich auf seine 22 vgl. Urteil (513) 2 Js 55/91 KLs (15/92). 23 §§ 212, 213 StGB sehen eine mildere Strafe vor als §§ 112, 113 StGBIDDR.
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Entscheidung, die festlegte, daß beim Tatbestand der vorsätzlichen Tötung jegliche Rechtfertigungsgründe unbeachtet zu bleiben haben,24 wenn die Opfer, ohne daß eine Getahrdung rur die DDR oder die Grenzschützer bestanden habe, einzig und allein die innerdeutsche Grenze überschreiten wollten. Zum Internationalen Pakt zum Schutze der Menschenrechte habe sich auch die DDR in unzähligen Erklärungen bekannt. Außerdem hätte es auch in der DDR in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit von zu ergreifenden Maßnahmen adäquate Regelungen und Vorschriften bspw. im VoPoG25 oder im Grenzgesetz gegeben. Eine an Menschenrechten orientierte Auslegung der Rechtfertigungsgründe wäre auch nach DDR-Recht möglich gewesen, und diese verstoße auch nicht gegen das Rückwirkungsverbot. Die Verfassungsbeschwerden wurden vom Bundesverfassungsgericht als nicht begründet zurückgewiesen: - Die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR können sich nicht auf eine Immunität berufen, die über die Existenz der DDR hinaus geltend sei (ebd. S. 45). - Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ist nicht verletzt, da es aus dem rechtsstaatlichen Prinzip der Rechtssicherheit abgeleitet sei, das die Staatsgewalt an das Gesetz binde und Vertrauen schütze. Es kommt DDR-Recht zur Anwendung, sofern nicht die Regelung des milderen Rechtes dies ausschlösse allerdings zum Vorteil der Angeklagten. Die Vertrauensgrundlage des Rückwirkungsverbotes entfällt nur in den Fällen, in denen die DDR zwar StraJtatbestände normiert, aber durch eine Vielzahl von möglichen Rechtfertigungsgründen die Strafbarkeit gleichsam wieder aufgehoben hat. In einem solchen Fall können diese Rechtfertigungsgründe nicht anerkannt werden, da sie dem Gebot der materiellen Gerechtigkeit und den völkerrechtlich anerkannten Menschenrechten widersprechen (ebd. S. 50 f.). Das bedeutet konkret: den Rechtfertigungsgründen der DDR-Staatspraxis wird die rückwirkende Anerkennung abgesprochen; das Rückwirkungsverbot in Bezug auf die DDR-Gesetze gemäß ihrem Wortlaut wird nicht angetastet, und zwar nicht, um die trügerische Rechtssicherheit der Täter zu bewahren bzw. ihnen Rechtsschutz zu gewähren, sondern weil ein Antasten der doppeldeutig verfaßten Gesetze nicht notwendig ist, da sie in ihrem Wortlaut denen demokratischer Rechtsstaaten entsprechen. Damit muß der Grundsatz der Rechtssicherheit hinter dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit zurücktreten. Das Bundesverfassungsgericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß - wie bereits im Falle der Herrschaft der Nationalsozialisten - auch der Gesetzgeber
24 vgl. Urteil des BGH vom 3. November 1992 - 5 StR 370/92 - (BGHSt 39, I) 25 Gesetz Uber die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei
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selbst "schweres 'Unrecht' setzen könne", dessen Nonnen" von Arifang an der Gehorsam" zu verweigern sei (ebd. S. 52). - Nach der Auffassung des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichtes existiert kein Rechtfertigungsgrund fiir Maßnahmen, die den Schutz der Grenze über das Lebensrecht von Menschen stellen. Dies stelle einen offensichtlichen Verstoß "gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte" dar. "Der Verstoß wirke so schwer, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletze" (ebd. S. 53). - Das Bundesverfassungsgericht hält fest, daß die Gesetzesvorschriften der DDR über den Schutz der Grenze, soweit sie den Schußwaffengebrauch betreffen, den Vorschriften in demokratischen Staaten entsprachen, aber der anzuprangernde Unterschied besteht darin, daß diese Gesetze von Befehlen überlagert waren, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigk~it in keiner Weise mehr entsprachen. Zur Vervollständigung des Bildes von der Praxis müsse beachtet werden, daß den Grenzsoldaten vennittelt wurde, daß Grenzverletzer zu "vernichten" seien, was mit den Verhältnissen in demokratischen Staaten nicht vergleichbar ist. Damit wurde das geschriebene Recht den "Erfordernissen politischer Zweckmäßigkeit" untergeordnet, was schwerstes materielles Unrecht darstellt (ebd. S. 54 f.). - Die Einordnung der Beschwerdefllhrer Albrecht, Keßler und Streletz als mittelbare Täter bzw. Anstifter zum Mord - laut BGH - ist rechtmäßig, da sie den Gesetzen des DDR-Strafgesetzbuches entsprechen (§§ 22 Abs. 2 Nr. 1 und 112 Abs. 1 StGBIDDR) und bundesrepublikanisches Recht erst nachrangig zur Anwendung kommt. - Der Einfluß der UdSSR auf das Grenzregime der DDR, d.h. die Ausgestaltung der Grenzsicherungsanlagen und die Befehle an die Grenztruppen, ist eher gering gewesen (ebd. S. 57). - Das Bundesverfassungsgericht schließt sich der Zurückweisung des Landgerichts an und stellt fest, daß die Grenzsicherung nicht der Abwehr einer militärischen Gefahr von außen gedient hat (ebd. S. 58). - Der den Befehlen an die Grenztruppen entnommene Begriff" vernichten" ist in diesem Zusammenhang eindeutig als "töten" zu verstehen und auch gemeint. Die gesetzlichen Auslegungsspielräume hätten eine schonendere Handhabung zugelassen. - Es bestehen keine Zweifel an der Zuständigkeit und vor allem der Beteiligung der Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates und des Ministers fiir Nationale Verteidigung im besonderen am Zustandekommen der Beschlüsse und Befehle, die die Grenzsicherung regeln (ebd. S. 59).
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- Die Verurteilung des Todesschützen an der innerdeutschen Grenze entlang der Spree verletzt nicht den Schuldgrundsatz. 26 Dessen Inhalt "Keine Strafe ohne Schuld" hat Verfassungsrang. Die Grundlage dafür findet sich im selbstverständlichen Prinzip der Achtung der Menschenwürde, in Art. 2 Abs. 1 GG27 und im Rechtsstaatsprinzip (ebd. S. 60). - Es ist als eindeutig erwiesen angesehen worden, daß der Grenzschützer sich bei der Abgabe seiner Schüsse der tödlichen Gefahr für den Flüchtling bewußt war und daß er diese billigend in Kauf genommen hat. Die Rechtswidrigkeit der Schüsse an der Grenze auf eine wehrlose und niemanden gefährdende Person muß dem Schützen bewußt gewesen sein (ebd. S. 62). Die Strafgerichte haben befunden, daß dieser Umstand auch für einen indoktrinierten Grenzsoldaten gegeben war, und daß der Schütze sich der Unrechtmäßigkeit und Unverhältnismäßigkeit seiner Tat hätte bewußt sein müssen, für die es keine Rechtfertigungsgründe gibt - auch wenn die Staatsführung die Möglichkeiten einer Rechtfertigung von Todesschüssen um ein erhebliches Maß ausgeweitet hat, um die Grenzverbrechen im Interesse ihrer Machtsicherung zu decken. - Die Strafzumessung berücksichtigt - laut Bundesverfassungsgericht - die unterschiedlichen "Gewichte des verwirklichten Unrechts ". Befehlsgebern und Befehlsemptangern wurden unterschiedlich hohe Strafen zuerkannt (ebd. S.63). Abschließend kann zur Thematik der juristischen Vergangenheitsbewältigung festgestellt werden, daß selbst wenn Fälle wie die Todesschüsse an der Grenze geahndet werden können - und die diesbezüglichen Schwierigkeiten wurden deutlich - viele der unzähligen anderen Formen der Gewalt und des Verbrechens in der SED-Diktatur der DDR niemals strafrechtlich auch nur erfaßt, geschweige denn zur Verurteilung kommen können. Dabei sind insbesondere die jahrzehntelange Unterdrückung der Massen, die Indoktrination durch gnadenlose Propaganda, die Entmündigung der Bevölkerung, die Verhinderung der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der Meinungsfreiheit, die Vernichtung von Individualitätsbestrebungen, die teilweise entscheidende Einschränkung der persönlichen Lebensperspektiven, die Bedrückung und Angst der Bevölkerung vor bzw. den Verlust des Vertrauens zu Regierung und Staat usw. zu nennen. Dieses Unrecht bleibt juristisch ungesühnt. Doch die Aufgabe der gesellschaftlichen, historischen, moralischen, soziologischen Aufarbeitung ist es, diesen Bedarf aufs Möglichste abzudecken und die Hoffnungen der Menschen, die in diesem Regime unter einer oder mehrerer Formen solcher Gewalt ge26 der rur jede Straffestsetzung die Beachtung des Übermaßverbotes verlangt. 27 "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte
anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."
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litten haben, zu erfüllen. Doch auch auf die Problematik sei in diesem Zusammenhang noch einmal hingewiesen, die darin besteht, daß die Trennung zwischen Tätern und Opfern allzu häufig nicht einfach zu ziehen ist und daß das Netz der Verstrickungen in nicht wenigen Fällen schwer zu entwirren sein wird. Den mit der Aufarbeitung Betrauten wie auch den Opfern muß immer klar sein, daß ihre Möglichkeiten beschränkt sind und daß die vollständige und befriedigende Bewältigung der Vergangenheit in allen Ebenen eine Illusion bleiben muß. Trotzdem sollten die Bemühungen in dieser Hinsicht, möglichst viel zu erreichen, nicht entmutigt aufgegeben werden. Gerade in dieser Komplexität sollte die Herausforderung gesehen werden, der sich Politik, Wissenschaft und Gesellschaft zu stellen haben.
X. Gesellschaftliche/moralische Bewältigung Heute besteht die Schwierigkeit, die Akzeptanz der Gesellschaft für die notwendige Vergangenheitsbewältigung und die Art ihrer Durchführung bzw. ihre Möglichkeiten zu erreichen, unter anderem darin, den Menschen - vor allem auch jenen, die 40 Jahre und vielleicht auch länger in einem Unrechtsstaat gelebt haben - zu erklären, daß der Schutz des Rechtsstaates ein hohes Gut ist und jedem zusteht. Des weiteren weist Ladwig (1993, S.96), Fachbereichsleiter der "Gauck-Behörde", auf die Schwierigkeiten hin, die sich ergeben, wenn Menschen in die Akten des MfS Einsicht nehmen und mit großen Problemlösungserwartungen ankommen, die dann enttäuscht werden müssen beispielsweise im selten angesprochenen Fall, daß eben kein Material über sie vorhanden ist: "Menschen, die solche Auskünfte erhalten haben, kommen jedenfalls jetzt zu uns, weil sie meinten, das MfS sei schuldig an allem, was in ihrem Leben schiefgegangen ist. Bei vielen Menschen, die sich an uns wenden, ist sehr vieles schiefgegangen. Aber wir müssen ihnen mitteilen, daß das MfS sich mit ihnen nicht befaßt hat. Es gibt eben keine Eintragung in den Karteien. Dies fUhrt oft zu einer großen Frustration bei den Betroffenen, weil das Problem, das sie mit sich herumtragen und das sie nun durch eine Akteneinsicht klären wollten, eben nicht geklärt wird. In der ehemaligen DDR existierten ganz andere restriktive Systeme, die ebenso wirksam waren wie das MfS" (Ladwig 1993, S. 96).
Ladwig betont also besonders, daß auch Menschen, über die es keine Staatssicherheitsunterlagen gibt, zum Kreis der Opfer gehören können; jedoch wird es ihnen dann ungleich schwerer fallen, dies zu erfahren und zu beweisen. Die Opferrolle ist also auch in dieser Richtung differenzierter zu betrachten, als es nach allen Stasi-Diskussionen den Anschein hat.
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Ein besonderes Problem der Aufarbeitung der Vergangenheit ist, daß die DDR-Bürger - kaum daß sie ihre Fassungslosigkeit über den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung überwunden hatten - schon mit den Vorwürfen derer überschüttet wurden, die die ersten VerbrechensfiUle aufklärten bzw. die ersten Erkenntnisse über Staatssicherheitsakten und deren Inhalt publik machten. Durch die vielen Angriffe gleich zu Anfang wurden die Menschen, die in der DDR gelebt hatten, in eine Abwehrhaltung gedrängt, bevor sie in vielen Fällen überhaupt erst zu sich kommen und ihr Gewissen sprechen lassen konnten. Aus dieser Verteidigungshaltung heraus betonten sie bald, daß es durchaus auch ein "normales" Leben in der DDR gab. Dieckmann erkennt darin die Erwartung dessen, daß es "kein wahres Leben im falschen" geben dürfe, d.h. niemand dürfe sich noch an positive Erlebnisse aus seinem Alltag, beispielsweise aus seiner Kindheit, erinnern, ohne daß andere empört fragen, wie er das Leben in der DDR so beschönigen könne (Dieckmann 1996, S. 64). Aus diesen anfiinglich schon harten Konfrontationen ist zum Teil auch die heute von vielen als unfaßbar ignorant empfundene Nostalgie zu erklären. In den Bereich der gesellschaftlichen Vergangenheits bewältigung gehört auch die Diskussion um die Aktenöffnung und die Frage ihrer Akzeptanz statt der Alternative einer Generalamnestie mit endgültiger Aktenschließung bzw. vernichtung. Begründet wurden die Bestrebungen, die Akten endgültig zu schließen, damit, daß es dem inneren Frieden diene, wenn sich die DDRBürger vollständig von ihrer dunklen Vergangenheit distanzieren und befreit von Schuldvorwürfen und "schmutzigen" Strafverfolgungsakten in eine neue wiedervereinigte Zukunft treten könnten. Lothar de Maiziere prophezeite nach einer Aktenöffnung sogar Mord und Totschlag. Die Horrorvision, die Gegner der Aktenöffnung mahnend an die Wand gemalt hatten, von Opfern, die einzig auf Rache und Vergeltung auswären, haben die Opfer nicht bestätigt. Den meisten ging es nur um die Klarheit, endlich Gewißheit zu haben, was damals geschehen ist, warum und wer seinen Anteil daran hatte. Fragen, die diese Menschen zum Teil Jahrzehnte gequält haben und die zu stellen, ihnen nicht möglich war. Nach der Aufklärung der Geschehnisse gibt es nicht selten Opfer, die den Schritt auf die Täter zumachen, um sich auszusprechen, um Motive zu klären, persönliche Stellungnahmen - auch Rechtfertigungen - anzuhören, während der umgekehrte Fall wohl eine Seltenheit ist. Viele Täter betreten sogar reuelos und selbstbewußt wieder die politische Bühne, fast trotzig, so will es scheinen (Eisenfeld 1996). Mit der umstrittenen Inangriffnahme der Bewältigung der DDR-Vergangenheit unter den damit verbundenen schwierigen Bedingungen hat die Bundesrepublik die Ernsthaftigkeit ihrer Absicht zu einem demokratischen und rechtsstaatlichen Neubeginn bekundet. In diesem Zusammenhang kann durchaus auch die Meinung akzeptiert werden, daß es letzten Endes
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unwesentlich ist, ob die eigentlichen Täter - beispielsweise die sog. Schreibtischtäter oder -mörder - nach dem Urteil auch wirklich ihre Haftstrafe antreten müssen oder sich bspw. durch Haftunfähigkeitsatteste dieser entziehen. Zur Abkehr von der verbrecherischen Vergangenheit zählt allein die Verurteilung und damit die öffentliche Anprangerung und Betonung der Täterschaft und der Verantwortlichkeit vor allem der Personen der DDR-Führungsriege, die sich selbst als unschuldige Opfer einer Siegerjustiz bezeichnen und dabei die rechtsstaatliche Organe und Freiheiten in Anspruch nehmen, die sie anderen - einem ganzen Volk - genommen haben und denen sie noch heute die Zuständigkeit, über ihre Handlungen zu urteilen, absprechen. Angesichts der Uneinsichtigkeit ihrer Schuld scheint die Öffentlichmachung ihrer Verbrechen und Verantwortlichkeiten umso wichtiger. Vor den Bürgern der ehemaligen DDR, vor allen Deutschen, vor der ganzen Weltöffentlichkeit muß deutlich gemacht werden, daß diese Menschen sich verbrecherischer Handlungen schuldig gemacht haben, die die ganze Welt als Verstoß gegen die Menschlichkeit und die Menschenrechte bewertet, und daß sie zu Tätern geworden sind. Abwertend wird diese Vorgehensweise häufig als nur "symbolische" Handlung bezeichnet, doch wieviel mehr kann eine Vergangenheitsbewältigung denn auch sein, die unmöglich die Toten wieder lebendig machen und den Menschen ihren Schmerz und ihr Leid nicht abnehmen kann und die nicht fiir Racheakte zur Verfiigung stehen will und darf? Es muß auch den Menschen mit dem größten Engagement und den besten Absichten in dieser Hinsicht zugestanden werden, daß ihr Wirkungseffekt eben nur ein sehr begrenzter sein kann. Doch dieser sollte nicht ungenützt bleiben oder vernachlässigt werden. Joachim Gauck, dem die Bundesbehörde fiir die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes untersteht, nennt die Akteneinsicht ein" wirksames Medikament gegen DDR-Nostalgie ", das einen "schönenden Blick" verhindere, da die Darstellungen in den Akten der Staatssicherheit von "erschütternder Nacktheit" wären (Gauck 1997, o.S.). Die Akten dokumentieren die Verachtung von Menschen- und Freiheitsrechten und entsprechen in den Beschreibungen und Aufzeichnungen - nach Aussagen derer, die sich ihre Akten inzwischen durchgelesen haben - inhaltlich genau den Tatsachen; Deutungen sind zwar von wesentlich geringerem Wahrheitsgehalt, dienten jedoch häufig auch nur zur internen Rechtfertigung weiterer repressiver Maßnahmen. Doch die Fakten sind größtenteils unverflilscht und von größter und erschreckender Detailgenauigkeit und Präzision, was eine ohnmächtige Wut der Unterdrückten über das Ausgeliefertsein an eine solche Macht und Ungläubigkeit darüber, was das MfS alles wußte und wofiir es sich interessierte, zur Folge hat. Die Aufklärungsfunktion, die die Offenlegung der Akteninhalte bewirken soll, ist nicht zu unterschätzen. Sie dient nicht nur den Menschen, die möglicherweise nach Jahrzehnten endlich erfahren wollen, wie ihnen die Staats3 Merten. I Voigt
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sicherheit mitgespielt hat und worauf sie in ihrem persönlichen Leben Einfluß hatte. Sie soll der Gesellschaft als Ganzem offenbaren, was geschehen ist, was Menschen mit anderen Menschen angestellt haben, die z.B. nichts anderes wollten, als ihr Land zu verlassen, ihre Meinung zu äußern, den Beruf ihrer Wahl zu ergreifen oder ähnliches. Ebenfalls soll aufgedeckt werden, was sich die Führung und die Staatssicherheit von ihren Informationen und Maßnahmen versprachen und inwiefern - nach ihrer eigenen Beurteilung - dieser Zweck erf1111t wurde. Mechanismen der Unterdrückung sollen dargestellt werden und zur Erklärung der Zusammenhänge und Warnung dienen. Wobei der Warnungseffekt anzunehmenderweise eher angestrebt als erreicht wird, wie das Beispiel der Nazivergangenheit uns lehrt, deren propagiertermaßen antifaschistischer Gegenpart - angeblich verwirklicht in der DDR - aus der Vergangenheit vor allem die Maßnahmen der Unterdrückung des eigenen Volkes und deren Instrumente28 als Lerninhalt übernahm. Auch tUr die Forschung - beispielsweise die Widerstandsforschung oder auch die Medizin und die Psychologie29 - ist die Akteneinsicht unentbehrlich. Für die Widerstandsforschung bildet jedes widerständige Verhalten ein Sandkorn im Getriebe der SED-Regierung, was letztendlich in der Summe - mit Hilfe anderer Faktoren - den Zusammenbruch des Regimes bewirkt hat. Es wird auch häufig betont, daß die DDR die .. unverzichtbare Basis für die demokratische Entwicklung der BRD" einbringe, nämlich Menschen, die Widerstand geleistet haben. Doch die Opfer hätten eben gerade in einer Demokratie auch das Recht auf Aufarbeitung und auf Hörung. Brüskierend erscheint es da den Opfern, wenn die Täter eine Rentenerhöhung30 zugesprochen bekommen, noch bevor Entschädigungen tUr die Opfer durchgesetzt sind. Die Opfer tUhlen sich dadurch verhöhnt und die Täter ermutigt (Eisenfeld 1996, o.S.). Die Verfechter der Aufarbeitung versprechen sich von dieser eine Art der Generalprävention. Abschreckend sollen Prozesse und Verfolgung von Unrechtstaten auf nachfolgende Generationen und Staatssysteme wirken, um auch weiterhin den Schutz der Bevölkerung vor diktato-rischen staatlichen Hoheitsträgern zu gewährleisten ... Es ist für den Aufbau einer demokratischen Rechtsgemeinschaft unerträglich, wenn staatlich zu verantwortende Verbrechen nicht aufgeklärt werden" (Kittlaus 1995, o.S.). Die Bewahrung des Ansehens und der Glaubwürdigkeit Deutschlands im Ausland spielt bei der Vergangenheitsbewältigung eine ganz entscheidende Rolle. Jahrzehntelang wurde der Bundesrepublik vorgeworfen, ihre staatsdiktatorische Vergangenheit unter den Nationalsozialisten nicht gewissenhaft genug 28 sogar räumliche wie Gefllngnisse u.ä. 29 Beispielsweise die Untersuchung von Haftfolgeschäden. 30 wenn dies allerdings nicht geschehe, sprächen die Täter vom sog. "Rentenstrafrecht".
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aufgearbeitet zu haben und gar sie nicht aufarbeiten zu wollen. Bei den Opfern und ihren Angehörigen besteht ein ungebrochenes Verfolgungsinteresse. Sie sind diejenigen, die über eine Schließung der Akten zu entscheiden hätten. Wobei diese dann für die Forschung auch verloren wären. Es ist auch zu bedenken, wie die Situation von Menschen zu beurteilen ist, die als politische Gefangene in den diversen Haftanstalten der Staatssicherheit inhaftiert waren, in Verhaftung,31 Prozeß,32 Urteil 33 und Haftverhältnissen34 völlig der Willkür der staatlichen Macht ausgeliefert, einzig und allein aufgrund beispielsweise einer unerwünschten politischen Meinungsäußerung oder der Aufklärung über politische Mißstände bzw. wegen des Protestes gegen Mauer und Unfreiheit. Diese Menschen würden nach einer Aktenschließung, die einer Generalamnestie entspräche, lebenslang als Vorbestrafte35 gelten, denen - aufgrund fehlender Unterlagen zur Aufklärung der Umstände - niemals eine Rehabilitation zuteil geworden wäre, weil dies politisch nicht opportun war. Das entspräche weder dem Streben nach Gerechtigkeit noch den Prinzipien des Rechtsstaates und wäre auch den kompromißbereiten Opfern nur schwer zu erklären. Vielen Opfern liegt eine symbolische Geste der Regierung oder der Gesellschaft mehr am Herzen als konkrete Entschädigungen oder Wiedergutmachungen, da sie der Meinung sind, das Erlittene könnte niemand mehr "wiedergutmachen". Ihnen ist wichtig, daß sich die Gesellschaft nicht dem verschließt, was geschehen ist, daß sie es zur Kenntnis nimmt, wahrnimmt, die Opfer anhört und nicht auf eine" biologische Lösung" hofft. Ein Staat und ganz besonders eine Diktatur ist ein solch komplexes System, daß jeweils weder der übergeordnete Blick auf die Abläufe noch eine fokussierte Sichtweise lediglich auf einzelne Ereignisse oder Bereiche allein genügen. Abhängigkeiten aller Art müssen in die Betrachtungen einfließen. Fest steht, daß in der DDR niemand unabhängig vom System leben und handeln konnte. Wie immer sich diese Abhängigkeiten im Einzelfall ausgewirkt haben, ist von entscheidender Bedeutung für die juristische und moralische Schuldfrage und rur die unterschiedlichsten Bereiche der Forschung. Gesamtgesellschaftlich hat die SED-Diktatur mit ihrer besonders charakteristischen Ausprägung der Überwachung und Unterdrückung durch ein geheimdienstliches und geheimpolizeiliches Spitzel- und Terrorsystem bei vielen ehemaligen DDR-Bürgern ein traumatisches Verhältnis zum Staat im allgemeinen zur Folge. Das Vertrauen, das die Bürger der ehemaligen DDR in den alten DDR31 32 33 34 35 3'
Beispiel: die Entfilhrung Karl Wilhelm Frickes aus dem Westteil Berlins auch formale Fehler. Rechtsbeugung. Folter und unmenschliche Haftzustände (Isolationshaft ... ). Im Volksmund eventuell sogar als Verbrecher.
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Staat nicht haben konnten, können sie, die mißbraucht wurden und repressiven Willkürmaßnahmen ausgesetzt waren, dem neuen geeinigten Deutschland auch nicht entgegen bringen. Die Erfahrungen in der DDR haben das Verhältnis zu Regierung und Demokratie entscheidend geprägt. Der Vertrauensverlust kommt in verschiedenen Diskussionen immer wieder zum Vorschein. Versöhnung kann auch kein Gegenargument zur Aktenoffenlegung darstellen, denn ungeklärte Sachverhalte können dauerhafter Zündstoff in der (politischen) Diskussion und Grundlage rur Erpressung sein. Hinzu kommt, daß sogenannte Seilschaften, die bis heute noch bestehen, gesprengt werden müssen, damit sie nicht durch ihr Herrschaftswissen auch nach der Öffnung der Grenzen und dem Zusammenbruch des sozialistischen Diktatur-Systems der DDR noch Schaden anrichten können und Macht entfalten, die vielleicht noch heute Menschen in bedrohlicher Weise in ihrer Freiheit einschränkt. Herrschende Meinung ist, daß letztendlich doch nichts dauerhaft verborgen bleibt, aber Wissenschaft und Betroffene in unaufgearbeiteten Fällen erst zu spät das Geschehene aufdecken können, so daß es keine Folgen mehr rur einen Täter haben kann. Wobei sich dann wieder die Frage nach der Gerechtigkeit stellt. Bei der gesellschaftlichen oder moralischen Bewältigung der Vergangenheit handelt es sich sowohl um die Bewußtmachung, das Begreifen und die Akzeptanz individueller Schuld - auf Grund von Taten, Duldung oder Unterlassung - wie auch gesamtgesellschaftlicher Schuld. Die Bewältigung in dieser Hinsicht betrifft nicht - wie es auf den ersten Blick scheinen mag - nur die Bürger der ehemaligen DDR. Auch derjenige, den der Zufall zur "richtigen" Zeit auf die "richtige" Seite verschlagen oder geboren hat, sollte nicht vorschnell urteilen oder vergessen. Vor allem diejenigen, die sich mit der DDR und ihrer Vergangenheit beschäftigen, dürfen es nie unterlassen, sich zu fragen, wie sie sich in einem solchen Land und unter einem solchen diktatorischen System verhalten hätten. Auch wenn sie diese Frage niemals wirklich mit Sicherheit beantworten können, ist dies Antwort genug und schon ein großer Schritt der Besinnung getan, wenn sie überhaupt gestellt wurde. Deutschland blickt schon auf die zweite Diktatur im eigenen Land zurück und muß sich auch vom Ausland fragen lassen, wieso dieses Land aus der Vergangenheit so wenig gelernt hat. Immerhin darf es sich darauf berufen, die zweite Diktatur nicht frei gewählt, sondern in der Folge des Krieges oktroyiert bekommen zu haben. Allerdings haben deutsche Helfershelfer ihren aktiven Beitrag zur Implementierung des Regimes geleistet. Doch das Verhalten der Menschen in einer Diktatur ist einer der entscheidenden Faktoren,36 die über ihr Bestehen oder ihren Untergang mitbestimmen. So haben viele kleine
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neben dem anderen herausragenden Faktor der Wirtschaft.
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Rädchen im Räderwerk zum Erhalt dieses Systems ihren Beitrag geleistet und damit heute auch eine individuelle Vergangenheit zu bewältigen.
XI. Resümee Akzeptanz und Verständnis sind nicht nur rur die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Vergangenheitsbewältigung nötig, sondern auch darur, daß diese ohne Zweifel bei weitem nicht rur alle Parteien befriedigend ausfallen kann und wird. Man denke nur an die Opfer, die mit Bewährungsstrafen und der zwangsweise langsamen Vorgehensweise der Behörden und Gerichte nicht zufrieden sein können. Rachegelüste kann und will der Rechtsstaat nicht befriedigen. Auch subjektiv ganz unterschiedlich empfundene Gerechtigkeit ist durch (v.a. juristische) Bewältigung oft nur in geringem Maße erreichbar. Die gesellschaftliche, die moralische, die politische und die historische Vergangenheitsbewältigung werden keinen gravierenden Umbruch in der Bundesrepublik darstellen, doch werden sie in vielen Bereichen ihre Wirkung haben, die nicht immer eine positive sein muß - man denke nur an den Wandel in der politischen Landschaft, die durch links- wie rechtsradikale Parteien "angereichert" wurde. Doch das ist Demokratie! Auch wenn nur ein geringer Teil der betroffenen Menschen etwas aus der Geschichte rur ihr Leben lernen oder an kommende Generationen weitergeben kann, ist schon etwas bewirkt worden. Die Bekehrung um jeden Preis kann nicht das Ziel sein. Unbelehrbare gab es immer und wird es immer geben. Wahrscheinlich wird zu einer anderen - mehr distanzierten - Sicht der Dinge auch der Generationenwechsel beitragen, denn fast 50 Jahre der Indoktrination haben ihre Spuren in den Köpfen hinterlassen. Über der Bewältigung der Vergangenheit darf im Hinblick auf die Zukunft die Integration der ehemaligen Anhänger und Mitläufer totalitärer Systeme allgemein in demokratische und rechtsstaatliche Strukturen nicht vergessen oder verdrängt werden - schon angesichts der "Perfidie des totalitären Charakters der Herrschaftsordnung", in der viele Täter und Opfer zugleich waren. Allerdings sollten diese in der Öffentlichkeit Zurückhaltung üben und sich nicht in die vordersten Linien politischen Engagements ruckgliedern (Jesse 1992, S. 36). Eine gemeinsame Zukunft braucht ihr Fundament und kann nicht auf einer einfachen "Schwamm-drüber"-Entscheidung beruhen, mit der gerade diejenigen, die Schuld auf sich geladen haben, ohne Konsequenzen davonkommen und profitieren, während die Opfer der Vergangenheit wieder keine Chance auf Gerechtigkeit erhalten und den Nachteil haben. Das kann nicht beabsichtigt sein. Jeder Bereich, jede Art der Wissenschaft hat seinen/ihren Beitrag zur
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Aufarbeitung ZU leisten, auch wenn die ganz hohen Ziele nicht verwirklicht werden können. Die Einsicht in die beschränkten Möglichkeiten darf nicht die Ursache fiir die Aufgabe der ursprunglichen Absicht sein. Die Verantwortung gegenüber kommenden Generationen darf auch nicht vernachlässigt werden, denn diese werden anzunehmenderweise wie auch nach dem Dritten Reich ihre Fragen und Vorwürfe äußern, denen die jeweilige Gegenwart sich zu stellen hat. Ob sich die Diskutanten an dem Begriff der Vergangenheitsbewältigung oder -aufarbeitung stören werden - und das werden sie bestimmt - oder nicht: das Ziel sollte allen das gleiche sein. Die Bemühungen, Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen zu verwirklichen und die Zusammenhänge und Geschehnisse der Vergangenheit aufzuklären, dürfen nicht nachlassen.
Literatur Das Bundesverfassungsgericht: bisher unveröffentlichte Fassung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1996 (2 BvR 1851/94,2 BvR 1853/94,2 BvR 1875/94,2 BvR 1852/94) über die Verfassungsbeschwerden Albrechts, Keßlers, Streletz' und eines ehemaligen Grenzsoldaten, Karlsruhe 1996. Dieckmann, Christoph: Kindheitsmuster oder Das wahre Leben im falschen. In: Die Zeit, Nr. 52 vom 20. Dezember 1996, S. 64. Eisenmann, Peter/Gerhard Hirscher (Hg.): Bilanz der zweiten deutschen Diktatur, München 1993. Isensee, Josef: Vergangenheitsbewältigung durch Recht. Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem, Berlin 1992. Jakobs, Günther: Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Zur Leistungsflthigkeit des Strafrechts nach einem politischen Umbruch. In: Isensee, Josef(Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung durch Recht. Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem, Berlin 1992, S. 37-64. Jesse, Eckhard: "Entnazifizierung" und "Entstasifizierung" als politisches Problem. Die doppelte Vergangenheitsbewältigung. In: Isensee, Josef (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung durch Recht. Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem, Berlin 1992, S. 9-36. Kittlaus, Manfred: Die Akten müssen offenbleiben, ... Berlin 1995. Ladwig, Christian: Die Aufarbeitung der Stasi: welchen Aussagewert haben die Akten des MfS? In: Eisenmann, Peter/Gerhard Hirscher (Hrsg.): Bilanz der zweiten deutschen Diktatur, München 1993, S. 87-102. Schroeder, Friedrich-Christian: Rechtliche Aspekte der Aufarbeitung der DDR-Geschichte und SED-Herrschaft. In: Eisenmann, Peter/Gerhard Hirscher (Hrsg.): Bilanz der zweiten deutschen Diktatur, München 1993, S. 37-54. Wassermann, Rudolf: Ein epochaler Umbruch. Probleme der Wiedervereinigung; Asendorf 1991.
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InterviewsN orträge Eisenfeld, Bernd (Vortrag): Offene Stasi-Akten - Chancen rur die Opfer und rur die Widerstandsforschung; 15. Juni 1996. Gauck, Joachim: Interview in Südwest 3 "Schlaglicht" am 15.1.1997. Kittlaus, Manfred: Gesprllch am 10. November 1995 bei ZERV in Berlin. Kolloquium der Ruhr-Universitllt Bochum, Institut rur Deutschlandforschung 15./16. Juni 1996: Die Opfer der SED-Diktatur: Ohnmacht und Protest. Thierse, Wolfgang: Interview im ZDF "heute-journal" am 13.8.1996.
Manjred Graf von SchweriniDieter Voigt
ENTEIGNUNG - VORAUSSETZUNG DER KOMMUNISTISCHEN DIKTATUR DER SBZIDDR I. Einleitung Anders, als das mancher von uns 1989 denken konnte, hat das Thema eine eigenartige, ja beklemmende Aktualität erhalten. Gab es doch zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der kommunistischen Gewaltherrschaft in Mittel- und Osteuropa generell keinen Zweifel, daß als einer der ersten Pfeiler der freiheitlichen und demokratischen Werteordnung das Eigentum wieder aufgerichtet würde. Seit 1991 werden wir eines besseren belehrt: Deutlich anders als in den meisten, von kommunistischer Herrschaft befreiten Ländern ist festzustellen, daß der Weg einer "Mischlösung" (einerseits Rückgabeprinzip, andererseits Unterlaufen und Aushebein dieser Vorgabe) zu schlimmsten Ausgrenzungen zahlloser Enteigneter und einer offensichtlichen Ungleichbehandlung in eindeutig rechts- und verfassungswidriger Dimension gefiihrt hat. Damit wurden in den jungen Ländern der Bundesrepublik die Voraussetzungen fiir ein Fortbestehen der Gefahren fiir die freiheitliche demokratische Ordnung und des ihr zugrundeliegenden Wertesystems gelegt. Die Aktualität des Themas und die Brisanz der zahlreichen Fakten ist herauszuarbeiten und sie vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung in der SBZIDDR zu beleuchten. Die ganze kommunistische Herrschaft in ihrer Wirkung ist nur denkbar auf der Basis der Zerschlagung der bürgerlichen Eigentumsordnung, wie dies in den Jahren nach 1945 geschehen ist. Die Liquidierung des Eigentums und der sie tragenden Schichten bzw. deren völlige Entmachtung und Vertreibung ist sicherlich aus der Sicht der kommunistischen Ideologen konsequent, auch mit Blick auf die früheren revolutionären Ansätze von 1848-1918. Es ist nicht zu übersehen, daß die in Gefolge der Roten Armee in der sowjetischen Besatzungszone die Herrschaft übernehmenden Kommunisten nicht nur durch die totale Niederlage und die völlige Demoralisierung der Bevölkerung erleichterte Bedingungen fiir die Installierung ihres Regimes vorfanden. Auch der NS-Staat hatte fiir das neue Regime Vorarbeit geleistet. Der zentralistische Einheitsstaat war ja schon nach 1933 geschaffen worden, die traditionellen föderalen Strukturen, die das Bismarckreich noch auszeichneten waren beseitigt. Mit dem Er-
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mächtigungsgesetz der Nazis war die Alleinherrschaft einer Partei programmiert worden. 1945 ging es also den Kommunisten darum, sich in die schon vorgegebenen Strukturen mit ihrem Apparat hereinzusetzen. Nur noch der einzig bedrohliche Feind das Besitzbürgertum - und dementsprechend im ländlichen Raum der Adel und das Großbauerntum mußte aus ihrer Sicht beseitigt werden. Daß man diese gewaltsame Beseitigung des ideologischen Gegners, der von schlimmsten Verbrechen begleitet war, filnfzig Jahre später der Öffentlichkeit auch noch als eine quasi soziale Tat unter dem Schlagwort "Bodenreform" präsentiert, gehört zu den grotesken Auswüchsen von Vernebelung und Etikettenschwindel, besonders weil unter diesem Deckmantel Ungleichbehandlung und Rechtsbeugung fortgefilhrt werden und damit den freiheitlichen Rechtsstaat gerade auch bei der Bevölkerung der jungen Bundesländer in Mißkredit bringt. Das Thema erfordert einen Rückblick auf die Situation Deutschlands im Mai 1945. Ash beschreibt diese so: "Das Deutschland von 1945 war nicht nur physisch ruiniert und moralisch korrumpiert, es war auch jeglicher Souveränität beraubt" (Ash 1995, S. 37). Am 8.5.1945 wurde nach der bedingungslosen Kapitulation der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland - gegenüber den Alliierten USA, GB, UdSSR und Frankreich - in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands die kommunistische Militärdiktatur der Sowjetunion (somit der KPdSU) errichtet. Dies stellte ein schweres Verbrechen am deutschen Volk dar, da damit in diesem Teil Deutschlands die von den Alliierten zugesicherte demokratische Entwicklung gezielt vorenthalten wurde. Dem weiteren Vorgehen in der sowjetischen Besatzungszone und in der späteren DDR lag ein im Jahr 1944 zwischen KPdSUlUdSSR und Exil-KPD Führung feinabgestimmter Plan zugrunde (Wettig 1996, S. 103 ff.). Dieser Plan erhielt den Namen "Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie" (ErierlLaude/Wilke 1994, S. 240 ff.). Das Programm bezog sich auf ganz Deutschland. In den Beratungen zu diesem Programm wurde als Hauptschwierigkeit gesehen, die SPD unter die "Regie" der KPD in Form einer neuzugrundenden sozialistischen Arbeiterpartei zu bekommen. Das Ziel war mit den sozialdemokratischen Orientierungen und Strukturen aufzuräumen. Die KPD müsse die Führungsrolle im Kampf um ein "neues Deutschland" übernehmen. Die strategischen Konsequenzen waren: - das (sowjet)sozialistische Ziel war nicht direkt, sondern auf einem Umweg anzustreben. - Start mit Schaffung eines "Blocks der kämpferischen Demokratie", der alle anderen Parteien mit Etikett "antifaschistisch" angehören. KPD (somit KPdSU) übernimmt Führung und bestimmt so Themen und Etappen bis zur vollendeten KPD/SED-Diktatur in ganz Deutschland.
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Wesentliche Etappen waren: - Schaffung objektiver Voraussetzungen filr die schrittweise Entmachtung der "alten Parteien", d.h. Entzug der sozialen Basis. Also die Konfiskation von Boden und Industriegelände sowie sonstiger Produktionsmitteln.! - Aufbau neu strukturierter, zentralistisch administrativer Strukturen (Verwaltungen) mit möglichst viel KPD-Mitgliedern, insbesondere bei machtausübenden Positionen - wie Polizei, Justiz, Sicherheitsdienst, Gewerkschaften, Armee, Erziehungswesen usw. (vgl. Keiderling 1993, S. 237 ff.; Benser 1985, S. 60 ff.; Wettig 1994, S. 816 ff.). Wieweit der vorprogrammierte durchgeplante und umgesetzte Eigentumsentzug in Wahrheit eine politische Verfolgung war mit allen Erscheinungsformen, wie sie nur von totalitärer Gewalt ausgeübt werden können, belegt das Beispiel der Durchfilhrung der sogenannten Bodenreform von 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone. Hierfilr soll nur ein Beispiel genannt werden: Das Schreiben des Präsidenten des Landes von Mecklenburg-Vorpommern betreffend "Umsiedlung der enteigneten Gutsbesitzer und Nazi-Verbrecher" vom 11. November 1945. Das Dokument dokumentiert auch die Übernahme der Methode der Nazis gegenüber politischen Gegnern. Sehr häufig waren die Betroffenen Opfer von Denunzianten, denen wie bei den Nazis, Tür und Tor geöffnet waren. Der wesentliche Gesichtspunkt der sowjetischen und deutschen Kommunisten war, daß es ihnen um die Enteignung und Entrechtung der Großbauern und Gutsbesitzer, der Besitzbürger, der Unternehmer und Selbständigen ging. Das hierbei Leben und Gesundheit der Opfer nicht geschont wurden ist nur zu bekannt. Im folgenden Auszug wandte sich der Präsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern - Abt. Innere Verwaltung - im Jahre 1945 an alle Landräte sowie an alle Oberbürgermeister, die Leiter der Kreis- und Stadtpolizei betreffs der Umsiedlung der enteigneten Gutsbesitzer und NaziVerbrecher. Aus diesem Auszug geht hervor: "Wie bereits durch Telegramm mitgeteilt, sollen die enteigneten Gutsbesitzer und Landwirte, die enteignet sind, weil sie aktive Nazis oder Kriegsverbrecher waren, umgesiedelt werden ... Die Betreffenden sind sofort zu erfassen und in Gruppen von ca. 40 Personen in Marsch nach den unten aufgefllhrten Sammelpunkten zu setzen" (Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Schwerin 1945, S. 1).
Vorgesehen wurde hierbei, daß filr jede Gruppe ein Transportftlhrer bestellt werden sollte und zur Begleitung ein Polizist zu bestimmen war. Bei einem möglichen Ausschluß des Transportes mit der Bahn sollten diesen Menschen andere Transportmittel wie zum Beispiel Wagen oder Lastkraftwagen zur VerVgl. hierzu Anlage I und Anlage 11.
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fügung gestellt werden. Die örtlichen Kommandanturen bekamen die gleiche Order, damit keine großen Differenzen auftreten konnten. Bestand die Möglichkeit Eisenbahn-Waggons freizubekommen, sollten diese für den Transport nach den vorgesehenen Sammelpunkten ausgenutzt werden. "Es sind also sofort alle Personen mit ihren Familien zu erfassen. Ist eine Gruppe zusammen, so wird eine Liste in doppelter Ausfertigung aufgestellt" (ebd., S. 1). Einen Teil dieser Liste bekam dabei der Transportführer als Begleitschein und das DoppelstUck wurde bei den Kommandanten der Sammelpunkte abgegeben. Vorgesehen wurde, daß diese bis zum 15.11.1945 bei den Kommandanten sein sollten und bis zum 18.11.1945 sollten die Transporte selbst bei den Sammelpunkten sein. Die Landräte sollten unverzüglich einen Verantwortlichen für diese Aktion bestellen. "Vielleicht ist das Beste hierfor die Polizei auszunutzen. Diese Aktion muß möglichst reibungslos durchgefohrt werden" (ebd., S. 1). Die Menschen sollten wie Umsiedler behandelt werden. "Grundsätzlich sollen alle Personen mi/umgesiedelt werden; solche die transportunfähig erkannt sind, wie z.B. typhuskrank oder -verdächtig, müssen bis zur Herstellung ihrer Gesundheit in Krankenhäusern aufgenommen werden und hier bleiben ... " (ebd., S. 1). Die Kommandanturen erhielten hierbei dieselben Instruktionen von der Militär-Administration. "Erwähnt sei nur noch, daß gegen faschistische Provokation einzuschreiten ist, besonders auch gegen Gerüchtemacherei, z.B. daß diese Leute nach Sibirien oder sonst wohin gebracht werden sollen ... " (ebd., S. 1). Wie vollzogen sich nun die Schritte der Alliierten bzw. der Sowjetischen Besatzungsmacht in Deutschland? Am 8.5.1945 erfolgte die bedingungslose Kapitulation Deutschlands. Am 5.5.1945 übernahmen die vier Siegermächte USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich durch die Bildung einer Militärregierung dem Alliierten Kontrollrat (AK) gemeinsam die "oberste Regierungsgewalt" in Deutschland. Mit dieser Militärdiktatur übernahmen die Alliierten die Verantwortung für Deutschland. Der Kontrollrat mit Sitz in Berlin bestand aus den vier Oberbefehlshabern der Besatzungsarmeen. Die Tätigkeit des AK beruhte auf dem Londoner Abkommen über die Kontrolleinrichtungen in Deutschland vom 14.11.1944 und der Berliner Vierrnächteerklärung vom 5.6.1945. Der AK trat erstmalig am 30.9.1945 zusammen. Die Entscheidungen mußten einstimmig getroffen werden. Die Ziele des AK waren: Sicherung der Reparationen, Entmilitarisierung, Entnazifizierung und demokratische Umgestaltung des politischen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland (vgl. Anlage III). Der AK erließ Proklamationen, Kontrollratsgesetze, Direktiven, Befehle und Instruktionen für alle besetzten Gebiete in Deutschland. Am 20.3.1948 verließ der sowjetische Vertreter den Kontrollrat, der damit praktisch außer Tätigkeit trat.
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Am 9. Juni 1945 wurde mit Befehl Nr. 1 die Sowjetische Militäradministration in Deutschland - SMAD - in dem von der Roten Armee besetzten Gebiet eingerichtet (Creuzberger 1991, S. 9 ff.). In dieser SMAD bestanden 12 Verwaltungen 664 Militärkommandanturen in denen 32000 sowjetische Bürger2 als Offiziere, Unteroffiziere, Soldaten und Zivilisten tätig waren; bei einer Einwohnerzahl von 18.500.000 waren dies ein SMAD-Mitarbeiter auf ca. 308 Einwohner. Die Zu- und Zusammenarbeit der KPD in der sowjetisch besetzten Zone tUr die SMAD war bereits in der Sowjetunion in den Kriegsjahren systematisch vorbereitet worden. Die KPD in den Westzonen wurde in dieses Konzept mit einbezogen. Durch die KPD wurde dieses Programm - "antifaschistisch-demokratischer" Parteienblock - nach Maßgabe der SMAD umgesetzt. Bis zum Zeitpunkt des Todes von Stalin (21.12.53) ging man in der KPdSU davon aus in ganz Deutschland sowjetzonale Verhältnisse zu erreichen (Wettig 1994, S. 816 ff.). Am 10.10.49 wurden der Regierung der DDR die Verwaltungsfunktionen der SMAD auf Beschluß des Ministerrates der UdSSR übertragen. "Die SMAD achtete stets das Selbstbestimmungsrecht des Volkes, überließ ihm die Entscheidung über seine gesellschaftlichen Verhältnisse und schützte es gegen imperialistische Störversuche" (Kleines Politisches Wörterbuch 1988, S. 866 f.). Michail Semiryaga, runf Jahre lang Referent rur Politische Parteien in der SMAD bemerkt hierzu: "VIII Die sowjetischen Sicherheitsorgane haben in der ersten Periode ihrer Tätigkeit, ungefähr bis zum Jahre 1947 einerseits eine zwar positive Rolle bei der Verfolgung und Bestrafung von Nazi-Verbrechen und kriminellen Elementen gespielt. Aber sie haben andererseits dem Prestige der Sowjetunion und den demokratischen Kräften in der deutschen Bevölkerung großen Schaden zugefügt, indem sie ihre Kompetenzen überschritten und rechtswidrige, verbrecherische Handlungen zuließen. Die Organe des NKWDIMGB in Deutschland haben sich als Werkzeug des sowjetischen Terrorregimes unter Stalin und Beria grob rücksichtslos in ideologische und politische Auseinandersetzungen sowie andere Prozesse in der Zone eingemischt, die nicht den Grundsätzen der alliierten Abkommen zuwiderliefen und auch nicht krimineller Natur waren. Ich mußte Zeuge sein, wie einige Leiter der SMAD beschlossen den Geheimdienst heranzuziehen, etwa zugunsten der SED im Wahlkampf oder bei der Isolierung unbequemer Elemente in der einen oder anderen politischen Partei" (Semiryaga 1996, S. 742).
Die politische Entwicklung in der SBZ wurde durch die SMAD sehr zielstrebig weitergetrieben. Der Befehl Nr. 2 der SMAD vorn 10. Juni 1945 er-
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Kleßmann (1991, S. 68) gibt ca. 60.000 sowjetische Bürger an, die in der SMAD als Offiziere, Unteroffiziere, Soldaten und Zivilisten tätig waren.
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munterte zur Gründung politischer Parteien, die von der SMAD genehmigt und registriert werden mußten: - KPD-Gründungsaufruf vom 11. Juni 1945 - SPD-Gründungsaufrufvom 15. Juni 1945 - CDU-Gründungsaufruf zum 26. Juni 1945 - LDPD-Gründungsaufrufvom 5. Juli 1945 Bereits am 6. März 1944 hatte das Politbüro der KPD den Vorschlag unterbreitet allen in Deutschland nach der Befreiung vom Faschismus entstehenden und sich entwickelnden antifaschistisch-demokratischen Parteien und Organisationen das Angebot zu machen, sich zu einem nationalen Block der kämpferischen Demokratie zu vereinen. Dieser Vorschlag fand sich im Aufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945. Durch die SMAD beeinflußt schlossen sich am 14. Juni 1945 auf Vorschlag der KPD die vier Parteien zum Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien zusammen. Am 5. August 1948 wurden die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (Gründung am 29. April 1948) und der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (Gründung am 15. Juni 1948) am 7. September 1948 die National Demokratische Partei Deutschlands (Gründung am 25. Mai 1948) in den Block aufgenommen (Meyers Neues Lexikon 1976, Bd. 3, S. 351). "Als ausgesprochene Hilfsorganisationen der SED im Prozeß der Zersetzung und Ausschaltung bürgerlicher Opposition müssen die im Frühjahr 1948 erfolgten Gründungen der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) und der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) angesehen werden" (Kleßmann 1991, S. 68).
Die beiden Vorsitzenden - Ernst Goldenbaum (DBD) und Prof. Dr. Heinrich Homann (NDPD) - standen der KPD/SED sehr nahe. 1949 wurde auf Vorschlag der Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien in Demokratischen Block der Parteien und Massenorganisationen umbenannt. "Zusammenschluß aller Parteien und Massenorganisationen der SBZIDDR unter Führung der SED. Der demokratische Block beruht auf dem Bündnis der Arbeiterklasse mit den anderen werktätigen Klassen und Schichten der DDR. Bei den Wahlen zu den Volksvertretungen treten die Parteien und die Organisationen des Demokratischen Blocks mit gemeinsamen Programmen und gemeinsamer Kandidatenliste auf' (Meyers Neues Lexikon 1976, Bd. 3, S. 351).
Mit dieser Form der geistig ideologischen Gleichschaltung war eine Form gefunden das gesellschaftliche Leben der SBZIDDR dem Willen der KPD/SED (damit der KPdSU) zu unterwerfen. Die Form der Listenwahl garantierte praktisch automatisch den Gewinner SED und damit ihr Langzeitüberleben. Abweichungen mußten geahndet und bekämpft werden. Die SED akzeptierte nur sich
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ihr bedingungslos unterwerfende Politiker. Die SED (SMAD) ließ (deshalb) in der SBZ und der späteren DDR nicht mehr unter verschiedenen Parteien wählen, sondern nur noch eine Einheitsliste. Auch der Verwaltungsaufbau der sowjetischen Besatzungszone vollzog sich gemäß der Deutschlandplanung der Exil-KPD in Moskau. Dazu war eine Richtlinie 1945 ausgearbeitet worden "Richtlinie für die Arbeit der deutschen Faschisten in dem von der Roten Armee besetzten deutschen Gebiet" (ErlerlLaude/Wilke 1994, S. 380). Zentrales politisches Problem der Verwaltungs frage war es, daß die entsprechenden Amtspositionen mit Genossen besetzt werden mußten. Bereits vor Beginn der Potsdamer Konferenz wurden im Juli 1945 Landesverwaltungen für Mecklenburg, Sachsen, Thüringen und Provinzialverwaltungen für Brandenburg und Sachsen-Anhalt geschaffen. Während der Potsdamer Konferenz (17.7.-2.8. 1945) wurden von der SMAD elf deutsche Zentralverwaltungen (1947 waren es 15) für die sowjetische Zone oberhalb der Länderebene geschaffen. Dies waren die Hilfsorgane der Besatzungsmacht und mit die Voraussetzung für die 1949 folgende zentrale deutsche Regierung. Ohne die Sicherung der ökonomischen Macht, als Voraussetzung des Überlebens des Systems der Diktatur der Kommunistenführer, wäre keine DDR (SED-Staat) entstanden. Dazu war es erforderlich, die ökonomischen Strukturen wie sie bis 1944 in Deutschland herrschten, in der SBZ total in Richtung SozialismuslKommunismus zu verändern. Dies konnte nur eines heißen kurz und langfristig die Abschaffung des Privateigentums (auch als politische Kategorie) durch Konfiskation. Als vordergründiger Deckmantel diente die Entnazifizierung. Die drei Säulen der Konfiskation waren die kommunistische Landwegnahme ("demokratische Bodenreform"), Enteignungen und Verstaatlichungen. Hier sind nicht eingeschlossen der Personenkreis der unter den Geltungsbereich des Gesetzes Nr. 10 "Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechens, Verbrechens gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben" fiel. Dieser Personenkreis wurde zu recht zur Verantwortung gezogen (vgl. Anlage III). Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Deutschland jedoch wurde der analoge Personenkreis praktisch in keiner Weise zur Verantwortung gezogen.
11. "Bodenreform" Ohne daß eine solche Forderung vom AK erhoben wurde und ohne daß sich die gesamte Bevölkerung der SBZ dazu nach ungehinderter Information artikulieren konnte, wurde ohne gesetzliche Grundlage in der SBZ gef6rdert und massiv unterstützt durch die SMAD die Bodenreform in der Zeit von 1945-
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1949 durchgeführt. Der damalige Vorsitzende der KPD äußerte sich dazu wie folgt: "Die Bodenreform ist eine Sache der Bauern und Landarbeiter des Dorfes. Ich will von vornherein feststellen, die Bodenreform ist Sache der Roten Armee, nicht Sache der Partei. Natürlich werden unsere Gemeindekommissionen diese Enteignung durchführen" (Pieck 1945). Noch klarer äußerte sich der Sprecher der Ost-SPD 1945, Otto Grotewohl: "Die politische Seite der Bodenrefonn ist die Beseitigung des verderblichen Einflußes der Junker auf die Geschichte Deutschlands. Durch Jahrhunderte war der Großgrundbesitz der Träger der Reaktion. Aus ihren Reihen stammen zahlreiche Offiziere, Beamte, Minister und Höflinge. Sie waren die Feinde jeder freiheitlichen Entwicklung in Deutschland" (Grotewohl zit. bei Weber 1968, S.68).
Die Losung unter der die "Bodenreform"3 stand, lautete: "Junkerland in Bauernhand". Sowohl die KPD als auch die SPD hatten in ihren GTÜndungsaufrufen die in der SBZ Veränderungen der Eigentumsstrukturen in der Landwirtschaft vorgesehen. Dabei stellte die KPD wesentlich weitere Forderungen. Die 1945 in (Rest) Deutschland herrschende Situation - vorherrschende Not bei Kriegsende, Armut bei den Flüchtlingsfamilien, deutlich erkennbare Größenunterschiede der landwirtschaftlichen Betriebe usw. - war eine gute Voraussetzung rur die KPD/SMAD (KPdSU) das Konzept der Landwegnahme (="demokratische Bodenreform") umzusetzen. Dies wurde sehr geschickt ieologisch kombiniert mit den Argumenten, daß Fürsten, Grafen, Junker, Großgrundbesitzer und Großbauern das Rückgrat des deutschen Militarismus, Chauvinismus und Nationalsozialimus gewesen seien. Damit wären sie auch gleichzeitig hauptverantwortlich rur den 1. und 2 Weltkrieg. Die historischen Tatsachen des organisierten Widerstandes aus konservativen, christlichen und bürgerlichen Kreisen, insbesondere im Offizierscorps bis hin zum 20. Juli 1944 beweisen eher das Gegenteil. Die Landwegnahme in der SBZ hatte zwei Handelnde mit dem gleichen Ziel KPD und SMAD (KPdSU). 4 Die letztere blieb im Hintergrund, sie steuerte den Prozeß und leistete logistische Hilfe. In der Öffentlichkeit trat die KPD als Initiator auf. E. Hörnle (KPD, Hauptverfasser) und R. Reuter (KPD, Mitverfasser) legten am 29. August 1945 (am 30. August 1945 trat der AK zu seiner 3
4
Im Gegensatz zu den Fakten einer entschädigungslosen Enteignung (Konfiskation) wurde als kommunistische Definition die demokratische Bodenreform gewählt. Vom Sachverhalt handelt es sich um eine kommunistische Landwegnahme ohne Rechtsgrundlage. Bezeichnenderweise wird der Begriff Bodenreform nach wie vor sogar in höchstrichterlichen Urteilen der BRD verwandt. Mit welchen Methoden der Erpressung von Seiten der KPD/SMAD gearbeitet wurde beschreibt u.a. Hermes (1963).
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ersten Sitzung in Berlin zusammen!) in der konstituierenden Sitzung des Blocks der antifaschistischen-demokratischen Parteien der Provinz Sachsen in Halle den Entwurf zur Bodenreform vor. Die folgende Tabelle I verdeutlicht den Stand der Aufteilung in Individualeigentum aus dem Bodenfonds 1950. Tabelle 1: Stand der Aufteilung in Individualeigentum aus dem Bodenfonds am 1.1.1950 Zahl 119.121 82.483 91.155 43.231 183.261 39.838
Emptanger Landlose Bauern, Landarbeiter Landarme Bauern Umsiedler Kleinpächter Nichtlandwirt. Arbeiter und Angestellten Waldzulagen an Altbauern
Bodenfläche in ha
Durchschnitts- Prozent des größe in ha Bodenfonds
932.487
7,8
28,3
274.848
3,3
8,3
763.596 41.661
8,4 1,0
23,1 1,2
114.655
0,6
3,5
62.746
1,6
2,0
Quelle: Stöckigt 1964, S. 266. Hinzuweisen ist, daß Betriebe mit Durchschnittsgrößen von 7,8 bzw. 8,4 ha (Landlose Bauern, Umsiedler) rur deutsche Verhältnisse viel zu klein waren, um daraus einen lebensfiihigen Betrieb zu machen. Dieser Größenwahl der Betriebe lag sicher mit die Idee zugrunde, mit auf diesem Weg die Kollektivierung vorzubereiten. Bis zum 30. Juni 1953 hatten 40.000 der Neubauern ihre Betriebe aufgegeben (Tümmler 1969, S. 30). In nüchternen Zahlen drückt sich das Ergebnis der Landwegnahme wie folgt aus:
4 Mertens I Voigt
Manfred Grafvon SchwerinIDieter Voigt
50
Tabelle 2: In den Bodenfonds überfilhrte Objekte (1.l.50) Bisherige Eigentumsfonnen Privatbesitz: 100 ha u. mehr unter 100 ha Staatsbesitz Staatswälder und -forsten Siedlungsgesellschaften u. Institutionen Sonstige Grundbes. Insgesamt
Zahl der Objekte
Fläche
Anzahl
v.H.
7.160 4.537 1.288
50,8 32,2 9,1
2.517.357 131.742 337.507
76,3 4,0 10,2
384
2,8
200.247
6,1
169
1,2
22.764
0,7
551
3,9
88.465
2,7
14.089
100
ha
v.H.
3.298.082
100
Quelle: Ulbricht 1955, S. 414 ff. Die Tabelle 3 zeigt die Zusammensetzung des Bodenfonds nach den Ländern. Tabelle 3: Zusammensetzung des Bodenfonds nach Ländern Länder
Betriebe Anzahl
v.H.
Fläche
Durch1.000 schnitts- ha größe ha
Bodenfonds v.H.
Gesamt- Landw Nutzfläche v.H. fläche v.H.
Mecklenburg Brandenburg SachsenAnhalt Sachsen Thüringen insgesamt
4007
28.5
268
1047
32.6
46
54
3355
23.8
282
948
28.7
35
21
3146 2006 1575
22.3 14.2
229 174 132
21.8 10.6 6.3
29 20 14
35 24
11.2
720 349 208
14089
100.0
234
3298
100.0
31
35
Quelle: Ulbricht 1955, S. 414 ff.
15
Enteignung
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Daraus ist rein rechnerisch abzuleiten, daß ca. 8.000 Familien entschädigungslos an Boden und sonstigem Eigentum enteignet wurden. Legt man pro Familie eine Personenzahl von fiinf zugrunde, so sind dies ca. 40.000 Personen. Dieser Personenkreis wurde umgesiedelt. Sie durften sich in der Regel nur auf einer Entfernung von bis zu 50 km an ihren vormaligen Wohnort nähern. Viele von ihnen flüchteten. Die Bodenreform war nur der erste Schritt auf dem Weg zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft (= Sowjetisierung der deutschen Landwirtschaft) (Tümmler 1969, S. 20 ff.). Die Konfiskationspolitik der SED/ DDR gegenüber den noch existierenden privaten Altbauembetrieben wurde nach 1949 systematisch fortgesetzt, natürlich auf "gesetzlicher" Basis. Hier seien als Beispiele angefilhrt: 1. Verordnung über die devastierten landwirtschaftlichen Betriebe vom 20.3.1952 (GBI. S. 226). Diese Verordnung legte im wesentlichen fest den Einsatz von Treuhändern filr landwirtschaftliche Betriebe bei - Flucht in den Westen Deutschlands; - weit unter dem Durchschnitt liegender Produktion durch angebliche Arbeitsunfiihigkeit des Eigentümers; - schlechte Wirtschaftsfilhrung; - nach staatlicher Ansicht unter dem Eigentümer oder Bewirtschafter keine Gewähr filr eine Produktionserhöhung gegeben ist.
" Von dieser Verordnung waren, in Verbindung mit der va vom 17.7.1952, 14065 Altbauernbetriebe mit einer Personenzahl von ca. 60000 und einer Fläche von 380000 ha betroffen" (Weber 1995, S. 2809). In der 2. Verordnung zur Sicherung der landwirtschaftlichen Produktion und der Versorgung der Bevölkerung vom 19.2.1953 (GBI. S. 329) heißt: "Von dieser Verordnung waren 10146 Altbauernbetriebe mit einer Personenzahl von ca. 40000 und einer Fläche von 317790 ha betroffen" (ebd., S. 2810). So wurden von Anfang 1952 bis Ende 1953 durch "gesetzliche" Handhabe eine weitere Enteignungswelle ermöglicht, die ,,24211 Altbauernbetriebe betraf auf denen ca. 100000 Menschen wohnten und arbeiteten und die einer landwirtschaftlichen Fläche von 697980 ha entsprachen" (ebd., S. 2811). Die Landwegnahme in der SBZ läßt sich in ihrer Radikalität weder damals noch heute sozial, ökonomisch, rechtlich und kulturell begründen (ebd., S. 2809 ff.). Allein die Ideologie des Kommunismus war die Begründung. Der deutschen Landwirtschaft wurde schwerster Schaden zugefiigt. Simultan zu den Konfiskationen in der Landwirtschaft liefen diese Vorgänge in Industrie, Handel, Kleingewerbe, Handwerk, Einzelhandel, Gaststätten, Fremdenverkehr usw. ab. Bis 1945 spielte die Privatwirtschaft die dominierende Rolle im Wirtschaftsleben Mittel- und Ostdeutschlands. 4"
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Unmittelbar nach dem Einmarsch der Roten Armee erfolgte eine Beschlagnahmeaktion. Davon betroffen waren: alle Rüstungswerke; öffentliche Regiebetriebe; Unternehmen der Schlüsselindustrie; sämtliche rur die Versorgung der Sowjetarmee wichtigen Betriebe; Rohstoffe; Fertigwarenlager; Banken; Wertpapier und Banknotendepots; Archive, Museen; Leitungszentralen, Kontrollorgane usw. Dies war eine Okkupations- und Siegermaßnahme. Sie erfolgte in unterschiedlicher Ausprägung durch alle Siegermächte. In der Sowjetischen Besatzungszone war dies der Einstieg in die Demontage die Mitte 1945 begann (Buck 1995, S. 1077). Nach den Beschlagnahmeaktionen beim Einmarsch der Roten Armee erfolgte ein weiterer Angriff auf das Privateigentum in breiter Front mit zentralem Ziel Industrie. Bis zum 20.12.1945 gab es vom AK keine verbindlichen Vorgaben bezüglich der Bestrafung von Personen, die sich eines Kriegsverbrechens, Verbrechens gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatten. Als erstes erschien dazu das Gesetz Nr. 10 des AK (20.12.1945), dann die Direktive Nr. 24 des AK (12.1.1946) und folgend die Direktive Nr. 38 des AK (12.10.1946).5 Dabei ging es um die Feststellung der betroffenen Personen, deren Verurteilung und weiterer Sühnemaßnahmen. In der SBZ wurde durch die SMAD in Abweichung von den Alliierten Festlegungen ein anderer Weg eingeschlagen.
III. Sequestrierung Ausgangspunkt war der Befehl Nr. 124 der SMAD vom 30. Oktober 1945: "Über die Beschlagnahme und provisorische Übernahme einiger Eigentumskategorien [... ] Das Eigentum, daß sich auf dem von den Truppen der Roten Armee besetzten Territoriums Deutschlands befindet und Personen gehört, die von dem sowjetischen Militärkommando durch besondere Listen oder auf andere Weise bezeichnet werden, als beschlagnahmt zu erklären".
Von der Sowjetischen Besatzungsmacht und den sie massiv unterstützenden deutschen Kommunisten wurde dieser Personenkreis unscharf und weit ausgelegt. Im Befehl wurde rur diesen Personenkreis folgende Begriffe verwandt: "Naziaktivisten, Rüstungsfabrikanten, Kriegsverbrecher und Finanziers der NSDAP In der Anweisung der Landesverwaltung Sachsen zum SMAD Befehl 124 wurde der Personenkreis näher bestimmt, denen Grundstücke, Gebäude, Betriebsvermögen, Patente, Urheberrechte, Wertpapiere, Anteilsrechte, Forderungen, Kunst- und Wertgegenstände, Edelmetalle und Zahlungsmittel beschlagnahmt wurden. Hierzu gehörten: Amtsleiter, ruhrende Mitglieder und H.
5
Vgl. Anlage V.
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einflußreiche Anhänger der NSDAP (dies war Pkt 1 des Befehls), Kriegsverbrecher6 und Rüstungsfabrikanten, Personen, die wichtige Funktionen im Staats-, Wirtschafts- und Verwaltungsapparat ausübten, das Wohl und Eigentum von Antifaschisten und ihren Angehörigen geflUrrdet hatten, vor dem 1. März 1933 zur Finanzierung der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen beigetragen hatten, das Hitlerregime in Tat, Wort, Schrift und Bild unterstützt oder verteidigt hatten. Sie wurden in drei Listen A, Bund C zusammengestellt. So wurden von November 1945 bis April 1948 9300 Betriebe beschlagnahmt. Eine weitere Form der Enteignung waren Betriebe, die von der UdSSR! SMAD7 auf Grund von Reparationsansprüchen in der SBZ von 1946 bis 1954 sowjetisches Staatseigentum wurden. Sowjetisches Staatseigentum in Deutschland: Gemäß Befehl Nr. 167 vom 5. Juni 1946 erfolgte die Bildung Sowjetischer Aktiengesellschaften (SAG). Dies waren deutsche Betriebe, die in das Eigentum der UdSSR auf Grund der Reparationsanspruche übergingen. Dazu gab es eine Liste, die von Marschall Sokolowski, Oberkommandierender der Sowjetstreitkräfte in Deutschland, zusammengestellt worden war. Es waren die größten, wirtschaftlich leistungsstärksten und rustungspolitisch bedeutendsten deutschen Industrieunternehmen der SBZ. Alle Gewinne der SAG flossen in eine Sonderkasse des Staatshaushaltes der UdSSR! Die folgende Tabelle 4 gibt einen guten Überblick über die SAG Betriebe DDR im April 1952. Tabelle 4: SAG-Betriebe in der DDR (Stand April 1952) SAG Wismut Brikett Kali Synthese Treibstoffe und Teer Marten Hütten- u. Walzwerke Amo Schwermaschinenbau Transrnasch Kok-, Waggon- u. Schiffbau Mineraldünger Zement A wtowelo Fahrzeugbau Kaustik Chemie Kabel
Mitarbeiter (ca.) 125000 40000 12500 18000 19000 44000 31000 29000 5500 32000 34000 41000
Quelle: Buck 1995, S. 1070 ff.
6
Dazu gehörten auch alle Privatuntemehmer, denen während der Kriegsjahre Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter als Arbeitskräfte durch NS-Dienststellen zugewiesen worden waren.
7
Vgl. hierzu Anlage VI.
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Es handelte sich um insgesamt 13 SAG mit ca. 450.000 Mitarbeitern. Die SAG bestanden vom 5. Juni 1946 bis zum 1. Januar 1954. Sie wurden nach Rückgabe an die DDR in Volkseigentum übernommen (ebd., S. 1070 ff.). Eine weitere deutliche Verschärfung in der Frage der Konfiskationen in allen Bereichen brachte die zweite Parteikonferenz der SED im Jahre 1952 (9.-12. Juli) in Berlin. Hier seien nur die zentralen Aussagen zitiert. Aus der Rede Walter Ulbricht auf der Zweiten Parteikonferenz der SED (9.-12. Juli 1952): "Das Zentralkomittee der Sozialistischen Einheitspartei hat beschlossen der 11. Parteikonferenz vorzuschlagen, daß in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird. [... ] Die ökonomischen Grundlagen der neuen Ordnung sind der volkseigene Sektor der Wirtschaft, die volkseigenen Güter und die Maschinenausleihstationen in der Landwirtschaft sowie die von den Bauern gebildeten Produktionsgenossenschaften [... ]. Die Schaffung der ökonomischen Grundlagen des Sozialismus erfordert bei uns zunächst die Mehrung des sozialistischen Eigentums. [... ] Was die Mittelschicht betrifft, so haben wir entgegen den Behauptungen des Gegners nicht die Absicht, den Weg der Enteignung der kleinen Privatunternehmer zu beschreiten [... ]". (Ulbricht 1958, S. 371).
Eine Charakterisierung der ideologisch-geistigen Strukturen des Zeitabschnittes 1950-1953 in der DDR läßt sich aus zwei Gedichten entnehmen: "Die Partei, die hat immer Recht! Und Genossen es bleibe dabei; Denn wer kämpft fIlr das Recht, der hat immer Recht. Gegen Lüge und Ausbeuterei. Wer das Leben beleidigt, ist dumm oder schlecht. Wer die Menschheit verteidigt, hat immer recht. So aus Leninschem Geist, Wächst von Stalin geschweißt, Die Partei, die Partei, die Partei!" (Gedicht, welches auch als Lied gesungen wurde, von Louis Fürnberg zum Dritten Parteitag der SED [20.-24.7.1950]; zit. bei Kleßmann 1991, S.263). "Dort wirst Du, Stalin stehn in voller Blüte Der Apfelbäume an dem Bodensee, Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte Und winkt zu sich heran ein scheues Reh [... ]" (Strophe eines Gedichtes von lR. Becher nach dem Tode Stalins 1953; zit. bei Kleßmann 1991, S. 290).
Andere renommierte Autoren wie Brecht entrichteten zwar auch ihren Tribut an die staatlich verordnete Doktrin gaben aber niemals ihre eigenständige Position auf (Kleßmann 1991, S. 263). Besonders bemerkenswert erscheint die Bewertung dieser beiden Gedichte durch Kleßmann aus der Sicht des Jahres 1991 bei gleichzeitiger Würdigung der Haltung von Intellektuellen.
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IV. Kollektivierung der Landwirtschaft . Bis zum Jahre 1952 blieb die Selbständigkeit der kleinen und mittelgroßen bäuerlichen Wirtschaften erhalten. Die Kollektivierung der Landwirtschaft setzte mit der 2. Parteikonferenz der SED (9.-12.7.1952) ein, durch den Beschluß: Planmäßiger Aufbau der Grundlagen des Sozialismus. Dazu sollten auf freiwilliger Grundlage Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) geschaffen werden. In Wirklichkeit erfolgte ein massiver politischer und wirtschaftlicher Druck Markstein einer neuen Entwicklung war der Erlaß des Gesetzes über die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften vom 3.6.1959 (GBI. I S. 577, An!. 245). Der in die Genossenschaften zur allgemeinen Nutzung eingebrachte Boden blieb nach §7 (1) (Anlage 244) Eigentum der Mitglieder. Dieses Eigentum war bis zur Inhaltslosigkeit ausgehöhlt. Das der LPG einzuräumende Nutzungsrecht schloß die individuelle Nutzung völlig aus. Da die Fluchtbewegung auch nach dem 17. Juni 1953 noch anhielt, wurden bis zum Jahre 1956 ca. 805.000 ha landwirtschaftliche Nutzfläche an die LPG und mehr als 10.000 ha an die Volkseigenen Güter übergeben (DDRHandbuch 1979, S. 651). Die bis zum Herbst 1959 angewandten Maßnahmen reichten nicht aus, die verbliebenen privaten Landwirtschaftsbetriebe in die LPG zu bekommen. In den letzten drei Monaten 1960 wurde unter Einsatz aller politischen, propagandistischen und administrativen Mittel die Kollektivierung beendet. Innerhalb dieser Zeit wurden 450.000 Einzelbauern mit 2.500.000 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche (= 39 % der DDR) zum Beitritt in die LPG veranlaßt oder wohl besser genötigt. Dies entsprach fast der Fläche, die die LPGen ab 1952 in siebeneinhalb Jahren an sich bringen konnten. Zum Ende der Zwangskollektivierung im März 1960 erfolgte im Deutschen Bundestag eine Stellungnahme, die aus heutiger Sicht (1997) besonders bemerkenswert ist: Dazu sagte am 6. April 1960 in der 108. Sitzung des Deutschen Bundestages Prof. Dr. Carlo Schmid (SPD) als amtierender Bundestagspräsident: "Drüben jenseits des Eisernen Vorhanges geht jetzt ein neues Bauernlegen zu Ende [... ] denn die hier ihre Höfe verlieren, bringen keine freiwilligen Opfer [... ], sondern werden schlicht erpreßt. [... ] Zur Gewalt fUgt man die Lüge, und man will das Volk zwingen diese Lüge fUr die Wahrheit zu halten" (Schmid 1960; zit. bei Weber 1995, S. 2870).
Für die Bundesregierung erklärte Bundesminister Ernst Lemmer (CDU): "daß diese Barrieren hinweggefegt werden an dem Tage, an dem wir Deutschen endlich von dem Recht der Selbstbestimmung werden Gebrauch machen können" (ebd, S. 2870). Bezüglich der noch vorhandenen Klein- und Mittelbetriebe erfolgte die Vorgehensweise mit dem Ziel der letztendlichen Enteignung über einen Zwischenschritt.
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1. Vom Privatbetrieb zum halbstaatlichen Betrieb Durch Ulbricht beeinflußt wurde 1955 eine neue Unternehmensform mit halbsozialistischen Charakter kreiert, die staatliche Kapitalbeteiligung durch die eine Mitsprache der Wirtschaftsverwaltung in allen wichtigen Fragen der Unternehmensführung erfolgte. Langfristige Kredite wurden nicht gewährt, sondern dafür die Erhöhung der Staatseinlagen. Dies bedeutete langfristig Verstaatlichung. Mit dieser Form fand auch eine langfristige Bindung an die Volkswirtschaftspläne statt. So kam es bis ca. 1962 zu halbstaatlichen Betrieben mit rd. 335000 Beschäftigten in der Industrie und halbstaatlichen Betrieben mit rd. 44000 Beschäftigten in der Bauindustrie. Im Jahre 1972 kam es dann aus bisher noch nicht völlig geklärten Zusammenhängen zu einer Massenverstaatlichung. Hierbei wählte man den Weg des reglementierten Verkaufs von Firmenanteilen der Besitzer zu staatlichen Zwangskonditionen (Kaiser 1972). Einen summarischen Überblick über den Untergang der Privatbetriebe in der DDR gibt die folgende Tabelle 5. Tabelle 5: Untergang der Privatbetriebe in der Industrie der DDR 1950-1972 Bereich
1950
1963
1972
Grundstoffindustrie
2.473
550
-
Metallverarbeitende Industrie
3.447
951
-
9.248
2.808
-
2.375
510
-
17.543
4.819
408
Leichtindustrie (einschl. Textilindustrie) Nahrungs- und GenußmitteIindustrie Gesamt
Quelle: Statistische Jahrbücher der DDR Jgg. 1950, 1963, 1972
Im Jahr 1948 wurden in der SBZ 36000 Privatbetriebe gezählt. Somit war es der KPD/SED mit massiver Hilfe der SMAD (KPdSU) gelungen, innerhalb von 28 Jahren (1945-1972) die bürgerlich-demokratische Eigentumsordnung mit Hilfe von Enteignungen zu zerschlagen. Damit konnte auch die zentrale Planwirtschaft gegen jegliche ökonomische Vernunft aufgebaut und durchgesetzt werden (Wettig 1994, S. 816 ff.).Damit befand sich die politische und ökonomische Macht in der Hand der SED und hier speziell des Politbüros.
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Literatur Ackennann, Anton: Wohin soll der Weg gehen! Artikel vom 14.6.1945. In: Dokumente zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland. Reihe 1945/1946. Hrsg. von Benser, GünterlHans Joachim Krusch, Bd. 1: Protokolle des Sekretariats des Zentralkomitees der KPD Juli 1945 bis April 1946, München 1993. Ash, Timothy Garton: Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, Frankfurt am Main 1995. Buck, Hannsjörg F.: Fonnen, Instrumente und Methoden zur Verdrängung, Einbeziehung und Liquidierung der Privatwirtschaft in der SBZ/DDR. Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Bd. 1112 Baden Baden 1995, S. 1070-1213. Benser, Günter: Die KPD im Jahre der Befreiung. Vorbereitung und Aufbau der legalen Kommunistischen Massenpartei (Jahreswende 1944/45 bis Herbst 1945), Berlin (Ost) 1985. DDR-Handbuch, Köln 1979. Engels, Friedrich: Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland. In: Friedrich Engels ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin (Ost) 1970. Erler, PeterlHorst LaudelManfred Wilke: "Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 rur Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994. Fischer, Alexander: Teheran, Jalta, Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der "großen Drei". Köln 1985. Hennes, Peter: Die Christlich Demokratische Union und die Bodenrefonn in der sowjetischen Besatzungszone, Saarbrücken 1963. Kaiser, Monika: 1972: Knockout rur den Mittelstand. Reihe SED und Stalinismus. Berlin 1990 Keiderling, Gerhard: Gruppe Ulbricht in Berlin April bis Juni 1945, Berlin 1993. Kleßmann, Christoph: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1950. Bundeszentrale rur politische Bildung, Bonn 1991. Kleines Politisches Wörterbuch. Berlin (Ost) 1988,7. Aufl. Marx, KarllFriedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei [1848j, Bd. I, Berlin (Ost) 1970. Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Schwerin, Akte Nr. 1843 Ministerium des Innern 19451952, Schwerin 1945. Meyers Neues Lexikon, Bd. 3, VEB-Bibliographie, Leipzig 1976. Pieck, Wilhelm: Antwort von Pieck auf eine Frage bei der "Kundgebung der Bauern und Landarbeiter, Kyritz 2. September 1945". Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen DDR im Bundesarchiv, Berlin 1945, Signatur: NL 36684. Semiryaga, Michail: Wie Berias Leute in Ostdeutschland die "Demokratie" erichteten. In: Deutschland Archiv 1996,29. Jg. (1996), H. 5, Köln, S. 741-752. Skiba, Dieter: Der Beitrag der Organe des MfS bei der konsequenten Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen und gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diplomarbeit an der Juristischen Hochschule des Ministeriums rur Staatssicherheit, Potsdam 1980 (Vertrauliche Verschlußsache ).
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Statistisches Jahrbuch der DDR 1950, Berlin (Ost) 1951. Statistisches Jahrbuch der DDR 1963, Berlin (Ost) 1964. Statistisches Jahrbuch der DDR 1972, Berlin (Ost) 1973. Stöckigt, R.: Der Kampf der KPD um die demokratische Bodenreform Mai 1945 bis April 1946, Berlin (Ost) 1964. Treue, Wolfgang: Deutsche Parteiprogramme 1861-1914. Quellensammlung zur Kulturgeschichte Bd. 2. Göttingen, Frankfurt, Berlin 1954. Tümmler, Edgar: Die Agrarpolitik in Mitteldeutschland und ihre Auswirkungen auf Produktion und Verbrauch landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Wirtschaft und Gesellschaft in Mitteldeutschland, Bd. 3, Berlin 1969. Ulbricht, Walter: Zur Geschichte der neuesten Zeit, Berlin (Ost) 1955. Ulbricht, Walter: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (Reden und Aufsätze), Bd. IV Berlin (Ost) 1958, S. 371-499. Weber, Adolf: Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse und der Produktionsstruktur in der Landwirtschaft der DDR. Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Baden Baden 1995, Bd. 1114, S. 2809-2888. Weber, Hermann: Von der SBZ zur DDR 1945-1968, Hannover 1968. Wettig, Gerhard: Die KPD als Instrument der sowjetischen Deutschland-Politik. Festlegungen 1949 und Implementierungen 1952. In: Deutschland Archiv 1994, S. 816-829. Wettig, Gerhard: Kontrastprogramm "antifaschistisch-demokratische Ordnung" Sowjetische Ziele und Konzepte, in Oberreuter, Heinrich/Jürgen Weber (Hg.): Die Alliierten und die DcmokratiegrUndung in Deutschland. München 1996, S. 103-123. Wörterbuch der Geschichte, Bd. 1, Berlin (Ost) 1984.
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Anlage I Vorstellungen bzw. Festlegungen zum Eigentum bei MarxlEngelslLenin und der KPD. Bereits im Manifest der kommunistischen Partei von 1848 sind als Voraussetzung einer sozialistischen Transformation u.a. genannt: 1. Expropiation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben; 2. starke Progressivsteuer; 3. Abschaffung des Erbrechtes; 4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen (MarxlEngels [1848], 1970, S. 45). Bezüglich der Landwirtschaft unterscheiden Marx und Engels zwei Etappen nach Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse: 1. Etappe: Enteignung Großgrundbesitz. Bewirtschaftung nur den in den Genossenschaften zu organisierenden Landarbeitern zugelassen. 2. Etappe - länger anhaltend: Durch die Bildung von Ackerbaugenossenschaften sollen die Bauern von den Vorteilen des landwirtschaftlichen Großbetriebes überzeugt werden. "Ganz einfach [8; M.S./D.V.] liegt die Sache nur beim Großgrundbesitz. Hier haben wir unverhüllten kapitalistischen Betrieb, und da gelten keine Skrupel irgendwelcher Art. Wir haben hier Landproletarier in Massen vor uns, und unsere Aufgabe ist klar. Sobald unsere Partei im Besitz der Staatsrnacht ist, hat sie die Großgrundbesitzer einfach zu expropiieren, ganz wie die industriellen Fabrikanten" (Engels 1970, S. 405).
In Fortsetzung dieses Ideengutes werden durch die KPD 191811919, in den zwanziger Jahren und 1930 die folgenden Positionen vertreten: "Enteignung des Grund und Bodens aller landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetriebe" [Spartakusbund 1918] (Treue 1954, S.85). "Großgrundbesitz und große Forste sind sofort in gesellschaftliches Eigentum zu überführen" [USPD 1919] (ebd.). "Die Sozialisierung der Landwirtschaft" § 12: "Aller Grundbesitz von mehr als 50 Hektar, der als Großbetrieb bewirtschaftet wird, wird mit lebendem und totem Inventar, den dazugehörigen gewerblichen Betrieben und dem Betriebskapital in sozialistische Verwaltung überfllhrt. " 8
Nach Ansicht der Verfasser ist hier gemeint im Gegensatz zu den Groß- und Mittelbauern.
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§ 13: "Die auf den großen Gütern beschäftigten Landarbeiter, Tagelöhner, Gutsleute, Handwerker und Angestellte werden unter Leitung des Betriebsrates (Gutsrates) als Produktionsgenossenschaft konstituiert, die unter staatlicher Verwaltung die Güter weiter bearbeiten."
§ 18: "Die staatlich geleiteten Güter sowie die genossenschaftlich zusammenzufassenden Kleinbetriebe liefern ihre Produkte unter Ausschaltung jeglichen Zwischenhandels an die städtischen Genossenschaften oder Gemeinden zur Verteilung an die Verbraucher."
In dem "Entwurf eines Sozialisierungsgesetzes" wird auch die Sozialisierung aller Betriebe mit mehr als 20 Arbeitern und Angestellten aller Banken und Versicherungen gefordert. Weiterhin sollte nach Einzelbestimmungen der Grund und Boden sowie der Hausbesitz enteignet werden (Entwurf eines Sozialisierungsgesetzes; Deutscher Reichstag 11. Wahlperiode; Nr. 141 eingebracht von Thälmann, Koenen et al.). Nicht nur die Forderung nach einer Anlehnung an die Sowjetunion, sondern die Schaffung "Sowjetdeutschlands" .. die Herrschaft der Großgrundbesitzer (zu) brechen und ihren Grund und Boden entschädigungs/os" zu enteignen, enthält bereits die Programmerklärung der KPD vom 24. August 1930 (zit. bei Treue 1954, S. 85 ff.). Die Oktoberrevolution ("Große sozialistische Oktoberrevolution") in Rußland siegte am 7.11.1917 in Petrograd. Am 8.11.1917 verkündete der 11. Gesamtrussische Sowjetkongreß die Machtübernahme durch die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten. Aus diesem Sowjetkongreß wurde als zweites Dekret das "Dekret über den Grund und Boden" am 8.11.1917 auf Vorschlag Lenins angenommen. Es verfllgte die entschädigungslose Enteignung (Konfiskation) des gesamten Bodens und des darauf befmdlichen Inventars und die Überführung in die Hände des Volkes. Das Privateigentum an Grund und Boden wurde für immer aufgehoben. Dieses Dekret gilt bis zum heutigen Tag! (Kleines Politisches Wörterbuch Neuausgabe 1988, S. 368 ff.).
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Anlage 11 Interessant ist es, die Ausfilhrungen von Ackennann aus dem Jahre 1945 unter dem Titel "Wohin soll der Weg gehen" zur Kenntnis zu nehmen. Hier dazu einige Zitate: "Die Erklärung der Sowjetunion, sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen und die gesellschaftliche Ordnung in den von der Roten Armee besetzten Ländern nicht anzutasten, [... ] wenn wir Kommunisten vom Kampf um ein neues demokratisches Deutschland im Sinne einer parlamentarisch-demokratischen Republik sprechen [... ] unsere Forderung nach Aufrichtung eines antifaschistisch-demokratischen Regimes mit allen Rechten und Freiheiten für das Volk ist keine hinterhältige Taktik, Diplomatie oder Tarnung, sondern ernstgemeinte Orientierung auf das einzige gegenwärtige in der gegenwärtigen Lage reale Ziel." [... ] "Wir sind für diesen Weg zu einem neuen demokratischen Deutschland, weil gegenwärtig die Voraussetzungen für einen anderen Weg fehlen" (Ackermann zit. bei BenserIKrusch 1993, S. 256 f.). "Im Zusammenhang damit fordern wir in den zehn Punkten unseres Aktionsprogrammes, mit der Enteignung des gesamten Vermögens der Nazibonzen und Kriegsverbrecher, die Liquidierung des Großgrundbesitzes, der großen Güter der Junker, Grafen und Fürsten durchzuführen. [... ] Unangetastet bleibt dabei das bürgerliche Privateigentum, wie erst recht das Eigentum der Bauern und des Mittelstandes. Der freie Handel wird sichergestellt und die Privatinitiative in keiner Weise behindert" (ebd., S. 257).
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Anlage III Alliierter Kontrollrat: Textzitate, die die systemimmanente Sichtweise der Sowjetunion und DDR erkennen lassen: "Die wichtigsten Ergebnisse in seiner Tätigkeit, die dank der konsequenten Haltung der sowjetischen Vertreter den Interessen des deutschen Volkes entsprachen, erzielte der AK bis Mitte 1947. Die Vertreter der Westmächte gingen 1946/47 immer offener dazu über, das Potsdamer Abkommen zu sabotieren. Die Beschlüße des AK wurden in den westlichen Besatzungszonen von Anfang an nur teilweise und formal durchgefllhrt, dann aber zunehmend umgangen, hinausgeschoben oder verfälscht. Der offene Bruch der Grundsätze der Antihitlerkoalition und des Potsdamer Abkommens durch die Westmächte und die gesamte imperialistische Spaltungspolitik lähmten die Tätigkeit des AK und entzogen ihm schließlich die Grundlage seines Bestehens" (Wörterbuch der Geschichte 1984, S. 34). "Trotz alledem darf jedoch nicht übersehen werden, daß das Potsdamer Abkommen [9; M.S./D.V.] wie auch die anderen Beschlüße der Antihitlerkoalition Vereinbarungen von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung waren und demzufolge Kompromißcharakter trugen. Zeigten sich bereits beim Zustandekommen dieser Vereinbarungen - bedingt durch entgegengesetzte Klasseninteressen - beträchtliche Unterschiede und Gegensätze bei der Fixierung und inhaltlichen Auslegung der Standpunkte, wurden diese unmittelbar nach der Zerschlagung des Faschismus zunehmend offensichtlicher" (Skiba 1980, S. 8).
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Die Bezeichnung Potsdamer Abkommen entspricht nicht der Quellenlage. Die Bezeichnung war durch die Alliierten-Konferenz von Potsdam (wie übrigens auch die von Teheran und Jalta). Die Konferenzergebnisse wurden in Offiziellen Dokumenten zusammengefaßt und in Potsdam ein Protokoll mit BeschlOssen angefertigt (Fischer 1985).
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Anlage IV Das Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrates: "Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechens, Verbrechens gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben" erschien am 10.12.1945. Dieses Gesetz hatte zwei Grundsätze: 1. Feststellung der Schuld in einem Gerichtsverfahren an Hand von Beweisen; 2. Bestrafung bei Schuldnachweis in folgenden Fonnen: Todesstrafe, Freiheitsstrafe, Geldstrafe oder Freiheitsstrafe, Vennögenseinziehung, Rückgabe unrechtmäßig erworbenen Vennögens, völlige oder teilweise Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte. Die Direktive Nr. 38 des Kontrollrates: "Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen" vom 31. Oktober 1946 folgte diesen Grundsätzen.
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Anlage V Entnazifizierung: Folgende amtliche Zahlen von 1949/50 machen Angaben zum Gesamtumfang der Entnazifizierung in den Westzonen. Insgesamt wurden von den deutschen Spruchkammern 3.660.000 Fälle bearbeitet. Davon 950.126 (bei 3.450.000 Betroffenen) in der amerikanischen; 2.041.000 in der britischen und 669.068 in der französischen Zone. Davon fielen (ohne Amnestie) in die Gruppe: Tabelle 6: Gesamtumfang der Entnazifizierung in den Westzonen Kategorie
Gruppe
Hauptschuldige
Gruppe I
Schuldige Belastete Minderbelastete Mitläufer Entlastete
US-Zone 1654
Britische Zone
Französische Zone keine Angaben, 13
da Einstufung durch Militärregierung
Gruppe 11
22122
Gruppe III
106422
Gruppe IV Gruppe V
485057 18454
keine Angaben 27177 222028 1191930
938 16826 298789 3489
Quelle: Weber 1995, S. 2809 ff.
Eine Vergleichbarkeit dieser Zahlen ist auf Grund der unterschiedlichen Schärfe der Einteilungskriterien nicht ohne weiteres gegeben.
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Anlage VI Entnazifizierung in der Sowjetzone/DDR "Mit dem Erlaß des Gesetzes Nr. 10 und der Direktive Nr. 24 des Alliierten Kontrollrates ist für das Jahr 1946/47 zu verzeichnen, daß in zahlreichen Prozeßen durch deutsche Gerichte eine größere Anzahl von Personen dafür zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen wurde, daß sie für das Naziregime charakteristische Verbrechen begangen hatte" (Kleßmann 1991, S. 91).
So sind für die sowjetische Besatzungszone nachweisbar: Tabelle 7: Gesamtumfang der Entnazifizierung in der Sowjetzone !DDR Jahr
Strafart Todesstrafe
lebensläng Zuchthaus
über 10 Jahre
3-10 Jahre
unter 3 Jahre
Summe
1946
8
2
22
35
56
123
1947
8
6
22
130
578
744
1948
10
12
62
709
3756
4549
1949
13
11
70
401
2138
2633
gesamt
39
31
176
1275
6528
8049
Quelle: Kleßmann 1991, S. 91 ff. in abgeänderter Form .
.. Bis zum Ende des Jahres 1949 waren auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone bzw. der späteren DDR 8055 Personen gerichtlich wegen Naziund Kriegsverbrechen bestraft worden. Durch die sowjetischen Militärgerichte wurden in dieser Zeit unabhängig davon auch tausende Urteile gegen solche Personen gefällt" (Kleßmann 1991, S. 91). "Die genaue Anzahl der durch sowjetische Militärgerichte erfolgten Verurteilungen von Nazi- und Kriegsverbrechern konnte nicht festgestellt werden. Fest steht jedoch, das zumindest 9717 wegen Kriegsverbrechen verurteilten Personen auch nach dem Abschluß der Repatriierung der deutschen Kriegsgefangenen im Jahre 1950 in der UdSSR verblieben und zu weiteren 3815 in der Haft befindlichen Personen die Verfahren noch nicht abgeschlossen waren. Siehe Neues Deutschland vom 17.6.1950, S. 2; Neues Deutschland vom 7.10.1950, S. 7" (Skiba 1980, S. 18).
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Anlage VII Mit welcher unglaublichen Dreistigkeit von der SEDlKPdSU selbst eindeutig überprüfbare Fakten verdreht und gezielt falsch dargestellt werden, ist an einer Textpassage bezüglich gesellschaftlichen Eigentums nachweisbar. Sie lautet: "Ausgangspunkt für die Entstehung des gesellschaftlichen Eigentums auf dem Gebiet der DDR waren: Zerschlagung des Faschismus; Durchführung des Potsdamer Abkommens; Aufbau neuer staatlicher Machtorgane; der Volksentscheid vom 30.6.1946 in Sachsen sowie die Gesetze der anderen Länder der damaligen sowjetischen Besatzungszone über die Enteignung der Betriebe von Nazi- und Kriegsverbrechern und die Verstaatlichung der Bodenschätze sowie die demokratische Bodenreform" (Kleines politisches Wörterbuch 1988, S. 333f.).
Dagegen bleibt festzuhalten: Das gesellschaftliche Eigentum der SBZIDDR entstand unter eklatantem Bruch der Potsdamer Beschlüsse und des Alliierten Kontrollrates. Die Enteignungen der angesprochenen Eigentumskategorien durch die KPD/SED zu deren Machterhalt und Machtfestigung waren die Grundlage des" Volkseigentums" der SBZIDDR.
Daniela BeutlerIWerner König
"GEHEIME LIZENZ ZUM TÖTEN" Liquidierung von Feinden durch das Ministeriwn fiir Staatssicherheit I. Marxismus-Leninismus - Katalysator des ideologischen und politischen Kampfes des MfS In keiner historischen und gegenwärtig bekannten Gesellschaftsordnung wurden - unter dem Postulat der Humanität und der Menschheitsbeglückung so viele Menschen ermordet und zu Tode gequält, körperlich und seelisch verkrüppelt, versklavt und um ihr Lebensglück betrogen wie in jenen Staaten, deren Maxime die kommunistische Ideologie war. Nirgendwo wurden auch Natur und Umwelt so umfassend und rücksichtslos ausgebeutet, vergiftet und zerstört wie in den Ländern des real existierenden Sozialismus. Die geistige Grundlage fUr diese Handlungen der Kommunisten - die in Rotchina, Nordkorea und Kuba unvermindert weitergehen - bildet die Ideologie des Marxismus-Leninismus (vgl. Bukowski 1996, Löw 1996, Rüthers 1995). Die Vertreter dieses menschenfeindlichen Dogmas - im Verständnis der Kommunisten: "die einzig wahre und einzig wissenschaftliche Weltanschauunt' - sind bewußte und kenntnisreiche Täter, letztendlich verantwortlich rur das, was geschah, und das, was immer noch geschieht. Schließlich gründet die "materielle Gewalt' (Marx), mittels derer die Kommunisten im Namen des Fortschritts ihre Untaten begingen und unendliches Leid über die Menschen brachten, auf dieser Irrlehre. Kommunistische Indoktrination, totale Überwachung, brutaler Zwang, Unfreiheit und Erziehung zum Haß auf den Klassenfeind, d.h. auf jeden Menschen, der die eigenen Ansichten nicht teilt, sollten Persönlichkeiten mit verinnerlichter kommunistischer Moral entstehen lassen, bedingungslose Befehlsempfänger der ParteifUhrer - Täter auf Abruf. Durch den Marxismus-Leninismus wurden die Grundlagen eines totalitären Herrschaftssystems geschaffen, das den Menschen zum Instrument der Partei degradierte und auch Sittlichkeit und Moral den Interessen des proletarischen Klassenkampfes unterordnete (Hornung 1996, S.395). Im Mittelpunkt dieser offiziellen Staatsideologie stand das Bemühen um die Herausbildung ideologisch präparierter Menschen, mit deren Hilfe die Partei die Herrschaft über die 5*
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Köpfe ausüben und das kritische Denken zerstören sollte. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) leitete daraus die Schlußfolgerung ab, "daß die Entwicklung und Festigung des sozialistischen Bewußtseins, die ideologische Bildung und Erziehung der Massen auf der Grundlage des MarxismusLeninismus die wirksamste geistige Waffe ist, um alle Anschläge des Imperialismus, seiner subversiven Aktivitäten zunichtezumachen und ihm selbst Niederlagen zuzufügen" (HallelBlechalKöhler 1971, S. 27).
Mielke brachte in seiner Rede anläßlich seiner Auszeichnung mit dem Lenin-Orden im Dezember 1973, die er als eine Anerkennung des Kampfes aller Diensteinheiten des MfS wertete, das internationale Anliegen der Stasi unter Berufung auf den Marxismus-Leninismus zum Ausdruck: "Die Partei hat uns erzogen und in die Lage versetzt [... ] auf der Grundlage des MarxismuslLeninismus und der Prinzipien des proletarischen Internationalismus, Schulter an Schulter mit unseren sowjetischen Genossen und Freunden den Kampf um die zuverlässige Sicherung des Sozialismus erfolgreich zu führen und die Machenschaften des Feindes konsequent und kompromißlos zu zerschlagen [... ]" (Mielke zit. in FröhlichIKluge 1979, S. 203).
Im vorliegenden Zusammenhang sollen Zitate von zwei Autoren der letzten Jahre genannt werden. Erstens handelt es sich um Wolkogonow (1994, S. 347): "Mit dem Namen Lenin verbariden sich Antikapitalismus, Antidemokratismus, Antiliberalismus, Antireformismus, Antihumanismus und Atheismus [... ] Die neue Gesellschaft war von Grund auf totalitär. Die unendliche schöpferische Vielfalt des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens wurde kompromißlos den starren Dogmen des Leninismus untergeordnet."
Zweitens heißt es bei Löw (1996, S. 231 f.): "Davon, daß Marx ausdrücklich darauf verzichtete, Moral zu predigen war schon die Rede. Er fühlte sich auch an keinerlei Moralvorgaben gebunden. Für ihn und Engels war das Postulat der Nächstenliebe nur Anlaß, um sich zu mokieren [... ). Haß, Verachtung anderer, Hohn und Spott, Racheschwüre, ja Terror und Mord, also die extremsten Gegensätze von Liebe, werden ausdrücklich bejaht [... ] Auch wer Marx und Engels geistige Väter des Terrorismus nennt und ihnen die Verherrlichung von Mordtaten vorwirft, tut ihnen kein Unrecht, nimmt sie nur beim Wort."
Die Erziehung zum Haß (sie schließt eine Erziehung zur strengen Parteilichkeit für die SED-Führer mit ein), die geistige Militarisierung begann in der DDR spätestens im Kindergarten (vgl. Schirrmeister 1987).
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11. Die systematische und unverhohlene Erziehung zum Haß - Zitate aus SED-Quellen Zur moralischen Bewertung von Haß durch die SED: ,,'Haß auf den imperialistischen Feind. Wie sollte er häßlich sein und abstoßend, wo er doch geboren ist aus der Liebe zu unserem sozialistischen Vaterland, zum Frieden, zur Gerechtigkeit unseres Kampfes?' Es ist dies, wie der sowjetische Staatsmann M.1. Kalinin einst schrieb, eine 'ungestüme, aktive, leidenschaftliche, unbezähmbare Liebe, die kein Erbarmen mit dem Frieden kennt, die von keinerlei Opfer rur die Heimat zurückschreckt'. Und auch von Karl Marx wissen wir, nicht zuletzt aus den Erinnerungen seiner Tochter Eleanor, daß er bitter hassen konnte; aber 'nur weil er einer so innigen Liebe fähig war' [ 1; D.B.! W.K.] - die Liebe zu seinen Kindern und seiner Familie, vor allem aber der Liebe zur Arbeiterklasse, zu ihrem gerechten Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, für die sozialistische Gesellschaft. [... ] Haß auf den imperialistischen Feind ist nichts Häßliches. Er ist aus der Liebe zu unserem sozialistischen Vaterland geboren und gibt uns Kraft, alles rur seinen Schutz und seine Verteidigung zu tun (Karl Heinz Freitag: "Ist Haß wirklich etwas Häßliches... ?", Berlin Ost 1981; zit. in Schirrmeister 1987, S. 229 f.).
Wer ist ein Feind? "Es gilt nun endlich Schluß zu machen mit diesem von den Kriegstreibern organisierten Geschwätz, wir werden nicht auf unsere Brüder schießen" (SED-Bezirkssekretär Fröhlich in der Leipziger Volkszeitung vom 10. April 1955; zit. in SauerlPlumeyer 1991, S. 50). "AlIe Angehörigen der NYA müssen so erzogen werden, daß sie einen Krieg zwischen der DDR und der Bundesrepublik nicht etwa als einen Bruderkrieg auffassen. Die Soldaten der NVA müssen wissen, daß jeder, der die Errungenschaften der DDR antastet, als Klassenfeind zu behandeln ist, auch wenn es der eigene Vater, Bruder, Schwager oder sonst wer ist" (Walter Ulbricht vor Kommandeuren und Politoffizieren der NVA am 29. Juni 1957; zit. in ebd.). Jeder, "der den Sozialismus angreift, ihn gefährdet oder zu gefährden droht gleich in welcher Erscheinung er auftritt, welcher Klasse er angehört, in wessen Namen zu handeln er vorgibt -, ein bewußter oder unbewußter, ein direkter oder Der klassische Haß-Liebe-Konflikt wird hier in einer besonders verlogenen Art und Weise dargestellt. Es handelt sich ja bei den angefilhrten Beispielen durchaus nicht um die Tatsache, daß eine Person oder Gruppe selbstqualerisch gleichzeitig liebt und gehaßt wird, sondern Liebe und Haß werden auf völlig unterschiedliche Bereiche gerichtet. Das beweist durchaus nicht, daß ein Hassender zu besonders starker Liebe flIhig ist; zumal die Liebe zur eigenen Familie in diesem Zusammenhang überhaupt nichts besagt. Der Kriminologe Hans von Hentig nannte sie einmal "die besinnungslose Zuneigung des Raubtiers zur eigenen Brut". Darüber hinaus war Karl Marx auch gar kein liebevoller Familienvater (siehe dazu Löw 1996 S. 77 f.).
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indirekter Interessenvertreter des Imperialismus, ist ein Feind des Sozialismus und damit mein persönlicher Feind" (Arno Bendrat/Klaus Freudenreich: Politische Schulung ... , Berlin Ost 1977; zit. in Schirrmeister 1987, S. 232).
Entsprechende Anweisungen zur Erziehung zum Haß auf den politischen Gegner durchziehen das Schrifttum der DDR rur alle Altersstufen. Vermittlung des Feindbildes im Kindergarten: "Böse Menschen sind Faschisten; wollen Krieg; sind habgierig und reich; sind Grafen; überfallen ein anderes Land; rauben, zerstören Häuser, töten; wollen nicht lernen (!) gut zu werden; sind aus unserem Land vertrieben und gewinnen nicht (aber sie gibt es noch)" (BUMMI; Sterngeschichten, Berlin Ost 1986; zit. in ebd., S. 37).
Die Bereitschaft zum Kampf rur das eigene System kann nach der Auffassung der SED nur noch mit dieser emotionalisierenden Erziehung zum Haß und mit der Entmenschlichung der Anhänger gegnerischer politischer Systeme aufrechterhalten werden. Die Herausbildung von Feindbildern, die Erziehung zu strenger Parteilichkeit rur die SED-Führer und die Erziehung zum Haß bildeten eine Einheit und waren oberster Parteiauftrag. Diese fortgesetzte Indoktrination betrieb die SED, skrupellos an die Persönlichkeitsmerkmale der Betroffenen angepaßt, von den Kinderhotels bis zu den Alten- und Behindertenheimen, von den Schulen bis zu den psychiatrischen Anstalten und den Zuchthäusern. In den "Aufgabenstellungen des Ministeriums rur Volksbildung und des Zentralrates der FDJ" von 1969 heißt es: Die Schuljugend sei "mit glühendem Haß gegen die imperialistischen Feinde unseres Volkes und der Menschheit" zu erfUllen; die Erziehung der "Schüler zum Haß auf den imperialistischen Klassenfeind" wurde von der SED zur wichtigsten Aufgabe des Lehrers erhoben (zit. in ebd., S. 39). Aus der ABC-Zeitung rur Grundschulkinder: "Denn würden wir den Frieden nicht gemeinsam schützen, hätten wir Krieg. Die Feinde des Sozialismus sind nämlich noch stark. Deshalb müssen wir stärker sein als sie. Und wir sind stärker. Aber nicht, weil wir mehr Soldaten, sondern weil wir bessere Soldaten haben. Soldaten, die wissen, daß die Völker nur im Sozialismus glücklich leben" (ABC-Zeitung, 35. Jg., H.2, Berlin Ost 1981, S.l1).
Aus dem Staatsbürgerkundebuch fur die 7. Klasse: "In der BRD wird das Volk mit teils raffinierten, teils brutalen Herrschaftsmethoden unterdrückt, und seine Interessen werden mißachtet. In den Zeitungen, im Rundfunk und über das Fernsehen werden täglich Faschismus und Militarismus, Mord und Verbrechen verherrlicht oder verharmlost. Der Imperialismus braucht die Verrohung und die Verdummung der Menschen, damit sie seine räuberischen und verbrecherischen Ziele unterstützen. [... ] Die BRD ist ein
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Staat der Unmenschlichkeit, der geistigen Unfreiheit und der Unterdrückung des fortschrittlichen Denkens. In diesem Staat werden ständig grundlegende Rechte und Freiheiten des Menschen verletzt, um die kapitalistische Klassenherrschaft zu erhalten" (Staatsbürgerkunde 7, Berlin Ost 1979, S. 102 f.).
Auch der Staatsbürgerkundeunterricht diente offensichtlich nicht einer objektiven Unterweisung der Schüler, einer Belehrung und Infonnation, sondern kannte wiederum nur ein Ziel: "Es kommt nicht primär auf die Erkenntnis der bestehenden Gesellschaftsordnung in der Bundesrepublik an, sondern Ziel des Unterrichts ist Haß auf den volksfeindlichen Charakter der in Westdeutschland bestehenden Gesellschaftsordnung" (Sauermann et al. 1967, S 134). Und dieser Haß soll dann in praktisches Handeln umgewandelt werden; er ist ebenfalls Teil der "sozialistischen Wehrerziehung". Grundlagen der DDR-Wehrerziehung waren: "Treue zu sozialistischen Idealen, proletarischer Internationalismus, sozialistischer Patriotismus, Solidarität, Standhaftigkeit, Mut, Disziplin, Siegesgewißheit, Treue zur Partei der Arbeiterklasse, Opferbereitschaft und Haß gegen die Feinde des Volkes und des Sozialismus" (lIter 1974, S. 29). Auf dieser schon im Kindesalter gelegten Haßgrundlage konnte im Erwachsenenalter mehr oder weniger erfolgreich aufgebaut werden. Aufrufe zum Haß gegen den "Klassenfeind" waren dann zu einer solchen Selbstverständlichkeit geworden, daß über ihre eigentlichen Inhalte nicht weiter nachgedacht werden mußte. Wenn es nötig erschien, konnte die Haßerziehung ausgebaut und erweitert, auch intensiviert werden. Wie so etwas zu beginnen war, damit beschäftigten sich Doktoranden der "Juristischen Hochschule Potsdam", die den "wissenschaftlichen" Nachwuchs des Ministeriums rur Staatssicherheit bildete. Erziehung zum Haß in der Nationalen Volksarmee: "Haß! Schreit doch den Haß in jede Wohnung, lernt doch zu hassen ohne Schonung. Haß! Tragt ihn hinein in die stillen Gassen, lehrt auch die Blumen, heiß zu hassen. Haß! Allerorts und zu jeder Stunde, Haß auch in trauter Kaffeerunde. Haß! Sei jetzt mein Freund, sei mein Gefährte, fuhre die Hand an meinem Schwerte. Haß! Kehre in meine Feder wieder, werde das Lied jetzt aller Lieder. Haß! Und keine Liebe? Keine Liebe! Haß nur übt die Vergeltung! 'Übe!'" (Die Freiheit, Halle/S. vom 6. November 1959, S. 2; zit. in SauerlPlumeyer 1991, S. 51).
Die SED-Führer setzten ganz bewußt die zerstörerische Wirkung von Haß rur ihre Ziele ein. Haß - so behauptete die kommunistische Partei - habe höchsten moralischen Wert, wenn er auf den Feind gerichtet sei. Wir sehen das anders: Haß ist ein beherrschendes, destruktives, Positives verdrängendes, zerstörerisches, intensives Geruhl der Abneigung und Feindschaft bis hin zur Vernichtung des Gegners. Haß zerstört die Persönlichkeit und die Grundlagen der Gesellschaft - er ist das Gegenteil von Liebe. Erziehung zum Haß ist ein Verbrechen.
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Feindbild und Erziehung zum Haß beim MfS: Wichtigstes Aktionsfeld war zu jeder Zeit die DDR selbst mit dem Ziel der Überwachung ihrer Bevölkerung und der Unterdrückung und Zerschlagung "feindlich-negativer Kräfte" im Auftrage der SED. "Für das MjS war und ist es deshalb ein grundlegendes Erfordernis, die gegnerischen Aktivitäten zur Inspirierung und Organisierung von Staatsverbrechen { ..] sowie anderer feindlich-negativer Handlungen offensiv zu bekämpfen und ihnen im Innern der DDR den Boden dafür zu entziehen" (Jaskulski et al. 1985, S. 16) Auf einer internen Arbeitsberatung ordnete der Leiter der Hauptabteilung XVIII, Alfred Kleine, an: "Es ist ein Gebot der Stunde, dafor zu sorgen, { ..] daß Provokateure, Rädelsfohrer und Organisatoren einer negativen Stimmung erkannt und ausgeschaltet werden" (Kleine 1989, S. 36). "Das MjS trägt dabei eine spezifische Verantwortung, weil sich feindlich-negative Kräfte zum Teil raffiniert tarnen, so daß sie nur durch den Einsatz der spezifischen tschekistischen Kräfte, Mittel und Methoden entlarvt werden können (Jaskulski et al., S. 19). Wie definierte das MfS nun die "feindlich-negativen Kräfte", die sie auf brutalste Weise bekämpfte? Als Feinde definierte das MfS: "Personen, die in Gruppen oder individuell dem Sozialismus wesensfremde politisch-ideologische Haltungen und Anschauungen absichtsvoll entwickeln und in ihrem praktischen Verhalten durch gezieltes Hervorrufen von Ereignissen oder Bedingungen, die die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung generell oder in einzelnen Seiten gefährden oder schädigen, eine Verwirklichung dieser Haltungen und Anschauungen anstreben" (Wörterbuch ... 1993, S. 110, Stichwort "Feind"). "Als immanenter Bestandteil der Ideologie und des moralischen Wertsystems gehört das wissenschaftlich begründete, reale und aktuelle F. zu den wesentlich charakteristischen Merkmalen der tschekistischen Persönlichkeit" (ebd., S. 111; Stichwort "Feindbild, tschekistisches"). Und unter Haß verstand das MfS: "Intensives und tiefes Geruhl, das wesentlich das Handeln von Menschen mitbestimmen kann. [... ] Der moralische Inhalt des H. ist abhängig vom Gegenstand, auf den er gerichtet ist, und kann daher wertvoll und erhaben oder kleinlich und niedrig sein. H. zielt immer auf die aktive Auseinandersetzung mit dem gehaßten Gegner, begnügt sich nicht mit Abscheu und Meidung, sondern ist oft mit dem Bedürfnis verbunden, ihn zu vernichten oder zu schädigen" (ebd., S. 163; Stichwort "Haß").
Im Zusammenhang mit den inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des MfS spielt der Begriff Haß eine entscheidende Rolle. Diese waren ja die konspirative Verbindung von Staatssicherheitsdienst, zur DDR-Gesellschaft oder zum Operationsgebiet (BRD). Sie hatten die "Hauptlast in der Auseinandersetzung mit dem Feind" zu tragen, sie waren mit ihm am "direktesten konfrontiert" (Korth/ Jonak/Scharbert 1973, S. 68). In der Richtlinie 1/58 für die Arbeit mit inoffi-
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ziellen Mitarbeitern auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik vom 1. Oktober 1958 wurde aufgeführt: "Der operative Mitarbeiter hat die inoffiziellen Mitarbeiter, unabhängig von der Art der Werbung, ständig zur Ergebenheit gegenüber der Arbeiter- und Bauernrnacht der Deutschen Demokratischen Republik zu Ehrlichkeit gegenüber den Organen des Ministeriums für Staatssicherheit, zu hohem politischen Bewußtsein, zur Wachsamkeit und zum Haß gegenüber dem Feind zu erziehen" (vgl. Richtlinie 1/58).
In der Richtlinie 1/68 für die Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit (GMS) und inoffiziellen Mitarbeitern im Gesamtsystem der Sicherung der Deutschen Demokratischen Republik vom Januar 1968 fmdet sich in der Präambel die Aussage: H[ ..]' wenn sie von kämpferischen Haß gegen die Feinde erfüllt sind [ ..}" (vgl. Richtlinie 1/68). Als letztes Beispiel möge die Richtlinie 1/79 für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit vom 8. Dezember 1979 gelten. Unter dem Punkt "die politisch-ideologische Erziehung der IM und die Vermittlung eines aufgabenbezogenen Feindbildes" finden sich folgende Ausführungen: ,,-die Anerziehung solcher Überzeugungen, Wertungen und Geruhle wie die politisch-ideologische, moralische und rechtliche Verurteilung des Feindes und seines skrupellosen Vorgehens, Abscheu und Haß gegen den Feind, die Überzeugung, daß auch solche politisch-operative Aufgaben der Feindbekämpfung dienen, bei denen das nicht offensichtlich ist" (vgl. Richtlinie 1/79).
In den A- und B-Dissertationen der Juristischen Hochschule des MfS wurde u.a. festgelegt: "Eine entscheidende Aufgabe zur Erhöhung der Qualität der Arbeit mit IM ist die ständige Vermittlung eines aufgabenbezogenen und realen Feindbildes an die IM. Es kommt deshalb besonders unter den gegenwärtigen und perspektivischen Klassenkampfbedingungen darauf an, die Inoffiziellen Mitarbeiter, die unsere Hauptkräfte im Kampf gegen den Feind sind, noch allseitiger und zielstrebiger unter Berücksichtigung ihrer Einsatzrichtung, ihrer Kenntnisse, Erfahrungen, Zuverlässigkeit und anderen Faktoren zum rechtzeitigen Aufspüren und Erkennen, zur Bekämpfung und Liquidierung feindlicher Tätigkeit zu qualifizieren und zu erziehen" (Opitz et al. 1976, S. 203 f.). "Die Vermittlung und Formung des aufgabenbezogenen Feindbildes der Inoffiziellen Mitarbeiter ist folglich ein unabdingbarer Bestandteil der Entwicklung von profilierten 1M-Persönlichkeiten, die in der Lage sind, zielstrebig nach dem Feind zu suchen, ihn aufzuspüren und zu erkennen, die den Feind hassen und auf dieser Grundlage auch die notwendige Einsatzbereitschaft, Opferbereitschaft
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und andere Willenseigenschaften zur Erfüllung ihrer Aufgaben im Kampf gegen den Feind vorbringen" (ebd., S.205). "Die Inoffiziellen Mitarbeiter werden durch die Vermittlung des Feindbildes nicht nur dazu befähigt, den Feind aufzuspüren und zu erkennen, sondern auch zum Haß gegen ihn erzogen. Dadurch werden sie in die Lage versetzt, bei der direkten Konfrontation mit dem personifizierten Feind, bei ihrem Einsatz zur Bearbeitung feindlicher Personen, Personengruppen bzw. direkt im Operationsgebiet nicht nur die feindlichen Pläne und Absichten zu erkennen, sondern den sich tarnenden Feind auch politisch-ideologisch, rechtlich und moralisch als Feind zu bewerten und nicht etwa nur als 'Gegenspieler' zu betrachten" (ebd., S. 210; Operationsgebiet = nichtsozialistisches Ausland, insbes. Bundesrepublik Deutschland).
III. Von Haß zu Mord - wie die kommunistische Saat des Verbrechens aufging 1. Das MfS - unabdingbares Herrschaftsinstrument der SED Das MfS war rur die SED und ihre Politbürokratie konstitutives Herrschafts instrument ihrer Diktatur: "Schild und Schwert der Partei". Der Jurist Siegfried Mampel beschreibt dabei treffend den politischen Stellenwert des MfS: "Es wurde zu einem Instrument des Terrors, dessen die Inhaber der politischen Macht bedurften, um die Entwicklung in ihrem Sinne voranzutreiben" (Mampel 1982, S. 65). Die wichtigste Rolle bei der Durchsetzung der Ziele der Parteiruhrer (und dabei vor allem des Erhalts deren Machtmonopols) spielen die kommunistischen Geheimdienste. Sie scheuten kein Verbrechen, wenn es im Interesse der Parteiruhrer lag. Immer gilt es zu beachten: Das MfS war das Produkt und das wichtigste Werkzeug der SED-Spitze; rur die Untaten dieser kriminellen Organisation zeichnet deshalb die SED nicht minder verantwortlich. Grundsätzlich hatte das MfS "alle Maßnahmen im Kampf gegen äußere und innere Feinde so zu gestalten und umzusetzen, daß sie dem Schutz und der Durchsetzung der Politik der SED maximal' entsprachen (Grabsch et al. 1988, S. 254). Resümierend rühmte das MfS dabei seine "erfolgreiche" Bekämpfung von "feindlich-negativen Kräften ": "Schlagkraft und Wirksamkeit des MfS haben sich in den dreieinhalb Jahrzehnten seines Bestehens ständig erhöht; in Erfüllung seines Klassenauftrages hat das MfS umfassende Erkenntnisse über Pläne, Absichten, Mittel und Methoden des Gegners und von ihm manipulierter feindlich-negativer Kräfte gewonnen und verfügt über ein umfangreiches Arsenal von praktischen Erfahrungen und wissenschaftlich-theoretischen Verallgemeinerungen in der wirkungsvollsten Vorbeugung und Bekämpfung feindlicher Aktivitäten; eine enge Kampfgemein-
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schaft hat sich mit den sowjetischen Tschekisten und den Bruderorganen anderer sozialistischer Staaten entwickelt, die es ennöglichte, dem Gegner empfindliche Niederlagen beizubringen [.. .]" (Jaskulski et al., 1985, S. 368).
Karl Wilhelm Fricke und Bernhard Marquardt (1995, S. 1) erkennen treffend: "Schwer lastet das Erbe der DDR-Geheimdienste auf dem wiedervereinigten Deutschland." Allein hinsichtlich der Spionageabteilung des MfS - die lange Zeit Markus Wolf leitete, der heute seine Freiheit gegen seine Opfer nutzt (z.B. durch Verschleierung und Verniedlichung seiner Taten) - wird ausdrucksvoll zusammengefaßt (ebd.): "Der Spionage-Apparat des Ministeriums für Staatssicherheit, die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A), hatte Orwellsche Dimensionen und arbeitete ohne jede Kontrolle mit weitreichenden Zwangsbefugnissen, mit menschenverachtender Skrupellosigkeit. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht neue Ungeheuerlichkeiten aus dem HV A-Schattenreich bekannt werden: grausame Folterzellen und Verhörpraktiken, Kontakte zu Rechtsextremisten, Sabotage an Kernkraftwerken, Verschleppungen und inszenierte Unflllle mißliebiger Personen, Unterstützung terroristischer Vereinigungen und einer kommunistischen Untergrundarmee."
Nur ein Promilleanteil der SED-Untaten gelangte nach der Wende überhaupt bis vor die Justiz - und das sind teilweise die gleichen Staatsanwälte und Richter wie vorher. Die SED-"Juristen": Richter, Staats- und Rechtsanwälte wurden durch den Einigungsvertrag außergewöhnlich privilegiert; das Land Berlin z.B. "mußte dadurch bei der Wiedervereinigung 727 Rechtsanwälte und Notare aus Ost-Berlin ungeprüjt übernehmen" (Winters 1996, S. 4; vgl. Deutscher Richterbund 1996; Rüthers 1995; Meck/GriesNoigt 1996). Eine führende SED-Juristin - Rosemarie Will- soll "nach dem Willen der SPD in Brandenburg" sogar Verfassungsrichterin werden (Koschyk 1996, S. 11). Die kommunistischen Täter und ihre Opfer begegnen sich so wieder in den alten Rollen das ist eine Verhöhnung der SED-Opfer und stellt den Rechtsstaat in Frage. Recht wird zur Beliebigkeit. Nur bei wenigen Tätern kam es zu einer Anklage, nur einzelne wurden verurteilt - und diese kamen fast alle mit geringen Bewährungsstrafen davon. MfS-Minister Erich Mielke ist frei und genießt teuren Personenschutz. Die Mehtheit der Täter ist nach wie vor organisiert (z.B. in der PDS), verhöhnt ihre Opfer, benachteiligt sie in Ausübung und unter Ausnutzung ihrer alten und neuen Ämter, baut ihre Seilschaften aus und stört mit ungebrochener krimineller Energie (oft in einflußreichen Positionen) nachhaltig den Aufbau in den neuen Bundesländern. Hoch dürfte der Anteil ehemaliger MfS-Agenten sein, der nunmehr Spionage für die russischen Geheimdienste treibt (vgl. FrickelMarquardt 1995, Bukowski 1996; Hacker 1994).
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2. Dienstanweisung an "Unter-Teufel": Die "Einsatzgrundsätze und Hauptaufgaben der Einsatzgruppen im Operationsgebiet" Im Jahre 1981 erstellte das Ministerium für Staatssicherheit der DDR eine zehnseitige Anweisung (unterzeichnet von MfS-Oberst Stöcker, der Leiter des Arbeitsgebietes "S" und Mielke direkt unterstellt war) für seine Mitarbeiter unter dem Titel "Einsatzgrundsätze und Hauptaufgaben der Einsatzgruppen im Operationsgebiet" (vgl. Voigt 1996, S. 59 ff.). Es wurde dabei vorausgesetzt, daß die Mitglieder der Einsatzgruppen ,Jederzeit [... ] aktive Aktionen gegen den Feind und sein Hinterland erfolgreich durchführen [... ] können" (ebd., S. 59). Die hier zur Auswertung vorliegende Fassung der Einsatzgrundsätze wurde noch im Jahre 1988 abgezeichnet, war also weiterhin in Kraft. Womit beschäftigte sich diese Vorlage nun im einzelnen? Es ging um die Bereitschaft der MfS-Einsatzgruppenmitarbeiter, im "Operationsgebiet', das heißt im nichtsozialistischen Ausland und vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, im Sinne der DDR auf Befehl aktiv zu werden ("erfolgreiche Aktionen zu führen"; ebd.). Die Einsätze sollten sich auch gegen Personen richten. Diese Aktionen seien stets "überraschend' und "geheim" (ebd., S. 60) durchzuführen und sollten sich vor allem durch "die Erreichung maximaler Ergebnisse bei minimalem Einsatz von Kräften und Mitteln" (ebd.) auszeichnen. Die Geheimhaltung umfaßte dabei auch die Tatsache, daß Rückschlüsse auf die Handelnden oder gar eine Verbindung zur DDR ausgeschlossen werden mußten. ,,Die Durchführung aller Kampfaktionen muß so erfolgen, daß keine Rückschlüsse und Zusammenhänge für den Feind erkennbar werden" (ebd., S. 61). Erkennbar wird an dieser Stelle aber etwas anderes: Für das MfS und damit für die DDR war ein nichtsozialistischer Staat in erster Linie immer und überall ein ,,Feind' und mußte auch stets als ein solcher behandelt werden (wie bereits festgestellt, waren die Anweisungen bis zum Ende der DDR in Kraft), ganz gleich, wie die gleichzeitigen offiziellen politischen Verlautbarungen klangen, welche Verträge gerade abgeschlossen waren und welche Gespräche gerade geführt wurden. Diese Einsatzgrundsätze galten ausdrücklich auch "unter relativ normalen, friedlichen Bedingungen" (S. 60) 2.1 Einsatz" unter relativ friedlichen Verhältnissen" Obwohl dieser kürzeste Unterpunkt der Einsatzgrundsätze nur eine knappe Dreiviertelseite umfaßt, ist er bei weitem der brisanteste. Er enthüllt nämlich, welche Aufgaben die Einsatztruppen im "Operationsgebiet" während solchen Zeiten hatten, in denen allein schon ihre Anwesenheit dort mit keinem Argument zu rechtfertigen war. Weder wurde die DDR nämlich unter diesen Verhältnissen mit Krieg überzogen, noch war sie von einem solchen bedroht. Dennoch aber verfUgten die MfS-Vorgesetzten unter anderem:
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- "Liquidierung oder Beibringung von Verrätern; - Liquidierung bzw. Ausschaltung führender Personen von Terrororganisationen, deren Tätigkeit gegen die staatliche Sicherheit der DDR gerichtet ist' (S.63). Wie auch immer man sonst den Begriff "Liquidieren" interpretieren mag, wenn er auf eine Gruppe oder Organisation (auch eine Firma) bezogen wird im Zusammenhang mit Einzelpersonen kann es nur die Bedeutung vernichten, und das meint töten, haben; denn ein Individuum kann nicht "aufgelöst" werden und anschließend in anderer Form weiterexistieren. Was Liquidierung in diesem Zusammenhang fUr das MfS in der Regel bedeutete, sagt die Antwort auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Hartmut Koschyk an die Bundesregierung aus: "Die 'Liquidierung' wird in einem anderen MjS-Papier aus dem Jahre 1973 definiert als 'physische Vernichtung von Einzelpersonen und Personengruppen " erreichbar durch 'Erschießen, Erstechen, Verbrennen, Zersprengen, Strangulieren, Erschlagen, Vergiften und Ersticken '" (ebd., S. 64). Es sei an dieser Stelle noch einmal besonders darauf hingewiesen, daß diese Maßnahmen in Friedenszeiten durchzufUhren waren. Also handelte es sich um eine Anweisung zu organisiertem und staatlich abgesegnetem Mord. Natürlich bestimmte dabei das MfS, wer ein Verräter war, der getötet oder verschleppt werden durfte, wer sich durch welche Handlung oder Unterlassung als zu liquidierender Feind qualifizierte. Es lag auch in seinem Interpretationsspielraum, eine beliebige Gruppe von Menschen der feindlichen Tätigkeit gegen die Sicherheit der DDR zu bezichtigen. Der Grundsatz, daß die Beweislast beim Kläger liegt, und die Tatsache, daß es zwischen Staaten, die nicht Krieg miteinander fUhren, Vereinbarungen gibt, wirkliche Kriminelle durch deren Polizei- und Sicherheitskräfte verfolgen zu lassen, wurden von Politbüro und MfS eklatant außer Kraft gesetzt. Grundsätzlich galt in jedem Falle - und das heißt eben ausdrücklich auch in spannungsarmen, friedlichen Zeiten rur alle Aktionen -: "Das hat unter Ausnutzung der sich in den imperialistischen Staaten zeigenden Szene der Terror- und Gewaltverbrechen, durch Tarnung und Vortäuschung von Havarien, Unfällen und anderes zu erfolgen" (ebd., S.60). Bei diesen einzelnen Aktionen der Einsatzgruppen wurden drei Handlungsebenen unterschieden: Erstens der Einsatz unter "relativ friedlichen Verhältnissen" (ebd., S. 63), den wir in diesem Abschnitt behandelt haben, zweitens der Einsatz in "Spannungsperioden" (ebd., S.60), drittens der Einsatz im Krieg ("im Falle bewaffneter Auseinandersetzungen"; ebd., S. 61). Dabei darf nie außer acht gelassen werden, daß diese Vorgaben in jenen "friedlichen Zeiten" galten, als die DDR von westdeutschen Politikern mit ehrenden Staatsbesuchen bedacht und mit regimeerhaltenden Milliardenkrediten beschenkt und unterstützt wurde.
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2.2 Einsatz in "Spannungsperioden" Unter "Spannungsperioden" wurden in dem vorliegenden Beitrag solche Zeitläufe eingeordnet, die jederzeit in eine militärische Auseinandersetzung münden können. Folgt man den Ansichten des MfS, die sich beispielsweise auch in den Dissertationen der Juristischen Hochschule Potsdam finden, so waren solche Zeiten der Spannung eigentlich eher die Regel als die Ausnahme. Auch in solchen Zeitläufen hatten die Einsatzgruppen - wie im Krieg (siehe 2.3) - die Aufgabe, zu zerstören, lahmzulegen, zu behindern und zu verunsichern, doch wurden zwei Punkte besonders betont, die bei der direkten kriegerischen Auseinandersetzung offensichtlich keine Rolle mehr spielten Gedenfalls wurden sie in diesem Zusammenhang nicht erwähnt): Erstens ,,Auslösung von panikerzeugenden Maßnahmen", zweitens "Unterstützung von Kräften, die gegen den imperialistischen Machtapparat auftreten" (ebd., S. 60). Es handelte sich hier eindeutig um - strategisch durchaus nicht unübliche Aktionen im Vorfeld einer kriegerischen Auseinandersetzung, deren Ziel es vor allem ist, die Bevölkerung des gegnerischen Staates zu demoralisieren. Sinnvoll ist ein solcher Einsatz vor allem dann, wenn ein eigener Angriff vorbereitet wird und der Verteidigungswille des "Feindes" gelähmt werden soll, kaum aber als Prophylaxe gegen gegnerische Kriegspläne. 2.3 Einsatz im Krieg Wenn von bewaffneten Auseinandersetzungen die Rede war, ging die DDR offiziell stets von einem Angriffskrieg der "Imperialisten" auf grundsätzlich nicht-aggressive sozialistische Staa~en aus. Trotzdem spielten sich die im Einsatzpapier geplanten Aktivitäten der MfS-Einsatzgruppen gegen die Feinde in Kriegszeiten durchaus nicht in einer von "Imperialisten" besetzten und unterjochten DDR ab, sondern auf dem Gebiet der kriegftlhrenden, angreifenden kapitalistischen Staaten. Es handelt sich bei den hier vorgestellten Maßnahmen, die von der Ausschaltung von Führungskräften bis zur Demoralisierung von Soldaten reichten, ausnahmslos um solche, die im Feindesland greifen sollen. Differenziert wird dargestellt, wer und was alles zerstört, ausgeschaltet, beschädigt, behindert, besetzt oder verunsichert werden sollte: Führungskräfte aller Art, Machtträger, Volksrnassen, Verwaltungen, Nachrichtenverbindungen, Massenkommunikation; Treibstoffversorgung, Kraftwerke; Eisenbahnverkehr, alle Art von Transportwesen auf der Straße, der Schiene, dem Wasser und in der Luft; Industrieanlagen jeglicher Art; die Mobilisierung von Reservisten, Aufmarsch und Nachschub, militärische Führungsstellen und anderes mehr. Auch bei rudimentärer Kenntnis militärischen Vorgehens - und das MfS hatte sicherlich recht ausgefeilte Kenntnisse - erscheint es kaum glaubhaft, daß eine subversive Geheimdienstarmee in ein hoch gerüstetes Land, das sich im Sta-
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dium der Mobilmachung bzw. des Angriffs befindet, unbemerkt, ungesehen und ungehindert eindringen kann, um diesen Krieg dann durch· breitgefächerte Zerstörungsmaßnahmen im allerletzten Moment doch noch vom Staatsgebiet der DDR abzuwenden. Über die Art und Weise, wie diese Befehle nun in reales Handeln umgesetzt werden sollten, sagen die Einsatzgrundsätze allerdings nichts aus. Auch nicht darüber, wie die Mitarbeiter überhaupt in die im Kriegsfalle sicherlich nicht ungeschützten Knotenpunkte der feindlichen Logistik hineinkommen sollten. Für diese Art der Planung gibt es nun drei mögliche Erklärungen: a) Möglicherweise handelte es sich lediglich um Sandkastenspiele zur Selbstberuhigung, die beweisen sollen, daß man rur jeden Fall gewappnet und den "Imperialisten" auch als Opfer eines Angriffskrieges gewachsen und sogar überlegen war. b) Vielleicht hatte das MfS tatsächlich in jedem nur irgendwie relevanten Bereich der Bundesrepublik Deutschland (und jedes anderen "imperialistischen" Staates) - von der obersten Regierungsbehörde über städtische Wasserwerke bis hin zu einer privaten Kugelschreiberfabrik - bereits seine Einsatzgruppenmitglieder (keine IMs, rur die sind diese Befehle nicht gedacht!), die nur auf den Tag X - nämlich die Mobilmachung "imperialistischer" Staaten gegen die DDR und den Verteidigungsfall rur die DDR - warteten. c) Es handelte sich bei den Einsatzgrundsätzen nicht um Verteidigungspläne, wie vorgegeben wird, sondern um den Teil eines konkreten Angriffsplans: die Bestimmungen kommen zeitgleich mit einem Angriff oder auch dann zum Tragen, wenn die "imperialistischen" Staaten bereits von sozialistischen besetzt ("befreit") worden sind, aber noch mit militärischem und anderem Widerstand gerechnet werden muß. Darauf läßt auch der Punkt "Inbesitznahme oder Sicherung bedeutsamer Dokumente, Materialien oder Personen" (S. 61) schließen. Es könnte sich hier durchaus um Patente, bzw. innovative Wissenschaftler und ihre Erfindungen und Forschungsergebnisse oder dergleichen handeln. Die dritte hier angesprochene Möglichkeit scheint alles in allem die überzeugendste zu sein. Schließlich ist inzwischen bekannt, daß in der DDR nicht nur schon die neuen Orts- und Straßenschilder rur eine einstmals "befreite" Bundesrepublik bereitlagen, sondern auch die Orden rur besonderen Einsatz in diesem "Befreiungskrieg" und daß die sofort zu verhaftenden Personen feststanden. Juristisch müßte noch der folgende Tatbestand nachgeprüft werden: Nach den bestehenden internationalen Gesetzen und Abkommen handelt es sich bei dem Übergriff der paramilitärischen Einheiten des MfS auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland um einen kriegerischen Akt.
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3. "Tschekistische Kampfaktionen", "spezifische Mittel und Methoden", "operativ behandeln", "liquidieren" "Tschekistische Kampfaktionen" , "spezifische Mittel und Methoden", "operativ behandeln", "liquidieren", "zersetzen", "zerschlagen" waren Bezeichnungen des MfS filr seine Untaten - auch filr Mord. Alle diese Verbrechen geschahen letztendlich im Auftrag der SED-Führung; schließlich waren es ihre Institutionen - von der kommunistischen Partei geschaffen, von ihr beauftragt und von ihr angeleitet und kontrolliert. In einem offenen Brief schrieb 1993 der Generaloberst des MfS, Werner Großmann, - ,,zuletzt Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit und Chef der für Spionage und 'aktive Maßnahmen' zuständigen Hauptverwaltung A" (Fricke 1994, S. 258) - an Wolfgang Schäuble: "Es ist einfach unwahr, daß es in unserer Tätigkeit 'Entführungen, Anschläge und Morde' gegeben hat. ... Sie gehörten weder zu theoretischen Szenarien noch zum praktischen Instrumentarium".2 MfS-Generaloberst Großmann lügt. Er kannte die "Einsatzgrundsätze ... " filr die tschekistischen Kampfaktionen im Westen, die u.a. Tötung und Verschleppung von "Verrätern" und filhrenden "Klassenfeinden" befahl (siehe hierzu Punkt III 2). Großmann muß um die tschekistischen Kampfmaßnahmen des von ihm geleiteten Bereiches gewußt haben (z.B. Giftmordanschlag auf Familie Welsch oder die Anleitung, Ausbildung und Unterstützung von Terroristen) und kannte mit Sicherheit die "spezifischen Mittel und Methoden" seines Geheimdienstes. Nicht nur das MfS tötete, verschleppte und folterte unter Kontrolle des MfS oder in direkter Mittäterschaft begingen in der DDR auch andere Institutionen Verbrechen. So vor allem die Grenztruppen, die Volkspolizei, die Strafvollzugsorgane, Teile der medizinischen Dienste, die Sektion Kriminalistik an der Humboldt-Universität, die Kriminalisten, die Staatsanwälte und Richter usf. Die auf Liquidierung des Feindes ausgerichtete Erhöhung der Verteidigungskraft der DDR, insbesondere zum Schutze der Staatsgrenzen zur Bundesrepublik und Westberlin kommt in Pemmanns MfSDiplomarbeit recht deutlich zum Ausdruck: "Die umfangreichen Maßnahmen von Partei und Regierung zur Verstärkung des militärischen Schutzes der DDR, wie sie mit dem Verteidigungsgesetz vom September 1961 und dem Wehrpflichtgesetz vom Januar 1962 eingeleitet wurden, umfaßten auch Schritte zur Einfilhrung moderner Waffensysteme bei allen Teilstreitkräften der NVA und die Erhöhung der Gefechtsbereitschaft. [... ] In einem Aufgebot der FDJ zur Stärkung der Landesverteidigung der DDR 1961162 erklärten fast 300000 Jugendliche ihre Bereitschaft, freiwillig in den bewaffneten Organen zu dienen" (pemmann 1979, S. 20). 2
Großmann, Wemer: "Verbrechen gehörten nicht zu unseren Szenarien", in: Neues Deutschland vom 7. Okt. 1993; zit. in Fricke 1994, S. 258; A = Aufklärung, gemeint ist Auslandsspionage.
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Die Angehörigen der bewaffueten Organe der DDR sollten dabei dazu beflihigt werden "auch in komplizierten Situationen ihren militärischen Auftrag vorbildlich zu erfüllen" (ebd., S. 26). Das MfS war dazu bereit, die Sicherung der DDR sowohl im Innem gegen vorhandene Feinde als auch an der Staatsgrenze zur BRD und gegenüber Westberlin zu garantieren. Pemmann unterstrich hierbei: "Das stellte 1961 höchste Anforderungen an die Angehörigen des Mß, erforderte große politische Fähigkeiten, einen hohen physischen Einsatz und auch die Bereitschaft, mit der Waffe an der Hand die Sicherheit durchzusetzen" (ebd., S. 6). Das Mitglied des SED-Politbüros, Professor Albert Norden, besuchte 1963 Ost-Berliner Grenztruppen und stellte dabei klar (Volksarmee Nr. 41/1963; zit. in SauerlPlumeyer 1991, S. 53): "Ich sage, jeder Schuß aus der Maschinenpistole eines unserer Grenzsicherungsposten zur Abwehr solcher Verbrechen rettet in der Konsequenz Hunderten von Kameraden, rettet Tausenden Bürgern der DDR das Leben und sichert Millionenwerte an Volksvennögen. [3; D.B./W.K.] Ihr schießt nicht auf Bruder und Schwester, wenn ihr mit der Waffe den Grenzverletzer zum Halten bringt. Wie kann der euer Bruder sein, der die Republik verrät, der die Macht des Volkes verrät, der die Macht des Volkes antastet! Auch der ist nicht unser Bruder, der zum Feinde desertieren will."
Der Schießbefehl von 1961 wurde erst im Frühjahr 1989 aufgehoben; kurz zuvor hatte der DDR-Minister filr Nationale Verteidigung, Armeegeneral Heinz Keßler, noch zynisch behauptet (Die Zeit vom 30. Sep. 1988; zit. in Sauer/ Plumeyer 1991, S. 80): "Es hat nie! - nie! - einen Schießbefehl gegeben. Den gibt es auch jetzt nicht, das bitte ich mir so abzunehmen - in der Lesart, wie er von bestimmten Seiten verbreitet wurde und zum Teil verbreitet wird". Auch Minister Heinz Keßler lügt. Gleich so, wie auch die anderen SED-Genossen, wenn sie versuchen, ihre Untaten zu rechtfertigen. Erich Honecker wurde z.B. über jeden Mord, den seine Grenzwächter verübten, ausfilhrlich und schriftlich informiert. Honeckers und des Politbüros Auftrag und Zustimmung waren sich die Täter stets sicher (vgl. Filmer/Schwan 1991). Morde (Justizmord eingeschlossen), EntfilhrungenlVerschleppungen, Terror, Attentate, Folter, Unschädlichmachung (z.B. durch Vergiften und Verstrahlen sowie Zwangsbehandlung in psychiatrischen Anstalten; Zerstörung der bürgerlichen Existenz), Unterstützung und Ausbildung von Terroristen und anderen Gewaltverbrechern, Kindesraub/Zwangsadoptionen, Erpressung, Zwangsscheidungen, Terrorurteile, Miß3
Vgl. Hitler, Adolf: Mein Kampf, München 1933, 16. Aufl., S. 772: "Zwölftausend Schurken zur rechten Zeit beseitigt, hätte vielleicht einer Million ordentlicher, rur die Zukunft wertvoller Deutschen das Leben gerettet" (zit. in Sauer/Plumeyer 1991, S. 53, dort auch Fußnote). 6 Merten. I Voigl
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handlungen, Freiheitsberaubung, Abschiebung von Kranken, Arbeitsunfähigen und Kriminellen in den Westen; Verkauf inhaftierter Regimegegner an die Bundesrepublik Deutschland, DiebstahllRaub, Verleumdung, Fälschung, Lüge und Zersetzung etc. gehörten immerfort zum "praktischen Instrumentarium" des SED-Geheimdienstes und seiner Helfer - und zwar nicht "nur" gerichtet gegen "Verräter" .4 "Diese Ideologie, diese 'Wirklichkeit', verpackt in unllinniger Begrifflichkeit und aneinandergereihten Kürzeln, verdeutlicht noch einmal, daß es sich bei MfS-Unternehmungen nicht um Zufallsprodukte oder spontane Entgleisungen verwirrter, es ansonsten gutmeinender Machthaber handelte, sondern um wohldurchdachte Praktiken, die man an einer eigenen Hochschule vennittelte und ständig perfektionierte" (Stasi intern, 1991, S. 7 f.).
Zur Tötung von Staatsfeinden gab es in der DDR viele Möglichkeiten; versuchen wir hier eine Systematisierung, wie sie sich aus Dokumenten - auch bisher nur uns vorliegenden (so u.a. die Fälle Eylert, Geißler, Höppner, Hübner, Krüger, Seum) - ableiten läßt. I. Erschießen oder durch Minen töten: Die DDR-Grenztruppen dürften bis 1989 weit mehr als 200 Personen umgebracht haben (vgl. Filmer/Schwan 1991, Sauer/Plumeyer 1991). Die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter - die die SPD dem SED-Druck nachkommend schließen wollte! - ermittelte bis 1990 4.444 Fälle "von versuchten und vollendeten Tötungshandlungen", um DDR-Flucht zu verhindern; etwa 700 Verletzte wurden registriert (SauerlPlumeyer 1991, S. 79; vgl. Föhrig 1996). 2. Terrorurteile: Bis 1989 dürfte es in der DDR weit mehr als 200.000 politische Urteile und 10.000 Hinrichtungen gegeben haben. 3. Ermordung nach Verschleppung aus dem Operationsgebiet (in der Regel Bundesrepublik Deutschland): Fricke (pers. Auskunft 9/1996) schätzt die Zahl der vom SED-Sicherheitsdienst aus dem Bundesgebiet in die DDR Entführten auf 120 Überläufer aus dem MfS und 700 andere "Staatsfeinde". Von den Überläufern dürften etwa ein Dutzend hingerichtet worden sein; zu den "Staatsfeinden", die ihre Verschleppung nicht überlebt haben, gibt es noch keine Zahlen.
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Siehe u.a.: Der Staatssicherheitsdienst...; Dok. I, Felber 1970, Filmer/Schwan 1991, Fricke 1979 ff., FrickelMarquardt 1995, Gill/Schröter 1991, Held et al. 1987, Hohenecker Protokolle 1984, Hummitzsch et al. 1975, LambrechtlMüller/Sandmeyer 1993, Müller 1995, Opitz et al. 1976, Sauer/Plumeyer 1991, SchmidtlWolf/Krause 1985, Seifert/Kopf 1971, Stasi intern 1991.
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4. Direkte Liquidierung im Operationsgebiet und in der DDR: z.B. durch Erschießen, Erdrosseln, Ertränken etc. (unter Vortäuschung eines Unfalls, eines Suizids oder eines "normalen" Verbrechens). 5. Töten in Haftanstalten. 6. Ermordung in Krankenhäusern: In der DDR wurden nicht nur frühgeborene Kinder in Kliniken passiv und aktiv getötet, sondern auch Staatsfeinde in Krankenanstalten umgebracht (z.B. bei Operationen und mittels anderer Methoden). 7. Tötung im Arbeitsprozeß: z.B. durch Strahlenexposition, gesundheitsschädigende Tätigkeit u.a. bei Zwangsarbeit, Arbeitsunfiille. 8. Beauftragung westlicher Terroristen sowie anderer Schwerverbrecher: z.B. mit Mord, Attentaten, Sabotage- und Terrorakten sowie Verschleppungen. Erich Mielke - er war Mitglied des Politbüros der SED und MfS-Minister wiederholte in einer Kollegiumssitzung am 19. Februar 1982 warnend, was schon seit den 1950er Jahren in der DDR gültige Praxis war (Tonbandprotokoll; zit. in Stasi intern, 1991, S. 213): "Wir sind nicht davor gefeit, daß wir mal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das schon jetzt wüßte, würde er ab morgen nicht mehr leben. Kurzen Prozeß. Weil ich Humanist bin. Deshalb hab ich solche Auffassung. [... ] Das ganze Geschwafel, von wegen nicht hinrichten und nicht Todesurteil - alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil".
Politbüromitglied Mielke sagt hier nichts Neues; selten wurde jedoch das "Über-allen-Gesetzen-stehen", wurden die Brutalität und die Skrupellosigkeit dieser kriminellen Organisation von ihrem Chef selbst so treffend und offen gekennzeichnet. Mielke wollte abschrecken, weshalb auch die Verschleppungen und Tötungen von "Verrätern" im MfS stets bekanntgegeben und ,,zum Gegenstand einer eingehenden Belehrung" gemacht wurden (Befehl Nr. 78/54 des Staatssekretärs rur Staatssicherheit, Ernst Wollweber, vom 5. März 1954; zit. in Fricke 1994, S. 260). Schon 1954/55 hatte Wollweber deutlich gemacht (ebd.): "Es gibt nichts Schlechteres als Verrat an der Sache der Partei, der Arbeiterklasse und des Sozialismus. ... Die Macht der Arbeiterklasse ist so groß und reicht so weit, daß jeder Verräter zurückgeholt wird oder ihn in seinem vermeintlich sicheren Versteck die gerechte Strafe ereilt. Andere Verräter sind zurückgeholt worden und sehen ihrer gerechten Aburteilung entgegen .... Wie beschlossen und festgelegt, so wurden sie aus Westberlin zurückgeholt, festgenommen, zum Tode verurteilt und hingerichtet."
Indes, die Verbrechen - u.a. Mord, Verschleppung, Folter - erstreckten sich nicht nur auf "Verräter" des SED-Geheimdienstes. Verräter an der "Sache der Arbeiterklasse und ihrer ParteI" wurden vom Politbüro und vom MfS je nach 6*
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der politischen Lage definiert. Zu einern Verräter, einern gefährlichen Klassenfeind, einern kriminellen Menschenhändler, einern subversiven Element, zu einern Spion oder zu einern gegen die DDR gerichteten Terroristen konnten MfS und Politbüro praktisch jeden ihrer Gegner stempeln. Die in den "Einsatzgrundsätzen ... " (vgl. Voigt 1996, S. 59 ff.) des MfS für Zeiten der "friedlichen Koexistenz" befohlene "Liquidierung oder Beibringung von Verrätern" und die ,,Liquidierung bzw. Ausschaltung führender Personen von Terrororganisalionen, deren Tätigkeit gegen die staatliche Sicherheit der DDR gerichtet ist', galt für alle Personen, die der SED-Geheimdienst beschlossen hatte, zu verschleppen oder umzubringen. Zwei Beispiele von vielen verdeutlichen das: Der vorn MfS aus Westberlin verschleppte Journalist Karl Wilhelrn Fricke ließ sich keiner der genannten Kategorien zuordnen; trotzdem wurde er verschleppt und in einern Geheimprozeß verurteilt. Sein Leben und seine später wiedererlangte Freiheit verdankt Fricke Nützlichkeitserwägungen der SED-Führer. Dem Fluchthelfer Wolfgang Welsch sowie seiner Frau und seiner siebenjährigen Tochter wurden vorn MfS in der Operation "Skorpion" Thallium in das Essen gemischt, weil die SED-Geheimdienstleute ihn haßten und es ihnen nicht gelang, Welsch aus der Bundesrepublik zu entfilhren (vgl. Stern Nr. 49 und 50/1993, Müller 1995, LambrechtlMüller/Sandmeyer 1993). Mit Thallium dürfte Welsch vergiftet worden sein, weil das MfS ihn den qualvollen Tod einer vergifteten Ratte sterben lassen wollte. In den streng geheimen A- und BDissertationen der Juristischen Hochschule des MfS nimmt die Bekämpfung der DDR-Flucht - und in diesem Rahmen auch die Ermordung von Fluchthelfern (z.B. Operation "Skorpion") - breiten Raum ein. Bei Oberstleutnant Gerd Held et al. (1987) liest sich das dann so: "Das MfS leistete gegen den staatsfeindlichen Menschenhandel eine bedeutsame Arbeit. Die operative Bearbeitung und Liquidierung einer Vielzahl feindlicher Stellen und Kräfte führte zu Erkenntnissen über die Strategie des Feindes" (S.63). "In der Durchführungsanweisung [... ] wurden Schwerpunkte für die politisch-operative Sicherung der Staatsgrenze vorgegeben, die in ihrem Kern beinhalten, [... ] feindliche Erscheinungen zu bekämpfen und zu liquidieren" (S. 144). Der "Kampf um eine erfolgreiche Zersetzung und Liquidierung" der "kriminellen Menschenhändlerbanden" - darunter wird auch Welsch genannt verlangte vom "MfS besondere Anstrengungen" (S. 164).
Generalmajor Manfred Hummitzsch et al. (1975) - darunter auch Generalmajor Heinz Fiedler, der an der Mordaktion Welsch maßgeblich beteiligt war und sich 1994 in Untersuchungshaft das Leben nahm (vgl. Robers 1994) schreiben u.a.: "Ein wichtiges Anliegen besteht darin, jene Bürger, die die DDR ungesetzlich verlassen haben, in Widersprüche zu Staat und Gesellschaft der BRD und West-
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Berlin, besonders zur Bevölkerung zu bringen, sie zu diskreditieren, um ihre Eingliederung in diese Gesellschaft zu erschweren sowie andere operative Handlungen unter bzw. mit solchen Personen durchzuführen (auch gegen Menschenhändlerbanden)" (S. 28). "Die Bekämpfung der kriminellen Menschenhändlerbanden ist darauf auszurichten, ihre Wirkungsmöglichkeiten systematisch einzuengen und zu verschließen, sie zu verunsichern, zu desinfonnieren und zu zersetzen, sie in Widersprüche untereinander, zu ihren Auftraggebern und ihrer Umwelt zu bringen, ihnen damit die Fortsetzung ihrer verbrecherischen Tätigkeit zunehmend zu erschweren und letztendlich ihre Liquidierung zu erreichen" (S. 168). "Erkennen der Möglichkeiten für das Eindringen in die kriminellen Menschenhändlerbanden sowie die Aufdeckung der Hintennänner, Inspiratoren und Organisationen zwecks Zersetzung, Lähmung, Diskriminierung und Unschädlichmachung [00']" (S. 32).
Der Rektor der MfS-Hochschule, Oberstleutnant Willi Opitz et al. (1976), fordert auch die Liquidierung des Feindes: "Besonders zu beachten sind dabei Personen aus diesen Zielgruppen mit feindlich-negativer, labiler oder schwankender Einstellung zur DDR in guter Vennögenslage oder mit zahlungskräftigen VerwandtenlBekannten im nichtsozialistischen Ausland und in Westberlin. Von besonderer politisch-operativer Bedeutung sind solche von den IM beschafften Infonnationen, Beweise und authentische Dokumente zur Zersetzung und Liquidierung der kriminellen Menschenhändlerbanden und zur Unterstützung der offensiven Politik unserer Partei- und Staatsführung" (S. 63). "Auch innerhalb der Lösung von linienspezifischen Aufgaben ist eine Differenzierung der konkreten Feindbildvennittlung notwendig. So bestehen z.B. innerhalb des Komplexes der Sicherung von militärischen Objekten zum Erkennen, Identifizieren und zur Liquidierung von Militärspionen für die einzelnen Einsatzrichtungen der Inoffiziellen Mitarbeiter unterschiedliche AufgabensteIlungen" (S. 219).
Und als weitere klare Anweisung zum Handeln formulieren Opitz et al. (S. 73): "Auf vorangegangenen Dienstkonferenzen wurde mehrfach und in umfassender Weise zu inhaltlichen Fragen der weiteren Qualifizierung der Bearbeitung verdächtiger und feindlich tätiger Personen in Operativen Vorgängen Stellung genommen. Es wurde eine klare und eindeutige Orientierung darauf gegeben, daß die offensive und tatbestandsbezogene Bearbeitung der erkannten Feindtätigkeit die Liquidierung des Feindes, die vorbeugende Verhinderung weiterer subversiver Angriffe [00'] eine politische Aufgabe ersten Ranges für alle operativen Diensteinheiten und Linien, für alle Leiter und operativen Mitarbeiter ist".
Alle Dienstanweisungen, Befehle, Drehbücher und Einsatzgrundsätze etc. blieben immer streng geheim - bei allen Verbrechen, die das SED-Politbüro, das MfS und seine Werkzeuge begingen, galt grundsätzlich: ,,- In allen Phasen
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der Planung, Vorbereitung und Durchführung muß die Konspiration und Geheimhaltung gewährleistet werden. - Auf die DDR oder andere sozialistische Länder darfnie der Verdachtfallen, daß sie Ausgangspunkte der durchgeführten aktiven Maßnahmen sind" (Oberstleutnant Erich Falz et al. 1979, S. 759).
Haß ist die Saat des Bösen. Die Saat für die Verbrechen der Kommunisten war die Erziehung zum Haß. Die Beschlüsse des Politbüros, die Strafgesetze der DDR, die geheimen Befehle, Richtlinien und Einsatzgrundsätze manifestierten diesen gezüchteten Haß auf Andersdenkende. Der Umschlag in die "Endstufe" des kriminellen Handeins - die praktische Ausfilhrung der Verbrechen - war dann zwangsläufig die Konsequenz. Unrecht im Kommunismus ist nicht Entgleisung, das Produkt einzelner gutmeinender kaum zurechnungstahiger Machthaber. Unrecht in der DDR war System - perfekt, selbstregulierend, flächendeckend und menschenverachtend zur Aufrechterhaltung des Machtmonopols der SED-Führungskaste.
IV. Mord - eine Arbeitsmethode des Ministeriums fiir Staatssicherheit 1. Drehbuchanleitung zum "perfekten" Mord - Autor: das MfS Das vorliegende vom MfS kaltblütig geplante Mordszenario spiegelt am allerdeutlichsten den kriminellen Charakter des SED-Geheimdienstes wieder. Der Plan" zu operativen Maßnahmen zur Liquidierung des Rudi Thurow" liest sich wie ein Drehbuch. Es ist die Inszenierung eines perfekt geplanten Mordes des MfS. Als Schwert und Schild der Partei waren dem MfS keine juristischen und keine moralischen Grenzen gesetzt. Vor niemanden und vor nichts wurde haltgemacht; "feindlich-negative Kräfte" wurden gedemütigt, physisch und psychisch zerbrochen oder mit "tschekistischen Kampfaktionen" getötet. Wer sich wie Thurow kritisch zur SED äußerte, wurde der "politisch-ideologischen Diversion" bzw. "feindlich-negativen Tätigkeit" bezichtigt, dem "politischen Untergrund" zugerechnet und auf die Tötungsliste gesetzt. "Politischer Untergrund" stand dabei im direkten Zusammenhang mit Spionage, politisch-ideologischer Diversion, staatsfeindlichem Menschenhandel, dem ungesetzlichen Verlassen der DDR, der ökonomischen Störtätigkeit, dem subversiven Mißbrauch des Einreiseverkehrs, des Aufenthalts von Ausländern (SchelllKalinka 1991, S. 15 ff.). Die Bekämpfung aller oppositionellen Gruppierungen und Bewegungen galt als oberstes Gebot. "Die Führungs-IM haben aktiv daran mitzuwirken, daß provokatorische Angriffe negativer oder feindlicher Kräfte im Anfangsstadium erkannt und erstickt werden können" (Amm/Gräßler/Schwarz 1979, S. 8). Der fehlende Rückhalt der SED in der Bevölkerung verstärkte die Unterdrückungsmaschine des MfS, die die Defizite der Partei auf diese Weise
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auszugleichen versuchte. Blinder Gehorsam unter die Parteilinie fUhrte dazu, daß das MfS die eigene Bevölkerung zum blutigen Schlachtfeld der verfehlten Politik der SED machte. So wurde auch in diesem Fall der ehemalige Unteroffizier der NVA, der Deserteur Thurow, der verbrecherischen Tätigkeit von Grenzprovokationen u.a. in Berlin-Treptow fUr schuldig befunden. Zur Aufdeckung und Bekämpfung der "politischen Untergrundtätigkeit" wurde die totale "Aufklärung" Thurows durch Gesellschaftliche Mitarbeiter (GM) befohlen. "Der Deserteur Thurow, Rudi [ ..] wurde in der Vergangenheit, seit Mai dieses Jahres, seitens der GM-Gruppe "Bodo Krause" betrefft seines Aufenthaltes in Westberlin intensiv aufgeklärt und beobachtet mit dem Ziel, selbigen (sie!) habhaJtvzu (sie!) werden [ ..}" (Gerth 1963, S. 1). Die Überwachung war (nahezu) lückenlos. Informationen der HA V/5 und HA IX brachten seinen neuen Wohnsitz in Westberlin und seine Tätigkeit als Angestellter bei einer amerikanischen Firma in Berlin zum Vorschein. Desweiteren wurden seine "verbrecherischen Tätigkeiten" durch die Spitzelarbeit der Stasi ans Tageslicht gebracht. Diese wurden insbesondere festgemacht "durch dessen Teilnahme an Hetzveranstaltungen reaktionärer Organisationen, an seiner provokatorischen Tätigkeit im Grenzabschnitt der Kompanie Drewitz [ ..]" (ebd., S. 2). Geleitet von dem rachebesessenen Gedanken, daß der Deserteur Thurow fUr seine verbrecherische Tätigkeit einer gerechten Strafe zugefUhrt werden muß, nahm der bis ins kleinste Detail ausgetüffelte barbarische Mordplan seinen Verlauf. In dessen Folge starteten die dafilr zuständigen GM mit einer groß angelegten intensiven Beobachtung aller Lebensbereiche des Thurow, an dessen Ende der Auftrag Mord stehen sollte. Angefangen vom Bauart-Typ seines PKWs bis hin zu seinen sämtlichen Fahrten und Kinobesuchen wurde jeder Winkel und jede Minute seines Tagesablaufes akribisch festgehalten. Die Analyse aller "Aufklärungsergebnisse" ergab den fUr das Mordkommando MfS wichtigen Hinweis, daß er jeden Abend zwischen 22.00 und 23.00 Uhr in seine Unterkunft in der Riemeisterstraße 150 im 3. Stock zurückkehrte. Nach den Auskünften der Stasi kehrte Thurow stets allein in seine Wohnung zurück. Für das MfS war dabei von Interesse, daß er von seinem Parkplatz aus ein ca. 45 m langes parkähnliches Gelände überqueren mußte, um zu seiner Unterkunft zu gelangen. Dieser Weg war etwa 2,5 bis 3 m breit und von dichtem Büschen umgeben. "Zusammenfassend kann gesagt werden, daß sichder (sie!) oben beschriebene Weg durchaus für eine Überwältigung und Liquidierung des Objektes Thurow eignet [..}" (ebd, S. 3). Für den Ablauf des kaltblütigen Mordes wurde der Einsatz der GM "Bodo Krause", "Kurt Luft" und "Maxim Dams" vorgesehen, deren Einstellung zum "Objekt" Thurow schlichtweg vernichtend bzw. menschenverachtend war. Vor allem konnten sie nicht verstehen, "daß man sich für die Habhaftwerdung des Objektes solche Mühe mache, man solle den Verbrecher einfach liquidieren [..}"(ebd., S. 4).
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Der Plan: Die vom MfS verabredete Mordvariante sah nun vor, daß sich die beiden GM "Luft" und Krause" nach 22.00 Uhr versteckt in der erwähnten Parkanlage aufhalten und ihrem "Feind" auflauern sollten. Geplant war, daß sich der GM "Luft", sobald der PKW von Thurow in die Riemeisterstraße einbog, in das links vom Gehweg befindliche Buschwerk begeben sollte. In dem Moment, wo sich Thurow in die Richtung des Hauseinganges Riemeisterstraße 150 bewegen würde, sollte das Ablenkungsmanöver des GM "Bodo" starten, d.h. er sollte Thurow entgegenlaufen, so daß sich dieser auf den GM "Bodo" konzentrieren mußte und links und rechts nichts wahrnehmen konnte. "In dem Augenblick, wo T. die angeführten Parkanlagen in der Höhe des sich dort befindlichen GM 'Kurt Luft' passiert, wird dieser ihn von hinten lautlos überwältigen und liquidieren. Hierbei wird vom GM 'Kurt Luft' ein IOOOgr Hammer (sie!) benutzt" (ebd., S. 4). Der dritte Mörder im Bunde, GM "Maxim Dams", war rur die Sicherung der Riemeisterstraße vor eventuellen Passanten und rur eine eventuelle Warnung seiner Verbündeten zuständig. Nach erfolgreicher Ermordung des Thurow sollte der Leichnam so zugerichtet werden, daß alle Anzeichen auf einen Raubmord schließen lassen würden, d.h. Konspiration war oberstes Gebot. "Beide GM transportieren den liquidierten T. ins Gebüsch und nehmen dort an T. solche Handlungen war, die anschließend auf einen Raubmord schließen lassen" (ebd., S. 5). Nach dieser Verschleierung des brutalen Mordes war die Rückkehr der GM in das "demokratische Berlin" vorgesehen. Für einen eventuellen Zwischenfall, der den Mord vereitelt hätte, war eine Übernachtung der Gesellschaftlichen Mitarbeiter in Westberliner Hotels bzw. Pensionen vorgesehen, um am folgenden Tag erneut den Versuch zu starten, Thurow aus dem Hinterhalt zu erschlagen. Entsprechend der festgelegten Zielsetzung der Ermordung des Thurow erfolgte eine bis ins kleinste Detail durchdachte Inszenierung des Mordes: "Die GM-Gruppe wird - unter Berücksichtigung dessen, daß seitens der GM,s (sie!) selbst die Initiative zur Liquidierung des t. ausgelöst wurde - in Hinsicht der geplanten AufgabensteIlung eingehend belehrt und der Plan der Aktion in allen Einzelheiten mit ihnen durchgesprochen" (ebd., S. 6). Verantwortlich rur diese Anleitung zum Mord waren Hauptmann Nilius und Leutnant Gerth.
2. Liquidierung zweier Spione Der Bekämpfung von Staatsverbrechen bzw. "feindlich-negativer Handlungen" in der Volkswirtschaft wurde vom MfS eine besondere Bedeutung beigemessen. Für die Sicherung der Volkswirtschaft war dabei die Hauptabteilung XVIII (HA XVIII) mit dem Leiter Alfred Kleine zuständig. Im Vordergrund ihrer AufgabensteIlung stand die Sicherung der zentralen volkswirtschaftlichen Bereiche, Objekte und Einrichtungen entsprechend der Strukturzweige der
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DDR. Dies schloß die Sicherung der Leitungs- und Planungsorgane des Staatsapparates, insbesondere der Industrie-, Landwirtschafts-, Finanz- und HandeIsministerien (ausgenommen des Bereichs Kommerzielle Koordinierung [KoKo]) sowie der Einrichtungen der naturwirtschaftlichen Forschung und technischen Entwicklung mit ein (MfS-Handbuch 1995, S. 172 ff.). Die Hauptabteilung war auch voll auf die Bekämpfung der Wirtschaftsspionage, der "politisch-ideologischen Diversion" sowie des "politischen Untergrundes" ausgerichtet (SchelV Kalinka 1991, S.37). Das MfS war dazu bereit, "diese feindlichen Angriffe mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen" (pemmann 1979, S.80). "Erkannte Feindabsichten mußten entlarvt und nachhaltig zerschlagen werden" (ebd., S. 78). "Vor den Angehörigen des Mß stand die Aufgabe. die politisch-operative Arbeit auf allen Gebieten zu verstärken und zu qualifizieren. um alle Angrifft des Feindes gegen die Volkswirtschaft zu zerschlagen" (ebd., S.80). "Diese Orientierung auf die Beseitigung begünstigender Bedingungen for staatsfeindliche Handlungen wies auf eine charakteristische Aufgabe des Mß. die nach dem VI. Parteitag neben der Aujspürung und Liquidierung von Feinden. generelle Liniefor die politisch-operative Arbeit bei der Zurückdrängung der Feindtätigkeit wurde" (ebd., S. 81).
Erich Mielke charakterisierte in seinem Referat, das er auf der Dienstkonferenz am 19. August 1964 vor den dienstlichen Leitern und den Parteisekretären abhielt, die mörderische Arbeitsweise des MfS. Er bestimmte die komplexe "politisch-operative" Arbeit des MfS als "sinnvolle und zweckmäßige Spezialisierung und Kooperation der Kräfte verschiedener Linien und Bereiche des MjS. (als) ein komplexes Zusammenwirken zur Erfüllung politisch-operativer Schwerpunktaufgaben zur schnellstmöglichen Liquidierung der Feinde im Verantwortungsbereich" (Mielke zitiert bei Pemmann 1979, S. 82). Die Abwehrarbeit des MfS im Bereich der Volkswirtschaft sollte durchgesetzt werden, "indem alle operativen Kräfte und Mittel für die Aufklärung der Feindtätigkeit und die Liquidierung der Feinde konzentrierter eingesetzt wurden" (ebd., S.82). Die Staatssicherheit bewies dabei ihre Fähigkeit zu flexibler Reaktion, politischer Verfolgung und Unschädlichmachung feindlicher Elemente. Pemmann versicherte hierzu in seiner MfS-Dissertation: "Durch die angestrengte politisch-operative Tätigkeit der Angehörigen des MfS, eingeschlossen die Entlarvung und Liquidierung von Agenten imperialistischer Geheimdienste, konnten in der Zeit nach dem VI. Parteitag wichtige Seiten der feindlichen Konzeption entlarvt bzw. präzisiert werden, mit der er gegen die Volkswirtschaft der DDR vorgehen wollte" (ebd., S. 100). Mord - diese Arbeitsmethode des MfS läßt sich nun anband des folgenden brisanten Falles besonders drastisch darstellen. Für das MfS war es eine Schlüs-
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selfrage, im Bereich der Volkswirtschaft an Kenntnisse über Aktivitäten des Bundesnachrichtendienstes (BND) der Bundesrepublik zu gelangen, von denen es annahm, daß sie der DDR auf politischem, ökonomischem oder militärischem Gebiet schaden könnten. Für die Gewinnung solcher Informationen wurden Inoffizielle Mitarbeiter (IM) als "Hauptwaffe zur Aujspürung und Aufklärung des Feindes" sowie zur Gewinnung wertvoller "operativer" Informationen eingesetzt. "Es gibt kaum eine politisch-operative Aufgabe zur vorbeugenden Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung der subversiven Angriffe des Feindes und damit zur Gewährleistung der Sicherheit unserer gesellschaftlichen Ordnung, die ohne den Einsatz von IM und ohne die Erarbeitung von Infonnationen durch sie in hoher Qualität zu erfilllen ist" (Lehmann et al. 1976, S. 27).
Der ehemalige Leiter der Hauptabteilung XVIII, Alfred Kleine, forderte von den IM auch die konsequente Vernichtung des Feindes: "Qualitativ neue Anforderungen ergeben sich für die IM-Arbeit sowohl für den Einsatz unter feindlich-negativen Personenkreisen zu deren Differenzierung und Zersetzung [ ..}" (Kleine 1989, S. 51). Die IM zur aktiven "Feindbekämpfung", gehandelt als hochkarätige Agenten des MfS, wurden auch in diesem Fall zur direkten "Bearbeitung" der verdächtigen Personen eingesetzt. Kleine unterstrich hierbei, daß die Erkenntnisse aus der "operativen Arbeit" der IM bestätigten, daß die westlichen Geheimdienste, dabei vor allem der Bundesnachrichtendienst der BRD, ihre Angriffe auf die ökonomischen und damit natürlich eng verbunden auf die politischen Prozesse in der DDR konzentrierten. Schwerpunkte der Informationsinteressen dieser Geheimdienste bildeten danach die "neuralgischen Punkte" der Volkswirtschaft der DDR sowie alles was mit der Bildung einer "inneren Opposition" zusammenhing (ebd., S. 38 ff.). Getreu Mielkes Devise "Wir müssen alles erfahren", brachte das weitverzweigte, konspirativ abgeschirmte Informationsnetz des MfS in Erfahrung, "daß der BND jahrelang in der Vorbereitung der Maßnahmen gegen die DDR, die UVR (nunmehr Republik Ungarn) und die Volksrepublik Polen einbezogen war" (ebd., S. 44). Der im September 1989 abgeschlossene Operativvorgang (OV) "Rabe" bestätigte diese durch 1MB (IM mit Feindberührung) erarbeiteten Feststellungen. Die Tätigkeit der 1MB erstreckte sich dabei vor allem auf die Überprüfung zweier Spione, um dadurch Kenntnisse über deren Pläne, Maßnahmen und Methoden zu erlangen. Daneben war es Aufgabe der 1MB, Beweise rur die "Feindtätigkeit" zu gewinnen und zu deren Liquidierung beizutragen. Die Ergebnisse der Spitzeltätigkeit brachten dab~i zu tage, daß beide Spione bei dem Versuch "über die Botschaft der BRD in Ungarn die DDR ungesetzlich zu verlassen, durch Vermittlung der Botschaft vom BND mit dem Ziel angeworben (wurden), Spionageinformationen vorrangig über die gegenwärtige Politik sowie die Führungskader der Partei zu erlangen" (ebd., S. 44).
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Bei ihren Recherchen arbeiteten die einbezogenen Mitarbeiter der Hauptabteilung XVIII sowie die dafür eingesetzten IM die Identität der Spione heraus. Sie brachten dabei vor allem in Erfahrung, daß einer der beiden Spione ein wirtschaftsleitender Kader war, dem der Zugang zu Informationen bis in das Politbüro möglich war. Er stellte somit eine potentielle Gefahr für die SED und das MfS dar. Da dieser Spion für das Ministerium des Inneren (MdI) und später für eine Diensteinheit des MfS inoffiziell tätig war, richteten sich die Informationsinteressen des BND nach Einschätzungen der IM auch auf die Tätigkeit des MfS (ebd., S.44). In diesem Zusammenhang verwies der Leiter der HA XVIII auch auf die Gefahr der ehemaligen DDR-Bürger, die ebenfalls früher oder später zwecks Spionagezwecke befragt werden würden. Besonders bedrohlich wurden hierbei eventuelle Rückverbindungen dieser Personen gesehen. "Ich muß mit allen Nachdruck deshalb darauf hinweisen, [ ..] daß ehemalige IM versucht haben, Rückverbindungen zu Mitarbeitern des MjS bzw. zu IM aufzunehmen. Hauptzielstellung des END ist, in das MjS einzudringen" (ebd., S. 46). Genau dieser Tatbestand lag nun beim OV "Rabe" vor. Die brutale Ermordung dieser Spione war somit beschlossene Sache für die kriminelle Organisation des MfS. "Ich darf an dieser Stelle schon sagen, daß es mit dem kurzfristigen Abschluß dieses Vorganges gelungen ist, den Verrat von Spitzeninformationen und vor allem das Eindringen von zwei Spionen in das inoffizielle Netz einer anderen Linie des MfS zu verhindern" (ebd., S. 45). "Ich denke, unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es notwendiger denn je, unser tschekistisches Handwerk zu vervollkommnen, die uns zur Verfllgung stehenden Mittel und Methoden einfallsreich anzuwenden, um die Angriffe der Geheimdienste rechtzeitig aufzuklären [... ] Und Genossen, es geht! Wir haben noch nicht verlernt, wie der Feind zu bekämpfen ist. Das beweist der Abschluß des OV "Rabe". Die Feinde konnten wie ich bereits gesagt habe - innerhalb kürzester Zeit liquidiert werden und der Verrat von hochbrisanten Informationen sowohl zur Volkswirtschaft als auch zur Arbeit des MfS verhindert werden" (ebd., S. 48).
Aus der "erfolgreichen" Beendigung dieses geplanten Doppelmordes sollten die Diensteinheiten die Lehre ziehen, "daß der Einsatz der operativ-technischen Hilfsmittel zwar notwendig ist, aber den Ideenreichtum unserer tschekistischen Arbeit nicht ersetzen kann" (ebd., S. 50). Das MfS machte es sich zum Grundsatz die erzielten Ergebnisse immer kritisch einzuschätzen. Kompliziertere Aufgaben erzwangen die kritische Einstellung der Diensteinheiten des MfS zu ihrer eigenen Tätigkeit getreu dem Motto: "Aber die Tatsache der bisherigen Erfolge durfte niemals Zufriedenheit aufkommen lassen, denn Selbstzufriedenheit bei Tschekisten konnte zu einer tödlichen Gefahr werden" (pemmann 1979, S. 84).
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3. Die mörderischen "Zersetzungs"-Strategien des MfS zur Ausschaltung der Schwiegertochter des damaligen Rektors der Juristischen Hochschule des MfS
"Als sozialistisches Staatssicherheitsorgan hatte das MjS für die Durchsetzung der sozialistischen Gesetzlichkeit in der DDR in erster Linie die Feinde aufzuspüren und zu liquidieren" (Pemmann 1979, S. 66). Um "feindlich-nega-
tive Kräfte" auszuschalten, scheuten die Diensteinheiten des MfS insbesondere nicht davor zurück Geständnisse von Beschuldigten unter physischem oder psychischem Druck zu erzwingen bzw. durch Mißhandlungen, Isolationshaft oder Schlafentzug herbeizuftlhren. Eine Freundin der ehemaligen Schwiegertochter (Iris) des Gründungsrektors der "Stasi-Hochschule" Golm-Eiche berichtet in diesem Zusammenhang von den spezifischen tschekistischen Kräften, Mitteln und Methoden des MfS, die Iris zum Schweigen bringen sollten. Es ist die tragische Geschichte einer Frau, die ahnungslos in die Familie des damaligen Rektors der Juristischen Hochschule des MfS einheiratete und nach der Scheidung von seinem Sohn (Familienname Eppen) das Opfer eines barbarischen Regimes wurde, das ftlr sich den Titel· "humanistisch" in Anspruch nahm. Kurz nach ihrer Hochzeit 1973 wurde Iris (nach der Geburt ihrer Tochter Karin) erneut schwanger. Ihr Sohn Grischa kam mit schweren Schädigungen zur Welt. Die Ärztin diagnostizierte Hydrocephalus (Wasserkopf), und Iris versuchte alles Menschenmögliche, es dem Kleinen so leicht wie möglich zu machen. Ihr Ehemann Eppen dagegen verwand es nicht, Vater eines behinderten Kindes zu sein, und drängte zusammen mit seinem Vater auf eine Abschiebung in ein Heim ftlr geschädigte Kinder. Mit Iris daraufhin gefaßtem Entschluß zu einer Scheidung im Dezember 1979 nahm ihr Schicksal, an dessen Ende ein psychisches und physisches Wrack stehen sollte, seinen Lauf. Durch ihre angedrohte Scheidung wurde sie zu einem potentiellen Unsicherheitskandidaten des MfS. "Ich galt als "feindlich-negativ" und renitent" (Eylert 1995, S.47). Die siebenjährige Stasi-Verfolgung startete mit einem "Rollkommando", das ihre Wohnung dem Erdboden gleichmachte "In meiner Woh-
nung gab es keine Möbel mehr, weder Geschirr, Kochtöpfe noch Wäsche. Die Bettenfehlten und an den Fenstern die Gardinen" (ebd., S. 16). Iris konnte den Raubzug jedoch nicht beweisen, und somit konnte sie nichts unternehmen.
Der nächste Abschnitt ihres Lebens läßt sich mit der Überschrift "Mordversuch" charakterisieren. Nach der Scheidung im Jahre 1980 wurde Iris das gemeinsame Auto, der Wartburg, ftlr ihren Sohn Grischa zugesprochen. Nach der Übergabe des Wagens durch ihren nunmehr Ex-Mann fuhr sie noch am gleichen Abend zu einem Elternabend der Sonderschule Grischas in Marzahn. "Als
ich vor der Schule vorgefahren war, konnte ich nicht aussteigen. Die Türen ließen sich nicht öffnen. Beide Baudenzüge schienen zugleich gerissen" (ebd.,
S. 19). Arglos sah Iris hierin eine "harmlose" Schikane ihres Mannes. Am
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nächsten Morgen rettete ein Zufall ihr Leben. Als sie vor die Tür kam, entdeckte sie einen platten Reifen und sah sich dadurch gezwungen den Reifendienst aufzusuchen. "Als Fachmann prüfte er alle fünf Reifen gründlich. Sie waren ohne Luft gefahren und anschließend wieder aufgepumpt worden. Auf der Autobahn wären sie unweigerlich geplatzt. Der Wagen hätte geschleudert, womöglich mit der Leitplanke kollidiert, wäre vielleicht in Brand geraten. Die Türen hätten dann geklemmt, die rückwärtige Klappe aber wäre abgeflogen" (ebd., S. 19a).
Der Mordversuch entstammte der Handschrift des kriminellen SED-Geheimdienstes, in dessen Folge nicht nur Iris, sondern auch die Kinder getötet worden wären. "In den Augen der "Organe" meines Staates waren die Alternativen zur Ehe mit Eppen - einem der ihren, wie ich heute weiß - Verstümmelung oder Tod, Sippenhaftung exakt wie bei den Nazis inbegriffen - warum sollte man Kinder schonen?" (ebd., S. 19a). Iris drängt~ nun auf den Zuspruch der gemeinsamen Garage, woraufhin sie die Antwort der Staatssicherheit erhielt, daß es sich bei dem strittigen Gegenstand um Eigentum des MfS handele und Iris darauf keinen Anspruch hätte. Ganz eindeutig handelte es sich jedoch um gemeinsames, privates Ehegut, worauf sie eine persönliche Beschwerde an den damaligen Minister der Staatssicherheit, Erich Mielke, richtete. In der DDR gab es kein Verwaltungsgericht, sondern die Institution der "Eingabe". Diese mußte von Iris persönlich dem Ministerium rur Staatssicherheit überbracht werden. Daraufhin wurde sie aufgefordert, in einem im Erdgeschoß gelegenen Raum zu warten. Diesen Part kann man als psychiatrische Methoden im Dienste der Stasi überschreiben. Ziemlich treffend beschreibt Iris die totale Stasi-Kontrolle und die "Zersetzungs"-Methoden, die sie zum Wahnsinn treiben sollten und einer "gewaltlosen" Folterung gleichkamen: "Die Tür fiel hinter mir zu. Innen hatte sie keine Klinke. Die Wände, auf die ich zuging, bestanden aus Spiegeln: Man konnte mich beobachten, ohne daß ich jemanden sah. { ..] Ich war gefangen. Zum ersten Mal bekam ich Angst" (ebd., S.23). Die seelischen Folgen dieser Spiegelfolterung waren nicht wieder gut zu machen: "In einer Art Psychose verhängte ich alle Spiegel. Wohin ich auch ging in meiner Wohnung.~ Ichfühlte mich beobachtet. { ..] Schließlich ging ich unter Heulen und Zähneklappern zum Psychiater" (ebd., S. 23). Nach und nach erfuhr Iris dann, daß ihr Ex-Mann kurz nach Studienabschluß zum MfS übergetreten war. Die Garage wurde ihr letztlich zugesprochen, doch sollte sie nicht die endgültige Siegerin des Kampfes mit der Stasi sein. Nach dem Verlust ihrer Handtasche mit wichtigen Dokumenten wurde ihr die Arbeit untersagt. So begann sie sich neu als Säuglingsschwester zu bewerben. Jede "Kaderabteilung" lag jedoch fest in der Hand des MfS, und so wurde sie Spielball gemeiner Intrigen und fand schließlich nur in der "Gyn", der Abtreibungsabteilung, einen Job. Ein paar Jahre später bemühte sie sich
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dann um eine Wiederaufnahme ihres Studiums mit dem Resultat: "Sie bekommen in der DDR keine Bildung mehr" (ebd., S.30). Durch den Verlust ihrer Möbel, ihres Autos und eines schweren, bedrückenden Berufes sah sie sich am Rande eines Zusammenbruchs. Das Schicksal schien ihr dann zumindest etwas gnädig. Ihr Chef schickte sie heimlich zu einem Qualifikationslehrgang, bei dem sie zur OP-Schwester ausgebildet wurde. Mit dem späteren Wunsch dieses Arztes auf seine eigene Ausreise kam dieser jedoch selbst in die U-Haftanstalt Hohenschönhausen. Mitten im OP-Programm startete dann ein Anwerbungsversuch des MfS. Unter vordergründigen Beschuldigungen, sie hätte Informationen aus der Juristischen Hochschule des MfS in Westberlin zum Verkauf angeboten, versuchte man, sie als IM zu werben bzw. zu einer Zusammenarbeit zu erpressen. Iris verneinte die Mitarbeit. Auf die Erpressungsversuche folgten Bestechungsangebote. Sie blieb hart und setzte sich somit der ständigen Überwachung des MfS aus. Es kam zu Verhaftungen von Iris. "Das Quälende waren die Freiheitsberaubung, die Rechtlosigkeit und die Ungewißheit" (ebd., S.44). 1980 lernte Iris ihre große Liebe Martin kennen. Er war Sportredakteur der Illustriertenzeitschrift "Freie Welt" und genoß durch seinen Beruf volle Reisefreiheit. Nach seinem Einzug in Iris' Wohnung wurden ihm die Reisen in die westlichen Industriestaaten restlos untersagt. Was Iris zu dieser Zeit nicht ahnen konnte: Martin war IM, und durch seine Freundschaft zu Iris machte er sich zum Feind der Stasi. Aus diesem Grunde richteten sich die Zermtirbungsmaßnahmen des MfS auch gegen ihn. Nach Angaben seiner Kollegen wurde er als "Star der Zeitschrift" ins Archiv strafversetzt. Die Stasi muß ihm so zugesetzt haben, Iris zu verraten, daß er einen Ausweg nur in einem Selbstmord sah. "Er öffnete das Hochhausfenster und stürzte in die Tiefe" (ebd., S.37). Als Martin die Spionage in der eigenen Familie ablehnte, blieb ihm nur der Tod. "Der fünfte Schlag aus dem Dunkel (nach Möbelraub, Grundstücksverlust, Mordversuch und Gefangenschaft zwischen Vexierspiegeln) trifft Iris mit solcher Wucht, daß sie erkrankt" (ebd., S. 38). Schließlich landete Iris in der Nervenklinik der Charite. Die Ärzte diagnostizierten totalen Gedächtnisverlust. Sie meinten, ihr Gehirn würde sich bei Überbelastung abschalten, könnte sich jedoch regenerieren. Sie verweilte ein Jahr in der Nervenklinik. Der nächste Lebensabschnitt läßt sich mit Sippenhaftung überschreiben, d.h. die versuchte Rächung des MfS und des Staates an ihren Kindern. Ihre Tochter Karin war eine gute Schülerin, musikbegabt und wollte zum Abitur zugelassen werden. Sie wurde abgelehnt. "Ich erkannte, daß hier - kein Deut anders als unter 'Adolf' - Sippenhaftung betrieben wurde" (ebd., S. 48). Nach hartem Kampf glaubte Iris endlich gesiegt zu haben. Zynisch und menschenverachtend wurde ihr zugesagt, daß Karin das Abitur bekäme. Scheinheilig kam dann jedoch der Einschub, ob sie mit einer Ausbildung als "Elektriker mit
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Abitur" einverstanden wäre. Dann kam die erschreckende Einschränkung: Ihr Ausbildungsort sollte der Schlachthof LeninaIlee sein. "Drei Jahre Viehtöten durch Elektroschock für eine sensible Musikerin: man wußte, daß das undenkbar war" (ebd., S.53). Als Iris ehemaliger Schwiegervater und Rektor der Stasi-Hochschule 1986 in den Ruhestand ging, endeten auch die Stasi-Verfolgungen. Dies bedeutete Freiheit, jedoch "die Angst vor dem Wölfischen im Menschen, das sie vernichten wollte, wird sie nach ihren psychisch-physischen Foltern nicht mehr los"(ebd., S.60). "Sie hat die Kräfte der Vernichtung im Menschen erlebt - Kräfte, auf die jedes atheistische Regime gezwungen ist, sich gleich unter dem Schafspelz der Ideologie zu verlassen" (ebd.). Abschließend läßt sich somit nur konstatieren: Das MfS war eine kriminelle Organisation!
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REPRESSION UND FOLTER AN UNTERSUCHUNGSHÄFTLINGEN DES MFS I. Einleitung Wie war es möglich, daß auf Auschwitz Bautzen folgen konnte, auf Gestapo die geheime Staatspolizei der DDR, das MfS, und all die anderen Einrichtungen, in denen in der DDR unschuldige Menschen der Freiheit beraubt und drangsaliert wurden? Obwohl die Bilder der NS-Greueltaten noch frisch waren, begangen in der DDR erneut Deutsche, die dem SED-Regime dienten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit, folterten wehrlose Gefangene, erpreßten falsche Geständnisse und sprachen erneut im Namen des Volkes Unrecht, trieben Millionen Andersdenkender zur Flucht. Wie konnte das geschehen, wie konnte dem braunen Terror so schnell der rote folgen? Das Jahr des Kriegsendes war zugleich der Beginn einer neuen Unterdrückung in Mittel- und Osteuropa. Und in Mitteldeutschland, der selbsternannten DDR von Stalins Gnaden, war es das Ministerium für Staatssicherheit, daß die Traditionen von Gestapo und NKWD in sich vereinte und perfektionierte. Wie konnte der Terror funktionieren und warum? Wenn wir verstehen wollen wie Gesellschaftsverbrechen funktionieren, müssen wir verstehen, welche Rolle die Gleichgültigkeit spielt, daß Menschen besonders gut funktionieren, wenn sie nicht über den Tellerrand ihrer Arbeit hinausschauen. Das Böse zerflUlt in Teilhandlungen, die als einzelne nicht böse sind aber notwendig, damit die Gaskammertür geschlossen wird und die Mauer gezogen und geschossen wird. Der Beginn der Repression gegen Andersdenkende in der DDR begann mit der Rechtlosmachung.
11. Die Verfassung der DDR als Instrument der Rechtlosmachung Artikel 27 Ziffer I der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 lautet: "jeder Bürger der DDR hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern... Niemand darf benachteiligt
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werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht" (Verfassung der DDR, Berlin [Ost] 1968 [Hervorhebung W.W.]). Dem Anschein nach genoß damit jeder Bürger der DDR Meinungsfreiheit, wie sie etwa auch in Artikel 5 Ziffer 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 verankert wurde: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. " Im Gegensatz dazu schränkte die Verfassung der DDR dieses Recht demagogisch-geschickt noch im gleichen Satz wieder ein, konterkarierte es geradezu, indem der Nebensatz erklärt: " ... den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß... ". Damit war der Hauptsatz und die Hauptaussage, nämlich das Recht, "seine Meinung frei und öffentlich zu äußern", zur Beliebigkeit relativiert. Das geschah mit voller Absicht. Zum einen sollte nach innen und auch nach außen Demokratie und Freiheit der Persönlichkeit in der DDR demonstrativ herausgestellt, zum anderen die (über-)lebenswichtigen Belange einer klassischen Diktatur berücksichtigt und fixiert werden. Damit hatte die DDR gegen eigene Erwartungen beachtliche Außenerfolge. Viele westliche Staaten bewerteten die Verfassung der DDR durchaus als liberal und die Grundrechte der DDR-Bürger als gesichert. Scheinwahlen, deren Ergebnisse zudem gefälscht wurden, rundeten das Bild im Ausland von einer "sozialistischen Demokratie" ab. Mit diesem Verfassungspostulat blieb die Interpretation, was im Sinne der Verfassung rechtens ist, letztlich den parteilichen, im Sinne der kommunistischen Staatsideologie handelnden Strafgerichten, bzw. dem Ministerium rur Staatssicherheit überlassen. Da es in der DDR angeblich keinen Gegensatz zwischen den Interessen der einzelnen Bürger und denen des Staates und der Gesellschaft gab, sah die Verfassung der DDR keine Grundrechte im Sinne unseres Grundgesetzes vor, die dem Bürger die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit sichert und ihn gegen staatliche Eingriffe schützt. So durfte der DDR-Bürger seine Meinung nur "den Grundsätzen der Verfassung gemäß" frei und öffentlich äußern, d.h. seine Meinung durfte nur die vorherrschende Meinung der SED adaptieren. Eine objektive Meinungsfreiheit gab es nicht. Opponenten und Dissidenten die sich regelmäßig auf diesen Passus der DDR-Verfassung bezogen und damit meinten, ihre abweichende Meinung zu legitimieren, wurde dies unter Bezug auf die semantische Volte der Verfassungsautoren verwehrt. Daher gab es bis fast zum Ende der kommunistischen Diktatur, keinen Dialog zwischen Opposition und Staatsmacht. Es war eine kommunistische Verfassung, die das Wahrheitsmonopol dem Regime und der ihm immanenten verbrecherischen Ideologie des MarxismusLeninismus überließ. Eine frei und öffentlich geäußerte Kritik gegenüber der Staatsideologie wurde von der Verfassung nicht getragen, was sie demzufolge entwertete. Nach außen gab sie sich jedoch legitim, demokratisch und die
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Rechte seiner Bürger respektierend. Staaten und Einzelpersonen fielen darauf herein, weil Verfassungsaussage nicht in Bezug zu Verfassungswirklichkeit gesetzt und reflektiert und der Monopolanspruch kommunistischer Ideologie verharmlost oder nicht selten unterschlagen wurde. Mit fatalen Folgen für die Menschen in der DDR und für den durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland postulierten Einheitsgedanken ebenso, wie filr das Demokratieverständnis und den Freiheitswillen eines ganzen unterdrückten Volkes. Die Verfassung der DDR sanktionierte nach außen die Scheinlegitimität einer kommunistischen Diktatur und schützte deren Anspruch auf unbeschränkte, unkontrollierte Machtausübung. Sie war undemokratisch, menschen verachtend und ein Instrument des Staatsterrors.
III. Rechtsprechung und Rechtlosigkeit Es gab keine unabhängige Justiz in der DDR und daraus folgend keine objektive Rechtsprechung mit Kontroll- und Revisionsinstanzen. Die Justiz der DDR war parteilich im Sinne der kommunistischen Staatsideologie und ein Werkzeug zum Niederhalten von Opposition und Widerstand in den Händen der Machthaber. Obwohl die Richter der Bezirks- und Kreisgerichte in einem scheindemokratischen Verfahren von den "Volksvertretungen" gewählt wurden, war durch entsprechende Einflußnahme staatlicher Organisationen dafür gesorgt, daß nur Kandidaten zum Zuge kamen, die im Sinne der SED zuverlässig waren bzw. dieser kriminellen Vereinigung selbst angehörten. Richter durften nicht nach objektiven Maßstäben Recht sprechen sondern mußten bei der Urteilsfmdung in erster Linie den politischen Willen der Machtelite berücksichtigen bzw. zum Ausdruck bringen. Mehr noch: Der Wille und die Vorgaben von Partei und Staat stellten bereits ä priori das höchste Maß an Objektivität dar. Die Bezirks- und Kreisgerichte unterstanden der Kontrolle des Obersten Gerichts der DDR, welches seinerseits vom Staatsrat unmittelbar Weisung erhielt. Das Oberste Gericht konnte selbständig oder auf Veranlassung des Staatsrates den Gerichten verbindliche Weisungen rur die Rechtsprechung erteilen und die Abberufung von Richtern verlangen. Es gab weder einen Rechtsschutz des Bürgers gegen staatliche Akte durch ein Verwaltungsgericht, noch gab es eine Verfassungsgerichtsbarkeit als Korrektiv der Rechtsprechung. Die Rechtslosigkeit des einzelnen Menschen war system immanente Politik und als Bestandteil der Staatsideologie Voraussetzung rur die Durchsetzung von Machtanspruch und Unterdrückung. Politische Prozesse gab es jährliche mehrere Tausend. Sie wurden nicht als solche bezeichnet, denn im Selbstverständnis des "sozialistischen Rechts" war
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jedes Zuwiderhandeln gegen Staat und Gesellschaft kriminell, Opposition und Widerstand daher kriminelle Straftaten von höchstem gesellschaftlichen Schädigungswert. Demzufolge wurden Ermittlungen, die Komponenten dieses Verdachts enthielten, nicht von der sonst üblichen Kriminalpolizei sondern ausschließlich von der Geheimpolizei Stasi geruhrt, Häftlinge in eigenen Untersuchungshaftanstalten untergebracht, die sich jeglicher Kontrolle entzogen. Damit war allgemein deutlich, daß in der Konsequenz doch zwischen politischen und kriminellen Handlungen unterschieden worden ist. Dieser scheinbare Widerspruch wurde mit Hinweis auf das besonders hohe Potential an gesellschaftlicher Gefahr kompensiert. Ein rechts staatliches Ermittlungsverfahren gab es gegen politische Delinquenten um so weniger, weil sich die Machtelite durch deren Handlungen direkt betroffen und in ihrem Machtanspruch gefllhrdet sah. Politische Häftlinge waren rur das System die schlimmsten Kriminellen: "Politisch Andersdenkende müssen wir kriminalisieren" (Erich Mielke, Anleitung zur Bearbeitung Operativer Vorgänge, MfS-Studie, Berlin (Ost) 1/76) Ein politischer Gefangener hatte demzufolge keinerlei Rechte, insbesondere kein Recht auf Wahrnehmung seiner Interessen durch einen Rechtsanwalt während der Ermittlungen. Erst nach deren Abschluß, meist unmittelbar vor Prozeßbeginn wurde ein Anwaltsbesuch durch das MfS zugelassen. Damit waren der Willkür Tür und Tor geöffnet und alle Register der Einflußnahme auf die Aussagebereitschaft des Gefangenen konnten gezogen werden, physische wie psychische.
IV. Repression und Folter in MfS-Untersuchungshaftanstalten Einmal in den Zellen des MfS verschwunden, waren Gefangene nicht nur recht- sondern auch wehrlos gegen jede Form von Einflußnahme oder Repression durch die Geheimpolizei. In den MfS-Gefängnissen sollte dem Untersuchungshäftling während seines gesamten Aufenthaltes eine ständige Allmacht und Allwissenheit seitens des MtS suggeriert werden. Repressionen war der Gefangene schon durch die "normale" Untersuchungshaft unterworfen, die er passiv ertrug und die sich wie nachfolgend dargestellt zeigten: - Fehlende Reizeinflüsse, totale Isolierung bis hin zur sensorischen Deprivation, unangemessene Strafandrohung sollte den Häftling ängstigen und gerugig machen. Sie ergaben summarisch eine psychische Dauerbelastung, die zu Depressionen und anderen psychischen aber auch körperlichen Schäden ruhrten, wie Magen-, Darm-, Galle und Lebererkrankungen.
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- Medizinische Behandlung wurde von einer Geständniswilligkeit abhängig gemacht. - Die sogenannten "Freihofzellen", eine perfide MfS-Erfmdung mit weiterer Einflußnahme auf den Widerstandswillen, waren mit 4 x 3 m Regelgröße so klein, daß körperliche Bewegung nur bedingt möglich und von der überdies einschränkenden "Zellenordnung" nahezu ausgeschlossen war. - Schlechte Lichtverhältnisse in den Zellen fllhrten zu Lichtempfmdlichkeit, Sehschwäche, Augentränen und Bindehautentzündungen. - Die Autbebung der Isolationshaft wurde in der Regel von der Geständnisbereitschaft abhängig gemacht und so bewußt eine psychische Belastung geschaffen. - Gezielter Mißbrauch natürlicher emotioneller Bindungen zu Ehepartnern, Eltern und Kinder. Falsche Hinweise auf deren schlechten Gesundheitszustand, oder vermeintliche Geständigkeit eines anderen inhaftierten Partners. Besonders perfide: Die Mitteilung über eine vermeintliche Scheidungsabsicht des Ehepartners oder die angedrohte Inhaftierung anderer Familienangehöriger bei Aussageverweigerung. - Verweigerung der Außenkontakte zu Angehörigen und Rechtsanwälten. - Verhöre in den Nachtstunden, oder auch Tag und Nacht im Schichtwechsel. - Einseitige und minderwertige Ernährung zumeist aus lange gelagerten MiIitärbeständen. Anders bei Gefangenen, die einen gefestigten Willen, Motivation zu Fragen und Gegenfragen hatten und daraus resultierend ihre Meinung und ihr politisches Credo auch unter diesen Umständen defmierten und verteidigten, die zum Gegenangriff übergingen und ihre Rechte einforderten. Derartiger Renitenz und offener Staatsfeindlichkeit, diesem Mangel an Unterordnung und unterentwickeltem Untertanenbewußtsein, setzte das MfS bewährte Mittel entgegen, die den Willen, die Würde und die Persönlichkeit des Gefangenen brechen sollten, die Folter. Dabei wurde auch die letzte Zurückhaltung, der letzte noch gewahrte Schein einer korrekten Behandlung fallen gelassen. Das unverhüllte Gesicht einer kriminellen und verbrecherischen Diktatur erschien und beseitigte darüber letzte Zweifel. Gefoltert wurde mit System, Akribie und geradezu grausamer Hemmungslosigkeit. Die Methoden variierten von Haftanstalt zu Haftanstalt, glichen sich aber in ihrer physischen Brutalität und deren Auswirkungen und waren eine Ergänzung der Vernehmungsmethoden durch die Vernehmer selbst, oder durch die Behandlung des Wachpersonals. Es scheute sich nicht, auch physisch zu quälen, mißhandeln und zu foltern. Einige Beispiele aus der Praxis des MfS mögen dies demonstrieren:
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- Untersuchungshäftlinge wurden an Annen und Beinen gespreizt im sogenannten "Kreuzhang" mit Handschellen an Gittertüren so angeschlossen, daß die Füße ohne Bodenkontakt blieben. Diese Folter dauerte Stunden und wurde nach Belieben wiederholt. Schwächeanfälle, Kreislaufversagen bis hin zur Bewußtlosigkeit waren die Folge, neben schmerzhaften Haut- oder sogar Fleischverletzungen an den Gelenken. Die Folter wurde durch gezielte Schläge mit dem Gummiknüppel in Weichteile des Körpers gesteigert. - Die verdeckte Beibringung von unbekannten Psychopharmaka und Drogen mit dem Essen. Die Folge: anschließende und anhaltende Hilfs- und Orientierungslosigkeit; wurde insbesondere zur Steigerung der Aussagebereitschaft angewandt. - Zeitliche Unterbringung in isolierte Eis- oder Wasserzellen mit schweren und nachhaltigen gesundheitlichen Schäden. Diese Folter wurde in den MfS-Untersuchungshaftanstalten Berlin-Pankow und Berlin-Hohenschönhausen, dem sogenannten »U-Boot« nachgewiesen und hatte zum Ziel, den Willen des Opfers zu brechen. - Nächtliche Überfälle in den Zellen. Während der Nacht wurde die Zellentür geöffnet. Dem völlig überraschten und aus dem Schlaf gerissenen Gefangenen wurde das Bettzeug über den Kopf gezogen und mehrere Stasi-Leute schlugen mit Gegenständen oder Gummiknüppeln auf den Wehrlosen so lange ein, bis dieser reglos im Bett oder am Boden lag. Auch hier wurden schwere Verletzungen einkalkuliert. Dem Untersuchungshäftling wurde mit diesen Terrorangriffen sein völliges Ausgeliefertsein und seine totale Schutz- und Rechtlosigkeit demonstriert. - Aus mehreren MfS-Haftanstalten, so auch Berlin-Pankow, sind nächtliche Scheinhinrichtungen bekannt. Untersuchungshäftlinge wurden nachts aus den Zellen in den Hof oder anderen, nicht einsehbaren Orten innerhalb des Gefängnisses gefUhrt. Der Häftling wurde an eine Wand gestellt, die Hände auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt und mit einer Decke, andernorts mit Augenbinden orientierungsunfähig gemacht. Der Häftling hörte leise Kommandos und dann das entsichern von automatischen Waffen. Er glaubte, jetzt erschossen zu werden. Der in Todesangst erstarrte Häftling wurde anschließend von mehreren MfS-Angehörigen im Kreuzverhör vernommen. - Während der Vernehmungen und in den Zellen wurden Untersuchungshäftlinge mißhandelt, geprügelt und schwer zusammengeschlagen. - Der Untersuchungshäftling mußte sich entkleiden. Das Bettzeug wurde entfernt. Er wurde auf die Holzpritsche geworfen, der rechte Ann wurde auf dem Rücken an das rechte Bein, der linke Ann an das linke Bein mit Handschellen zusammengeschlossen, manchmal auch über Kreuz. In dieser äußerst schmerz-
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haften Position verblieb das Opfer mitunter mehrere Stunden. Sehr schmerzhafte Zerrungen waren die Folge. - Essens- und Wasserentzug als Strafe bei bestimmten sogenannten Ordnungsverstößen. - Dem Verfasser sind zwei Fälle aus der Untersuchungshaftanstalt des MfS Berlin-Pankow bekannt, bei denen an jungen schwangeren Frauen Zwangsabtreibungen vorgenommen wurden. Ihrem Essen wurden Betäubungsmittel beigemischt. Als sie am darauffolgenden Tag in einem unbekannten Krankenhaus erwachten, teilte man ihnen mit, daß sie ihr Kind durch eine plötzliche Fehlgeburt verloren hätten. Eine Berliner Studentin war im 4. Monat, eine andere im 5. Monat schwanger. Nach einigen Tagen kamen sie in die Haftanstalt zurück und berichteten über das Gefangenen-Kommunikationssystem von der Zwangsabtreibung. Die aktuelle Schwangerschaftsdauer blieb bei diesem verbrecherischen Vorgehen unberücksichtigt, solange nicht mit letalem Ausgang filr die Mutter zu rechnen war. Das war selbst nach DDR-Recht Mord. Eine Staatsanwältin namens Jahnke hätte in einem Fall der Betroffenen gesagt, daß dies hinsichtlich der zu erwartenden Strafe rechtens und eine notwendige Präventivmaßnahme sei. Es ist nicht auszuschließen, daß diese vom MfS sanktionierten Verbrechen auch in anderen MfS-Haftanstalten verübt wurden. - Bekannt sind ebenso hunderte zwangsadoptierter Kinder von politischen Gefangenen (Die Welt vom 31. Jan. 1987). Die detaillierte Auflistung ließe sich fortsetzen. Nahezu kein Mittel wurde von den Folterem verschmäht. Selbst die Schreie der Gefolterten stießen auf Gegenmaßnahmen. Auf den Innenhöfen verschiedener Haftanstalten befanden sich Dieselnotstromaggregate die in solchen Fällen angeworfen wurden um die Schreie der Mißhandelten zu übertönen wenn sie so laut wurden, daß sie auf der Straße gehört werden konnten. Berichtet wird auch von Morddrohungen, Mordversuchen und vollendeten Morden. Dazu kam eine latent antisemitische Haltung der Folterer, die zu Recht Vergleiche mit den Nazis, SS und der Gestapo zuließen. Jüdische Häftlinge bekamen vom MfS Beschimpfungen zu hören, die unter gleichen Bedingungen auch die Vorgenannten geäußert hatten . .. Du Judenschwein machst so einen Zirkus, weil sie dich übriggelassen haben ... bei uns kriegst du Judenschwein den Rest" (Timo Zilli, Folterzelle 36, S. 107, Berlin 1993). Im Vokabular des MfS war also der Holocaust eine Maßnahme der Nationalsozialisten, dem man mit Blick auf die Staatsfeinde der DDR unverhohlen zustimmend gegenüberstand. Darin kommt die ganze Menschenverachtung der Geheimpolizei des SED-Staates zum Ausdruck. Mißhandlungen und Folter filhrten zu schweren und schwersten gesundheitlichen Schäden mit irreparablen Folgen.
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"In der Beurteilung von haftbedingten Gesundheitsstörungen haben die Versorgungsämter und ihre ärztlichen Dienste bereits Erfahrungen. Sowohl die Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion als auch die politische Haft im Gebiet der ehemaligen DDR stellen vergleichbar schwere Schädigungen dar: Beide Gruppen von Häftlingen wurden unter Einsatz von Folter entwürdigend behandelt. wobei schwerste gesundheitliche Schädigungen bis hin zum Tod billigend in Kauf genommen wurden. und in beiden Gruppen waren aufgrund dieser Schädigungen sowohl körperliche als auch seelische Schäden zu begutachten" (Norbert Rösner, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, in: Der Stacheldraht, Berlin, 1/1996).
Jede Bezirksstadt der DDR verfUgte über ein MfS-Untersuchungsgefängnis. Die Fenster dieser Anstalten waren entweder durch aufmontierte Blenden oder innen verputzte Glasbausteine gegen Licht und Sicht weitgehend geschützt. Die Haftbedingungen in diesen Zellen glichen daher denen einer Dunkelhaft. Die Vorgehensweise der Stasi war ohne regionale Unterschiede gleich brutal oder subtil in der Methodik repressiver Behandlung. Unter der Teilbezeichnung "Besondere Haftumstände" heißt es in einem offiziellen Bericht des Bundesnachrichtendienstes an das Bundeskanzleramt vom Dezember 1987: "In den bekannt gewordenen 19 Haftanstalten sind physische und psychische Mißhandlungen allgemein üblich. Häftlinge werden geschlagen und geprügelt. Selbst angekettete Häftlinge werden mit dem Gummiknüppel traktiert. Oft wird totale Dunkelhaft verhängt" (Bericht zur Lage der politischen Häftlinge in Haftanstalten der DDR, Autorenteam des BND, MünchenlPullach, Dezember 1987). Ziel aller Vernehmungen war es, dem Gericht einen möglichst gerugigen Häftling zu präsentieren, dessen erfundene, erpreßte oder verfiilschte Aussage ein drakonisches Urteil legitimieren sollte. Kam es nach derartigen Exzessen zu einem Prozeß, war die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Stasi und Justiz waren unter sich um keine "Panne" zu riskieren. Nichts sollte und durfte an die Öffentlichkeit. Geschah dies in seltenen Fällen dennoch, wurde alles bestritten. Die Verhandlung wurde in einem Stil durchgeruhrt, die dem nationalsozialistischer Prozesse Freislerscher Prägung ähnlich war. Ein Rechtsanwalt, der kurz vor Prozeßbeginn erstmals seinen Mandanten aufsuchen durfte, bekam in der Regel wie der Gefangene selbst, erst unmittelbar vor Prozeßbeginn die Anklageschrift zu lesen. Zeugen oder Beweismittel seitens der Verteidigung waren nicht zugelassen bzw. wurden bei Antrag abgelehnt. Staatsanwalt und Anklageschrift waren die einzigen prozeßrelevanten Kriterien. "Das MjS hatte das Land zunehmend/ester im Griff' (Whitney 1993, S. 74). Das Urteil, vom MfS "vorgeschlagen", stand bereits fest und wurde am Ende eines Scheinprozesses so verkündet. Das Ministerium rur Staatssicherheit erteilte dem MfS-Untersuchungsorgan Weisungen über die Taktik der Ermitt-
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lung im Hinblick auf Aussageverhalten und Aussagebereitschaft des Häftlings und erarbeitete mit ihm gemeinsam die Höhe der Strafe. Im Untersuchungsbericht stand darüber: "Als erforderlich wird eine Strafe nicht unter ... gehalten. " Der Leiter der örtlichen Untersuchungshaftanstalt (UHA) des MfS teilt seinerseits gewonnene Erkenntnisse die von ihm im Rahmen der Unterbringung gewonnen wurden (Spitzel) mit. Die Angeklagten wurden als "Feinde der DDR" bezeichnet und abgeurteilt. Schema: Mit dem MfS über die scheinlegitime Justiz zum Politischen Urteil
I Urteil I 1"
Richter Staatsanwalt Ministerium ftlr Staatssicherheit
-+
MfS-Untersuchungsorgan
+
Leiter der UHA des MfS
Die Zahl der politischen "Straftaten" und die Höhe der verhängten Strafen sind erschreckend. Es gab in der DDR insgesamt 800.000 Häftlinge, davon 200.000 Politische (Zentrale Häftlingskartei in der »Gauck-Behörde«, Berlin). Trotz regelmäßiger Freikäufe politischer Häftlinge seit Mitte 1964, blieb die Zahl von annähernd 4000 politischen Häftlingen konstant. Das MfS ging schon in den siebziger Jahren dazu über, politische Verhaftungen und Aburteilungen unter der Prämisse eines späteren Freikaufes durch die Bundesregierung zur Erlangung von dringend benötigten Devisen durchzuftlhren. Der Verkaufspreis eines politischen Häftlings wurde von der Höhe seines Strafmaßes, seiner Ausbildung oder seines sonstigen Wertes abhängig gemacht. Damit stellte sich die DDR in die erste Reihe moderner Sklavenhalterstaaten und betrieb, ab September 1973 als Mitglied der Vereinten Nationen, Menschenhandel. Die Summen, die mit dem Gefangenenhandel erzielt wurden, waren gigantisch und betrugen um 1988 bereits 232 ..096.191,43 DM. (Geissler 1992, S. 475). In ihrer ausweglosen Situation war den politischen Häftlingen der OstBerliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel die einzige Institution, die wirksam im Hinblick auf eine Freilassung und damit auf eine Beendigung ihrer Vernichtungshaft helfen konnte. "Mittlerweile hatte sich in der gesamten DDR, in den
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Gefängnissen von Bautzen, Hohenschönhausen oder in der Magdalenenstraße herumgesprochen, daß der Anwalt wahre Wunder bewirken konnte. Allein durch den Gefangenenaustausch hatten 7.379 Häftlinge und ihre Familien in den Westen ausreisen dürfen. "(Whitney 1993, S. 208). Dagegen wurden Fluchthelfer die ausreise- und fluchtwilligen Menschen aus der DDR bei der Realisierung ihres Anliegens halfen bzw. selbst organisierten, mittels besonderer Einsatzkonzeptionen außerhalb des Staatsgebietes der DDR bis hin zum Mord bekämpft. (ZOV "Skorpion" - Wolfgang Welsch, MfS Reg.Nr. XV 3359/74 Geheime Verschlußsache; Voigt 1996).
V. Repression und Widerstand Auch nach einer Verurteilung erlebten politische Gefangene den Strafvollzug als besonders repressiv. Anzeichen von Widerstand wurden mit Dunkelhaft, Arrest, Essensentzug und schwerer Prügel bestraft. Im Zuchthaus Brandenburg wurde darüber hinaus mit Elektroschock gefoltert. Parallel dazu wurde die medizinische Hilfeleistung verweigert. Ein sogenannter Verbindungsoffizier des MfS unterstützte oder leitete die entsprechenden Maßnalunen. Der letale Ausgang wurde einbezogen und war nicht unerwünscht. Die Haftanstalten Brandenburg, Bautzen I und 11 (MfS), Lager X (MfS), Magdalenenstraße (MfS), Waldheim und Hoheneck (Frauen) haben hierbei einen besonders herausragenden Platz eingenommen, sowohl in der Repression gegenüber politischen Gefangenen, aber auch in einzelnen oder sogar organisierten Widerstandshandlungen. So kann der Verfasser aus der Haftanstalt Brandenburg durch eigene Beteiligung bezeugen, daß ganze Produktlinien von Kampfanzügen rur die DDR-Armee (NVA) und anderer Armeen der Warschauer PaktStaaten die dort im "Kommando Schneiderei" der VEB Burger Bekleidungswerke Werk III hergestellt, zerschnitten und damit unbrauchbar gemacht wurden. Die Druckerei in Waldheim, die Panzerketten- und Elektromotorenproduktion in Brandenburg wie die Uniformschneiderei ebenda, waren wichtige Bausteine innerhalb des militärisch-industriellen Rüstungskomplexes der DDR. Geheimhaltung und Geheimproduktion ließen sich in den Haftanstalten nahezu perfekt gestalten. So wurden Z.B. im MfS-"Lager X" Berlin (Ost), westdeutsche Reisepässe, Valuta-Währungen wie US-Dollar, D-Mark, Schweizer Franken, westliche Kfz-Kennzeichen und diverse andere Totalfälschungen ebenso hergestellt, wie Spionagekameras und andere sensible Nachrichtentechnik, neben toxischen Materialien und speziellen Mordwerkzeugen, die beim Liquidieren von Staatsfeinden zum Einsatz kamen. Hier wurden politische Ge-
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fangene mit hohen Qualifikationen zur Arbeit eingesetzt. Widerstandshandlungen wurden auch hier durch bewußte Ungenauigkeiten verübt und machten manche hergestellten Mittel im Ergebnis unbrauchbar oder fehlerhaft. Widerstand war möglich und setzte die vorlaufend beschriebenen charakterlichen Eigenschaften voraus. So war der Verfasser an einer folgeschweren Sabotageaktion im "Kommando Elmo" der Haftanstalt Brandenburg, beteiligt. Dort wurden große Elektromotoren rur den Einsatz auf sowjetischen Kriegsschiffen hergestellt. Nachdem diese Probelauf und Endkontrolle passiert hatten, verschaffte sich der Verfasser Zugang zum Zwischenlager von dem aus der Abtransport erfolgte. Es war nicht speziell gesichert. Er zerschnitt an allen dort gelagerten und erreichbaren Motoren die Wicklungen mit Kupferdrähten und verwandelte so die Produktion von Monaten in Maschinenschrott. Eine Spezialeinheit des MfS tauchte Wochen nach der ersten Auslieferung an die Sowjetunion in der Haftanstalt auf und ermittelte verdeckt den Urheber der Sabotage. Ohne Ergebnis. Sabotagehandlungen an militärischen Gütern wurden mit der Todesstrafe bedroht. Der Kampf gegen Kommunismus und Nationalsozialismus begann mit Lenin: " ... gleichgültig, ob 10 Millionen Russen verhungern, wenn nur die Idee der Revolution gerettet wird" Widerstand in der DDR war auch zugleich Kampf gegen den Kommunismus, außen oder in den Haftanstalten, passiv oder aktiv, in jedem Fall aber unter Einsatz von Eigentum und Leben. Er war im nationalen Denken verwurzelt. So groß die Verdienste der Menschenrechtsbewegung auch gewesen sein mögen. Sie waren Kosmetik am System des Totalitarismus. Widerstand wollte keinen reformierten oder demokratischen Sozialismus. Beides sind unbrauchbare, semantisch vernebelnde Begriffe. Widerstand war immer Ausdruck der Bekämpfung der verbrecherischen marxistisch-leninistischen Staatsideologie der DDR und deren ersatzloser Beseitigung. Sein Vorbild sah er national im Aufstand des 17. Juni 1953 und international im Freiheitskampf des ungarischen Volkes von 1956.
VI. Langzeitfolgen und Konsequenzen Die terroristische Dimension dieser Konsequenz muß wachgehalten werden. Die Opfer haben Anspruch auf Würdigung ihres Leidens in der Öffentlichkeit, denn sie haben sich unter Gefahr von Leib und Leben rur die freiheitliche Werteordnung eingesetzt. Die körperlichen und p~ychosomatischen Langzeitschäden von Repression und Folter an ehemaligen Untersuchungshäftlingen des MfS sind unabsehbar. Nichts ist danach mehr wie es einmal war. Partnerschaften zerbrechen, Biographien werden zerstört, Denkblockaden, Menschen-
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scheu und Todessehnsucht verbinden sich mit jahrzehntelangen Schmerzgefühlen. Der latenten Verharmlosung des SED-Staates und seiner Repressionspolitik kann nicht mit Plakativ-Erklärungen begegnet werden. "Wir möchten lernen von denen, die in diesen dunklen Zeiten politischen Widerstand gewagt und geleistet haben. Diese Menschen sind der Stolz und ihre Leistung ist der moralische Schatz unseres Volkes" (Bundeskanzler Kohl in einer CDU-Erklärung von 1990). Die Opfer haben ein Recht auf angemessene Entschädigung. Zwar ist mit dem politisch überflüssigen Einigungsvertrag die juristische Aufarbeitung kommunistischer Verbrechen weitgehend gescheitert und der Art. 103 Abs. 1 des Rückwirkungsverbotes allgemeines Völkerrecht. Dennoch kann internationales und auch nationales Recht, wie kürzlich in einer Entscheidung zu den Morden an der Mauer, dieses anachronistische Element in der Aufarbeitung von Staatsverbrechen relativieren. Der nächste Diktator könnte erneut mit Blick auf das Rückwirkungsverbot schlimmste Verbrechen verüben, ohne sich um spätere Ahndung sorgen zu müssen. Er wird dazu nachgerade eingeladen. Der Staat als Täter überfordert die Möglichkeiten des Rechtsstaates. Die Rechtsgrundsätze des Nürnberger Tribunals bieten deshalb Anhaltspunkte im Umgang mit Staatsverbrechen. Dort wurden vier Verbrechen angeklagt. Das vierte war das vom Staat organisierte. Zur Aburteilung genügte die Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Partei. Weil SEDlMfS nicht als kriminelle Organisationen eingestuft wurden, sind der juristischen Aufarbeitung durch die positive Unterstellungsvermutung deutliche Grenzen gesetzt. Die DDR verstieß gegen eigene strafrechtliche Bestimmungen ebenso, wie gegen die Schlußakte der Konferenz von Helsinki (KSZE/OSZE) oder gegen die Charta der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen. "Niemand darf sich auf Gesetze oder Befehle die gegen Menschenrechte verstoßen, berufen" (Art. 95 Strafgesetzbuch der DDR). Wo das Recht zur Beliebigkeit pervertiert, wurde Widerstand zur Pflicht. Wir Deutschen haben Anlaß zu grundsätzlicherer Aufarbeitung kommunistischen Terrors als unsere östlichen Nachbarn, gerade weil unsere Vergangenheit das Bewußtsein für Unrecht und Menschenverachtung geschärft hat.
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Literatur BND: Bericht zur Lage der politischen Häftlinge in Haftanstalten der DDR. MünchenlPullach 1987. Die Welt, Zwangs adoptionen, vom 31.1.1987. Fricke, Karl Wilhelm: Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968. Bericht und Dokumentation. Köln 1979. Geissler, Ludwig: Vogels Büroakten. Berlin 1992. GiII, David/Schröter, U1rich: Das Ministerium rur Staatssicherheit. Berlin 1991. Hildebrandt, Rainer: Pressekonferenz der Arbeitsgemeinschaft 13. August. Berlin 1979. Lambrecht, RudolfIMüller, Leo/Sandmeyer, Peter: Operation Skorpion. In: Der Stern, Nr. 49/50, Dez. 1993. Lenin, Wladimir I1jitsch: Ein Schritt vor, zwei zurück. St. Petersburg 1923. Mielke, Erich: Anleitung zur Bearbeitung Operativer Vorgänge. Berlin (Ost) 1976. Rösner, Norbert: Der Stacheldraht. Berlin 1996. Sozialistischer Strafvollzug. Berlin (Ost) 1968. Strafgesetzbuch der DDR. Berlin (Ost) 1968. Verfassung der DDR. Berlin (Ost) 1968. Voigt, Dieter: Mord - eine Arbeitsmethode des Ministeriums rur Staatssicherheit. In: Politische Studien, 47. Jg. (1996), H. 349, München, S. 43-67. Welsch, Wolfgang: Memorandum. Gegen den Beitritt der DDR in die UNO. Gießen/New York 1973. Whitney, R. Craig: Advocatus Diaboli -Wolfgang Vogel. Anwalt zwischen Ost und West. Berlin 1993. Zilli, Timo: Foltenelle 36 Berlin-Pankow. Berlin 1993.
Dokumente MfS-Bearbeitungskonzeption zum ZOV Skorpion, Berlin (Ost) 1981, Geheime Verschlußsache. Dokumentation: Schlußakte der Konferenz von Helsinki. Anleitung zur Bearbeitung Operativer Vorgänge, Berlin (Ost) 1976, Geheime Verschlußsache.
8 Merten. I Voigl
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ZUR GEHEIMDIENSTLICHEN ZUSAMMENARBEIT VON MFS UND KGB I. Einleitung Schwer lastet das Erbe des DDR-Geheimdienstes auf dem wiedervereinigten Deutschland. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht neue Ungeheuerlichkeiten aus dem HV A-Schattenreich bekannt werden: grausame Folterzellen und Verhörpraktiken, Kontakte zu Rechtsextremisten, Sabotageversuche an Kernkraftwerken, Verschleppungen und inszenierte Unfltlle mißliebiger Personen, Unterstützung terroristischer Vereinigungen und einer kommunistischen Untergrundarmee. Bisher hat die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungskriminalität (ZERV) allein 561 Ermittlungsverfahren gegen frühere StasiMitarbeiter eingeleitet, die unter Anwendung von Gewalt Verschleppungen von Personen aus Westdeutschland in die DDR vornahmen. In 50 Fällen geht derzeit ZERV der Aufklärung von Mordtaten nach, die entweder von der Staatssicherheit in Auftrag gegeben oder von ihr selbst ausgeführt wurden. Mord war eine Arbeitsmethode des Ministeriums für Staatssicherheit. I Bis heute sind die Hintergründe der Ermordung des Politikers Uwe Barschel unklar. Hatte das MfS seine Hand im Spiel? Der Spionage-Apparat des Ministeriums für Staatssicherheit, die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A), hatte Orwellsche Dimensionen und arbeitete ohne jede Kontrolle mit weitreichenden Zwangs befugnissen, mit menschenverachtender Skrupellosigkeit. Die Einzigartigkeit von Mielkes Terror- und Spitzelsystem wurde noch von einem östlichen Geheimdienst in den Schatten gestellt: dem KGB. Die ostdeutsche Tschekisten-Organisation blieb letztlich doch nur Ableger und Filiale des sowjetischen KGB mit einem Heer von ca. 500.000 Hauptamtlichen Mitarbeitern und bis zu 7 Mio. Inoffiziellen Mitarbeitern, die "Stukatschi". Dem KGB, dem mit Abstand größte Staatssicherheits-, Spionageund Sabotageunternehmen der Welt, fielen - nach ernstzunehmenden SchätzunVgl. Einsatzgrundsätze und Hauptaufgaben der Einsatzgruppen im Operationsgebiet, Geheime Verschlußsache GVS MfS 046 - 9/811L, Berlin (Ost), 15. April 1981, Arbeitsgruppe des Ministers, Arbeitsgebiet "S", Leiter: Stöcker, abgedruckt in: Voigt 1996. 8*
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gen - 25 Mio. Menschen zum Opfer (Albaz 1992). Derzeit wirken die Erben des KGB in sieben verschiedenen Diensten, KGB-Leute sitzen in Ministerien, Wirtschaftsmonopolen, Banken, Joint-ventures und weltweiten mafiosen Strukturen, organisieren illegalen Waffenexport und kontrollieren zweistellige Dollarmilliarden russischen Auslandskapitals (Kogelfranz 1996, S. 86 ff.). Der russische Geheimdienst - im Geiste des Totalitarismus geprägt - zeigt sich immun gegen demokratische Reformen. Daß Geheimdienstoffiziere im Kreml wieder dermaßen an Einfluß gewinnen konnten, ist bezeichnend für den gegenwärtigen Stand der demokratischen Entwicklung in Rußland. Der russische Geheimdienst ist keinerlei parlamentarischen Kontrolle unterstellt und ist somit eine geflihrliche Waffe in der Hand des Präsidenten, die jederzeit nach Belieben gegen Oppositionelle eingesetzt werden kann. Der Verfall des sowjetischen Imperiums zeigt, daß ein Sicherheitsdienst letztlich keine "Wunderwaffe" ist, um Mängel des wirtschaftlichen und politischen Systems und der politisch-strategischen Entscheidungen auf die Dauer wettzumachen. Schließlich riskiert ein Staat, der zu solchen Methoden greift, daß evtl. auch noch die eigenen Dienste der Kontrolle der politischen Führung entgleiten, mit entsprechenden Gefahren für die eigene Innenpolitik. Stalins Großer Terror bleibt gerade in Rußland ein national prägendes Schreckenserlebnis und eine Warnung. Der russische Nachrichtendienst, der die "Hauptgegner" des alten KGB verloren hat, wird sich künftig - sofern es nicht eine autoritäre Restauration gibt - in erster Linie auf einen vormals internen Bereich konzentrieren müssen: Die Entwicklungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken, die zum Teil zu potentiellen neuen Gegenspielern geworden sind bzw. aufgrund interner Krisenund Destabilisierungstendenzen zur Quelle neuer totalitärer Risiken werden. Insbesondere die restaurativen Nostalgien in den Führungen gerade der Sicherheitsapparate und die katastrophale Misere der russischen Wirtschaft und Gesellschaft - eine rote Mafia, die die gesamte Gesellschaft wie eine Krake durchzieht - begünstigen konservativ-autoritäre Strukturen im russischen Imperium.
11. Die Verflechtung von MfS und KGB seit den 60er Jahren bis zur Wende in der DDR 1989/90 und deren Folgen In der Verflechtung von MfS und KGB zeichnen sich drei Phasen ab: Die erste umfaßt die Anfangszeit von 1950 bis etwa 1952/53, in der der noch schwache Apparat des MfS von den sowjetischen Instrukteuren des KGB regelrecht geführt wurde. Es schloß sich eine Zwischenphase an, die etwa mit der Amtszeit von Ernst Wollweber (1953-1957) identisch ist, in der die Staatssicherheit zwar eine größere Selbständigkeit gewann, die nunmehr als Berater bezeichneten KGB-Offiziere aber weiterhin auf allen Ebenen eine faktische
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Weisungskompetenz in operativen Fragen und Vetobefugnisse bei bedeutsamen Leitungsentscheidungen hatten (Marquardt 1995, S. 302 f.; FrickelMarquardt 1995, S. 50-169.). Die Berater wurden sukzessive reduziert und 1958 in Verbindungsoffiziere umbenannt. Formal war das MfS jetzt vom KGB unabhängig, das Verhältnis wurde von nun an durch schriftliche Vereinbarungen und Verträge auf der Ebene einer formalen Gleichberechtigung geregelt, doch besonders in verschiedenen Schlüsselbereichen, insbesondere in der Militärabwehr (HA I), der Spionageabwehr und der Aufklärung (HV A), sicherte sich der sowjetische Geheimdienst2 nach wie vor unmittelbaren Einblick und Einfluß. (hierzu, insbesondere hinsichtlich der HV A, Marquardt 1995, S. 311 f. und passim). Die Untersuchung der geheimdienstlichen Zusammenarbeit von MfS und KGB, die Rekonstruktion der Strukturen und der Arbeitsweise des Staatssicherheitsdienstes der DDR anhand seiner Archivalien ist ein mühseliger Prozeß. Zu viele Akten sind vernichtet worden, andere wiederum sind noch unerschlossen. Besonders rigoros wurde 1989/90 in der Endphase des Ministeriums rur Staatssicherheit bzw. des Amtes rur Nationale Sicherheit (AtNS) die Beseitigung von Akten und Unterlagen über die internationale geheimdienstliche Kooperation betrieben (Tantzscher 1996, S. 595 ff.; WegmanniTantzscher 1996, S.3 ff.). Willi Damm, ehemaliger Leiter der Abteilung X des MfS, ließ z.B. das archivierte Aktenmaterial seiner Abteilung mit der Begründung vernichten, es enthalte belastende Informationen über die "Bruderorgane". Die z.T. unerschlossene und lückenhafte Quellenlage zwingen dazu, überwiegend auf Bestände der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS (ZAIG), des Sekretariats des Ministers (SdM) und der DokumentensteIle des Zentralarchivs des MfS zurückzugreifen, die vornehmlich die administrative Ebene des MfS und des KGB erfaßt haben. Die praktische Umsetzung der Befehle, Richtlinien und konkreten operativen Maßnahmen kann erst umfassend nachgewiesen werden, wenn die Dokumente aus den entsprechenden operativen MfS- und KGB- Abteilungen zugänglich sind. So fehlen bis heute weitgehend die Unterlagen und Akten entscheidender operativer Diensteinheiten: - der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A), - der Hauptabteilung I (HA I, zuständig rur Abwehrarbeit in der NV A und den Grenztruppen und rur die Aufklärung westlicher Militäreinrichtungen). Die "Operativen Grenzschleusen" (OGS) gehörten zu den Topgeheimnissen der Staatssicherheit. Nicht nur Agenten benutzten die OGS an mindestens drei Stellen bei Schlutup (OGS "Nord-West"), im Norden, nahe Jahrstedt (OGS "Kreuz") im mittleren Bereich sowie in der Nähe von Plauen (OGS "Süd"). 2
Vgl. die Hinweise von KGB-General a.D. Sergei A. Kondraschew (1997, S. 145 ff.).
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Auch Sonderkommandos des Ministeriums rur Staatssicherheit mit Spezialaufträgen dürften die Schlupflöcher an der innerdeutschen Grenze genutzt haben. Einer, der es wissen müßte, ist Gerhard Neiber. Dem Ex-Generalleutnant unterstand die rur Grenz- und Militärüberwachung zuständige Hauptabteilung I des MfS. Doch Neiber schweigt. Vielleicht, weil die Berliner Justiz ihn gegenwärtig im Zusammenhang mit einem Stasi-Auftragsmord im Visier hat. (vgl. Hinweise Focus 13/1997), - der Hauptabteilung 11 (HA 11, zuständig rur Spionageabwehr und Kontrolle ausländischer Botschaften), - der Hauptabteilung III (HA III, zuständig rur elektronische Funkaufklärung, Funkabwehr und -kontrolle), - der Hauptabteilung XVIII (HA XVIII, zuständig rur die "Sicherung der Volkswirtschaft und des RGW"), - der Abteilung N (zuständig rur Nachrichtenwesen, Sicherung der geheimen Regierungsnachrichtenverbindungen und den operativ-technischen Sektor), um nur einige zu nennen. Stünden diese äußerst wichtigen Akten und Unterlagen zu unserer VerfUgung, wären die Einblicke in die geheimdienstliche Zusammenarbeit von MfS und KGB institutionell und personell informativer. Aufschlußreich werden sicher die zur Zeit laufenden Ermittlungen der Bundesanwaltschaft sein. Die Ermittlungen richten sich gegen 50 Ost- und Westdeutsche, die rur den sowjetischen Geheimdienst KGB gearbeitet haben sollen - und möglicherweise jetzt noch rur die Russen spionieren. Anhaltspunkte liefert insbesondere der Bestand der ehemaligen Stasi-Hauptabteilung VI, zuständig rur die Verhinderung von "Republikflucht", Paßkontrolle und Fahndungen an Grenzübergängen. Das KGB und der militärische Geheimdienst (GRU) hatten die Staatssicherheit oftmals gebeten, ihre Mitarbeiter nicht zu kontrollieren und ihre Ankunft am Grenzübergang auf die Minute genau angekündigt. Bei diesen Ermittlungen lassen sich sicher enge institutionelle und personelle Verflechtungen zwischen KGB und MfS nachweisen. Wie hoch ist der Erkenntnisgewinn der KGB-Akten einzuschätzen? Nach Wadim Bakatin (1993; vgl. von Borcke 1992 a/b) - der kurzzeitige Geheimdienstchef, der nach dem Putsch vom August 1991 das KGB übernahm - befinden sich in den Archiven der ehemaligen Hauptverwaltungen des KGB etwa 470.000 bereichsspezifische Akten. Insgesamt umfassen die weitgehend gesperrten Archive des ehemaligen KGB über 10,6 Millionen Akten. Welche politische Brisanz die Moskauer KGB-Archive haben, zeigen u.a. die Enthüllungen im Frühjahr 1995 zu Bahrs "Geheimpakt" mit dem KGB. Willy Brandts Vertrauter, Egon Bahr, knüpfte 1969 einen Sonderkontakt nach
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Moskau - zehn Jahre lang traf er sich konspirativ mit zwei KGB-Agenten. Einer, der KGB-General Wjatscheslaw Keworkow,3 und sein Ex-Kollege Nikolaj Portugalow enthüllten 1995 den "geheimen Kanal". Bereits am 24. Mai 1968 - noch vor dem Bonner Machtwechsel, mit dem durch die Regierung BrandtlScheel eine neue Ostpolitik eingeleitet wurde - gab der Chef des KGB und spätere Generalsekretär Juri Andropow den Auftrag, auf allerhöchster Ebene einen "geheimen Kanal" zwischen Moskau und Bonn herzustellen. Aus Geheimdiplomatie wurde so Geheimdienstdiplomatie. Der KGB-General Keworkow - hoher Mitarbeiter der 1. Hauptverwaltung (Auslandsnachrichtendienst) des KGB - war es, der die Verhandlungen mit Egon Bahr vorantrieb, die im August 1970 schließlich zum Moskauer Vertrag fUhrten. Keworkow war es, der im Frühjahr 1972 einen Koffer voller Dollars anbot, um das bevorstehende Mißtrauensvotum gegen Willy Brandt zu Fall zu bringen. Zudem flidelte Keworkow die Ausreise des Regimekritikers Alexander Solschenizyns ein und er war es schließlich, der im Dezember 1979 Helmut Schmidt am Brahmsee aufsuchte, um ihn über die geplante sowjetische Invasion Afghanistans zu unterrichten (Keworkow 1995, S. 122 ff. und S. 236 ff.). Der damalige Chef des KGB, Juri Andropow, war sich wohl der brisanten Mission des "geheimen Kanals" - vorbei an allen Instanzen des Machtapparates bewußt, so formulierte er 1974: "Brandt und Bahr sind zweifellos kühne
Politiker. Sie haben es gewagt, sich mit dem Teufel zu verbünden. .. Brandt heißt bei seinen Gegnern schon heute 'die Hand Moskaus', und Bahr wird man bald 'die Finger des KGB' nennen. Man wird so viel Schmutz über ihn ausgießen, daß er sich bis an sein Lebensende nicht davon reinwaschen kann" (ebd., S. 157). Egon Bahrs4 legendäre Formel aus dem Jahre 1963 vom
"Wandel durch Annäherung", die das Verhältnis zur DDR neu bestimmen sollte, war von bemerkenswerter Unbestimmtheit: Wer sollte sich annähern, wer sich wandeln lassen und zu welchem Ende?
Ein Hauptinteresse der Zusammenarbeit zwischen MfS und KGB lag auf dem Gebiet der Militär- und der Wirtschaftsspionage, auf dem "Sektor Wissenschaft und Technik" (SWT), aber auch auf dem Gebiet der Zersetzung systemkritischer Opposition. Innerhalb des Tätigkeitsspektrums der HV A bildete die ökonomische und wissenschaftlich-technische Aufklärung ein organisches Element. Die AufgabensteIlung des relativ eigenständigen Strukturbereichs der 3
Vgl. Keworkow 1995; vgl. auch "Bahrs Geheimpakt mit dem KGB", in: Focus 6/1995; "Bund mit dem Teufel", in: Der Spiegel 7/1995.
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Bahr hat noch spllt die "Geraer Forderungen" Honeckers zum Teil ftlr akzeptabel erklllrt, was die "Respektierung" der DDR-StaatsbUrgerschaft anging. Bahr ist noch 1988 ftlr separate Friedensvertrllge mit beiden deutschen Staaten eingetreten. Wenn das verwirklicht worden wäre, hlltte die deutsche Vereinigung, so wie geschehen, nicht stattfinden können.
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HV A, der seit Mitte der 60er Jahre unter der Bezeichnung "Sektor Wissenschaft und Technik" (SWT) finnierte, zielte nicht nur darauf, empfindliche Lücken der eigenen Forschung und Industrieentwicklung zu schließen, sondern Grundlagen der modemen industriellen Fertigung und Schlüsseltechnologien flächendeckend auszuspionieren. Die Hauptaufgabe von SWT bestand in der konspirativen Beschaffung von wissenschaftlichen und technischen Lösungen in allen nur denkbaren Fonnen, von Mustern und Dokumentationen der Industrien und internen wirtschaftsstrategischen Dokumenten westlicher Staaten, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland (Siebenmorgen 1993, S. 182 f.). Der katastrophale wirtschaftliche Zustand der DDR Mitte der 80er Jahre ftlhrte zu illegalen Praktiken und zu einer ganzen Reihe neuer organisatorischer Maßnahmen auf dem Gebiet der Wirtschaftsspionage und des Sektors Wissenschaft und Technik. So befahl der ehemalige Minister ftlr Staatssicherheit, Erich Mielke, am 12. März 1987 (Befehl Nr. 2/87, Geheime Verschlußsache),5 daß Generalmajor Vogel, Stellvertreter des Leiters der HV A und Leiter des SWT, für die Durchsetzung aller Maßnahmen des gesamten MfS bei der Beschaffung von westlichen Embargogütern verantwortlich sein sollte. Es wurde eine nichtstrukturelle Arbeitsgruppe 'EMBARGO' im MfS gebildet, die unter strengster Konspiration und Geheimhaltung Embargowaren und geheime Dokumente aus den westlichen Industriestaaten beschaffte im Verbund mit Alexander Schalck-Golodkowski und dem Bereich Kommerzielle Koordinierung. 6 Die Leistungsfähigkeit der Wirtschaftsspionage und des SWT ging weit über das hinaus, was die DDR selbst umsetzen konnte. Immer häufiger wurde der "Sektor Wissenschaft und Technik" in den 70er und 80er Jahren im direkten Auftrag sowjetischer KGB-Stellen tätig, um sein umfangreiches Agentennetz für spezielle Beschaffungswünsche des KGB zu nutzen. In bestimmten Bereichen, etwa auf dem Gebiet der Luft- und Raumfahrttechnik, überstieg die Auftragsarbeit für den KGB bei weitem die Beschaffungen ftlr eigene Zwecke (Siebenmorgen, 1993, S. 188 ff.). Die Hauptverwaltung Aufklärung des MfS gab, so Markus Wolf, ein Doppel der operativ beschafften Infonnationen an den KGB-Verbindungsoffizier weiter, und das sei eine "politische Selbstverständlichkeit" gewesen, die nicht ausdrücklich geregelt werden mußte. (Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Anklageschrift gegen Generaloberst a.D. Markus Wolf, Karlsruhe 16.9.1992, S. 137 ff.). Den Umfang der Tätigkeit des "Sektors 5
Vgl. Befehl Nr. 2/87, Geheime Verschlußsache, GVS 0008, abgedruckt in: FrickelMarquardt 1995, S. 142 ff.
6
Vgl. Bericht des I. Untersuchungsausschusses des 12. Deutschen Bundestages, Der Bereich Kommerzielle Koordinierung und Alexander Schalck-Golodkowski, Drucksache 12/9600, Bonn 1994.
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Wissenschaft und Technik" kann man erahnen, wenn man erfährt, daß der Generalbundesanwalt auf der Grundlage der von Werner StiJIer7 erhaltenen Hinweise über hundert Ermittlungsverfahren gegen Bundesbürger eingeleitet hatte. Die Abteilung XIII des SWT (letzter Leiter Oberst Siegfried Jesse; sein Stellvertreter Oberst Arno Mauersberger) war zuständig rur die Aufklärungsarbeit im Bereich der Grundlagenforschung und -entwicklung (Chemie, Biologie, Medizin, Kernphysik, Gentechnologie und weitere neuartige Forschungsgebiete). Die Abteilung XIV des SWT (letzter Leiter Oberst Horst Müller) hatte im Bereich der Forschung, Entwicklung und Produktion der Elektronik und Elektrotechnik ihr Betätigungsfeld. Hierzu gehörten auch zivile und militärische Fernmeldetechnik, Mikroelektronik, Lasertechnik, Datenverarbeitungstechnik und -software sowie wissenschaftlicher Gerätebau. (vgl. die Hinweise von Siebenmorgen 1993, S. 191 f.). Die MfS-Mitarbeiter der Abteilung XV des SWT (letzter Leiter Oberst Günter Ebert, Stellvertreter Oberst Manfred Leistner) "beschafften" frühzeitig die komplette Dokumentation rur die seinerzeit neuen Waffensysteme der Bundeswehr Kampfpanzer "Leopard 2" und Kampfflugzeug "Tornado". Es läßt sich wohl zusammenfassend feststellen, daß es dem HV A-Apparat auf dem Gebiet der Militärspionage gelang, wichtige militärtechnische Dokumente aus NATO-Mitgliedstaaten zu beschaffen, die von der sowjetischen Rüstung zügig umgesetzt und praktisch realisiert werden konnten. Um nur die wichtigsten Beispiele (ebd., S. 193 f.) zu nennen: Schottenpanzerung; Stabilisatoren, Rechner und modeme Entfernungsmesser rur Kampfwagenkanonen; Flächenfeuermittel; fliegende Frühwarn- und Jägerleitsysteme; neuartige Legierungen rur Raketenflugkörper sowie eine breite Palette von Femmeldegeräten und elektronischen Aufklärungsmitteln .. Nicht gelungen ist es dem SWT offenkundig, einen signifikanten Beitrag zur Ausspähung der technischen Geheimnisse der Kernwaffenträgersysteme "Pershing 11" und bodengestützter Marschflugkörper "Tomahawk" zu erschließen. Insgesamt ersparte die Industrie- und Militärspionage der DDR und der UdSSR Milliarden kostspieliger Forschungs- und Entwicklungskosten (Schätzungen: 20 Milliarden US-Dollar).
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Wemer Stiller, Offizier im Dienst des Ministeriums rur Staatssicherheit der DDR, war über Jahre als Top-Agent rur den Bundesnachrichtendienst tätig. Stiller flüchtete am 18. Januar 1979 in die Bundesrepublik Deutschland; Stiller 1986.
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III. SOUD - Das geheimdienstliche Datennetz des östlichen Bündnissystems Neben dem ständigen Infonnationsaustausch zwischen KGB und MfS, der auf allen Gebieten stattfand, gab es ab 1977 ein geheimdienstliches Datennetz des östlichen Bündnissystems - SOUD. Hinter dieser russischen Abkürzung verbirgt sich das "System der vereinigten Erfassung von Daten über den Gegner", war ein streng geheimgehaltener Infonnationsverbund von neun Sicherheitsdiensten des östlichen Bündnissystems. Zu den Mitgliedsländern des SOUD gehörten seit 1977 die Sowjetunion, Bulgarien, die DDR, Kuba, die Mongolei, Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn. 1984 schloß sich Vietnam an. Rumänien war in diesem Datenverbund nicht integriert. Der Datenspeicher in Moskau fUhrte die von den einzelnen Diensten übennittelten Angaben zu Personen und Institutionen zusammen, von denen nach dem Verständnis der SOUD-Partner eine "Gefahr fUr die innere Sicherheit" ausging.8 Ein vergleichbares multinationales nachrichtendienstliches Infonnationssystem hatte es bis dahin in der Geschichte der Geheimdienste noch nicht gegeben. Bis Ende 1987 wurden im SOUD ca. 188.000 Datensätze zu Personen gespeichert, die damit unter der Kontrolle der östlichen Geheimdienste standen. Einer der Hauptlieferanten war das MfS. Zwischen 1979 und Ende 1989 veranlaßten die Diensteinheiten des MfS insgesamt 74.884 Erfassungen im SOUD.9 Zu den wichtigsten "Personenkategorien" (PK) - insgesamt waren es 15 - zählten die Mitarbeiter westlicher Nachrichtendienste, Terroristen und Personen, die angeblich "politisch-ideologische Diversion" oder "subversive Tätigkeiten gegen die Staaten der sozialistischen Gemeinschaft" betrieben. Erfaßt wurden außerdem Mitarbeiter westlicher diplomatischer und konsularischer Vertretungen sowie Journalisten. Nach Personenkategorien (PK) geordnet weist die MfS-Statistik bis Ende 1989 10 aus: PK 1 (" Mitarbeiter und Agenten gegnerischer Geheimdienste ") 17.901. Unter den mehr als 17.000 MfS-Erfassungen in der PK 1 befanden sich 4.441 mutmaßliche Mitarbeiter bundesdeutscher Nachrichtendienste, davon waren 8
Vgl. WegmannfTantzscher 1996.
9
Vgl. Referat AU 5 beim Sonderbeauftragten der Bundesregierung rur die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes: Information über die Ergebnisse einer ersten Bestandsaufuahme von Dokumenten und Materialien, die durch das MfS - Mielkes Befehl 11/79 (SOUD) folgend - in das "System der vereinigten Erfassung von Informationen über den Gegner" eingespeichert wurde. Abteilung Bildung und Forschung, Information und Dokumentation, S. 1-24 und vgl. WegmannfTantzscher, S. 47-52 und die nach Jahren und Diensteinheiten aufgegliederten MfS-Erfassungen im Dokument 5 des Dokumentenanhangs.
10 siehe Anmerkung 17.
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2.213 aus dem Bundesnachrichtendienst (BND), 1.507 aus dem Bereich der Ämter für Verfassungsschutz und 721 Angehörige des Militärischen Abschirmdienstes (MAD). Dazu kommen 4.424 amerikanische, 737 britische, 537 französische, 286 niederländische und 24 italienische Geheimdienstangehörige, die im SOUD-Datenverbund gespeichert sind. Im Moskauer Zentralcomputer, aus dem die "befreundeten Dienste" jederzeit - in der höchsten Dringlichkeitsstufe binnen acht Stunden - Informationen abrufen konnten, sind Tausende Beamte und Agenten des BND registriert, weltweit mit Namen, Decknamen, Adresse, Telefonnummer, persönliche Daten, besonderen Kennzeichen, Typen und Zulassungsnummern ihrer Autos. Das KGB und das Ministerium für Staatssicherheit konnten so über Jahre Maulwürfe in Pullacher Spitzenpositionen plazieren, die Zugang zum kompletten Personalbestand hatten. I I PK 2 (" Mitarbeiter von Zentren 'ideologischer Diversion' ") 3.054. PK 3 ("Mitglieder von Terrororganisationen u.ä. ") ?730. Die unter der PK 3 vom MfS erfaßten Personen verteilen sich u.a. auf folgende terroristisch eingestufte Organisationen: Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) mit 53 Erfassungen, NPD, Revolutionäre Zellen, Bewegung 2. Juni, Rote Armee Fraktion!Asyl DDR. Zusätzlich waren 503 Einzelterroristen registriert. Terroristisch eingestufte internationale Organisationen: Z.B. Action DirectlFrankreich, Graue Wölfe/Türkei, IRA/Großbritannien, Lybische Terrorgruppen, PLO/Schwarzer September, Abu-Nidal-Organisation, Carlos-Gruppe. PK 4 (Mitglieder "subversiver" Organisationen) 6.l00; PK 5 ("Beauftragte von Geheimdiensten u.ä. ") 8.019; PK 6 ("Anschleusungen") 780; PK 7 ("Falsch-Informanten") 14; PK 8 ("Provokateure") 304; PK 9 (" ausgewiesene und unerwünschte Personen ") 20.669; PK 10 ("Staatsverbrecher") 189; PK 11 ("feindliche Diplomaten ") 1.279; PK 12 ("feindliche Korrespondenten") 3.755; PK 13 ("Mitarbeiter feindlicher Wirtschaftsvertretungen, Kulturzentren") 210; PK 14 ("Schmuggler") 352; PK 15 (" Wirtschaftsschädlinge") 200. Gesamt l2 : 65.556.
II Vgl. dazu auch Der Spiegel, 17/1995. 12 Die Differenz der bestehenden zu den Gesamterfassungen ergibt sich vermutlich aus den gelöschten Datensätzen.
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Wiederholte Presseveröffentlichungen und Ausfilhrungen zum SOUD in Publikationen zum Thema Geheimdienste zeugen von einem anhaltenden Interesse an dem Datenspeichersystem, genährt auch von der Besorgnis, daß die Nachfolger des KGB nach wie vor mit diesem gigantischen Machtinstrument arbeiten. Fachleute sehen in diesen gespeicherten Personendaten eine gewaltige Gefährdung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. 13 Etwa 1 Mio. Bundesbürger könnten davon tangiert sein. In dem Zusammenhang drängen sich Fragen auf: 1. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung eigentlich über das in Moskau gefiihrte SOUD-System?
2. Wie wurde mit den SOUD-Personendaten bei der HV A bzw. der ZAIG (Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe) des MfS nach der politischen Wende verfahren? 3. Was ist der Bundesregierung über den Verbleib des Sonderspeichers im MfS bekannt? 4. Was gedenkt die Bundesregierung zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden gespeicherten Personen gegenüber den SOUD-Sicherheitsbehörden zu unternehmen, und was hat sie schon unternommen? Bisher hüllt sich die Bundesregierung in Schweigen, ein offensichtliches Tabu-Thema. MfS und KGB unternahmen "aktive Maßnahmen" gegen filhrende westliche Politiker wie Herbert Wehner und den CDU-Bundestagsabgeordneten Julius Steiner, dessen Stimme beim Mißtrauensvotum Rainer Barzels gegen Willy Brandt am 27. April 1972 vom MfS mit 50.000 DM gekauft worden war. Der Kanzlerspion Günter Guillaume löste nach seiner Enttarnung den Kanzlersturz von Willy Brandt aus. Diese Spionagetalle zeigen, welche Gefahren filr die bundesdeutsche Demokratie aus dem Zusammenspiel MfS und KGB ausgingen und ausgehen. Markus Wolf erklärte 1991, daß die Zahl der bislang nicht enttarnten" Top-Leute" bei 50 bis 90 liege. An dieser Stelle sei an weitere ausgewählte Beispiele der politischen und militärischen Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit und des sowjetischen KGB in der Bundesrepublik Deutschland erinnert. Ex-Verfassungsschützer und Überläufer Hansjoachim Tiedge setzte sich im August 1985 nach Ost-Berlin ab. Nach der Wende im August 1990 flüchtete 13 Vgl. Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/1088, S. 1-5 und 12/2041, S. 1-3. SOUD war auch Teil der Anklage gegen den langjährigen Leiter der DDR-Auslandsaufklärung, Markus Wolf. Vgl. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Anklageschrift gegen Markus Wolf, Karlsruhe, 16.9.1992, S. 138-140.
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Tiedge gen Moskau, um der Strafverfolgung durch die deutsche Justiz zu entgehen. Tiedges Delikt - Landesverrat im besonders schweren Fall, angedrohte Höchststrafe: lebenslänglich - ist erst in knapp 30 Jahren verjährt. Tiedge brachte es bis zum Gruppenleiter IV B, Chef von 100 Mitarbeitern und zuständig für "Nachrichtendienste der DDR". Er genoß in internationalen Geheimdienstkreisen großes Ansehen. Schließlich hatte er seine Finger in 816 Spionagefiillen und einer Vielzahl sog. G-Operationen, in denen gegnerische Agenten "umgedreht wurden". Viele geflüchtete DDR-Bürger bekamen nach der Flucht von Tiedge 1985 von bundesdeutschen Nachrichtendiensten den ernstzunehmenden Hinweis, die DDR und das sozialistische Ausland nicht mehr zu betreten. Im Bundesnachrichtendienst (BND) hatte die HV A Agenten plaziert, so u.a. die Reg.Dir. Dr. Gabriele Gast, die von 1969 bis 1990 für eine konstante Lieferung regierungsamtlicher Dokumente höchster Geheimhaltungsstufe sorgte. Dr. Hagen Blau, Mitarbeiter im Auswärtigen Amt, versorgte die Abteilung I des MfS mit hochgradigen außenpolitischen geheimen Vorgängen, davon größtenteils dokumentarische Belege von 1960 bis 1989. Über dreißig Jahre (bis 1990) überstellte Klaus Kurt von Rossendorf als führender Diplomat im Auswärtigen Dienst an die Abteilung I geheime Dokumente zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und nahm an "aktiven Maßnahmen" des MfS teil. Das Ehepaar Lutze, Jürgen Wiege I und das Ehepaar Kraut betrieben über mehrere Jahre Militärspionage im Auftrage der HV Ades MfS. Geheimzuhaltende, zumeist umfassende Dokumente über Stand und Perspektiven der Entwicklung der Aufklärungskräfte, -mittel und -einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland und der NATO lieferten Alfred und Ludwig Spuhler bis 1989. Während Alfred Spuhler seinen Zugangsmöglichkeiten entsprechend Material aus dem BND - vorwiegend solches mit Bezug zur DDR und zum Warschauer Pakt sowie über innere Struktur und Arbeitsweise des BND - beschaffen sollte, hielt Ludwig Spuhler die Verbindung zur FührungssteIle in der HV A und war für die Weiterleitung des Verratsmaterials verantwortlich. Das Ehepaar Rupp, Decknamen "Topas" und "Türkis", überstellten von 1969-1990 geheime Dokumente über politische, militärische und rüstungspolitische Vorgänge des westlichen Bündnisses, interne Studien zu politischen, militärischen, wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Fragen strategischer Regionen sowie Ergebnisse der NATO-Führungsorganisation. Rainer Rupp, der als" Topas" NATO-Geheimnisse verriet, gefiihrdete mit seinem umfangreichen Verratsmaterial ganz erheblich die NA TO-Verteidigungsfiihigkeit. Die Quittung: zwölf Jahre Freiheitsstrafe für beide. Der ehemalige Verfassungsschützer Klaus Kuron hat acht Jahre lang die Spionage des bundesdeutschen Verfassungsschutzes lahmgelegt.
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IV. MfS und KGB im "Kampf' gegen die systemkritische Opposition und die Kirchen In einem Protokoll aus dem Jahre 1978 haben sich das Ministerium filr Staatssicherheit der DDR (MfS) und das Komitee filr Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR (KGB) zu gegenseitiger Amtshilfe verpflichtet. 14 Die gegenseitige Unterstützung sollte sich auf die "Bearbeitung, Zersetzung und Beeinflussung ausgewählter Gruppierungen und Einzelpersonen " konzentrieren. Mielke und Andropow (seinerzeit noch Chef des KGB) haben die AbkommenIVerträge persönlich "bestätigt", ausgehandelt wurden sie von den zuständigen Abteilungsleitern Generalmajor Kienberg und Generalleutnant Bobkow. Neben der Zersetzung im Bereich" religiöser Einrichtungen und Organisationen" sah der Plan ein abgestimmtes Zusammenwirken vor allem "auf dem Gebiet gegnerischer Angriffe im kulturellen Bereich" vor. Mit dem "Ziel der Aufklärung und Einschränkung subversiver Aktivitäten" des Internationalen PEN-Clubs, London, und "der Herausgeber der BRD-Zeitschrift, 'L 76'" sollten in gegenseitiger Absprache Informationen ausgetauscht werden. Ziel der gemeinsamen Zersetzungsmaßnahmen war die Isolierung und Kriminalisierung kritischer Schriftsteller und Künstler wie Wolf Biermann, Manfred Krug, Rainer Kunze, Stephan Heym, Jurek Becker, Franz Führnann, Günter Kuhnert, Christa Wolf, Rolf Schneider, des russischen Schriftstellers Kopelew und des Regisseurs Ljubimow. Gemeinsam gingen die östlichen Geheimdienste auch gegen verschiedene westdeutsche Verlage vor, die kritische DDR-Literatur verlegten. Im Punkt 1.4. der Anlage zum "Plan" heißt es: "Die Hauptabteilung XX und die V. Verwaltung organisieren in gegenseitiger Abstimmung die politischoperative Kontrolle der Lektoren Krüger (Luchterhand-Verlag), Grimm (Bertelsmann-Verlag), Borchert (Suhrkamp-Verlag). " Die Kirchen standen weltweit unter besonderer Beobachtung der östlichen Nachrichtendienste. 15 Auf Genfs "Heiligem Berg", wo sich die Zentralen des Lutherischen Weltbundes (LWB), der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) und die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) befmden, spionierten Agenten des MfS. Das KGB nahm über die russisch-orthodoxe Kirchenfilhrung Einfluß 14 Vgl. Protokoll über die Regelung des Zusammenwirkens zwischen dem MfS der DDR und der Vertretung des KfS beim Ministerrat der UdSSR beim Ministerium fIlr Staatssicherheit der DDR vom 29. März 1978, Zusatzprotokoll zur "Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium rur Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik und dem Komitee fIlr Staatssicherheit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 6. Dezember 1973" über die Zusammenarbeit auf wissenschaftlich-technischen und operativ-technischen Gebieten; BStU, ZA, Abt. X, Bündel 2 (o.Pag.). 15 Vgl. BesierlWolf 1992; Besier 1995.
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auf den Weltkirchenrat. 16 Von welchen westlichen kirchlichen Organisationen sich die DDR und die UdSSR bedroht filhlten, geht aus dem letzten gemeinsamen Fünfjahresplan (1986-1990) hervor. 17 Nicht nur die »Forschungsstelle tUr unabhängige Literatur und gesellschaftliche Bewegungen in Osteuropa« an der Universität Bremen oder das »Internationale Zentrum zum Studium der russischen Kunst des 20. Jahrhunderts« an der Ruhr-Universität Bochum wurden von der kooperierenden Hauptabteilung XX des MfS und der V. Verwaltung des KGB ins Visier genommen. Im Zentrum der geheimdienstlichen Beobachtung und Zersetzung von MfS und KGB standen u.a. folgende kirchliche Institutionen: 18
,,- 'Glauben in der 2. Welt' (Zollikon-Zürich/Schweiz) - 'Christlich paneuropäisches Studienwerk' (Brüsewitz-Zentrum-Bonn/BRD) - 'Christliche Ostmission ' (Bad Nauheim-SchwalheimiBRD) - 'Zentrum zum Studium von Religion und Kommunismus' (Großbritannien) - 'Christliche Osthi/fe' (Friedberg-OckstadtIBRD) - 'Mission für Süd-Ost-Europa' (Siegen/BRD) - 'Radio Vatikan' - 'Ostpriesterhi/fe' (BRD) - 'Königsteiner Anstalten' (BRD) - 'Kirche in Not' (BRD) - 'ZK der Katholiken der BRD' - 'Opus Dei'. "19 Auch der Mentor des damals jungen Manfred Stolpe, Bischof Friedrich Wilhelm Krummacher, war ein Mann der Sowjets. Friedrich Wilhelm Krummacher gehörte zu den handverlesenen Kadern, die im Juni 1945 von Stalin in die Sowjetische Besatzungszone entsandt wurden. "Wir können ihn in Berlin gebrauchen für die Arbeit in der protestantischen Kirche ", urteilte der KPDVorsitzende Wilhelm Pieck über Krummacher, der seit 1946 unter dem Decknamen "Martin" tUr den Geheimdienst Moskaus arbeitete. (vgl. Focus 12/1995) Dokumente des Ministeriums tUr Staatssicherheit der DDR20 belegen, daß nicht nur Papst Paul VI. jahrelang von östlichen Geheimdiensten bespitzelt 16 Vgl. Schulzl992, S. 150; Schmidt-Eenboom 1993, S. 354 f. 17 Vgl. Plan rur die Zusammenarbeit zwischen der Hauptabteilung XX des Ministeriums rur Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik und der V. Verwaltung des Komitees rur Staatssicherheit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken rur den Zeitraum 19861990, Entwurf, 0.0., Unterzeichner: Generalmajor Kienberg und Generalleutnant Abramow; BStU, ZA, Abt. X, BUndel176 (0. Pag.). 18 Vgl. ebd., S. 4-7. 19 Vgl. ebd. S. 9. Vgl. Chaker 1995, S. 126-242, insb. Dokument 4, S. 200-213.
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wurde, sondern daß auch über Johannes Paul 11. detaillierte Informationen einer hochrangigen Quelle aus dem Vatikan an Ostblock-Geheimdienste flossen. In den Unterlagen der rur die Überwachung der Kirchen zuständigen Stasi-Abteilung XXl4 befinden sich u.a. Übersetzungen von KGB-Unterlagen aus dem Russischen vom November 1978, die Informationen des polnischen Geheimdienstes über Johannes Paul 11. wiedergeben. Die Akten des Ministeriums rur Staatssicherheit und des KGB belegen, daß die östlichen Geheimdienste bestens über das "Kräfteverhältnis im Kardinalskollegium " im Bilde waren. Johannes Paul 11. schätzten die östlichen Geheimdienste als einen Geistlichen mit "äußerst antikommunistischen Ansichten" ein. Er werde versuchen, "die Ostpolitik des Vatikans härter zu gestalten". Die in der Berliner »Gauck-Behörde« aufgetauchten Stasi-Akten über die Bespitzelung des Vatikans sind Fragmente eines Spionage-Vorgangs, der von Markus Wolf geleiteten MfS-Auslandsabteilung aus den Jahren 1970-1978. Die Akten dokumentieren das jahrelange Interesse der östlichen Geheimdienste am Vatikan als politischem Machtfaktor in Europa. Besonders als in den 70er Jahren ein Wandel in der Ost-Politik Westeuropas sichtbar wurde und Politiker wie Willy Brandt und Großbritanniens Premier Edward Heath den damaligen Papst Paul VI. aufsuchten, verstärkten die östlichen Geheimdienste offensichtlich ihre Präsenz im Vatikan. Bei all diesen Gesprächen des Papstes mit den Staatsrepräsentanten über die deutsche Ostpolitik, über Konflikte in Nordirland und im Nahen Osten war offenbar ein Top-Spion dabei, der selbst den Inhalt der Privat-Audienzen des Heiligen Vaters als wörtliche Stenogramme an den polnischen Geheimdienst weitergab. Über den KGB gelangten diese Informationen dann in das MfS. Größtes Interesse hatte das MfS auch an der Haltung der katholischen Kirche in der DDR sowie am politischen Kräfteverhältnis in Westdeutschland. So gelangten brisante Informationen über kirchliche Reaktionen auf die DDRReligionspolitik, über innerkirchliche Konferenzen ebenso an die DDR-Staatssicherheit wie die Inhalte von Briefen der CDU/CSU-Politiker Barzel und Strauß. Wer war der hochrangige Spion an der Seite des Papstes? Zwar wäre es theoretisch nicht allzu schwierig, den in Frage kommenden Personenkreis zu identifizieren - in der Praxis bleibt die Überprüfung der Identität des Spions aber schwierig. Die Archive der Abteilung IV ("Kircheninfiltration") des polni20 Vgl. U.8. BStU, ZA, ZAIG 1947, BI. 1-12; ZAIG Z 2794, BI. 1-5; ZAIG Z 2880, OSt 000818, BI. 1-14; ZAIG Z 2894, OSt 00720, BI. 1-2; ZAIG Z 3151, BI. 8-11; ZAIG Z 3253, BI. 1-4; ZAIG Z 3361, BI. 1-3; ZAIG Z 3555, BI. 1-7; BStU, ZA, HA XXl4 127, BI. 17-124; HA XXl4 412, BI. 247-253; HA XXl4 1238, BI. 163-166,264-267; HA XXl4 1253, BI. 42-46, 122-125; HA XXl4 1262, BI. 54, 55, 142-146, 192-197,283-297; HA XXl4 1425, BI. 1-60; HA XXl4 1785, BI. 221-289, 324-342; HA XXl41II 5172/74, BI. 125-263; HA XXl4 2342, BI. 7-136
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sehen Geheimdienstes wurden während der Wende 1989 auf Befehl des polnischen Innenministers, Czeslaw Kiszczak, verbrannt. Kirchenexperten sprechen heute von einem" erschreckenden Politikum" rur die katholische Kirche.
V. Zunehmende Aktivitäten russischer Geheimdienste in den neuen Bundesländern - alte Seilschaften zu früheren Stasi-Mitarbeitern Im Verlaufe des vom KGB mit Sorge betrachteten Zusammenbruchs des MfS der DDR forderte der damals noch sowjetische Nachrichtendienst MfSAngehörige in geeignet erscheinenden Fällen auf, mit samt ihren Quellen in den Dienst des KGB zu treten. Solche Bemühungen, die später von den Nachfolgeorganisationen des KGB fortgesetzt wurden, waren - wie konkrete Beispiele aus den Verfassungsschutzberichten 1992-1995 belegen - zum Teil jedenfalls erfolgreich.(vgl. Verfassungsschutzberichte der Jahre 1992-1995, Bonn 1993-1996). Unmittelbar nach der Wende in der DDR haben Mitarbeiter des MfS übereinstimmend berichtet, daß dem KGB im Zuge der Auflösung des DDR-Nachrichtendienstes in erheblichem Umfang auch Akten übergeben worden seien. Vertreter der russischen Nachrichtendienste haben einen solchen Transfer gleichwohl mehrfach öffentlich dementiert. 1992/1993 bestätigten jedoch verschiedene Überläufer, die rur den KGB gearbeitet haben, daß der KGB vom MfS Aktenmaterial übernommen, ausgewertet und - ohne Einbeziehung ehemaliger MfS-Angehöriger - versucht habe, geeignete inoffizielle Mitarbeiter des früheren MfS anzuwerben. Der zentrale russische Auslandsaufklärungsdienst (SWR) verfUgt als Nachfolgedienst des früheren sowjetischen Geheimdienstes KGB auch nach dem Untergang der DDR und ihres Staatssicherheitsdienstes über eine geheime nachrichtendienstliche Außenstelle in Berlin: die "Gruppe Ljutsch". Sie soll nach Einschätzung westlicher Geheimdienste eine erstklassige Aufklärung gegen die Bundesrepublik betreiben. Der Aufbau der "Gruppe Ljutsch" (Lichtstrahl) des KGB ist Mitte der 80er Jahre wegen wachsender Zweifel an der unbedingten Loyalität der DDR-Führungskader gegenüber der Sowjetunion eingerichtet und auch vor dem DDR-Geheimdienst geheimgehalten worden. Von der Aufarbeitung der Stasi-Akten ist er deshalb nicht gefährdet (ReuthlBönte 1993, S. 210 ff.). Für die deutsche Spionageabwehr stellt die "Gruppe Ljutsch" mit Sitz in der deutschen Hauptstadt" nach wie vor eine ernstzunehmende nachrichtendienstliche Operationseinheü" dar. Der Verfassungsschutz in den neuen Bundesländern muß sich zunehmend mit Aktivitäten russischer und anderer östlicher Geheimdienste auseinandersetzen. Zum Teil werden alte Verbindungen zu ehemaligen Stasi-Mitarbeitern 9 Merlen. I Voigt
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reaktiviert. Die russischen Spionagedienste konzentrieren sich nicht mehr auf die klassischen Spionagefelder Politik und Militär, sondern mit steigender Tendenz auf Technologie, Wissenschaft und Wirtschaft. Präsident Boris Jelzin persönlich hat die Wirtschaftsspionage zu einer wichtigen Aufgabe der Geheimdienste erklärt, um die russische Mißwirtschaft durch gezielte Informationsbeschaffung abzufedern. In Rußland ist Spionage offiziell Regierungspolitik. Russische Geheimdienste gehen dabei äußerst variantenreich, vielschichtig und subtil vor. Unter anderem gründeten sie Firmen, die nur einen einzigen Zweck zu erfüllen haben: Beschaffung von Erkenntnissen und Waren, die auf normalem Wege nicht zu bekommen sind. In EinzelflUien kommen offenbar alte Seilschaften zwischen ehemaligen MfS-Mitarbeitern und Ex-KGB-Mitarbeitern zum Tragen, die für neue Spionagetätigkeiten wieder aktiviert wurden. Mittlerweile sind in den neuen Bundesländern mehrere Tarnfirmen aufgeflogen, die nur gegründet wurden, um westliche Hochtechnologie zu beschaffen. Die Moskauer Agenten sind auch nach dem Ende des Kalten Krieges in Deutschland überproportional aktiv. 21 Die Nachfolgeorganisationen des KGB machen sich im Bereich der Westspionage geradezu Konkurrenz. Hansjörg Geiger, Präsident des BND, warnt vor allem deutsche Firmen, die mit Rußland Joint-ventures unterhalten. In einer Reihe dieser Firmen seien ehemalige KGBOffiziere tätig. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte 1995 165 russische Spione enttarnt. Sie stammten zum einen aus dem Konsular- und Botschaftsbereich, andere hatten aber auch eine "zivile Legende" als Firmen- und Handelsvertreter, Wissenschaftler, Künstler oder Journalisten.
VI. Die Verfolgung von Regierungskriminalität und DDR-Spionage nach der Wiedervereinigung Das Unrecht der DDR ist nach den Worten des Berliner Generalstaatsanwalts Christoph Schaefgen justiziell nicht zu bewältigen. Die Ergebnisse der Ermittlungsverfahren im Bereich der Regierungskriminalität und Spionage zeigen die schwierige Gratwanderung der deutschen Justiz. Der deutsche Rechtsstaat steckt in einem Dilemma, wenn er mit seinen Mitteln das Handeln von totalitären Unrechtsstaaten aufarbeiten will, weil das, was aus seiner Sicht Unrecht war, im totalitären Kontext als Recht galt. Hier bricht ein Widerspruch auf zwischen der Idee der Gerechtigkeit und der Formalität wie Begrenztheit 21 Vgl. dazu "Der neue Agentenkrieg. Vertrauliche Dossiers der Sicherheitsbehörden belegen: Moskau aktiviert alte Geheimdienstnetze und schickt immer mehr Spione nach Deutschland", Focus 5/1997.
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des rechtsstaatlichen Rechts. 22 In dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 15. Mai 1995 ging es um die Frage der Strafbarkeit und Verfolgbarkeit früherer Mitarbeiter und Agenten des Ministeriums ftlr Staatssicherheit und des militärischen Nachrichtendienstes der DDR nach der Vereinigung am 3. Oktober 1990 wegen ihrer zuvor gegen die Bundesrepublik Deutschland oder deren NATO-Partner gerichteten Spionagetätigkeit. Die §§ 94 (Landesverrat) und 99 StGB (Geheimdienstliche Agententätigkeit) gelten auch rur Spionagetaten, die im Dienst der DDR begangen worden sind. Dem steht nicht entgegen, daß die Handlungen zur Tatzeit nur nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland strafbar, nach dem Recht des Handlungsortes (DDR) dagegen nicht mit Strafe bedroht waren. Das Bundesverfassungsgericht hat die Anwendbarkeit dieser Gesetze bestätigt. Die Karlsruher Richter berufen sich in ihrer umstrittenen Entscheidung auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Nach der Wiedervereinigung, so ihr Kemgedanke, seien der Strafverfolgung von DDR-Spionage, soweit sie vom Staatsgebiet der DDR aus begangen wurde, Schranken gesetzt. Jenseits der juristischen Aspekte bleibt zu fragen, ob mit dem Spruch aus Karlsruhe die Rolle der DDR-Spionage im Repressionssystem der Staatssicherheit realistisch eingeschätzt worden ist. Karl Wilhelm Fricke schreibt in diesem Zusammenhang zu Recht: "Die sogenannte Aufklärung war ... in den inneren Überwachungs- und Unterdrückungsapparat der sogenannten Abwehr integriert. Ihr Chef, hieß er nun Wolf oder Großmann, war Stellvertreter Erich Mielkes und Mitglied des Kollegiums des Ministeriums für Staatssicherheit, in welcher Eigenschaft er in alle wichtigen Entscheidungen des MjS einbezogen war - auch in eindeutig rechtswidrige Entscheidungen. Wolf und Großmann haben sie zumindest billigend in Kauf genommen, auch wenn sie nicht unmittelbar daran beteiligt waren. Nach dem Karlsruher Spruch bleibt ihre mutmaßliche Mitschuld ungesühnt. Namentlich ehemalige Stasi-Opfer wird dieser Gedanke irritieren. " (Fricke 1995). Nicht eingeschränkt ist künftig die Strafbarkeit jener DDR-Spionage, die frühere Bundesbürger im alten Bundesgebiet begangen haben. Sie sind auch künftig nicht außer Verfolgung gesetzt, aber auf einem anderen Blatt steht, daß die "sozialistischen Kundschafter" von einst zur Rechenschaft gezogen werden können, während ihre früheren Führungsoffiziere und die verantwortlichen Stasi-Generale im Hintergrund fortan straffrei ausgehen. Unter diesem Blickwinkel werden sich die Richter in Karlsruhe fragen lassen müssen, ob ihre Entscheidung zur DDR-Spionage dem Rechtsfrieden und der Gerechtigkeit in Deutschland wirklich dient. (Fricke 1995, S. 2)
22 Vgl. Lampe 1993. 9'
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Geheimdienstliche Zusammenarbeit MfS und KGB
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Frank Petzold
DER EINFLUSS DES MFS AUF DAS DDR-GRENZREGIME AN DER INNERDEUTSCHEN GRENZE Anmerkungen zur Rolle des MfS bei der Errichtung des DDR-Grenzregimes I. Einleitung Seit dem Ende des 2. Weltkrieges hatte sich das Verhältnis der Alliierten untereinander schnell erheblich verschlechtert, weil die ideologischen Differenzen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion immer offener zutage traten. Infolgedessen lag fast auf den Tag genau anderthalb Jahre nach Kriegsende in Deutschland ein streng geheimer sowjetischer Plan fUr den Fall einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den Siegermächten auf deutschem Boden vor. Unter Punkt I hieß es dort u.a.: "An der Berührungslinie unserer Truppen ... sind durch die 3. Stoßarmee und die 8. Gardearmee nur Straßenposten zu stellen. In der Tiefe, in einer Entfernung von 3-5 km von den Posten, ist ein dichteres Postennetz der deutschen Polizei zu bilden ", um als Deckungstruppe vor der mehrere Kilometer dahinter aufgebauten sowjetischen Hauptverteidigungslinie fungieren zu können (Operativer Plan der Handlungen der Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland 1946). Damit war vermutlich erstmalig der Gedanke an ein besonders bewachtes, sich über einen bestimmten Bereich von der Zonengrenze in das Landesinnere erstreckendes deutsches Gebiet formuliert worden. Folglich entwickelte sich das Grenzregime entlang der nachmaligen innerdeutschen Grenze bezeichnenderweise auf der Grundlage einer Verteidigungskonzeption der Roten Armee, die sich primär gegen deren einstige westliche Verbündete richtete. Die den Deutschen dabei zugedachte Rolle war ursprünglich nicht mehr als die einer Handlangertätigkeit oder gar des Kanonenfutters. Um so erstaunlicher erscheint es daher, was gerade die Deutschen in den folgenden Jahrzehnten aus ihrer Rolle noch entwickeln sollten, vor allem, wenn man bedenkt, daß ihre zu bekämpfenden "Feinde" bald nur noch aus östlicher Richtung kamen. Wenige Tage nach dem Erlaß dieses Befehls ordnete die Sowjetische Militäradministration dann die Aufstellung einer deutschen Grenzpolizeitruppe an, die von Beginn an als eine mehr oder
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minder zuverlässige und linientreue Kampftruppe der SED konzipiert war (vgl. Eisert 1994, S. 151). Die mit stalinistischen Methoden gewaltsam durchgesetzten gesellschaftlichen Veränderungen ließen den Flüchtlingsstrom aus der SBZ bzw. der DDR gen Westen stetig ansteigen. Trotz einer permanenten personellen Aufstockung der Grenzpolizei (im März 1951 betrug ihre Stärke Z.B. schon knapp 20.000 Mann) und einer dementsprechend zunehmenden verstärkten Überwachung der Grenzgebiete war diese Fluchtbewegung oft kaum aufzuhalten, zum al die Grenze vielerorts noch relativ problemlos zu überwinden war. Schon frühzeitig war deshalb abzusehen, daß die DDR an den Rand ihrer Existenzfähigkeit gebracht worden wäre, hätte man diese Abstimmung mit den Füßen nicht zumindest abgebremst. Nach Auffassung der Machthaber konnte diese Eindämmung der Fluchtbewegung nur durch eine Straffung der Grenzsicherung erfolgen. Daher setzte die SED-Spitze sowohl ein strukturelles als auch machtpolitisches Zeichen: die Grenzpolizeieinheiten wurden zunächst dem seit 1946 zuständigen Ministerium des Innern (MdI) entzogen und am 16. Mai 1952 nach sowjetischem Vorbild dem 1950 entstandenen Ministerium tur Staatssicherheit (MfS) unterstellt. Bei dieser Gelegenheit wurde zugleich die offizielle Bezeichnung »Deutsche Grenzpolizei« (DGP) eingetuhrt. Nur wenige Tage später, am 26. Mai 1952, ließ der Ministerrat der DDR die innerdeutsche Grenze auf der Grundlage einer» Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands« (sic!) befestigen und hermetisch abriegeln, angeblich "um ein weiteres Eindringen von Diversanten, Spionen, Terroristen und Schädlingen in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik zu verhindern" (Gesetzblatt der DDR vom 27. Mai 1952, S.406). Die Durchtuhrung dieser Absperraktion oblag dem MfS, das zur Realisierung dieser Operation .. unverzüglich strenge Maßnahmen zu treffen" hatte (ebd.), die in Wirklichkeit aber schon seit geraumer Zeit insgeheim vorbereitet gewesen sein müssen. Anders läßt es sich kaum erklären, daß bereits am nächsten Tag detaillierteste Bestimmungen tur das Gebiet östlich der innerdeutschen Grenze mit seinen damals etwa 390.000 Bewohnern vom MfS vorgelegt werden konnten (vgl. Polizei verordnung über die Eintuhrung einer besonderen Ordnung an der Demarkationslinie). Danach wurde das Grenzgebiet zu einem dreigliedrigen Sperrbereich erklärt, der in einen zehn Meter breiten (abgeholzten und gepflügten) Kontrollstreifen direkt an der Grenze, einen sich daran anschließenden 500 Meter breiten Schutzstreifen und eine insgesamt fünf Kilometer breite Sperrzone unterteilt war. Jegliche Einreise in dieses Grenzgebiet bzw. jeder Aufenthalt darin war fortan tur jedermann genehmigungspflichtig. Die ortsansässige Bevölkerung erhielt das Wohnrecht nur durch zeitlich befristete Stempel im Personal-
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ausweis. Für das Betreten des 500-m-Schutzstreifens benötigte man eine weitere Sondergenehmigung, ohne die selbst die Bewohner der übrigen Sperrzone den Schutzstreifen nicht betreten durften. Westdeutschen Besuchern wurde der Zutritt in das Grenzgebiet grundsätzlich untersagt, worunter vor allem familiäre Kontakte zu leiden hatten. Neben weiteren rigiden Einschränkungen und Auflagen für die im Grenzgebiet ansässige Bevölkerung sah § 4 dieser Polizeiverordnung ein generelles Verbot des Überschreitens des ständig geeggt zu haltenden lO-m-Kontrollstreifens vor. Im Falle einer Nichtbefolgung dieser speziellen Anordnung hatten die Grenzstreifen ohne vorherigen Warnruf gezielt von der Waffe Gebrauch zu machen, um jeden ungenehmigten Grenzübertritt zu verhindern. An der Ostseeküste wurde auf Befehl des damaligen Ministers für Staatssicherheit Zaisser eine fünf Kilometer breite Schutzzone mit Wirkung vom 7. Juni 1952 errichtet (» Polizeiverordnung über die Verstärkung des Schutzes der Ostseeküste der Deutschen Demokratischen Republik«). Seeseitig übernahm seit dem Sommer 1952 eine eigenständige »Grenzpolizei See« die Sicherung der Küste. Damit war das - prophylaktisch zur Verhinderung von Fluchten angelegte - DDR-Grenzregime an der innerdeutschen Grenze offiziell aus der Taufe gehoben worden, das im Prinzip letztlich bis zur politischen Wende 1989 gültig bleiben sollte. Wie die dargelegten Bestimmungen nachhaltig verdeutlichen, richteten sich sämtliche Maßnahmen primär gegen die eigene Bevölkerung. Die Berufung auf den angeblich so aggressiven Westen besaß in diesem Zusammenhang für das SED-Regime allenfalls propagandistischen Charakter. Zwei Punkte müssen deshalb deutlich hervorgehoben werden: I. handelte das MfS bei der Errichtung des Grenzregimes letztlich nicht aus eigenem Antrieb heraus, sondern erfüllte dabei einen klaren Parteiauftrag der SED; 2. hatte der Geheimdienst MfS unabhängig von dieser Feststellung durch den Erlaß der Polizeiverordnung sofort nach der Übernahme der Verantwortung für die DGP öffentlich Einfluß auf das DDR-Grenzregime genommen, d.h., weil es ein solches bis dato angesichts einer "grünen Grenze" eigentlich noch gar nicht in nennenswertem Umfang gab, muß das MfS als das die Beschlüsse der SED ausführende Organ zumindest als der Geburtshelfer bei der Er- und Einrichtung des Grenzregimes betrachtet werden. Dadurch ließ sich bereits seine weitere Rolle und künftige Bedeutung für das gesamte Grenzregime in den folgenden Jahrzehnten erahnen. Befürchtungen, das MfS werde zur Durchsetzung der Sperrmaßnahmen gezielt repressive Mittel anwenden, sollten sich schnell bestätigen. Zwischen Ende Mai und etwa Mitte Juni 1952 (der jeweilige Zeitpunkt war regional unterschiedlich) kam es im gesamten Grenzgebiet zu massenhaften Zwangsevakuierungen, bei denen 8331 Personen im Zuge dieser - vom MfS intern als »Aktion Ungeziefer« bezeichneten - Operation brutal und rücksichtslos über
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Nacht aus dem Grenzgebiet ausgewiesen und im Zusammenspiel mit Angehörigen der örtlichen Dienststellen der Volkspolizei, der Freien Deutschen Jugend und den Grenzpolizeieinheiten kurzfristig in landesinnere DDR-Gebiete umgesiedelt wurden (vgl. BennewitzIPotratz 1994, S. 13-99,220-247). Die Zurückgebliebenen waren in den folgenden Jahren noch bis 1989 permanent von Ängsten geprägt, bei einer neuerlichen Aktion ebenfalls ausgesiedelt werden zu können. In den Dörfern und Gemeinden östlich der innerdeutschen Grenze herrschte daher bald eine - durch diesen Psychoterror hervorgerufene - gespenstische Ruhe. 1 Wer dieser Situation nicht standzuhalten vermochte, zog freiwillig aus dem Grenzgebiet in das Landesinnere - oder versuchte, in den Westen zu flüchten. Seit August 1952 wurden zur weiteren Sublimierung des Grenzregimes sog. "Grenzpolizeihelfer" eingesetzt, die alle in das Grenzgebiet Einreisenden, Urlauber oder auch nur harmlose Spaziergänger überwachen und kontrollieren bzw. jeden Fremden sofort an ihre jeweiligen Führungsoffiziere zu melden hatten (oder bei "Gefahr im Verzug", also Fluchtverdacht, nach Möglichkeit sogar festnehmen konnten). Üblicherweise handelte es sich bei den etwa 8.000 Grenzpolizeihelfern um ortsansässige und -kundige SED-Mitglieder, die in Gruppen zusammengefaßt und den Kompanien der DGP oder der DVP unterstellt waren. Die Zuständigkeit rur die quantitativ rasch anwachsende Grenzpolizei (Ende 1953 dienten ca. 50.000 Mann bei der Grenzpolizei - damit war seinerzeit bereits die Personalstärke der unmittelbar grenzsichernden Einheiten erreicht, die noch 1989 Bestand haben sollte) wechselte in den ersten Jahren mehrfach. 1952 und 1955 wurde sie dem MfS unterstellt, 1953 und 1957 dem MdI. Nach dem Mauerbau wurden die vormaligen DGP-Einheiten dann am 15. September 1961 der NVAals »Kommando Grenztruppe« zugeordnet. Dieses Kommando wurde zur Jahreswende 1972/73 offiziell aus der NV A ausgegliedert und fortan als eigenständiges militärisches Organ bezeichnet (»Grenztruppen der DDR«) und gefiihrt, um sie bei den seinerzeitigen internationalen Abrüstungsverhandlungen nicht in die Gespräche zwischen Ost und West mit einbeziehen zu müssen. Im Gefolge des Baus der Berliner Mauer 1961 kam es zu einer neuerlichen Zwangsaussiedlungsaktion gegen unbequeme oder kritische Bewohner des Grenzgebietes. Um die größtmögliche Übersicht und Kontrolle behalten zu Ein erster "Erfolg" dieser Maßnahmen sollte sich recht bald zeigen. Während es am 17. Juni 1953 in großen Teilen der DDR zu Unruhen kam, blieb es in den Grenzgebieten weitestgehend ruhig. Angesichts der noch allzu frischen Erinnerung an die (von nahezu allen Zurückgebliebenen als Schock empfundenen) Zwangsdeportationen ein Jahr zuvor wagte kaum ein Bewohner das Risiko einzugehen, bei einem Scheitern des Aufstandes möglicherweise dasselbe Schicksal erleiden zu müssen. In diesem Sinne zeigte das rücksichtslose Vorgehen der SED erstmals Wirkung.
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können, wurden 3.175 mißliebige Personen gegen ihren Willen zum Verlassen ihrer Heimatregion gezwungen. Eine der Aufgaben des MfS bei dieser intern als »Aktion Festigung« bezeichneten Maßnahme bestand in der Festsetzung der auszusiedelnden Opfer (vgl. BennewitzIPotratz 1994, S. 100-169, S. 248-288). Ferner ergab sich aus dem Mauerbau von 1961, daß die Ostseeküste nun plötzlich der einzige noch relativ "offene Grenzübergang" war. Demzufolge mußte auch dieser Bereich verstärkt in die Grenzsicherung einbezogen werden, denn ansonsten wären die aufwendigen landseitigen Sicherungsmaßnahmen immer noch zu umgehen gewesen, wenn auch unter erheblichen Gefahren filr Leib und Leben. Um Fluchten über die Ostsee möglichst effizient verhindern zu können, kam es daher - neben der operativen Unterstellung der Grenzbrigade Küste unter das Kommando der Volksmarine - fast schon zwangsläufig zur Errichtung eines landseitigen Grenzregimes an der Küste. Zwangsläufig deshalb, weil es die innere Logik des DDR-Grenzregimes gebot: es hätte wenig Sinn gemacht, das Haupttor zur Bundesrepublik konsequent zu verriegeln, jedoch den Hintereingang unverschlossen zu lassen. So wurde mit· Wirkung vom 20. Juli 1962 ein filnf Kilometer breiter Grenzzonenbereich an der Ostseeküste einschließlich aller vorgelagerten Inseln errichtet. Zwar galt eine ähnlich gehaltene Bestimmung bereits seit Juni 1952, doch wurde nun zusätzlich auch ein - nur mit schriftlicher Genehmigung (bzw. Sonderstempel im Personalausweis) zu betretender - 500 m breiter Küstenbereich von der Nordspitze des Dassower Sees bis in die Nähe von Bad Doberan zum Grenzschutzgebiet erklärt. Nachdem also sowohl die innerdeutsche Grenze als auch die Ostseeküste durch ein relativ tief gestaffeltes Grenzregime gegen unerwünschte Fluchtversuche gesichert worden war, ließ Verteidigungsminister Hoffinann auf der Grundlage einer Regierungsverordnung vom 21. Juni 1963 an der Grenze zu West-Berlin ebenfalls ein Grenzregime errichten: dieses umfaßte einen lO-m-Kontrollstreifen an der unmittelbaren Grenzlinie sowie einen 500-m-Schutzstreifen an der Grenze zwischen dem Bezirk Potsdam und West-Berlin. Im Unterschied dazu war der auf Ost-Berliner Gebiet gelegene Schutzstreifen gen West-Berlin allerdings nur 100 m tief. Damit war der Aufbau eines Grenzregimes in Form eines durchgehenden Sperrsystems entlang der Grenzen, über die die Flüchtlinge direkt in die Bundesrepublik hätten gelangen können, bis zum Herbst 1963 weitestgehend abgeschlossen. Von nun an konnte es sich bei allen weiteren Sicherungsmaßnahmen letzten Endes nur noch um Modifikationen des bis dato entwickelten Grenzregimes handeln. Darauf soll hier aber nicht weiter eingegangen werden, sondern im folgenden werden nun spezifische Aufgaben des MfS bei der Sicherung der Grenze dargelegt.
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11. Zur Hauptabteilung I: Sicherung der Grenztruppe und Aufklärung des Grenzvorfeldes Unmittelbar nachdem die »Deutsche Grenzpolizei« am 16. Mai 1952 dem MfS befehlsmäßig unterstellt worden war, hatte dessen Führung über die formelle Aufsichtsfunktion hinaus auch erfolgreich konspirativen Einfluß auf die DGP nehmen können. Dies gelang hauptsächlich durch die Einschleusung von MfS-Offizieren in die (dem Stab der DGP angegliederten) Abteilung "Grenzaufklärung", die von der ursprünglichen Intention her eigentlich ein selbständiger (d.h. MfS-unabhängiger!) Aufklärungsdienst der Grenzpolizei hätte sein sollen. Trotz des mehrmaligen Unterstellungswechsels der DGP in den fiinfziger Jahren (s.o.) verblieb dieser Geheimdienst in der Grenzpolizei aber beständig in der Hand des MfS. Auch die letztmalige Übergabe der DGP vom MfS an das Ministerium des Innern am 1. März 1957 änderte nichts mehr an dieser Konstellation, denn zu diesem Zeitpunkt war das MdI schon nicht mehr "sonderlich interessiert an diesen zum Teil nur schwer durchschaubaren Problemen der geheimdienstlichen Arbeit wie etwa die Grenzschleusungen des MjS. " (Siebenmorgen 1993, S. 36). Als die NVA im September 1961 die Verantwortung fiir die vormalige DGP übernahm, mußten die Verhältnisse in bezug auf die operative Grenzaufklärung jedoch prinzipiell neu organisiert werden. Denn die NV A besaß bereits einen eigenen Abwehrdienst, der die organisationstechnische Bezeichnung »Verwaltung 2000« besaß. Mit der Grenzaufklärung und der Verwaltung 2000 existierten nun aber plötzlich zwei Aufklärungsdienste - mit im Grunde identischen Zielrichtungen - in der NVA nebeneinander her, so daß eine rasche Änderung dieser Situation unabdingbar wurde. Auch auf die Verwaltung 2000 hatte sich das MfS bereits frühzeitig einen entscheidenden Einfluß gesichert, womit - wie bereits bei der Grenzpolizei - die Konzeption von zwei unabhängig voneinander arbeitenden und somit eigenständigen Nachrichtendiensten (hier MfS - da Verwaltung 2000) praktisch unterlaufen wurde. Denn die ursprünglich gedachte Aufgabenverteilung hatte so ausgesehen, daß die interne Überwachung der NVA (Verwaltung 2000) und DGP (Grenzaufklärung) von der äußeren Abschirmung (MfS) getrennt erfolgen sollte. Doch diese Regelung war der MfS-Spitze von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen - wäre es bei der getrennten Arbeit geblieben, hätte man schließlich eine Art Konkurrenzunternehmen sowohl innerhalb der NV A als auch bei der Grenzpolizei dulden müssen. 2 Folglich begann man mit der systematischen Einschleusung von MfS2
Für die Arbeit des MfS zog diese Situation durchaus unangenehme Konsequenzen nach sich: Seine Mitarbeiter mußten sich um konspirative Quellen bemühen, die ihnen unabhängig von den - ebenfalls vom MfS zu bearbeitenden! - NVA- bzw. DGP-Sicherheitsoffizieren Information verschaffien. Zudem konnten sie die Arbeitsergebnisse dieser Sicherheitsoffiziere nicht
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Offizieren in deren Sicherungsdienste, was auf nicht allzu große Schwierigkeiten stieß: zur aufgetragenen Überwachung der Streitkräfte von außen her mußte man schließlich logischerweise engen Kontakt zu deren inneren Überwachungskräften halten, so daß es dann nur noch galt, diese Kräfte konspirativ für sich zu gewinnen. Für die äußere Abschirmung der Streitkräfte war die (1953 aus Teilen der bereits seit 1950 existierenden Hauptabteilung VII hervorgegangenen) Hauptabteilung I zuständig gewesen. Ihre Mitarbeiter wurden als MfS-Verbindungsoffiziere u.a. den kasernierten Einheiten der Grenzpolizei zugeteilt, wo sie ihren Dienst konspirativ in den Uniformen des entsprechenden Truppenteiles versahen. Dort nahmen sie eine privilegierte Stellung ein, die sich bereits in der Besoldungsregelung ausdrückte, denn ihr Gehalt lag weit über dem eines gleichrangigen Grenzpolizeioffiziers. Zu ihren Aufgaben zählte von Anfang an nicht nur die - wohl in allen Armeen übliche - Absicherung der Truppe gegen feindliche Zersetzungsmaßnahmen, sondern darüber hinaus auch die Gewährleistung der ideologischen Zuverlässigkeit .der DGP-Angehörigen im Sinne der SED. Deshalb hatten die Mitarbeiter dieser Struktureinheit über ihre originär militärischen Aufgaben hinaus auch "alle Gegner des Regimes innerhalb der Truppe herauszufinden, laufend zu überwachen und gegebenenfalls unschädlich zu machen" (Bohn 1960, S. 41). Und solche Gegner gab es insbesondere nach dem Mauerbau 1961 und im Vorfeld des Beschlusses über die Einführung der Wehrpflicht Anfang 1962 zur Genüge, weshalb die bereits angeführten Überlegungen (von Ende 1961) zur Neuverteilung der Kompetenzen für die Aufklärung in der Grenztruppe schon aus diesem Grunde zu einem raschen Ende gelangen mußten. Denn so mancher sich "freiwillig" zu den Grenztruppen meldende Soldat verband mit diesem Schritt (angesichts der totalen Abriegelung der DDR) vor allem den Hintergedanken an eine günstige Fluchtgelegenheit, da man - außer über den Dienst bei den Grenztruppen - eben kaum noch legal in das Grenzgebiet gelangen konnte. Da die Aufgaben des MfS bereits zuvor unabdingbar sowohl mit der Arbeit der vormaligen Grenzaufklärung als auch mit derjenigen der Verwaltung 2000 verknüpft waren, nutzte MfS-Chef Mielke diese Konstellation zielstrebig zum weiteren Ausbau seiner Kompetenzen (sprich: Machtbefugnisse) gegenüber den anderen bewaffueten Kräften: beide zur Disposition stehenden Aufklärungsdienste wurden vollständig in sein Ministerium eingegliedert. Zwar hatte man der NV A-Führung im Gegenzug zusichern müssen, diese mit "grenzrelevanten" Erkenntnissen zu versorgen - allerdings nur unter Wahrung der eigeermitteln oder gar beeinflussen, obwohl sie offiziell mit ihnen zusammenarbeiten mußten. So entstand auf diesem Gebiet bereits recht frühzeitig die Manie, sllmtliche sicherheitsrelevanten Komponenten ausschließlich unter einem einzigen Dach (dem des MfS) zusammenzufassen, wie es dann später tatsächlich vollzogen wurde - ein nicht unwesentlicher Aspekt bei der Betrachtung des am Ende quantitativ so monströs aufgeblähten und kompetenzsüchtigen MfS.
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nen Konspiration. Auf diese Art und Weise stieg der Einfluß des MfS auf die Grenztruppen und damit zugleich auch mehr oder minder auf das gesamte Grenzregime erheblich an. Denn nun lag es auf diesem Sektor im ausschließlichen Ermessen des MfS, welche - zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigten Informationen in welcher Anzahl an die NVA bzw. GrenztruppenfUhrung weitergegeben wurden. Spätestens seit dieser Zeit (Januar 1962, s.u.) ließ sich somit von keinem anderen bewaffneten Organ der DDR mehr überprüfen, welche Zwecke das MfS mit der Weitergabe bestimmter Informationen tatsächlich verfolgte. Nach der endgültigen Vereinnahmung der Aufklärungseinheiten durch das MfS galt es anschließend, intern eine Zuständigkeitszuweisung fUr diese Organe vorzunehmen. Auf den ersten Blick bot sich dafilr die filr die Auslandsaufklärung zuständige Hauptverwaltung (HV) A an. Denn um eine mögliche Beeinflussung der Grenzpolizisten durch den Bundesgrenzschutz oder andere Kräfte aufdecken bzw. verhindern zu können, erstreckte sich das Tätigkeitsfeld der Grenzaufklärung im Zuge der inneren Absicherung auch auf das westliche Grenzvorfeld (also auf die Bundesrepublik). Doch Markus Wolf, Chef der HV A und schon seit 1953 praktisch einer der Stellvertreter Mielkes, lehnte dieses Angebot sofort dankend ab. Sein (von Mielke zunächst auch akzeptierter) Einwand bezog sich auf die gravierenden Unterschiede der Grundlagen und Arbeitsweisen beider Dienste, die die HV A bei einer Zusammenlegung der Organe in ihrem Auftrag nur behindert hätten, zum al bei diesem Vorgang auch ein unerwünscht großer Personenkreis Einblicke in Interna der HV A bekommen hätte. 3 Demzufolge wurde die operative Grenzaufklärung nicht der HV A unterstellt, sondern mit Wirkung vom 10. Dezember 1961 stattdessen als "haus internes" Aufklärungsorgan in die Hauptabteilung (HA) I integriert, um unter Nutzung der Zusammenarbeit mit der nunmehrigen Grenztruppen-Abwehr (sprich: der Verwaltung 2000) fortan "das westliche Territorium an der Staatsgrenze ... im Vorfeld und in der Tiefe planvoll, systematisch und zielgerichtet aufzuklären" (MfS-Befehl 56/62, S. 2).4 3
Nach Siebenmorgen (1993, S. llO) hielten diese Einwände die HV A aber offensichtlich nicht davon ab, ihrerseits kurz darauf eigene abgedeckte Offiziere in die Grenzaufklärung einzuschleusen.
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In einer nach der Wende erschienenen Studie über die HV A wurde stattdessen dargelegt, daß "in die HA I ... laut Befehl 56/62 vom 30.8.1962 die aus der früheren Grenzaufklärung des Ministeriums des Innerns hervorgegangene 'Abteilung Aufklärung (B)' integriert [wurde]". (SelitrennylWeichert 1991, S. 102.) Dies läßt sich jedoch vom Verfasser anhand der ihm vorliegenden Quellen nicht nachvollziehen. Eine Erklärung könnte sich allerdings daraus ergeben, daß in der ihm vorliegenden Fassung des Befehls 56/62 auffi111igerweise an keiner Stelle von der Berliner Grenze gesprochen wird. Das ist deshalb anmerkenswert, weil die in Selitrennys/ Weicherts Fassung vom Befehl 56/62 zitierte »Abteilung Aufklärung (B)« ausschließlich an
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Mit dem "westlichen Territorium" war das bundesrepublikanische Grenzgebiet zur DDR gemeint. Gleichwohl muß dessen parallele Überwachung durch die HV A und HA I zu atmosphärischen Störungen zwischen diesen Struktureinheiten gefiihrt haben, denn schon Anfang 1964 mußte MfS-Chef Mielke einräumen, daß die von ihm befohlene Form des Unterstellungsverhältnisses fiir die Grenzaufklärung keinesfalls positive Auswirkungen auf die operative Arbeit gehabt hätte: "Die Zweigleisigkeit stört die Einheit der Leitung
der Einsatzgruppen und die Durchsetzung der spezifischen Aufgaben der Hauptverwaltung A" (1. Ergänzung zum MfS-Befehl 56/62, S. 1). Folglich wurden die diesbezüglichen Bestimmungen dahingehend abgeändert, daß die Grenz-"Sachbearbeiter" nun doch der Hauptverwaltung A unterstellt wurden. Anscheinend waren die konkreten Berührungsfelder von HV A und HA I auf dem Gebiet der Bundesrepublik erheblich größer gewesen als ursprünglich angenommen. Der Auftrag an die entsprechenden Mitarbeiter blieb indessen unverändert. Sie waren auch weiterhin für die - u.a. durch Inoffizielle Mitarbeiter vorgenommene - konspirative Aufklärung des westlichen grenznahen Raumes und der bundesdeutschen Grenzsicherung einschließlich der pioniertechnischen Anlagen und der in diesem Bereich eingesetzten militärischen, nachrichtendienstlichen und polizeilichen Kräfte und Mittel zuständig (nur die westdeutschen Grenzübergangsstellen wurden von der Hauptabteilung paß und Fahndung bzw. HA VI bearbeitet). Den grenzaufklärenden Mitarbeitern war beispielsweise noch im Vorfeld der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages zwischen beiden deutschen Staaten ausdrücklich befohlen worden, "die Truppen, Stäbe und Einrichtungen der Bundeswehr und wichtige Objekte anderer NATO-Anneen bis zu einer Tiefe von 50 km feindwärts der Staatsgrenze West der DDR, den gesamten Bundesgrenzschutz, die hier diensttuenden Organe des westdeutschen Zollgrenzdienstes und der Bayrischen Grenzpolizei, die an der Ostseeküste tätigen westdeutschen Grenzüberwachungsdienststellen sowie die in der Grenzüberwachung tätigen Kräfte Westberlins und der westalliierten Besatzungsgarnisonen aufzuklären" (MfS-Befehl 31172, S. 2).
Die erzielten Erkenntnisse über das "gegnerische Vorfeld" wurden dann nicht nur unter militärischen Gesichtspunkten ausgewertet, sondern fanden zugleich auch als ideologisches Kampfrnittel Verwendung,5 indem bewußt ein der Grenze zu West-Berlin zum Einsatz kam. Möglicherweise lag der Aussage der beiden Autoren also ein nur auf die Berliner Grenze bezogener Zusatzbefehl rur die Grenzaufklärung zugrunde. 5
Beispielsweise kam das MfS in Zusammenhang mit einem Grenzzwischenfall vom August 1959, bei dem angetrunkene bundesdeutsche Jugendliche eine direkt auf der Grenzlinie errichtete Drahtsperre zerstört hatten, in seiner (an die SED-Politbüro-Mitglieder Neumann und Honecker gerichteten) Bewertung zu dem Schluß, daß die "Provokationen vom Grenzschutz nicht nur nicht gestört, sondern sogar gedeckt" worden seien (MfS-Bericht über eine Provoka-
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angeblich aggressiv auf den Osten ausgerichtetes Grenzsystem auf seiten der Bundesrepublik angeprangert wurde - solche Behauptungen waren rur DDRBürger in aller Regel ja nicht nachprüfbar. Auf diese Weise wurden viele der durch die operative Grenzaufklärung beschafften Informationen von der SEDFührung letzten Endes zur Rechtfertigung des eigenen Grenzregimes uminterpretiert und eingesetzt, selbst wenn die SED den wahren Zweck des aufwendigen und menschenverachtenden Grenzsicherungssystems, nämlich als Fluchthindernis rur die eigenen Bürger zu dienen, in den sechziger Jahren immer weniger verschwieg. "Was auf seiten der DDR als neue sozialistische Errungenschaft propagandistisch bis aufs letzte agitatorisch ausgebeutet wurde, stellte sich auf westlicher Seite als raffinierter Schachzug des imperialistischen Gegners zur demagogischen Beeinflussung der Bundesbürger dar" (Barm 1990, S. 89). Tatsächlich aber sollte das stetige Anprangern einer vermeintlich aggressiven Grenzsicherung durch den Bundesgrenzschutz und die "westalliierten Besatzungsgarnisonen" vor allem von den eigenen Verhältnissen ablenken und durch das Aufrechterhalten des Feindbildes zugleich die Hemmschwelle der Handlungen der Grenzsoldaten herabsetzen, also zusätzlich einen nach innen gerichteten Disziplinierungseffekt bewirken. Neben den inoffiziell beschafften Informationen griff man dazu auch auf die Ergebnisse der taktischen Grenzaufklärung zurück, die durch visuelle und technische Beobachtungen (einschließlich der Funkaufklärung vom eigenen Grenzgebiet aus) die Lage im grenznahen westlichen Raum zu sondieren hatte. Die operative Grenzaufklärung indes entwickelte sich in der Praxis weniger zu einem Instrument der Politpropaganda als vielmehr auftragsgemäß vorrangig "zu einemfeindwärts operierenden Unterstützungsorgan der Grenzabwehr der MjS-Hauptabteilung I: Sie war an Aktionen zur gewaltsamen Rückführungfahnenflüchtiger Soldaten ebenso beteiligt wie an der physischen Beseitigung operativ 'interessanter' Personen. "6 (Siebenmorgen 1993, S. 159. Zur taktischen tion an der Staatsgrenze "West", S. 3.) Da es filr diese Behauptung aber keinerlei Beweise gab, sollte diese Art der Darstellung offensichtlich vor allem eine ideologisch motivierte Diskreditierung des Bundesgrenzschutzes bei den verantwortlichen SED-Politikem bewirken. Viel interessanter in Zusammenhang mit der hier behandelten Thematik ist allerdings eine Passage über "die sofort durchgejUhrten Ermittlungen durch inoffizielle Maßnahmen in Walkenried" (ebd., S. 2). Denn der Ort Walkenried lag in der Bundesrepublik, so daß die letztlich dabei gewonnenen Täter-Informationen durchaus einen Hinweis filr die Effizienz der Arbeit der HA I im westlichen Grenzgebiet darstellten. 6
Dazu ist z.B. der Fall des ehemaligen politischen DDR-Häftlings Michael Gartenschläger zu rechnen, der in der Nacht zum I. Mai 1976 von Scharfschützen des MfS bei Büchen erschossen wurde, als er vom Gebiet der Bundesrepublik ausgehend Selbstschußgeräte am Grenzzaun abzumontieren versuchte. Vgl. Filmer/Schwan 1991, S. 243-252; ebenso SauerlPlumeyer 1991, S. 92-98, 336 f.
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Grenzaufklärung vgl. ebd., S. 109 f.). Die personelle Ist-Stärke dieser beiden Grenzaufklärungsabteilungen betrug im September 1989 zusammengerechnet übrigens 255 hauptamtliche Mitarbeiter, zusammengefaßt in 22 Unterabteilungen. 7 Im übrigen fUhrte die Hauptabteilung I als interne Einheiten sog. Sicherungskompanien (S-Kompanien), die durch speziell ausgebildete MfS-Angehörige Sorge dafUr zu tragen hatten, daß sich kein Grenztruppensoldat bei Minenräumaktionen oder der Suche nach unterirdischen Fluchttunneln absichtlich in den Westen "verirrte" (vgl. SchelVKalinka 1991, S. 27). Während das MfS durch die Übernahme der Befehlsgewalt filr die Grenzaufklärung seinen Einfluß im Grenzregime festigen und ausbauen konnte, war die (seit September 1961 fUr die Grenztruppen zuständige) NV A-Führung wahrscheinlich noch nicht einmal undankbar, sich im Zuge dieses sowohl parallel als auch separat zum normalen Dienstablauf der regulären DDR-Streitkräfte ablaufenden Umwandlungsprozesses (von der Grenzpolizei zur militärischen Truppe hin) von den inneren Sicherungseinheiten trennen zu können, um in dieser spezifischen Situation nicht auch noch mit Problemen der Absicherung belastet zu werden. Am 31. Januar 1964, also nur wenige Tage, nachdem das MfS bereits die Paßkontrolle und Fahndung an den Kontrollpassierpunkten zur Bundesrepublik (KPP) von der NVA übernommen hatte (s.u.), erließ Verteidigungsminister Hoffmann einen als "Geheime Kommandosache" - dem höchsten und nur selten vergebenen Geheimhaltungsgrad überhaupt - eingestuften Befehl über die »Verwaltung 2000«, anhand dessen sich die Tätigkeit des MfS innerhalb der Grenztruppen und darüber hinaus sogar im gesamten Grenzregime höchst aufschlußreich charakterisieren läßt (vgl. MfNV-Befehl 12/64. Darauf beziehen sich die im folgenden bei Zitaten angefUhrten Seitenangaben). Punkt 1 dieses Befehls regelte absolut unmißverständlich die künftigen Unterstellungsverhältnisse: "Die Mitarbeiter der Verwaltung 2000 (einschließlich Kraftfahrer) sind Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit. Sie unterliegen ausschließlich der Befehls-, Weisungs- und Disziplinarbejugnis des Ministers für Staatssicherheit und sind den Kommandeuren der Nationalen Volksarmee weder unterstellt noch rechenschaftspflichtig" (S. 1). Was nichts anderes bedeutete, als daß die ihm vormals unterstellten Genossen bei ihrer Tätigkeit das militärische Vorgesetztenverhältnis und die Verantwortung der NVA-Kommandeure zwar noch zu "beachten" hatten, sich diesen aber keinesfalls verbindlich fUgen mußten. Wenn sie indessen die militärische Disziplin 7
Zahlen nach: Die Organisationsstruktur des Ministeriums rur Staatssicherheit 1989, S. 121 f; sowie: Siebenmorgen 1993, S. 160. Dort des weiteren auch konkrete Angaben über die Zusammensetzung der Mitarbeiter sowie über die in der Grenzregion der Bundesrepublik eingesetzten IM bei Bundesgrenzschutz, Zoll, Polizei usw. Die Grenzabwehr war zum gleichen Zeitpunkt hingegen mit 357 Mitarbeitern (vgl. ebd., S. 287) in 26 Unterabteilungen bestückt (vgl. Die Organisationsstruktur des Ministeriums rur Staatssicherheit 1989, S. 121).
10 Merlens I Voigl
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und Ordnung im Dienst wahren und sich dabei an die gültigen militärischen Bestimmungen der NV A halten sollten, so lag diese Bestimmung strikt in ihrem eigenen Interesse. Dies unterstrich auch die ihnen (immerhin noch im ersten Punkt dieses Befehls!) auferlegte Kleidungsordnung, denn sie sollten "bei der Durchführung des Dienstes ... die Uniform der jeweiligen Einheit (Waffenfarbe) bzw. Zivilkleidung [tragen], wenn es die Arbeit erfordert" (S. I). Mit anderen Worten: um die Konspiration in jedem Falle zu wahren, durften sich die nunmehrigen MfS-Mitarbeiter äußerlich im Dienst nicht von den regulären Grenzsoldaten unterscheiden. Andernfalls wäre eine konspirative Anwerbung von »Inoffiziellen Mitarbeitern« (IM) bzw. »Gesellschaftlichen Mitarbeitern rur Sicherheit« (GMS) unter den zu beobachtenden Wehrpflichtigen beträchtlich erschwert worden. Des weiteren legte der Befehl 12/64 die wichtigsten Aufgabenfelder bei der Abwehr oder Aufklärung von gegnerischen Spionageversuchen rur die MfS-Angehörigen fest. Indem es dabei zunächst einmal galt, die klassische Aufgabe aller Abwehrdienste zu erftlllen, nämlich "die Pläne und Absichten des Gegners, die gegen die Nationale Volksarmee gerichtet sind, aufzuklären und Maßnahmen zu ihrer Verhinderung zu ergreifen" (S. 2), sollten vorrangig die Grenztruppen gegen äußere Feinde abgeschirmt werden. Genauso ftlrchtete man aber auch den schädlichen Einfluß von Regimekritikern oder gar die Vorbildwirkung von Deserteuren aus den eigenen Reihen, weshalb die Verwaltung 2000 beauftragt wurde, "den Kampf gegen den Einfluß der ideologischen Diversion und ihre Auswirkungen in der Nationalen Volksarmee (Fahnenjluchten, Kontaktaufnahmen u.a.) mit ihren spezifischen Mitteln zu führen" (S. 2) Das war nichts anderes als ein Freibrief zur Bespitzelung der Grenzsoldaten (vgl. Lapp 1987, S. 114-122). Die dabei gewonnenen Erkenntnisse schlugen sich dann z.B. in der Zusammensetzung der Gruppen und Züge einer Grenzkompanie nieder, ja selbst in der Formierung des Streifen- und Postendienstes, der immer wieder neu zusammengestellt wurde, um mögliche Fahnenfluchten zu verhindern: fluchtwiIIige Posten sollten ihren Kameraden nicht trauen können. Wurden bei dieser konspirativen Überwachung "Risikofaktoren" unter den wehrpflichtigen Grenztruppenangehörigen (z.B. aufgrund von Bekundungen, die Schußwaffe im Ernstfall nicht zu gebrauchen) durch die Verwaltung 2000 ausgemacht, so wurden diese entweder zu den Ausbildungs- oder ArtiIIerieregimentern8 (!) der Grenztruppen 8
Vgl. die AusfUhrungen des Grenztruppen-Oberstleutnants Roland Altmann: "Artillerie der Grenztruppen - wesensfremd und doch Elite". In: Koop 1993, S. 102-110, hier: S. 106. Allerdings standen seine Aussagen Uber die zu diesen Einheiten zwangsversetzten (und somit alles andere als elitären) "Schußwaffenverweigerer" bereits in einem eklatanten Widerspruch zu der - seinen Äußerungen entnommenen - GesprächsUberschrift.
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oder aber zu regulären NVA-Einheiten ins Landesinnere der DDR versetzt (vgl. Aussagen von Betroffenen; abgedruckt in: Volksarmee 111990, S. 3). Die endgültige Entscheidung über ihre weitere Verwendung hatten dabei aber nicht Offiziere der Grenztruppen, sondern nur die Abwehroffiziere der Verwaltung 2000 zu treffen. Beschränkten sich die Abwehraufgaben der Verwaltung 2000 bei der Grenztruppensicherung demnach weitestgehend auf den militärischen Bereich, so hatte ihre Tätigkeit auf dem Feld der Aufklärung (zumindest räumlich gesehen) erhebliche Auswirkungen auf das gesamte Grenzgebiet. Denn der - diesbezüglich nur zwei Punkte umfassende - Arbeitsauftrag befahl den MfSAngehörigen, einerseits "das Vorfeld und die Tiefe des gegnerischen Territoriums aufzuklären", und andererseits "die Tätigkeit des Gegners im Grenzgebiet der DDR, insbesondere im 500- bzw. 100-m-SchutzstreiJen, aufzuklären, zu bekämpfen und zu liquidieren" (S. 3). Angesichts dieser angeruhrten beiden Aufgaben wurde die tatsächlich vorhandene Bedeutsamkeit der zunächst etwas unverständlich erscheinenden o. a. Passage über die bei Bedarf im Dienst zu tragende Zivilkleidung plausibel: diese konnte man schlechterdings bei Einsätzen z.B. in der Bundesrepublik tragen. Doch viel aufschlußreicher als diese eher profane Erkenntnis war die Verknüpfung der scheinbar völlig gegensätzlichen Aufträge zur Beschaffung von Informationen aus dem feindlichen Territorium (= Bundesrepublik Deutschland) und dem eigenen Grenzgebiet. Denn die im Zitat deutlich werdende Quasi-Gleichstellung läßt einige Rückschlüsse darüber zu, welchen ideologischen Stellenwert die SED dem Grenzgebiet im allgemeinen und sog. Sperrbrechern im speziellen beimaß. Schließlich war das Grenzregime vor allem als Hindernis rur Flüchtlinge errichtet worden, die in die Bundesrepublik gelangen wollten. Indem man diese zu Verrätern an der DDR stempelte, wurden sie - in diesem Falle auch begrifflich - als Feinde von Staat und Partei pauschal mit dem ideologischen Gegner im Westen gleichgesetzt und waren folglich auch wie Feinde zu behandeln, oder wie es der Befehl ausdrückte, zu bekämpfen und sogar zu liquidieren. Das Grenzgebiet war demzufolge ein "potentielles Schlachtfeld", auf dem zivil gekleidete MfS-Angehörige der Verwaltung 2000 den Befehl hatten, mögliche Flüchtlinge zu entlarven (laut Befehl "aufzuklären") und festzunehmen ("zu bekämpfen"). Ein verbales Synonym rur das geforderte "Liquidieren" zu benennen, fiUlt allerdings sehr schwer. Die immer noch nicht abschließend geklärte Frage, ob es sich dabei wirklich gleichsam um einen Hinrichtungsbefehl gehandelt haben könnte, wie es der angeruhrte Begriff "liquidieren" suggeriert, kann auch hier nicht mit hundertprozentiger Sicherheit beantwortet werden. Denn rur eine solche Annahme fehlen schlicht und ergreifend die Beweise, zumindest bezogen auf die vorgestellte Thematik. So bleibt es zweifelhaft, ob ein "Liquidieren" in der Grenzregion "im Zusammenhang mit Einzelpersonen ... nur die Bedeutung vernichten, und das meint töten, haben" konnte (Voigt 1996, S. 50). Aus den Quellen heraus kann diese 10'
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Aussage für das Grenzgebiet derzeit nicht belegt werden; zumal selbst der bei Voigt angeführte Fall - trotz eines eindeutigen Mordbefehls - letztlich nicht ausgeführt wurde. Ein genereller Mordbefehl zur Liquidation von Flüchtlingen im Grenzgebiet ist jedenfalls bislang nicht aufgetaucht. Auch der Hinweis auf den Fall "Gartenschläger" hilft hier nicht weiter, denn obwohl dieser zweifellos vom Grenzgebiet aus von MfS-Angehörigen ermordet wurde, handelte es sich bei ihm dennoch ausdrücklich nicht um einen Flüchtling, der am Verlassen der DDR gehindert werden sollte. Offenbar gab es keine Situation, in der Flüchtlinge durch Angehörige der Verwaltung 2000 in der Grenzzone (evtl. auch geplant) erschossen wurden. Wohlgemerkt: im Grenzgebiet wurde niemand von MfS-Mitarbeitern umgebracht. An den unmittelbaren Grenzanlagen standen aber die Grenztruppen und hatten nötigenfalls auf Fliehende zu schießen, was den MfS-Mitarbeitern sehr wohl bewußt war. Insofern stellt sich die nächste Frage bereits von selbst: wenn MfS-Angehörige mit einiger Gewißheit davon ausgehen konnten, daß die Flüchtlinge notfalls mit Waffengebrauch an den Grenzanlagen gestellt wurden, hätten sie diese dann nicht einfach nur in Richtung Grenze zu ,jagen" brauchen, um ihren "Liquidations"-Auftrag auf diese Art und Weise zu erfüllen, ohne dabei persönlich in Erscheinung getreten zu sein oder gar "blutige Hände" bekommen zu haben? Eine Antwort auf diese Frage ließe sich nur anhand genauester Einzelfallprüfungen feststellen. Unabhängig davon bleibt festzuhalten, daß der Inhalt des NVA-Befehls 12/64 - speziell unter dem Aspekt der aufklärerischen Tätigkeit der Verwaltung 2000 im Grenzgebiet der DDR - wesentlich die Einflußnahme des MfS auf das Grenzgebiet wiedergibt, denn er belegt zweifelsfrei, daß die Mitarbeiter der »Verwaltung 2000« schon kurz nach ihrer Eingliederung in die MfS-Hauptabteilung I den Auftrag besaßen, das gesamte Grenzgebiet zu bearbeiten. Dies ist übrigens keinesfalls so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag: schließlich waren die (von der Verwaltung 2000 abzusichernden) Grenztruppen zu jener Zeit nur im 500-m-Schutzstreifen tätig, während hingegen die gesamte übrige Sperrzone von der Deutschen Volkspolizei kontrolliert wurde. Dieser Befehl des Verteidigungsministers legte aber nicht nur die zu bearbeitenden Aufgabengebiete der Verwaltung 2000 fest, sondern auch deren Rechte und Pflichten. Wobei allerdings angemerkt werden sollte, daß es außer der SED keine Institution gab, die dem MfS irgendwelche Pflichten auferlegen konnte, und seine Rechte nahm sich das MfS ohnehin üblicherweise von selbst heraus. Dies bedenkend kann dann das von vornherein bestehende eklatante Ungleichgewicht zwischen den zumindest formal geregelten Rechten und Pflichten auch nicht im mindesten verwundern. Verpflichtet wurden die Mitarbeiter ausschließlich zur Informationsweitergabe (an die Grenztruppenführung), allerdings von vornherein mit der bedeutsamen Einschränkung" im notwendigen Maße" (S. 3). Jedoch: welches Maß
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nötig war, entschieden die MfS-Mitarbeiter selbst. Berechtigt waren sie hingegen zu einer fast unbeschränkten Einflußnahme auf die Grenztruppen einschließlich deren militärischer Leitung. So konnten sie jeden Grenzsoldaten "ohne vorheriges Einverständnis des jeweiligen Kommandeurs ... zu Aussprachen und Vernehmungen" bestellen; ebenfalls konnten sie unwidersprochen "alle Stellen in ihrem Verantwortungsbereich" betreten (S. 3), der sich im übrigen keinesfalls etwa nur auf die Kasernen beschränkte. Denn zum Arbeitsgebiet der Verwaltung 2000 gehörte auch das DDR-seitige Hinterland der Grenze. Zur allgemeinen Sicherungstätigkeit der HA I gehörte es des weiteren, in bestimmten Fällen den Dienst der Grenztruppen direkt zu übernehmen. Wurde z.B. ein geplantes Fluchtvorhaben ermittelt oder festgestellt, bei dem sich die Beteiligten vermutlich schon oder noch im Grenzgebiet aufhielten, aber nicht konkret lokalisiert werden konnten, zog man die regulären Grenzposten umgehend aus den unmittelbar geflihrdeten Abschnitten ab und tauschte sie gegen Angehörige der HA I aus, um die Chancen einer Festnahme zu erhöhen und zudem die Verhaftung selbst vornehmen zu können. 9 Im übrigen hatten die (zuletzt 2457 hauptamtlichen) Mitarbeiter der HA I nicht nur die Grenztruppen selbst, sondern beispielsweise auch deren Liegenschaften abwehrmäßig zu sichern. 10 Deshalb befürchtete das MfS in Zusammenhang mit den Transit- und Reisevereinbarungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR in den siebziger Jahren sowie der Errichtung eines sog. grenznahen Verkehrs nicht nur eine intensivere westliche Beeinflussung der Grenzsoldaten, sondern durch die mißbräuchliche Nutzung von Tagesbesuchsmöglichkeiten auch die verstärkte Auskundschaftung dieser Objekte. Zwar durften westliche Besucher das Grenzgebiet nicht betreten, doch schien das MfS von vornherein davon auszugehen, mögliche Verstöße gegen dieses Verbot nicht immer unterbinden zu können. Deshalb mußte auch die HA I zusätzlich in die Überwachung des - vorwiegend durch die Struktureinheiten VI und VII gesicherten - Reiseverkehrs mit eingebunden werden. Die konkrete Aufgabe der HA I bestand in diesem Zusammenhang in der" abwehrmäßige(n) Sicherung der an den GÜST [Grenzübergangs9
Vgl. RichterlKunckel 1992, S. 9. Aus der Sicht eines gescheiterten Flüchtlings stellte sich ein solches Szenario dann beispielsweise so dar: "Ich hatte ... die Örtlichkeit mehrfach beobachtet, doch hatte ich an der Stelle, an der ich die Grenze überwinden wollte, keine Hinderungsgründe außer der Grenze selbstfeststellen können. Injener Nacht stand aber dortfor mich unerwartet ein Fahrzeug der DDR-Grenztruppen. Als ich mich dort näherte, standen plötzlich ca. 20 Mann vor mir" (zit. aus: Fluchtversuche: Vemehmungsprotokolle; in: HartmannlKünsting 1990, S. 152.) Bei diesen "überraschend" aufgetauchten "Grenzsoldaten" kann es sich nur um Mitarbeiter der Hauptabteilung I gehandelt haben.
10 Zu weiteren Aufgaben sowie der Strukturierung der Hauptabteilung I vgl. Die Organisationsstruktur des Ministeriums filr Staatssicherheit 1989, S. 119-122.
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stellen; F.P.] zum Einsatz kommenden Sicherungskräfte der Grenztruppen" (MfS-Dienstanweisung 3/75, S.44). Obwohl das eigentliche Sagen an den Grenzübergangsstellen ohnehin bereits die Mitarbeiter der MfS-Hauptabteilung VI hatten (s.u.), durfte dort nichts dem Zufall überlassen werden. Allem Anschein nach reichten dem MfS die "normalen" Abwehrmaßnahmen gegenüber den Grenztruppenangehörigen an den Übergangsstellen bei weitem noch nicht aus: dorthin (und somit in die Nähe des Reiseverkehrs) gelangten nur von der HA I besonders überprüfte und überwachte Grenzsoldaten. Obwohl diese jedoch überhaupt nicht in Berührung mit den westlichen Reisenden kamen (s.u.), stellte ihr Sicherungsauftrag an den GÜSt aus Sicht des MfS sogar noch eine (wohl zweifelhafte) Auszeichnung für sie dar, denn andernfalls hätten sie stattdessen "nur" Streifendienst entlang der Grenze verrichten dürfen. Während das MfS selbst die eigenen Grenztruppenangehörigen vom Reiseverkehr an den GÜSt abschirmte, besaß es im Gegensatz dazu absolut keine Skrupel, seinerseits die Möglichkeiten des grenznahen Verkehrs auftragsgemäß "für die Organisierung der politisch-operativen Arbeit im und nach dem Operationsgebiet, insbesondere zur Lösung der Aufgaben zur Grenzaufklärung" (MfS-Dienstanweisung 3/75, S.44) zu nutzen. Denn mittels des Besucherverkehrs bestand für die operative Grenzaufklärung die äußerst willkommene und günstige Gelegenheit, Z.B. Inoffizielle Mitarbeiter als unauffiUlig "zurückkehrende Tagesbesucher" in die Bundesrepublik Deutschland einzuschleusen, die dann das westliche Vorfeld der innerdeutschen Grenze erkundeten. Letztlich sollte zur Hauptabteilung I allgemein angemerkt werden, daß sie im Gegensatz zu allen anderen MfS-Hauptabteilungen nicht nach dem linienverantwortungsprinzip organisiert war. Das bedeutete konkret, daß sämtliche Abteilungen und Unterabteilungen der Hauptabteilung I aufgrund ihrer quasi"Armee"spezifischen Tätigkeit durch die Berliner Zentrale einheitlich geführt wurden, während alle anderen MfS-Hauptabteilungen hauptsächlich nur die ihnen nachgeordneten Abteilungen in den Bezirksverwaltungen bei der Erfüllung ihrer AufgabensteIlungen anleiteten, die dann ihrerseits die entsprechenden Referate der Kreisdienststellen anzuleiten (nicht zu führen!) hatten. 11 Kurz zusammengefaßt beinhaltete die AufgabensteIlung der Hauptabteilung I in bezug zur Durchsetzung des eigenen Grenzregimes also insbesondere die Aufklärung (sprich: Auskundschaftung) der Grenzgebiete in der Bundesrepublik Deutschland, des weiteren die Überwachung des gesamten eigenen Grenzgebietes zum Aufspüren von Flüchtlingen, und außerdem die Sicherung 11 Vgl. Staatliches Komitee 1990, S. 25-43. (Die Dokumentation wurde im Auftrag des damaligen DDR-Innenministers Diestel erstellt, aber letztendlich nicht veröffentlicht.) Dort findet sich eine ausfUhrliche und gut verständliche Darstellung der diversen Verantwortungsstrukturen im MfS.
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der Grenzsoldaten, oder genauer ausgedrückt: die Sicherstellung, daß die Grenztruppe eine weitestgehend zuverlässige (= sichere) Einsatztruppe der SED blieb. Fazit: Die Arbeit der HA I war insgesamt ein wichtiger und absolut unverzichtbarer Bestandteil bei der Einflußnahme des MfS auf das Grenzregime, weil es durch sie bereits wesentliche Teile des Grenzregimes kontrollieren konnte.
III. Zur Hauptabteilung VI: Paßkontrolle an den Grenzübergangsstellen Die Grenzübergangsstellen als die einzigen legalen Orte zum Passieren der "Staatsgrenze West" spielten im Grenzregime und somit auch filr das MfS eine herausragende Rolle 12: wer sein Leben nicht als "Sperrbrecher" an den von Jahr zu Jahr weiter ausgebauten Grenzanlagen riskieren wollte, mußte seinen Fluchtversuch (vielleicht in der Hoffnung, daß die Grenzsoldaten vor den Augen möglicher westlicher Beobachter nicht so schnell auf Flüchtende schießen würden) zwangsläufig auf einen der offiziellen Übergänge zur Bundesrepublik hin ausrichten. Dort aber, in allernächster Nähe zum filr die Flüchtlinge so verlockenden und anziehenden Westen, konnte man sich der besonders intensiven Überwachung des MfS absolut sicher sein, denn sämtliche Kontrolleure an den Grenzübergangsstellen sowie auf den Flug- und Seehäfen der DDR waren ausnahmslos MjS-Mitarbeiter. Der wohl bekannteste Überläufer des MfS in den Westen, Oberleutnant Werner Stiller, hatte diesen Sachverhalt der Öffentlichkeit bereits vor der Wende mitgeteilt und dazu angefilhrt, daß das MfS "eine so delikate und schwierige Aufgabe wie die Abwicklung der Ein- und Ausreiseformalitäten ... den regulären, der Volksarmee angegliederten Grenztruppen nicht an(vertraut) " hätte (Stiller 1986, S. 133).13 Implizit tat er damit gleichzeitig das offensichtlich stark ausgeprägte Mißtrauen des MfS gegen die Grenz12 Hier sei kun auf eine Passage aus der MfS-internen Definition rur »Grenzubergangsstellen« (GÜSt), die Ubrigens bis Ende 1966 offiziell als »Kontrollpassierpunkte« (KPP) bezeichnet wurden, hingewiesen: "Die G. als Bestandteil des Grenzregimes der DDR kann unmittelbar an der Staatsgrenze ... angelegt werden. In jedem Fall ist zu sichern, daß die von den G. zur Staatsgrenze fiihrenden Grenzstreckenabschnitte nicht unberechtigt und unkontrolIiert benutzt werden können. ( ..) ". Zitiert aus: Stichwort "GrenzUbergangsstelle (GÜST)". In: Das Wörterbuch der Staatssicherheit, S. 147. Diese Formulierung stellt von vornherein klar, daß man die GÜSt in jedem Falle zum direkten Grenzregime zahlte, und nicht etwa eventuell als "exterritoriale Punkte" des Grenzgebietes betrachtete. 13 Stiller hatte sich am 18. Januar 1979 in den Westen abgesetzt. Aufgrund seiner Kenntnisse konnte man daraufhin u.a. 17 Agenten in der Bundesrepublik festnehmen. Zu den Folgen seiner Flucht rur das MfS vgl. RichterlRösler 1992, S. 111 ff.
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truppen kund. Die Grenzsoldaten waren gut genug, die Grenze militärisch abzusichern und im Umfeld der Sperranlagen Fluchten zu verhindern. Aber die Kontrolle des Personenverkehrs von West nach Ost bzw. auch umgekehrt (nur nicht ganz so "häufig"!) an den hochsensiblen GÜSt, wo man quasi Auge in Auge mit dem "Klassenfeind" stand, behielt sich allein das MfS vor. Ihren Ausgang hatte diese Entwicklung in den sechziger Jahren genommen. Einen ständigen Wechsel der Verantwortlichkeiten fiir die DGP wie im vorausgegangenen Jahrzehnt (als Ausdruck sowohl der allgemein ungefestigten äußerlichen Situation der DDR als aber auch der noch ungeklärten internen Kompetenzen der bewaffneten Organe) konnte man sich nach dem Bau der Berliner Mauer und der Errichtung eines die Land- und Seegrenze umspannenden Grenzregimes nicht mehr leisten. Nachdem die äußerliche (Be-)Festigung der DDR in Form ihrer Abriegelung erfolgt war, mußte die SED zur Konsolidierung ihrer Macht nun die internen Kompetenzen bei der Grenzsicherung entsprechend eindeutig regeln. In dem Zusammenhang erscheint es angebracht, einen bestimmten Aspekt der allgemeinen Entwicklung des MfS bis zu diesem Zeitpunkt kurz zu erläutern. Aus seiner prinzipiellen Funktion als nachgeordnetes "Dienstleistungsunternehmen" fiir die SED ("Schild und Schwert der Partei") hatte das MfS primär den Herrschaftsanspruch seiner Auftraggeber durchzusetzen. Unter dieser Prämisse hätte man dem MfS die Durchfllhrung der Personenkontrolle an den Grenzübergangsstellen eigentlich von Anfang an übertragen müssen. Doch das MfS hatte sich in den fiinfziger Jahren nicht immer als schlagkräftiges Instrument zur Sicherung und Durchsetzung des Machtanspruchs der SED erwiesen, sondern - aus Sicht der Parteispitze - vielmehr des öfteren zu einem Hort der politischen oder sogar operativen Unzuverlässigkeit entwickelt (z.B. am 17. Juni 1953). Infolgedessen kam es neben der wiederholt entzogenen Zuständigkeit fiir die DGP auch zu einem mehrfachen Wechsel an der MfS-Spitze: mit der am I. November 1957 erfolgten Berufung von Erich Mielke zum Minister fiir Staatssicherheit trat bereits der dritte MfS-Chef innerhalb von nicht einmal acht Jahren seit der offiziellen Gründung des MfS vom 8. Februar 1950 seinen Dienst an. Mit Mielke hatte die SED-Führung nun allerdings den richtigen Mann fiir ihre Zwecke gefunden. Taktisch geschickt hatte es der damalige Erste Sekretär der SED, Walter Ulbricht, verstanden, Mielke auf politischer Distanz zu halten, indem er ihn vom Politbüro der SED, dem eigentlichen Zentrum der Macht, fernhielt. Daher mußte Mielke erst einmal alles daran setzen, sich durch unbedingte Vasallentreue und Verläßlichkeit zu bewähren und unentbehrlich zu machen. Sein in der Folgezeit immer wieder unter Beweis gestellter unbedingter Gehorsam und die widerspruchslose Erfiillung sämtlicher Parteiaufträge erbrachten dem MfS dann tatsächlich sowohl intern eine gewisse Konsolidierung als endlich auch extern die unbestrittene Führungsrolle in der Hierarchie der machtsichernden Organe.
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Wie groß die Machtfillle des MfS nach dem Mauerbau und der vollständigen Errichtung des Grenzregimes geworden war, verdeutlichte ein Ministerbefehl vom Beginn des Jahres 1964, mit dem das MfS die ausschließliche - bis dato von der NVA (bzw. Grenztruppe) ausgeübte - Paßkontrolle an den Grenzübergängen übernahm. Mielke hatte in ihm unmißverständlich festgelegt, daß die entsprechenden Mitarbeiter disziplinarisch grundsätzlich nicht den NVAKommandanten der Kontrollpassierpunkte unterstanden, sondern nahezu unabhängig von ihnen arbeiten konnten, ja mußten. 14 Diese Bestimmung fiihrte allen Beteiligten deutlich vor Augen, daß sich die anderen Instanzen und Organe (auch an der Grenze) dem MfS inzwischen zu unterwerfen hatten. So mußte der Verteidigungsminister dem MfS auch zugestehen, daß sich seine Kommandanten bei der Durchfiihrung ihrer Aufgaben selbstverständlich an MfS-Befehle und Anordnungen zu halten hätten und auf gar keinen Fall Entscheidungen treffen durften, die die Arbeit der MfS-Paßkontrolleure etwa behindert hätten! 15 Diese Regelung stellte demnach klar, wer das eigentliche Sagen an den KPP hatte: gegenüber den MfS-Vorgaben besaßen NVA-Befehle eine eindeutig untergeordnete Wertigkeit. Wie sich ein KPP-Kommandant dem Reglement des MfS konkret zu unterwerfen hatte, verdeutlichten die Anweisungen zur praktischen Umsetzung des Mielke-Befehls: so sollten Z.B. die MfS-Mitarbeiter - aber nicht etwa der Kommandant der Grenzübergangsstelle! - in einer Postenanweisung festlegen, "wohin die den KPP betretenden Personen zu leiten bzw. welche Personen wohin zu begleiten sind Diese Postenanweisung ist vom Kommandanten des KPP zu bestätigen. .. (Anlage 1 zum MfS-BefehI40/64: Prinzipien fiir die »Ordnung über das Zusammenwirken der eingesetzten Kräfte am KPP«, S.3). Deutlicher konnten die tatsächlichen Machtverhältnisse kaum ausgedrückt werden. Die Grenztruppen waren an den Grenzübergangsstellen letzten Endes nur reine Befehlsempfiinger des MfS. Im vorliegenden Fall hatte sich das MfS regelrecht das Wegerecht an den KPP angeeignet.
14 Vgl. MfS-Befehl 40/64. Die Paßkontrollkräfte des MfS unterstanden den NVA-Kommandanten nur zu folgenden (bewußt sehr allgemein formulierten) Zwecken: "a) Sicherung der Staatsgrenze; b) Ordnung und Kontrollablauf am KPP; c) Zusammenwirken der eingesetzten Kräfte. " (Ebd., S. 2.) Ansonsten bestanden keinerlei weitere Verpflichtungen gegenüber den Kommandanten, die ihrerseits hingegen durch die Kompetenzen der als Paßkontrollkräfte getarnten MfS-Mitarbeiter in ihren formellen "Rechten" erheblich eingeschränkt wurden. 15 Vgl. ebd., S.2: "Entsprechend Befehl des Ministers jUr Nationale Verteidigung haben der Kommandant und die Diensthabenden Offiziere des KPP diese(MfS- [F.P.]) Befehle und Weisungen bei der Durchführung ihrer Maßnahmen einzuhalten"; und ebd., S. 3 regelte, daß notwendige Entscheidungen der Kommandanten "die operative AufgabensteIlung der Paßkontrollkräfte nicht beeinträchtigen dürfen ". Solchen geschilderten Einschränkungen hatten sich im übrigen auch die Zollkontrollkräfte zu unterwerfen.
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Für die logistische Unterstützung hingegen wurden die Kommandanten voll verantwortlich gemacht: die baulichen sowie die verkehrs- und sicherungstechnischen Anlagen, die nebenbei bemerkt auch dem MfS zugute kamen, mußten ständig den Erfordernissen eines reibungslosen Dienstablaufs entsprechen; und darüber hinaus waren die Kommandanten filr die Erbringung sämtlicher Dienstleistungen (wie z.B. Verpflegung, Heizung, Energie, Wasser, Reinigung usw.) verantwortlich und hatten den dazu erforderlichen Einsatz an Mitteln und Kräften zu gewährleisten. Eigentlich handelte es sich dabei um nicht besonders ungewöhnliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten filr den Leiter einer Grenzübergangsstelle - doch in Anbetracht der geschilderten gravierenden Ein- und Beschränkungen durch das MfS muß sich so mancher KPP-Kommandant regelrecht verhöhnt gefilhlt haben, diese (häufig undankbaren) Aufgaben übernehmen zu "dürfen". Gleichwohl unterstrichen diese Vorgaben exemplarisch den inzwischen gewonnenen Machtzuwachs des MfS. Außerdem waren die entsprechenden Bestimmungen Beleg dafilr, daß das MfS nun immer stärker konspirativ und legendiert im Grenzregime arbeiten würde. Denn schließlich waren - formal ! - ausschließlich die von der NVA eingesetzten Kommandanten filr die Arbeit an den KPP zuständig, d.h., das MfS fand in offiziellen Dokumenten zu den KPP keinerlei Erwähnung (außer selbstredend in den hausinternen), und da die MfS-Angehörigen ihre Tätigkeit aus konspirativen Gründen in den Uniformen der regulären Grenztruppen verrichteten und somit von diesen nicht zu unterscheiden waren, traten sie äußerlich auch nicht als Vertreter ihrer "Zunft" in Erscheinung. Deshalb sollte an dieser Stelle noch einmal deutlich festgehalten werden: sämtliche Paßkontrolleure an den Grenzen der DDR waren ausschließlich Mß-Mitarbeiter und nicht etwa Grenztruppen-Angehörige, auch wenn sie zur Tarnung deren Uniformen trugen! Daraus resultierten u.a. auch die nicht unerheblichen Ressentiments der Grenzsoldaten gegenüber den Paßkontrolleinheiten (PKE) des MfS. Vieles, was die Grenztruppen allgemein in Mißkredit brachte (wie z.B. schikanöse Kontrollen oder unfreundliches Verhalten gegenüber Reisenden), wurde in Wahrheit durch die PKE hervorgerufen. Belastet wurde aber ausschließlich das Image der Grenztruppen, da filr Außenstehende ja keine äußerlichen Unterschiede erkennbar waren. Auf solche - filr sie mit Sicherheit ohnehin völlig unwesentlichen - Empfmdlichkeiten der Grenzsoldaten nahmen die MfS-Mitarbeiter aber im Umgang mit den Reisenden in aller Regel ebensowenig Rücksicht wie im Umgang mit den regulären Grenztruppen selbst. Stattdessen hatte die exponierte Stellung der PKE an den Übergangsstellen häufig zur Folge, daß die (aufgrund des Parteiauftrages sich durchaus ihrer besonderen Stellung bewußten) MfS-Mitarbeiter die Grenztruppen-Angehörigen eher herablassend be-
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handelten. 16 Neben der höheren Besoldung als einem äußerlichen Merkmal dieser Ungleichbehandlung besaßen die PKE-Offiziere in der Praxis auch erheblich mehr Entscheidungskompetenzen als die regulären Grenztruppen-Angehörigen, selbst noch gegenüber dienstgradhöheren Grenzoffizieren. 17 Die angesprochenen Paßkontrollaufgaben wurden MfS-intern zunächst von der Hauptabteilung Paß und Fahndung (HPF) verrichtet. Im Zuge einer Umstrukturierung im Jahre 1970 ging aus ihr die Hauptabteilung VI hervor, zu deren allgemeinen Aufgaben hauptsächlich die Sicherung, Überwachung und Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs gehörte. 18 Der personelle Bestand der PKE betrug zum Ende des Grenzregimes 1989 hin immerhin 7794 Mitarbeiter (bei knapp 100 GÜSt an allen Grenzen der DDR).19 Mitte der siebziger Jahre wurde aufgrund der erheblich verbesserten Einreisemöglichkeiten für westliche Bürger eine Erweiterung der AufgabensteIlung der HA VI notwendig. So hatten die PKE zur "Gewährleistung der sicheren Kontrolle und Abfertigung der Personen aus nichtsozialistischen Staaten" an der Grenze u~d der" konsequente(n) Durchsetzung der Fahndungsaufgaben " politisch mißliebigen Besuchern den Weg in die DDR ausdrücklich zu versperren (MfS-Dienstanweisung 3175, S. 20). Rigoros sollten sie die Einreise "erkennbarer feindlicher und extremistischer Gruppen und Einzelpersonen, bei denen aus ihrem Verhalten sowie 16 Ein Grenztruppen-Oberst brachte im Nachhinein sogar noch ein gewisses Verständnis rur die MfS-Kontrolleure auf: schließlich hätte ein PKE-Leutnant, "der den ganzen Tag nur Pässe kontrolliert habe, das Mehrfache eines Grenztruppen-Leutnants verdient. Da habe er sich zwangsläufig als etwas besseres fühlen müssen. " (Aussage des Grenztruppen-Oberst JUrgen Hömlein in: Rittmann 199Ib). Des weiteren berichtete Hömlein in diesem Zusammenhang, die interne Abgrenzung sei so weit gegangen, "daß der eigentliche Kommandant der Grenzübergangsstelle das 'Territorium der PKE' nicht habe betreten dürfen." Darauf im Nachhinein angesprochene Ex-PKE-Offiziere taten dies als völlig normal ab, weil die Grenztruppen-Angehörigen "von der Paßkontrolle, die immer komplizierter geworden sei, nichts verstanden" hätten (ebd.). Was vom MfS aber auch beabsichtigt worden war - so konnte es alleine und ungestört an den heiklen Übergangsstellen wirken. 17 Diese Feststellung wurde durch eine Bestimmung nachdrücklich bestätigt, wonach den (an den GÜSt zum Einsatz kommenden) regulären Grenztruppen-Angehörigen, die ja nicht Angehörige des MfS waren, ftlr den Fall einer von ihnen durchgeftlhrten Festnahme intern befohlen worden war, diese Flüchtlinge "ohne Kontrolle der Ausweispapiere und ohne vorherige Befragung sofort den zuständigen Organen des Ministeriums für Staatssicherheit zu übergeben ", also den PKE (MfNV-BefehI36/86, S. 16). 18 Zu weiteren Aufgaben sowie zur Strukturierung der Hauptabteilung VI vgl. Die Organisationsstruktur des Ministeriums ftlr Staatssicherheit 1989, S. 123-127. 19 Zahl nach: Gießmann 1992, S.26. Nach der Grenzöffnung vom 9. November 1989 Wuchs dieser Bestand durch die Zuftlhrung von (überwiegend in den MfS-Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen) freigesetzen MfS-Angehörigen kurzzeitig auf 11.1 00 Mitarbeiter an. Doch "irifolge des dagegen gerichteten politischen Widerstands wurde diese Entscheidung ... noch während der kurzen Amtszeit der Modrow-Regierung korrigiert. " (Ebd.)
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aus anderen Umständen anzunehmen ist, daß sie in der DDRfeindlich-negativ wirksam werden können", unterbinden (ebd., S. 20 f). Zu diesem Kreis wurden Personen aus dem Westen gezählt, die "revanchistischen, nationalistischen, neofaschistischen sowie rechts- bzw. linksextremistischen Gruppierungen angehören" (ebd., S. 25).
Zugleich muß in diesem Zusammenhang aber auch daran erinnert werden, daß die Einreise solcher Personen nach Möglichkeit bereits im Zuge des verordneten Antrags- und Genehmigungsverfahrens durch die - filr ihre jeweiligen Grenzabschnitte zuständigen - MfS-Bezirksverwaltungen (BV) bzw. Kreisdienststellen (KD) verhindert werden sollte. 20 Somit wird die immense Bedeutung dieses Verfahrens signifIkant; zumal man durch die entsprechenden Anträge in den Besitz wichtiger Informationen über die Einreisenden gelangte, die in jedem Falle filr eine mögliche operative Nutzung bzw. Bearbeitung der Betroffenen zu speichern waren. Eine sich aus diesem Verfahren ergebende denkbare Konsequenz war z.B. die Erteilung eines Einreiseverbotes. Viel frappierender war jedoch, neben anderen Vorgaben, eine damit möglicherweise ebenfalls verbundene operative Überprüfung von deren einheimischen (DDR!-) Verwandten. 21 Kam es an den GÜSt zu unvorhergesehenen Situationen, die nicht unmittelbar mit Fluchtversuchen zusammenhingen, traten sog. "operative Kontrollermittler" des MfS auf den Plan. Dabei handelte es sich um besonders ausgebildete Mitarbeiter der PKE, die auftragsgemäß" vor allem zur Erhöhung des operativen Gehaltes in der Grenzpassage " eingesetzt wurden (Stichwort "Grenzübergangsstelle; Kontrollermittler, operativer". In: Das Wörterbuch der Staatssicherheit, S. 151). Sie kamen Z.B. zum Einsatz, wenn westliche Reisende ohne Visa oder Pässe angetroffen wurden, da man in solchen Fällen sofort Pläne zur Auskundschaftung der GÜSt oder sonstige gegen die DDR gerichtete Spionageabsichten vermutete; ebenso hatten sie die Festnahme von zur Fahndung ausgeschriebenen Personen vorzunehmen oder die Zurückweisung von bestimmten (o.a.) westlichen Personengruppen durchzufilhren. "Nebenbei" hatten sie aber auch das allgemeine Verhalten der Reisenden an den GÜSt zu beobachten, um bei besonderen Auffälligkeiten sofort mögliche operative Maß20 Vgl. ebd., S. 38 ("Aufgabenstellung filr die BVN"). Die BV-Abteilungen VI arbeiteten in diesem Zusammenhang eng mit den filr die Sicherung der Mdl-Organe zuständigen Abteilungen VII zusammen, schließlich waren zur Ermittlung des betreffenden Personenkreises u.a." die Ergebnisse der Oberprüjung in den lriformationsspeichern der DVP mit den Ergebnissen der OberprüjUng in den Speichern des Mß zusammenzujUhren, damit politisch richtige Entscheidungen getroffen und effektive politisch-operative Maßnahmen eingeleitet werden "konnten (ebd., S. 39). 21 Zum Auswertungsverfahren filr Einreiseanträge war eine eigene Durchfilhrungsbestimmung erlassen worden, die hier jedoch nicht näher erläutert werden kann. Vgl. 3. Durchfilhrungsbestimmung zur Dienstanweisung 3/75.
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nahmen einleiten zu können. Daher konnten sie für den gesamten DDR-Aufenthalt der (unwissenden) westlichen Besucher eine bedeutsame Rolle spielen, denn wenn Reisende einem operativen Kontrollermittler an der GÜSt verdächtig erschienen oder negativ auffielen, konnte dies eine permanente konspirative Überwachung und Beobachtung für die Dauer ihrer Anwesenheit im Lande nach sich ziehen. Besondere Schwierigkeiten bereiteten der HA VI die Kontrollen von westlichen Tagesbesucher im Rahmen des sog. kleinen Grenzverkehrs, weil die dazu berechtigten Bundesbürger die einzelnen Reisen nicht gesondert beantragen mußten, sondern stattdessen zu jeder beliebigen Zeit antreten durften. Die Bearbeitung der Tagesbesucher bereitete den BV und KD vor allem deshalb so große Probleme, weil man "durch die in der Regel zeitlich nicht vorhersehbaren Einreisen ... besonders günstige Möglichkeiten für die Organisierung der Feindtätigkeit" des "Gegners" zu erkennen glaubte (MfS-Dienstanweisung 3/75, S.41 f). Denn waren die Tagesbesucher erst eifl.mal eingereist, konnte man sie im Landesinneren nur unter schwierigen Voraussetzungen oder mithin auch gar nicht überwachen. Weil es kaum oder gar keine Möglichkeiten zu eventuellen Vorbereitungs- bzw. Sicherungsmaßnahmen gab, boten die Kontrollen an den GÜSt im Grunde die einzigen Möglichkeiten zur Einleitung potentieller Überwachungsmaßnahmen gegen westdeutsche Tagesbesucher. Gemäß dem Linienverantwortungsprinzip unterstanden die an den GÜSt eingesetzten PKE den Abteilungen VI der jeweils regional zuständigen MfSBezirksverwaltungen. Die Arbeit dieser Abteilungen wurde wiederum durch die Zentrale der Hauptabteilung VI in Berlin-Treptow geführt und koordiniert. Als Beispiel für diese abgestimmte Arbeit sei hier kurz das Verfahren im Zuge der Erfassung der Reisenden angeführt. Zur möglichst exakten Feststellung der in die DDR einreisenden Personen hatten die PKE bei ihrer Kontrolltätigkeit sog. Zählkarten einzusammeln, die die Besucher bereits im Zuge des Antragsverfahrens zur Einreise ausgefüllt hatten (mit dem keinesfalls zu unterschätzenden Nebeneffekt, daß das MfS auf diese Art und Weise relativ bequem in den Besitz von Schriftproben der Reisenden kam). Die BV waren dann für die Erfassung dieser statistischen Angaben über den Reiseverkehr zuständig. Die ermittelten Daten wurden an die Zentrale der HA VI weitergeleitet, die ihrerseits täglich eine statistische Übersicht zum Gesamtaufkommen des Einreiseverkehrs für den Zentralen Operativstab zu erstellen hatte. Dort wurden diese Übersichten für MfS-Chef Mielke und den dafür zuständigen stellvertretenden Minister Generalmajor Neiber aufbereitet. Dem MfS fiel in diesem Zusammenhang ebenso die Aufgabe zu, die rechtzeitige Ausreise der Tagesbesucher zu überprüfen. Dazu mußte die HA VI zunächst einen ständigen Überblick über die Wiederausreisen an den GÜSt gewährleisten. Wurde dabei festgestellt, daß Tagesbesucher die DDR bis 24 Uhr
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noch nicht wieder verlassen hatten, begann sofort die gezielte Fahndung nach den Touristen. Im MfS-Jargon hieß das: "bei nicht fristgemäß erfolgter Ausreise" hatten die Mitarbeiter der HA VI "die festgelegten Maßnahmen einzuleiten" (MfS-Dienstanweisung 3/75, S. 21). Doch rur die PKE blieb die Hauptaufgabe die Verhinderung von Fluchten an den GÜSt. Daß ihnen dabei tatsächlichjedes Mittel recht war, stellte sich - eher zuflHlig - im Februar 1990 heraus, als ein Hauptmann der MfS-Nachfolgeeinrichtung AfNS einen Container mit radioaktiven Strahlungsquellen auf einem NVA-Übungsplatz ablieferte (vgl. Koop/Schössler 1992, S. 127). Auf diese Weise wurde die überraschte Öffentlichkeit mit der Tatsache konfrontiert, daß die Abteilung Operativ-Technischer Sektor (OTS) der HA VI ein System von versteckten Röntgenanlagen entwickelt hatte, mit deren Hilfe die PKE seit Beginn der achtziger Jahre die Fahrzeuge der nichtsahnenden Reisenden an den innerdeutschen Übergangsstellen durchleuchten konnten. Diese aus reinem Cäsium l37 bestehenden Strahlungsquellen waren hochgradig radioaktiv, was die MfS-Mitarbeiter aber ganz offensichtlich nicht weiter störte. Alles, einschließlich der eigenen Gesundheit, wurde eben der Verhinderung von Fluchten untergeordnet. Dennoch erzielten die PKE im Vergleich zu den anderen Organen insgesamt eine nicht sonderlich hohe quantitative Effizienz bei der Verhinderung von Fluchten. Zumindest in den achtziger Jahren erreichten sie in Relation zur Gesamtzahl aller verhafteten Flüchtlinge nur eine Quote von etwa ein bis drei Prozent (vgl. Rittmann 1991a). Allerdings muß bei dieser Zahl unbedingt auch die spezifische Aufgaben stellung der PKE bedacht werden, denn die Flüchtlinge sollten nach Möglichkeit schließlich bereits im räumlichen Vorfeld der GÜSt aufgehalten und festgenommen worden sein, so daß dieser Wert allenfalls relative Aussagekraft besitzen kann. Eine weitere Form von Grenzübergangsstellen, an denen das MfS das Sagen hatte, waren diejenigen (ebenfalls ständig ausgebauten und perfektionierten) zu Wasser. Sie waren ähnlich wie die sich zu Lande befmdlichen GÜSt konzipiert und angelegt, indem sie durch Vorsperren bereits im Wasser vom Umland abgetrennt waren. Im Abstand von etwa 30 bis 50 Metern zur GÜSt war im Wasser eine weitere Sperrvorrichtung in Form einer stählernen Gitterkonstruktion angebracht, deren Stäbe einen Abstand von höchstens 16 cm haben durften, um auch möglicherweise tauchgeübten Flüchtlingen den Weg gen Westen absolut sicher versperren zu können. Auf diese Weise sollten Flüchtende in jedem Falle zum Verlassen des Wassers gezwungen werden, damit sie in das Sicht- und Schußfeld der am Ufer postierten Grenzsoldaten gerieten (vgl. Koop/Schössler 1992, S. l31).22 Bäche oder Flüsse, die von der 22
Aufgrund des geringen Abstands zwischen den Gitterstllben mußten die Sperren allerdings auch permanent gereinigt werden: in ihnen verfing sich häufig genug Treibgut. Zur Erledigung dieser Aufgabe wurde eine eigene Taucherstaffel der Grenztruppen aufgestellt.
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Sperrzone in den Schutzstreifen flossen, waren übrigens seit den siebziger Jahren ebenfalls vergittert worden. Die Kontrolle aller "schwimmflihigen Fahrzeuge" war (analog den Bedingungen zu Lande) ausschließlich den PKE vorbehalten; lediglich Zolleinheiten durften noch Aufgaben an Bord von grenzüberschreitenden Schiffen verrichten. Den Wassersperranlagen mußten die jeweils zuständigen örtlichen Partei-, MfS- und Grenztruppen-Chefs meist ihre besondere Aufmerksamkeit schenken, da sich - sehr zu ihrem Verdruß - die natürlichen Gegebenheiten nicht ohne weiteres ihren Befehlen beugten. Gleichwohl wurden diese "offenen" Problemstellen entlang der Grenze zunächst einmal unter abgrenzenden und fluchtverhindernden Gesichtspunkten angelegt, wahrend hingegen die problemverursachenden wasserwirtschaftlichen Aspekte in diesem Zusammenhang keine bedeutsame Rolle spielten. 23 Ein anderes Arbeitsfeld der HA VI im Grenzgebiet war die Überwachung der Zolleinheiten, die ihren Dienst an den GÜSt verrichteten. Zu diesem Zweck hatte die HA VI eine eigene Abteilung Zollabwehr (ZA) errichtet, die - analog zur Arbeit der Verwaltung 2000 bzw. der Grenzaufklärung in den fünfziger Jahren - die Zollorgane systematisch unterwandern sollte und hauptsächlich sog. »Offiziere im besonderen Einsatz« (OibE) konspirativ in die Zollverwaltung einschleuste. Das MfS strebte selbstredend die vollständige Kontrolle der Zollorgane an, denn obwohl sich die Angehörigen der Zolluntersuchung und fahndung bereits fest in den Händen der MfS-Mitarbeiter befanden, plante es u.a. noch 1989, "den Chef der Zollverwaltung durch den früheren Stellvertreter Operativ der Bezirksverwaltung Erfurt, Oberstleutnant Unglaube, zu ersetzen und sich dadurch den direkten Einfluß auf alle Zollzweige zu sichern" (Schell! Kalinka 1991, S. 31). Allerdings hatte man in diesen Plänen nicht die Wende vom Herbst 1989 vorgesehen, so daß dieses Vorhaben dann doch nicht mehr zur Ausführung gelangte. Die Ereignisse des Jahres 1989 machten auch die strukturelle Abhängigkeit des MfS von der SED deutlich. Mit dem Abbau der Sperranlagen an der ungarisch-österreichischen Grenze hatte sich (seit dem 2. Mai 1989) für Flucht23 Vgl. Barm 1990, S. 108. Dort findet sich neben einem Fallbeispiel auch die Begründung daftlr, weshalb die fluchtverhindemden Maßnahmen grundsätzlich Vorrang vor den durch die natürlichen Gegebenheiten hervorgerufenen Schwierigkeiten hatten: in den - gemäß den Bestimmungen des Nationalen Verteidigungsrates - rur die Sperrmaßnahmen zuständigen Einsatzleitungen (EL) standen "einem militanten Parteiideologen (Erster Kreissekretär der SED) und vier Angehörigen des militärisch-polizeilichen Establishments (Wehrkreiskommandoleiter, NVA-Bataillonskommandeur, PolizeicheJ und Staatssicherheitschef) ... nur ein Verantwortlicher for zivile Obliegenheiten (Kreisratsvorsitzender) gegenüber. Jeder der Militärs aber wird von seinem Vorgesetzten nach militärisch-sicherheitspolitischen Parametern bewertet. Und 'zugelassene Grenzdurchbrüche ' stehen in Grenzkreisen an der Spitze der Minuskriterien .. (ebd., S. 107).
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willige gleichsam ein neues Tor gen Westen geöffnet: Schon im August 1989 ging die Zahl der über Ungarn fliehenden DDR-Bürger in die Hunderte (vgl. Schützsack 1990, S. 27 ft). Logische Konsequenz dieser Entwicklung war ein Nachlassen des Flüchtlingsdruck auf das DDR-Grenzregime. Für die Mitarbeiter des MfS, speziell der PKE, bedeutete diese Verlagerung des Interesses der Flüchtlinge von den GÜSt weg in Richtung Ungarn hin, daß sie sich - nicht nur symbolisch gesprochen - plötzlich an der äußersten Peripherie des Geschehens wiederfanden, statt wie bisher im "Brennpunkt" möglicher Fluchtversuche zu stehen. Die SED war in jenen Tagen aber völlig sprach- und kopflos und konnte den konsternierten MfS-Angehörigen auch keinerlei Handlungsprämissen mehr auftragen. So fielen die Reaktionen im MfS auf die veränderte Situation an der Grenze entsprechend kläglich aus. Wie ein in typischem MfS-Jargon gehaltenes (und daher mit [in eckige Klammem gefaßten] sprachlichen Erläuterungen versehenes, F.P.) exemplarisches Schreiben des Leiters der Bezirksverwaltung Magdeburg, Generalmajor Wilfried Müller, an die Leiter der ihm unterstellten Diensteinheiten vom Ende August 1989 verdeutlicht, konnten die PKE (und allgemein die HA VI) nur noch auf die gewandelte Lage reagieren, statt wie bisher aktiv an den GÜSt operieren: "Zur Gewährleistung der Verhinderung der Einreise bzw. der Transitreise [Durchfahrt; F.P.] in Drittstaaten durch die DDR von Bürgern der DDR, die über die UVR [Ungarische Volksrepublik; F.P.] in das Operationsgebiet [Bundesrepublik Deutschland; F.P.] gelangten, mit zwischenzeitlich ausgestellten Dokumenten [Reisepässen; F.P.] der BRD oder anderer kapitalistischer Staaten, werden alle über die BKG [Bezirkskoordinierungsgruppe; F.P.] diesbezüglich übermittelten Personen bei der Hauptabteilung VI zunächst in Einreisesperre und Sperre des nicht vom Transitabkommens erfaßten Transitverkehrs gestellt" (Schreiben betr. Identifizierung und zentrale Registrierung, S. 2).
Kurz gesagt: Aufgabe der PKE war es nun, den über Ungarn glücklich in die Bundesrepublik gelangten Flüchtlingen die (Wieder-)Einreise in die DDR zu untersagen. Anscheinend konnte man sich im MfS vorstellen, daß zumindest ein Teil der gerade geflüchteten eigenen Bürger nichts eiligeres zu tun gehabt hätte als sich ausgerechnet zurück in die DDR zu begeben (vielleicht um die dort verbliebenen Sach- und Wertgegenstände in den Westen nachzuholen?). Das Schreiben dokumentiert eindrucksvoll die Hilflosigkeit des MfS in jenen Tagen: als die SED in dieser veränderten und unvorhergesehenen Situation keine konstruktiven Anweisungen erteilte, weil sie selbst keine politischen Lösungen anzubieten hatte, blieb dem MfS nichts anderes übrig, als sich an das kaum realistische - Prinzip Hoffnung (in diesem Falle bezüglich der Republikflüchtlinge ) zu klammem. Es wirkt nahezu symbolträchtig, wenn erst im allerletzten Satz des Schreibens tUr den Fall der Fälle, daß sich tatsächlich ein Flüchtling an eine GÜSt
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verirrt hätte, angeordnet wurde: "Im Zusammenhang mit der Einleitung von Ermittlungsverfahren der DVP werden die vorerst eingeleiteten operativen Fahndungen durch die Hauptabteilung VI in Fahndung-Festnahme umgewandelt" (ebd.). Wenn die Volkspolizei also das Ausbleiben eines Urlaubers festgestellt und ein entsprechendes Verfahren gegen ihn eingeleitet hatte,24 sollte er - so er denn tatsächlich daraufhin versucht hätte, noch einmal in die DDR zu reisen von den PKE verhaftet werden dürfen. Daran, daß dieser Fall - womöglich gar massenhaft - eintrat, kann aber wohl selbst im MfS niemand mehr geglaubt haben. So wirkt dieser Schlußsatz, der eigentlich Härte bekunden sollte, bereits durch seine Stellung innerhalb des Schreibens unwillkürlich resignativ, vor allem aber auch symptomatisch für den seinerzeitigen Zustand von SED und MfS. Ordnet man dieses Schreiben in die größeren Zusammenhänge jenes Jahres ein, so stellt es zudem ein beredtes Zeugnis der Hilflosigkeit der HA VI und allgemein des MfS im Spätsommer 1989 dar: als die SED aufgrund ihrer Führungsschwäche keine konkreten Instruktionen mehr erteilte, flüchtete man sich im MfS regelrecht in Schizophrenie. Einmal mehr wurde auf diese Weise auch die Abhängigkeit des MfS von der SED verdeutlicht, wodurch zugleich die von SED-Funktionären im Nachhinein aufgestellte Legende, das MfS wäre ein unkontrollierbarer "Staat im Staate" gewesen (vgl. u.a. Krenz 1990, S. 124), widerlegt werden kann. Im übrigen kündigten solche (zu ihrer bisherigen Arbeit neu hinzukommenden) "Aufgaben" der PKE bereits das nahe Ende des Grenzregimes an, denn das Schreiben verdeutlicht von seiner Intention her außerdem ungewollt, daß die GÜSt nicht mehr die gleiche Rolle spielen würden wie zuvor. Nur: welch gravierender Bedeutungsverlust ihnen - und somit allgemein auch der Grenze und den Grenzgebieten - im Jahre 1989 noch bevorstehen sollte, dürfte zu jenem Zeitpunkt wohl niemand geahnt haben.
IV. Zur Hauptabteilung VII: Sicherung des Reiseverkehrs durch das Grenzgebiet Aufgrund der bereits erwähnten Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR über den Transit- und kleinen Grenzverkehr Anfang der siebziger Jahre mußte die DDR den westlichen Reiseverkehr in und durch ihren Staat - eher widerwillig - akzeptieren, wollte sie nicht den von ihr selbst aufgebrachten und immer wieder propagierten Ruf eines "weltoffenen Landes" oder gar die (zumindest selbst empfundene) internationale Anerkennung aufs Spiel 24 Da gerade in jenen August-Tagen noch Ferienzeit war, mußte die DVP aber erst einmal die
(erhoffie) Rückkehr der Urlauber abwarten. Erst danach konnte man überhaupt handeln - und damit natürlich viel zu spät.
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setzen. Zwangsläufig mußten sich aus diesem Zugeständnis Konsequenzen fUr die Arbeit des MfS ergeben. Eine in diesem Zusammenhang erlassene interne Dienstanweisung hob dementsprechend hervor, daß die gewandelte Situation "zu wesentlichen Veränderungen der politisch-operativen Lage" fUhren würde, da zu befUrchten sei, daß der Klassenfeind die zunehmenden Aufenthaltsmöglichkeiten fUr ausländische und westdeutsche Besucher hauptsächlich zur "Organisierung der subversiven Tätigkeit gegen die DDR" mißbram:hen werde (MfS-Dienstanweisung 3175, S. 6). Zumal" von den Einreisen aus nichtsozialistischen Staaten und Westberlin alle gesellschaftlichen Bereiche und die Privatsphäre vieler DDR-Bürger berührt" würden (ebd.), müsse die Abwehr dieser schädlichen Einflüsse spätestens an der Grenze beginnen. Darum sollte das Grenzregime nicht mehr nur Fluchten verhindern helfen, sondern künftig auch als eine Art Filter zur Abwehr "gegnerischer" Einflüsse, die man in einer stärkeren Intensität als je zuvor erwartete, dienen - gerade auch, um die Effizienz des Grenzregimes zur Vermeidung von Fluchten zu wahren. Mit anderen Worten: das MfS witterte überall und ständig den Klassenfeind, der vor allem das sensible Grenzregime auskundschaften wollte. Dabei war es völlig unwesentlich, ob die günstige Gelegenheit des Durchfahrens des Grenzgebietes eher zur Erkundung möglicher Fluchtwege fUr DDR-Bürger oder vielmehr zur Auskundschaftung der militärischen Lage an der Grenze ausgenutzt würde. Prinzipiell stellte eben jeder Tourist ein Sicherheitsrisiko fUr die MfS-Angehörigen dar. Dies hatte zur Folge, daß jeder (zumeist völlig ahnungslose) Autofahrer, der das Grenzgebiet nicht auf dem schnellsten Wege wieder verließ, bereits als potentieller Spion angesehen wurde. MfS-intern bedeutete diese Situation zunächst einmal einen vermehrten Einsatz der Hauptabteilung VII, der u.a. die Aufgabe oblag, das MdI und dessen nachgeordnete Organe und Dienstzweige also hauptsächlich die Volkspolizei - abwehrmäßig zu sichern und abzuschirmen. 25 Zwar war die HA VII nicht nur im Grenzgebiet, sondern vielmehr in der gesamten DDR tätig, gleichwohl stellte diese AufgabensteIlung jedoch fUr die Einflußnahme des MfS auf das Grenzregime insgesamt einen nicht unbedeutenden Faktor dar. Aus diesem Grunde soll abschließend in aller Kürze noch einiges zu den das Grenzgebiet betreffenden Aufgaben der HA VII angemerkt werden. Eine wichtige Aufgabe der HA VII bestand im Rahmen der Absicherung des westlichen Besuchs- und Transitverkehrs in der "Einleitung wirksamer politisch-operativer Vorbeugungsmaßnahmen " zur "aktive(n) Unterstützung der (Mß-)Kreisdienststellen bei der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung im Grenzgebiet der DDR" (MfS-Dienstanweisung 3175, S. 25). Diese Formulierung von der "aktiven Unterstützung" der eigenen KD (durch die HA 25 Zu weiteren Aufgaben sowie der Strukturierung der Hauptabteilung VII vgl. Die Organisationsstruktur des Ministeriums fUr Staatssicherheit 1989, S. 128-132.
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VII bzw. der Abteilungen VII in den Bezirksverwaltungen des MfS) erhält erst dann einen nachvollziehbaren Sinn, wenn man bedenkt, daß neben geheimen Informanten (IM bzw. GMS) insbesondere auch sog. MfS-Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) konspirativ in die Deutsche Volkspolizei (DVP) - nach Möglichkeit in deren Leitungsdienst - eingeschleust wurden, um eben dort ihren Dienst zu versehen, aber demzufolge nicht in der eigenen MfS-Kreisdienststelle (KD). Die Dienstanweisung legte zugleich filr die HA VII fest, was unter den "einzuleitenden vorbeugenden Sicherungsmaßnahmen" zu verstehen war: z.B. die Gewährleistung der .. Verhinderung von Einreisen in das Grenzgebiet durch operative Sicherung der Verkehrswege, einschließlich der Flanken der GrenzübergangssteIlen und Zufahrtswege sowie operative Kontrolle besonders gefährdeter Abschnitte des Grenzgebietes" (MfS-Dienstanweisung 3175, S. 25). Damit ist eindeutig belegt, daß die HA VII in den siebziger Jahren den gesamten durch das Grenzgebiet fließenden Reiseverkehr zu kontrollieren hatte. 26 Denn obgleich es den westlichen DDR-Besuchern bzw. Transitreisenden strengstens verboten war, das Grenzgebiet zu betreten (oder in diesem Falle zu befahren), konnte man ihnen nicht ohne weiteres wie etwa den eigenen Bürgern den Zugang zum Grenzgebiet restriktiv verwehren: schließlich mußten sie notwendigerweise nach dem Passieren der GÜSt den Schutzstreifen bzw. das Grenzgebiet durchfahren, um überhaupt in das Landesinnere der DDR gelangen zu können; bzw. umgekehrt, um die DDR verlassen zu können. Folglich existierten regelrechte "Transitstraßen", die nach Möglichkeit auf dem verkehrstechnisch kürzesten Wege durch das Grenzgebiet von bzw. nach den GÜSt tUhrten. Diese Straßen galt es nun tUr die Mitarbeiter der HA VII durch "politisch-operative Einflußnahme" auf die DVP rigoros abzusichern, um die .. konsequente Durchsetzung der Grenzordnung " einschließlich der Verhinderung .. des unberechtigten Eindringens von einreisenden Personen in das Grenzgebiet" (MfS-Dienstanweisung 3175, S.28) durchzusetzen, selbst wenn sich diese Überwachung sämtlicher Grenzgebiets-Transitstraßen durch die HA VII aus mehreren Gründen recht aufwendig gestalten mußte. Denn weil es sich bei diesen Strecken häufig um historisch gewachsene und bis zur Errichtung des Grenzregimes intakte Haupt- und Verbindungsstraßen zwischen ost- und westwärts der Grenze gelegenen regionalen Zentren handelte, zweigten von ihnen zahlreiche Straßen, Wege und Pfade in die Gebiete und Ortschaften des Grenzgebietes ab. Außerdem waren die Durchfahrtsstraßen zwangsläufig mindestens ebenso lang wie das Grenzgebiet an diesem Abschnitt 26 Anfang der achtziger Jahre wurden einige Aufgabenfelder fllr die bei der Grenzsicherung beteiligten Hauptabteilungen neu verteilt. Darunter fiel teilweise auch die hier angesprochene Tätigkeit. Vgl. Petzold 1996, S. 355 f. 11*
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tief war, also etwa drei bis fUnf Kilometer oder je nach Straßenführung auch mehr. Die "politisch-operativen Vorbeugungsmaßnahmen" der HA VII beinhalteten ebenfalls die "Aufdeckung, Verhinderung und Bearbeitung von Erscheinungen der politisch-ideologischen Diversion und der gegnerischen Kontaktpolitik/-tätigkeit gegenüber Bewohnern des Grenzgebietes, insbesondere zur Aufklärung feindlicher Stützpunkte sowie zur Verhinderung staatsfeindlichen Menschenhandels und ungesetzlicher Grenzübertritte" (MfS-Dienstanweisung 3/75, S.25), also u.a. die Unterbindung jeglicher Kontakte zwischen Reisenden und der einheimischen Bevölkerung innerhalb des Grenzgebietes. Auf den ersten Blick erscheinen die Reisenden dabei als primär zu bearbeitende Zielgruppe. Ein genaueres Hinsehen offenbart aber das latent vorhandene Mißtrauen des MfS gegenüber der eigenen Grenzbevölkerung: Anscheinend war diese nicht dermaßen ideologisch gefestigt, als daß man sie "unbeaufsichtigt" in Berührung mit dem Klassenfeind kommen lassen durfte. Die Befürchtung, aus der "Kontakttätigkeit des Gegners" könne eine fluchtbegünstigende Beihilfe durch die Grenzbevölkerung entstehen, deutete im übrigen auf tatsächlich gemachte Erfahrungen hin. In der Tat dürften Z.B. westliche Schleuserbanden ein Interesse an Informationen über das Grenzgebiet gehabt haben, die sie natürlich am ehesten von Einheimischen bekommen konnten, die mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut waren. Durch die Verhinderung von Kontakten im Grenzgebiet versuchte man dieses Problem zu lösen. Ebenso wollte das MfS in diesem Zusammenhang die Grenzsoldaten von den westlichen Besuchern isolieren - hier stand das Schreckgespenst möglicher Fahnenfluchten im Raum. Bei allen Abwehrmaßnahmen stand wohl auch die nicht zu leugnende Furcht vor der Macht der Devisen (oder allgemein der westlichen Konsumartikel), die für Unruhe im zu sichernden Grenzgebiet hätten sorgen können, unausgesprochen im Hintergrund. Aber daß westliche Touristen, die aufweIchen Wegen auch immer - in das Grenzgebiet gelangt waren, nichts eiligeres zu tun hatten als sich konkrete Informationen über das Grenzregime (wie z.B. Streifenwege der Grenztruppen o.ä.) zu beschaffen, dürfte selbst so manchem MfS-Mitarbeiter nicht immer glaubhaft zu versichern gewesen sein, wenngleich diese Furcht bei den Verantwortlichen tatsächlich vorhanden war. Insgesamt zeigt diese Kriminalisierung des Reiseverkehrs abseits der Transitstraßen im Grenzgebiet exemplarisch auf, daß der gesamten Anlage des Grenzregimes unterschwellig eine immense Furcht der Machthaber vor dem eigenen Volk zugrunde lag. Daher gilt es an dieser Stelle festzuhalten, daß sich sämtliche hier geschilderten Maßnahmen des MfS zur Einflußnahme auf das DDR-Grenzregime auch und vor allem negativ auf die eigene Grenzbevölkerung auswirken mußten, obwohl man vorgab, gerade zu deren Schutz zu handeln!
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MfS-Befehl 56/62 zur Übergabe der Abteilung Aufklärung des Kommandos Grenze der NV A an die Hauptabteilung I des Ministeriums ftlr Staatssicherheit, vom 19. Januar 1962 (GVS 007150/62). [BStU, ZA, DokumentensteIle (DSt) Archivnummer 103253.] MfS-Befehl 40/64 zur weiteren Verbesserung der Zusammenarbeit und des Zusammenwirkens der an den Grenzübergangsstellen (KPP) eingesetzten Kräfte sowie einer einheitlichen Kommandoftlhrung, vom 16. Januar 1964 (GVS 008-27/64). [BA-MAP {1993}, GTÜ 33, BI. 165-174.] MfS-Befehl 31/72 über die Grenzaufklärung der Hauptabteilung I des Ministeriums ftlr Staatssicherheit, vom 14. Juli 1972 (GVS 008-419/72). [BStU, ZA, DSt 100682.] MfS-Dienstanweisung 3/75 über die politisch-operative Sicherung der Einreisen von Personen aus nichtsozialistischen Staaten und Westberlin und ihres Aufenthaltes in der DDR, vom 6. August 1975 (VVS 008-732/75). [BStU, ZA, DSt 101498.] MfS-3. Durchftlhrungsbestimmung zur Dienstanweisung 3/75 über die Gewinnung von Ersthinweisen aus der AntragsteIlung auf Einreise in die DDR durch und ftlr Bürger nichtsozialistischer Staaten und Personen mit ständigem Wohnsitz in Westberlin, vom 19. MlIrz 1980 (VVS 00088/80). [BStU, ZA, DSt 101498.] MfS-Schreiben (des Leiters der Bezirksverwaltung Magdeburg an die Leiter der Diensteinheiten) betr. Identifizierung und zentrale Registrierung derjenigen Bürger der DDR, die ungesetzlich die Grenze der UVR zu Österreich bzw. der SFRJ überschritten haben, vom 25. August 1989 (BdL Magdeburg 722/89A). [Dokumentationszentrum des Bürgerkomitees »15. Januar« Berlin.] MfS-Polizeiverordnung über die Einftlhrung einer besonderen Ordnung an der Demarkationslinie, vom 27. Mai 1952. Abdruck in: Bundesministerium ftlr gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Die Sperrmaßnahmen der Sowjetzonenregierung an der Zonengrenze und um Westberlin, Bonn 1953, S. 88-89. MfS-Polizeiverordnung über die Verstärkung des Schutzes der Ostseeküste der Deutschen Demokratischen Republik, o.D. (inkraftgetreten am 7. Juni 1952). [BStU, ZA, DSt 102101.] Operativer Plan der Handlungen der Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland, vom 5. November 1946 (Geheime Kommandosache). Abdruck in: Einheit, 32. Jg. (1989), H. 6, Berlin (Ost), S. 583-589. Die Organisationsstruktur des Ministeriums ftlr Staatssicherheit 1989. Vorläufiger Aufriß nach dem Erkenntnisstand von Juni 1993. Hrsg. vom Bundesbeauftragten ftlr die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1993. Petzold, Frank: Zu einer elementaren MfS-Dienstvorschrift der achtziger Jahre ftlr das Grenzregime. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert - der Fall DDR. Berlin 1996, S. 325-360. Richter, Hans-JürgenlKunckel, Karl-Heinz: Schild und Schwert der Partei. Das Wirken des Ministeriums ftlr Staatssicherheit - insbesondere im Bezirk Karl-Marx-Stadt. Chemnitz 1992. Richter, PeterlRösler, Klaus: Wolfs West-Spione. Ein Insider-Report. Berlin 1992. Rittmann, Thomas: Die meisten scheiterten weit vor der Grenze. In: Die Welt vom 29. Juli 1991a, S.4. Rittmann, Thomas: Nur die Uniformen waren die gleichen. Das Sagen an der Grenze hatten StasiKontrolleure. In: Die Welt vom 6. August 1991b, S. 4.
MfS-Einfluß auf das DDR-Grenzregime
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Sauer, HeinerlPlumeyer, Hans-Otto: Der Salzgitter-Report. Die Zentrale Erfassungsstelle berichtet über Verbrechen im SED-Staat. Esslingen, München 1991. Schell, ManftedlKalinka, Wemer: Stasi und kein Ende. Die Personen und Fakten. Frankfurt am Main, Berlin 1991. 2. Aufl. Schützsack, Axel: Exodus in die Einheit. Die Massenflucht aus der DDR 1989. Meile 1990. Selitrenny, Rita/Weichert, Thilo: Das unheimliche Erbe. Die Spionageabteilung der Stasi. Leipzig 1991. Siebenmorgen, Peter: "Staatssicherheit" der DDR. Der Westen im Fadenkreuz der Stasi. Bonn 1993. Stiller, Wemer: Im Zentrum der Spionage. Mainz 1986. 5., verb. Aufl. Voigt, Dieter: Mord. Eine Arbeitsmethode des Ministeriums rur Staatssicherheit. In: Politische Studien, 47. Jg. (1996), H. 349, München, S. 43-67. Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen des MfS zur "politisch-operativen Arbeit". Hrsg. vom Bundesbeauftragten rur die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1993.
Sabine Gries
INOFFIZIELLE MITARBEITER DES MINISTERIUMS FÜR STAATSSICHERHEIT DER DDR - TÄTER ODER OPFER? Eine Analyse von Diplomarbeiten und Dissertationen der Juristischen Hochschule Potsdam I. Einleitung "Die konsequente Durchsetzung und Erfiillung der Hauptaufgaben des Ministeriums ftir Staatssicherheit bedingt, daß der Kampf des Ministeriums ftir Staatssicherheit gegen den konspirativ tätigen Klassenfeind vom Ministerium ftir Staatssicherheit selbst mit konspirativen Mitteln und Methoden geftihrt wird, und zwar mit solchen konspirativen Mitteln und Methoden, die der Konspiration des Feindes in jeder Phase des Kampfes überlegen sind. Einer der wesentlichen Faktoren, die unsere Überlegenheit über den Feind begründen, ist schon die Tatsache, daß wir im wesentlichen mit Personen zusammenarbeiten, bei denen die Übereinstimmung ihrer individuellen mit den gesellschaftlichen Interessen bereits bestimmende Triebkraft ihres Handeins ist beziehungsweise immer mehr wird, beziehungsweise daß in der Zusammenarbeit auf die Herstellung dieser Übereinstimmung Einfluß genommen wird" (Seidler/Schmidt 1968, S. 97 f.).
Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) war in der DDR die wichtigste Institution rur den persönlichen und beruflichen Auf- und Abstieg eines jeden Menschen, rur den eines ruhrenden Kaders ebenso sehr wie rur den des sozialistischen Durchschnittsbürgers. Diese Einrichtung allein verfUgte nämlich über alle Informationen, die das private, berufliche und öffentliche Leben des Einzelnen betrafen. Dabei nahm das Selbstbild des MfS bisweilen groteske Formen an. Nicht nur, daß diese Institution sich als "Schwert und Schild" der Partei (gemeint ist der SED, obwohl es in der DDR auch noch andere Parteien gab) ansah und als Bollwerk gegen "Kapitalismus" und "Imperialismus", sie glaubte sich augenscheinlich auch eng mit dem Staatsvolk der DDR verbunden. "Die anläßlich des 20. Jahrestages der Bildung des MjS aus allen Kreisen und Schichten der Bevölkerung der DDR übermittelten Grüße und Geschenke beweisen erneut die tiefe Verbundenheit unserer Organe mit den Werktätigen und zeugen vom festen Vertrauen, von der Achtung und Liebe unserer Menschen zu
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ihren Sicherheitsorganen. Die entscheidende Voraussetzung for die erreichten Erfolge war die zielstrebige und klare Führung des MjS durch unsere marxistisch-leninistische Kampfpartei" (Felber 1970, S. I).
Die Wirklichkeit sah indes anders aus. Für die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS war jeder Mensch - und damit auch jeder DDR-Bürger - zunächst einmal eine potentielle Gefahr fllr den Sozialismus, zumindest solange, bis das Gegenteil explizit bewiesen war. Der durchschnittliche Bürger der DDR wurde in all seinen Lebensausprägungen allein aus dem Blickwinkel des vorgeblich ständig fortschreitenden Sozialismus betrachtet und in vorbildlicher Form so dargestellt: "So hat ein Bürger unserer Republik gute Arbeitsergebnisse in der Produktion und in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens vollbracht, weil er eine progressive Einstellung zu unserer sozialistischen Entwicklung besitzt und mit dieser sozialistischen Entwicklung einverstanden ist. Aus seiner inneren Überzeugung heraus erwuchs bei ihm das Interesse und die Bereitschaft, sich aktiv an der Erhaltung des Friedens und am zuverlässigen Schutz unserer sozialistischen Staatsmacht durch seine Mitarbeit in der Kampfgruppe sowie durch sein Auftretenfor die Erhöhung der revolutionären Wachsamkeit im Betrieb und in der Öjfontlichkeit zu beteiligen. Seine Bereitschaft, auch die Organe der Deutschen Volkspolizei bei der Auj1cJärung und Bekämpfung von Straftaten der allgemeinen Kriminalität zu unterstützen, resultierte aus diesen vorgenannten Erwägungen. [... ] An Hand dieser Faktoren kann die Einschätzung getroffen werden, daß bei diesem Bürger die wesentlichen individuellen Interessen mit den objektiven Erfordernissen beziehungsweise gesellschaftlichen Interessen einschließlich des spezifischen gesellschaftlichen Interesses am Schutz unserer sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung - übereinstimmen" (Seidler/ Schmidt 1968, S. 85 f.).
Alles, was auch nur geringfllgig von diesem MfS-Idealbild abwich oder sonst aus dem vorgegebenen sozialistischen Rahmen fiel, galt als letztlich staatsgefährdend: unerwünschte persönliche Neigungen; Westkontakte; Auffassungen über den Sozialismus, die nicht strikt denen der SED entsprachen; unbequemer Ehrgeiz; individuelle WUnsche; die Sehnsucht, etwas besonderes zu sein, eben ein Individuum und nicht nur das Mitglied eines sozialistischen Kollektivs und vieles andere mehr (siehe dazu ausfllhrlich laskulski et al. 1985 mit vielen Beispielen).1 laskulski et al. (1985) ruhren zu diesem Themenkomplex unter anderem an: ,,pseudopazifistische und staatlich unabhtingige Friedensaktivittiten" (ebd., S. 258), "Hetzkampagnen gegen die staatliche Ordnung" (ebd.), "Mißbrauch von Umweltschutzproblemen" (ebd.), ,,Forderungen nach 'alternativen Lebensformen' als Einzelaktivitäten" (ebd.); über Jugendliche, aber auch über Erwachsene vor allem aus der Schicht der Intelligenz sagen laskulski et al. aus:
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Das bedeutet letzten Endes nichts anderes, als daß jede Lebensäußerung, jede Handlung oder Unterlassung, die mit dem sozialistischen Weltbild oder Wunschdenken nicht konfonn ging, in der DDR zunächst einmal als krimineller Akt einzustufen und zu behandeln war (siehe dazu GrieslMeck 1993 und Meck/GriesNoigt 1996; aus DDR-Sicht Lekschas et al. 1983). Dabei kam es bei der Einschätzung der Schwere dieser "Kriminalität", der einzelnen Taten oder Unterlassungen weniger auf den durch sie angerichteten Schaden an (wenn ein solcher überhaupt vorhanden war), als vielmehr auf die vorgeblich dahinterstehenden sozialismusfeindlichen Motive, den Akt der Blasphemie, den Tabubruch, die Gotteslästerung. "Die ganze DDR glich einem Riesentempel pseudoreligiösen Kults: gottgleiche Führerverehrung, 'Heiligenbilder' und Zitate ihrer Lehrer, Prozessionen, Massenrituale, Gelöbnisse, strenge moralische Forderungen und Gebote, verwaltet von Propagandisten und Parteisekretären mit priesterlicher 'Würde '" (Maaz 1990, S. 11).
Um diese überall und ständig vennutete Gefahr - nämlich als eigenwilliges Individuum möglicherweise eine Zugriffs- und Einflußmöglichkeit rur den nach MfS-Ansicht ständig lauernden" imperialistischen" (Klassen)Gegner zu bieten - schon früh zu erkennen und damit quasi im Keim ersticken zu können, erschien es den Mitarbeitern des MfS als notwendig, das Leben jedes Einzelnen unter ständiger Kontrolle zu halten. Das MfS nahm deshalb Einfluß auf praktisch jede Lebensausprägung in der DDR (oder versuchte dieses zumindest), nicht nur auf politisch brisante Bereiche. Eine besondere Rolle in diesem Bereich der durchgängigen Kontrolle, Regelung und Gängelung, der Bespitzelung und der Sanktionierung unerwünschten Verhaltens kommt den Inoffiziellen Mitarbeitern des MfS, den IM zu. Diese waren keine hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums rur Staatssicherheit, sondern hatten sich zu einer quasi nebenamtlichen, verdeckten und konspirativen Mitarbeit bereit erklärt. "In den 80er Jahren war der durchschnittliche IM meist männlich und zwischen 25 und 40 Jahren alt. Der Anteil der Frauen lag bei zehn, der der Minderjährigen bei etwa einem Prozent. In der Regel hatte sich der IM schriftlich zur 'Zusammenarbeit' verpflichtet, zumeist aus politischer Überzeugung und nur selten aus materiellen Interessen, da höhere Geldbeträge normalerweise nicht in Aussicht gestellt und auch nicht gezahlt wurden" [zumindest nicht an IM, die innerhalb der DDR operierten, bei Angeworbenen im "Nichtsozialistischen Wirt-
eine "ideologisch negative Wertung[ ... ] ist das Empfinden, unfrei zu sein" (ebd., S. 319). ,,Andere sprachen von der DDR als dem langweiligsten Staat der Welt" (ebd., S. 329). Die entsprechenden "Täter" werden bezeichnet als: ,,sozialismusverbesserer, Sektierer, Friedensapostel, lebensfremde Idealisten, Querulanten bis hin zu Terroristen" (ebd., S. 328).
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schaftsgebiet" sah das bisweilen anders aus; S.G.] (Müller-Enbergs 1996a, S. 303; siehe auch ders. 1996b passim).
Eine solche Erklärung zur Zusammenarbeit mit dem Ministerium filr Staatssicherheit - handschriftlich (!) - konnte etwa folgende Darlegungen neben der eigentlichen Verpflichtung enthalten: "Bei der Abgabe der Verpflichtung bin ich mir bewußt, daß das Ministerium filr Staatssicherheit ein zuverlässiges und der sozialistischen Einheitspartei Deutschlands [also nicht etwa dem Staat DDR; S.G.] treu ergebenes Organ der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik ist, in deren Auftrag es wichtige politisch-operative und militärische Aufgaben zur Festigung unserer Arbeiter- und Bauern-Macht und zur Sicherung des Friedens durchfilhrt; daß das Ministerium filr Staatssicherheit als ein konkretes Organ der Arbeiter- und Bauern-Macht zum Schutze und zur Sicherung der umfassenden Aufgaben des Sozialismus und zum Kampf gegen die Anschläge der Feinde des Friedens und des Sozialismus geschaffen wurde." Heute jedoch stellen sich viele inzwischen enttarnte ehemalige IM als Opfer einer filr sie undurchschaubaren Maschinerie dar, als Unwissende, die insgeheim "abgeschöpft" wurden, ohne zu ahnen, was da mit ihnen geschah und mit wem sie zusammenarbeiteten, als ausgenutzte Naive, die nichts weiter suchten als eine Aufgabe mit dem Flair des Abenteuers oder auch nur ein Gespräch auf freundschaftlich-privater Ebene. Der IM als Opfer, nicht als Täter - so stellt er sich heute oft dar. Möglicherweise enthält dieses (Selbst)Bild als Opfer einer übermächtigen Institution durchaus einen wahren Anteil, wenn dieser den IM zu ihrer aktiven Zeit in der Regel auch nicht bewußt gewesen sein mag. Wie aber schätzten die hauptamtlichen Mitarbeiter die IM und ihren Nutzen ein, wie sah die MfS-eigene "Wissenschaft" - vertreten durch Diplomanden und Doktoranden der Juristischen Hochschule Potsdam (JHS) - die inoffiziellen Mitarbeiter und ihren Wert filr die Aufrechterhaltung des Sozialismus? Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, soll kurz auf die Juristische Hochschule Potsdam und ihre Aufgaben hingewiesen werden.
11. Die Juristische Hochschule Potsdam Die Juristische Hochschule Potsdam, gegründet im Jahre 1965, war die zentrale Forschungs- und Bildungsstätte des MfS. Der Rektor dieser Hochschule sowie seine Stellvertreter wurden durch Befehl des Ministers filr Staatssicherheit eingesetzt. Die Studien-, Forschungs- und Arbeitspläne sowie die Lehrprogramme mußten ebenfalls vom Minister filr Staatssicherheit bestätigt werden (ausfilhrlich dazu Förster 1995, S. 15 ff.). Die Hochschule war formal der Abteilung Kader und Schulung des MfS bei erheblichem Mitspracherecht Mielkes
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unterstellt. Im Jahre 1989 waren an dieser Einrichtung 758 Mitarbeiter tätig, etwa die Hälfte von ihnen im Lehr- und Wissenschaftsbereich als Assistenten, Oberassistenten, Dozenten und Professoren. Dieser Bereich bestand im Jahre 1989 - nach Eingliederung der Schule der Hauptverwaltung Aufklärung - aus vier Sektionen mit 32 Lehrstühlen sowie mehreren selbständigen wissenschaftlichen Abteilungen und Instituten (ebd., S. 12 ff.). Das Ziel des Hochschulstudiums war die Heranbildung von "Akademikern" filr den Geheimdienst. Die Zulassungsbedingungen zum Direktstudium an der JHS waren streng: 1. Delegierung durch die Diensteinheit, 2. Abitur oder Berufsausbildung mit Abitur, 3. Mitgliedschaft in der SED, 4. erfolgreiche Absolvierung eines studienvorbereitenden Prozesses oder eine mindestens einjährige politisch-operative Tätigkeit im ~fS; 5. ein Eignungsgespräch, das vor allem der Überprüfung der ideologischen Zuverlässigkeit des Kandidaten diente. Das Höchstalter filr die Studienanflinger lag bei 25 Jahren. Der Studienbetrieb selbst war strengen Vorschriften und Reglementierungen unterworfen und wurde durchgehend nach militärischen Gesichtspunkten gestaltet. Die Studenten galten als Offiziersschüler, der Unterricht wurde als Dienst bezeichnet und war militärisch reglementiert; das Tragen von Uniform war Pflicht. Während des Studiums fanden Berufspraktika statt, die die Studenten vor allem in die Arbeit mit IM einfilhrten (Treffen mit IM, Vor- und Nachbereitung solcher Treffen, Anfertigung von Berichten etc.). Das vierjährige Hochschulstudium schloß ab mit der Anfertigung und Verteidigung der Diplomarbeit und der Verleihung des akademischen Grades "Diplom-Jurist". Die Anzahl der Absolventen betrug insgesamt ca. 3.000 und war damit im Vergleich zur Anzahl der Mitarbeiter des MfS (mehr als 90.000) recht gering. Etliche dieser an der Juristischen Hochschule Potsdam abgefaßten Diplomarbeiten beschäftigen sich mit der Auswahl und der Führung von IM und bilden gemeinsam mit einigen thematisch verwandten Dissertationen die Grundlage der vorliegenden Studie. Die JHS hatte das Recht zur Verleihung des akademischen Grades Dr.jur. (Promotion A) sowie des Grades Dr.sc.jur. (Doktor der juristischen Wissenschaften; Promotion B), der in der DDR 1968 die Habilitation ablöste und wie diese filr eine wissenschaftliche Laufbahn vorgesehen war. In den 25 Jahren ihres Bestehens sind an der JHS 174 Promotionsarbeiten geschrieben worden. Die Diplom- und Promotionsarbeiten wurden einzig im Sinne MfS-relevanterForschung vergeben. Die Wissenschaftlichkeit muß bei den meisten dieser Arbeiten in Frage gestellt werden. Sie leisten keinen Beitrag zur juristischen Forschung, sondern haben in der Regel die Theorie und Praxis der "operativen"
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Arbeit zum Thema, was bei den Diplomarbeiten, die in der Regel zwischen 30 und 60 Seiten umfassen, noch stärker auffällt als bei den Dissertationen, die zumeist im Kollektiv (bis zu 10 Doktoranden!) verfaßt wurden. Im Fachschuldirekt- und im Fernstudium mit dem Abschluß Fachschuljurist oder Staatswissenschaftier wurden über 10.000 Studierende, die vor allem auf der Ebene eines Sachbearbeiters tätig waren, ausgebildet. Von der Weiterbildung wurden mehr als 13.000 Teilnehmer erfaßt. In der Öffentlichkeit war über die Aufgaben der Juristischen Hochschule nichts bekannt, nicht einmal die Existenz dieser Einrichtung wurde erwähnt. So war sie auch nicht im Verzeichnis der Hochschulen der DDR enthalten.
III. Die Auswahl und Führung inoffizieller Mitarbeiter (IM) Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums fUr Staatssicherheit konnten nur so lange erfolgreich im Sinne ihres Auftraggebers "operieren", wie ihr IM-Status ihrer alltäglichen Umwelt gegenüber geheim blieb. Denn man muß sich die Tatsache vor Augen halten, daß es auch überzeugte Sozialisten - in der DDR und anderswo - nicht schätzten, bespitzelt und ausspioniert zu werden. Wichtigste Grundlage der Arbeit der IM war deshalb "die umfassende Gewährleistung der Konspiration" (Wardezki 1972, S. 43).
"Die Geheimhaltung und Wahrung der Konspiration ist Voraussetzungfür - eine hohe Qualität der Zusammenarbeit mit den IM sowie der von IM zu lösenden operativen Aufgaben; - die Verhinderung des Eindringens des Feindes in die Konspiration des MjS; - die größtmögliche Sicherheit des IM sowohl im Rahmen der von ihm zu lösenden operativen Aufgaben, als auch im persönlichen Lebensbereich; - ein enges Vertrauensverhältnis zwischen dem operativen Mitarbeiter und dem IM" (ebd.). Was an dieser Stelle beinahe fUrsorglich klingt, war aber in Wirklichkeit nur dem alles durchdringenden Mißtrauen des MfS geschuldet. So sollten auch die einzelnen IM weder sich untereinander kennen noch genau wissen, welchem Zweck und Ziel die ihnen übertragene Aufgabe letztlich galt und wie und wozu die von ihnen erbrachten Informationen vom MfS ausgewertet, gebündelt und weiterbenutzt wurden. "Ausgangspunkt für die Ordnungs- und Geheimhaltungsprinzipien ist, daß jeder nur das wissen und kennen darf, was er unbedingt zur Erfüllung der ihm übertragenen Aufgaben benötigt" (ebd., S. 46).
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Dieser Aspekt konspirativer Arbeit ist auch heute noch von höchster Wichtigkeit, belegt er doch, daß die meisten ehemaligen IM sich subjektiv völlig im Recht ruhlen, wenn sie beteuern, nur unwesentliche und letzten Endes "hannlose" Kleinigkeiten weitergegeben und deshalb kaum etwas Verwerfliches getan zu haben. Es kam jedoch auf die Bündelung der Kleinigkeiten an, auf die Schlüsse, die vom MfS aus ihnen gezogen wurden und auf die Folgen, die sich letzten Endes aus diesen Schlüssen rur die von "operativen Vorgängen" Erfaßten, ihre Familien, ihre Freunde und ihre gesamte Umwelt ergaben. Auch was die Werbung der IM angeht, so ergibt sich aus Darstellungen interner MfSForschung (in diesem Falle im Gegensatz zu den meisten Diplom- und Doktorarbeiten der JHS einmal wissenschaftlich annehmbar solide) ein doch anderes Bild, als es heute gerne gezeichnet wird. Augenscheinlich hatte das MfS keine Schwierigkeiten, Kandidaten rur die Mitarbeit zu gewinnen, wenn es selbst an die entsprechenden Bürger herantrat. Wenn auch offensichtlich bedauert wird, daß so wenige DDR-Bürger selbst den Weg zum MfS fanden, so scheint es sich doch eher um einen Ausdruck von Schwellenangst gehandelt zu haben als um einen Beweis rur die grundsätzliche Ablehnung von Spitzeltätigkeit. Sozusagen privat hatten sich etliche der späteren IM schon im staatskonformen Sinne in ihrem privaten und gesellschaftlichen Umfeld umgesehen. "Aus allen diesen Gründen erklärt sich auch, daß die Kontaktaufnahme mit dem Ministerium für Staatssicherheit nur bei 4,6 % der befragten inoffiziellen Mitarbeiter durch die inoffiziellen Mitarbeiter selbst erfolgte, bei 91,5 %jedoch durch die operativen Mitarbeiter und bei 1,9 % über andere Sicherheitsorgane. Dem steht gegenüber, daß bereits vor der Anwerbung durch das Ministerium für Staatssicherheit 11,2 % der befragten inoffiziellen Mitarbeiter von feindlichen Handlungen Kenntnis hatte, 19,6 % Verdacht über feindliche Tätigkeit von anderen Personen besaßen und bei 12,7 % Kenntnis über begünstigende Bedingungen für feindliche Handlungen, die aus Schwierigkeiten und Mißständen im Arbeitsgebiet resultierten, vorlag. Auch das bei einem wesentlichen Teil dieser inoffiziellen Mitarbeiter bereits damals vorhandene sozialistische Bewußtsein - eine Tatsache, die sich aus den Antworten der Befragten und den Einschätzungen der operativen Mitarbeiter ergibt - reichte also nicht aus, um selbst den Weg zum Ministerium für Staatssicherheit zu finden" (Seidler/Schmidt 1968, S. 87; eine Grundgesamtheit, auf die sich die Prozentzahlen beziehen, wird in der Arbeit nicht angegeben). Über jeden möglichen IM-Kandidaten wurde ein mehrseitige Auskunftsbericht erstellt, den Wardezki in seiner JHS-Dissertation »Die Dokumentation und Auswertung operativ bedeutsamer Informationen zu IM - eine wesentliche Grundlage rur die Erhöhung der Wirksamkeit des IM-Systems« aus dem Jahre 1972 ausruhrlich darstellt. Dieser Personalbogen beschäftigte sich detailliert
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mit dem Vorleben und der gegenwärtigen Situation des Entsprechenden. Interessanterweise beginnt der Bogen - noch bevor er sich mit den Personaldaten beschäftigt - mit den beiden Rubriken "Deckname" und "Pseudopersönlichkeit". Hier zeigen sich Konspiration und Legendierung von Anfang an. Neben den Motiven und vor allem dem "sozialistischen Bewußtsein" der IM-Kandidaten interessierten das MfS auch differenziert die Schulbildung des präsumptiven oder bereits beschäftigten IMs, seine Partei- und Vereinsmitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft ("Grund für Austritt/Ausschluß", Wardezki 1972, Bd.2, S.9), politische Verfolgung, Vorstrafen, Wehrdienst, Gefangenschaft, Gesundheitszustand, Besitzverhältnisse und vieles andere mehr. Was geschah nun mit den Erkenntnissen, die das MfS über den IM gewonnen hatte? "Die Erfollung der dem MjS gestellten Aufgaben macht es notwendig, die im Prozeß der Gewinnung, der Zusammenarbeit und der Überprüfung mit IM gewonnenen Informationen zu dokumentieren. Die Dokumentation von operativ bedeutsamen Informationen zu IM beinhaltet im wesentlichen das Sammeln, Ordnen, schriftliche Fixieren und Auswerten der gewonnen Informationen nach bestimmten Prinzipien in zweckmäßigen Formen. Die Informationen zu IM werden im wesentlichen erarbeitet: - im Prozeß der Suche, Auswahl, Überprüfung und Gewinnung des Kandidaten; - durch die Analyse sowie Einschätzung der Zusammenarbeit mit dem IM; - durch die ständige planmäßige Überprüfung des IM im Prozeß der Zusammenarbeit, bei der Lösung politisch-operativer Aufgaben; - durch spezielle Kontrollmaßnahmen im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich des IM" (Wardezki 1972, S. 61).
Über die Effektivität der einzelnen IM ist damit noch nichts ausgesagt, aber es zeigt sich, daß sie unter ständiger Kontrolle des MfS standen und somit kaum Möglichkeiten hatten, etwa in einer oppositionellen Auffassung kontraproduktiv zu arbeiten. Auch diese Tatsache ist zu bedenken, wenn heute von Seiten ehemaliger IM oder ihrer Verteidiger Entschuldigungen in diesem Sinne auftauchen. Über jeden informellen Mitarbeiter wurde eine eigene Akte geführt, die fortlaufend ergänzt wurde und auf dem neuesten Stand zu halten war. "IM-Akten sind wesentlichstes Arbeits- bzw. Dokumentationsmittel zur Persönlichkeit des IM und seine [sie!] Arbeit. Die Personal- und Arbeitsakte der IM ist ein wichtiges Mittel, um Informationen über die Entwicklung des IM von der Suche, Auswahl, Überprüfung, Gewinnung bis einschließlich der Zusammenarbeit, die Ergebnisse und den aktuellen Stand der Überprüfung des IM, seiner operativen Fähigkeiten, Möglichkeiten, seiner Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und die erzielten Arbeitsergebnisse zu dokumentieren. Damit ist bei systematischer und exakter Führung der Personal- und Arbeitsakte eine ständige und aktuelle
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Grundlage fir die analytische Tätigkeit, den zielgerichteten Einsatz des IM unter Nutzung aller seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten, die Gewährleistung der Geheimhaltung und Sicherheit, die Durchsetzung der Konspiration und die Anleitung, Erziehung und Kontrolle durch den operativen Mitarbeiter und den Leiter gegeben" (ebd., S. 67 f.).
Jeder IM sollte möglichst effektiv eingesetzt werden. Dazu dienten auch die detaillierten Aussagen, die der Auskunftsbericht zu Fähigkeiten und Gefährdungen des jeweiligen IM machte. Von hoher Wichtigkeit war dabei etwa die Tatsache, ob der IM bereits" in Fahndung des Gegners er/aßt" war - aus welchem Grunde auch immer. Ein solcher IM war ftlr einen Auslandseinsatz nicht mehr zu verwenden. Im Zusammenhang mit seinen IM interessierte das MfS praktisch alles: privater Umgang (" Mitglied verbotener Glaubensgemeinschaften, Verbindung zu negativen Jugendlichen"), Hobbies ("Hundezüchter"), spezielle Kenntnisse (" Fahrerlaubnisse, Fremdsprachenkenntnisse ") und Befllhigungen (" Giftschein, Jagderlaubnis "; alle Beispiele siehe ebd., S. 115 f.). Aus Direktiven rur IM im Reisekadereinsatz ist zu ersehen, daß die Mitarbeiter auch entsprechend ihrer sexuellen Neigungen und Vorlieben eingesetzt wurden (siehe dazu auch Gries 1995, besonders S. 162 ff.). Von hohem Interesse waren für das MfS auch die Familienverhältnisse seiner IM, vor allem die Tatsache, ob Familienangehörige von der Tätigkeit des IM wußten oder vielleicht selbst als IM eingesetzt werden konnten. Zweifel an ihrer eigenen Rolle scheinen den IM nur selten gekommen zu sein - zumindest nicht während ihrer "aktiven" Zeit. Die JHS-Dissertation von Seidler/Schmidt belegt, daß die von ihnen befragten inoffiziellen Mitarbeiter nicht nur stolz auf ihre Aufgaben waren, sondern sich offensichtlich auch als ganz besondere Menschen, als eine sozialistische Elite fühlen durften, denen es bereits gelungen war, die letzten Reste bürgerlicher Ansichten zum Wohle des großen sozialistischen Ganzen abzulegen. "Diejenigen inoffiziellen Mitarbeiter, die sich zum Verständnis ihrer wesentlichen individuellen Interessen erheben und erkannt haben, daß diese mit den Interessen aller Werktätigen voll und ganz übereinstimmen, werden zu wirklich kämpferischen Persönlichkeiten. Sie finden ihre Persönlichkeit entwickelt und bestätigt durch die aktive Teilnahme am Kampf gegen die Feinde zum Schutze der souveränen sozialistischen Republik. Sie haben in der Tat diese engen bürgerlichen Auffassungen von persönlichen Interessen und persönlichem Glück überwunden. Wir konnten bei unseren Untersuchungen nicht selten feststellen, daß die inoffiziellen Mitarbeiter großes Interesse an der Zusammenarbeit und an den bei den Zusammenkünften zur Sprache kommenden politisch-ideologischen Problemen zeigten, ihrer Dankbarkeit gegenüber den operativen Mitarbeitern des Ministeriums fir Staatssicherheit Ausdruck gaben, weil diese ihnen durch ihre klare ideologische Position und ihr hohes politisches Wissen ent12 Merlens I Voigl
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scheidend geho/fon haben, diese Übereinstimmung zwischen den wesentlichen individuellen Interessen und den objektiven Erfordernissen zu begreifen und ihre Persönlichkeit im Sinne des Fortschritts prägten" (ebd., S. 91).
Unter diesem Blickwinkel war es auch nicht verwunderlich, daß das MfS wohl keine übermäßig großen Probleme damit hatte, Kinder und Jugendliche als IM zu werben, zumal wenn sie aus Elternhäusern stammten, die nach DDRAnsicht als "positiv" im sozialistischen Sinne eingeschätzt wurden. Heutige Schätzungen gehen davon aus, daß mindestens sechs bis zehn Prozent der IM zwischen vierzehn und fünfundzwanzig Jahre alt waren (Schnee 1996; Fuchs 1996, S. 13). BehnkelWolf (1996, S. 141) eruierten aus ihnen zugänglichem Material fünf Typen von Verhalten bei jugendlichen IM: 1. Ideologische ZustimmunglÜberzeugte Kooperation 2. Moralische Indifferen:zJNormative Kraft des Faktischen 3. Erpressung/Tauschgeschäft 4. Vorteilsnehmer 5. Gestörtes Vertrauen Bei den erwachsenen IM dürfte die Motivation zur Mitarbeit nicht grundlegend anders strukturiert gewesen sein. Was sagen diese fünf Kategorien aber nun im einzelnen über die IM aus? Auf ideologische Zu- und Übereinstimmung bei einem anzuwerbenden IM zu stoßen, bot für das MfS sozusagen den Idealfall einer Beziehung zu einem inoffiziellen Mitarbeiter. Dieser war ein überzeugter Anhänger der Staatsideologie und stammte in der Regel auch aus einem im sozialistischen Sinne "positiven" Elternhaus. Handelte es sich bei dem IM um einen Jugendlichen, so konnte der Führungsoffizier in der Regel sicher sein, daß dessen Eltern mit der Anwerbung ihres Kindes einverstanden waren und ein solches Vorhaben unterstützten. Die Erziehungsideale kommunistischer Kaderfamilien waren: .. Unterordnung, Disziplin, Anstrengung und Leistung. Letztendlich war der Grad der charakterlichen Deformierung der Maßstab for die Karriere im Staats- und Parteiapparat, aber auch for alle leitenden Posten innerhalb des gesellschaftlichen Lebens. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil selbst die Prominenz in Kunst, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Sport - alle also Leistungsträger der Gesellschaft - den Unterwerfungsakt unter die Linie der Partei mit allen deformierenden Auswirkungen auf die Seele und Moral vollziehen mußten" (Maaz 1990, S. 18).
Ein erwachsener IM mit einem ähnlichen ideologischen Hintergrund prädestinierte sich für besonders schwierige Aufgaben, etwa als Kontaktperson eines IM im OG (= Operationsgebiet; gemeint ist hier in der Regel die Bundes-
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republik Deutschland, siehe dazu ausführlich Bürkholz 1986 passim).2 Weitaus häufiger dürften jedoch die IM der zweiten hier vorgestellten Kategorie angehört haben, zählten also zu den Menschen, die sich der "Normativität des Faktischen" unterwarfen. Für sie war das MfS einfach die Macht im Staate, an der niemand vorbeikam. Was dieses Ministerium plante und anordnete, hatte zu geschehen und wurde weitestgehend auch akzeptiert. Ein Werbungsversuch des MfS war vor allem auch schmeichelhaft und bot zudem dem präsumptiven IM die Gelegenheit, selbst - wenn auch nur am Rande - zu den Mächtigen zu gehören, das Gefühl, eine besondere Rolle einzunehmen, was gerade vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Gleichmacherei in der DDR als Motiv nicht vernachlässigt werden darf. Mit der Rolle, die das MfS in der DDR spielte, setzten sich diese IM in der Regel ebensowenig auseinander wie mit ihrer eigenen. Anders sah es bei der dritten Gruppe von informellen Mitarbeitern aus. Hier wurden häufig (geringfügig) Vorbestrafte oder sozial unangenehm Aufgefallene mit einem Hinweis auf Schuld und Wiedergutmachung angesprochen. Das galt für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen, war aber im Hinblick auf Jugendliche besonders perfide. Jugendliche, die als kleinkriminell oder als in anderer Hinsicht "störend" ungut aufgefallen waren, gerieten rasch ins Blickfeld des MfS (siehe dazu ausführlich Fienbork 1996). Da die MfS-Mitarbeiter - mit oder ohne eine entsprechende Legende - keine Hemmungen hatten, das Umfeld eines solchen Jugendlichen (Polizei, Schule, Elternhaus, Ärzte etc.) ohne Rücksicht auf auch in der DDR verbriefte Rechte zu durch-
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"Die legalen Reisemöglichkeiten des IM in das OG/BRD müssen vorhanden sein bzw. Geschaffen werden können und müssen kurzfristige Einsätze, bedingt durch die Erfordernisse von Auftragsterminen, ermöglichen" (Bürkho1z 1986, S. 16). "Der IM muß den physischen und psychischen Bedingungen und Anforderungen, welche aus - den Reisewegen, einschließlich der Grenzkontrollen, - den allgemeinen Regimebedingungen am Aufenthaltsort im OG [Operationsgebiet; S.G.], - den speziellen Aufenthaltsbedingungen beim IM/OG und dem Bekanntwerden in seinem personellen Umfeld, - der Realisierung operativer AufgabensteIlungen, - den möglichen Konfrontationen mit gegnerischen Organen oder Kräften entstehen, in jeder Beziehung gewachsen sein" (ebd., S. 17). "Die Zuverlässigkeit und operative Ehrlichkeit des IM muß auf der Grundlage eines Überprüfungsplanes tiefgründig geprüft und gegeben sein. Sein politisch-ideologisches Vertrauensverhältnis zum MjS und Charaktereigenschaften, wie Disziplin, Einsatzbereitschaft, Mut, Risikobereitschaft, Standhaftigkeit, Fähigkeiten in der politisch-ideologischen Erziehungsarbeit und der Arbeit mit Menschen überhaupt sind wichtige GrundvoraussetzungenJür die allseitige qualitätsgerechte Erfollung der im OG zu realisierenden Aufgaben" (ebd., S. 18).
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forschen,3 fanden sie meistens einen Anhaltspunkt, wie der entsprechende Kandidat zu beeinflussen war, wenn man zu "operativer Tätigkeit" gerade seine Person brauchte. Fienbork (1996) zeigt am Beispiel eines von ihm Michael genannten Schülers, wie eine solche Werbung vor sich ging. Aus dem Bericht wird zitiert: "... im Gespräch weiter entwickelnd wurde dem Kandidaten dargelegt, wie er die Sicherheitsorgane seinerseits unterstützen kann. Der Kandidat zeigte keine ablehnende Haltung und äußerte von sich heraus, daß er damit seine bisherigen Handlungen gutmachen will. Der Kandidat wurde dann aufgefordert, den Jugendlichen F. einzuschätzen und sich schriftlich festzulegen. Der Kandidat schrieb dazu einen Bericht ... " (ebd., S. 231).
Was bei Jugendlichen augenscheinlich leicht und - aus MfS-Sicht - relativ problemlos gelang, war bei sozial aufflilligen Erwachsenen in der Regel nicht mehr so einfach. Zwar wurde auch hier versucht, Vorbestrafte zu "Wiedergutmachungsleistungen" zu überreden, doch waren diese Versuche wenig fruchtbar: "erpreßte" IM gaben in der Regel kaum ergiebige Informationen weiter und neigten zudem zur gefilrchteten Dekonspiration, also zur Aufdeckung ihrer IM-Rolle im Verwandten- und Bekanntenkreis (siehe dazu auch GriesNoigt 1995, S.76). Die hier "Vorteilsnehmer" genannten IM waren dagegen von anderem Kaliber. Kühl und sachlich wägten sie die Vorteile ab, die eine Zusammenarbeit mit dem MfS ihnen bringen sollte. Dabei konnte die Sehnsucht nach naiver WunschertUllung (Westreisen) ebenso eine Rolle spielen wie schäbigster Eigennutz (Ausschalten von Konkurrenten am Arbeitsplatz oder im Privatleben), Karrierestreben oder Anpassungsdenken. Das Problem filr das MfS bestand dabei in der Motivlage dieser IM: war der Vorteil eingetreten oder 3
,,Bei vorliegender Notwendigkeit und Möglichkeit sollten zum Sachverhalt und zur Persönlichkeit des Jugendlichen auch kurzfristig inoffIZielle Erkenntnisse durch die zuständige politischoperative Diensteinheit erarbeitet werden. Vom Untersuchungsfohrer sollte hierzu ein konkreter Informationsbedarfvorgegeben werden. Eine Möglichkeit, die dabei auch genutzt werden kann, ist die legendierte Befragung von Bezugspersonen sowie ggf. auch von Pädagogen, Psychologen, Medizinern u.a." (LubaslEschbergerlLudwig 1983, S.82). Man muß sich einmal ganz deutlich vor Augen fuhren, was hier eigentlich ausgesagt wird: ein Jugendlicher ist - aus welchem Grunde auch immer - in den Interessenbereich des MfS gerOckt. Nun wird sein gesames Lebensumfeld einschließlich Schule und medizinischer Betreuungsinstitutionen auspioiert, und zwar nicht etwa durch Polizeibeamte, die sich als solche zu erkennen geben (und die man im gegebenen Fall belUgen könnte), sondern durch MfS-Mitarbeiter unter einer "Legendierung", d.h. mit falschem Namen, falschen Papieren und mit einer glaubhaften LUgengeschichte ausgestattet. Dinge wie eine Privatsphäre oder die ärztliche Schweigepflicht werden nicht einmal in die VorgehensUberlegungen mit einbezogen; die Persönlichkeitsrechte des einzelnen BUrgers waren in der DDR nicht das Papier wert, auf dem sie standen (siehe dazu MecklGriesNoigt 1996, besonders S. 16 ff.).
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hatten Wünsche sich verlagert, so war der IM häufig an weiterer Mitarbeit nicht mehr interessiert; denn er war ja nicht politisch überzeugt wie die IM der ersten Kategorie. Die letzte der fiinf hier angefiihrten Kategorien umfaßt solche inoffiziellen Mitarbeiter, deren IM-Tätigkeit vor allem eine vertrauliche Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Führungsoffizier bedeutete. Es handelte sich bei dieser Gruppe häufig um junge (aber auch um erwachsene) Menschen, deren soziale Beziehungen zu anderen Menschen nur mangelhaft ausgebildet waren: schlechtes oder gar kein Verhältnis zu den Eltern, zerbrochene Familien, keine tragenden Freundschaften. Hier nun setzte das MfS den Hebel an. "Ein emotionales Defizit im Elternhaus, die Erfahrung des Vertrauensbruchs durch nahestehende Angehörige und mangelnde Freundschaftsbeziehungen machen empfänglichfor entsprechende Angebote des Führungsoffiziers, der gezielt versucht, diese Lücken zu folien. Seine Beziehung zu dem/der Jugendlichen ist davon geprägt, eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens und der freundschaftlichen Verschworenheit zu erzeugen (bzw. zu simulieren), die jedoch immer einseitig bleibt und den Jugendlichen oder die Jugendliche in einer Abhängigkeitsbeziehung beläßt" (BehnkelWolf 1996, S. 141).
Das Perfide an dieser Beziehung ist die Tatsache, daß hier einem einsamen und suchenden Menschen ein im allgemeinen höchst persönliches und eigentlich auch intimes Angebot gemacht wird: das einer vertrauensvollen Freundschaft, eines privaten Verhältnisses von gleich zu gleich. Doch in Wirklichkeit ist der Führungsoffizier gar kein Freund: über sich selbst gibt er nichts preis (und wenn er es doch tut, handelt es sich um eine genau kalkulierte "Legende", die etwa klarmachen soll, daß der "Freund" ähnliche menschliche Erfahrungen gemacht hat wie der IM); der IM interessiert den Führungsoffizier durchaus nicht auf einer persönlichen Ebene, sondern nur als Lieferant von Informationen; zugleich dienen "freundschaftliche" Gespräche in der Regel der Kontrolle und der Eruierung von Problemen des IM, deren Kenntnis sich fiir das MfS als nützlich erweisen könnte.
IV. Die Reisekader-IM Eine besondere Untergruppe der IM des MfS bildeten diejenigen inoffiziellen Mitarbeiter, die als Reisekader das Ausland besuchen durften, vor allem auch das westliche Ausland, im DDR-Sprachgebrauch "nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet" (NSW) genannt (zu "Reisekader" siehe ausfiihrIich Gries 1995 und GriesNoigt 1995). Die Mitglieder dieser speziellen Gruppe von IM waren sozusagen handverlesen und hatten sich vor ihrem ersten Auslandseinsatz in der Regel bereits durch besondere Parteitreue, ideologische und
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moralische Standfestigkeit, bewährte Einsätze auf anderen Gebieten und ähnliches mehr ausgezeichnet. In diesem Zusammenhang muß noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß viele Reisekader der DDR keine IM waren. Reisekader-IM aber bildeten praktisch eine Elitetruppe unter den inoffiziellen Mitarbeitern des MfS überhaupt. Wie nun stellte sich das MfS, wie stellten sich die Hauptamtlichen und die Führungsoffiziere die Arbeit eines Reisekader-IMs im "kapitalistischen" Ausland vor? Diese IM waren in der Regel nicht nur politisch hochqualifiziert und im parteilichen Sinne vertrauenswürdig, sondern auch flihige Fachleute in ihrem jeweiligen Beruf - intelligent, gut ausgebildet, in der Lage, mit schwierigen Situationen auch allein zurechtzukommen (das wurde jedenfalls von ihnen erwartet und vom MfS vorausgesetzt; siehe dazu auch Bürkholz 1986 passim). Im Gegensatz zu diesen Vorgaben aber pflegte das MfS seinen Reisekader-IM bei ihren Einsätzen durchaus keine freie Hand zu lassen und schränkte ihren Ermessensspielraum umfassend ein. Nicht nur die eigentliche Aufgabe - der "Auftrag" - war, wie zu erwarten, genau vorbestimmt, auch sonst wurde bei der Planung des "operativen Vorgangs" nichts dem Zufall überlassen. Ausführlich beschäftigt sich mit diesen Fragen die JHS-Abschlußarbeit »Zur Qualifizierung der Auftragserteilung und Instruierung von IM unter NSW-Reisekadern mit dem Ziel der Erhöhung ihrer politisch-operativen Wirksamkeit« (Junghans 1986). Der IM mußte buchstäblich über alles und jedes Auskunft geben. So etwa über den Reiseablauf (ebd., Anhang 1, S. 1): Reiseroute mit allen berührten Bahnhöfen bzw. Flughäfen; Abfahrts- und Ankunftszeiten; Ort des Grenzübergangs; benutzte Transportmittel einschließlich der (wo?) erworbenen Fahrscheine und der dafür gezahlten Preise; alle Einzelheiten, die mit der jeweiligen Buchung zusammenhingen. Dies war aber noch ein relativ harmloses Verlangen. Die nächsten anderthalb Seiten des Auftrags beschäftigen sich ausführlich mit den jeweiligen Grenzkontrollen, und hier interessiert das MfS wirklich jede Kleinigkeit. So etwa das "Paßkontrollorgan", im täglichen Leben Zöllner oder Grenzbeamter genannt. Welche Uniform trug dieses "Organ" beispielsweise und in welcher Anzahl war es vorhanden? Was tat es mit den kontrollierten Ausweisen oder Pässen: anschauen, durchblättern, Bilder vergleichen, Visa suchen, Personalien notieren, kopieren, außer Sichtweite bringen? Stellte der Grenzbeamte Fragen nach wohin und woher? Wie hatte der IM diese beantwortet? Die Reihe der Unterpunkte ließe sich beliebig fortsetzen. 4 Jede im 4
Aus der Untersuchung von Reisekaderberichten (Gries 1995) ergibt sich allerdings, daß viele Reisekader (auch IM) diese Fragen eher routinehaft im Sinne von "keine besonderen Vorkommnisse" beantworteten. Nur dann, wenn der Reisekader sich persönlich belästigt oder als DDR-Bürger anders als andere Reisende behandelt gefllhlt hatte, stößt man auf ausfllhrlichere Darstellungen, die meist belegen sollen, wie tapfer der Berichtende sich in dieser Situation behauptet hatte.
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fremden Land aufgesuchte Stadt mußte vom Reisekader-IM gesondert beschrieben werden . .. In welchen Städten wie lange aufgehalten? Beschreibung der Städte: Charakter der Stadt, die wichtigsten staatlichen/administrativen, ökonomischen, kulturellen, politischen und militärischen Einrichtungen, Institutionen und Anlagen, Sehenswürdigkeiten, Verkehrsnetz und Bedingungen einer Benutzung, bekannte Ereignisse oder Persönlichkeiten, deren Namen mit der jeweiligen Stadt verbunden sind, deren Sitten, Gerüchte, Angaben zu GeschäJtszentren und -straßen, Hotel [I], Restaurants u. a. Freizeiteinrichtungen, örtliche Presseorgane, allgemeine Lebenslage und sozialen Bedingungen" (ebd., Anhang 1, S. 3).
Allein dem Hotel, in dem der IM übernachtete, wurden acht verschiedene Fragenkomplexe zugeordnet, die der Reisende im MfS-Auftrag so ausfilhrlich wie möglich zu beantworten hatte. Es ging im einzelnen um (ebd., S. 3 f.): - Lage, bauliche Beschaffenheit und Einrichtung; - Meldeformalitäten; - Kontrolle, Überprüfung und Fahndung (im Sinne der Zusammenarbeit des Hotelpersonals mit der Polizei des jeweiligen Staates; das MfS übertrug hier augenscheinlich eigene Vorgehensweisen ungeprüft und unbelegt auf die Behörden und Privateinrichtungen anderer Länder); - Verdächtiges, das die Übernachtung eines IM als untunlich erscheinen ließ. Dazu gehörten .. verstärkte Streifengänge, Fahndungsaktivitäten oder Razzia der Polizei im Hotel oder in unmittelbarer Umgebung, Hinweise auf Durchsuchung der Hotelzimmer" (ebd.; DDR-Reisekader filhlten sich - bei derlei Vorgaben kaum verwunderlich - häufig verfolgt oder bespitzelt, etwa durch den normalen Hotelservice, siehe dazu auch Gries 1995); - Charakter der örtlichen Lage; - soziale Zusammensetzung der Hotelgäste. Wörtlich aufgelistet wurden "zwielichtige Personen, Bundeswehrangehörige, Angehörige ausländischer Besatzungstruppen, Zusammenkünfte oder Treffen revanchistischer Verbände" (ebd., Anhang S. 4); - Personal und Serviceleistungen. Die vorliegende Anweisung umfaßt insgesamt sechs Seiten und zeichnet von den hier angesprochenen IM ein den Leser befremdendes Bild. Augenscheinlich waren diese doch sorgfältig ausgewählten Mitarbeiter des MfS entweder nicht in der Lage, auch nur die kleinste Entscheidung selbsttätig zu treffen, die Geflthrlichkeit oder Harmlosigkeit einer Situation richtig einzuschätzen (ihre Wichtigkeit oder Unwichtigkeit ebensowenig), oder das MfS
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traute seinen eigenen inoffiziellen Mitarbeitern nur dann, wenn sie in ein sie total umfassendes Korsett von Vorschriften und Aufgaben eingeschnürt waren. Auch erscheint es kaum möglich zu sein, daß ein Mensch - ob IM oder nicht den folgenden Auftrag mißverstehen und nicht als Spitzeldienst einordnen kann: "Alle Personen, die bzw. mit denen während der Reise Kontakt bestand und andere Personen, zu denen aus kommerziellen Gründen Kontakt bestand, Angaben über die Person: Name, Vorname, Alter, Nationalität, Staatsangehörigkeit, bekannte Wohnanschriften, Beruf, Arbeitsstellen, Familienstand und -verhältnisse, erkennbares politisches Engagement, Interessengebiete, weitere Verbindungen dieser Personen" (ebd., Anhang I, S. 5).
Alle diese Angaben mußten vom IM auch dann gemacht werden, wenn der Kontakt zufällig entstand und nicht in das Raster des. speziellen Auftrags gehörte. Zudem bekamen die IM umfangreiche Verhaltensvorgaben mit auf den Weg. Daß ihre Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit geheim bleiben mußten und auch nicht durch zufällige Nachlässigkeiten (wie etwa durch eine im Taschenkalender notierte Telefonnummer oder durch einen entsprechend gekennzeichneten Termin) verraten werden durften, ist selbstverständlich. Aber die IM waren auch verpflichtet, im "Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet" einerseits "progressiv die Politik der Partei und Regierung" (ebd., Anhang 2, S. I) zu vertreten, andererseits aber dafür zu sorgen, daß sie im Feindesland nicht als skurrile Außenseiter belächelt wurden. Genußsucht und Bereicherungsstreben waren dem IM ebenso untersagt wie Disziplinlosigkeit aus Routine oder Leichtsinn. Nicht einmal in Eigenverantwortlichkeit entscheiden sollte der IM, ob ein etwas lockereres Verhalten der Erfüllung des eigenen Auftrags nützen konnte. Im Zweifelsfalle gingen die strikten Anweisungen des MfS vor. Notizen waren ebenso verboten wie die Mitnahme von "Beweismaterial" . Der IM - obwohl in den Anweisungen in der Regel wie ein minderbegabtes Kind behandelt und beschrieben - sollte alle wichtigen Erkenntnisse im Gedächtnis speichern; das ist wohl die schlechteste aller Methoden der Informationsweitergabe, denn die menschliche Erinnerung ist ein höchst unzuverlässiges Instrument. Diskutierende Kontaktpersonen sind auf ihre Hintermänner hin abzuklopfen. Glaubten die Hauptamtlichen des MfS tatsächlich, jeder außerhalb der DDR politisch denkende Mensch wäre die Marionette irgendeiner finsteren anti-sozialistischen Macht, oder sollte das dem IM nur suggeriert werden, um ihn ständig mißtrauisch zu halten? Verlangt wurde von den Reisekader-IM auch eine "zielgerichtete Kontrolle der Mitreisenden" (ebd., Anhang 3, S. 1). Verdächtig machten sich diese etwa durch" Versuche, sich unbemerkt von Reiseteilnehmern zu entfernen bzw. unter Angabefadenscheiniger Begründungen (auch nur für wenige Minuten)" (ebd., Anhang 3, S.2). Sicherlich streifen solche Vorschriften den Bereich des
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Lächerlichen, vor allem, wenn man den häufigsten Grund für kurzfristiges Entfernen, nämlich den Gang zur Toilette, bedenkt. Dennoch sollten auch heute eine solche Vorschrift und vor allem die Geisteshaltung, für die sie steht, ernstgenommen werden. Diese Anweisung zeigt nämlich, daß das MfS tatsächlich versuchte, jede Lebensäußerung der DDR-Bürger zu kontrollieren (inwieweit das in der Praxis gelang, sei an dieser Stelle dahingestellt). Sie zeigt darüber hinaus aber auch, daß zumindest die IM an einer solchen Vorgabe und Praxis nichts Befremdliches fanden, sie ihnen also als "normal" erschien; denn die Notwendigkeit einer ständigen Kontrolle wurde den inoffiziellen MfS-Mitarbeitern weder erklärt, noch wurde sie vom MfS in irgendeiner Weise begrUndet.
V. Überwachung von Kadern - eine Aufgabe der IM in der DDR Sein besonderes Augenmerk richtete das MfS in der DDR auf" operativ bedeutsame Personen". Was waren das nun für Menschen? Grundsätzlich konnte es zunächst einmal jeder sein, der aus irgendeinem Grunde die Aufmerksamkeit des Ministeriums für Staatssicherheit auf sich gelenkt hatte - in erster Linie dadurch, daß er dem Staat DDR und seiner staatstragenden Ideologie in irgendeiner Hinsicht kritisch oder oppositionell, auf jeden Fall" negativ" gegenüberstand. In zweiter Linie aber gelangten auch solche Menschen in das Blickfeld des MfS, die zwar durchaus als staats- und parteitreu angesehen wurden und sich dementsprechend auch bereits bewährt hatten, die aber wichtig waren, wichtig möglicherweise auch für den "Klassenfeind", der sich ihre Kenntnisse und ihren Einfluß zu Nutze machen wollte. Vorrangig handelte es sich bei diesem Personenkreis um sogenannte Kader. "Seit der Gründung der DDR haben ZK und SED ihre Machtausübung nach sowjetischem Vorbild aus Kader gestützt. Stalins Maxime 'Die Kader entscheiden alles' gehört zur Grundüberzeugung aller kommunistischen Parteien. [... ] Unter Kadern wurden Persönlichkeiten verstanden, die als Leiter, Funktionäre und Spezialisten aufgrund ihrer politischen, fachlichen und anderen Fähigkeiten und Eigenschaften tätig sind. [... ] Die SED setzte in allen parteilichen, staatlichen und gesellschaftlichen Schlüsselfunktionen zuverlässige Funktionsträger als Kader ein" (VoigtIMertens 1996, S. 322 f.).
Wegen ihrer besonderen Wichtigkeit für das Fortschreiten des Sozialismus im allgemeinen, aber auch für die sozialistische Wirtschaft im besonderen, waren - zumindest nach Ansicht des MfS - diese Personen auch in besonderem Maße gefiihrdet, das Ziel irgendwelcher "Maßnahmen" des "Klassenfeindes" zu werden.
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"Ausgehend von der Tatsache. daß die Klassenkampfauseinandersetzung mit dem Imperialismus auf dem Gebiet der Ökonomie eine entscheidende Rolle einnimmt. muß dieser Prozeß [gemeint ist hier wohl die Wirtschaftsentwicklung der DDR; S.G.] in der politisch-operativen Arbeit schwerpunktmäßig vor feindlichen Angriffen und Einflüssen des Gegners geschützt und gesichert werden" (Zimni 1985, S. 4).
Was bedeutet das nun konkret? Erstaunlicherweise zunächst einmal nicht das, was der Laie vielleicht erwartet hätte: es geht bei der "politisch-operativen Arbeit" der IM nämlich nicht darum, den Klassengegner aufzuspüren und auf die eine oder andere Art an seinem mißliebigen und sozialismusfeindlichen Wollen und Tun zu hindern, es geht vielmehr um die "Herausarbeitung operativ bedeutsamer Personen" (ebd.). Bei diesen Menschen handelt es sich um DDR-Bürger, und zwar nicht um Oppositionelle, sondern um solche in wichtigen Wirtschafts- oder Wissenschaftspositionen, die ihre Treue zur DDR in der Vergangenheit sicher schon ausreichend bewiesen hatten (sonst wären sie gar nicht erst in ihre Position gelangt). Speziell den "NSW-Reisekadern" galt das besondere Augenmerk des MfS (es handelt sich an dieser Stelle um solche Reisekader, die nicht gleichzeitig auch IM waren). Angewandt wurde zur Untersuchung dieser Personengruppe die "Rastermethode zur Qualifizierung der personenbezogenen politisch operativen Arbeit" (Zimni 1985, S 5), die Zimni in seiner JHS-Diplomarbeit »Die weitere Qualifizierung der personenbezogenen Arbeit der IM zur Klärung der Frage "Wer ist wer?" unter NSW-Reisekadern in operativen Schwerpunktbereichen der Volkswirtschaft durch die Anwendung von Informationsrastern« ausfilhrlich vorstellt. Dieses Raster soll im folgenden umfassend behandelt werden, da es die Einstellung des MfS zu den Bürgern der DDR, aber auch zu den eigenen IM, auf die Zimni im Verlaufe seiner Arbeit ebenfalls eingeht, aufschlußreich beleuchtet. Zunächst einmal finden sich sechs Grobgliederungspunkte, die ihrerseits weiter in verschiedene Untergruppen differenziert werden: 1. Operativ bedeutsame Persönlichkeitseigenschaften (weiter aufgeschlüsselt in "politisch-ideologische Einstellungen und äußere Verhaltensmerkmale, die diese direkt widerspiegeln", "andere bedeutsame Einstellungen" und "bedeutsame Leistungseigenschaften und Eignung "); 2. bedeutsame Merkmale der Entwicklung (elf Unterpunkte, die von "ehemaliger verpflichteter Geheimnisträger" über "Vorstrafen" bis zu "ehemaliger IMlGMS" reichen); 3. operativ bedeutsame Verhaltensmerkmale (besonders interessant der vierte Unterpunkt "bedeutsame Abweichungen vom Normalverhalten "); 4. Verbindungen (und zwar aufgeteilt in solche" in das NSA" (nicht-sozialistische Ausland), "in andere sozialistische Länder" und" in der DDR ";
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5. Reisetätigkeit in das NSA und sozialistische Länder; 6. Wirksamkeit vorhandener begünstigender Bedingungen auf die Person und ihren möglichen Mißbrauch (besonders wichtig an dieser Stelle der dritte Unterpunkt .. konkrete Möglichkeiten des Feindes, unter Nutzung der vorhandenen begünstigenden Bedingungen, die Person zu mißbrauchen"; Zimni 1985, S. 68 ff.). Alle Unterpunkte waren numeriert und so auf einem Kontrollblatt niedergelegt, daß der Beobachter nur noch einfache ja/nein-Kreuzchen anbringen mußte; der Auswertung und .. operativen Bearbeitung" stand dann nichts mehr im Wege. (Betont werden soll an dieser Stelle, daß IM ebenfalls mit Hilfe dieses Rasters klassifiziert werden sollten, das MfS ihnen - als eigenen Mitarbeitern - also keinen Vertrauensvorschuß5 entgegenbrachte). Von besonderem Interesse sind hier ohne Zweifel die Unterpunkte 3.4 und 6.3, die darlegen, inwieweit der mit dem Raster bearbeitete DDR-Bürger dem MfS als geflihrdet oder geflihrlich erschien. Da sind zunächst einmal die .. Abweichungen vom Normalverhalten ". Was ist konkret darunter zu verstehen? Jedenfalls nicht das, was eigentlich zu erwarten war, nämlich ein Abweichen von gesellschaftlichen, strafrechtlichen oder sexuellen Normen. Vielmehr geht es um .. Widersprüche im Auftreten zwischen Arbeits- und Freizeitbereich " (3.4.1), um .. Verhaltensänderungen im Arbeitsbereich [... ] nach NSW-Reisen"6 (3.4.2), um .. Verhaltensänderungen im Freizeitbereich" (3.4.3) und um .. häufigen Wohnungswechsel ohne objektive Begründung" (3.4.4). Ein Satiriker, der über das Leben im Sozialismus berichten wollte, hätte es nicht besser erfmden können: Normabweichend sind nach dieser Definition also kurzfristige Launen, Stimmungsschwankungen, persönliche Vorlieben, beruflicher Ehrgeiz, der Wunsch nach einem Wohnungswechsel. Dabei darf in diesem Zusammenhang nie vergessen werden, daß solche Wünsche fiir das MfS zumindest eine Vorstufe der Kriminalität darstellten und die so Beurteilten durchaus in konkrete Gefahr bringen konnten. Noch brisanter sind die Ausfiihrungen des Rasterpunktes 6.3 .. Konkrete Möglichkeiten des Feindes, unter Nutzung der vorhandenen begünstigen-
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"Bei der Berichterstattung des IM zu dem operativ bedeutsamen NSW-Reisekader und der Bewertung der erarbeiteten l1iformationen ist aber auch der Tatsache Rechnung zu tragen, daß die IM als NSW-Reisekader den gleichen Einflüssen und Wirkungserscheinungen des Gegners aufgesetzt sind, wie der operativ bedeutsame NSW-Reisekader selbst. Deshalb ist die Beauftragungilnstruierung und Berichterstattung des IM auch immer von Standpunkt der Ehrlichkeit und Zuverldssigkeit des IM zu analysieren. Mit dem Überprüfungsraster ist demzufolge der Informationsbedarf zu dem NSW-Reisekader IM vorgegeben und kann zur Überprüfung der Ehrlichkeit und Zuverldssigkeit des IM genutzt werden" (Zimni 1985, S. 57).
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"Bemühungen, for feindliche Krdfte interessante Arbeitsaufgaben zu erhalten (u.a. Geheimnistrdger, NSW-Reisekader) ".
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den Bedingungen, die Person zu mißbrauchen" (Zimni 1985, S. 70), die deshalb an dieser Stelle komplett aufgelistet werden sollen: 6.3.1 Reale Möglichkeiten der politisch-ideologischen Beeinflussung und zum Mißbrauch der zu überprüfenden Person durch 6.3.1.1 Nutzung sachlicher und personeller Beziehungen von Einrichtungen und Personen aus dem NSW zur Wirtschaftseinheit oder Wissenschaftlichen Einrichtung; 6.3.1.2 während der Reisen in das NSA; 6.3.1.3 während des Aufenthaltes in anderen sozialistischen Ländern; 6.3 .1.4 auf wissenschaftlichen Veranstaltungen; 6.3.1.5 über wissenschaftlich-technische Kommunikationsmittel 6.3.2 Möglichkeiten von Verschleierung von Kontaktaufnahmen bzw. bestehenden Kontakten beim NSA-Kontaktverbot; 6.3.3 Reale Möglichkeit der Nutzung von Einstellungen der Unzufriedenheit über vorhandene Mißstände usw. bei der zu überprüfenden Person fUr deren politisch-ideologische Beeinflussung bzw. ihren Mißbrauch; 6.3.4 Mißbrauch der Person ist auf Grund der vorhandenen Situation besonders zu erwarten fUr 6.3.4.1 politisch-ideologische DiversionIPolitische Untergrundtätigkeit 6.3.4.2 die Preisgabe geheimzuhaltener Informationen 6.3.4.3 die HerbeifUhrung von Geflihrdungen und Störungen im wissenschaftlich-technischen Arbeitsprozeß. Nun soll nicht etwa behauptet werden, diese Gefahrenpunkte seien von den MfS-Hauptamtlichen einfach erfunden worden oder Ausfluß einer Paranoia von Krankheitswert. Die Möglichkeit, Menschen, vor allem unzufriedene Menschen, fUr die eigene Sache zu gewinnen, ist überall gegeben und wurde vom MfS selbst ja ebenfalls entsprechend genutzt. Bedrückend ist nur das umfassende Mißtrauen, das aus diesem Raster spricht. Nahezu jeder Kontakt mit einem Nicht-Sozialisten (unter welchen Umständen auch immer) erscheint hier als Möglichkeit, einen DDR-Bürger nicht nur gedanklich einer anderen politischen Auffassung näher zu bringen (fUr das MfS schon schlimm genug, selbst wenn der Überredungsversuch keine Früchte zeitigte), sondern ihn - einen wissenschaftlich oder technisch hoch profilierten, also sicherlich intelligenten und politisch im SED-Sinne parteilichen Menschen - zu jeder Schandtat anstiften zu können, vom Geheimnisverrat bis zur Sabotage. Wenn man bedenkt, daß das Menschenbild des Sozialismus - zumindest offiziell - davon ausgeht, daß der Mensch von Natur aus "gut" ist und nur durch schlechte gesellschaftliche (= kapitalistische) Lebensumstände "böse" gemacht werden kann (siehe dazu auch Neuner 1985 passim), so stellt das Bild, das das MfS hier von den DDR-Bür-
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gern zeichnet, dem Staat DDR ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Besonders gefiihrdet schienen dabei diejenigen Reisekader zu sein, deren Ziel das westliche Ausland war. Obwohl in dieses "Feindesland" nur ausgesuchte Kader geschickt werden sollten, mußten diese natürlich auch hervorragende Fachleute auf ihrem Arbeitsgebiet sein, und allein diese Tatsache konnte schon dazu fiihren, daß sie "kapitalistischen" Kollegen - etwa in Diskussionen über den gemeinsamen Forschungsgegenstand - näher kamen, als es dem MfS lieb sein konnte. Auch deshalb waren die "NSW-Reisekader" nach ihrer Rückkehr in die DDR einer besonders engmaschigen Kontrolle zu unterwerfen. "Die politisch-operative Notwendigkeit der Kontrolle von NSW-Reisekadern nach ihrer Rückkehr aus dem Operationsgebiet ergibt sich aus der Tatsache, daß dieser Personenkreis eine bedeutende Zielgruppe des Gegners darstellt. Die Erfahrungen haben den Beweis erbracht, daß von Seiten des Gegners des Sozialismus alle Möglichkeiten genutzt werden, die NSW-Reisekader der DDR für ihre feindlichen Ziele gegen die Außenwirtschaftsbeziehungen der Volkswirtschaft als Ganzes sowohl auch gegen einzelne gesellschaftliche Bereiche zu mißbrauchen" (Schmidt 1984, S. 4).
Es muß an dieser Stelle nicht besonders betont werden, daß Hans-Jürgen Schmidt, der Verfasser der JHS-Abschlußarbeit »Politisch-operative Kontrolle von NSW-Reisekadern nach der Rückkehr aus dem Operationsgebiet, konkret bezogen auf die Sicherungsbereiche Außenwirtschaftsbeziehungen und komplexe Anlagensicherheit« - darin schlechter sozialistischer Tradition folgend dem Leser die hier behaupteten Beweise fiir seine Aussagen schuldig bleibt. Auch seine weiteren Ausfiihrungen sind unbelegte Behauptungen, die aber das Denken der MfS-Mitarbeiter gut beleuchten. "Eine dritte operativ nachweisbare Erkenntnis, auf die an dieser Stelle hingewiesen werden soll, besteht darin, daß sich für den Gegner günstige Bedingungen aus der NSW-Reisetätigkeit ergeben. Diese Bedingungen sind zurückzuführen auf den zeitweiligen Aufenthalt der NSW-Reisekader im Operationsgebiet, vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß sie für diesen Zeitraum unmitte/bar dem Wirkungsmechanismus des imperialistischen Systems ausgesetzt sind" (ebd.).
Da die Reisekader "bei jeder Reise in das Operationsgebiet [... ] erneut den Feindangriffen ausgesetzt" (ebd., S. 5) sind, reicht es nach Schmidt nicht aus, sich damit zufrieden zu geben, daß die Reiskader bereits "operativ" abgeklopft und fiir zuverlässig befunden worden sind; vielmehr hat nach der Rückkehr vom "Feindeinsatz" eine lückenlose Kontrolle zu erfolgen, um eventuelle Schwachstellen oder beunruhigende Veränderungen sofort zu erkennen und zu bekämpfen.
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Abbildung I: Rastermerkmale, die bei Reisekader-IM besonders zu beachten sind und eine Signalwirkung auslösen (Grundlage bildet der »Raster zur Überprüfung operativ bedeutsamer Personen und Vorschläge fiir ihre Rasterhauptgruppen«) 1.1.6 Bedeutsame EinschnitteIBrüche in der Entwicklung der politischen Einstellung 2.9 Ehemalige Verbindungen zu operativ bedeutsamen Personen in der DDR, in sozialistischen Ländern und im NSW 3.1.7 Unehrlichkeit in der Berichterstattung über die Erfiillung betrieblicher oder gesellschaftlicher Aufgaben oder Verpflichtungen 3.2.6 Bemühungen, fiir feindliche Kräfte interessante Arbeitsaufgaben zu erhalten 3.3.6 Widerspruch zwischen Aufwand fiir die Befriedigung materieller sowie kultureller Bedürfnisse und den fmanziellen Möglichkeiten 3.3.7 Mißbrauch von Alkohol und Suchtmitteln 3.4.2 Verhaltensänderungen im Arbeitsbereich nach Arbeitsstellenwechsel, NSW-Reisen bzw. unter 3.2.6. beschriebenen Ereignissen 4.1.3 Operativ bedeutsame Merkmale zu Kontaktpersonen im NSA 4.1.5 Anwendung konspirativer bzw. anderer operativ bedeutsamer Methoden zur Aufrechterhaltung und Gestaltung der Verbindung 4.1.8 Besitz von Valuta bzw. Empfang von Genex Geschenksendungen 5.1.11 Operativ bedeutsame Verhaltensweisen während der Reise 5.1.12 Operativ bedeutsame Verhaltens weisen nach der Rückkehr Quelle: Zimni 1985, S. 76.
Doch auch im Vorfeld der Reise war der Kader vom MfS bereits entsprechend zu instruieren. "Die hier zu nutzenden offensiven Einflußmöglichkeiten wirken sich positiv auf das Verhalten während des Aufenthaltes im Operationsgebiet aus" (ebd., S.6). Das bedeutet im Klartext, daß das MfS durchaus nicht bereit war, einem doch in der Regel hochrangigen Reisekader (Schmidt selbst spricht von Menschen in "einflußreichen Positionen" (ebd.) mit Geheimnisträgercharakter) zuzugestehen, daß er selbst sich aus Eigenver-
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antwortlichkeit und Staatstreue, aus sozialistischer Überzeugung den Infiltrationsversuchen des "Klassengegners" gegenüber zur Wehr setzen kann. Vertrauenslosigkeit1 bis ins Extrem gesteigert begegnet dem Leser hier wie in vielen anderen Bereichen der DDR. Die hier zitierte Vorgehensweise belegt zum anderen aber auch, daß der Reisekader in der Regel sehr genau wußte, wem seine Infonnationen und Berichte letzten Endes zu Gute kamen, daß er also ein wissentlicher Infonnant war und kein "abgeschöpftes" Opfer. Allerdings hatte auch diese Medaille ihre Kehrseite. Obwohl - wie bereits dargestellt - auch die eigenen IM vom MfS "operativ bearbeitet" wurden, wird in der vorliegenden Arbeit bedauert, daß es nicht möglich war, jeden Reisekader von einem IM begleiten zu lassen, oder einen IM als entsprechenden Reisekader einzusetzen. So listet Schmidt beispielhaft und akribisch auf: "Mit einer 1984 erarbeiteten Analyse im Verantwortungsbereich der Objektdienststelle Buna wird dies [die 'operative Notwendigkeit der operativen Kontrolle'; S.G.] erneut unterstrichen: - Insgesamt wurden 198495 NSW-Reisen zur Sicherung der Außenwirtschaflsbeziehungen durchgefohrt. - Davon wurden 31 Reisen ohne Mitreisende und 29 Reisen mit Mitreisenden anderer Diensteinheiten durchgefohrt. - Dadurch sind aus der Sicht hiesiger Objektdienststelle 60 Reisen wie Einzelreisen zu betrachten. - Bei 15 Reisen waren keine IM/GMS einsetzbar, an 21 Reisen 1 IM und nur an 15 Reisen von den insgesamt 95 Reisen 2 und mehr IM beteiligt. Damit wird vom operativen Standpunkt die Aufmerksamkeit auf Mängel in der Kontrolle von NSW-Reisekadern im und somit vor allem nach ihrem Einsatz im Operationsgebiet gelenkt" (Schmidt 1984, S 7 f.).
Alleine drei Seiten seiner Arbeit (Anlage Ja, S. 52-54) widmet Schmidt den Methoden, die der "Klassengegner" angeblich benutzte, um den entsprechenden Reisekader - gleichgültig ob IM oder nicht - vom Pfade sozialistischer Tugend wegzulocken. Grob gerechnet gab es deren vier: Korruption (vor allem Bargeld oder "hochwertige Konsumgüter" (ebd.) - getarnt als Werbegeschen7
"Ein Individuum kann kaum eine selbstbewußte und kritische Persönlichkeit entwickeln, wenn es unmündig gehalten wird, sich ständig mißtrauisch beobachtet fohlt und zudem noch seinen Lebensweg mit ihm unbekannten Fallen gespickt weiß, in die es ahnungslos stolpern kann. In genau dieser Situation befanden sich aber die DDR-Bürger, wenn eine solche Feststellung inzwischen auch gerne abgewiegelt wird. Sie lebten unter dem Druck einer vollkommenen Vertrauenslosigkeit (weder vertraute der Staat den Bürgern noch vertrauten die Bürger dem Staat) und einer permanenten Rechtsunsicherheit' (GrieslMeck 1993, S. 36).
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ke -, aber auch die Weitergabe von Westadressen und zwar von solchen Menschen, an die der Reisekader sich bei Problemen im Westen wenden konnte); "Herbeiführung von nichtkontrollierten Gesprächen und Kontakten" (ebd.); spezielle Fragen, die der "Abschöpfung" dienten, wie etwa solche nach dem Verbleib bekannter Personen aus der DDR, nach dem eigenen Forschungsstand (unter Wissenschaftlern der gleichen Fachrichtung nicht eben unüblich), nach Geschäftspartnern, nach Betriebsstörungen und nach dem Wirken des MfS; Wünsche und Forderungen, die an den Reisekader gestellt werden, etwa die Bitte, ein bestimmtes Buch zu besorgen. Als weiteres Verdachtsmoment kam das Verhalten des Reisekaders selbst hinzu, vor allem nach der Trennung von seinen Mitreisenden. Einer anderen, sehr speziellen Gruppe von "Reisekadern" und ihrer Gefährdung widmet sich die Diplomarbeit von Hagen Groß »Die Qualifizierung der politisch-operativen Kontrolle der Reisekader des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs mit dem Ziel des Erkennens von Ersthinweisen auf Militärspionage«. Mit Kadern im oben bereits definierten Sinne haben diese Reisenden aus der DDR allerdings nichts zu tun. Das MfS gibt ihnen nur die Bezeichnung Reisekader, um damit ihre regelmäßigen Auslandsaufenthalte zu kennzeichnen. Man sieht also, daß die Bezeichnung Reisekader im speziellen Falle nichts über die Ausbildung, berufliche Position oder gesellschaftliche Stellung des Einzelnen aussagen muß. In Gefahr, den "subversiven Angriffen" des "Feindes" zu erliegen waren in diesem Zusammenhang "die bestätigten und eingesetzten Kraftfahrer des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs " (Groß 1984, S. 4). Diese liefen - so man den Ausfilhrungen von Groß folgt - vor allem Gefahr, vom Geheimdienst der Bundesrepublik Deutschland als Spione angeworben zu werden. "Die BRD-Geheimdienste, besonders der BND, und die Staatsschutzorgane (Verfassungs- und Bundesgrenzschutz, Polizei- und Zollorgane) erhielten durch das Bundeskanzleramt Ende des Jahres 1980 u.a. den Auftrag, die Nachrichtenbeschaffung aus den sozialistischen Staaten, besonders aus der DDR, bedeutend zu erhöhen. Als eine Maßnahme zur Realisierung der gestellten Aufgabe ist eine erfolgte Neuprofilierung ihrer Führungsspitzen sowie eine weitere personelle und materielle Aufstockung zu sehen. [... ] Bei der Durchsetzung ihrer feindlichen Ziele, Pläne und Absichten nutzten die BRD-Geheimdienste, besonders der BND, wieder verstärkt den Mensch [sie!] als Spion. Durch die liquidierung der Reisespione und um aus seiner Sicht zu einer objektiven Nachrichtenbeschaffung über die DDR zu gelangen, werden von den BRD-Geheimdiensten Bemühungen verstärkt, DDR-Bürger als Spione zu werben. Dabei gehen sie das Risiko des Stellens einiger geworbener Spione beim MjS ein" (Groß 1984, S.7).
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Warum nun sind diese Lastwagenfahrer, denn um solche handelt es sich, besonders der Gefahr ausgesetzt, von feindlichen Geheimdiensten als Spione angeworben zu werden? Wie Groß selbst darlegt (ebd., S. 8), geht es in diesem speziellen Falle nicht um die Bereitstellung allgemeiner Infonnationen aus der DDR, sondern um gezielte Militärspionage. Es erscheint dem Laien einigermaßen unverständlich, weshalb gerade Lastwagenfahrer die Möglichkeit haben sollten, als Agenten in doch in der Regel hochgesicherten Militärbereichen zu arbeiten. Wenn man den weiteren Ausftihrungen der Arbeit folgt, stellt sich jedoch heraus, daß trotz dieser Bezeichnung überhaupt keine Militärspionage im eigentlichen Sinne gemeint ist (Ausforschung neuer Waffensysteme, Kopieren von Aufinarsch- und Verteidigungsplänen, Erforschung der militärischen Logistik oder ähnliches). Vielmehr besteht rur die Lastwagenfahrer die Möglichkeit, während ihrer Touren durch die DDR (zufällige) Zeugen von Manövern zu werden oder aber Militärfahrzeuge auf der Straße zu beobachten und ihnen möglicherweise eine Strecke weit zu folgen. Besonders bedenklich findet Groß dabei die Tatsache, daß Lastwagenfahrer auf Grund ihres Berufes relativ flexibel sind und damit gegen eines der wichtigsten Anliegen des MfS verstoßen - gegen die Möglichkeit pennanenter Kontrolle des Einzelnen. Vor allem im "Operationsgebiet" sind diese Reisekader relativ ungebunden und können nicht wie andere Westreisende im MfS-Sinne gelenkt werden (ebd., S. 9 f.). Neben der Militärspionage und der Erlangung allgemeiner Infonnationen etwa über die Versorgungslage in der DDR oder die in der Bevölkerung vorherrschende Stimmung dienen die von Groß beschriebenen "Spione" noch einem weiteren Zweck - dem des Angriffs gegen das MfS selbst. Groß verweist hier in bekannter Manier auf "zentral gesicherte Erkenntnisse" (ebd., S. 13), die aber wiederum weder quellenmäßig belegt noch durch Beispiele erläutert werden. Statt dessen wird im Ton der Empörung geklagt: "Ein Hauptziel der Geheimdienste besteht im Erkennen der Agenturen des MjS und ihrer Überwerbung als Spion sowie die operativen Mitarbeiter unseres Organs auftuklären, zu kontaktieren und zu werben. Sie beauftragen ihre Spione u.a., Objekte des MjS auftuklären, Informationen über Regimeverhältnisse, wie z.B. die Tätigkeit der operativen Mitarbeiter in den Kraftverkehrsbetrieben auszuspionieren und die Rolle des MjS im Rahmen des Bestätigungsverfahrens bei Reisekadern in Erfahrung zu bringen" (ebd., S. 13).
Das MfS stellt sich hier selbst als unschuldiges Opfer fremder Geheimdienste dar, und es erscheint logisch und offensichtlich, daß gegen eine solche Anmaßung etwas unternommen werden muß. Zunächst einmal sollen aus dem gesamten hier angesprochenen Reisekader, der bereits auf Grund sogenannter Auskunftsberichte MfS-überprüft und rur tauglich befunden wurde, diejenigen Fahrer ausgesondert werden, die durch bestimmte "politisch-operative Hinweise" (ebd., S. 16) zu Zweifeln an ihrer absoluten Loyalität gegenüber der 13 Merlen. I Voigl
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DDR Anlaß geben. Zu diesen Hinweisen zählen: Überheblichkeit, starkes materielles Interesse und "Kontakte von Familienangehörigen im NSW" (ebd.). Erschreckend ist dabei aus MfS-Sicht, daß nur etwa 45 % der hier untersuchten Reisekader als politisch loyal eingeschätzt werden konnten: "Bei einigen langjährig tätigen Reisekadern ist zu verzeichnen, daß sie ihre loyale Einstellung besonders im Arbeitsbereich vortäuschen und nach Passieren der Grenzübergangsstelle sich mit dem Gedankengut westlicher Massenmedien identifizieren" . (ebd., S. 18). Dazu kommen Zoll- und Valutavergehen, die selten genug bemerkt werden (das Mitbringen von Westwaren und konvertierbarer Währung aus des Bundesrepublik), sowie "konspirative" Kontakte zu Verwandten und Bekannten in Westdeutschland. Groß mag durchaus recht haben, wenn er in diesem Zusammenhang vermerkt, daß die meisten dieser Beziehungen aus materiellem Interesse unterhalten werden. Allerdings geht seine Nachdenklichkeit nicht so weit, diese Tatsache mit dem unbefriedigenden Warenangebot in der DDR in Zusammenhang zu setzen. Je länger die Lastwagenfahrer als Reisekader eingesetzt worden sind, desto mehr häufen sich die hier beschriebenen Vergehen. Aber auch der Einsatz neuer und unverdächtiger Fahrer ist nicht einfach durchzufilhren, sondern filr das MfS mit intensiver Mehrarbeit belastet: "Es ist notwendig, die Reisekader besonders in der J. Phase ihres Einsatzes im Operationsgebiet unter ständiger politisch-operativer Kontrolle zu halten, um mögliche Wirkungen der politisch-ideologischen Diversion bzw. des subversiven Mißbrauchs durch den Gegner festzustellen und rechtzeitig zu verhindern. Entsprechend den politisch-operativen Ergebnissen ist zu entscheiden, welche Reisekader wie in der Folge zu sichern sind" (ebd., S. 19 f.).
Ein weiteres Problem, das sich dem MfS im Zusammenhang mit den Lastwagenfahrer-"Reisekadern" stellte, war das ihres .Intelligenzniveaus. Groß drückt diese Tatsache recht verklausuliert8 aus, doch geht aus dem Gesamtzusammenhang eindeutig hervor, daß das schlichte Gemüt vieler dieser Reisekader (die ja in Wirklichkeit Oberhaupt keine Kader waren, sondern nur als solche bezeichnet wurden) als besonderes Risiko angesehen wurde. Aber auch sonst war die Zusammenarbeit mit diesen "Kadern" nicht einfach, vor allem dann nicht, wenn sie als IM eingesetzt wurden. "Zu beachten ist beim Treffmit 8
"Bei den Reisekadern handelt es sich maximal um Facharbeiter. die diesen [Berufsabschluß; S.o.] oft erst über den Weg der Erwachsenenqualijizierung oder bei Ableistung ihres Ehrendienstes bei der NVA erworben haben. Die objektive Einschätzung des Intelligenzgradesjedes Reisekaders ist eine Voraussetzung für die politisch-operative Abwehrarbeit. um die operativen Kräfte, Millel und Methoden bei Notwendigkeit konkret personenbezogen einzusetzen. Über- bzw. Unterschätzungen des Intelligenzgrades der Reisekader führten zulalschen operativen Bewertungen einzelner operativer Ausgangsmaterialien" (Groß 1984, S. 20).
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Reisekader-IM, daß der überwiegende Teil schreib ungewandt und nicht in der Lage ist, seine Informationen auf Tonspeicher zu sprechen (Groß 1984, S. 21). Konnten bei geistig und bildungsmäßig derart eingeschränkten Informanten die Berichte überhaupt benutzt werden? Hinzu kommt, daß der IM seinen Führungsoffizier in der Regel nur alle sechs Wochen sah und daß es bei einem Treffen bis zu vier Stunden dauerte, dem IM eine bis drei Informationen abzuringen (ebd.). Davon war wiederum nur ein knappes Drittel "operativ bedeutsam Die IM neigten nämlich dazu - so wird jedenfalls geklagt -, weitschweifig über allerlei Nebensächlichkeiten ihrer eigentlichen Berufsarbeit zu berichten, über ihren operativen Auftrag aber kaum etwas auszusagen. Dazu kamen offensichtliche Unwahrheiten - Verschweigen von persönlichen Dingen (auch hier fällt wieder auf, wie wichtig dem MfS die absolute Kontrolle über andere Menschen war), Fehlinformationen aus Wichtigtuerei oder Erinnerungslücken. Fahrer, die lange Zeit zusammenarbeiteten, neigten auch zur gegenseitigen Dekonspiration, wie Groß verärgert feststellt. Verwunderlich ist an dieser negativen Einschätzung, daß sich doch gerade in diesem Vertrauensbeweis der gegenseitigen Aufdeckung der IM-Rolle - die typische proletarische Solidarität zeigt, die der Sozialismus in der Theorie nicht genug bewundern kann. Die herablassende Haltung des MfS gegen IM aus der Arbeiterklasse erstaunt aber noch aus einem anderen Grund - die Arbeiter waren offiziell doch die Herren im Staate DDR, das MfS hatte ihnen gegenüber eine dienende und schützende Rolle einzunehmen, aber keine kontrollierende und bevormundende. H
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VI. Zusammenfassung Die Frage, die dieser Untersuchung zu Grunde liegt, nämlich ob die Inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums filr Staatssicherheit der DDR eher Täter oder eher Oper des Systems waren, läßt sich nicht generell und eindeutig beantworten. Nicht nur der Einzelfall als solcher (Ansprechen des schlechten Gewissens, Freundschaftsangebote auf der einen, Denunziation zum Vorteilsgewinn auf der anderen Seite) macht eine eindeutige Zuordnung schwierig, auch das Selbstbild des IM und seine Einschätzung durch das MfS waren höchst unterschiedlich, den IM zu DDR-Zeiten aber höchstwahrscheinlich nicht bewußt. Sah der willige IM (und die meisten Inoffiziellen Mitarbeiter waren willig bis eifrig bei der Erfilllung ihrer Aufträge) sich selbst als wichtige Person an, die entscheidend zum Sieg des Sozialismus beitrug, so war er aus Sicht der MfSHauptamtlichen eher eine Mischung von Risikofaktor und nützlichem Idioten, der der ständigen Anleitung und Überwachung bedurfte. So gesehen, waren tatsächlich alle IM Opfer, Opfer eines Spiels, das sie nicht durchschauten und auch gar nicht durchschauen durften. 13'
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Doch so wird die Frage, ob ehemalige IM heute in ihrer Mehrzahl als Opfer anzusehen sind, gar nicht gestellt. Es geht vielmehr um die Behauptung, die allermeisten IM hätten gar nicht gewußt, was sie da taten und mit wem sie da zusammenarbeiteten. Dieser Darstellung ist aber entschieden zu widersprechen. Die hier ausgewerteten DDR-Quellen haben sehr eindeutige Mängel, etwa was die wissenschaftlichen Standards anbelangt; da sie aber in überwiegender Zahl sehr konkreten Zielen dienten, nämlich der Erhöhung der Effektivität des IMEinsatzes, dürften die eigentlichen Aussagen - vor allem auch die Klagen über die Unzuverlässigkeit der IM - auf Wahrheit beruhen. Das Bild, das hier gezeichnet wird, zeigt die IM zwar häufig als wenig fähig, in der überwiegenden Zahl der Fälle aber als willig und arbeitsam, wobei diese vom MfS gelobten Eigenschaften mit der Sozialschicht ansteigen. Gerade intelligente und gut ausgebildete IM erwiesen sich als eifrige Zuträger, die der guten Sache des Sozialismus gerne dienten. Daß sie im Einzelfalle bisweilen nicht gewußt haben, zu welch schrecklichem Ergebnis ihre vermeintlich harmlosen Informationen filhrten, soll ihnen geglaubt werden, macht sie aber noch nicht zum unschuldigen, weil unwissenden Opfer. Erwachsene Menschen sollten die Reife besitzen, sich ihrer persönlichen Verantwortung zu stellen; denn in die IM-Rolle gezwungen wurden die wenigsten (die Jugendlichen, zumindest bestimmte Gruppen unter ihnen, mögen da eine Ausnahme bilden). Für alle anderen aber hat immer noch ein alter Rechtsspruch Gültigkeit: "Mitgegangen - mitgefangen mitgehangen" .
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WISSENSCHAFTLER ALS TÄTER WISSENSCHAFTLER ALS OPFER Die DDR-Intelligenz zwischen wissenschaftlichem Ethos und geheimdienstlicher Verstrickung I. Die Staatssicherheit als Instrument der SED Das Ministerium rur Staatssicherheit war der Geheimdienst der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, den diese mit der Bespitzelung und Unterdrückung der eigenen Bevölkerung beauftragt hatte. So muß jede Auseinandersetzung mit dem MfS davon ausgehen, daß das Selbstverständnis, "Schwert und Schild der Partei" zu sein, ftlr diese Geheimpolizei von grundlegender Bedeutung war. Das bedeutet rur jede kritische Analyse der "Stasi", daß die SED selbst nicht aus den Augen verloren werden darf und daß der Untersuchungsrahmen auf sie auszudehnen ist. Gemessen an diesem Anspruch werden erhebliche Defizite der bisherigen publizistischen, aber auch wissenschaftlichen, Auseinandersetzung mit dem MfS deutlich. Deren Überwindung erschwert, daß besonders in den letzten Jahren die DDR-Realität immer stärker hinter der angeblich von der SED angestrebten Verwirklichung humanistischer Ideale, ihrem instrumentalisierten Antifaschismus und der sozialen Geborgenheit auf niedrigem Niveau zu verschwinden scheint. Hier vollzieht sich ein schwindelerregender Verdrängungsprozeß, der nicht nur rur die Geschichtsschreibung wichtig sein könnte, sondern die Entwicklung eines demokratischen bzw. antitotalitären Konsenses im vereinten Deutschland grundsätzlich in Frage stellt. Von uriheilvoller Bedeutung ist dabei die Geschichtspropaganda der PDS (EckertlFaulenbach 1996), die wesentlich von Wissenschaftlern ehemaliger SED-Institute, aber auch aus anderen Forschungs- und Lehreinrichtungen der DDR getragen wird. Einige dieser Wissenschaftler nutzen dabei ihren Einfluß, ihre Ausbildung und auch internationale Reputation aus, um nicht nur die DDR zu idealisieren, sondern auch die Demokratie der Bundesrepublik zu diffamieren und ihre Westbindung in Frage zu stellen. Hier wird eine aus der DDR stammende Linie des "Klassenkampfes" fortgesetzt, und das macht es wichtig, sich mit der Rolle der Intelligenz im SED-Staat auseinanderzusetzen. Ein
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Schwerpunkt muß dabei die Aufklärung der Verstrickung dieser Wissenschaftler in geheimdienstliche Machenschaften und die Frage danach sein, wie sich die Arbeit für die Geheimpolizei einer kommunistischen Partei zu wissenschaftlicher Redlichkeit verhält. Es geht dabei allerdings nicht nur um ein wissenschaftsinternes Problem, sondern um ein gesamtgesellschaftliches. Das zeigt sich an Personen wie Andre Brie, die während ihrer Zeit an DDR-Universitäten mit der Stasi kooperierten und heute als Mitglieder der PDS politische Ämter bekleiden oder sie anstreben. Darüber hinaus wirft die Verstrickung ostdeutscher Wissenschaftler in einen totalitären Geheimdienst grundsätzliche Fragen nach dem Verhalten in einer Diktatur, nach den Formen von Denunziation und Verrat, von ideologischer Indoktrination und Verhetzung von Jugendlichen sowie nach den Gründen für blinde Parteigläubigkeit auf. Dies ist aber nur die eine Seite. So muß andererseits verstärkt nach denen gefragt werden, die den Mut und die Kraft fanden, Verführung und Gewalt zu widerstehen. Letztlich sollte es in erster Linie um die Träger widerständigen Verhaltens in der Diktatur gehen und viel weniger um ihre Verfolger. Es gilt, eine Linie in der deutschen Geschichte verstärkt herauszuarbeiten, die mit Opposition und Widerstand einer Minderheit gegen totalitäre Herrschaft, aber auch gegen andere Formen ungerechtfertigter Machtausübung zu beschreiben wäre.
11. Aktenzugang als Voraussetzung der Aufklärung geheim dienstlicher Verstrickungen In beiden deutschen Diktaturen waren Universitäten zum einen Orte des Widerstandes, zum anderen zeichneten sich Hochschullehrer durch besondere Regimetreue aus. Zu den wesentlichen Voraussetzungen einer Aufklärung der Gründe des jeweiligen Verhaltens von Universitätsangehörigen gehört der möglichst ungehinderte Zugang zu den Akten. Dabei geht es jedoch nicht nur um geheimpolizeiliche Unterlagen, sondern auch um Archivalien der verschiedenen staatlichen Provenienzen und die Akten der Universitätsarchive. Gerade hier wachsen jedoch die Schwierigkeiten. So versucht beispielsweise die Berliner Humboldt-Universität (HUB) die Aufklärung ihrer Geschichte unter der SED-Diktatur durch die Blockierung des Zuganges zu ihrem Archiv zu erschweren. So konnte ein Antrag auf Archivbenutzung für ein Projekt zur Geschichte der Beziehungen der DDR-Germanistik nach Finnland erst zwei Jahre verschleppt und dann abgelehnt werden. In diesem Zusammenhang hatte der behördliche Datenschutzbeauftragte der Universität, Andre Kuhring, vom
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Antragsteller Boris Salomon zuerst den Nachweis eines besonderen öffentlichen Interesses gefordert und dann argumentiert: "Auch wenn Sie sich um die Herausarbeitung allgemeiner Strukturen bemühen, was schon mal dem besonderen öffentlichen Interesse widerspricht, wollen Sie dies mit den Daten natürlicher Personen tun. Dies kann nicht datenschutzkonform geschehen"(Briefvom 26. Juni 1995, in: Archiv des Verfassers).
In der Begründung der endgültigen Ablehnung des Forschungsauftrages durch den 1. Vizepräsidenten der HUB, Prof. Kraus, war dann zu lesen, daß der im Archiv vorhandene Schriftverkehr "unmittelbare Rückschlüsse über die politischen Verstrickungen zahlreicher Mitarbeiter der damaligen Sektion Germanistik" (Brief vom 5. Februar 1996, in: Archiv des Verfassers) zuließe. In geradezu kafkaesker Weise wird hier das Ziel von Forschung als Argument zu ihrer Verhinderung mißbraucht. Datenschutz wird letztlich zum Täterschutz. Darüber hinaus ist an der Humboldt-Universität nicht unaufgeklärt, in welchem Umfang und von wem im Herbst 1989 und im Jahr 1990 Akten vernichtet oder gefleddert worden sind. Diese Aktenvernichtungen gab es offensichtlich in den verschiedensten Struktureinheiten unterschiedlicher Universitäten und auch anderer Forschungseinrichtungen, ohne daß bis heute eine Klärung dieser Vorgänge möglich gewesen wäre. Auch die Vernichtung von Akten im MfS, dessen Archivalien rur die Aufklärung der geheimdienstlichen Tätigkeit von DDR-Wissenschaftlern von entscheidender Bedeutung sind, ist bisher erst im Umrissen erkennbar. So ordnete die Bezirksverwaltung in Rostock am 4. November 1989 an, daß alle Hochschulunterlagen des Direktorates ftir Kader und Qualifizierung einer (nicht genannten) Hochschule, "aus denen Rückschlüsse auf das MjS abgeleitet werden können, { ..] bis zum 6.11.89 [zu] vernichten" (AmmerlMemmler 1991, S. 126) seien. Offensichtlich wurde überall so verfahren, so daß wir auf Akten wie diejenigen, die vom Berliner Bürgerkomitee als noch in Bearbeitung befmdlich in der Bezirksverwaltung Berlin des MfS gesichert werden konnten, oder auf die Materialien des Unabhängigen Untersuchungsausschusses, der die Rostocker Bezirksverwaltung rur Staatssicherheit auflöste, angewiesen sind. Dazu kommen im zunehmenden Maße Angaben aus den Akten der vom MfS an Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen verfolgten Mitarbeiter und Studenten.
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III. Grundfragen der Aufklärung des Zusammenarbeitens von DDR-Intelligenz und Staatssicherheit Neben der lückenhaften Überlieferungslage und den Versuchen, den Zugang zu Archivalien zu blockieren, vergrößert die Schwierigkeiten einer Aufklärung, daß die an der geheimdienstlichen Zersetzung der ostdeutschen Forschungs- und Hochschullandschaft durch das MfS bzw. seine Inoffiziellen Mitarbeiter Beteiligten darüber bis zum heutigen Tag in aller Regel schweigen. Dieses Schweigen hat zwar vielfältige Gründe, doch wäre es verkürzt anzunehmen, daß es sich zumindest bei den aus ihren alten beruflichen Zusammenhängen Ausgeschiedenen, nur um einfache Existenzangst handeln würde. Vielmehr wirken auch heute noch langfristige Grundüberzeugungen von der Notwendigkeit eines Klassenkampfes auch mit geheimpolizeilichen Mitteln weiter. Eine Rolle bei der Stabilisierung solcher Einstellungen spielt die Hoffähigmachung der diktatorischen Vergangenheit durch Teile der PDS. Dazu kommt, daß sich die SED an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen der DDR in aller Regel - unabhängig von der Zusammenarbeit mit dem MfS - auf die Gefolgschaftstreue ihrer Professoren und Wissenschaftler verlassen konnte. So kann es heute kaum verwundern, wenn das in der öffentlichen Diskussion oft als selbstverständlich vorausgesetzte SchuldgefUhl der Träger und Profiteure der Diktatur nicht vorhanden ist, oder nicht gezeigt wird. Weitere Defizite besonders der Diskussion um die Rolle der Wissenschaft in der DDR bestehen darin, daß nach ihren allgemeinen Entwicklungsbedingungen kaum gefragt wird. Darüber hinaus hätte jede aufklärende Diskussion zuerst die ethischen Grundanforderungen an das Verhalten eines Wissenschaftlers oder eines Hochschullehrers klären müssen. Diese Klärung blieb aus, und so konnten auch folgende Fragen nicht beantwortet werden: 1. Haben sich ein mit der Ausbildung einer wissenschaftlichen Elite betrauter Professor, ein öffentlich arbeitender Philosoph oder Historiker höheren moralischen Anforderungen zu stellen als ein "durchschnittlicher" BOrger? 2. Bedeutet dies, daß sie Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit über politische Überzeugungen und persönliche Ängste zu stellen haben? 3. Hat sich ein Professor in jedem Fall hinter die in ihrer Gewissens- und Meinungsfreiheit bedrohten Studenten zu stellen? Ich denke, in allen drei Fällen kann die Antwort nur ,ja" lauten. Dieses "Ja" gilt in jedem gesellschaftlichen System in dem Falle, daß Forschungs- und Meinungsfreiheit geheimdienstlich bedroht werden. Darüber hinaus ist zu fragen, ob geheimdienstliche Tätigkeit sich grundsätzlich mit der Arbeit als Hochschullehrer vereinbaren läßt. Unter dem Bedingungen der Diktatur rückten dann Fragen wie die folgenden in den Mittelpunkt:
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1. Ist die Zusammenarbeit mit der Staatspolizei in jedem Fall verwerflich oder nur dann, wenn sie direkt und persönlich Studenten oder Kollegen schadet? 2. Wie ist aktive Tätigkeit aus Überzeugung, wie solche aus psychologischer Bedrängnis oder aus Angepaßtheit und Feigheit zu bewerten? Bei der Erarbeitung von Kriterien zur Beantwortung solcher Fragen und zur grundsätzlichen Einschätzung der Arbeit filr die SED-Geheimpolizei ist schon zu viel Zeit ergebnislos verstrichen. Das erinnert in fataler Weise an den Umgang mit der Gestapo nach 1945. Auch bei dieser totalitären Geheimpolizei werden grundlegende Fragen nach ihrem inneren Funktionsmechanismus und nach der Bedeutung von Denunziation rur ihre Arbeit erst in den letzten Jahren gestellt. (Diewald-Kerkmann 1996) Darüber hinaus sind ausreichende Grundlagen einer inhaltlichen Aktenkritik rur beide Geheimdienste bis heute nicht geschaffen worden. So blieben Versuche, wie der frühzeitig von "Bündnis 90" in Berlin unternommene, mit Hilfe eines differenzierte!l Fragenkatalogs eine Stasi-Mitarbeit qualitativ zu erfassen, eine Ausnahme (Bündnis 90 1992). Empfohlen wurde damals, in jedem Einzelfall folgende Fragen zu beantworten: - Wann und unter welchen Umständen ist jemand zum IM gemacht worden? - Mit welchem Ziel wurde jemand geworben und in welcher Funktion war er rur das MfS tätig? - Hat jemand aus Überzeugung oder wegen seiner Karriere mitgemacht? - Wurde jemand durch Zwang oder durch Erpressung in einer Lage der Abhängigkeit zur Mitarbeit gebracht? - Warum konnte jemand nicht widerstehen? - Warum hat sich jemand nicht dekonspirativ verhalten? - War jemand nur Gesprächspartner, oder gab es schwerwiegendere Formen der Mitarbeit? - Wie lange dauerte die Mitarbeit, wie weit liegt sie zurück, und wie intensiv war sie? - Wie groß war der Verrat oder der Schaden rur den Betroffenen? - War jemand von Beruf oder Stellung in einer besonderen Vertrauensposition wie z.B. ein Hochschullehrer? - Hat jemand den MfS-Kontakt selbst abgebrochen, versuchte es, oder ließ man ihn fallen? - Gibt es heute ein Unrechtsbewußtsein, hat sich jemand selbst offenbart, versucht, Schaden wieder gut zu machen und neu anzufangen?
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Noch heute sind bei der Auseinandersetzung mit Stasi-Verstrickungen diese Fragestellungen relevant und bis heute ist es zu keiner breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit ihnen gekommen. Trotzdem bezogen gerade universitäre Ehrenkommissionen implizit ganz ähnliche Fragestellungen in ihre Arbeit ein. Eine weitere Bedingung rur den Umgang mit der Staatssicherheitsproblematik hätte die bisher ausgebliebene öffentliche Auseinandersetzung an den Universitäten selbst darüber, welche Konsequenzen sich aus den verschiedenen Formen von Staatssicherheitsmitarbeit ergeben, sein müssen. Neben einer öffentliche Rechtfertigung wären hier Ausschluß von akademischen Ehrenämtern, arbeitsrechtliche Schritte und immerwährende bzw. zeitweilige Entlassung aus dem öffentlichen Dienst denkbar gewesen.
IV. Funktionsmechanismen des Staatssicherheitsdienstes an den ostdeutschen Universitäten Doch um darüber wirklich sachgerecht zu entscheiden, hätte es Aufklärungsbedarf und grundlegende Kenntnis über die Funktionsmechanismen des Wirkens der SED-"Gedankenpolizei" an ostdeutschen Hochschulen und Akademien geben müssen. Ein solches Interesse war kaum zu spüren und die Situation verschlechtert sich weiter, obwohl es beim heutigen Forschungsstand durchaus möglich ist, Grundsätzliches über die Zusammenarbeit des MfS mit Wissenschaftlern auszusagen. So ist zwischen der Überwachung der Universitäten durch die Staatssicherheit einerseits, und der Zusammenarbeit einzelner Lehrender und Studenten mit diesem Geheimdienst zur Lösung der dem MfS durch die SED übertragenen Aufgaben andererseits, zu unterscheiden. Weiterhin ist zwischen der Kooperation mit der Hauptabteilung Aufklärung (HVA) des Markus Wolf (also der Spionage) und denjenigen Abteilungen des MfS, die sich mit der "Abwehr", d.h. vor allem mit der Unterdrückung der inneren Opposition beschäftigten, ein Unterschied zu machen. Ähnlich erfolgte auch die Einbindung der Akademien und Forschungsinstitute der DDR in das Netz des MfS, doch sind diese Verbindungen bis heute noch viel weniger aufgeklärt, als die der Hochschulen. Hier besteht ein akuter Forschungsbedarf, der deutlich wird, wenn man beispielsweise eine Einschätzung der Bezirksverwaltung rur Staatssicherheit in Leipzig vom 23. August 1989 liest. (Selitrenny/Weichert 1991, S. 174 f.) In ihr wurde festgehalten, daß die Mehrzahl der Mitarbeiter des Institutes rur Allgemeine Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR mit dem MfS inoffiziell zusammenarbeitete. Dies scheint rur die verschiedenen Akademie-Institute eher die Regel als die Ausnahme gewesen zu sein. (Eckert 1996, S. 138-158).
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Grundsätzlich waren Interessen und Arbeitsfelder des MfS aber an allen DDR-Universitäten und Akademien gleich. So erfolgte die Zusammenarbeit von Universitätsmitarbeitern strukturell bedingt - so bei der Gestaltung der universitären Auslandsbeziehungen - und inoffiziell. Für die offizielle Zusammenarbeit waren die SED-Kreisleitung, die Rektoren, Prorektoren, Parteisekretäre und die Sicherheitsbeauftragten von besonderer Bedeutung. (Labrenz-Weiß 1994) Großen Wert maß das MfS IM in "Schlüsselpositionen" wie in den Direktoraten für Kader und Qualifizierung, für Weiterbildung, Internationale Beziehungen sowie in den Arbeiter- und Bauerninspektionen zu. Bei der Bekämpfung der Opposition in Hochschulen und Akademien der DDR kam der Hauptabteilung XX eine zentrale Stellung zu. Die Abteilung 8 der Hauptabteilung XX überwachte mit ihren 25 hauptamtlichen und 190 "Inoffiziellen Mitarbeitern" (GilVSchröter 1991, S. 52; KronelKuckutzJLeide 1992, S. 77) in drei Referaten das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen mit dessen nachgeordneten Einrichtungen, das Ministerium für Volksbildung und alle ausländische Studenten. Entscheidend für die geheimdienstliehe "Bearbeitung" von Universitäten und Hochschulen waren aber jeweils die entsprechenden Diensteinheiten in den Bezirksverwaltungen des MfS. Bei der Werbung von IM legte die Staatssicherheit Wert auf renommierte und international anerkannte Wissenschaftler, die Zahl der geworbenen Studenten ging in den 80er Jahren zurück, da diese dem Staatssicherheitsdienst kaum wichtige Informationen lieferten. Bei der Durchsicht der Stasi-Arbeitspläne wird deutlich, daß die Schwerpunkte der MfS-Durchdringung nicht die Gesellschafts- und Geisteswissenschaften, sondern die Bereiche Wirtschaftswissenschaften, Elektronik! Physik, Friedensforschung, Biotechnologie, physikalische Forschung, AIDSForschung und Organtransplantation waren. Eine Sonderrolle spielte in Berlin die Sektion Kriminalistik als inoffizielle Ausbildungsstätte des MfS.
V. Blockadegründe für die Aufklärung Neben dem geschilderten weitgehenden Ausbleiben der Aufklärung über die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Staatssicherheit an den ostdeutschen Universitäten vervollständigt meine Negativbilanz (Eckert 1995, S.169185), daß nach den Denunzianten außerhalb der Staatssicherheit kaum gefragt wurde und sich die Aufmerksamkeit ganz einseitig auf spektakuläre Fälle und auf die Enttarnung Inoffizieller Mitarbeiter konzentrierte. Auch die Gutachten von Universitätsmitarbeitern für die Staatsanwaltschaften der DDR in politischen Verfahren, für die Literaturzensur und über die Anwendbarkeit von durch Agenten im Westen besorgte wirtschaftliche bzw. wissenschaftliche Informationen sind noch kaum zur Sprache gekommen. Weiterhin unterblieb die
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Aufklärung darüber, wie die offizielle Zusammenarbeit zwischen Struktureinheiten der Staatssicherheit und den Universitäten bzw. den dort angesiedelten SED-Leitungen organisiert war. Darüber hinaus belasteten die unterschiedlichsten Faktoren eine Diskussion um die Stasi-Vergangenheit ostdeutscher Wissenschaftler. Dazu zählt die nicht selten zu hörende Meinung, eine öffentliche Beschäftigung mit diesem Thema könne die "eigene Hochschule beschädigen In Berlin meinten darüber hinaus viele Universitätsmitarbeiter, man müsse sich in einer Wagenburgmentalität (eine Zeitlang unter dem Motto" Unsern Heiner nimmt uns keiner H) zusammenschließen. Die Überprüfung der Mitarbeiter der Humboldt-Universität auf ihre Stasi-Mitarbeit verlief nur schleppend. Viel problematischer ist jedoch, daß die Arbeit für den sowjetischen Geheimdienst KGB, für die Auslandsspionage (Hauptverwaltung Aufklärung) und für die militärische Auslandsspionage der Nationalen Volksarmee wegen der nicht vorhandenen oder nicht zugänglichen Archivalien nicht nachgewiesen werden konnte und kann. Es ist ebenso problematisch, daß die vorgenommenen Überprüfungen fast völlig auf Ostdeutsche beschränkt blieben und damit der Gleichheitsgrundsatz verletzt wurde. Die Überprüfung auf eine Staatssicherheitsmitarbeit ist dagegen für alle notwendig, die an einer ostdeutschen Hochschule arbeiten. H.
Gerade bei den Angehörigen der SED schien lange Zeit und zum Teil bis heute auch eine Art von "Parteisolidarität" weiterzuwirken, ohne daß bei den einen ein Bewußtsein darüber deutlich wird, daß ja auch Mitglieder der SED von ihren "MfS-Genosssen" bespitzelt wurden. Bei anderen wird selbst dies als angeblich in der Auseinandersetzung mit dem westlichen Imperialismus unumgänglich - hingenommen. Sehr oft ist statt der Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld ist die Hoffnung ZU verspüren, daß das jeweilige Vergehen nicht justitiabel sein möge. Dazu kommt in der letzten Zeit wohl auch noch die Erwartung, daß es mit der Überprüfung bald ein Ende haben könnte. Gleichzeitig ist die Auffassung zu hören, daß moralische Gesichtspunkte nicht als "reglementierende Zulassungsrichtlinien zur wissenschaftlichen Arbeit geeignet seien. Die verschwindend kleine Gruppe der an Aufklärung Interessierten stößt dagegen weiterhin an Mauem des Schweigens, des Unverständnisses und der Ablehnung. Die Situation an den Universitäten verschlimmert sich durch das Desinteresse einer zunehmend entpolitisierten Studentenschaft, die - nach einer anfangs wohl noch weitverbreiteten Loyalität zur DDR - inzwischen sehr einseitig auf rein fachliches Weiterkommen und eine erhoffte Karriere ausgerichtet ist. Auch von diesen Studenten sollte jedoch bedacht werden, daß ein solches ignorantes Verhalten dazu beiträgt, die Vergangenheit der eigenen Alma mater nicht aufklären zu können. In ähnlicher Weise wirkt auch die übertriebene Zurückhaltung vieler neuberufener Professoren, die sich in der Regel scheuen, über Verhältnisse zu urteilen, die sie selbst nicht erlebt haben, Kollegen zu befragen, die sie schon vor 1989 kennenlernten, und die oft die UngeH
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wißheit über das eigene Verhalten in einer Diktatur äußern. Diese "vornehme" Indifferenz von "Unbeteiligten" hätte vielleicht dann ein Ende, wenn begriffen würde, daß die Geschichte der DDR ein Teil der deutschen Geschichte ist, der sich alle Deutsche zu stellen haben. Dabei kann auch nicht ständig mit dem Vergleich zur Situation nach 1945 und damit, was damals unterlassen worden wäre, argumentiert werden. Sicher ist es in einem gewissen Sinne ungerecht, nach dem Ende der DDR das zu klären, was nach der Zerschlagung der ersten deutschen Diktatur oft zunächst im Dunkeln blieb. Aber dieses Argument kann nicht ausschlaggebend sein, sondern entscheidend ist, was der Stabilisierung der Demokratie heute dient.
VI. Die universitären Ehrenausschüsse Schließlich blieb auch die jetzt im wesentlichen abgeschlossene Arbeit der universitären Ehrenausschüsse allein schon deshalb unbefriedigend, weil sie ihre Ergebnisse nicht öffentlich machen konnten. Darüber hinaus gab es wesentliche Unterschiede zwischen ihnen. Das möchte ich an zwei Beispielen verdeutlichen. So arbeitete der Ehrenausschuß der Humboldt-Universität auf der Basis universitärer Autonomie ohne gesetzliche Grundlage. Er wurde nur auf schriftlichen Antrag bzw. auf Grund von Bescheiden der »Gauck-Behörde« tätig, überprüfte also nicht alle Mitarbeiter. Seine (noch andauernde) Arbeit war vertraulich, und er stellte keine nennenswerte Öffentlichkeit her. Dagegen arbeitete die Rostocker Ehrenkommission auf gesetzlicher Grundlage, sie überprüfte alle Mitarbeiter und schloß (vor dem Eingehen aller Ergebnisse aus der Behörde des Bundesbeauftragten) ihre Arbeit mit einer öffentlichen Veranstaltung ab. Im Unterschied zu Berlin ging sie vom Sachverhalt einer "objektiven Kompromittierung" aus und schätzte auch Funktionen in der SED als Grund rur ein negatives Votum ein. Wie in Berlin war ihre Arbeit vertraulich, anders als an der Humboldt-Universität wurden jedoch alle Universitätsmitarbeiter überprüft. Im Unterschied zur HUB wirkten in der Rostocker Ehrenkommission auch vom Kultusministerium berufene auswärtige Mitglieder mit und an beiden Universitäten ruhrte die inoffizielle Mitarbeit beim MfS nicht automatisch zu einer Kündigung. Im Vergleich zwischen beiden Universitäten scheint insgesamt der Erneuerungswille an der Universität Rostock größer gewesen zu sein, obwohl auch hier in nicht geringem Ausmaß auf äußeren Druck reagiert wurde.
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VII. Fazit Als Fazit bleibt, daß wichtiger als Personalüberprüfungen an ostdeutschen Universitäten in Zukunft die Offenlegung der Strukturen geheimdienstlicher Unterwanderung in der Wissenschaft der DDR, der Rolle der SED als Auftraggeber ihres Geheimdienstes, der Arbeit der hauptamtlichen Führungsoffiziere der Stasi und der Auswirkungen von Denunziation und Verrat auf Lehrund Forschungsgemeinschaften sein wird. Der Blick muß von der Verengung auf die SED-Diktatur zum Vergleich mit der nationalsozialistischen Diktatur geweitet werden. Darüber hinaus sollten - und das ist das Entscheidende - universitärem Widerstand und studentischer Opposition in künftiger Forschung vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet werden und auch die Auseinandersetzung um die an Wissenschaftler zu stellenden moralischen Minimalanforderungen nach zwei deutschen Diktaturen steht uns noch bevor.
Literatur Ammer, ThomaslMemmler, Hans-Joachim (Hg.): Staatssicherheit in Rostock. Zielgruppen, Methoden, Auflösung. Köln 1991. Bündnis 90, Landesverband Berlin: Erklärung zur Öffnung der Stasi-Akten und der Folgen vom 9. März 1992 [Manuskript]. Diewald-Kerkmann, Gisela: Politische Denunziation im NS-Regime oder Die kleine Macht der "Volksgenossen". Bonn 1995. Eckert, Rainer: Die Humboldt-Universität im Netz des MfS. In: DDR-Wissenschaft im Zwiespalt zwischen Forschung und Staatssicherheit. Hrsg. von Dieter VoigtILothar Mertens. Berlin 1995, S. 169-186. Eckert, Rainer: Wissenschaft mit den Augen der Staatssicherheit. Die Hauptabteilung XVIIU5 des Ministeriums rur Staatssicherheit in den Jahren vor der Herbstrevolution von 1989. In: Die Mauem der Geschichte. Historiographie in Europa zwischen Diktatur und Demokratie. Hrsg. von Gustavo ComilMartin Sabrow. Leipzig 1996, S. 138-158. GiII, David/Schröter, Ulrich: Das Ministerium rur Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperi ums. Berlin 1991. Eckert, RainerlFaulenbach, Bemd (Hg.): Halbherziger Revisionismus. Zum postkommunistischen Geschichtsbild. München 1996. Krone, TinalKuckutz, IrenalLeide, Henry: Wenn wir unsere Akten lesen. Handbuch zum Umgang mit den Stasi-Akten. Berlin 1992. Labrenz-Weiß, Hanna: Die Beziehungen zwischen Staatssicherheit, SED und den akademischen Leitungsgremien an der Humboldt-Universität, in: Humboldt, (13. Mai 1994), Berlin. Selitrenny, Rita/Weichert, Thilo (Hg.): Das unheimliche Erbe. Die Spionageabteilung der Stasi. Leipzig 1991.
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DAS OSTBÜRO DER FDP UND DIE STAATSSICHERHEIT I. Einleitung Das Ostbüro der FDP hat in der Forschung bis heute keine Rolle gespielt; die Tätigkeit dieser Dienststelle ist selbst in FDP-Kreisen kaum bekannt. Ursache hierfür ist sicherlich die zeitlich und personell sehr beschränkte Tätigkeit dieses Ostbüros. Die FDP hat erst spät nachvollzogen, was andere Parteien, vornehmlich SPD und CDU, schon mit Beginn der Repressionen gegen ihre Parteien begannen, nämlich den Aufbau eines Büros, das Flüchtlingen helfen und aktive Widerstandsarbeit leisten sollte. Sie hat diese Arbeit aber auch früher eingestellt als die anderen Parteien. Dazwischen liegt eine Tätigkeit, die in den filnfziger Jahren kurz aufblühte, die erhebliche Opfer forderte, und die heutzutage nahezu vergessen ist. Die jetzt zugänglichen Akten geben jedoch einen guten Überblick über die Methoden der Staatssicherheit, die wiederum beispielhaft filr die Arbeit des MfS gegen alle Ostbüros und vergleichbare Institutionen sind. l
11. Die Gründung des Ostbüros der FDP Ausgangspunkt ftlr die Ostarbeit war die Berliner FDP unter Carl-Hubert Schwennicke, der in der Weimarer Republik Mitglied der Deutschen Volkspartei (DVP) und Sekretär Gustav Stresemanns gewesen war und am 8. August 1946 Vorsitzender des Landesverbandes wurde. Nachdem Wilhelm Külz, der Teilnahme der LDPD an der SED-gesteuerten Volkskongreßbewegung zugestimmt hatte, trennten sich die liberalen Westzonen-Parteiverbände wie auch jener der Berliner LDPD von Külz. Schwennicke schloß sich den West-LiberaDiese Arbeit ist Teil einer Gesamtdokumentation über die Tätigkeit der üstbüros von SPD, CDU und FDP, die derzeit am Lehrstuhl Politikwissenschaft I (Prof. W. Bleek) der Ruhr-Universität Bochum erarbeitet und von der DFG gefllrdert wird. Ich danke rur die Unterstützung bei der Erforschung dieses FDP-Teilbereiches vor allem Frau Naujoks vom BStU, Herrn Scholl wer, Bonn, und Herrn Pradier vom Archiv des Demokratischen Liberalismus (ADL). 14 Mertens I Voigt
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len an. Kurze Zeit später gründeten die Berliner ein Ostbüro unter dem Namen »Hilfsdienst Ost« (HDO) "Der Hilftdienst Ost hatte damals das Ziel, die Verbindung zu den im demokratischen Teil Berlins [gemeint ist der sowjetische Sektor; W.B.] verbliebenen LDPD-Mitgliedern aufrecht zu erhalten, und durch diese Informationen über die weitere Entwicklung zu bekommen "(BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. I, Auskunftsbericht über das Büro fiir Wiedervereinigung), beschrieb durchaus zutreffend die Staatssicherheit diese Einrichtung. Daneben sollten die nach den ersten Verfolgungsmaßnahmen geflüchteten Mitglieder der LDPD zunächst provisorisch versorgt werden. Doch viele Ostliberale wandten sich aus mangelnder Kenntnis über die FDP-Dienststelle an das Ostbüro der SPD; andere wurden von Liberaldemokraten gar dorthin empfohlen (Mischnick 1991, S. 201). Einige Ostliberale wurden später sogar festbeschäftigte Mitarbeiter des SPD-Ostbüros, beispielsweise die langjährige Berliner Leiterin Charlotte Heyden alias "Schubert", der stellvertretende Bonner Ostbüroleiter Helmut Fränzel alias "Bärwald",2 oder auch der Leiter der Berliner Chef-Flüchtlingsbetreuung der SPD, Werner Maletzky alias "Köhler". Großer Handlungsbedarfbestand demnach fiir die FDP, die eigene Ostarbeit effizienter und mehr publik zu machen. Dies geschah nach der Gründung der Bundesrepublik. Im Mai 1950 wurde ein Hilfsdienst Ost (HDO) in Bonn geschaffen, dessen Leiter nach einer kurzen Übergangsphase Karl-Heinz Naase3 wurde. Doch der Anfang der Arbeit war schwierig, finanzielle Mittel waren kaum zu bekommen, in Berlin verschliß man innerhalb von nicht ganz zwei Jahren sechs Leiter der Außenstelle.
III. Aktivitäten des üstbüros der FDP Erst Anfang 1953 änderte sich dies. Mit einem Mal hatte die FDP Geld, man startete Aktionen unter dem Begriff "Frühjahrsoffensive". Hans Füldner, politischer LDPD-Flüchtling aus Halle, wurde eingestellt und nach Berlin geschickt. Er entfaltete unter dem Aliasnamen "Ludwig" eine bemerkenswerte Aktivität in vielen Bereichen, so auch bei der Propaganda. Er knüpfte, um den Broschürenfluß gen Osten zu beschleunigen, Kontakte zur "Organisation Brandt" an, die mit privaten Geldspenden Widerstandsarbeit in der DDR betrieb (ADL, Bd.2524). Brandt hatte zunächst mit seinen Mitarbeitern fiir die »Freiheitsliga« und die von den USA finanzierte antisowjetische Emigranten2
Beide gingen 1971 in die CDU.
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Karl-Heinz Naase wurde 1922 geboren, war nach 1945 u.a. Jugendreferent der Thüringer LDPD und Bürgermeister von Rastenburg. Flucht 1948, 1950-1956 Hilfsdienst OstlOstbüro der FDP, er starb 1980.
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organisation »Narodno Trudowy Sojus« (NTS) Widerstandstätigkeiten ausgefilhrt, bis er dann im September 1953 im Rahmen eines Gesprächs mit Füldner und Naase eine Zusammenarbeit mit der FDP vereinbarte. Das Material sollte zukünftig über Ost-Berlin in Depots in verschiedenen Städten der DDR eingelagert und dann innerhalb weniger Tage zeitgleich im gesamten Land verteilt werden. Testweise wurde dieses Verfahren zunächst in Cottbus und in Leipzig geprobt. Generalstabsmäßig wurde der erste Einsatz in Leipzig vorbereitet. 4 Mitte August 1953 gelangten rund 30.000 eigens für die Herbstmesse gedruckte Flugblätter durch Kuriere in ein Depot und wurden dann an elf Mitglieder der "Organisation Brandt" weitergeleitet, unter ihnen ein Heinz Irmscher, von dem später noch die Rede sein wird. Mit Hilfe von Flugblattraketen, sogenannten Fröschen, verteilte man innerhalb kürzester Zeit rund 10.000 Flugblätter in der Innenstadt; abends dann die restlichen Exemplare in den Randbezirken. Da die eigenen Flugblattverteiler stark gefiihrdet worden wären, verzichtete man darauf, während der Rede Otto Grotewohls beim Eröffnungsfestakt der Messe eine Flugblattrakete zu starten. In Cottbus waren an der Aktion sechs Verteiler beteiligt, insgesamt konnten rund 14.000 Exemplare der FDP-Flugblätter am 27. August 1953 in verschiedenen Stadtvierteln verteilt werden. Von Berlin aus oder auch von anderen Bahnhöfen im Zonenrandgebiet fanden sogenannte RB-Aktionen statt, wobei RB rur Reichsbahn stand. Interzonenzüge oder Berliner S-Bahnen wurden auf den Dächern und auf der Ladung kurz vor der Grenze mit Material belegt, das dann auf der Fahrt durch Ostdeutschland langsam herabrieselte. Von der S-Bahnbrücke Herrmannstraße in Berlin-Neukölln wurde ab Juli 1953 ähnliches organisiert (Neue Justiz, Jg. 1954, S.464). In anderen Fällen warfen Vertrauensleute meist nachts aus leeren Personenwaggons Flugblätter auf die Schienen; ähnliches wurde auf Fahrten von Berlin aus Richtung Frankfurt/Oder und in die Lausitz auf Autobahnen und Landstraßen gemacht. Auch per Post und mit Hilfe von Wetterballons wurde der Flugblattversand intensiviert (Interview Hans Füldner v. 28.3.95, S. 7 f.). Neben der Flugblattabgabe an Besucher, dem massenhaften Schmuggel und dem Transport per "Luftfracht" wurden gezielt Kleingewerbetreibende, Bauern, Lehrer, Ärzte und andere Berufsgruppen per Post angeschrieben, und die Briefe entlang verschiedener Bahnstrecken im Zonengrenzbereich in Briefkästen geworfen. Füldner schickte rund 1.500 Drohbriefe an LDPD-Parteifunktionäre (Schollwer 1996, S. 101, Anm. 8; vgl. auch ADL, Bd. 2608, Tätigkeitsbericht 1.1.-30.9.1953, S. 8). In diese Briefe floß das Wissen des Ostbüros über viele Täter im Regime ein; unterzeichnet waren die Briefe, die oftmals auf offiziell wirkenden Briefköpfen von DDR-Organisationen 4
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Fallschilderung in: ADL, Bd. 2593, Flugblattaktion des OstbUros der FDP wllhrend der diesjllhrigen Leipziger Herbstmesse v. 9.9.1953.
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geschrieben waren. Das Ostbüro wollte die LDPD auch wirtschaftlich treffen, daher schrieb man Inserenten in LDPD-Zeitungen mit der Bitte, doch im Interesse einer wahrhaft liberalen Politik keine Anzeigen mehr zu schalten. Mit Hilfe geflilschter LDPD-Briefe (ADL, Bd. 2526) bestellte man Funktionäre, etwa Bezirkssekretäre, kurzfristig zu Besprechungen nach Ostberlin ein, andere wurden mit Druckschriften des Ostbüros beliefert. Doch nicht nur Briefpapier, Umschläge und Schriften wurden geflilscht: Hans Füldner alias Ludwig schmuggelte 1953 tausende geflilschter 20,- DM-Scheine der DDR-Notenbank nach Osten (ADL, Bd. ~521, Schnellbericht Nr.23 v. 4.9.1953). Und auch militante Aktionen in West-Berlin wurden von Füldner betrieben. Nach dem 17. Juni 1953 "haben wir unter Zuhilfenahme der Kamp/gemeinschaft der Ost-LDP-Flüchtlinge und einer Anzahl von LDP-Flüchtlingen aus diversen Flüchtlingslagern die Räumung von drei SED-Bezirksbüros (. ..) organisiert. Die Polizei leistete passiven Beistand. Eine Anzahl Fahnen, Stempel und sonstige Papiere haben wir als 'Jagdtrophäen ' im Ostbüro untergebracht. Aktenmaterial wurde nicht verbrannt, sondern der Polizei zur Auswertung übergeben" (ADL, Bd.2531, Monatsbericht Juni 1953 v. 3.7.1953, S. 3).
Zweiter Bereich der Frlihjahrsoffensive war der Aufbau einer sogenannten Informationsstelle in Berlin, ebenfalls Anfang 1953. Das Berlin des Kalten Krieges war zumindest bis zum Mauerbau am 13. August 1961 eine Informationsgesellschaft, eine halb legale Nachrichtenbörse. Informationen und Nachrichten, auch kleinster und unbedeutendster Art, wurden gesammelt; im Osten über den Westen, im Westen über den Osten. Natürlich lag das Hauptgewicht bei dieser Art der Arbeit bei den professionellen Geheimdiensten der Alliierten und später auch bei deutschen Diensten in Ost und West. Doch im Westen der ehemaligen Reichshauptstadt befaßten sich auch zahlreiche andere Organisationen und Einzelpersonen mit der Informationssammlung. Dies geschah durchaus nicht vordringlich aus fmanziellem Interesse, auch wenn es das natürlich auch gab. Jede Organisation, von der sozialdemokratischen Zeitung »Der Telegraf« über die Parteien, Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Jugendorganisationen und viele mehr wollten rur die eigene politische Arbeit ein Wissen über die Zustände in der vierten Besatzungszone und späteren DDR haben, bei keiner dieser Organisationen war jedoch ein umfassendes Bild über die Zustände im Osten Deutschlands zu erhalten. So tauschten befreundete Institutionen und Personen Nachrichten aus, im Regelfall ohne finanzielle Gegenleistungen. Die Informationssammlung nahm in der gesamten Tätigkeit des Ostbüros zunächst nur einen sehr geringen Umfang ein. Nachdem man sich bei den Liberalen bis Ende 1952 weitgehend auf Propaganda und auf den Kontakt zu alten liberalen Parteimitgliedern gestützt hatte - und auch von Nachforschungsmaß-
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nahmen der Staatssicherheit weitgehend verschont geblieben war (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. 112,3, BI. 41) -, sah Naase im Januar 1953 aufgrund der sich krisenhaft zuspitzenden wirtschaftlichen und politischen Situation in der DDR die Notwendigkeit, aber endlich auch die Möglichkeit, neue Formen der Informationsbeschaffung zu organisieren. Bisher stieß diese Art der Arbeit schlichtweg an finanzielle Grenzen. Zwar liefen in den verschiedenen Dienststellen und gelegentlich auch privat bei FDP-Funktionären Personen an, die Informationen verkaufen wollten, aber das Ostbüro konnte diese Informationsbeschaffung auf fmanziellen Gründen nicht professionell organisieren. Geld hatte man nun von den Amerikanern, doch das Personalproblem war immer noch nicht gelöst. Weder hatte das Ostbüro fiihige Informanten, noch im Geheimdienst erfahrene Mitarbeiter im Ostbüro. Man bediente sich daher der Unterstützung eines Mitarbeiters der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU), der gleichzeitig auch FDP-Mitglied war: Joachim Porzig. Porzig war zu diesem Zeitpunkt Flüchtlingsbetreuer bei der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit; er fertigte - ebenso wie die Vertreter der Ostbüros der Parteien - im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde Gutachten über einlaufende Flüchtlinge an. Er gehörte nach eigenen Aussagen "der Aujklärungsabteilung [der KgU; W.B.] an und bearbeite[teJ die Sachgebiete Parteien und Verwaltung" (BStU, MfS HA II1Stab, LebenslaufPorzig v. 11.12.52, BI. 101).
IV. Entdeckung und Verrat Mit der Gründung der I-Stelle und der vermehrten Propagandatätigkeit von Füldner wurde auch die Staatssicherheit auf das kleine FDP-Ostbüro aufmerksam, das es vorher kaum beachtet hatte. Die I-Stelle wurde gleich nach ihrer Gründung von Mitarbeitern der Staatssicherheit ausgeforscht; bereits am 3. März 1953, also unmittelbar nach ihrer Gründung, nahm GM "Marga", Chefsekretärin des ZK-Mitgliedes Eggerath,5 Kontakt zu Porzig auf (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd.II B, BI. 24). Sie überbrachte vertrauliche Unterlagen über die Lager rur Westübersiedler in der DDR mit, brach dann jedoch schnell den Kontakt ab und erschien erst ein halbes Jahr später wieder in der I-Stelle, mit einer erheblich unglaubwürdigen Legende. Der Kontakt wurde daher abgebrochen (Porzig in einem Gespräch mit dem Autor v. 16.12.1996). Die Staatssicherheit stocherte, darauf lassen trotz des Einsatzes von GM "Marga" einzelne Überprüfungsvorgänge schließen, zunächst bei der Bekämpfung des 5
BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. II B, Schreiben Porzig an Naase v. 3.3.1953, BI. 31. Wemer Eggerath war 1947 bis zur Abschaffung der Länder der DDR 1952 Ministerpräsident von Thüringen, später Botschafter in Rumänien und Staatssekretär filr Kirchenfragen.
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FDP-Ostbüros im Nebel herum (BStU, MfS 1539/65, Bd. IV4). Man wußte zwar, wer hinter dieser Frühjahrsoffensive steckte, nämlich Porzig und Füldner, aber die genaue Reichweite der Infiltration, die Anzahl der V-Leute und der finanzielle Rahmen waren nicht bekannt. Hatte das MfS gerade die Liberalen in der LDPD gezähmt und 1952 die letzten Widerstandsnester liberaler Hochschulgruppen auch durch Todesurteile in der DDR beseitigt (Bundesvorstand des Liberalen Studentenbundes Deutschlands 0.1 S. 38),6 so schien sich hier eine neue Gefahr rur die totalitäre SED-Diktatur anzubahnen. So geriet das Ostbüro der FDP, das zwischen 1950 und 1952 kaum Gegenstand ernsthafter Ermittlungen gewesen war, ins Visier des Ministeriums rur Staatssicherheit. Nachdem zuvor in Pamphleten und Aktionen die Tätigkeit des Ostbüros der FDP kaum angegriffen wurde, erließ der Staatssekretär im Ministerium rur Staatssicherheit, Erich Mielke, am 26. September 1952 eine Dienstanweisung (BStU, MfS, Dienstanweisung Nr. 17/52N/C vom 17.9.1952), durch die ein neues Hauptsachgebiet im Referat V C unter der Bezeichnung clIn eingerichtet wurde. Es sollte sich mit der LDPD, den LDPD-nahen Hochschulgruppen, mit dem Hilfsdienst Ost (HDO), der Exil-LDP und dem Amt rur gesamtdeutsche Studentenfragen beschäftigen. Wie gering zu diesem Zeitpunkt noch das Wissen der Staatssicherheit um illegale liberale Organisationen war, ist daran erkennbar, daß man neben dem Hilfsdienst Ost auch noch das Ostbüro der FDP bekämpfen wollte, und nicht erkannte, daß es sich um zwei Namen rur eine Institution handelte. So machte Mielke folgerichtig Fehler in der Vergangenheit rur das mangelnde Wissen verantwortlich, es sei "die Notwendigkeit der Abwehr feindlicher Tätigkeit reaktionärer Personengruppen, die zu den Kreisen der LDP gehören, oft unterschätzt" worden. Monatlich sollte nunmehr das Referat c/m einen Lagebericht über die Maßnahmen gegen die Liberalen erstellen, zur Erfilllung dieser Aufgaben wurden auch neue Stellen rur 1953 in Aussicht gestellt. Doch auch die intensiven Westkontakte der LDPD-Führung einerseits und das aktive Vorgehen der FDP durch ihr Ostbüro ab Anfang 1953 andererseits werden mit ausschlaggebend rur diese AufgabensteIlung gewesen sein. Die Westkontakte könnten, so beftlrchtete die SED, den Einfluß der OstBüros in der DDR verstärken (Suckut 1994, S. 109) und damit eine gefahrvolle Wechselwirkung in Gang setzen. Folgerichtig waren Westkontakte der LDPD nur dann wünschenswert, wenn gleichzeitig der Druck des FDP-Ostbüros auf Staat und Partei verschwände. Mit der Einrichtung des Referats c/m begann die zielgerichtete Bearbeitung des liberalen Ostbüros. Hatte das FDP-Ostbüro noch zu Beginn des Jahres 6
Anfang 1952 verhaftete das MfS die fuhrenden Mitglieder des LDPD-Hochschulausschusses in Jena, Herrnann Marx, Gerhard Emig, Horst Ahnert und funf weitere Mitglieder. Dies kann als Ende des organisierten Liberalismus an den DDR-Hochschulen angesehen werden.
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1953 mit der Auflösung der kommunistischen Herrschaft in der DDR gerechnet, so mußte man jetzt mit Problemen kämpfen, die einer vermeintlichen Auflösung der DDR, seiner Staatspartei und vor allen Dingen des Staatssicherheitsdienstes Hohn sprachen. Tatsächlich geriet in den kommenden Monaten weniger die Staatspartei sondern das Ostbüro der FDP unter massiven Druck. "Mit Hilfe des GM 'Pelz' gelang es im Mai 1953, eine Agentin des Ostbüros der FDP zu entlarven ", hierdurch konnten zwei weitere Mitarbeiter in Rostock festgenommen werden. "Hierdurch wurden uns erstmalig nähere Einzelheiten über die Tätigkeit des Ostbüros der FDP bekannt", stellte die Staatssicherheit zur ersten Verhaftung einer Vertrauensperson des Ostbüros fest (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. 1114, BI. 4). Was hier so lapidar beschrieben wird, gliche, wenn es denn stimmte, einer Agentenstory im Mata-Hari-Format. Eine Kabarettistin und ihr Mitarbeiter sollen laut Staatssicherheit die ersten Zuträger von Porzig alias "Seile" gewesen sein. Er habe sie wohl schon vor seiner Tätigkeit für die FDP gekannt; ab seiner Festbeschäftigung dort arbeiteten die beiden für die FDP. Da sie als Kabarettisten in allen möglichen Gegenden auftraten, konnten sie so auch, ohne allzuviel Aufsehen zu erregen, Informationen sammeln und weitergeben. Die Staatssicherheit hatte bei der Enttarnung erhebliches Glück: GM "Pelz" war überhaupt nicht mit dem Aufklären des FDP-Bereiches beschäftigt, sondern nach einem erfolgreichen Einsatz auf Staatskosten im Urlaub, just dort, wo sich auch die Kabarettisten befanden. "Diese Untergrundgruppe (..) konnte nur entdeckt
werden dadurch, daß der GM 'Pelz' (..) vom Staatssekretariat für Staatssicherheit vorübergehend in einem Hotel in Rostock untergebracht war, um sich zu erholen" (ebd., Bd. 1115, BI. 39). Eine schöne Geschichte, und tatsächlich taucht in den Unterlagen der Staatssicherheit eine Sängerin aus Mittweida auf, die am 12. Mai 1953 und damit am selben Tag festgenommen wurde wie ein Kontaktmann Porzigs aus Rostock mit Namen Harry John. Doch während Porzig den Kontakt zu diesem Lehrer offen zugibt, bestreitet er durchaus glaubwürdig, außer der schon oben erwähnten GM "Marga" zu weiteren Frauen in der DDR Kontakte gehabt zu haben. So bleibt lediglich der mögliche Kontakt zum o.g. Lehrer als Verhaftungsursache. Auch in Dresden gab es personelle Verluste. Ausgangspunkt hierfiir war ein Günter Hegewald alias GM "Hans", der sich als Verräter seiner Parteifreunde betätigte. "Im Juni 1953 [eröffnete die Staatssicherheit] in Dresden auf der
Grundlage der Treffberichte des GM 'Hans' einen Vorgang 'Tanzmusik''',
heißt es hierzu in den Unterlagen der Staatssicherheit. Hegewald, damals Abteilungsleiter im Bezirksvorstand der LDPD, wurde in eine Untergrundgruppe in Dresden eingeschleust und berichtete fortan hierüber (ebd., BI. 40). Diese Gruppe wurde von der Staatssicherheit als erhebliche Gefahr angesehen, hatte sie doch Kontakt zum ehemaligen LDPD-Landesvorsitzenden und stellvertre-
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tenden Ministerpräsidenten der DDR, Professor Kastner aufgenommen, mit dem man eine neue, wahrhaft liberale Partei gründen wollte. Kastner wehrte sich gegen dieses Ansinnen, vielleicht auch, weil er sich nicht selbst gefährden wollte. Er stand zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem BND/Organisation Gehlen in Kontakt und flüchtete 1956 in die Bundesrepublik. Als diese Gruppe, bestehend aus neun Männern und einer Frau, von der Staatssicherheit Mitte 1953 zerschlagen wurde, gelang es Günter Hegewald, nach Berlin zu "flUchten". Er kam in der I-Stelle an, wurde von Hans Füldner als Flüchtling betreut,7 und ihm gelang es, "sich bei den dortigen hauptamtlichen Mitarbeitern Vertrauen zu erwerben" (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. 11/4, BI. 4), so daß er im Ostbüro laut Staatssicherheit "ehrenamtlich" angestellt wurde. Angeblich war er der einzige seiner Dresdener Gruppe, der fliehen konnte, und Porzig schob es auf "wirklich glückliche Umstände, daß Hegewald flüchten konnte, denn
wenige Stunden nach seiner Flucht fand bei ihm auch eine Haussuchung statt. "8 War dieser Schlag gegen das Ostbüro der FDP schon schwer genug, so
traf die nächste Aktion der Staatssicherheit die FDP noch erheblich stärker, ja, sie machten einen Großteil der bisher geleisteten Arbeit zunichte. Hans Füldner wurde am 9. Oktober 1953 von der Staatssicherheit entfUhrt und inhaftiertY Er hatte mit dem US-Geheimdienst zusammenarbeiten wollen, doch die angeblich von dort stammenden zwei Männer, mit denen er zusammentraf, brachten Füldner in den Ostsektor. Innerhalb von einem guten halben Jahr wurde er 56mal vernommen, teilweise nächtelang. Der Schauprozeß gegen Füldner, er wurde zusammen mit dem Redakteur Dr. Wolfgang Silgradt, der laut Oberstaatsanwalt Dr. Melsheimer filr das CDUund das FDP-Ostbüro sowie filr den US-Geheimdienst CIC gearbeitet haben soll (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. IIIS, abgeschriebene ADN-Meldung, BI. 39), Werner Mangelsdorf, Streikfilhrer aus Gommern, und Horst Gassa angeklagt, "am faschistischen Putschversuch am 17. Juni aktiv beteiligt" gewesen zu sein, kann als SED-getreue Aufarbeitung der "Anstiftung" des Volksaufstandes vom 17. Juni ein Jahr zuvor angesehen werden. Nicht das FDPOstbüro stand auf der Anklagebank, sondern die westlichen Organisationen, 7
Interview Hans FUldner, 28.3.1995, S. 10. Insgesamt wurden im August 1953 in Dresden u. im benachbarten Meißen 17 FDP-Freunde festgenommen. (Vgl. BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. I)
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BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. II B, Schreiben Porzig an Naase v. 16.9.1953, BI. 60. Porzig sagt heute, er habe beim zweiten Besuch Hegewaids im OstbUro nach seiner angeblichen Flucht das Landesamt rur Verfassungsschutz eingeschaltet, deren Mitarbeitern sei er dann jedoch entwischt. Ihm sei Hegewald schon zu Zeiten seiner Beschäftigung bei der KgU als Spitzel bekannt gewesen. Eine Beschäftigung Hegewaids im Ostburo oder in der I-Stelle streitet Porzig ab; Porzig im Gespräch mit dem Autor v. 16.12.1996 u. 17.1.1997.
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Verschiedentlich wird in Akten des MfS auch von "Ende September" als Verhaftungszeitraum gesprochen, so in: BStU, MfS AS 35/62, Bd. 7, BI. 55.
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die nach Auffassung des Staatsapparates die "faschistischen Provokationen" vorbereitet hatten, hier jedoch nur die dritte Garnitur sogenannter Agenten. Da Füldner weitgehend geständig war, und laut Gerichtsurteil (Neue Justiz, Jg. 1954, S. 459-466) seine Bereitschaft zur Wiedergutmachung "überzeugend zu erkennen gegeben" habe, er jedoch auch durch einen Anschlag auf ein SEDParteibüro in Neukölln eine gewisse kriminelle Energie gezeigt habe, wurde er zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er sieben Jahre in Brandenburg und in Bautzen 11 und I absitzen mußte. 1O Über sein Verhalten in der Haft liegen unterschiedliche Stellungnahmen vor. Während sich FDP-Häftlinge beim Ostbüro nach ihrer Entlassung beschwerten und in ihm einen Stasi-Agenten sahen, monierte die Anstaltsleitung, .. er verbreite Gerüchte über Staat und Strafvollzug, das Mß habe daher Ermittlungen gegen ihn eingeleitet, weil es Anzeichen gebe, daß er seine feindliche Tätigkeit innerhalb des Strafvollzuges fortsetze" (Beckert 1995, S. 269f.) Gassa wurde nach filnf Jahren entlassen. Dr. Wolfgang Silgradt, zum Zeitpunkt seiner Verhaftung lediglich als Kommissionsmitglied beim Notaufnahmeverfahren in Gießen tätig; erhielt filnfzehn Jahre Zuchthaus zudiktiert, ebenfalls der Mitangeklagte Werner Mangelsdorf, dem im Urteil fälschlicherweise bescheinigt wurde, nicht am Geschehen des 17. Junis beteiligt gewesen zu sein (ebd., S. 263 ff.). Resultierend aus Vernehmungen von Füldner alias Ludwig konnten zunächst neun Vertrauensleute in der DDR im Rahmen der "Aktion Schlag" festgenommen werden; drei wurden umgehend überworben. 11 Manche Verhaftungen, wie die des Heinz Irmscher, der ab März 1953 filr Porzig gearbeitet hatte, filhrten schneeballartig zu weiteren Verhaftungen. 12 Allein durch Irmschers Aussage konnten zwölf weitere FDP-Freunde festgenommen werden; er selbst war am 11. Oktober 1953 konspirativ· festgenommen worden, anschließend verhörte man ihn von 22.30-23.45 Uhr, von 2.00-6.30 Uhr und von 9.00 bis 12.00 Uhr am kommenden Tag. Anschließend war Irmscher "weichgekocht", er wurde ebenfalls von der Staatssicherheit angeworben und arbeitete ab dem 18. Oktober 1953 filr den SSD, zunächst im freien Teil Berlins. Durch insgesamt 24 Verhaftungen (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. I) verfilgte die FDP über fast keine Mitarbeiter mehr im Osten, sie säßen entweder im Gefängnis oder in West-Berlin, teilte Porzig Ende Oktober mit: "Lediglich über den Bezirksverband FrankfurtlOder werde ich Euch noch spärliche Meldungen bringen können. Alles andere dürfte kaputt sein. (..) So drollig es 10 Telefonische Auskunft von Hans Füldner gegenüber dem Autor am 17.2.1995. 11 BStU, MfS, Bericht, AOP 1539/65, Bd. 11/5, BI. 16 ff. Zum Begriff "überworben" vgl. BStU (Hg.), 1993, S. 407. 12 Dies und die Aktion "Schlag" in: BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. 11/5, Schreiben Abt V/6 v. 26.10.53.
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ist, im Augenblick ist es für mich tatsächlich leichter, Meldungen über Flugplätze zu bekommen als über irgendeinen Kreisverband der LDP. Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns in Zukunft auf den Verkauf von Hosenträgern stürzen" (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. I, BI. 84, Brief Porzig an Schollwer vom 27.10.1953). Heute schätzt Porzig die Zahl der Verhafteten aufrund die Hälfte der überhaupt filr ihn tätigen Personen und beziffert diese auf ca. 25 LDP-Freunde (Porzig in einem Gespräch mit dem Autor v. 16.12.1996). Daß die Staatssicherheit erheblich mehr Festnahmen melden konnte als Porzig an Mitarbeitern hatte, liegt an der Gruppenbildung der LDP'ler in der DDR, die vom Ostbüro nicht gewollt war. Liberale, die Kontakt in den Westen hatten, scharten Gruppen Gleichgesinnter um sich, von denen die FDP nichts wußte, deren Mitglieder dann aber bei Verhaftungen in der Regel alle geschnappt wurden. Einige der V-Leute konnten sich rechtzeitig absetzen (ebd., MfS AOP 1539/65, Bd. II14, Schreiben der Dienststelle Grimma vom 23.10.53), Walter Kanzler aus Grimma beispielsweise, laut Stasi-Sachstandsbericht ein ehemaliger "Freichor-Kämpfer" (sic) Nicht nur die V-Leute des OstbUros gerieten in Gefahr, auch über die Mitarbeiter des OstbUros sagte Füldner detailliert aus, in einer viereinhalbstündigen Vernehmung am 22. Januar 1954 wurden Charakteristika der verschiedenen Mitarbeiter angefertigt. Der SSD wußte anschließend beispielsweise, daß der im Streit ausgeschiedene Mitarbeiter Friedrich Hemminger immer noch arbeitslos war. 13 Einen Monat nach der Entfilhrung Füldners lagen Porzig alias "SeIle" nach seinen eigenen Angaben die ersten authentischen Berichte über die Verhaftungswelle vor, eben durch jenen Heinz Irmscher, der nach seiner Verhaftung und Aussage im Auftrag des MfS als "Flüchtling" in den Westen geschickt wurde. Füldner habe" andere Parteifreunde in der Zone schwerer belastet, als es notwendig war. Ja, ich muß noch deutlicher werden, er hat ihnen Dinge angehängt, die gar nicht waren. Ich kann Dir mitteilen, daß ich Auszüge aus der Vernehmung des Füldner habe" (ADL, Bd.2563, Schreiben "SeIle" an Naase [?] v. 9.11.1953). Die Staatssicherheit, die ein großes Interesse daran hatte, Füldner zu belasten, um von Hegewald alias "Hans" abzulenken, und um ihn auch mit völlig anderen Verhaftungen, die fast gleichzeitig stattfanden, in Verbindung zu bringen, hatte somit mit ihren Desinformationen Erfolg gehabt. Viele mißliebige LDPD-Funktionäre, die nie mit dem FDP-Ostbüro in Kontakt getreten waren, wurden nach der Entfilhrung Füldners verhaftet (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd.I/2,3, BI. 42 f.). Hier wird eine Arbeitsweise deutlich, welche die ostdeutschen Sicherheitsorgane schon 1948 nach der Enttarnung von Werner Lohrenz, einem Mitarbeiter des SPD-Landesverbandes in Berlin anwandte (Buschfort 1990, S. 38 f.): Ist erst einmal die Partei als AnlaufsteIle 13 Ebd., Bd. W8, BI. 70 ff. Das Schriftstück ist nur mit Maschine, nicht handschriftlich von Füldner unterzeichnet. Daher ist die Authentizität nicht erwiesen.
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für "Agenten" der westlichen Mutterpartei enttarnt, werden alle mißliebigen Personen entfernt und dies mit deren konterrevolutionären Absichten begründet. Füldner und Lohrenz waren lediglich Auslöser, nicht ursächlicher Grund für viele Verhaftungen in der Mitgliedschaft von LDPD und SED. Bei der LDPD kam hinzu, daß "ein großer Teil der vom SSD verhafteten Liberaldemokraten mit der KgU [Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit; W.B.]. dem Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen und nicht zuletzt auch mit der Organisation Gehlen zusammengearbeitet hat. "14 So schätzte der FDP-OstbürochefNaase die Zahl der verhafteten LDPD-Mitglieder auf 70 bis 100 Personen. "Soweit bisher festgestellt werden konnte, kann aber nur ein Bruchteil der seit dem 9. Oktober durchgeführten Verhaftungen von Liberaldemokraten in der Sowjetzone auf die Aussagen Füldners direkt oder indirekt zurückgeführt werden. " Damit hatte Naase zweifelsohne recht, die Staatssicherheit bezifferte die Anzahl der durch die Vernehmungen von Füldner und Gassa festgenommenen Personen auf zwanzig (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. 1114, BI. 4). Insgesamt seien jedoch im Rahmen der Aktion gegen "Se'lIes" Informationsstelle "ca. 50 Personen im Gebiet der DDRfestgenommen " worden (ebd., Zwischenbericht v. 25.2.1955, BI. 271), ein deutlicher Hinweis darauf, daß viele Namen durch andere Spitzel der Staatssicherheit, größtenteils durch Günter Hegewald, geliefert wurden (BStU, MfS, AOP 1539/65, Bd.llll, vgl. Originalberichte, BI. 90). Hegewaids Meldungen führten zu umfangreichen Recherchen, selbst zwei deutsche Bäcker, die in der Nähe des sowjetischen Militärstützpunktes Luckenwalde arbeiten sollten, suchte man intensiv, da sie sich angeblich negativ über die Besatzungstruppen geäußert hatten (ebd., Ermittlungsauftrag v. 26.10.1953, BI. 88). Ein halbes Jahr nach Füldners Verhaftung bezifferte die Staatssicherheit die durch Hegewald alias GM "Hans" festgenommenen FDPFreunde auf zwölf (ebd., Bd. 1115, Bericht v. 30.6.1954, BI. 34 f.). Für die Mitarbeiter der Informationsstelle des Ostbüros hieß die Enttarnung und Festnahme von Füldner, erneut in West-Berlin den Standort wechseln zu müssen, nachdem kurz zuvor erst die Berliner Ostbüro-Zentrale in die Württemberger Allee gezogen war. Man ging - zutreffend - davon aus, Füldner könne dem Vernehmungsdruck nicht standhalten und Interna in Verhören der Staatssicherheit ausplaudern und zog somit im November 1953 nach Charlottenburg in die Bayernallee 47. Die Aufgaben änderten sich damit zunächst nicht. Eine Mitarbeiterin soll aufgrund ihrer guten persönlichen Beziehung zu Füldner entlassen worden sein (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. I, BI. 11, Auskunftsbericht über das Büro für Wiedervereinigung), eine weitere verließ schockiert über die möglichen Konsequenzen der eigenen Tätigkeit das Ostbüro, sicherlich eine Reaktion im Sinne der Staatssicherheit. Weitere neue Sicherheitsmaßnahmen 14 Ebd., Bd. 1/2,3, BI. 44, Vermerk Naase "Der Fall Ludwig". Nachfolgendes Zitat ebd. Vgl. auch Interview Hermann Marx, 4.12.1996, S. 1 f.
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bestanden darin, daß mit den noch verbliebenen Ostbüro-Kontaktpersonen im Osten "ausschließlich unter Decknamen verkehrt wird. Überlegen Sie sich doch bitte einmal, ob es nicht zweckmäßig wäre, wenn auch Sie sich einen Decknamen zulegten" (ebd., BI. 198, Schreiben Ostbüro Bonn an Hans Bach v. 24.10.53), schrieb Naase an seinen Berliner Zweigstellenleiter Hans Bach. Doch die Klarnamen der Mitarbeiter waren der Staatssicherheit lange bekannt. Man plante im November 1953 sogar, den Ostbüro-Zweigstellenleiter Hans Bach in die DDR zu entfUhren, was jedoch scheiterte (ebd., Bd. 112,3, AktennotizNaasev.12.11.1953,BI.41). Fliehen konnte als einer der wenigen der von Verhaftung bedrohten LDPDAngehörigen Paul Cunow, in Ost-Berlin im Archiv der LDPD-Zeitung »Der Morgen« beschäftigt. Cunow alias "Willert" war von Hans Füldner als Vertrauensmann angeworben und anschließend der I-Stelle zur VerfUgung gestellt worden. 15 Gewarnt wurde er von einem ehrenamtlichen Mitarbeiter des Ostbüros, dem er dann zeitlebens dankbar war, und von dem später noch viel die Rede sein wird: Werner Hähn. Paul Cunow ist einer von jenen Ostbüro-Zuarbeitern, deren Verhaftung oder Beinahe-Verhaftung Hans Füldner zugeschrieben wurde. Es mag auch durchaus sein, daß Füldner diesen Namen bei seinen Vernehmungen genannt hat. Der Staatssicherheit war er jedoch schon drei Wochen vor der EntfUhrung Füldners vom GM "Hans", also von Günter Hegewald genannt worden (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. II/5, BI. 47). Tatsächlich hatte die Staatssicherheit geplant, Cunow festzunehmen, konspirativ, wie es in dem entsprechenden Bericht (ebd., MfS HA II1Stab, BI. 24) heißt, um ihn anschließend "umzudrehen". Doch der geplante Zugriff am 22. Oktober 1953 mußte scheitern, da Cunow "ohne sich polizeilich umzumelden verzogen" - nämlich geflüchtet - war, wie das MfS feststellen mußte. Cunow wurde nach Intervention Naases Anfang 1954 selbst festangestellter Mitarbeiter des FDPOstbüros. 16 Interessanterweise erhielt Paul Cunow nahezu das identische Aufgabengebiet, das zuvor Füldner und anschließend Gassa bearbeitet hatte, die beiden sich jetzt im Gewahrsam der Staatssicherheit befindlichen FDP-Ostbüro-Mitarbeiter. Die Staatssicherheit legte am 12. März 1954 den "Objektvorgang Ostbüro der FDP" (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. I, Beschluß vom 12.3.54) sowie am 18. März 1954 den "Gruppenvorgang Allee" (ebd., Bd. Il/4) an. Dies bedeutete weitere Ermittlungen und weitere Aktionen. Vor allem mit Geheimen Mit15 Brief FUldner an den Autor v. 30.4.1995, S. 6. Auch hier werden die nicht gewollten Kontakte zwischen Ostburo und I-Stelle deutlich. 16 ADL, Bd.2585, Schreiben Naase an Bach v. 11.1.1954: Wörtlich:" Nicht zuletzt deswegen, weil C[unowJ im Zusammenhang mit der Angelegenheit L[udwigJ fliehen mußte und er zurzeit arbeitslos ist, empfehle ich die sofortige Beschäftigung des Herrn C...
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arbeitern sollte die Arbeit des Ostbüros aufgerollt, aber auch beeinflußt werden. Einige GMs waren nur Randerscheinungen, etwa der GM "Teddy", ehemaliger Freund von Arno Esch, der sich nach der Überwerbung durch das MfS nach West-Berlin absetzte, oder der Ostflüchtling und Flugblattverteiler Dieter Kroll, der am 6. November 1953 von der Staatssicherheit festgenommen und angeworben wurde. Wilhelm Kohlmann alias GM "Tulpe" setzte sich im November 1953 in den Westen Berlins ab, GM "Heinrich" baute eine "feste Verbindung zum Ostbüro der FDP und dessen Leiter 'Trautmann' auf' (ebd., Bd. II11, Auskunftsbericht über Otto Reif, , BI. 192) doch nennenswerte Erfolge verzeichneten alle vier nicht. Andere setzten sich sofort nach der Anwerbung in den Westen ab; Franz Dehneke aus Halle etwa, enttarnter V-Mann der FDP, der nur zwei Wochen nach seiner konspirativen Festnahme und Verpflichtung am 17. Oktober 1953 die Seiten wechselte und so der Verpflichtung durch die Staatssicherheit entkam (BStU, MfS HA 11 Stab 2652). Drei Geheime Mitarbeiter der Staatssicherheit schafften es in den kommenden zwei Jahren indessen, die Arbeit des Ostbüros der FDP so zu diskreditieren, daß sie letztendlich weitgehend eingestellt werden mußte. Alle drei waren nicht festbeschäftigt und hatten jeder rur sich auch nur einen geringen Tiefblick in die Zusammenhänge der politischen Widerstandstätigkeit der FDP. Doch durch das massive Sammeln von Material, durch gute persönliche Beziehungen zu den festangestellten Mitarbeitern und durch das Aufzeigen von Schwachstellen waren sie äußerst erfolgreich. Es war dies zunächst der schon eingangs erwähnte Günter Hegewald alias GM "Hans"; dann der im Rahmen der Verhaftungsaktionen gegen Bekannte Füldners konspirativ verhaftete Heinz Irmscher alias GM "Heimat", der vom SSD umgedreht wurde und sich ohne Frau und Kinder im Auftrag des östlichen Spionagedienstes in den Westen absetzen mußte. Der dritte war eben jener Werner Hähn, der aus dem Berliner Umland aus politischen Gründen flüchten mußte und als ehrenamtlicher Mitarbeiter des Ostbüros unter anderem Cunow alias "Willert" vor der drohenden Verhaftung bewahrt hatte. Er wurde von der Staatssicherheit am 26. August 1954 angeworben (ebd., MfS, AlM 748/61, Bd. P, Personalakte Radeberg). Der arbeitslose Hähn hatte noch zwei Wochen zuvor das Interesse der Staatssicherheit an seiner Person entdeckt und einen Beschatter der Staatssicherheit, den GM "Erika", der Polizei ausgeliefert (ebd., BI. 24). Dem MfS war bekannt, daß Hähn "sichjinanziell nicht besonders gut stand und er auch sehr an seinen Kindern hängt, die hier bei seiner geschiedenen Ehefrau im demokr. Sektor leben" (ebd., BI. 12). So ließ er sich mit Geld" im Interesse und zum Schutze des Friedens", wie er in seiner Verpflichtung schrieb (ebd., BI. 14), überzeugen und lieferte der Staatssicherheit als Zeichen des guten Willens gleich den ersten Namen eines FDP-Freundes im Osten.
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Erwin Ignatius, der angeblich ftlr Porzig alias "Selle" gearbeitet l7 und Hähn zwei Pistolen verkauft hatte, wurde umgehend festgenommen. Zu einer Gegenleistung war dann auch die Staatssicherheit bereit. Neben den fmanziellen Gesichtspunkten sorgte der Geheimdienst daftlr, daß Hähns Wunsch nachgekommen wurde, und seiner geschiedenen Frau, die ftlr die gemeinsamen Kinder das Sorgerecht hatte, die Kinder entzogen und in ein Heim gesteckt wurden (BStU, MfS, Personalakte Radeberg AlM 748/61, Bd. 1, Treffbericht v. 22.4.1955, BI. 216). Hähn plante, nach einigen Jahren der Tätigkeit ftlr das MfS in den Osten zurückzugehen, um dann wieder mit seinen Kindern zusammen zu leben. Auch die Staatssicherheit dachte so, Hähn sollte irgendwann als "reuemütiger Ostbüroagent" die Fronten wechseln, er hätte dann - nach den üblichen Pressekonferenzen und offenen Briefen an die FDP-Parteiftlhrung - zurückgezogen in der DDR leben können. Nach den ersten Massenverhaftungen wurde in der FDP-Parteispitze die Frage aufgeworfen, ob es sinnvoll sei, die Ostarbeit fortzusetzen. An der Parteispitze befand sich inzwischen der bayerische Landesvorsitzende Thomas Dehler, seit Oktober 1953 Bundestags-Fraktionsvorsitzender und seit Anfang März 1954 Parteivorsitzender der FDP. Dehler, der seine Ablehnung der Deutschlandpolitik Adenauers - und damit der offenen Konfrontation gegenüber der DDR - oft zum Ausdruck gebracht hatte, und der in der damals sehr nationalliberal geprägten Partei eher ein Linksliberaler war, stand dem Ostbüro sehr kritisch gegenüber. So begründete Naase nach Dehlers Machtübernahme ein Festhalten an der Tätigkeit des Ostbüros auch nicht mehr mit der Deutschlandpolitik der FDP, sondern vor allem mit der Tätigkeit der anderen Ostbüros. Die FDP begebe sich "jeder politischen Wirkungsmöglichkeit auf die Bevölkerung der Sowjetzone gerade auch im Hinblick auf die spätere Wiedervereinigung (..). Weder CDU noch SPD sind bisher trotz der nicht gerade sehr geringen Verluste, die ihre Freunde und Mitarbeiter in der Zone gehabt haben, auf die Idee gekommen, die Ostarbeit ihrer Ostbüros einzuschränken oder gar einzustellen. Im Gegenteil" (B8tU, MfS AOP 1539/65, Bd.1/2,3, BI. 46, Vermerk Naase "Der Fall Ludwig").
Naase erhielt von Dehler das Plazet, mit der Arbeit fortzufahren. Doch es dauerte rund ein halbes Jahr, bis die durch Füldners Verhaftung entstandene Lücke beim Flugblatt-Transport wieder geschlossen war. Im April 1954 war man sich sicher, endlich einen Weg gefunden zu haben, die eigenen Propagandabriefe auch per Post sicher durch die Postkontrollen der Staatssicherheit zu schleusen. "In Zukunft haben wir die Möglichkeit, (...) die Briefe bei Post17 Laut Auskunft Porzig ist diese Darstellung falsch, Ignatius habe nie filr ihn gearbeitet. Mitteilung Porzig v. 16.12.96.
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ämtern aufzugeben, die bereits zur SBZ gehören. Dabei wird das Abfangen der Sendungen durch die Kontrollorgane weitgehend ausgeschaltet. (...) Der dafür neu gewonnene V-Mann hat sich bereits bestens bewährt", schrieb die Berliner Zweigstelle nach Bonn (ADL, Bd.2531, Monatsbericht März 1954 v. 1.4.1954). Was man weder in Bonn noch in Berlin wußte war, daß die Staatssicherheit aufgrund der "Umpolung" des Mitarbeiters Hahn in den GM "Radeberg", der hier mit "V-Mann" gemeint war, die Post nicht mehr direkt nach der Einlieferung aussortieren mußte ... Die Briefe mit den Flugblättern werden aber größtenteils von der Abteilung 'M' abgefangen, da uns der GM 'Radeberg', bevor so eine Aktion steigt, die Adressen der Personen gibt, die solche Briefe erhalten sollen", notierte zufrieden die Staatssicherheit Anfang 1955.1 8 Doch nicht nur Briefschreiber- und Briefempfiinger lebten gefährlich. Der Agent überbrachte der Staatssicherheit .. wichtiges Material aus dem 'Ostbüro der FDP' [... ], wie z.B. Besucherlisten, Flüchtlingsunterlagen usw. " (BStU, MfS AlM 748/61, Bd. P, Personalakte Radeberg, Auskunftsbericht vom 19.11.1955, BI. 34). Da jeder Besucher des Ostbüros am Eingang seinen DDR-Personalausweis vorzeigen mußte, wurde die Aufklärung des MfS über diese Dienststelle nahezu lückenlos. Hahn alias "Radeberg" sabotierte noch weiter: Die Postlagerkartennummern, an die Ostdeutsche ihre anonymen Briefe in den Westen schicken konnten, wurden von ihm umgehend gen Osten gemeldet, genauso wie auch die Deckadressen (BStU, MfS AlM 748/61, Bd. 2, Bericht v. 9.6.1955, BI. 46), an die DDR-Bürger und Ostberliner ihre Korrespondenz schicken konnten. Da Hahn die postlagernden Briefe selbst abholte, erreichte der Inhalt die Staatssicherheit auch schneller als die FDP. Und die Staatssicherheit nutzte die vorgeblich von DDR-Bürgern geschriebene Post sogar dazu aus, codiert mit Hähn in Kontakt zu treten, und ihn in bestimmte Wohnungen Ostberlins zu bestellen (ebd., Bd. 1, Bemerkungen o. Dat., BI. 157). Auch Ballons kamen kaum mehr durch: Die Zündschnüre wurden von ihm so lang gelassen, daß sie bis nach Polen flogen (ebd., Abschrift v. 15.10.1954, BI. 50), andere schlichtweg vor dem Aufblasen beseitigt oder Fabrikationsfehler vorgetäuscht. Damit der mangelnde Rücklauf an Antwortkarten nicht auffiel, schrieb die Staatssicherheit diese selbst an das Ostbüro. Positive, die sich fi1r die politische Unterstützung bedankten, und negative, die der "imperialistischen Agentenzentrale" alles Leid der Welt wünschten. In Hahn alias "Radeberg" hatte die Staatssicherheit einen sicheren Kantonisten, der mit Fleiß, Improvisation und Geschick seine Aufgaben übererfüllte, neben dem FDP-Ostbüro auch noch die 18 BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. 11/4, Zwischenbericht v. 25.2.1955, BI. 271 f.. Während Hähns Sabotageaktivitäten der Staatssicherheit durchaus weiter halfen, sind seine Berichte über die Vorkommnisse im Ostbüro nach übereinstimmender Meinung mehrer Zeitzeugen wenig glaubwürdig. Es scheint bei Hähn ein gewisses Fabulieren dann eingesetzt zu haben, wenn aktuelle Informationen nicht vorlagen.
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Vereinigung Politischer Ostflüchtlinge (VPO) und das Ostbüro der Deutschen Partei aufklärte, und Kontakte zu einer Mitarbeiterin des CDU-Ostbüros anknüpfte. Dabei ging auch die Staatssicherheit davon aus, daß Hähn " weniger aus Überzeugung for unsere Sache mit uns zusammenarbeitet, sondern um zu Geld zu gelangen. Aus diesem Grund ist er meiner Meinung nach auch ehrlich bestrebt, uns soviel Material wie nur irgend möglich zu liefern ", heißt es in Hähns Personalakte. "Er bringt uns alles, was bis jetzt for ihn erreichbar ist" (ebd., BI. 35).
Doch auch die Führung des Ostbüros blieb nicht untätig. Die festbeschäftigten und die ehrenamtlichen Mitarbeiter wurden von nun an regelmäßig sicherheitsmäßig überprüft, man versuchte auch, Entführungen vorzubeugen. Einige Mitarbeiter erhielten Gaspistolen, und am 1. April 1954 erließ Karl-Heinz Naase eine Dienstanweisung, in der alle Mitarbeiter darauf hingewiesen wurden, Aktenschränke etc. nach Dienstschluß ,,18 Uhr bzw. 13 Uhr am Sonnabend" zu verschließen. Insbesondere verwies der Bonner Ostbüroleiter darauf, daß "pünktlich zum Dienstschluß die Arbeit beendet wird" (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. I, Dienstanweisung vom I. April 1954, BI. 194). Zwei Monate später regelte man zudem "aus gegebenem Anlaß" unter anderem die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln. "Jeder Mitarbeiter [... ] darf ab sofort nur solche Verkehrsmittel in Berlin benutzen, bei denen gewährleistet ist, daß sie unter westberliner Regie stehen und nicht die letzte Station vor der Sektorengrenze überfahren können. Damit ist ab sofort eine Benutzung der S-Bahn verboten." Daneben sollten ehrenamtliche Mitarbeiter "nur nach Billigung durch Zentrale und eingehender Überprüfung" im Ostbüro arbeiten können. Das Ostbüro versuchte zudem, den daraus gegebenen Gefahren durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit bundesdeutschen Geheimdiensten und der Polizei entgegen zu wirken. Bei "Nichtbefolgung obiger Vorschriften" drohte Naase den Mitarbeitern mit strengen disziplinarischen Maßnahmen wie fristloser Kündigung (ebd., BI. 195, Dienstanweisung vom Juni 1954. Vorstehende Zitate dort). Bereits einige Wochen später waren erneute inkonspirative Verhaltensweisen einiger Mitarbeiter des Ostbüros Grund für eine weitere Dienstanweisung. Man hatte erkannt, daß einer der Knackpunkte, die zur Verhaftung vieler V-Leute führte, die mangelnde Abschottung der I-Stelle vom eigentlichen Ostbüro war. Die I-Stelle, haus intern auch "Büro Seile" genannt, war eben nicht unabhängig betrieben worden, es gab zahlreiche Berührungspunkte. Zwar hatte Naase nach der Verhaftung Füldners noch behauptet, es seien elf Parteifreunde im Osten verhaftet worden mit der Begründung, sie hätten mit der I-Stelle zusammengearbeitet, jedoch sah er keine Verbindung zu Füldner, dieser habe die Besucher der I-Stelle gar nicht kennen können, da er in der Württembergallee arbeitete (ebd., Bd.I/2,3, Vermerk Naase "Der Fall Ludwig", BI. 44 f. Diese Zahl wird von Porzig als erheblich übertrieben angesehen,
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er schätzt die Gesamtzahl auf höchstens 70 Personen. Mitteilung Porzig v. 16.12.96.). Doch tatsächlich wußte Naase es besser, hatte ihm Füldner alias Ludwig doch schon kurz nach seiner Einstellung geschrieben: "Auch Herr 'Seile' schwirrt ab und zu einmal umher, so daß ich auch ihn bereits 'vereinnahmt' habe" (ADL, Bd. 2563, Schreiben Füldner an Naase v.18.2.1953). Um menschengefährdende Kontakte zukünftig auszuschließen, erging am 28. Juni 1954 eine Anweisung des Bonner OstbÜToleiters an die Berliner Mitarbeiter, in der es u.a. hieß: "Ich mache erneut und mit aller Eindringlichkeit darauf aufmerksam, daß zwischen dem Ostbüro der FDP und dem sogenannten Büro 'Seile' keinerlei Beziehungen zu bestehen haben. [... ] Herr 'Seile' ist von mir erneut davon unterrichtet worden, daß er seine Besuche im Ostbüro [... ] einstellen soll" (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. I, BI. 196, Dienstanweisung vom 28. Juni 1954).
Außerdem machte man sich Gedanken über die Möglichkeit des Abhörens von Telefongesprächen zwischen Berlin und Bonn. Die Ostbüroleitung verfügte daher im April 1955, nur noch codierte Namen für Personen und Einrichtungen zu benutzen. Naase hieß in Telefongesprächen fUrderhin nur noch der Direktor, die FDP-Bundesgeschäftsstelle galt als Direktion. Die Berliner Dienststelle hieß, übrigens ganz in Übereinstimmung mit der Terminologie der Staatssicherheit, "die Filiale", die Sekretärin des Leiters wurde Collenberg genannt (ebd., BI. 82, Aktenvermerk von Naase vorn 19.4.1955).
V. Einbrüche in Berlin und Bonn Wogegen man sich nicht wappnete waren mögliche Einbrüche in die Dienststellen in Bonn und Berlin,- aus Kostengründen. Vor den Gefahren eines Einbruchs in die Berliner Ostbüro-Zweigstelle hatte schon AußensteIlenleiter Otto im Dezember 1952 Ostbürochef Naase gewarnt. "Wegen der immerhin nicht zu unterschätzenden Einbruchsgefahr in unsere neuen Büroräume (. ..) haben wir einen Kosten[vorJanschlag über eine elektroautomatische Alarmanlage eingeholt" (ADL, Bd. 2584, Schreiben Otto an Naase v. 3.12.1952). Doch Naase lehnte einige Tage später dieses Ansinnen aus Kostengründen ab, vielleicht auch deswegen, weil damals noch Friedrich Hemminger im Ostbüro wohnte und daher die Gefahr eines Einbruchs nicht so gegeben schien. Wie berechtigt die BefUrchtungen Ottos jedoch waren, zeigte sich in der InformationssteIle. Das ehemalige "Büro Seile", das sich nun nach einern amerikanischen Verbindungsoffizier "Büro Petersen" nannte, wurde Mitte August de facto und am 30. September 1954 de jure ganz aufgelöst. Vorausgegangen war ein Einbruchsversuch in die Geschäftsräume im Dezember 1953, bei der es den Tätern 15 Merten. I Voigt
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nicht gelang, sich durch die aufgemeißelte Decke von oben her abzuseilen, und laut Staatssicherheit ein Einbruch in die Privatwohnung eines der Angestellten (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. II11), bei denen angeblich diverse Unterlagen mitgenommen worden waren, die zu einigen Festnahmen filhrten (ebd., Bd. I, BI. 81. VgI. auch: ebd., Bd. 11 B, BI. 27 f.). Während der mißlungene Einbruch in die Diensträume der I-Stelle unstrittig ist, finden sich keine Belege für den Einbruch in die Wohnungen von Porzig, Scholz oder Thurm in den Akten der Staatssicherheit, auch von Porzig wird dies ausgeschlossen (Mitteilung Porzig an den Autor v. 16.12.1996). Nach Auffassung der Staatssicherheit geschah die Schließung "auf Beschluß der Bonner Leitung" des OstbUros (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. I, Auskunftsbericht über das Büro für Wiedervereinigung), tatsächlich hatten jedoch die Amerikaner den Finanzhahn abgedreht, so daß ab dem 20. Juli schon keine Informanten mehr bezahlt werden konnten (ebd., Bd. 11 B, Schreiben Porzig an Naase v. 30.7.1954, BI. 43). Porzig heiratete anschließend die Sekretärin Melitta Thurm, die nach Frau Scholz vom Ostbüro aus dorthin versetzt worden war, und wechselte zur Organisation Gehlen, dem Vorläufer des BND, nach München und später nach Stuttgart, was die Staatssicherheit peinlich genau recherchierte. Die Organisation Gehlen befand sich zum damaligen Zeitpunkt in einem Tiefpunkt, da ihr Berliner Resident Hans Joachim Geyer kurz zuvor die Seiten gewechselt, nach Ostberlin geflüchtet war und dort hunderte von Agenten verraten hatte (Reese 1992, S. 194 ff.). Porzigs Mitarbeiterin "Scholz" war bereits nach ihrer fristlosen Kündigung nach Hamburg gegangen. 19 Günter Hegewald hatte die Staatssicherheit auf die Aktenbestände des FDP-Ostbüros aufmerksam gemacht, der GM "Heimat", also Heinz Irmscher, erkundete, wo sich diese Akten befanden. Um genauen Aufschluß über die interessanten Bestände zu erhalten, wurde zunächst im Januar 1955 ein Aktenplan vom GM "Radeberg" gestohlen. Aus diesem schloß die Staatssicherheit, "daß sich im Ostbüro wichtige Unterlagen befinden, wodurch wir Aufklärung über die Agentur (. ..) erhalten und außerdem in den Besitz von Original-Unterlagen gelangen, wo der ganze verbrecherische Charakter dieser Organisation der Öffentlichkeit aufgezeigt werden kann. "20 In der Nacht vom 12. zum 13. Februar 1955 wurde dann tatsächlich eingebrochen, dreizehn Mitarbeiter des Staatssekretariats filr Staatssicherheit waren am Eindringen in die Zentrale des 19 BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. I, Auskunftsbericht über das Büro fllr Wiedervereinigung, B\. 13. Die Vermutung der Staatssicherheit, Porzig habe nach seinem Ausscheiden bei der FDP fllr die Organisation Gehlen gearbeitet, trim zu, wie auch seine Frau hier zeitweise beschäftigt war. 20 Ebd., Bd.1II8, B\. 18, Operativplan mit falschem Datum 19~4. Radeberg wurde It. MfS am 20.8.1954 "überworben", d.h., er war zum Zeitpunkt seiner Flucht noch kein Agent der Staatssicherheit. Dieses Datum ist ebenfalls falsch, Hahn wurde am 26.8.54 angeworben.
Ostbüro der FDP
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FDP-Ostbüros in Berlin beteiligt. Zur weiteren Tatplanung schrieben die Ostagenten, "zu erwähnen ist auch, daß unsere Operativgruppe, die die Maßnahme in Westberlin durchfohrt, versucht ein Saef (sie!), welches in die Wand eingelassen ist und wo sich die Geldkassette befindet, auftubrechen, um dadurch den Anschein zu erwecken, daß es sich tatsächlich nur um einen kriminellen Einbruch handelt" (ebd., BI. 21), was jedoch nicht gelang (BZ 22.2.1955).
Die Staatssicherheit konnte teilweise noch in der Nacht 23 V-Leute der FD P festnehmen (ebd., Bd. 1114, BI. 5. In Bd. I ist von 13 Festnahmen die Rede), ein Teil der entwendeten Unterlagen wurde noch in derselben Nacht zurückgebracht, auch dies, um den Verdacht auf gewöhnliche Verbrecher zu lenken. Dafiir konnte die West-Berliner Polizei am kommenden Tag einen Stasi-Mitarbeiter im Hof des Hauses dingfest machen; die Staatssicherheit hatte den Auftrag zum Einbruch, die sogenannte Aktion "Feierabend", wohl an zwei Arbeitsgruppen vergeben. Da das Berliner Ostbüro der FDP kaum mit einem Einbruch dieser Größenordnung gerechnet hatte, waren auch viele Akten, die eigentlich einer gewissen Diskretion oder gar der Vernichtung bedurft hätten, in die Hände der Staatssicherheit gefallen. Beispielhaft hierfUr ist ein eigentlich recht nichtsagendes Schreiben von Hans Füldner an das Bonner Ostbüro vom 18. August 1953, das anderthalb Jahre später in die Hände der Staatssicherheit fieI.21 Füldner hatte Naase bezüglich eines Pritzwalker Parteifreundes namens Otto Siber, der" dem Ostbüro wiederholt zwar nicht ausgesprochen wertvolle,
aber doch Informationen zukommen lassen [hatte), die seinen guten undfesten Willen" zum Widerstand unter Beweis stellten, um eine kleine finanzielle
Unterstützung gebeten. Der Durchschlag dieses Briefes fiel dem MfS in die Hände; über Siber gelangte man an eine Gruppe um den Lehrer Alfred Effmger, da Siber hier gelegentlich mitarbeitete, Flugblätter verteilte und an politischen Diskussionen teilnahm. Obwohl sich die seit 1950 bestehende Gruppe um Effinger schon weitgehend aufgelöst hatte, wurden die verbleibenden zwölf Mitglieder, derer man habhaft wurde, zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt, Alfred Effmger selbst zu 15 Jahren. Füldner, der die Namen der Mitglieder bei seinen Vernehmungen nicht genannt hatte, mußte nun gegen Effinger und seine Freunde aussagen. Während die Staatsanwaltschaft in einem internen Schreiben darauf verwies, daß Effinger lediglich über "örtliche Verhältnisse" an das FDP-Ostbüro berichtet habe, und daß "eine ganze Reihe von Angaben von nicht allzu großer Bedeutung" waren (BStU, MfS ZA 350/55, Bd. 8, Schreiben v. 9.9.1955, BI. 80), wurde dem FDP-MdB Dr. Bucher, der sich um die 21 BStU, MfS ZA 350/55, Bd. 10, BI. 237. Dieser Vorgang widerlegt trotz diverser anderer
Belastungsmomente auch die Behauptung, Füldner habe nach seiner Entfilhrung gleich alles und jeden verraten.
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Verteidigung kümmern wollte, mitgeteilt, Effinger habe "eine intensive Militärspionage betrieben. (...) Darüber hinaus hat er eng mit der Terrororganisation KgU zusammengearbeitet" (ebd., Schreiben v. 13.12.1956, BI. 84), wurde der Bundestagsabgeordnete angelogen. Alles spricht rur weitgehend konstruierte Vorwürfe und Anklagepunkte. Die Angeklagten, die es wagten Berufung einzulegen, wurden im Berufungsverfahren zu höheren Strafen verurteilt. Interessant an diesem Fall bleibt neben Festnahme und Verurteilung noch ein weiterer Aspekt: Die Reaktion der LDPD, die ein Schlaglicht auf die moralische Korruptheit des Funktionärsapparates wirft. Die LDPD, deren Mitglied Effinger und die meisten der Mitangeklagten waren, schloß gleich nach der Verhaftung, noch vor Anklageerhebung oder gar Verurteilung, sämtliche Angeklagten aus der eigenen Partei aus. Im Gegenzug spielte die Mitgliedschaft in dieser Partei im Gerichtsverfahren keine Rolle. Da einer der Häftlinge freiberuflicher Taxiunternehmer war, beantragte der Bezirksverband Potsdam der LDPD lange vor der Verurteilung des Eigentümers die Beschlagnahme und Weitergabe seines PKWs an den Bezirksverband zur Nutzung durch die LDPD. Doch die Genossen von der SED waren schneller gewesen, der Wagen landete beim Vorsitzenden des Rates des Bezirkes (ebd., Bd. 4, BI. 115 u. 117), und der war Mitglied der SED. Nicht nur Unachtsamkeit des Berliner FDP-Büros war Schuld an den massenhaften Verhaftungen; auch mangelnde Konspiration der Mitglieder selbst. So fand die Staatssicherheit schriftliche Einladungen zu den politischen Gesprächsabenden bei den Angeklagten, in folgendem Tenor: "Lieber Alfred! Wenn es Dir möglich ist, komme doch bitte morgen am Sonntagabend so gegen 20 Uhr für eine Stunde zu Körbers. (...) Es wäre mir dabei allerdings lieb, wenn Du diese Einladung als vertraulich behandeln könntest" (ebd., Bd. 10, Schreiben v. 1.5.1954, BI. 229). Doch nicht nur der Einbruch filhrte zu diversen Verhaftungsaktionen. Schon zuvor hatte der dort beschäftigte GM "Hans" Kopien von Originalberichten der Dienststelle besorgt, darunter auch komplette Besetzungslisten rur Positionen der FDP rur den "Tag X", den Tag der freien Betätigung einer gesamtdeutschen liberalen Partei auch im Osten Deutschlands (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. II B, BI. 134). In der Ostpresse wurde die Agitation gegen das Ostbüro verstärkt; der Bezirkssekretär der LDPD von Frankfurt/Oder durfte gar von "Agenten" faseln, die "Brücken über die Oder, Verkehrs- und Versorgungsanlagen sprengen" wollten (DJD-Informationen, Oktober 1955). Doch auch in West-Berlin schoß sich die Presse auf das Ostbüro der FDP ein. Die Boulevardzeitung BZ sprach nach diesem Einbruch von einem "Skandal im Ostbüro der FDP" (BZ, 19.2.1955).
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Noch vor dem Aktendiebstahl war Günter Hegewald aus West-Berlin abgezogen worden. 22 Die Staatssicherheit blieb auch nach Hegewaids Flucht in den Ostsektor gut informiert, auch der Inhalt von Vier-Augen-Gesprächen Naases mit Schwennicke landete schnell bei der Staatssicherheit (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. II18, BI. 52), hingegen tappten West-Berliner Polizei und Ostbüro weiterhin über den Verursacher der Aktendiebstähle im Dunkeln (ADL, Bd. 2585, Besuchsbericht Naase o. Dat. [April 1955]). Selbst wie die Staatssicherheit in die Räumlichkeiten gekommen war, blieb Gegenstand von Mutmaßungen. Die Putzfrau des Ostbüros brachte in ihrer Vernehmungen das zum Ausdruck, was eigentlich alle Mitarbeiter vermuteten, was jedoch nachweislich falsch war, nämlich "daß Füldner [bei seiner Festnahme; W.B.] noch Schlüssel gehabt haben Iwnn, die dann in den Besitz des Mß gelangten [.. .]. Die Schlösser waren jedenfalls seit seiner Verschleppung nicht ausgewechselt worden [sie!]" (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. II11, Aussage Marquardt, BI. 18 f.). Diffus bleibt der Verbleib von Hegewald zwischen Oktober 1953 und September 1954. Die Staatssicherheit behauptet, er habe bis September 1954 im Ostbüro gearbeitet, Joachim Porzig spricht davon, er sei bereits im Oktober 1954 wieder nach Osten zurückgegangen. Tatsächlich war Hegewald, der sich seit dem l3.9.1953 im Auftrag der Staatssicherheit in West-Berlin befand, schon kurze Zeit später bei der entsprechenden Mitarbeiterin Scholz eingezogen und versorgte den Haushalt von ihr und ihrer Mutter, wodurch er einen guten Einblick in die Angelegenheiten der Berliner FDP und der I-Stelle erhielt. Dies ruhrte zu ihrer fristlosen Kündigung im Oktober (Porzig in einem Gespräch mit dem Autor v. 16.12.1996). Wo Hegewald dann war, ist unbekannt. Nicht auszuschließen ist, daß er anschließend bei der Frau von Hans Füldner unter kam. Daß Hegewald alias GM "Hans" MfS-Mitarbeiter sein könnte, vermutete man in der Berliner I-Stelle schon im November 1953, ein Dreivierteljahr vor dem Wechsel Hegewaids in den Osten. "Selle" stellte hierzu nach Füldners Inhaftierung fest: "Ich weiß ferner, daß der SSD mehrere andere Personen, die sich jetzt als Flüchtlinge hier gemeldet haben, ebenfalls verpflichtet hat und von diesen auch Berichte erhält. Unser Verdacht richtet sich zurzeit auf ( ..) Herrn Hegewald. Meine bisherigen Nachforschungen ergaben, daß Hegewald mit [der Mitarbeiterin, W.B.] Frau ( ..) ein Verhältnis hatte und Frau ( ..) ihm so ziemlich alles erzählt hat" (ADL, Bd. 2563, Schreiben "Selle" an Naase (?) v. 9.11.1953). Auch gegen Irmscher alias GM "Heimat" hatte Porzig einen Verdacht. Ihn, der gerade aus Ostdeutschland geflohen sein sollte, hatte man in Ostberlin im Gespräch mit zwei Herren gesehen, was die Vermutung nahelegte, daß es sich hierbei um Mitarbeiter der Staatssicherheit handelte. 22 Porzig spricht davon, er habe sich schon im Oktober 1953 wieder in den Osten abgesetzt, die Staatssicherheit nennt hingegen den September 1954.
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Anzumerken bleibt, daß Hegewald zusätzlich auch noch ein Verhältnis mit Füldners zweiter Ehefrau in Berlin begann, sie wurde später wegen Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt (Interview Hans Füldner, 28.3.1995, S. 13). Dabei lag ihr Vergehen lediglich darin, diese Kontakte nicht zu melden, denn auch die Staatssicherheit mußte einsehen, daß "sie jedoch nicht gewillt war, Aufträgefür uns durchzuführen", und "daher wurde diese Verbindung bereits damals [1954} wieder abgebrochen" (BStU, MfS AlM 748/61, Personalakte Radeberg, Bd. VI, Treffbericht v. 31.5.1960, BI. 145). Den Kontakt zu Hegewald hielt übrigens seine tatsächliche Ehefrau aus Dresden aufrecht, die diese Liebschaften im Auftrag der Staatssicherheit scheinbar akzeptierte. Auch gegen den dritten wichtigen Agenten in der eigenen Organisation, Werner Hähn alias "Radeberg", hatte man schon ein Jahr nach dessen Anwerbung durch das MfS diverse Verdachtsmomente parat (ebd., Bd. P, Schreiben "Willert" an Naase v. 22.9.55, BI. 48), doch auch er durfte weiter mitarbeiten, die Arbeit sabotieren und später sogar noch eine Entfilhrung - mehrfach - planen. Zu den Pannen in der Arbeit und den dadurch ausgelösten Problemen mit der Bundesparteispitze der FDP kam jetzt auch erheblicher politischer Druck von der LDPD auf das FDP-Ostbüro zu. Seit 1953 hatten LDPD-Funktionäre keine Gelegenheit ausgelassen, über die "kriegsvorbereitende Rolle des Ostbüros der FDP" (Ostdienst, 5/54 v. 27.7.1954, S.7) zu lamentieren. Volkskammerpräsident Dieckmann von der LDPD forderte am 28. April 1955 gar öffentlich zum Denunziantenturn auf, als er die Parteimitglieder aufforderte, alle Parteifreunde zu melden, die zu den "republik- und volksfeindlichen Elementen" gehören könnten (Ostdienst, 3/55 v. 28.4.1955, S.7). Während die SPD-Führung unter Schumacher nach der Zwangsvereinigung alle Kontakte zur SED abbrach, und die eDU nach der Flucht fast aller Vorstandsmitglieder im Westen eine Exilorganisation mit Alleinvertretungsanspruch aufbaute, sahen sich die Liberalen in West und Ost als Mittler zwischen den politischen Welten. Um hier die politische Atmosphäre nicht zu vergiften sann man beim Bundesvorstand in Bonn auf Möglichkeiten, das Ostbüro ohne großes Aufsehen zu beseitigen, oder zumindest seine Aufgaben erheblich zu verringern. Die immer wieder rur einen solchen Fall angedachte politische Konsequenz hatte Schwennicke schon Monate zuvor beschrieben: "Versäumen
wir diese wichtige Vorbereitungsarbeit, dann werden die anderen Parteien uns in den ersten zwei Monaten den Rang abgelaufen haben, und es wird uns ähnlich ergehen ", fUgte Schwennicke mit fast einem Viertel der Berliner Wähler-
stimmen im Rücken und im Hinblick auf die Ergebnisse bei den Kommunalwahlen in der SBZ, bei denen die LDP im Regelfall über 20% kam und in manchen Regionen die absolute Mehrheit erzielte, an die Adresse der lange nicht so erfolgreichen Schwesterorganisationen im Westen hinzu, "wie nach 1945 im Bundesgebiet" (ADL, Bd.2585, Schreiben Schwennicke an Middelhauve v.
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18.8.1954). Schwennicke konnte, für dieses Mal, das Ostbüro in seiner bestehenden Fonn retten. Die Zahl innenparteilicher Gegner war noch nicht stark genug, gegen den beliebten und erfolgreichen Schwennicke, der sein Schutzschild über dem Ostbüro hielt, vorzugehen. Doch die Probleme im Berliner Ostbüro ließen nicht nach, neue kamen hinzu. Innerhalb von zwei Jahren wechselte zweimal die Berliner Leitung, auch die übrige Personalfluktuation zwischen 1953 und 1955 war erheblich; die Staatssicherheit zählte noch fUnf weitere Personen auf, die in dieser kurzen Zeit das personell überschaubare Ostbüro in Berlin verließen (ebd., Schreiben Bach an Naase v. 23.12.1954). Grund hierfUr mag teilweise durchaus der Druck der Staatssicherheit gewesen sein. Eltern und übrige Verwandte wurden beispielsweise bei der Mitarbeiterin Hildegard Mielke unter Druck gesetzt, Schwester und Mutter sollten ihr dringend nahe legen, die Seiten zu wechseln. Auf der einen Seite stünde die sofortige Verhaftung bei der Übernahme West-Berlins durch die DDR, bei einem jetzigen Übertritt in den Osten lockte der SSD mit einer "vollkommen eingerichteten Wohnung, eine[rJ guten[nJ Stelle". Der Vater erhalte, wenn er "uns ihre Tochter bringe" einen neuen Wagen und könne sechs Wochen zur Kur fahren (BStU, MfS HA II1Stab, Schreiben Mielke an Naase v. 31.5.54, BI. 114 f.). Jetzt, 1955, wurde auch Günter Hegewald wieder aktiv. Hegewald gab sich jetzt, fast ein Jahr nach seiner Flucht aus West-Berlin, als "Kenner der imperialistischen Auftraggeber des FDP-Ostbüros" in der DDR-Presse aus,23 und er gab Hörfunkinterviews, um, wie die Staatssicherheit plante, "innerhalb der Reihen der FDP und auch im Ostbüro der FDP Unsicherheit hervorzurufen und Zersetzung zu betreiben" (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. III8, BI. 47). Karl-Heinz Naase wurde als "zynischer junger Schnösel" bezeichnet, die anderen Mitarbeiter waren abwechselnd "eiskalt", "brutal" oder "machtgierig". Einfachen Parteimitgliedern der FDP in Berlin schrieb Hegewald, vom Ghostwriter der Staatssicherheit versehentlich "G. Tregewald" genannt, Briefe mit wüsten Anschuldigungen gegen das FDP-Ostbüro, die das Parteimitglied aufrütteln und zu Nachfragen in der Partei veranlassen sollten. Von Militärspionage, Ausnutzung von Parteimitgliedern, Geldverschwendung, Prostitution und Verbrechertätigkeit war die Rede (ADL, Bd.2382, Schreiben Tregewald an Wrochem v. Mai 1955). Die gesamte Tragweite des Vorgangs Hegewald wurde von den Verantwortlichen bei der FDP auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht richtig eingeschätzt. Man ging immer noch davon aus, er habe sich aus irgendeinem Grund nach Ost-Berlin abgesetzt; daß er von vornherein als Stasi-Mitarbeiter in die Dresdener Organisation eingeschleust wurde, um dann die Gruppe zu verraten und ins FDP-Ostbüro eingeschleust zu werden, kam auch ehemaligen guten Bekannten Hegewaids nicht in den Sinn. Der ehemalige 23 Unterlagen hierzu in: BStU, Mffl AOP 1539/65, Bd. 1I/8. Vgl. auch: Mein Leben glich einer Hölle, in: Neues Deutschland v. 24.4.1955
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kommissarische Leiter der Berliner Dienststelle, Friedrich Hemminger, schrieb beispielsweise nach dem ersten in der Ostberliner Presse veröffentlichten Hegewald-Brief eine erboste Antwort an diesen nach Ost-Berlin, in dem er sich gegen Hegewaids Anschuldigungen wehrte. Hegewald habe sich "dort bei Kaffee, Kuchen, Ami-Zigaretten und reichlich Spesen ganz wohl [gefühlt}, bis Ihnen plötzlich die Erleuchtung kam, daß Sie und die anderen Parteifreunde aus der SBZ, die Sie dort trafen, für militärische Spionage mißbraucht würden" (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. III8, Schreiben v. 5.6.1955, BI. 85 f.). Er habe wohl zu lange dem Drang nach Bohnenkaffee und Westgeld nachgegeben, so Hemminger, um dann irgendwann "die Tapete" zu wechseln. Ihn der ständigen Stasi-Mitarbeit zu zeihen kam ihm nicht in den Sinn. Das Ziel der HegewaldBriefe, Verunsicherung zu erzeugen, wurde erreicht. Tatsächlich schickte der FDP-Parteivorsitzende Thomas Dehler den 1955 neu eingesetzten Hauptgeschäftsfilhrer der FDP, Werner Stephan, nach Berlin, um nach den großen Verlusten an V-Leuten als Konsequenz aus den Entfilhrungen und Einbrüchen über den Fortgang der Arbeit mit Landesvorstand, Landesgeschäftsfilhrung und Ostbüroleitung zu diskutieren. 1955 filhrte die Staatssicherheit erneut einen Anschlag durch, er galt diesmal einem Gasflaschendepot der Ballonaktionen (ebd., Bd. III9, BI. 13) in Berlin. Mit Hilfe von Schwefelsäure versuchten ostdeutsche Agenten im Juli 1955, die Verschlüsse der Metallflaschen zu zerstören. Dies war aufgrund der dilettantischen ArbeitsausfUhrung genauso ergebnislos wie der Versuch, das Wasserstoffgas in Brand zu setzen. Wäre dies gelungen, hätten sich die Attentäter, darunter wahrscheinlich auch Werner Hähn, gleich mit in die Luft gesprengt (ADL, Bd. 2531, Monatsberichte des Büros Arnold von Juli und August 1955). In diesem Fall schien die Staatssicherheit gescheitert zu sein, das Ostbüro konnte trotz der Aktionen der letzten Monate weiter arbeiten, zumal der große Einbruch in Berlin schon nach kurzer Zeit vom Ostbüroleiter Naase heruntergespielt wurde. Es sei kein "schwerer Schlag" gewesen, diese Defmition träfe nur dann zu, wenn man "Meldungen besonders 'seriöser' Zeitungen wie BILD und BZ" folge. Tatsächlich seien, so Naase, "offenbar andere Unterlagen gesucht" worden, "die allerdings seit mehreren Monaten in Berlin nicht mehr zu finden waren" (ebd., Bd.2575, Schreiben Naase an Tillich v. 21.3.1955). Das wußte mittlerweile allerdings auch die Staatssicherheit; sie richtete ihren nächsten verheerenden Schlag deshalb auch gegen die Zentrale des Ostbüros in Bonn. Nach dem ersten nächtlichen Besuch der Staatssicherheit im Berliner Ostbüro baute man nun, im April 1955, in Berlin eine Alarmanlage ein, ohne wie zuvor auf die Kosten zu schielen. Auch der Mechanismus dieser Anlage wurde vom Spitzel Werner Hähn umgehend an die Staatssicherheit in Ostberlin verraten (BStU, MfS AlM 748/61, Personalakte Radeberg, Bd. I, Treffbericht v. 22.4.1955, BI. 214).
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Auch in der Zentrale des FDP-Ostbüros in Bonn hatte man im Februar 1955 eine Alarmanlage24 eingebaut, um einen Raub von Unterlagen zu vermeiden. Doch diese Vorsichtsmaßnahme half nicht, zehn Monate später wurde ein Einbruch in die Bonner Dienststelle verübt. Die Staatssicherheit verfUgte durch diese Aktion, die kurz vor Weihnachten 1955 durchgefUhrt wurde, sowohl über umfangreiche Rechnungsunterlagen des Ostbüros als auch über Gehaltslisten und den Schriftwechsel über Anschaffungen etc. Besonders interessant rur die Staatssicherheit war die Korrespondenz mit denjenigen Firmen, die Wasserstoffgas, Flugblätter oder Luftballons lieferten, sie wurden anschließend unter Druck gesetzt, die Lieferungen einzustellen. Selbst die Tagegeldabrechnungen des Bonner Ostbüroleiters Naase fielen in die Hände des östlichen Geheimdienstes - eine nahezu lückenlose Beschreibung seiner Tätigkeit der vergangenen Jahre wurde damit möglich. In den Monatsberichten, die das Berliner Ostbüro nach Bonn geschickt hatte, waren Aktionen der Verbindungsleute in der DDR teilweise mit ihren Klarnamen beschrieben. Da auch solche Monatsberichte erbeutet wurden, konnten diese Personen jetzt ermittelt werden (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. II/5, Schreiben v. 28.12.1955, BI. 617). Auch die sogenannte X-Kartei mit rund 690 Namen von vertrauenswürdigen Liberalen auf Karteikarten wurde nach Ost-Berlin gebracht; die Staatssicherheit stellte im Januar 1956 fest, "davon wohnen zur Zeit im Gebiet der DDR noch 330 Personen" (ebd., Bd. II/8, Aktennotiz v. 10.1.1956, BI. 134). Auch die X-Kartei West, also das Ansprechpartnerverzeichnis des Ostbüros im Westen mit 250 Karteikarten wurde nach Ost-Berlin geschafft, zudem acht Personalakten über Angestellte des Ostbüros (Kopien in: BStU, MfS HA 11, Stab 2653), "eine Mappe mit Schriftwechsel über Sicherungsmaßnahmen des Ostbüros der FDP in Berlin", Personalunterlagen der Außenstellen und Beurteilungen des "Falles Ludwig". Über diesen mysteriösen Einbruch, um den sich Gerüchte über die Mithilfe durch Ostbüro-Mitarbeiter rankten, stellte der sozialdemokratische Berliner Telegraf am 21. Dezember 1955 fest: "Der Polizei ist es rätselhaft, wie der Einbruch möglich war. Das Büro besitzt eine vollelektronische Sicherheitsanlage. Die Einbrecher müssen technische Spezialisten gewesen sein" (Telegraf, 2l.l2.1955) Das waren sie vielleicht auch. Laut Staatssicherheit soll jedoch auch Hans Irmscher alias GM "Heimat" bei diesem von der Staatssicherheit "Aktion Wiederholung" genannten Einbruch kräftig mitgeholfen haben, laut Staatssicherheit arbeitete er in der Bonner Ostbüro-Zentrale. Doch nach übereinstimmender und glaubhafter Mitteilung mehrerer Ostbüromitarbeiter scheint Irmscher sich zum damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht im Bonner FDP-Ostbüro aufgehalten zu haben (Schreiben Schollwer an den Autor v. 1.l.l997). Durch diesen Einbruch gelang es dem MfS, vier V-Leute des 24 Details über die Alarmanlage und den zwischen Naase und der Fa. Akusta-Sicherungs-Geräte GmbH gefUhrten Schriftwechsel befinden sich in: BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. 11/1, BI.1-9.
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Ostbüros festzunehmen (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. 1114, BI. 5). Die Staatssicherheit ging auch alten Spuren nach. Beispielsweise erbeutete sie eine Liste alter V-Mann-Abrechnungen, die nun "operativ bearbeitet werden (sollte), da noch nicht alle aufgeführten V-Leute inhaftiert sind" (ebd., Bd.II B, Maßnahmen, BI. 28). In den Besitz des ostdeutschen Geheimdienstes kamen so auch die Personalakten der Mitarbeiter sowie Schreiben mit Bitten um Gehaltserhöhungen. Der Einbruch wurde, wie die anderen ins Ostbüro ebenfalls, nie polizeilich aufgeklärt, es handelte sich" nach Angaben der Kriminalpolizei um
eine der raffiniertesten Aktionen, die bisher auf diesem Gebiet überhaupt gestartet worden sind" (ADL, Bd.2533, Schollwer an Hüppner v. 16.1.1956). Die FDP-Spitze vermutete später, der Propagandareferent der FDP-Hauptgeschäftsstelle habe für die Staatssicherheit gearbeitet, er verübte Selbstmord (Schollwer 1996, S. 104). Die Staatssicherheit nahm die erbeuteten Informationen der "Aktion Wiederholung" zum Anlaß, "Anwerbungen [der erkannten Ostbüro-V-Leute durchzuführen; W.B.], wobei es nicht nur um die Gewinnung von neuen geheimen Mitarbeitern für die Tätigkeit im Gebiet der DDR geht, sondern es gelingen muß, einige Personen in das feindliche Lager zum Zwecke des Eindringens in die Zentralen absetzen zu lassen" (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd.1II8, Aktion Wiederholung, BI. 136). Und auch die erbeuteten Schriftstücke wurden nicht nur für die aktuellen Verhaftungen genutzt, sondern perspektivisch eingesetzt. Es handelte sich mengenmäßig um so viel Material, daß man nach der Auswertung einen GM mit zwei Koffern voll Unterlagen nach West-Berlin schicken konnte, mit denen dann Agitation gegen Schwennicke und Teile der FDP geführt (ebd., BI. 143), und durch die nachträglich der Verdacht gegen die Staatssicherheit ausgeräumt und gewöhnliche Kriminelle in Verdacht gebracht werden sollten. Dieses Ablenkungsmanöver gelang ebensowenig wie schon zuvor nach dem Berliner Einbruch versucht. Die publizistische Auswertung des Materials sollte anschließend bewirken, daß das Ostbüro der FDP "in den Mitgliederkreisen wie ein Schmutzfleck betrachtet" wird (ebd., BI. 146). Ob dies tatsächlich gelang, ist heute kaum noch festzustellen. Natürlich wußte jedermann, daß die in ostdeutschen gleichgeschalteten Zeitungen abgedruckten Dokumente nicht "aus Kreisen der FDP (Liberale Studentenschaft), die Dehler nahestehen" (Sächsisches Tageblatt, 9.6.1956) stammten, sondern von der Staatssicherheit bei Einbrüchen erbeutet worden waren. Aber an der Echtheit der Dokumente gab es keinen Zweifel, auch wenn vieles aus dem Zusammenhang gerissen worden war, und dies brachte das Ostbüro in große Rechtfertigungsschwierigkeiten.
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VI. Das Ende des üstbüros der FDP Nach dem Abdruck der ersten Originalbriefe in Ostberliner Zeitungen hatte Karl-Heinz Naase eine Stellungnahme (ADL, Bd. 2582, Stellungnahme v. 5.6.1956) zu den Anschuldigungen rur den Parteivorsitzenden Thomas Dehler anzufertigen; hier erläuterte er insbesondere die Herkunft der Papiere und wies auf den bisherigen Kampf der Staatssicherheit gegen das FDP-Ostbüro hin. Gleichzeitig behauptete er, das Ostbüro verfUge" weder über Vertrauensleute in der Zone noch über Personen, die in seinem Auftrag zur Durchführung irgendwelcher politischen Aktionen in das Gebiet der SBZ fahren ", eine leicht zu widerlegende Behauptung, zumal Naase eben das Vorhandensein von" Verbindungsleute(n) aus Wirtschaft, Verwaltung und Partei in der SBZ" beispielsweise in Berichten an den Bundesvorstand der FDP als positiv herausgestellt hatte. 25 Hätte sich Thomas Dehler die Mühe gemacht, beispielsweise im Jahresbericht des Ostbüros von 1953 nachzulesen, so hätte er feststellen können, daß Naase da noch stolz erwähnte, daß zahlreiche Personen " unaufgefordert von selbst kommen und uns die Beschaffung von Informationen anbieten. Es ist selbstverständlich ", so Naase, "daß das Ostbüro von dieser Möglichkeit stets reichlich Gebrauch gemacht hat" (ADL, Bd. 2608, Tätigkeitsbericht 1.1.-30.9.1953, S. 6). Dehler scheint sich mit dieser Stellungnahme Naases nicht abgefunden zu haben. Das Verhältnis zwischen beiden blieb gespannt, Dehler und verschiedene seiner Vorstandskollegen arbeiteten von nun an offen auf eine Aufgabenveränderung oder sogar eine Auflösung des Ostbüros hin. Das Bonner Ostbüro zog Anfang April 1956 aus der unsicheren, weil der Staatssicherheit bestens bekannten Herberge in ein kleines Wohn- und Bürogebäude (Im Maarflach 17a) um. Es blieb separiert, ein Hinweis auf die nach wie vor notwendige Abschottung der Arbeit gegenüber der Bundespartei und ihren Mitarbeitern. Auch der Mitarbeiter Gerhardt Brandt erhielt in der neuen Bleibe eine Wohnmöglichkeit, vielleicht hoffte man so, die Staatssicherheit von weiteren Einbrüchen abhalten zu können. Außerdem hatte man schon nach den bedeutsamen Stasi-Aktionen im Januar 1956 einen Vertrag zur Bewachung der Büroräume mit der örtlichen Wach- und Schließgesellschaft abgeschlossen. Auch die AnlaufsteIlen rur LDPD-Flüchtlinge in den Lagern wurden "befestigt". Direkt nach dem Einbruch in das Bonner FDP-Ostbüro wurden die AußensteIlen gebeten, umgehend rur eine verschärfte Bewachung zu sorgen. Christa von Holly schrieb daraufhin aus Gießen an OstbÜToleiter Naase: "Die Polizeiwache im hiesigen Lager geht bei Dunkelheit in unregelmäßigen Zeitabschnitten durch die verschiedenen Baracken. Sie hat mir gestern zugesagt, 25 Vgl. ADL, Bd. 2582, Stand der Vorarbeiten des HDO der FDP fUr die sachliche und personelle Vorbereitung der Wiedervereinigung Deutschlands v. 27.6.1952.
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unser Büro besonders im Auge zu behalten" (ADL, Bd. 2586, Schreiben vom 23.2.1955). Entbehrliche Schriftstücke wurden auf Anweisung der Bonner Zentrale in den Außenstellen Mitte 1956 vernichtet, die Nebenstelle Schöningen zum 30. Juni 1956 aufgelöst und an die verbleibenden Mitarbeiter Gaspistolen ausgegeben und Jiu-Jitsu-Anleitungen gekauft, um EntfUhrungsversuchen vorbeugen zu können. Viel Sinn machte die Bewaffnung nicht: "Von 2 Probeschüssen mit der Gaspistole in geschlossenen Räumen war ich nicht sehr beeindruckt", mußte ein Mitarbeiter feststellen, "gestraft ist dabei nur derjenige, der hinterher die Pistole wieder putzen muß" (ADL, Bd. 2521, Monatsbericht Mai 1956 der Nebenstelle Schöningen vom Mai 1956 v. 25.5.1956). Andere Mitarbeiter bereiteten sich persönlich auf mögliche Anschläge und EntfUhrungen vor. Cunow alias "Willert" besorgte sich Strichninkapseln, um der Staatssicherheit nicht lebend in die Hände zu fallen.
Das FDP-Ostbüro blieb und fUhlte sich von Agenten der Staatssicherheit umringt, bereits am 16. Februar 1955 hatte es ein vertrauliches Gespräch zwischen dem Polizeipräsidenten in Berlin und dem Bonner Ostbüroleiter über belastende Momente gegen Mitarbeiter gegeben (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. I, Schreiben Berliner Polizeipräsident an Naase v. 23.3.1955, BI. 199). Man verabredete mit dem Berliner Polizeipräsidium eine ständige Überprüfung der festamtlichen Mitarbeiter (ebd., Schreiben Naase an Reg. Dir. Weissmann v. 19.2.1955, BI. 200). Im August 1956 konnte ein Spitzel der Staatssicherheit beim Auskundschaften der Berliner Dienststelle festgenommen werden, ein zweiter entkam (ADL, Bd. 2585, Monatsbericht fUr August 1956 v. 8.9.1956). Und nur einen Monat später flog ein weiterer Spitzel namens Weinberg auf, der sich in Bonn bis in die unmittelbare Umgebung Wolfgang Schollwers vorgearbeitet hatte (ebd., Fall Gerhard Wengier alias Herbert Weinberg). Weinberg hatte den Auftrag gehabt, Schollwer nach einem Treffen in West-Berlin in den sowjetischen Sektor der Stadt zu bringen (Schollwer 1996, S. 102). Und auch ehemalige LDPD-Häftlinge wurden in vielen Fällen begnadigt, wenn sie sich bereiterklärten, mit der Staatssicherheit zusammen zu arbeiten, und das FDPOstbüro auszuspionieren (ADL, Bd. 2585, Fall Käthe Schnabel). Nach dem Einbruch in das Bonner Ostbüro versuchte die Staatssicherheit mit Hilfe der erbeuteten Unterlagen, ihren Erzfeind Carl-Hubert Schwennicke politisch zu destabilisieren. Ausgangspunkt war auch hier Günter Hegewald, der über eine Intimkenntnis des Ostbüros der FDP und der Berliner Parteiorganisation verfUgte. Aufgrund der Ablehnung der Deutschlandpolitik Adenauers durch Thomas Dehler sah die Staatssicherheit hier eine Möglichkeit, auch die Adenauer unterstützende FDP-Parteiorganisation der Berliner um ihren Landesvorsitzenden Carl-Hubert Schwennicke auszuhebeln. Die Staatssicherheit unterstützte einen Kurs der Gespräche zwischen SED-treuer LDPD und FDP, einen Kurs der Brückenfunktion der FDP und Deutschlands, den sie als" verdienstvolle Rolle
Ostbüro der FDP
237
(00) beim Werk der deutschen Einigung" beschrieb. Das MfS wollte Dehler unterstützen, damit sich die FDP "auf ihre Kraft besinnt" (ebd., Bd.2382, Schreiben Hegewald an Wrochem, Mai 1955). Nachdem Dehler im FDP-Bundesvorstand nicht die notwendige Unterstützung fand, trat er von seinem Posten als Stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP zurück. Die Staatssicherheit war durch die Einbrüche in den Besitz interner Unterlagen aus dem FDP-Ostbüro gekommen, "aus denen zu ersehen war, daß innerhalb der FDP zwischen einigen Funktionären Spannungen bestanden und sich eine gegen Schwennicke gerichtete Opposition herausgebildet hatte. (Er strebte) schon damals (an), sich mit seinen Anhängern vom FDP-Landesverband abzuspalten und eine eigene Partei zu gründen" (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. III9, BI. 83). Um dies zu erreichen, konzentrierte sich die Staatssicherheit auch in der GM-Arbeit voll auf den Kampf gegen Schwennicke. Sämtliche vorhandenen Mitarbeiter in der Berliner Parteiorganisation wurden eingespannt, um Schwennicke zu stürzen. Hierzu gehörten der GM "Albrecht", Mitglied des Bezirksvorstandes in Reinickendorf, der "Flüsterparolen· gegen den Landesvorsitzenden in Umlauf" bringen sollte, wie auch ein Funktionär im Bezirk Schöneberg. Die GM "Peter" und "Botone" im Bezirk Tempelhof traten offen gegen den "Schwennicke-Kurs" der Partei auf, GM "Letten" im Bezirksvorstand Kreuzberg sollte sich ebenfalls mit Flüsterparolen gegen Schwennicke aussprechen. Der GM "Tulpe" aus Neukölln sollte "Unruhe unter den Mitgliedern des Schwennicke-Kurses" stiften, GM "Albrecht" aus dem Bezirksvorstand Tiergarten und GM "Alfred" aus der "Kampfgruppe", der Vertretung der Ostberliner Liberalen in der FDP, sollten über die Situation in ihren Bereichen informieren. "Alle diese Maßnahmen sollen in propagandistischer Hinsicht dazu dienen", so die Staatssicherheit, "den Kampf gegen Schwennicke fortzusetzen und Dehler das Rückgrad zu stärken" (ebd., Bd. III8, Schreiben v. 24.12.1955, BI. 168 ff.). So plante man Diffamierungskampagnen gegen das Ostbüro und den Berliner FDP-Vorsitzenden Schwennicke; Maßnahmen, die letztendlich zum Austritt Schwennickes aus der FDP führten. Das Ostbüro verlor damit seinen Mentor (Buschfort 1997, S. 252-257).
Paul Cunow alias" Willert", seit 1954 zunächst als Aushilfe, dann als Sachbearbeiter im Ostbüro beschäftigt, wurde ab dem 23. Juni 1956 Leiter des Berliner Ostbüros. Cunow war seit seiner Flucht aus Ostberlin beliebtes Ziel der Staatssicherheit gewesen. Ihn versuchte man mehrfach zu entführen. Nachdem dies schon 1954 gescheitert war, da er kurz vor dem anberaumten Termin umgezogen war, sollte es 1955 sein Freund und GM des Staatssicherheitsdienstes Wem er Hähn schaffen. Auch dies mißlang, denn diesmal verweigerte die Staatssicherheit ihre Unterstützung, obwohl Hähn darauf drang, da er unbedingt wieder in die DDR zurück wollte, und bei dieser "Abschiedsvorstellung" gleich Cunow und Naase mit in den Osten bringen wollte. Die Staatssicherheit war mit dem Zeitplan nicht einverstanden, sie bestand darauf, "lieber einen
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Wolfgang Buschfort
günstigeren und besseren Zeitpunkt abwarten (. ..), wo wir dem Ostbüro einen solchen Schlag versetzen werden, daß es sich nicht mehr erholen kann," (BStU, MfS AlM 748/61, Personalakte Radeberg, Bd. 1, Treftbericht v. 22.4. 1955, BI. 215) und bremste damit Hähns Tatendrang. Neue Aktionen des Staatssicherheitsdienstes, die 1956 geplant wurden, nämlich durch die GM "Werner Albrecht" und "Felix Hückel" das Ostbüro erneut aufzurollen und mit Hilfe der Ehefrau des Ostbüromitarbeiters Lorenz (BStU, MfS AOP 1539/65, Bd. III4, Einschätzung v. 31.8.1956, BI. 205 f.) diesen zu überreden, mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten (ebd., Operativplan Unkraut, BI. 203), liefen ins Leere, da das Personal drastisch abgebaut wurde. Und auch zu der konspirativen Festnahme der Tochter von Cunow, die fUr das Ostbüro Botendienste durchfUhrte, scheint es nicht gekommen zu sein (ebd., Zwischenbericht v. 25.2.1955, BI. 272). Auch ein weiterer Einbruch war geplant, wurde jedoch nicht ausgefUhrt (ebd., Bd. I, Schreiben HA I/2/b an HA V/3 v. 9.8.1958). Die wichtigsten Unterlagen des in Referat Wiedervereinigung umbenannten Ostbüros waren ohnehin nicht mehr zu stehlen: Sie befanden sich in zwei" verschnürten und versiegelten Koffer[nj" bei der Deutschen Bank in Bonn (ADL, Bd. 2582, Schreiben Referat Wiedervereinigung an die Deutsche Bank AG v. 22.11.1957). Erst im August 1958 sah die Staatssicherheit wieder eine Gelegenheit, Cunow zu entfUhren. Der SSD fmanzierte fUr Hähn alias GM "Radeberg" einen privaten PKW. Der Agent sollte damit auf einer Ausflugsfahrt von der AVUS aus kurz über den Seeburgerweg in die DDR fahren, wo bewaffnete Stasi-Mitarbeiter warteten. Dieser Plan scheiterte, da Cunow seine Sekretärin und deren Hund mitnehmen wollte, und er deswegen den eigenen Wagen nehmen mußte, den natürlich Cunow selbst fuhr (BStU, MfS AlM 748/61, Personalakte Radeberg, Bd. 1, Treftbericht v. 26.3.1955, BI. 203 f.). Noch 1959 versuchte die Staatssicherheit, erneut erfolglos, "Willert" zu entfUhren (ebd., Bd. IV, Treftbericht vom 23.7.1959, BI. 86.). Die Ironie der Geschichte will es, daß Hähn just mit diesem von der Staatssicherheit teilweise bezahlten und nur zur Tarnung auf Raten gekauften Wagen am 23. Juni 1960 tödlich verunglückte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er 15.410 DM Agentenlohn bekommen, mehrere Vertrauensleute des Ostbüros verhaften lassen und über sechs Jahre hinweg genaue Lageberichte aus der FDP, aber auch der Deutschen Partei und der FVP geliefert. Hiermit endet weitgehend auch der Kampf der Staatssicherheit gegen das FDP-Ostbüro. 1962 rügte das MfS gar seinen hierfUr zuständigen Mitarbeiter. Er habe" nicht genügend Maßnahmen unternommen ", daher sei es "nicht möglich [gewesen] festzustellen, ob die zwar in geringer Anzahl erschienenen Besucher von C[unow] Aufträge erhielten" (BStU, MfS, AOP 1539/65, Analyse v. 5.1.1962, Bd. I, BI. 294). Erneut gelang es der Staatssicherheit jedoch im selben Jahr, die Besucherzettel des Ostbüros zu erbeuten und damit
OstbUro der FDP
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festzustellen, wer von ihren Landsleuten diese Dienststelle aufgesucht hatte. Acht Personen wurden vorläufig festgenommen und vernommen, ein Besucher verurteilt. Die Staatssicherheit schloß aus der Tatsache, daß die angeblichen Besucher steif und fest behaupteten, nie im FDP-Ostbüro gewesen zu sein, "daß von den Mitarbeitern des Ostbüros nur Namen in das Besucherbuch eingetragen wurden, um einmal nachweisen zu können, daß laufend noch Besucher im 'Ostbüro' erscheinen und zum anderen evtl. daraus finanzielle Vorteile zu ziehen, ähnlich wie es beim 'Ostbüro der GdP' der Fall war" (ebd., BI. 295).
Diese Auffassung über die Arbeit im Ostbüro bzw. Referat für Wiedervereinigung führte dazu, daß es in einer sogenannten Dissertation der sogenannten Juristischen Hochschule des MfS über "die wichtigsten Zentren der politischideologischen Diversion" nur noch am Rande erwähnt wird (BStU, JHS 23017). Das Personal des FDP-Ostbüros wurde stark reduziert, in Berlin arbeiteten 1960 noch zwei Mitarbeiter im Referat, die lediglich Betreuungsarbeit leisten sollten. Hinzu kam der Ärztliche Beratungsdienst, über dessen fmanzielle Probleme der Staatssicherheitsdienst perfekt informiert blieb (BStU, MfS, AOP 1539/65, Analyse v. 5.1.1962, Bd. I, BI. 292 f.). Trotz dieses Wissens über die fast erlangte Bedeutungslosigkeit des Referates arbeitete die DDR nach wie vor auf eine völlige Auflösung hin. Beispielsweise wurde Carlheinz Freiherr von BrUck, Beauftragter der LDPD filr die Beziehungen zur FDP, nach Bonn zu Wolfgang Schollwer geschickt, um diesen - inzwischen nicht mehr zuständig auf die politische Unglaubwürdigkeit der FDP hinzuweisen, solange dieses Referat bestehe (Schollwer 1991, S. 115f.). 1965 konnte die Staatssicherheit feststellen, das FDP-Ostbüro habe "immer mehr an Bedeutung verloren" und spiele" in der Feindtätigkeit gegen die DDR keine Rolle mehr. Die Bearbeitungen dieses Objektes werden daher eingestellt' und die Unterlagen kommen ins Archiv der Abteilung XII zur Ablage" (ebd., Handschriftlicher Vermerk vom 15.1.59). Daß das Ostbüro schon lange nicht mehr bestand, daß inzwischen Entspannungspolitik herrschte und die Verhältnisse zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR durch den Grundlagenvertrag weitgehend geregelt waren, bedeutete nicht, daß sich die Staatssicherheit nicht mehr für die längst vergangene Tätigkeit des Ostbüros und der Flüchtlingsbetreuungsstelle interessierte. Die Anfang der 1970er Jahre im Keller des Berliner Landesverbandes abgestellten Aktenbestände wurden Mitte der: 1970er Jahre erneut genauestens unter die Lupe genommen. Wahrscheinlich ließ die Staatssicherheit sämtliche Flüchtlingsbeurteilungen, über die Jahre hinweg einige Zehntausend Stück, kopieren, um sie anschließend in Ostberlin auszuwerten (vgl. Akten mit Buchstabe Bin: BStU, MfS HA 11 Stab, Bd. 2708). Hierzu gehörte auch der komplette Schriftwechsel des Ostbüros und seiner Nachfolgeorganisation mit den Landesämtern bzw. dem Bundesamt für Verfassungsschutz, Flüchtlingsämtern, dann Spitzel-
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meldungen und vieles mehr. Wahrscheinlich zur gleichen Zeit wurde von einem Spion der Staatssicherheit im Landesverband der Berliner FDP eine "Bilddokumentation " über die dort vorhandenen Karteikästen und Akten angelegt, es sollten, so der Verfasser, "Beispiele für operativ-interessante Karteikarten des sich im Kellergeschoß befindlichen Archivs der Geschäftsstelle der FDP in Berlin (West)" geliefert werden (ebd., Bd.2709). Originalakten aus den sechziger Jahren wanderten so ebenfalls in die DDR, beispielsweise der Schriftwechsel des Ostbüros mit Hans Füldner nach dessen Entlassung 1961 (ebd., Bd.3283). Und noch 1981 ermittelte die Staatssicherheit erneut die meisten der ehemaligen Mitarbeiter des Ostbüros der FDP, selbst den mittlerweile 82-jährigen Friedrich Hemminger (ebd., Bd. 2653).
VII. Fazit Insgesamt hatte die FDP mit ihrem kleinen Ostbüro, gemessen an Mitarbeiterzahl und V-Leuten, die wohl größte Zahl an festgenommenen Personen. Eine große Rolle in der politischen Auseinandersetzung in der und mit der DDR dürfte es abgesehen vom Zeitraum April bis Oktober 1953 kaum gespielt haben. Allein ft1r die nach Einbrüchen, Festnahmen und Entführungen notwendigen Umzüge des Ostbüros hätte man eine eigene Möbelspedition gründen können. Die Staatssicherheit ging von insgesamt 68 V-Leuten des Ostbüros der FDP aus, die bis 1958 verhaftet wurden, eine Zahl, die eher als zu niedrig gegriffen erscheint. Daß dem FDP-Ostbüro nur eine so kurze Lebensdauer vergönnt war, ist hingegen nicht allein mit den hohen Opferzahlen zu erklären, auch nicht mit Unzulänglichkeiten in der Arbeit oder Verrat. Diese waren bei anderen Widerstandsorganisationen, gerade auch bei den Ostbüros und hier insbesondere bei jenem der SPD nicht geringer. Im Gegenteil: Die Schätzungen der Opfer allein der ersten Verhaftungsorgien von Mitte 1948 bis Anfang 1949 liegen zwischen 600 und 1.000 Personen, die direkt oder indirekt mit dem SPD-Ostbüro zu tun hatten. Konsequenz ft1r die SPD war gewesen, einerseits die eigene Arbeit zu intensivieren und zu professionalisieren, andererseits die Führungsspitze auszuwechseln. In der FDP zweifelte man hingegen schnell an der Durchfilhrung der eigenen Aufgabe, hinzu mag ein bürgerliches Unverständnis gegenüber politischem Widerstand, Opferbereitschaft für politische Ideen und allgemeinem Märtyrertum gekommen sein, eine Einstellung, die es bei der CDU und vor allem bei der SPD nicht gab. Das Ostbüro der FDP war eine Gründung einiger Berliner LDPD-Mitglieder, die die Notwendigkeit einer solchen Institution vor allem in Hinblick auf eine deutsche Wiedervereinigung sahen. Die anderen liberalen Parteien, die sich mit den Berlinern 1948 in Heppenheim zur FDP zusammenschlossen, akzeptierten diese "Mitgift" und
Ostbüro der FDP
241
unterstützen sie mit geringen fmanziellen Mitteln, insgesamt blieb die Dienststelle jedoch ein zunächst wenig beachteter Fremdkörper. Als in der FDP eine Führung unter Thomas Dehler an die Macht kam, die keine illegale Arbeit sondern Gespräche mit der LDPD wollte, die in guten Kontakten und einer Zusammenarbeit mit der LDPD den Grundstein rur spätere Wahlerfolge im Gebiet der damaligen DDR nach einer Vereinigung sah, war das Ostbüro als Institution obsolet geworden. Hinzu kamen die Angriffe der Staatssicherheit, die auch unter wohlmeinenden FDP-Funktionären die Ansicht verstärkten, in diesem Parteireferat seien wohl die falschen Personen an der Arbeit. So bleibt lediglich eine kurze Hochphase der illegalen Arbeit im Jahr 1953, die dem vorher kaum beachteten Ostbüro die jahrelange Feindschaft der Staatssicherheit sicherte.
Literatur Beckert, Rudi: Die erste und letzte Instanz. Goldbach 1995. BStU (Hg.): Der Bundesbeauftragte: Dokumente - Das Wörterbuch der Staatssicherheit, Definitionen des MfS zur "politisch-operativen Arbeit", Reihe A, Nr. 1/93. Berlin 1993. Bundesvorstand des Liberalen Studentenbundes Deutschlands (Hrsg.): Liberale Studenten im Widerstand. Bonn 0.1. (ca. 1959). Buschfort, Wolfgang: Das Ostbüro der SPD. München 1990. Buschfort, Wolfgang: Schwennicke ist politisch erledigt. Der Kampf der Staatssicherheit gegen den Berliner FDP-Vorsitzenden. In: Deutschland Archiv, 30. Jg., H. 2, Köln, S. 252-257. F.D.P. Landesverband Berlin (Hg.): 50 Jahre Berliner F.D.P. Berliner liberale Parteien seit 1945. Berlin 1995. Frölich, Jürgen (Hg.): Bürgerliche Parteien in der SBZIDDR. Zur Geschichte von CDU, LDP(D), DBD und NDPD 1945 bis 1953. Köln 1994. Mischnick, Wolfgang: Von Dresden nach Bonn, Erlebnisse - jetzt aufgeschrieben. Stuttgart 1991. Reese, Mary Ellen: Organisation Gehlen. Der Kalte Krieg und der Aufbau des deutschen Geheimdienstes. Berlin 1992. Sächsisches Tageblatt v. 9.6.1956, "Von Beruf Agent". Schollwer, Wolfgang: Liberale Opposition gegen Adenauer. AufZeichnungen 1957-1961. München 1991. Schollwer, Wolfgang: Die DDR-Staatssicherheit und das Ostbüro der FDP. In: Deutschland Archiv, 29. Jg. (1996), H. I, Köln, S. 100-106. Suckut, Siegfried: Ost-CDU und LDPD aus der internen Sicht von SED und MfS. In: Frölich, Jürgen (Hg.): Bürgerliche Parteien in der SBZIDDR. Zur Geschichte von CDU, LDP(D), DBD undNDPD 1945 bis 1953. Köln 1994, S. 103-120. Telegrafv. 21.12.55, "Politischer Einbruch in Bonn".
16 Mertens I Voigt
Lothar Mertens
"ÜBERKOMMENES BÜRGERLICHES RELIKT" Kriminalität in der DDR I. Einleitung Für die Parteiideologen in der DDR war Kriminalität ein überkommenes, aus dem Kapitalismus stammendes Relikt der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, das unter sozialistischen Bedingungen (vgl. Udke 1976, S. 477 f.; Lekschas et al. 1983) und bei dem im real existierenden Sozialismus erzogenen "neuen" Menschen zwangsläufig absterben mußte: "Es gehört zu den Grunderkenntnissen des Marxismus-Leninismus, die Kriminalität als eine soziale Erscheinung zu fassen, die historisch entstanden und ebenso vergänglich ist" (HenniglLekschas 1977, S. 1147). Kriminalität war nach dieser Auffassung ein Relikt der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft und konnte "historisch gesehen nur als Außerungsform der in einer Ausbeuterformation vorherrschenden Lebensweise verstanden werden, von der sich der Mensch nur befreien kann, wenn er sich von der Ausbeutergesellschaft selbst befreit... " (ebd., S. 1148). Daher wurde im Kulturpolitischen Wörterbuch beispielsweise die kapitalistische Kriminalliteratur nachdrücklich darur kritisiert, daß sie nicht die sozialen Ursachen von Kriminalität benenne und herausstelle. Konsequent weitergeführt hieß dies, daß es im Sozialismus - zumindest nach dem theoretisch-ideologischen Verständnis - weil die sozialen Ursachen von Kriminalität fehlten, es keine Kriminalität geben konnte; oder allenfalls rudimentäre Relikte der früheren kapitalistischen Gesellschaftsform waren noch möglich. Lekschas (l985a, S. 584) sprach von einem" Wurmfortsatz der Vergangenheit". Erst sehr spät, Mitte der achtziger Jahre, konzedierten DDR-Wissenschaftler, kriminelles Geschehen könne sich nicht außerhalb und nicht unabhängig von den gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen im Sozialismus bewegen (Lischke 1987, S. 566). Als Grund rur den Fortbestand der Kriminalität in der DDR wurde jedoch offiziell konstatiert: "Eine Hauptursache, die - staatlich gesehen - als äußere Ursache betrachtet werden kann, ist die imperialistische Infiltration, der Einfluß der kapitalistischen Umgebung" (Buchholz 1974, S. 854), womit insbesondere die Bundesrepublik Deutschland gemeint war. Daß eine derartige Sichtweise sehr idealisiert war und von der Alltagsrealität nachhaltig getrübt wurde, be16*
244
Lothar Mertens
legen die nachfolgenden Blicke auf ausgewählte Bereiche der Kriminalstatistik der DDR.
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Ungesetzlichen Grenzübertritt« verdoppelt bzw. verdreifacht sich in den Jahren 1987 und 1988 die Zahl der Delikte, wobei zugleich der Alkoholeinfluß zum Zeitpunkt der Tat deutlich absinkt, d.h. die versuchte Republikflucht wurde nun immer öfter bei .. klarem Kopf' versucht und war nicht mehr das Produkt eines Rauschzustands. Sowohl bei der Gesamtbevölkerung als auch unter den Jugendlichen ist fiir die Jahre 1987 und 1988 ein sprunghaftes Ansteigen des Deliktes )>ungesetzlicher Grenzübertritt« zu konstatieren. Dies ist ein Indiz rur die sich verschärfende innenpolitische Lage in der DDR und rur die wachsende Unzufriedenheit der Bürger mit dem sozialistischen Staat. Bei den Jugendlichen hat sich dabei im Jahre 1988 der Anteil der vorbestraften Minderjährigen verdoppelt. Dies gilt auch rur das Delikt »Öffentliche Herabwürdigung«, bei dem sich gleichfalls der Anteil der bereits vorbestraften Jugendlichen im Jahre 1988 verdoppelte. 5
§ 220 StGB bestimmte u.a.: ,,(1) Wer in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer Schriften, Gegenstände oder Symbole, die geeignet sind, die staatliche oder öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen, das sozialistische Zusammenleben zu stören oder die staatliche oder gesellschaftliche Ordnung verächtlich zu machen, verbreitet oder in sonstiger Weise anderen zugänglich macht. "
6
In § 213 StGB hieß es u.a.: ,,(1) Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik passiert oder Bestimmungen des zeitweiligen Aufenthalts in der Deutschen Demokratischen Republik sowie des Transits durch die Deutsche Demokratische Republik verletzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft. ... (4) Vorbereitung und Versuch sind strafbar. "
Kriminalität in der DDR
257
Tabelle 2: Staatsfeindliches Verhalten Jahr
1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989
Widerstand gegen staatliche Maßnahmen insgesamt unter Alkohol abs. in% 741 83,5 952 74,4 1.166 85,0 1.303 83,7 1.250 84,8 87,4 1.400 1.283 88,2 1.685 86,7 86,0 1.578 87,0 1.530 1.312 89,5 1.196 91,1 87,8 979 806 88,1 1.236 87,9 1.304 87,2 1.225 86,2 1.277 84,6 89,0 1.299 90,7 1.378 1.208 89,3 1.098 89,0 1.045 89,0 90,5 981 92,0 953 92,0 882
17 Mertens I Voigt
ungesetzlicher Grenzübertritt insgesamt abs. 6.273 5.563 4.929 4.017 3.861 3.300 3.001 3.263 3.835 3.945 3.497 2.569 2.244 2.512 2.410 2.146 2.375 2.111 2.089 2.254 2.147 1.790 2.333 4.572 7.292 O.A.
Öffentliche Herabwürdigung (bis 1977 Staatsverleumdung) unter insgesamt unter Alkohol Alkohol in% in% abs. o.A. 2.282 73,6 o.A. 2.313 74,9 O.A. 78,1 3.270 o.A. 4.062 77,5 o.A. 4.036 71,2 O.A. 75,2 3.507 74,8 o.A. 3.270 o.A. 76,9 3.849 O.A. 3.206 73,0 O.A. 2.560 73,8 O.A. 2.105 78,2 O.A. 2.033 76,2 12,0 1.562 79,8 70,4 10,5 1.084 66,9 10,7 1.215 11,4 1.420 67,3 10,5 1.210 60,8 12,0 1.236 58,5 14,4 1.150 68,3 17,9 1.177 70,4 71,6 16,4 1.176 72,4 20,6 934 13)6 68,9 879 71,5 9,8 771 6,0 75,8 758 1.141 73,9 O.A.
258
Lothar Mertens
V. Jugendkriminalität Obgleich der Anteil der Jugendlichen (die Altersjahrgänge 14-21 bzw. 14-25 Jahre) an der Gesamtbevölkerung der DDR nur rund ein Drittel ausmachte, lag ihr Anteil an einzelnen Straftaten bei der Hälfte aller Täter. Betrachtet man die Straftaten generationsdifferenziert, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen.
Diebstahl gegen das sozialistische Eigentum 5.000 4.000 ~
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Diagramm 9: Jugendliche Straftäter bei Diebstahl gegen das sozialistische Eigentum
Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, wo im Verhältnis zum »Diebstahl gegen privates Eigentum« der »Diebstahl gegen sozialistisches Eigentum« immerhin noch rund zwei Drittel betrug, war unter den Jugendlichen dieser Anteil nur halb so hoch. Zum einen war vermutlich die "Notwendigkeit" der Beschaffungskriminalität bei der Versorgung mit Gebrauchsgütern des alltäglichen Bedarfs bei ihnen geringer als bei den Erwachsenen, zum anderen scheint die Neigung, den sozialistischen Staat zu schädigen, niedriger ausgeprägt (Freiburg 1986, S. 230). Damit korrelierte, daß der Anteil der schon vorbestraften Jugendlichen beim »Diebstahl gegen sozialistisches Eigentum« signifIkant höher war, d.h. diese Teilgruppe der Jugendlichen hatte aufgrund einer Vorstrafe deutlich größere Ressentiments gegen den Staat und versuchte ihn dementsprechend auch zu häufIger schädigen.
Kriminalität in der DDR
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Jahr
Diagramm 10: Jugendliche Straftäter bei Diebstahl gegen das private Eigentum
Obgleich Jugendliche nur etwa ein Fünftel aller Straftäter ausmachten, waren beim Delikt »Rowdytum« 7 etwa die Hälfte aller Täter Minderjährige. Zu beachten ist auch, daß rund achtzig Prozent aller Straftäter bei diesem Delikt unter Alkoholeinfluß standen, d.h. zum Tatzeitpunkt "enthemmt" waren. Der häufige und übermäßige Alkoholgenuß setzte dabei schon bei Schulkindern der 6. und 7. Klasse ein (Mertens 1995). Die hohe Jugendkriminalität war quasi ein "Geburtsfehler" des sozialistischen Staates. In den fUnfziger und sechziger Jahren hatten insbesondere die sogenannten industriellen Aufbauzentren, wie etwa die NeugrUndungen Eisenhüttenstadt oder Schwedt, exorbitant hohe Kriminalitätsziffern unter ihrer überproportional jungen Arbeitsbevölkerung (Freiburg 1985, S.86), so daß der Bezirk Frankfurt/Oder jahrlang zweiten Platz hinter Ost-Berlin in der DDR-Kriminalitätsstatistik einnahm. Durch die Verschärfung des Jugendstrafrechts im Jahre 1974 und insbesondere durch das 3. Strafrechts7
Der § 215 bestimmte: .. (1) Wer sich an einer Gruppe beteiligt, die aus Mißachtung der öffentlichen Ordnung oder der Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens Gewailldtigkeiten, Drohungen oder grobe Belästigungen gegenüber Personen oder böswillige Beschddigungen von Sachen oder Einrichtungen begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fiinf Jahren oder mit Haftstrafe bestraft. ...
(3) Der Versuch ist strafbar. .. Der § 216 regelte die besonders schweren Fälle von Rowdytum, z.B. die Rädelsftlhrerschaft oder wenn der Betreffende bereits einschlägig vorbestraft war. 17'
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Lothar Mertens
änderungsgesetz von 1979 wurde versucht, dem Anstieg der Delikte auf juristischem Wege Einhalt zu gebieten. Tabelle 3: Jugendliche Straftäter bei »Rowdytum« und »Asoziales Verhalten« sowie der prozentuale Anteil vorbestrafter Jugendlicher an diesen Delikten Jahr
1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989
Rowdytum insgesamt davon vorbestraft in% abs. 991 o.A. o.A. 1.207 10,6 1.282 1.219 13,0 926 14,2 14,0 921 1.284 12,3 1.461 16,8 1.352 18,8 1.279 15,8 15,1 1.177 15,5 1.028 13,3 1.096 934 9,7 10,7 963 1.124 12,7 13,6 988 10,7 1.076
Asoziales Verhalten insgesamt davon vorbestraft in% abs. 233 o.A. 567 o.A. 456 10,0 400 13,0 362 13,5 261 20,7 283 17,3 422 23,0 436 33,3 218 22,9 149 28,2 85 12,9 44 22,7 21 9,5 15 26,7 17 23,5 33,3 9 11 9,1
Das Delikt der »Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten« (§ 249 StGb)8 wurde gleichfalls durch 3. Strafrechtsänderungsgesetz von 1979 verschärft. Obgleich die Anwendbarkeit und Auslegung, wie bei fast allen DDR-Gesetzen (vgl. dazu auch den Aufsatz von Wolfgang Welsch in diesem Band, S. 101 ff.) sehr dehnbar war, hatte wohl die Strafverschärfung eine tendenzielle Abnahme zur Folge.
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In § 249 StGB heißt es u.a.: ,,(J) Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Barger oder die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeintrdchtigt, indem er sich au.f Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, wird mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. "
Kriminalität in der DDR
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Tabelle 4: Jugendliche Straftäter bei ))ungesetzlicher Grenzübertritt« und »Öffentliche Herabwürdigung« sowie der prozentuale Anteil vorbestrafter Jugendlicher an diesen Delikten ungesetzlicher Grenzübertritt
1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989
Jugendliche insgesamt abs.
2.188 1.835 1.767 1.567 1.313 o.A.
1.523 1.119 1.075 819 597 804 640 550 605 496 441 416 394 314 276 380 327 o.A.
davon bereits vorbestraft in% o.A. o.A. o.A. o.A. o.A. o.A. o.A. o.A. o.A.
10,5 13,7 12,8 13,9 16,2 15,5 16,9 17,2 14,2 14,0 14,0 12,7 11,8 20,2 o.A.
Offentliehe Herabwürdigung (bis 1977 Staatsverleumdung) Jugendliche davon bereits insgesamt vorbestraft in% abs. 216 o.A. 310 o.A. 467 O.A. 295 o.A. 286 o.A. o.A. o.A. O.A. o.A. ö.A. o.A. 13,6 o.A.
145 114 121
228
199 202 151 98 129 86 112 106 92 100 191
14,4 12,2 5,8 11,0 14,1 16,3 11,3 14,3 8,5 9,3 8,9 8,5 6,5 13,0 5,2
Während unter den Jugendlichen zwischen 1972-89 das Delikt »Rowdytum« auf einem konstant hohen Niveau von rund tausend Fällen pro Jahr verharrte, sank die Zahl der Verurteilungen wegen »Asozialem Verhalten« deut· lieh. Während noch im Jahre 1980 436 Jugendliche deswegen angeklagt wurden, waren es in den Jahren 1988 und 1989 weniger als ein Dutzend. OffenSichtlich waren vom Generalstaatsanwalt andere Kriterien ftlr Anklage von Ju~ gendlichen vorgegeben worden. Denn § 215 (Rowdytum) und § 249 (Geflihrdung der öffentlichen Ordnung durch asöziales Verhalten) waren in ihren For-
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mulierungen so schwammig abgefaßt, daß sie den "staatlichen Organe" weitreichende Möglichkeiten zur Anklageerhebung boten. Tabelle 5: Jugendliche Straftäter bei »Rowdytum« und »Asoziales Verhalten« sowie der prozentuale Anteil vorbestrafter Jugendlicher an diesen Delikten Jahr
1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989
Rowdytum Jugendliche davon bereits insgesamt vorbestraft in% abs. 991 0.A. 1.207 0.A. 10,6 1.282 13,0 1.219 14,2 926 14,0 921 12,3 1.284 1.461 16,8 18,8 1.352 15,8 1.279 1.177 15,1 1.028 15,5 1.096 13,3 934 9,7 10,7 963 12,7 1.124 13,6 988 1.076 10,7
Asoziales Verhalten Jugendliche davon bereits insgesamt vorbestraft abs. in% 0.A. 233 567 o.A. 10,0 456 13,0 400 13,5 362 261 20,7 17,3 283 23,0 422 436 33,3 22,9 218 149 28,2 85 12,9 22,7 44 9,5 21 26,7 15 23,5 17 33,3 9 9,1 11
Seit dem Jahre 1981 hatte sich die Zahl der wegen »Asozialem Verhalten« verurteilten Jugendlichen überaus deutlich auf einen Bruchteil früherer Verurteilungen verringert, wobei der Anteil der bereits vorbestraften Jugendlichen mit einem Drittel aller Straftäter relativ hoch war. Dies ist ein Zeichen filr die mangelnde gesellschaftliche Integration dieser Tätergruppe in den "sozialistischen Alltag", etwa die frühzeitige Etikettierung als "asozial" in der Schule durch die Lehrer (Paersch 1971, S.76), so daß die Jugendlichen infolge fehlender familialer Bindungen und frühkindlicher Fehlentwicklungen (lrrolRödszus 1972, S. 68 f.) sowie mangelnder persönlicher Kontakte überdurchschnittlich häufig von der Volkspolizei aufgegriffen und dementsprechend auch überproportional oft verurteilt wurden. Zu vermuten ist auch, daß zahlreiche dieser Jugendlichen bereits frühzeitig in der Clique Gleichaltriger den Alkoholgenuß (vgl. Mertens 1995) kennengelemt hatten.
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