Neuverhandlungen von Kunst: Diskurse und Praktiken seit 1990 am Beispiel Berlin 9783839451441

Current renegotiations of the concept of art in analyses of the production, transformation and discourse of the Berlin a

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German Pages 148 Year 2020

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Inhalt
Vorwort
Wenn Berlin Hauptstadt wird
Kunst, Kultur und Stadt
Children of Berlin – eine Ausstellung und ihr (kultur-)politischer Kontext
Forget Fear
Positionen zur Kunst und Kultur in der Autonomen Bewegung der 1990er Jahre
Gegen-Ästhetisierung
Philosophische Narrative der Verschränkung
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Neuverhandlungen von Kunst: Diskurse und Praktiken seit 1990 am Beispiel Berlin
 9783839451441

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Birgit Eusterschulte, Susanne Hauser, Christian Krüger, Heimo Lattner, Annette Maechtel, Judith Siegmund, Ildikó Szántó Neuverhandlungen von Kunst

Edition Kulturwissenschaft  | Band 229

Birgit Eusterschulte, Kunsthistorikerin, arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin im Rahmen des Einstein-Forschungsvorhabens »Autonomie und Funktionalisierung« zu den Aushandlungsprozessen von künstlerischer Autonomie und engagierter Kunstpraxis. Weitere Forschungsschwerpunkte sind u.a. Materialität und Konzeptkunst, die Kritik des Social Turn sowie Theorie und Praxis des Ausstellens. Susanne Hauser (Prof. Dr. phil. habil.) ist seit 2005 Professorin für Kunst- und Kulturgeschichte im Studiengang Architektur an der Universität der Künste Berlin. Sie forscht und publiziert zur Geschichte der Stadt und der Landschaft sowie zur Geschichte und Theorie der Architektur. Zusammen mit Judith Siegmund hat sie das Projekt »Autonomie und Funktionalisierung« geleitet. Christian Krüger (Dr. phil.), geb. 1983, lebt und arbeitet als Philosoph und Drehbuchautor in Berlin. Er ist Mitglied im DFG-Netzwerk »Kulturen ästhetischen Widerstands«. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen u.a. Philosophie der Kunst, Medienphilosophie, Anthropologie, Philosophie der Sprache und der symbolischen Medien. Heimo Lattner ist Künstler und Mitbetreiber des Verlags Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt. Gemeinsam mit Annette Maechtel ist er Herausgeber von ibid. Szenische Lesungen aus Dokumenten der Berliner Stadt- und Kulturpolitik. Er lebt in Berlin. Annette Maechtel (Dr. phil.) war wissenschaftliche Mitarbeiterin im EinsteinForschungsvorhaben »Autonomie und Funktionalisierung« an der Universität der Künste Berlin am Institut für Geschichte und Theorie der Gestaltung. Sie forscht und kuratiert aus kulturpolitischer, kunst-/kulturwissenschaftlicher und raumtheoretischer Perspektive mit einem Forschungsinteresse an heterogenen Räumen und Konstellationen. Seit März 2020 ist sie Geschäftsführerin der neuen Gesellschaft für bildende Kunst e.V. in Berlin. Judith Siegmund (Prof. Dr. phil.) ist Professorin für Gegenwartsästhetik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Dort baut sie mit anderen zusammen den Campus Gegenwart auf. Sie kommt aus der Philosophie und der bildenden Kunst und war von 2011 bis 2018 Juniorprofessorin für Theorie der Gestaltung/Ästhetische Theorie sowie Gendertheorie an der Universität der Künste Berlin, wo sie das Forschungsprojekt »Autonomie und Funktionalisierung« mit installiert hat. Ildikó Szántó, Kunsthistorikerin, war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Einstein-Forschungsvorhaben »Autonomie und Funktionalisierung« an der Universität der Künste Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Kunst im sozialen Zusammenhang, Arbeitsdiskurse in der Kunst sowie Diskursivierung des Kunstfeldes seit 1990.

Birgit Eusterschulte, Susanne Hauser, Christian Krüger, Heimo Lattner, Annette Maechtel, Judith Siegmund, Ildikó Szántó

Neuverhandlungen von Kunst Diskurse und Praktiken seit 1990 am Beispiel Berlin

Diese Publikation und die ihr zugrundeliegenden Forschungen wurden von der Einstein Stiftung Berlin gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Heimo Lattner, Berlin Lektorat: Franziska Kreuzpaintner Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5144-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5144-1 https://doi.org/10.14361/9783839451441 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort ..................................................................................................... 7 Wenn Berlin Hauptstadt wird Skript für ein Feature Heimo Lattner............................................................................................... 13

Kunst, Kultur und Stadt Berlin nach 1989. Eine Skizze Susanne Hauser ........................................................................................... 35

Children of Berlin – eine Ausstellung und ihr (kultur-)politischer Kontext Annette Maechtel.......................................................................................... 55

Forget Fear Künstlerisches Handeln in der Kritik Birgit Eusterschulte .......................................................................................73

Positionen zur Kunst und Kultur in der Autonomen Bewegung der 1990er Jahre Ildikó Szántó ............................................................................................... 93

Gegen-Ästhetisierung Kritik eines ungedeckten Versprechens Christian Krüger ............................................................................................ 111

Philosophische Narrative der Verschränkung Judith Siegmund ......................................................................................... 129

Vorwort

Die sieben Perspektiven, die in dem vorliegenden Band vorgestellt werden, gehen zurück auf ein von der Einstein Stiftung Berlin gefördertes Forschungsprojekt mit dem Titel Autonomie und Funktionalisierung – eine ästhetisch-kulturhistorische Analyse der Kunstbegriffe in der bildenden Kunst in Berlin von den 1990er Jahren bis heute. Das Projekt nimmt neben der Thematisierung von Autonomie und Funktionalisierung die Entwicklung der bildenden und teilweise der performativen Künste Berlins in den Blick. Die Beiträge dieses Abschlussbandes behandeln exemplarisch Formen der Neuverhandlung dieses Verhältnisses und thematisieren Entwicklungen in den Künsten – ausgehend von der These, dass im angegebenen Zeitraum (von 1989 bis heute) neue Verständnisse von Autonomie und Funktionalisierung entstanden sind. Eine Ausgangsbeobachtung des Forschungsprojektes war, dass sich seit den 1990er Jahren – nicht allein in Berlin – künstlerische Praxen etabliert hatten, welche selbst neue Kontexte dieser, ihrer künstlerischen Arbeit mit generierten. Damit einher gingen ein Wandel des Selbstverständnisses der Akteur*innen der Kunst sowie eine Veränderung ihres Verständnisses des politischen und sozialen Feldes, in dem sie sich und ihre Arbeit situiert sahen. Zeitgleich wandelten sich vielerorts die produktionsästhetischen Bedingungen der Künste. Dass mit diesen Veränderungen auch das Verhältnis von Autonomie und Funktionalisierung der Kunst in den letzten Jahrzehnten zur Disposition stand und noch immer steht, lässt sich besonders anhand von vier Formen künstlerischer Praxis, die teils auch schon eine ältere Geschichte haben, sowie an ihren Diskursivierungen exemplarisch belegen: an den vielfältigen Formen politischer Künste, einem weit verbreiteten Verständnis von Kunst als gesellschaftlicher Arbeit, an partizipativen Künsten und an der Konzeptualisierung von Kunst als Form des Wissens sowie als Form künstlerischen Forschens. Aus dem Befund, dass es eine Lücke gibt zwischen den damit

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Neuverhandlungen von Kunst

angesprochenen Praktiken, den in ihnen zu untersuchenden Selbstverständnissen sowie ihren Rahmungen in der Theorie, ergibt sich auch das Spektrum der Beiträge zu diesem Band.1 Die skizzierten Entwicklungen werfen die Frage nach dem Verständnis einer Autonomie der Kunst im Verhältnis zur Rolle künstlerischen Handelns auf: Sie machen Kunst in neuer Weise zur kulturpolitisch relevanten Größe und fordern die philosophisch-ästhetische Theorie heraus, die sich einer sich verändernden künstlerischen Praxis stellt. Es wird offenbar, dass heute ein abstraktes Verständnis von Autonomie ebenso wenig überzeugt wie die Vorstellung, Kunst sei aufgegangen in ihren Funktionalisierungen. Ein herkömmliches Konzept der Autonomie der Kunst wird künstlerischen Praktiken der letzten 30 Jahre nicht mehr in jeder Hinsicht gerecht. Und doch könnte eine konsequente Verabschiedung von Autonomieästhetik auf eine Verabschiedung (von) der Kunst als eigener Sphäre hinauslaufen. Mit »Autonomie« und »Funktionalisierung« stehen daher nach wie vor zentrale und häufig konträr gedachte Begriffe der künstlerischen Produktion und Theoriebildung wie der philosophischen Ästhetik zur Debatte. Berlin bildet nun für den Zeitraum seit dem Mauerfall ein exemplarisches Untersuchungsfeld für diese Frage nach dem Stand von Autonomie und Funktionalisierung der Kunst. Bedingt durch den im Kalten Krieg ausgetragenen Wettstreit der politischen Systeme hatten sich hier verschiedene ästhetische und politische Diskurse und dementsprechend unterschiedliche Debatten zur Kunst in Ost und West herausgebildet. Sie wurden sämtlich durch die Entwicklung der Kunstszene Berlins nach 1990 vor besondere Herausforderungen gestellt. Seitdem dynamisierte und differenzierte sich das Kunstfeld auch durch den permanenten Zuzug von Künstler*innen, ebenso durch den von Sammler*innen, Kritiker*innen, Kurator*innen und Galerien. Zugleich etablierte sich Berlin bald nach der Wende als wesentlicher Standort und Faktor auf dem internationalen Kunstmarkt. Im Gegensatz zu dem bisherigen westdeutschen Kunstzentrum Köln bot Berlin in den 1990er Jahren verfügbare urbane Brachen, leerstehende Räume und undefinierte Zwischenräume, die ein wesentliches Moment in der Entwicklung künstlerischer Produktionen und Praktiken waren. Von prägender und exemplarischer Bedeutung waren überdies die sich langsam konturierende städtische Kulturpolitik, ihre Diskurs-

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Vgl. die ausführliche Aufzählung und Erläuterung in: Siegmund, Judith: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2019.

Vorwort

und Beteiligungspraktiken sowie die ökonomischen und politischen Konzepte, die die Künste, Kunstprojekte und Künstler*innen in unterschiedlichen Formen förderten und, unter anderem für die Repräsentation der deutschen Hauptstadt, in Dienst nahmen. Berlin war insofern ein konkreter und zugleich exemplarischer Ort, an dem sich ein physischer, diskursiver und sozialer Kulturraum aufspannte, in dem das Verhältnis von Autonomie und Funktionalisierung immer wieder neu ausgehandelt wurde, und das oft, ohne dass dieser Umstand zum Thema gemacht worden ist. Die in Berlin geführten kulturpolitischen Debatten zeigen zugleich die Probleme aller Akteur*innen auf, die entsprechenden Veränderungen theoretisch und strategisch zu fassen. Die bisherigen Dichotomien Autonomie und Funktionalisierung hatten sich verschoben, verwischt und stellenweise aufgelöst, die Machtverhältnisse waren komplexer geworden und sortierten das Verhältnis von Autonomie und Funktionalität neu.   Die einzelnen Beiträge dieses Bandes stammen aus künstlerischer Praxis und Kunstgeschichte, aus Urbanistik, Kulturpolitik und philosophischästhetischer Theorie. Sie bringen je eigene Konzepte von Autonomie und Funktionalisierung ins Spiel. Eine Herausforderung für die Autor*innen des Forschungsprojektes und damit auch dieses Bandes war es, Autonomie und Funktionalisierung sowohl im Rahmen der disziplinären Diskurse als auch in Interdependenz zu denken. Die Grundidee war und ist die einer gegenseitigen Informierung: Künstlerische, kunsthistorische, kulturpolitische, urbanistische und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse begegnen philosophisch-ästhetischer Theoriebildung im Sinne von Korrektiv, Befragung und Ergänzung – mit dem Ziel, dass sich das Verständnis der Entwicklungen der Berliner Kunstszenen seit den 1990er Jahren erweitert und, ausgehend von diesen Entwicklungen, Beiträge zu philosophischästhetischer Theoriebildung entstehen, die aktuellen Kunstentwicklungen etwas zu sagen haben. Mit diesem Band wird insofern auch ein Selbstverständigungsangebot an die Berliner Kunst- und Kulturschaffenden gerichtet: Es geht darum, Thesen zu einer Frage an die Künste, die aus der künstlerischen Praxis heraus entstanden ist, vermittels interdisziplinärer Theoriearbeit an diese Praxis wieder zurückzugeben. Der erste Beitrag von Heimo Lattner stellt in einer streng kuratierten Zitatfolge die Geschichte des Hauptstadtkulturfonds vor und markiert einzelne relevante Stationen seiner Entwicklung. Die Verhandlungen von Bund und Stadt mit dem Rat für die Künste von Berlin, hervorgegangen 1994 aus ei-

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Neuverhandlungen von Kunst

nem Plenum der Berliner Kulturinstitutionen, ist ein Prozess, an dem sich die kulturpolitischen Standpunkte und Maßnahmen, die den Rahmen künstlerischen Handelns in Berlin seit dem Mauerfall geprägt haben, plastisch veranschaulichen lassen. Grundlage für die hier präsentierte Bearbeitung sind vor allem die Protokolle der Debatten im Kulturausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses seit 1990. Sie zeigen das Insistieren des unabhängigen Rates auf Teilhabe an gesellschaftspolitischen Aushandlungsprozessen einerseits und das Risiko der Funktionalisierung der Kunst und der Künste andererseits, unter den Bedingungen einer sich ausfaltenden städtischen, insbesondere aber einer auf Repräsentation bedachten hauptstädtischen Kulturpolitik. Im folgenden Essay skizziert Susanne Hauser stadträumliche, politische und ökonomische Bedingungen, die für die Entwicklung und die Eigenarten der Berliner Kunst- und Kulturszenen nach 1989 prägend waren. Sie diskutiert unter Bezug auf einige legendäre und manche weniger bekannte Beispiele die Bedeutung temporärer Strukturen für die Kunst- und Clubkultur sowie deren Rolle in der fortgesetzten Imagination und Mythisierung Berlins als »leere« und erst noch zu besetzende Stadt. Heute ist deutlich, dass zahlreiche in den letzten Jahrzehnten für die Künste relevante Orte mit Veranstaltungsräumen und Ateliers Gentrifizierungsprozessen gewichen sind – wenn sie nicht ihrerseits zur Gentrifizierung ihrer Umgebung beigetragen haben. Abschließend geht es um zwei Entwicklungen, die aktuell die Stadt prägen: zum einen um das Erstarken der Kreativitätswirtschaft und ihrer zunehmenden Präsenz im Stadtbild und zum anderen um Kunstprojekte, die sich als politische Projekte dem Beuys’schen Begriff der »sozialen Plastik« annähern. Die Analyse von Ausstellungen ist ein probates Mittel, um den Stand künstlerischer Konzepte, ihre Beziehung zu kuratorischen Praxen und zu den Institutionen der Kunst auszuloten und in einer Momentaufnahme zu fangen. Annette Maechtel und Birgit Eusterschulte stellen zwei exemplarische Analysen vor. Annette Maechtel untersucht eine der prominentesten Ausstellungen zur Berliner Kunst der Nachwendezeit, die zehn Jahre nach dem Mauerfall in New York eröffnet wurde: Children of Berlin: Cultural Developments 1989–1999. Die Ausstellung führte das in den 1990er Jahren entwickelte und von da an propagierte Bild Berlins als Stadt der Kreativen vor. Gezeigt wurden Arbeiten von bildenden Künstler*innen, neue Architektur, Entwicklungen in Theater, Musik und Neuen Medien; die Ausstellung präsentierte (kultur-)politische Aktivitäten, Publikationen zur Kunst wie zur Werbung und führte in die Clubszene der Stadt ein. Annette Maechtel analysiert die Ausstellung vor dem

Vorwort

Hintergrund der Berliner Kunstförderung als Zeugnis eines Prozesses, in dem sich ein »hybrides Kunstfeld« ausgebildet habe, das Politik, Wirtschaft, Kunstund Kulturproduktionen in neuen Konstellationen verbindet, in denen Konzepte autonomer Kunst und Kunstproduktion zugunsten projektbezogener und ökonomischer Orientierungen in den Hintergrund treten. Im Rahmen einer kunsthistorischen Reflexion stellt Birgit Eusterschulte den kuratorischen Anspruch der 7. Berlin Biennale 2012 auf den Prüfstand. Diese Biennale wurde von dem polnischen Künstler Artur Žmijewski, der Kuratorin Joanna Warsza und dem russischen Kollektiv Voina kuratiert und trug den programmatischen Titel Forget Fear. Birgit Eusterschulte nähert sich diesem »offensichtlichsten politischen Anspruch« aller der mittlerweile zehn Berlin Biennalen mit Skepsis und reagiert mit einer exemplarischen Analyse: Sie zeigt anhand einer detaillierten Diskussion der in der Ausstellung präsentierten installativen Arbeit Blood Ties von Antanas Mockus, wie Mockus mittels der Installation den politischen und autonomiekritischen Anspruch der Kurator*innen unterläuft und zugleich unter Referenz auf die Autonomie des beigetragenen Werks kommentiert. Ildikó Szántó untersucht Debatten der autonomen Szene um Kunst, Kultur und Autonomie, die sich dadurch auszeichneten, dass in ihnen sowohl die Autonomie der Kunst als auch politische Autonomie verhandelt wurden. »Die Autonomen« hatten sich in den 1970er Jahren als heterogene soziale und politische Bewegung herausgebildet, die ein aufklärerischer Freiheitsbegriff und die Abgrenzung von einer in (kommunistischen) Parteien organisierten Linken einte. Der »Autonomie-Kongreß« 1995 in Berlin, der über 1.600 Teilnehmende anzog, war eine ihrer programmatisch entscheidenden Versammlungen, die in einer offenen Debattenstruktur die Ausfaltung zahlreicher Positionen erlaubte. Ildikó Szántó rekonstruiert diese Debatten mit besonderer Aufmerksamkeit für die Spannungen zwischen west- und ostdeutschen Gruppierungen anhand der Kongressdokumente. Sie identifiziert vier grundlegende Linien in der Konzeptualisierung von Autonomie – sie reichen vom politischen Aktionismus bis zu hedonistischen Haltungen. Zwei Beiträge zur ästhetischen Theorie stehen am Ende des Bandes. Der erste stammt von Christian Krüger, der zusammen mit Georg Bertram als Kooperationspartner an der Freien Universität Berlin am Teilprojekt des gemeinsamen Forschungsvorhabens über das Thema »Kunst als gesellschaftliche Arbeit. Eine philosophische Reflexion der funktionalen Einbettung von Kunst« geforscht hat. In seinem hier vorgelegten Beitrag konzentriert sich Christian Krüger auf die Kritik des ästhetischen Denkens von Christoph Men-

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Neuverhandlungen von Kunst

ke, in dessen Zentrum die Idee einer »deregulierenden Dynamik« steht. Krüger buchstabiert diese Kritik auf dem Weg eines Vergleichs aus, indem er den generellen ästhetischen Einsatz Menkes mit dem soziologischen Diskurs der Ästhetisierung konfrontiert. Dabei kommt er zu dem Ergebnis der Ähnlichkeit beider Diskurse, denen er einen Mangel an Bestimmbarkeit beziehungsweise an Denkmöglichkeiten von Selbstbestimmung attestiert. Judith Siegmund thematisiert in ihrem philosophischen Beitrag zu Verschränkungsnarrativen noch einmal zusammenfassend einen generellen Anspruch des Forschungsprojektes zu Autonomie und Funktionalisierung, auch im Rahmen der im Projekt angelegten Interdisziplinarität. Sie fragt, inwieweit Kunstphilosophie in der Lage ist, ihr eigenes Historischsein mit zu bedenken und zu formulieren. Dabei geht sie von der besonderen Situation im Nachwende-Berlin nach 1989 aus und ihrer Auswirkung auf die sich verändernden Kunstbegriffe. Sie fragt nach, wie sich solche Änderungen im Rahmen kunstphilosophischer Systematik niederschlagen können und zeigt, inwiefern philosophische Reflexion wiederum einen Beitrag dazu leisten kann, mit dem heutigen Abstand Umbrüche und Verschiebungen seit den 1990er Jahren besser zu verstehen. Siegmund erläutert dazu den philosophischen Begriff des künstlerischen Handelns, welches als ein ›anknüpfendes Handeln‹ in der Lage ist, die grundsätzliche Frage nach Autonomie und Funktionalisierung zu verändern. Neben der Einstein Stiftung, der wir im Namen aller Mitglieder des Forschungsprojektes für ihre finanzielle Unterstützung danken, bedanken wir uns auch bei den beteiligten Universitäten und Hochschulen, der Universität der Künste Berlin, der Freien Universität Berlin und der Weißensee Kunsthochschule Berlin, für die Ermöglichung unserer Arbeit. Wir hoffen, dass wir mit dem Abschlussband Ergebnisse und Überlegungen präsentieren, an die sich anknüpfen lässt und die zum Weiterdenken anregen.   Susanne Hauser und Judith Siegmund, März 2020

Wenn Berlin Hauptstadt wird Skript für ein Feature Heimo Lattner

Prolog Berlin 1994. »Die rigiden Kürzungen durch Stadt und Bund bedrohen das Berliner Kulturleben in sämtlichen Bereichen. Der vorgesehene Ausfall der Förderung durch Bundesmittel ist vom bedrängten Berliner Haushalt nicht mehr aufzufangen.«1 Bis 1990 wird der Kulturhaushalt Westberlins mit 230 Mio. DM jährlich aus Bundesmitteln bezuschusst.2 Mit der deutschen Wiedervereinigung zählt Berlin drei Opernhäuser, zwei Musicalbühnen, sechs Symphonieorchester, sieben Theater, drei Universitäten, zwei Staatsbibliotheken, acht Fachhochschulen, vier Kunsthochschulen und über 20 Museen.3 Von 1991 bis 1994 finanziert die Bundesregierung noch ein Förderprogramm zur »Substanzerhaltung« im Ostteil Berlins, das nach Ablauf nicht verlängert wird. Insgesamt verringert sich seit 1991 der Beitrag des Bundes zur Erhaltung der Kulturinstitutionen in der Stadt um rund 210 Mio. DM.4 Die Westberliner Kulturlandschaft muss als erstes drastische Veränderungen hinnehmen: die Streichung der Subventionen für die Freie Volksbühne im Jahr 1992, danach mit Beschluss des Berliner Senats die Schließung des Schillertheaters am 16. September 1993 und das Aus für die Staatliche Kunsthalle Ende desselben Jahres. Die Lage verlangt zwangsläufig eine Neuorientierung der Berliner Kulturpolitik, insbesondere im Hinblick auf die bevorstehenden Aufgaben einer

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Rat für die Künste in Berlin: Presseerklärung, 29.9.1994, Privatbestand des Autors. Vgl. Braun, Joachim: »Berlin ist eine Fehlkonstruktion«, in: DIE ZEIT vom 23.8.2001. Ebd. Vgl. Rat für die Künste in Berlin: Brief an die Abgeordneten des deutschen Bundestages, 17.2.1995, Privatbestand des Autors.

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Heimo Lattner

gesamtstaatlichen Repräsentation als Bundeshauptstadt. Welchen Kulturfeldern allerdings nationaler Repräsentationscharakter zuzumessen ist, wird fortan Gegenstand einer abzustimmenden Bewertung von Bund und Land sein. Unabhängig vom Ergebnis der Verhandlungen steht fest: Berlin muss die Regierung Kohl in Bonn um sehr viel Geld bitten. Und diese sieht sich akut mit den Folgen der Abwicklung der Treuhandanstalt konfrontiert, die mit 245 Mrd. DM5 Verlust zu Buche schlägt. Vor diesem Hintergrund beschließt die Abteilung Darstellende Kunst der Akademie der Künste bei ihrer Mitglieder-Sitzung am 29. Juni 1994 für den Herbst ein umfassendes Plenum der Berliner Kulturinstitutionen. Am 25. September 1994 tagt dieses unter dem Titel Notruf der Berliner Kultur. Unmittelbar im Anschluss daran gründet sich ein von Politik und Verwaltung unabhängiges Gremium, das als Rat für die Künste in Berlin – im Folgenden »der Rat« genannt – seine Arbeit aufnimmt. »Die Teilnehmer befürchten, dass in wenigen Jahren, wenn Berlin die Funktionen der Bundeshauptstadt übernimmt, die noch reiche und attraktive Kulturszene der Stadt zerstört sein wird«6 . Der Rat plädiert »weder für die Übernahme der Berliner Kultur in überwiegende Bundesregie, noch hält er eine pauschale Umlenkung von Steuermitteln in Richtung Berlin für sinnvoll.«7 Er möchte »vielmehr sehr deutlich zum Ausdruck bringen, daß er eine phantasielose Fortführung der Auseinandersetzung zwischen Bund und Land sowie zwischen Land und Berliner Bezirken über finanzielle bzw. administrative Zuständigkeiten für kontraproduktiv hält.«8 Der Rat »vertritt die Interessen von Kunst und Kultur gegenüber Politik und Öffentlichkeit. Er organisiert den sparten- und institutionenübergreifenden Sachverstand, sorgt für einen interdisziplinären kulturpolitischen Austausch und gibt in Gesprächen, Veröffentlichungen und Veranstaltungen Empfehlungen an die Öffentlichkeit und die politisch Verantwortlichen«9 . Der Rat hat »keine verfasste Struktur, weil er den kulturellen und kulturpolitischen Diskurs als einen lebendigen Prozess begreift, der die gesellschaftlichen Umbrüche reflektieren und begleiten soll. Die

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Vgl. Laabs, Dirk: Der deutsche Goldrausch. Die wahre Geschichte der Treuhand, München 2012. Rat für die Künste: Presseerklärung 29.9.1994. Rat für die Künste in Berlin: Hauptstadt und Kultur, 25.4.1995, Privatbestand des Autors. Ebd. Ebd.

Wenn Berlin Hauptstadt wird

Basis ist das gegenseitige Vertrauen der Mitglieder.«10 Zunächst trifft man sich wöchentlich, später zweiwöchentlich. An den regelmäßig stattfindenden Plenarsitzungen können, unter Ausschluss von Politik und Presse, Einrichtungen aller künstlerischen Disziplinen, Freie Gruppen und interessierte Personen teilnehmen.11 Die Arbeit wird von der Abteilung Darstellende Kunst an der Akademie der Künste koordiniert. Vor allem empfiehlt der Rat »den politisch wie verwalterisch Verantwortlichen, bei der Diskussion über Zukunftsmodelle allen Versuchungen zu entsagen, die Kulturpolitik zum Feld machtpolitischer Überlegungen zu machen. Denn kulturelle Arbeit ist ein Faktor, welcher stets nur der Demokratie im Ganzen nützt, als langfristige positive Wirkung also allen Seiten zugutekommt.«12

Episode 1: Salz im Menü der deutschen Einheit Bonn, Mittwoch, 15. Juni 1994. Der Berliner Kultursenator Ulrich Roloff-Momin (parteilos, nominiert von der SPD) ist angereist, um im Rahmen einer Plenarsitzung im Deutschen Bundestag über Maßnahmen des Bundes zur Förderung von Kunst und Kultur in Berlin zu sprechen: »Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich spreche zwar als Kultursenator Berlins, aber ich denke, dass dies, was ich zu schildern habe, sicher stellvertretend ist für die Nöte, die in den neuen Bundesländern insgesamt herrschen. Wo kulturelle Substanz verschwindet, zerreißt das Netz der zivilen Gesellschaft. Dieses gilt natürlich erst recht im Prozess der deutschen Einigung. Die Kultur stellt doch wohl so etwas wie das Salz im Menü der deutschen Einheit dar. Angesichts des dramatischen Rückschnitts der Kulturfördermittel des Bundes für die neuen Länder, und insbesondere für Berlin, kann dieses Salz allerdings nur noch in homöopathischen Dosen verabreicht werden. Wen wundert’s, wenn diese Einheit den Menschen dort mehr und mehr fad schmeckt und [sie] immer mehr nach den Köchen und den Rezepten von damals rufen? […] Was viele Menschen im Osten dieses Landes nicht verstehen können, ist, 10 11 12

Rat für die Künste in Berlin, 12/1995, Privatbestand des Autors. Vgl. Herrmann, Regine: »Wieviel Rat erträgt die Politik?«, 29.9.1999, unveröffentlichtes Manuskript, Privatbestand des Autors. Rat für die Künste: Hauptstadt und Kultur 25.4.1995.

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Abbildung 1

Notruf der Berliner Kultur, Archiv der Akademie der Künste Berlin.

Wenn Berlin Hauptstadt wird

warum der Bund die Unterstützung für die Berliner Kultureinrichtungen von Weltruf seit 1990 um über 700 Mio. DM – wenn man nämlich die Streichung der Bundeshilfe auf den Berliner Kulturhaushalt umrechnet und die Streichung der Übergangsfinanzierung der Ostberliner Kultureinrichtungen hinzurechnet – im Jahre 1995 auf Null herunterfährt. Eine derartig relative und absolute Kürzung ist ohnegleichen. Meine Damen und Herren, ich rede hier nicht vom Erhalt kultureller Fettlebe. In den letzten drei Jahren hat Berlin im Bereich der Kultur einen Betrag eingespart, der dem Kulturetat der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover entspricht. Berlin hat mehr als 1.500 Stellen abgebaut und mehrere Theater, darunter das größte deutschsprachige mit drei Spielstätten [Anm.: Schillertheater], sowie die Staatliche Kunsthalle schließen müssen, um die Existenz der verbliebenen Institutionen zu sichern. Dies waren furchtbare Entscheidungen, die man nur in größter Not fällt und die nicht beliebig fortgeführt werden können. Ich füge hinzu: Auf die Einwohnerzahl bezogen – dies ist die einzig sinnvolle Bezugsgröße in diesem Zusammenhang – hat Berlin weniger Opern, weniger Theater, weniger Geld pro Kopf der Einwohner für Kultur als vergleichbare westdeutsche Ballungszentren. Kultur ist ein unverzichtbares Lebensmittel gerade in einer Zeit des Werteverfalls und der Orientierungslosigkeit. Ich sage – lässt man sich denn in diesem Zusammenhang auf eine rein fiskalisch orientierte Argumentation ein – ein weiteres: Unabhängig von den politischen Verpflichtungen [...] kann man eine andere Gegenrechnung aufmachen: Nach einer Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung betrug der Bundesanteil an den Steuern, die von den Touristen kommen, die ausschließlich wegen der Kultur nach Berlin kommen, allein im Jahre 1991 schon 150 Mio. DM. [...] Zum Vergleich: Weniger als 300 Mio. DM will der Bund ab 1996 in vier Jahren für die Berliner Kultur ausgeben. Damit nicht genug: Der Anteil der Bundessteuern am Umsatzvolumen des von Berlin finanzierten Kulturetats in Höhe von 1,2 Mrd. DM bringt, grob geschätzt, noch einmal den gleichen Betrag. Deswegen: Wenn der Bund bereit ist, knapp 10 % an Berlin zurückzugeben, bewegt sich, so sage ich, die finanzielle Argumentation der Bundesregierung deutlich unterhalb der Schamgrenze. Wenn der Bundesfinanzminister bei seiner bisher gezeigten harten Linie bleibt, übernimmt er die Verantwortung dafür, dass die Kultur als das ererbte Tafelsilber dieser Hauptstadt zerschlagen ist, wenn die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland künftig davon essen will. Wenn der Staatssekretär im Bundesfinanzminis-

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terium damit argumentiert, dass die Bundesregierung, wenn sie denn erst in Berlin ist, für einzelne kulturelle Leistungen der Hauptstadt bezahlt, so setzt dies in der Tat voraus, dass dann die entsprechenden Leistungsträger überhaupt noch in der Stadt sind. [...] Nun kommt der Einwand: Aber wir müssen doch alle sparen. Die Haushaltslage ist zum Verzweifeln. – Das sagen Sie mir, und ich weiß es. Aber auch dieses ist eine Frage der Prioritäten. Oder sind es denn alles Lippenbekenntnisse, die seitens der Bundesregierung zur notwendigen Berücksichtigung der Kultur gerade im Einigungsprozess Deutschlands geäußert werden? [...] Im Schnittpunkt der Kulturlinien von Stockholm nach Wien und von Paris nach Moskau gelegen, zieht Berlin Künstlerinnen und Künstler an, die diesen kulturellen und geschichtlichen Ort suchen, um das Neue in dem unter europäischem Vorzeichen wiedervereinigten Deutschland mit hervorzubringen. Wer die Berliner Kultur zu einer rein kommunalen Angelegenheit macht und damit den Niedergang ihrer Institutionen besiegelt, übernimmt die Verantwortung für deren Zerstörung wie für das verheerende Bild des kulturellen Umgangs der Bundesrepublik mit ihrem kulturellen Erbe. Ich fordere den Bundeskanzler von dieser Stelle auf, seine Richtlinienkompetenz zu gebrauchen, um zu verhindern, dass, wenn Bundesregierung und Bundestag in Berlin einziehen werden, die Berliner Kultur nur noch Legende ist. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.«13 Seine Rede verhallt weitgehend kommentarlos. Allerdings stellt der parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Inneren, Eduard Lintner (CSU), neben der institutionellen Förderung auch die Förderung »zeitlich[er] und inhaltlich abgegrenzter Kulturvorhaben« in Aussicht, wenn dies »wegen ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung geboten scheint«. Und weiter: »Die Bundesregierung sei grundsätzlich bereit, die Aufnahme innovativer Projekte in die Bundesförderung zu prüfen.«14

Episode 2: Ein Hauptstadtfinanzierungsvertrag Am 30. Juni 1994 schließen Bund und Land Berlin »auf der Grundlage des Gesetzes zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 13 14

Deutscher Bundestag: Wortprotokoll, 12. Wahlperiode, 232. Sitzung, Bonn 15.6.1994, S. 20235f. Ebd., S. 20234.

Wenn Berlin Hauptstadt wird

20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands (Berlin-Bonn-Gesetz) vom 26. April 1994 und des Vertrages über die Zusammenarbeit der Bundesregierung und des Senats von Berlin zum Ausbau Berlins als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und zur Erfüllung seiner Funktion als Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung vom 25. August 1992«15 einen Hauptstadtfinanzierungsvertrag. Dessen Zweck ist, »das Land zur Erfüllung seiner Funktion als Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung sowie bei der Wahrnehmung der besonderen Aufgaben, die ihm der Bund vereinbarungsgemäß zur gesamtstaatlichen Repräsentation überträgt, zu unterstützen.«16 Darin festgeschrieben wird für den Zeitraum vom 1. Januar 1995 bis zum 31. Dezember 2004 ein Gesamtbetrag von 1,3 Mrd. DM, den der Bund Berlin für hauptstadtbedingte Investitionsvorhaben in Infrastrukturmaßnahmen zur Verfügung stellt; davon kommen hauptstadtbedingten kulturellen Einrichtungen und Veranstaltungen 240 Mio. DM zu.17 Der Vertrag sieht die Bildung eines Kuratoriums vor, das über die Verteilung der bereitgestellten Mittel entscheidet. Es setzt sich gleichermaßen aus Vertreter*innen des Bundes und Berlins zusammen.18

Episode 3: Ein Positionspapier Im April 1995 veröffentlicht der Rat unter dem Titel »Hauptstadt und Kultur« ein Positionspapier, in dem er seine Überlegungen zur Förderung der Hauptstadtkultur darstellt. Erstmalig Erwähnung findet hier ein »Fonds für Projekte und Veranstaltungen von gesamtstaatlicher und internationaler Bedeutung [Anm.: Hauptstadtkulturfonds]«19 . Grundlage hierfür ist die Analyse der Verträge, welche die Bundeshauptstadt Bonn beziehungsweise das Land Nordrhein-Westfalen in der Vergangenheit mit dem Bund abgeschlossen hatten. Die entsprechenden Unterlagen müssen zunächst erst vom Rat in Bonn gehoben werden, weil sie der Berliner Senatsverwaltung bis dato nicht vorliegen.20 15 16 17 18 19 20

Hauptstadtfinanzierungsvertrag, 30.6.1994, S. 1, siehe www.berlin.de/rbmskzl/politik/hauptstadtvertraege/#hauptstadt Ebd. §1 (1). Vgl. Ebd., §3 (2). Vgl. Ebd., §4 (1). Rat für die Künste: Hauptstadt und Kultur 25.4.1995, S. 4. Vgl. R. Herrmann: Wieviel Rat erträgt die Politik? 1999.

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»Der Kulturstaat Deutschland blickt auf eine jahrhundertealte Tradition dezentraler Kulturförderung zurück. Ausgangspunkt dafür waren als Folge deutscher Kleinstaaterei die zahlreichen Fürstentümer mit ihren vielseitigen Aktivitäten in den Residenzstädten. Als föderativer Bundesstaat hat die Bundesrepublik im Prinzip die Verantwortung für Kunst und Kultur den Ländern, Städten und Gemeinden sowie den freien Trägern gegeben. Dieses deutsche Modell hat zu einer auf der Welt einzigartigen Vielfalt des künstlerischen Lebens geführt. In gesamtstaatlicher Verantwortung hat die Bundesregierung seit Jahren gleichwohl die Mitträgerschaft für bedeutende Kultureinrichtungen übernommen. Das gilt sowohl für die deutliche Mitfinanzierung der Kulturinstitutionen der provisorischen Hauptstadt Bonn, dies galt ebenso für das Engagement des Bundes im Westteil der alten Hauptstadt Berlin. Dort übernahm der Bund Pflichten, die sich aus der Auflösung des bis 1945 größten deutschen Landes, Preußen, ergeben hatten (Stichwort: Stiftung Preußischer Kulturbesitz) und ermöglichten darüber hinaus auch durch pauschale Berlin-Hilfe wie durch direkte Beteiligung an Institutionen die Blüte einer Berliner Kulturlandschaft, die für das internationale Ansehen der Bundesrepublik Signalwirkung hatten. Ohne regelmäßige Berlin-Hilfe wären Einrichtungen wie die Deutsche Oper, die Schaubühne am Lehniner Platz, das Hebbel-Theater und der MartinGropius-Bau, ohne direkte Bundesbeteiligung wären die Berliner Festspiele, die Stiftung Deutscher Kinemathek und das Deutsche Historische Museum nicht denkbar gewesen. Auf welche Herausforderungen muss die Kulturpolitik für die Hauptstadt Antworten geben? Erstens: Eine Vielzahl von Institutionen in Berlin ist preußisches Erbe. Der Finanzkraft und den intellektuellen und kreativen Ressourcen jenes deutschen Teilstaats, der, zwei Drittel der Fläche Deutschlands umfassen[d], von Aachen bis Königsberg reichte, verdankt sich ganz wesentlich die Dichte der Berliner Kulturlandschaft. Ihre Pflege kann deshalb auch nicht der Stadt Berlin beziehungsweise dem künftigen Land Berlin-Brandenburg alleine überlassen bleiben. Vielmehr ist es sinnvoll, die gemeinsame Verantwortung der vereinigten Bundesrepublik für das preußische Erbe anzuerkennen, so wie es in den 1950er Jahren für die Sammlungen der preußischen Museen, Bibliotheken und Archive (Stiftung Preußischer Kulturbesitz) geschehen ist. Der ›Rat für die Künste in Berlin‹ meint mit dem Gedanken einer solchen Anerkennung nicht sogleich ein bestimmtes Finanzierungsmodell. Er ist vielmehr der Ansicht, dass allen Überlegungen

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und Finanzierungsmodellen der Hauptstadtkultur eine Klarheit über das historische Erbe vorangehen sollte. Zweitens: Der zentralistische Staat DDR hat sowohl preußisches Erbe fortgeführt als auch selbst starken kulturpolitischen Ehrgeiz im Sinne einer sozialistischen Nationalkultur entwickelt. Die Motive dafür mochten ideologischer Natur sein und auf einen Dienst der Künste für den Staat zielen. In der Realität haben die Kulturinstitutionen aber, oft im zähen Kampf mit Parteifunktionären, als Anknüpfungspunkt künstlerischer und geistiger Freiheit gewirkt und das Bewusstsein einer gemeinsamen deutschen Kulturnation aufrecht erhalten. Die kulturellen Institutionen, seit der Wiedervereinigung der unbeschränkten Kunstfreiheit nach § 5 GG teilhaftig, sind ebenfalls Bausteine für die zukünftige Hauptstadtkultur, für deren Existenz wir dankbar sein sollten, statt über ›zu viel Kultur‹ zu klagen. Drittens: In der Zeit der Spaltung der Stadt in zwei zum Teil konkurrierende, zum Teil unabhängig voneinander wachsende Teilstädte, hat sich in Westwie in Ostberlin ein unerhört reiches Muster ›kleiner‹ Kulturaktivitäten entwickelt. Teils in symbiotischer Nähe (vgl. Wirkung der Berliner Festspiele), teils in produktiver Konkurrenz und Spannung zu den etablierten ›großen‹ Institutionen (vgl. Kunstmilieu Prenzlauer Berg) ist dadurch im heute vereinigten Berlin kulturelle Praxis als eine Atmosphäre bildende Lebensform in einem Umfang etabliert, wie es für die Ausstrahlung der deutschen Hauptstadt höchst wünschenswert ist. Fazit: Die Chancen Berlins, aus den genannten Elementen eine hauptstädtische Kultur zu bilden, die internationalem Vergleich standhält, in- und ausländische Besucher und Mitwirkende anzieht, sind groß. Eine lebendige Hauptstadtkultur birgt auch nicht die Gefahr, eine Zentralisierung und Hegemonie auszubilden. Denn angesichts der überreichen Fülle der Kultur in den Bundesländern ergibt sich für die Hauptstadt vielmehr die Rolle des Treffpunkts, der Drehscheibe und des Fokus im fairen Wettbewerb der kulturell Tätigen. Dieser Fokus funktioniert aber nur, wenn er inmitten einer blühenden, nicht einer darbenden Kulturszene gedacht wird. Darum muss der Bund, als Stimme des Gesamtstaates, das Gedeihen der Berliner Institutionen, seien sie ›groß‹ oder ›klein‹, ebenso im Auge haben wie das Land Berlin. […] Denn kulturelle Arbeit ist ein Faktor, welcher stets nur der Demokratie nützt, als langfristige positive Wirkung also allen Seiten zugutekommt. […] Neben Finanzierungsmodellen von Einrichtungen, die gemeinsam durch

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das Land Berlin, das Land Brandenburg und die Bundesländer finanziert werden, sowie Förderung sonstiger kultureller Projekte und Veranstaltungen von gesamtstaatlicher und internationaler Bedeutung schlägt der ›Rat für die Künste in Berlin‹ die Einrichtung eines ›Hauptstadt-Kulturfonds‹ vor. Aus den im Haushaltsjahr 1995 außerplanmäßig vom Deutschen Bundestag bewilligten Mitteln zur Förderung der Hauptstadtkultur [Anm.: Hauptstadtfinanzierungsvertrag] sollte ein fest etablierter Fonds mit jährlich mindestens 50 Mio. DM entwickelt werden. Die Verfahren zur Antragstellung und zur Entscheidung über die zu fördernden Projekte sollen schnell und einfach sein, vor allem muss gesichert sein, dass der Entscheidung über die Vergabe [ein] kompetenter Ratschlag vorangeht. In idealer Weise könnte der Hauptstadt-Kulturfonds zu einem glaubwürdigen Instrument des Bundes und Berlins werden, das die Realisierung ehrgeiziger, auf nationales oder auch internationales Interesse zielender Projekte, seien sie langfristig vorzubereiten, seien sie auf schnelle Reaktion gegründet, ermöglich[en] würde. […]   Konsequenzen des neuen Modells für die Kulturpolitik des Landes Berlin. Ein Missverständnis in der bisherigen Diskussion der Probleme des Kulturstandorts Berlin war die Fehlinterpretation, die Berlin nur als eines der ›normalen‹ Bundesländer sah und deshalb das Finanzierungsproblem entweder als hausgemacht (Stichworte ›zu viel Kultur‹, ›wer braucht drei Opern‹ etc.) oder als vorübergehend deutete. Auf der Seite der Berliner Landespolitik könnte dies dem Fehlschluss Vorschub leisten, eine höhere Bundesförderung in der Zukunft sei das ideale Mittel, Budgetdefizite abzubauen, ansonsten aber alles beim Alten zu lassen. Dieses Alte ist aber ein Schlechtes. Die Finanzausstattung wie die Organisation der einstmals, jedenfalls im Westteil, vorbildlich, ja zum Teil legendären Kulturförderung sind jetzt schon absolut unzulänglich. Das Engagement des Bundes bei der Reihe der ›großen‹, repräsentativen Aufgaben darf deshalb nicht als erfolgreiches finanzpolitisches Manöver eines notleidenden Bundeslandes missbraucht werden. Vielmehr bedeutet ›mehr Bund für Berlin‹ die Pflicht, auf Berliner Seite mit ›mehr Berlin für die Hauptstadt‹ nachzuziehen. Erst wenn das Niveau der Breitenförderung (Ateliers, Stipendien, kommunale Ausstellungs- und Aufführungsorte, Off-Theater, Proberäume, Geschichtswerkstätten, Stadtteilmuseen…) dem Rang der vom Bund mitgeförderten Institutionen antwortet und damit einen Prozess fruchtbarer Konkurrenz, lebendiger Nachwuchsförderung in Gang setzt, blüht die Kultur in der

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deutschen Hauptstadt. Im Klartext: Die im Landeshaushalt frei werdenden Budgets müssen bei der Kultur bleiben. Nur so kann die Stadt mit ihren anderen Institutionen von internationalem Renommee und den vielen, auf Breitenwirkung abzielenden Aktivitäten ein wirkungsvolles Gegengewicht zu den weitgehend durch die Bundesförderung abgesicherten Einrichtungen aufrechterhalten. [...] Zum Beitrag des Landes Berlin zur Hauptstadt gehören auch Anstrengungen, die Stadt[,] deutlicher als das heute ganz im Gegensatz zu anderen europäischen Hauptstädten der Fall ist, als Kulturstadt sichtbar zu machen. […]   Rat für die Künste in Berlin, 25.4.1995«21

Episode 4: Konkrete Vorschläge Am 31. August 1995 präsentiert der Rat einen Entwurf für die gemeinsame Finanzierung der Institutionen von gesamtstaatlicher Bedeutung:22 Er sieht neben dem Hauptstadtkulturfonds eine dauerhafte Mitfinanzierung durch den Bund [Anm.: 70 Prozent des jährlichen Zuschusses des Landes] von acht Institutionen vor: Staatsoper, Deutsche Oper, Deutsches Theater, Martin-GropiusBau, Berliner Philharmonisches Orchester, Internationales Institut für Traditionelle Musik, Haus der Kulturen der Welt, Hebbel-Theater.23 Mit Ausnahme des Internationalen Instituts für Traditionelle Musik wird diese Liste in einem Ende des Jahres formulierten »Entwurf einer Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Land Berlin im Hinblick auf die Aufgaben der Stadt Berlin als Bundeshauptstadt« wiederkehren. Auch die Forderung nach einem neuen Hauptstadtvertrag wird 1996 Eingang in den zwischen CDU und SPD geschlossenen Koalitionsvertrag finden.

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Rat für die Künste: Hauptstadt und Kultur 25.4.1995. Rat für die Künste in Berlin: Vorschläge für die Kuratoriumssitzung Hauptstadt-Kultur Berlin/Bonn, 12.9.1995, Privatbestand des Autors. Vgl. Ebd., S. 2.

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Abbildung 2

Pressemitteilung des Rats für die Künste in Berlin, Archiv der Akademie der Künste Berlin.

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Episode 5: Ein Stück Luxus 1. und 2. Dezember 1995. In einer Klausursitzung verständigen sich die Mitglieder des Rats auf Eckpunkte für die Ausgestaltung des Hauptstadtkulturfonds: »[…] die Antragsteller sind in Form von Kooperationen oder anderweitig direkt an Berliner Institutionen/Träger gebunden, wirkliche Wettbewerbssituation ist nicht beabsichtigt; die Jury besteht aus je einem Vertreter von Bund und Land und 7 unabhängigen Persönlichkeiten aus dem europäischen Kulturleben; die Jury wird im Turnus von zwei Jahren vom Rat benannt und vom Kuratorium berufen [Anm.: eine gemeinsame Kommission von Bund und Land bestellt die Kurator*innen] – von einer öffentlichen Ausschreibung wird abgesehen; die Senatsabteilung für Kulturelle Einrichtungen fungiert einzig als ›Briefkasten‹; eine unabhängige Vorprüfung muss gesichert sein.«24 Am Ende des Protokolls findet sich eine Notiz: »Der Hauptstadtkulturfonds ist ein Stück Luxus – davon zu trennen ist die dringend notwendige Handlungsstrategie hinsichtlich der Erhaltung der Kultur in der Stadt, der dezentralen bezirklichen Kunst- und Kulturszenen.«25

Episode 6: Wahlen in Berlin Die Wahlbeteiligung liegt erstmals in der Berliner Wahlgeschichte seit 1946 unter 70 Prozent. Die CDU erleidet Verluste in Höhe von drei Prozentpunkten, bleibt aber mit 37,4 Prozent stärkste Kraft, die SPD verliert 6,8 Prozentpunkte und erreicht nur noch 23,6 Prozent der Stimmen.26 Die Koalition aus CDU und SPD wird unter dem bisherigen Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) fortgeführt. Der Kultursenator Ulrich Roloff-Momin wird von der SPD nicht mehr nominiert. Sein Nachfolger wird Peter Radunski (CDU).

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Rat für die Künste in Berlin: Kurzprotokoll der Klausur am 1./2.12.1995 (Fax Kulturamt Weissensee, 11.12.1995), Privatbestand des Autors, S. 3f. Ebd., S. 4. Vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg.

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Episode 7: Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD Im Januar 1996 veröffentlicht die neue Berliner Landesregierung ihre vereinbarten Zielsetzungen für die kommende Legislaturperiode. In der Rubrik »Kultur« ist zu lesen: »[…] Kultur ist ein Lebensnerv Berlins. Ihre Bedeutung für das Lebensgefühl der Bewohner ist ebenso unbestritten wie ihre Attraktivität für die Außenwirkung der Stadt Berlin. Die wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen von Hochkultur, dezentraler, bezirklicher Kultur, Szenekultur, sind nachgewiesen. Sie müssen künftig durch ein verbessertes kulturelles Marketing verstärkt werden. Auch in schwierigen Finanzzeiten soll die unmittelbare Förderung von Künstlern, freien Gruppen und Autoren sowie die spezifische Förderung von Künstlerinnen erhalten bleiben. Die kulturelle Lebendigkeit Berlins gehört zu den Zukunftsperspektiven der Stadt insgesamt. Berlin bekennt sich zu seiner Pflicht, den kulturellen Bestand zu erhalten und der Entwicklung von Kultur die benötigten Chancen zu geben. Der Rang Berlins als Metropole muss durch internationalen Austausch gesichert, die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte fortgesetzt werden. Hierzu gehört auch die regelmäßige Präsentation des Berliner Kulturangebotes auf einzurichtenden Kulturmessen. In die Substanz der Berliner Kultur hinein soll deshalb nicht gespart werden. Andererseits kann sich aber der kulturelle Sektor der Stadt den nun noch einmal verstärkt erforderlichen Sparanstrengungen nicht entziehen. […] Der Bund bleibt aufgefordert, sein finanzielles Engagement in den hauptstädtischen Kultureinrichtungen von nationaler Bedeutung zu verstärken und Mitverantwortung zu übernehmen. Die Koalitionspartner streben die Durchsetzung eines kulturellen Hauptstadtvertrages zu vergleichbaren Bedingungen wie mit Bonn in der Zeit als Bundeshauptstadt an, ebenso jährliche Zuwendungen des Bundes an den Berliner Haushalt in Höhe von bis zu 70 % einzelner Etats kultureller Institutionen und Aktivitäten von gesamtstaatlicher Bedeutung. […] Die künstlerische Autonomie der kulturellen Einrichtungen bleibt bewahrt. Sehr wohl sind jedoch gemeinsam mit den Institutionen, [sic] die Einsparungsbemühungen der Legislaturperiode fachkundig zu begleiten. Dazu bedarf es sowohl der Mitarbeit der Kulturverwaltung, wie unabhängiger Managementexperten.

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Berlin muß wieder zu einer Metropole der bildenden Kunst und des Kunsthandels werden. […] Da eine feste Kunsthalle angesichts der Haushaltslage des Landes zur Zeit nicht verwirklichbar ist, sollte ein Modell geprüft werden, das die Präsentation herausragender internationaler und Berliner zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen interimistisch an unterschiedlichen Orten vorsieht. Die Finanzierung muß über Sponsoren erfolgen. […]«27

Episode 8: Event vs. Innovation Im Herbst 1996 verhandelt der Rat mit Vertreter*innen der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur über von Bund und Land gemeinsam anzuerkennende Grundsätze für die aus dem Hauptstadtkulturfonds zu fördernden Projekte und Maßnahmen. In einem Dokument vom 25. Oktober 1996 formuliert der Rat seine Leitlinien: »Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin fördern mit dem Hauptstadt-Kulturfonds aktuelle kulturelle und künstlerische Projekte, die dazu beitragen, den überregionalen und internationalen künstlerischen und kulturellen Dialog aufzunehmen und dem Anspruch Berlins als Hauptstadt und europäische Metropole gerecht zu werden. Gefördert werden innovative Ansätze ebenso wie bedeutende Traditionen aufnehmende und weiterführende, sowohl kleine wie große Projekte, solche, die sich an ein großes Publikum wenden ebenso wie die, die den Austausch derjenigen fördern, die Neues und Ungewöhnliches entwickeln. Eingereicht werden können Konzepte für alle künstlerischen Sparten und spartenübergreifende, interdisziplinäre und themenorientierte Vorhaben. Entscheidend für die Auswahl sind inhaltliche und formale Qualität. Die Projekte sollen für Berlin erarbeitet und in Berlin präsentiert werden, müssen aber für ein Publikum und/oder eine Fachöffentlichkeit über Berlin hinaus relevant sein und/oder bisher in Berlin bestehende Defizite ausgleichen. Ausgeschlossen sind kommerziell realisierbare Vorhaben und solche, die sich im Rahmen der normalen Arbeit der kulturellen Institutionen 27

Vgl. Koalitionsvereinbarung zwischen der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) Landesverband Berlin und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) Landesverband Berlin; siehe Archiv des Abgeordnetenhauses zu Berlin, 328/.122.2/KOAL.

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Berlins mit deren Mitteln realisieren lassen. Es können Projekte vollständig bzw. komplementär gefördert werden. Antragsberechtigt sind natürliche und juristische Personen aus Kunst und Kultur des In- und Auslands, wobei internationale Kooperationspartnerschaften möglich und erwünscht sind. Die Realisierung des Projekts muß in Kooperation mit oder durch Berliner Träger erfolgen.«28

Episode 9: »Kreise-Papier« Am 9. September 1996 veröffentlicht die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur die Studie »Materialien zum öffentlich geförderten Kulturangebot Berlins«, kurz »Kreise-Papier« genannt. Vorausgegangen war eine Anordnung des Rats vom 28. Februar 1996, worin von Senator Radunski gefordert wurde, »einen Bericht zur Lage der Kultur und ein Kulturentwicklungskonzept für einen überschaubaren Zeitraum bis etwa 2000/2001«29 zu erarbeiten. Ziel war eine Bilanz, von der ausgehend ein langfristiges Kulturkonzept formuliert werden könne.30 Das Papier liefert eine Bestandsaufnahme der einzelnen Institutionen, einschließlich einer Beschreibung des vorhandenen oder erwarteten künstlerischen Profils. Auf dieser Grundlage soll ein neues Steuerungsmodell (Zuschussvergabemodell) erarbeitet werden. Dieses sieht vor, die finanzielle Förderung der Berliner Kultureinrichtungen künftig an deren Auftrag und Leistung auszurichten.31

Episode 10: Geld für die Kunst Am 18. November 1996 erfolgt die Begutachtung der eingegangenen Anträge auf Finanzierung aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds. Erste Mittelvergabe: fünf Mio. DM. 28

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Rat für die Künste Berlin: Grundsätze für die aus dem Hauptstadt-Kulturfonds zu fördernden Projekte und Maßnahmen (vorgeschlagene Fassung auf der Grundlage der Fassung von Herrn Abramowski), 10./25.10.1996, Privatbestand des Autors. Zitiert aus Herrmann, Regine: »Manuskript des Redebeitrags beim 9. Plenum der Berliner Kulturinstitutionen«, 29.9.1997, Privatbestand des Autors, S. 1. Vgl. Ebd. Vgl. Senatsverwaltung für Wissenschaft und Kultur, 13.8.1996, 1176bWissKult/.

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Abbildung 3

»Kreise-Papier«, Privatbestand des Autors.

Die 1997 geförderten Projekte umfassen: Die Stiftung Deutsche Kinemathek für die Aufarbeitung der Marlene-Dietrich-Kollektion, das Tempodrom für die Veranstaltung Heimatklänge, die Literaturwerkstatt Berlin für die Reihe Kreativ, den Mediopolis e.V. für das 11. Berliner Videofestival, das Hebbel-Theater für das Internationale Tanzfest 1997 sowie eine Aufstockung des Bundeszuschusses für das Haus der Kulturen der Welt.32

Episode 11: Foren Hauptstadtkultur Zwischen November 1996 und Juni 1997 organisiert der Rat, angestoßen vom »Kreise-Papier«, 15 öffentliche Veranstaltungen. Am 29. September 1997 berichtet die Koordinatorin des Rats, Regine Herrmann:

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Vgl. Inhaltsprotokoll, 7.4.1997, Archiv des Abgeordnetenhauses Berlin, Kult 13/21.

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»In fast allen Gesprächen wurde dem Senator vorgeworfen, es fehle dem ›Kreise-Papier‹ an kulturpolitischen Orientierungen und Sachkenntnis. Damit verband sich gleichzeitig oft sehr schwammig die Frage nach dem Kulturbegriff. Der Rat hatte in einer ersten Stellungnahme zum ›Kreise-Papier‹ vor Jahresfrist den betriebswirtschaftlichen Ansatz gescholten und den methodischen Ansatz des Papiers als Gefahr für die Autonomie der Kunst gewertet. […] Seitdem wird zwischen Verwaltung und Politik auf der einen und den kulturellen Einrichtungen der Stadt auf der anderen Seite um Geld, Besitzstande [sic] und Strukturen gestritten und gerungen. […] Auch die für Kultur Verantwortlichen neigen eher zu einer Blockadehaltung. ›Besitzstandwahren geht vor Denken‹ könnte man zugespitzt formulieren. [...] Es ist auffällig, daß sich die Argumentation für Kultur zunehmend in Begriffen wie Standortfaktor, Marktanteil, Attraktivität für Wirtschaft etc. erschöpft. [...] Das Prinzip ›Sparen geht vor Denken‹, [sic] bringt die meisten von Ihnen, die eigentlich für Inhalte und Sinnstiftung angetreten sind und auch dafür bezahlt werden, in die Rolle des Akquisiteurs, des Pseudobuchhalters, kurz eines haushalterischen Dilettanten, anstatt Kraft und Zeit und vor allem auch Fähigkeiten für Ideen oder einfach auch nur für Ihren künstlerischen Auftrag einbringen zu können. […] Diese Umwidmung geistiger Reserven schließt von vornherein ein Infragestellen politischer Entscheidungen über Inhalte aus. So ist es zum Beispiel unverantwortlich, Projektanträge in einem Verhältnis von einer Seite Konzeption zu sechs Seiten Zahlenwerk und Geldbeschaffungsnachweisen massenhaft produzieren zu lassen, um sie dann mit einer politischen Handbewegung ins Aus zu schicken. Das Paradox vollendet sich, wenn die Verwaltung über Inhalte entscheidet. […]«33

Episode 12: Eine Bundestagswahl Mit der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag am 27. September 1998 wird die bisherige Regierung, und mit ihr Helmut Kohl nach 16-jähriger Amtszeit als Bundeskanzler, abgewählt. Das Ergebnis führt zur ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene unter Gerhard Schröder als Bundeskanzler.

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R. Herrmann: Manuskript des Redebeitrags 29.9.1997.

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Episode 13: Ein Ansprechpartner Im Oktober 1998 wird mit Michael Naumann durch Bundeskanzler Schröder erstmalig in der Geschichte der föderalen Bundesrepublik ein Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien berufen. Berlin bekommt mit ihm einen direkten Verhandlungspartner.

Episode 14: Das kulturelle Schaufenster Am 10. Mai 1999 spricht Michael Naumann vor dem Ausschuss Wissenschaft, Forschung, Kulturangebot im Berliner Abgeordnetenhaus: »[…] Ich stehe nicht an, darauf hinzuweisen, dass ich es als Verdienst der neuen Regierung betrachte, dass der vorgesehene Bundeszuschuß in Höhe von 60 Millionen DM für die kulturpolitische Ausstattung Berlins erhöht worden ist auf 120 Millionen DM. […] Die zusätzlichen Mittel von 60 Millionen werden schwerpunktmäßig repräsentativen Institutionen der Stadt Berlin zugeführt werden. […] Das bedeutet nicht wilhelminische Glanzpolitik, sondern es bedeutet ganz einfach, dass die Lasten, die einer Hauptstadt qua ihrer Funktion zufallen – zu Freuden der meisten Berliner, nehme ich doch einmal an –, auch vom Bund getragen werden müssen, der sich hier auch gegenüber dem Ausland repräsentiert. Aber man muss eben auch sagen: Ob Berlin Hauptstadt ist oder nicht – es ist und bleibt die größte Stadt in Deutschland, es ist und bleibt – und wird es noch in zunehmendem Maße werden – buchstäblich das kulturelle Schaufenster dieses Landes. […]«34

Episode 15: Die Vollendung der Einheit Im Sommer 1999 erfolgt weitgehend die Verlegung des Parlaments- und des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin.

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Abgeordnetenhaus Berlin: Wortprotokoll Ausschuss Wissenschaft Forschung Kulturangebot, 13. Wahlperiode, 32. Sitzung, S. 21.

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Episode 16: Frisches Geld Am 16. September 1999 unterzeichnet der Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Peter Radunski, die Vereinbarung zwischen Bund und Land Berlin über die Zuweisung zusätzlicher Mittel für die Hauptstadtkulturförderung in Höhe von 60 Mio. DM. Darin wird auch dem Rat unzweifelhaft der Auftrag erteilt, die Mitglieder eines Beirats zu bestimmen, die die Kurator*innen bei der künstlerischen Bewertung der Projekte für den Hauptstadtkulturfonds unterstützen sollen.35

Episode 17: Ein Resümee Am 29. September 1999 zieht die Koordinatorin des Rats, Regine Herrmann, eine kritische Bilanz der zurückliegenden Arbeit: »[…] Was liegt nach viereinhalb Jahren an Ergebnissen vor? Zunächst[,] es gibt den Hauptstadtkulturfonds mit einer achtbaren wachsenden finanziellen Ausstattung, wenngleich nicht in der vom Rat ursprünglich angestrebten Höhe. Die Einrichtung des Fonds ist das Ergebnis unzähliger Gespräche und zum Teil harter Auseinandersetzungen des Rats mit den politisch Verantwortlichen und den Vertretern der Verwaltung. Unvermindert hält die Diskussion über Inhalte, Transparenz des Verfahrens, Entscheidungsstruktur und vor allem über den Verbleib der vom Bund zugewendeten Mittel im Berliner Landeshaushalt an. Hauptstädtisch, national und international abstrahlend, neu, innovativ und jung sind die Begriffe, um die gestritten wird. Ärgerlich daran ist, daß es dabei zuvorderst nicht um inhaltliche Positionen geht, sondern um politische Macht und Einflußnahme in einer Angelegenheit, die laut Verfassung eher Staatsferne fordert. Davor aber hatte der Rat deutlich gewarnt. […] Unintelligentes Sparen, d.h. Sparen ohne Konzept oder bloße Mangelverwaltung führt zu zweierlei: Die Geldgeber und die Besitzer von adäquat wichtigen Gütern erfahren eine immense Rollenaufwertung. In der Folge entstehen viele kleine Verwaltungen von Geld, Räumen/Spielstätten, Technik, manchmal auch nur von Informationen, zum Beispiel, wie jemand zu Geld kommen könnte. Umgekehrt proportional sinkt der Anteil produktiver Künstler, ihre Abhängigkeit wächst, die vielen großen und kleinen

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Vgl. R. Herrmann: Wieviel Rat erträgt die Politik? 1999.

Wenn Berlin Hauptstadt wird

Verwalter materieller Dinge schaffen Zuständigkeiten, die eine gegenläufige Entwicklung zur Freiheit der Kunstausübung provozieren. Im schlimmsten Fall verteilen sie ihre ›Güter‹ nach eigenen künstlerischen Qualitätskriterien. […] Die im Artikel 5 des Grundgesetzes verankerte Freiheit der Kunst droht in einem immer engmaschiger werdenden Netz von verwalterischen Maßnahmen und Abhängigkeiten, politischen Interessengefügen und – besonders in Berlin – fast familiären/dynastischen Strukturen zu ersticken. Es ist simpel, aber der Verweis auf das Grundgesetz allein bedeutet noch lange nicht, daß es auch so sein muß.«36                                                                             * * *

Epilog Im Jahr 1999 gibt die Akademie der Künste die Koordinationsarbeit des Rats an das Hebbel-Theater ab. 2005 löst sich der Rat auf. Aufgrund veränderter Produktions- und Organisationsformen vieler Einrichtungen stellt sich die Frage nach den künftigen Bedarfen und damit verbunden nach der Rolle des Rats neu. Auf diese hat das Plenum vorerst keine Antwort. Weitere Kultureinrichtungen gehen in die Zuständigkeit des Bundes über, darunter auch die Akademie der Künste, das Arsenal im Sony-Filmhaus und die Opernstiftung. Im Frühjahr 2006 nimmt der Rat seine Tätigkeit wieder auf und gibt sich eine Verfassung. Heute versteht sich der Rat, gemäß seiner 2008 vereinbarten Verfassung, als »die gewählte Interessenvertretung der in Berlin im Kulturbereich aktiv tätigen kulturellen und künstlerischen Institutionen, Gruppen, Formationen und der Kulturwirtschaft gegenüber Land, Kommune und Bund« und »befasst sich mit allen relevanten, das kulturelle Leben Berlins betreffenden Fragen, sucht die Öffentlichkeit und berät die Politik und andere gesellschaftliche Gruppen in Bund, Land und Kommune.«37 Der Hauptstadtkulturfonds fördert bis heute Einzelprojekte und Veranstaltungen, »die für die Bundeshauptstadt Berlin bedeutsam sind, nationale

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Ebd. Verfassung des Rats für die Künste, 22.4.2008, §1.

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und internationale Ausstrahlung haben bzw. besonders innovativ sind.«38 Mit der Unterzeichnung des Hauptstadtfinanzierungsvertrages am 8. Mai 2017 stehen dem Hauptstadtkulturfonds ab 2018 jährlich 15 Mio. EUR statt bislang 9,8 Mio. EUR aus Bundesmitteln zur Verfügung.39

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Zielsetzung des Hauptstadtkulturfonds (HKF), siehe www.hauptstadtkulturfonds.berlin.de Vgl. Hauptstadtfinanzierungsvertrag, 8.5.2017, § 5 Hauptstadtkulturfonds.

Kunst, Kultur und Stadt1 Berlin nach 1989. Eine Skizze Susanne Hauser

Berlin – Bedingungen nach 1989 Nach dem Einigungsvertrag vom 31. August 1990 wurde Berlin am 3. Oktober 1990 zur Hauptstadt Deutschlands. Mit dem Hauptstadtbeschluss vom 20. Juni 1991 entschied der Bundestag, dass Berlin auch Parlaments- und Regierungssitz werden sollte. Singulär war der Umstand, dass in einer Stadt zwei Gesellschaftssysteme mit zwei unterschiedlichen Geschichten zusammengefügt und marktwirtschaftlichen Strukturen unterworfen wurden. Im Westen der Stadt, der nach Kriegsende bis 1989 um Bewohner*innen bemüht sein musste, gaben technisch veraltete Industriebetriebe auf, denn das bundesrepublikanische Subventionssystem, das die Wirtschaft des ummauerten Westteils der Stadt konserviert und unterhalten hatte, wurde beendet.2 Die Hauptstadt der DDR wiederum verlor den Kontext des Wirtschaftssystems der DDR und weiter der sozialistischen Staaten, in den sie eingebunden war und von dem sie, auch als Ziel von Transfers, profitiert hatte. Bereits im Juni 1990 wurde die Währungsunion umgesetzt. Es mussten zahlreiche Betriebe schließen, die sich nun einer überwiegend von neoliberalen Grundsätzen ge-

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Für ihre erhellenden Kommentare zu diesem Text danke ich Annette Maechtel und Heimo Lattner; Martin Kaltwasser und Hans-Gerd Rudat verdanke ich hilfreiche Hinweise. Für alle eventuell verbliebenen Fehler und Missverständnisse zeichne ich allein verantwortlich. Im Westteil Berlins fallen Vergünstigungen unterschiedlicher Größenordnungen und symbolischer Bedeutung fort, neben subventionierten Arbeitsplätzen etwa auch die jedes Westberliner Gehalt ergänzende »Berlinzulage«.

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Susanne Hauser

leiteten Finanz- und Wirtschaftspolitik und einem Markt mit neuen Spielregeln ausgesetzt sahen.3 Die Stadt, seit 1945 in ihrer Verwaltung zwischen vier Großmächten aufgeteilt, seit 1949 in eine östliche und eine westliche Hälfte gespalten und 28 Jahre lang durch eine Mauer getrennt, erlebte nach der Wende eine radikale Deindustrialisierung. Zusätzlich fand ein umfangreicher Stellenabbau im öffentlichen beziehungsweise im Staatsdienst statt.4 Die Stadtsoziologen Hartmut Häußermann und Walter Siebel identifizierten 1991 die Herausforderungen für die geeinte Stadt: den Zusammenbruch der alten Industriestrukturen, schnell steigende Arbeitslosenzahlen, die mangelnde Ausbildung eines Dienstleistungssektors, Altlasten, Industrieabfälle aus dem Westen, die in die DDR exportiert und damit »entsorgt« worden waren, den zu erwartenden (Siedlungs-)Druck auf das Umland und die Gefahr von Segregations- und Vertreibungsprozessen finanziell schwächerer Interessen aus der Innenstadt in West wie Ost.5 Die folgende Entwicklung gab ihnen recht. Peter Strieder, von 1992 an Bezirksbürgermeister Kreuzbergs und ab 1996 Senator für Stadtentwicklung, Bauen, Wohnen, Verkehr und Umweltschutz, stellte zehn Jahre nach dem Mauerfall einen ernüchternden Effekt des Wandels fest: »Berlin wird zur normalen Stadt. Der Strukturbruch ist nicht nur eine Folge der Wiedervereinigung, sondern wird überlagert (und damit beschleunigt) durch die ökonomische Gesamtentwicklung. Berlin, das Politikum, wird entpolitisiert und dem täglichen Konkurrenzkampf der Städte ausgeliefert.«6 3

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Die Rolle der Treuhand darin ist umstritten; siehe unter anderem Seibel, Wolfgang: Verwaltete Illusionen. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolger 1990-2000, Frankfurt a.M. 2005; Böick, Marcus: Die Treuhand. Idee-Praxis-Erfahrung 1990-1994, Göttingen 2018; neuerdings Pötzl, Norbert F.: Der Treuhand-Komplex. Legenden. Fakten. Emotionen, Hamburg 2019. Von 1991 bis 2006 wurden ca. 250.000 Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe abgebaut; siehe Amt für Statistik Berlin-Brandenburg: Statistischer Bericht A VI 6 – hj 1/07. Erwerbstätigenrechnung – Erwerbstätige in Berlin, S. 9. Von 1991 bis 2018 nahm die Gesamtzahl der Stellen im öffentlichen Dienst von knapp 345.000 auf 203.000 ab. Siehe Beschäftige des Landes Berlin am 30.6. nach Beschäftigungsbereichen und Dienstverhältnissen 1991 bis 2018, https.://www.statistik-berlin-brandenburg.de/statistiken/langereihen/dateien/PersonalundVersorgungsempfänger.xlsx, abgerufen am 8.12.2019. Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter: »Berlin bleibt nicht Berlin«, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 19, Heft 3 (1991), S. 353-371. Strieder, Peter: »Kolloquium, Zukunftswerkstatt und Stadtdiskurs. 5 Sitzungen des Stadtforums«, in: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Umweltschutz und Techno-

Kunst, Kultur und Stadt

Den »Konkurrenzkampf der Städte« hatte der Geograf und Stadtforscher David Harvey schon in den 1980er Jahren charakterisiert: Mit der weitgehenden Verlagerung klassischer industrieller Produktionen in Niedriglohnländer seit den 1970er Jahren hatten viele industriell geprägte Städte und Regionen (West-)Europas und der USA ihre ökonomische Basis verloren, während andernorts bereits zukunftsträchtige wissensbasierte Produktionen und Dienstleistungsindustrien entstanden.7 Neue Produktions-, Informationswie Transporttechnologien und die Deregulierung des Kapitalverkehrs führten dazu, dass kurzfristige Entscheidungen über Standortverlagerungen von Unternehmen erleichtert wurden. Diese Entwicklungen setzten Städte wie Regionen unter einen permanenten Wettbewerbsdruck. Sie nahmen, so Harvey, seit den späten 1970er Jahren eine zunehmend »unternehmerische« Haltung ein und begannen, um Positionen in der globalen Arbeitsteilung, um Kontroll- und Steuerungsfunktionen, um öffentliche Gelder, Investitionen und touristischen Besuch zu konkurrieren.8 Diese Bedingungen prägten seit den 1980er Jahren Stadtpolitiken wie Planungskonzepte außerhalb der sozialistischen Staatenwelt: Städte strukturierten ihre Verwaltungen in Anlehnung an privatwirtschaftliche Managementkonzepte um, konzentrierten ihre Politik auf die Ansiedlung von hochtechnisierten Betrieben und Dienstleistungsunternehmen und versuchten, mit oft großräumigen Stadtumbauten Rahmenbedingungen für neue ökonomische Entwicklungen zu schaffen. Städte sahen sich überdies zu großen Events und teuren Bauvorhaben herausgefordert, die sie als attraktive Zentren von Konsum und Kultur ausweisen sollten.9 Es entstanden neue Schauseiten von Städten. Der teure Chic renovierter oder auch rekonstruierter geschichtsträchtiger

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logie, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit (Hg.): Stadtforum Berlin. Ein Dialog zwischen Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit, Berlin 1999, S. 4-6, S. 5. Siehe zum Beispiel die Analyse der Region Los Angeles in Soja, Edward W.: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London/New York 1989. Vgl. dazu Harvey, David: »From Managerialism to Entrepreneurialism. The Transformation in Urban Governance in Late Capitalism«, in: Geografiska Annaler 71 (1989), S. 3-17; Ders.: The Condition of Postmodernity, Oxford 1989; Renate Borst et al. (Hg.): Das neue Gesicht der Städte, Basel/Boston/Berlin 1990; Tim Hall/Phil Hubbard (Hg.): The Entrepreneurial City, Chichester 1998; Heeg, Susanne/Rosol, Marit: »Neoliberale Stadtpolitik im globalen Kontext. Ein Überblick«, in: PROKLA 149 (2007), S. 491-509. Siehe zum Beispiel Ryan, Bill: Making Capital from Culture. The Corporate Form of Capitalist Cultural Production, Berlin/New York 1992; Regina Bittner (Hg.): Die Stadt als Event. Zur Konstruktion urbaner Erlebnisräume, Frankfurt a.M./New York 2001.

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Innenstädte und die Annehmlichkeiten überarbeiteter, in diesem Zuge gentrifizierter Wohngebiete gehörten dazu. Bildproduktionen wurden wichtig, die Konservierung, die Herstellung von Stadtbildern mit historischer Patina sowie neue Stararchitekturen erfuhren hohe Wertschätzung.10   Das ist das internationale Umfeld, in dem sich die soeben erklärte Hauptstadt Deutschlands Anfang der 1990er Jahre ohne ihre zweifache, die westliche wie die östliche, Immunisierung gegen den Markt recht plötzlich wiederfand. Die angesprochenen Momente sind ablesbar in der weiteren Entwicklung: Das Land Berlin privatisierte Betriebe der Daseinsvorsorge, arbeitete an Schauseiten der Stadt, projektierte Forschungs- und Wissenschaftsstandorte und förderte – langsam – die Ausprägung eines repräsentativen kulturellen Profils, das sich zunächst vor allem auf die klassischen hochkulturellen Institutionen stützte, auf die Opern, die Museen und die großen Orchester. Dieweil entstand, ohne dass sich das auf Initiativen aus der Politik zurückführen ließe, eine eigenwillige Kultur der Projekte und der Künste, die Berlin seitdem und bis heute zu einem besonderen Ziel mit internationaler Strahlkraft für Künstler*innen, Kulturschaffende und die Kreativwirtschaft macht. Dieser Umstand, dem im Weiteren die Aufmerksamkeit dieses Textes gelten soll, ist in erheblichem Maße auf die lokal spezifischen Bedingungen unmittelbar nach der Wende zurückzuführen, unter anderem auf die Folgen des Niedergangs der Industrien und des Handels, auch auf die teils langwierigen Restitutionsverfahren.11 Besonders diese beiden Bedingungen führten dazu, dass für eine begrenzte Zeit Räume verfügbar waren, die, oft gegen wenig Geld oder auch durch Nutzungserlaubnisse, beispielsweise von Wohnungsverwaltungen, Platz und Handlungsmöglichkeiten für ideenstarke und finanzschwache Projekte boten. Zu dem produktiven Bedingungsgefüge gehörte aber auch die Armut in der Stadt, denn sie machte eine schnelle

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Siehe zum Beispiel Scott, Allen J.: The Cultural Economy of Cities. Essays on the geography of image-producing industries, London 2000; Zukin, Sharon: The cultures of cities, Cambridge (Mass.) 1995. Der Klärungsbedarf bezüglich der Rückgabe von Grundstücken war in Berlin besonders groß. Denn neben den in der DDR verstaatlichten Flächen war auch die Rückgabe von durch den nationalsozialistischen Staat enteignetes jüdisches Eigentum im Einigungsvertrag vereinbart. Siehe Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen, https:// www.gesetze-im-internet.de/vermg/BJNR211590990.html

Kunst, Kultur und Stadt

Verschließung der offenen Situationen unmöglich.12 Die dadurch gegebenen Chancen für künstlerische und kulturelle Projekte stießen zunächst auf das Misstrauen des Berliner Senats, das sich Ende der 1990er Jahre relativierte, um 2007/08 umzuschlagen: Von da an gingen diese Entwicklungen in die offizielle Leitlinie der Berliner Kulturpolitik ein. Wirtschaftliche Belebung durch Kultur, Kreativität und Kunst sowie Erneuerung des städtischen Raumes, verbunden mit dem »Image kulturellen Konsums«13 , trugen nun zum heute verfestigten Bild der deutschen Hauptstadt bei.

Die »leere« Stadt Fragt man heute Protagonist*innen aus Kunst- und Kulturprojekten der Nachwendezeit, fallen die Antworten geradezu verklärend aus und zeugen von robuster Freude an der nicht weiter hinterfragten Inbesitznahme von leerstehenden Bauten: »Berlin war ein Freiraum im metaphorischen, aber auch im ganz wörtlichen Sinn. Es gab leere Räume, unbesetzte Stellen, und es hatte etwas sehr Großzügiges, dass es so viele Leerstellen, Leerstände, leere Ladenlokale, Keller, Gebäude, Bunker, Supermärkte gab.«14 So erinnert Klaus Biesenbach, Kurator und Mitgründer der Kunst-Werke in einer ehemaligen Margarinefabrik in der Auguststraße, das Bild der Stadt. Ähnlich der Kommentar von Gerd Harry Lybke zur Nachbarschaft seiner Galerie Eigen + Art, ebenfalls in der Auguststraße gelegen: »Das Viertel ist wie ein weißes Blatt Papier[,] [...] auf dem Du die Signaturen noch eintragen kannst«.15 Diese Imagination ist als klassisches Gentrifizierungsnarrativ mindestens

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Die öffentliche Armut der Stadt war allerdings in der Folge, verstärkt nach dem Bankenskandal von 2001, auch Argument für umfangreiche Privatisierungen öffentlichen Vermögens. Zukin, Sharon: »Städte und die Ökonomie der Symbole«, in: Volker Kirchberg/Albrecht Göschel (Hg.), Kultur in der Stadt. Stadtsoziologische Analysen zur Kultur, Opladen 1998, S. 27-40, S. 31. Biesenbach, Klaus: »Kunstkatalysator Mitte/Kunst Catalyst Mitte«, in: Anke Fesel/Chris Keller (Hg.), Berlin Heart Beats. Stories from the Wild Years 1990-Present, Berlin 2017, S. 42-47, S. 46f. Zitiert nach Rada, Uwe: »Die Urbanisierung der Angst. Von einer kulturellen zur sozialen und räumlichen Technik der Verdrängung«, in: Kirchberg/Göschel, Kultur in der Stadt (1998), S. 101-119, S. 107.

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ambivalent. Denn die Stadt war nicht einfach leer.16 Uwe Rada zitiert seine Journalistenkollegin Ulrike Steglich mit dem Kommentar: »Wäre das Gebiet tatsächlich menschenleer gewesen [...][,] hätte der Mitbegründer der ›Galerienmeile‹ nicht mehr über das so begehrte wie mystifizierte Viertel schreiben können: schließlich verhinderten ausgerechnet die angeblich nicht existierenden Eingeborenen 1988 den geplanten Abriß des Viertels, in dem Biesenbach nun seine ›Kunst-Werke‹ betreibt.«17 Von einem denkbaren Ende der mythisch überhöhten Phase des verfügbaren Leerstandes, über deren Enden wahrscheinlich erhitzte Dispute zwischen unterschiedlichen Szenen in Berlin möglich sind, berichtet Sven Marquardt, Fotograf und prominenter Türsteher des international bekannten Clubs Berghain, 2017: Er habe mit einem Freund und der Kamera »Ende der 90er, Anfang der 2000er Jahre Ecken erkundet, die uns noch unberührt erschienen, oft in Rummelsburg oder Schöneweide. Wir waren wieder auf Abenteuersuche in einem Berlin, das langsam verschwand.«18 In dieser Perspektive erscheint Berlin wie ein weites, exotisches Gebiet, das erst noch zu erforschen war und Pionier*innen wie Beobachter*innen, mit und ohne Kamera, eine Chance auf Entdeckung und Kolonialisierung gab, eine Stadt, die wie zu eroberndes Neuland anmutete. Genau dieses offene Berlin wird international zum Anziehungspunkt für Kreative. Noch 2014 wird Peter Schneider in seinem pünktlich zum 25. Jahrestag des Mauerfalls für den internationalen Markt erschienenen Buch Berlin Now von der Offenheit dieser nicht schönen, nicht alten und dazu wirtschaftlich daniederliegenden Stadt schwärmen: »Cinderella Berlin [...] gives all newcomers the feeling that there is still room for them, that they can still make something of themselves here. It is this pecularity that makes Berlin the capital of creative people from around the world today.«19

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Zum Zusammenhang imaginierter »Leere« und Gentrifizierungsprozessen siehe Smith, Neil: »›Gentrifizierung‹, ›Frontier‹-Mentalität und die Umstrukturierung des städtischen Raumes« (1986), in: Susanne Hauser/Christa Kamleithner/Roland Meyer (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd.2: Die Logistik des sozialen Raumes, Bielefeld 2013, S. 340-353. Zitiert nach U. Rada: Die Urbanisierung der Angst 1998, S. 101-119, S. 107. Marquardt, Sven: »Der Augenblick/The Blink of an Eye«, in: Fesel/Keller, Berlin Heart Beats (2017), S. 94-107, S. 98f. Schneider, Peter: Berlin Now. The Rise of the City and the Fall of the Wall, London 2014, S. 8.

Kunst, Kultur und Stadt

Als »leer« präsentierten sich nicht nur Berliner Bauten und Straßen, sondern auch weite, unbebaute oder mit ruinösen Strukturen bedeckte Flächen. Sie verdankten sich vielen Gründen und Einflüssen. Dazu gehören bereits vor dem Mauerfall rechtlich ungeklärte Situationen in Ost wie West; Kriegszerstörungen, die in beiden Stadtteilen bis Ende der 1980er Jahre noch nicht beseitigt waren; Rückzüge industrieller Produktionen aus verschiedenen Phasen der Stadtgeschichte; auch die absichtsvolle Freihaltung von Flächen. Dies war beispielsweise im Botschaftsviertel im Bezirk Tiergarten der Fall, in dem Grundstücke, die teils schon vor dem Ersten Weltkrieg im Besitz ausländischer Staaten waren, seit Ende des Zweiten Weltkriegs auf ihre Wiederverwendung warteten. Der Abriss der Mauer und die Aufgabe des im Osten bis zu 50 Meter breiten Mauerstreifens fügten noch einmal erhebliche offene Flächen hinzu. 1995 beschreibt Peter Arlt, österreichischer Soziologe und Stadtforscher, typische Szenen: »Himmel und Horizont gehören zum Erlebnisbereich von Berlin. [...] An manchen Orten habe ich das Gefühl, an einem breiten Fluß zu sein: plötzlich das Ende der Bebauung, vor mir nichts, und am ›anderen Ufer‹ die Fortsetzung der Stadt – man bleibt stehen und schaut [...].«20 Immer noch finden sich Situationen im großen Stadtgebiet Berlins, die an diese Erfahrung erinnern, doch mit den Höhenflügen der Immobilien- und Bodenpreise werden sie seltener. Sehr weite und als leer empfundene Flächen in beiden Teilen der Stadt verdankten sich der Aufgabe von Reichsbahngeländen, die nach dem Krieg insgesamt der DDR zugesprochen worden waren und im Westen stillgelegt oder von den Westberliner*innen nur wenig und widerwillig genutzt wurden. Vor allem diese die Stadt wie Bänder durchziehenden Brachen sind charakteristisch für Berlin. Im Westen der Stadt begannen Liebhaber*innen ihrer Atmosphären und Beobachter*innen ihrer Natur bereits in den 1970er Jahren mit biologischen und stadtökologischen Untersuchungen, die sie auch auf Ostberlin ausdehnten.21 Aus der vom Westberliner Senat unterstützten Biotopklassifizierung und -kartierung entwickelten sich 1984 die Grundlagen 20 21

Arlt, Peter: Gewöhnliche Orte. Verortungen eines Zugewanderten, Dissertation, Univ. Linz 1997, überarb. 2. Fassung, Berlin/Linz 1999, S. 5f. Die Forschungen Herbert Sukopps, der an der TU Berlin Stadtökologie lehrte, haben diese Prozesse maßgeblich beeinflusst; siehe grundlegend Sukopp, Herbert: Stadtökologie, 2. Auflage, Stuttgart 1998. – Mit Geschichte, Ökologie und Ästhetik der Brachen Berlins setzt sich unter anderem auch dieser Film auseinander: Natura Urbana – Die Brachen von Berlin, 72 Min., 2017, Drehbuch/Regie: Matthew Gandy.

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für das Artenschutzprogramm Berlin, das nach der Wende für die ganze Stadt Bedeutung erlangte und eine neue Ästhetik urbaner Natur implizierte. Die damit gewonnene Perspektive auf urbane Freiräume steht für die produktive Verunklarung der Grenzen zwischen Kunst, Landschaftsgestaltung und Stadt, die nach der Etablierung eines rot-grünen Berliner Senats im Januar 1989 in Planungen realisiert werden konnte. Die Ästhetisierung der urbanen »Wildnis«22 wurde in Projekte übersetzt, wie etwa den Park am Nordbahnhof (*2002-2010, Fugmann Janotta Partner), den Park am Gleisdreieck (*2008-2013, Atelier Loidl)23 , in dem der Aufwuchs im alten Bahngelände deutlicher überformt wurde, und in den Natur-Park Südgelände (*1995-1999, ausgebaut unter Regie der Grün Berlin GmbH). Am Eingang steht, angebracht in Lettern aus Metall, ein programmatischer Satz: »Die Kunst ist der nächste Nachbar der Wildnis«.24 In diesen Parks haben einige Qualitäten der viel geschätzten Leere eine sie sichernde Form gefunden.

Temporäre Einsätze Neue räumliche Praktiken bildeten sich aus, die die Optionen der »leeren« Räume der Stadt auszuschöpfen suchten. Von einer der flüchtigsten, doch in Berlin vielfältig aufgeführten Praxis ist hier unbedingt zu sprechen, auch wenn sie nicht dort erfunden wurde und global, wo immer sich eine Technoszene etablieren konnte, verbreitet war: Ihre Orte entstanden in aufgelassenen Gebieten, in Kellern, Höfen, Fabriken, auf Wiesen oder in alten Kinos, oft ohne sich über die historischen Netze an die konkrete Lokalität, an die 22

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»Während das Thema ›Wildnis‹ in anderen Parkentwürfen, etwa von Gilles Clément, künstlerisch initiiert wird, so wurde im Fall des Gleisdreieck Parks mit bereits vorhandener wilder Stadtnatur [...] gearbeitet.« Die Darstellung folgt Kowarik, Ingo: »Gleisdreieck: Wie urbane Wildnis im neuen Park möglich wurde/Gleisdreieck: How urban wilderness became possible in the new park«, in: Andra Lichtenstein/Flavia Alice Mameli (Hg.), Gleisdreieck/Park Life in Berlin, Bielefeld 2015, S. 210-221, S. 215. Siehe Grosch, Leonhard/Petrow, Constanze A.: Parks entwerfen – Berlins Park am Gleisdreieck oder die Kunst, lebendige Orte zu schaffen, Berlin 2015. Der Satz wird Karl Ganser zugeschrieben, dem Leiter der Internationalen Bauausstellung Emscher Park im Ruhrgebiet (1989-1999). Auch das Grüne Band in Berlin, der Weg entlang des Mauerstreifens, der zwischen Berlin Hauptbahnhof und dem Naherholungsgebiet Berliner Barnim über 15 Kilometer gesichert ist, ist unter Bezug auf die »Stadtwildnis« gebaut. Siehe https://www.berlin.de/senuvk/umwelt/landschaftsplanung/gruenes_band/de/beschreibung/index.shtml, abgerufen am 18.10.2019.

Kunst, Kultur und Stadt

bestehende gebaute Umgebung anzuschließen. Anfang der 1990er Jahre erschienen diese Orte in irgendeiner verfügbaren Umgrenzung aus dem Licht von Projektoren, der Reflexion einiger Spiegel, aus Mischpulten und hinreichenden Beschallungsmöglichkeiten, betrieben über mitgebrachten oder abgezapften Strom und publik gemacht über Flyer, die an szenebekannten Stellen zu finden waren, bis sich Ende der 1990er Jahre die Kommunikation ins Internet verlagerte. Einige Raves haben das Herausnehmen des gelegentlich sogar einmaligen, ereignishaften Raumes aus dem alltäglichen Raum als besonderen Reiz zelebriert. Die gewählten Plätze waren exemplarische Orte einer Kultur und Ausdruck einer Praxis, die sich auf unklar besetzten Territorien niederließ, um sich dann wieder anderswo für eine weitere begrenzte Zeit festzusetzen. Dieses Bild der Stadt und auch ihres Umlandes als offenes Angebot wechselnder Plätze für den kurzfristig besetzbaren Ort gehört zu den prägenden und die Beweglichkeit feiernden Stadtimaginationen der 1990er Jahre und zog zeitweilig, zusätzlich animiert durch die Berliner Loveparades zwischen 1989 und 2006, zahlreiche Raver*innen nach Berlin.25 Die kurzfristige Besetzung und Inszenierung von Orten war aber eine nicht nur in der Musikszene verbreitete Option: Unzählige künstlerische Projekte, Ausstellungen, Installationen und Performances operierten in ähnlicher Weise. Selten verzahnten sich temporäre Aktivitäten mit Planungen des Landes, doch im Falle der Zwischennutzungen ist dies häufiger geschehen – konflikthaft oder auch im Sinne einer Kooperation.26 Besonders prominent war die Bespielung des schließlich ab 2006 nach vielen Widerständen und Diskussionen doch abgerissenen, symbolisch bedeutenden Palastes der Republik27 , für den der Verein Zwischenpalastnutzung e.V. und das Forschungsprojekt Urban Catalyst, das 2002 ein Konzept ausdrücklich für die Zwischennutzung, nicht

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Zu dieser und weiteren Raumpraktiken der 1990er Jahre siehe Hauser, Susanne: »Städte ohne Orte. Visionen der 1990er Jahre«, in: Peter Neitzke/Carl Steckeweh/Reinhard Wustlich (Hg.), CENTRUM. Jahrbuch Architektur und Stadt 1999/2000. Zürich 2000, S. 79-85. Einige für die Entwicklung Berlins relevante temporäre Projekte nennen Bodenschatz, Harald/Hofmann, Aljoscha: »Berlin auf der Suche nach einer städtebaulichen Zukunft«, in: Harald Bodenschatz et al. (Hg.), Stadtvisionen 1910/2010. Berlin Paris London Chicago. 100 Jahre Allgemeine Städtebauausstellung in Berlin, Berlin 2010, S. 242247, S. 243. Es handelte sich bei diesem Gebäude um das größte öffentliche Kulturhaus der DDR und den Sitz des Parlaments. An seiner Stelle sollte nach einem Bundestagsbeschluss von 2003 das Berliner Stadtschloss wiederaufgebaut werden.

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für den Erhalt des Palastes vorlegte, verantwortlich zeichneten.28 Theaterund Kunstprojekte stellten 2004 und 2005 dennoch den Abriss erneut öffentlichkeitswirksam zur Debatte. Der Senat Berlins gab schließlich 2007, unter anderem mit Verweis auf diesen Prozess, ein Buch heraus, das Zwischennutzungen als Methode der Stadtentwicklung vorstellte.29 Heute schreibt der Senat Berlins Zwischennutzungen für eigene Sanierungsprojekte aus: Das Prinzip ist ein selbstverständlicher Teil von Planungsverfahren und ihren Umsetzungen geworden.30 Eine zarte Kritik an der Stadtentwicklung mittels zeitweiliger Interventionen waren die Temporären Gärten. Sie bezogen Position zu den Masterplanungen des Berliner Senats. Das hochkontroverse Planwerk Innenstadt, das ab 1996 in der Senatsverwaltung unter dem Senatsbaudirektor Hans Stimmann erarbeitet, 1999 vom Berliner Senat beschlossen und erst 2011 überarbeitet wurde, schlug vor, den alten Innenstadtgrundriss mit Blockrandbebauung wieder herzustellen, vorzugsweise mit historisierenden Bauten, und ein Hochhausensemble am Alexanderplatz zu errichten, die Wohnhochhäuser auf der Fischerinsel durch verdichtete Bebauung der Ufer zu ergänzen und das Berliner Stadtschloss wieder aufzubauen. Es handelte sich um einen für Berlin und sein Stadtbild folgenreichen Masterplan auf Grundlage traditionalistischer, respektive preußisch klassizistischer Architektur- und Städtebauauffassungen.31 Von 1997 bis 2003 versahen nun Landschaftsarchitekt*innen, Künstler*innen und Architekt*innen als neuralgisch identifizierte Punkte der Berliner Innenstadt für jeweils ein langes Wochenende mit Miniaturgärten, den Temporären Gärten, die diese Orte und die Planungen für sie kommentierten.32

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Urban Catalyst war ein EU-finanziertes Forschungsprojekt, das Nutzungen von urbanen Brachen untersuchen sollte (2001-2003). Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen (Hg.): Urban Pioneers: Stadtentwicklung durch Zwischennutzung, Berlin 2007. https:www.berlin.de/sen/kulteu/altuelles/pressemitteilungen/2019/pressemitteilung.864062.php, abgerufen am 8.12.2019. Zu den elaboriertesten Kritiken des Planwerks Innenstadt gehören die Texte zum Berliner Architekturstreit in Sewing, Werner: Bildregie. Architektur zwischen Retrodesign und Eventkultur (= Bauhaus Fundamente 126), Basel 2003; siehe auch Gert Kähler (Hg.): Einfach schwierig. Eine deutsche Architekturdebatte. Ausgewählte Beiträge 1993-95 (= Bauwelt Fundamente 104), Braunschweig/Wiesbaden 1995. http://www.temporaeregaerten.de/index.htm, abgerufen am 25.10.2019. Das Format wurde bis 2008 nach Aachen, Le Havre und Tartu exportiert.

Kunst, Kultur und Stadt

Etablierungen Die Zelebrierung oder gar die Feier des Flüchtigen, Vorläufigen oder Temporären gehörte nicht in allen künstlerischen und kulturellen Projekten zum Programm. Das gilt beispielsweise für zahlreiche Clubs aus der vielfältig mit Kunstprojekten verbundenen Party- und Musikszene der Stadt. Es gab und gibt Clubs mit festen Adressen für Zeiträume von Wochen, Monaten, auch Jahren, Umzüge von bekannten Clubs nach jahrelanger Ortstreue in andere Räume, in den letzten Jahren auch Schließungen nach über zwanzigjähriger Anwesenheit an einer Stelle und »letzte Insider-Tipps für den ehemaligen Partybezirk Prenzlauer Berg«, die beispielsweise den immer noch überlebenden Duncker Club empfehlen.33 Legenden ranken sich unter anderem um den 1991 gegründeten Tresor, heute Köpenickerstraße, um das bis zu seiner Schließung 2010 sieben Mal umgezogene WMF, gegründet 1991 im Vorkriegssitz der gleichnamigen Firma in der Leipziger Straße, und das Panasonic in der Chausseestraße. Ebenso legendär sind der Bunker in der Reinhardstraße, heute Sitz einer Privatsammlung zeitgenössischer Kunst, und das Fischlabor, einer der ersten Treffpunkte der sich entwickelnden Technoszene Ende der 1980er Jahre, das Ostgut, das von 1998 bis 2003 existierte, und, eine noch spätere Gründung, das Berghain, das im Jahr 2019 seit 15 Jahren am selben Ort besteht.34 Und nicht nur Clubs suchten feste Lokale für ihre Aktivitäten. Einer der in Reiseführern schon Anfang der 1990er Jahre identifizierten Standorte von Galerien und Ausstellungsräumen war das Tacheles, Rest eines Kaufhauses und Teil der ab 1980 dem Abriss überantworteten Friedrichstraßenpassage von 1907/08. Das Grundstück liegt im Stadtteil Mitte, in fußläufiger Entfernung vom Bahnhof Friedrichstraße, der Museumsinsel und dem Hackeschen Markt, am Eingang der Auguststraße. Es wurde von Ostberliner Künstler*innen im Frühjahr 1990 kurz vor der auch nach der Maueröffnung weiterhin geplanten Sprengung besetzt. Unter Denkmalschutz gestellt konnte es vorerst erhalten werden. In Verhandlungen mit dem Berliner Senat, und ab 1998 mit einem neuen Besitzer, wurde eine befristete weitere Nutzung durch den

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Siehe theclubmap.com/indie-rock-clubs/duncker-club/, abgerufen am 25.10.2019. Es ist unmöglich, eine Auswahl unter den Clubs zu treffen, die auf allgemeine Zustimmung rechnen kann. Diese Auswahl orientiert sich im Allgemeinen am Kriterium der Heterogenität und im Einzelnen an Prominenz und konkreten Zurufen der Kritiker*innen dieses Textes.

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Verein Tacheles e.V. möglich. Eine Studie zum Tourismus in der Nachbarschaft zeigte 2007, dass hier, in der Spandauer Vorstadt, ein Nukleus der Entwicklung der kommerziellen Galerieszene lag. Bis zum Jahr 2000 waren 72 Galerien in der Gegend etabliert, 2007 gab es dort 98 Galerien und damit, zumindest zeitweise, die wohl höchste Konzentration in Europa.35 Gründungen von Galerien fanden bald nach der Wende in Mitte und bevorzugt um die bereits erwähnte Auguststraße statt. Die Galerie Wohnmaschine war dort schon zu DDR-Zeiten in einer von kleinen Betrieben geprägten Umgebung entstanden. Kurz nach der Wende folgten unter anderem Eigen + Art und die Kunst-Werke mit einem Programm, dessen Kern darin bestehe, dass »die Künstler, die in der Stadt leben, aber auch die internationale Künstlerszene, einen Ort haben, wo man Neues artikulieren kann und wo es um die Künstler und die Kunst geht. In gewisser Weise also ein Freiraum und ein Raum für Experimente.«36 In den Kunst-Werken nahm 1996 die seitdem alle zwei Jahre stattfindende Berlin Biennale ihren Anfang, um sich 1998 auf das Postfuhramt und später den Martin-Gropius-Bau auszudehnen; dass es variable Standorte in der Stadt gibt, gehört bis heute zum Programm. Nicht zuletzt die Attraktivität der Biennalen, die seit 2004 von der Kulturstiftung des Bundes gefördert werden, hat dazu beigetragen, dass sich im zuerst von Künstler*innen erkundeten Gebiet bald die kommerziellen Galerien vermehrten, die nicht immer einen Bezug zur lokalen Kunstszene pflegten und viele der von ihnen vertretenen Künstler*innen neu in die Stadt einführten. Neben den Galeriestandorten in Mitte waren vor allem alte Industriegelände und -gebäude für Kunst- und Kulturprojekte von Interesse. 2002 beispielsweise fand die einzige Ausstellung zum Projekt der Temporären Gärten in der damals als Ausstellungsraum, als Club und Veranstaltungsort einschlägig bekannten Backfabrik in Prenzlauer Berg statt, die bis zur Wende ganz (Ost-) Berlin mit Brot und Berliner Schrippen versorgt hatte und bis 1997 in der Tat noch eine Backfabrik mit angeschlossener Speiseeisproduktion war.37 Dieser weitläufige Bau zog ebenso wie stillgelegte Brauereigelände, gleichermaßen in Ost- wie Westberlin, unterschiedlichste Projekte und Akteur*innen an: vom 35

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Siehe Firnkes, Sina/Hillmer, Michaela: »Artificial_Mitte. Where actually was Mitte before Tacheles?«, in: Jana Richter (Hg.), The Tourist City Berlin. Tourism and Architecture, Salenstein 2010, S. 302-318, S. 310. K. Biesenbach: Kunstkatalysator Mitte 2017, S. 42-47, S. 47. http://www.temporaeregaerten.de/30_2002.htm, abgerufen am 25.10.2019. Zur heutigen Situation der Backfabrik siehe www.backfabrik.de, abgerufen am 25.10.2019; ein prominentes Unternehmen darin ist das erste Dunkelrestaurant Berlins, Nocti Vagus.

Kunst, Kultur und Stadt

Fahrradladen bis zur Kunstausstellung, von Büros politischer Gruppierungen bis zum Biergarten, von Theatern bis zu Museen. Das gilt etwa für die heutige Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg, die mehrfache Häutungen hinter sich hat, sich immer noch in ihrer Nutzungsstruktur verändert und jene Mischung vorstellt, die symbolisch an die subversive Tradition alternativer Projekte anschließt, doch unter kommerziellen Gesichtspunkten gemanagt wird.38 In die Reihe der großen Brauereien mit Optionen für kulturelle Nutzungen gehörte zeitweise auch die weitläufige Schultheissbrauerei in Berlin-Kreuzberg, deren Gelände aber 2008 als Neubaugebiet für Wohnungen an den BayWa Konzern ging. Anders liegt der Fall der Mälzerei am Südgelände in Berlin-Schöneberg, ebenfalls in einem der westlichen Bezirke der Stadt, die 1996 stillgelegt wurde und langsam zu einem Atelier-, Büro- und Veranstaltungsstandort umgebaut wird – und einer weiteren Nutzung als »Eventlocation« entgegensieht.

Entwicklungen Seit dem Zuzug von Künstler*innen, Student*innen und Sammler*innen auf stillgelegten Industrie- und Lagergeländen Ost- und auch Westberlins nach der Wende, der begleitet wurde von Bar- und Restaurantgründungen wie von der Ansiedlung kleiner Betriebe und Handwerke, darunter einigen, die den – unterschiedlichen – Alternativ- und Projektekulturen Ost- wie Westberlins entstammten, haben die Grundstücke und die Aktivitäten auf ihnen zahlreiche Wandlungen erfahren. Im günstigsten Falle für Nutzer*innen und Projekte ging es im weiteren Verlauf der Entwicklung auf einem spezifischen Gelände nicht einfach nur um den Verkauf an Projektentwickler*innen und Investor*innen mit Abriss- und/oder Gewerbe- und Wohnungsbauabsichten, sondern um die Gestaltung unterschiedlicher Eigentums- und Finanzierungsmodelle, die auch wenig finanzstarken Akteur*innen längere Perspektiven boten.39 38 39

Die Kulturbrauerei gehört zu den von der Treuhand privatisierten Gewerbeimmobilien und ist derzeit im Besitz der TLG Immobilien AG. Siehe Jesko Fezer/Mathias Heyden (Hg.): Hier entsteht. Strategien partizipativer Architektur und räumlicher Aneignung, Berlin 2004; eine gründliche Bestandsaufnahme, die Raumpraktiken betreffend, allerdings mit Stand um 2005, ist: Lange, Bastian: Die Räume der Kreativszenen – Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin, Bielefeld 2007; zur Bedeutung stadträumlicher Bedingungen für die weitere Entwicklung siehe Lange, Bastian/Schüssler, Elke: »Unpacking the Middleground of Creative Cities: Spaciotem-

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Behauptet haben sich vor allem öffentlich oder durch Stiftungen konsequent unterstützte Kunst- und Kulturaktivitäten sowie finanzstarke private Institutionen. Ausnahmefälle sind durch Erbpachtverträge geschützte Raumnutzungen und Finanzierungen durch langfristiges Sponsoring. Die Räume der Kunst-Werke in der Auguststraße beispielsweise, eine der zentralen und heute international renommierten Gründungen im dortigen Gebiet, konnten mit Mitteln des Denkmalschutzes ausgebaut werden. Die Stiftung Deutsche Klassenlotterie erwarb Mitte der 1990er Jahre die Häuser mit der Absicht, sie für eine kulturelle Nutzung zu sichern.40 Statt einer Verdrängung durch Gentrifizierungsprozesse wurde hier eine Institution stabilisiert, die ihrerseits eine symbolische Aufwertung der Umgebung zur Folge hatte. Der Pfefferberg, einer der in den 1990er Jahren für schnell wechselnde Bar-, Biergarten-, Clubund Restaurantgründungen, für Konzerte sowie für studentische Ausstellungen und Veranstaltungen begehrtesten Orte, war für zehn Jahre in öffentlichem Besitz und ging dann an die Stiftung Pfefferwerk als neuen gemeinwohlorientierten Eigentümer über. Langfristig konnte sich dort neben Bildungseinrichtungen und gastronomischen Betrieben unter anderem das Aedes Architekturforum etablieren. Die Tchoban Foundation errichtete auf dem Gelände einen anspruchsvollen Bau für die private und nun der Öffentlichkeit zugängliche Sammlung historischer Architekturzeichnungen. Finanziell schwächere Akteur*innen haben besonders im letzten Jahrzehnt, im neuen Bauboom Berlins, der den Druck auf innenstadtnahe Flächen noch einmal erhöht hat, dort gelegene Räume verlassen müssen. Bekannte Veranstaltungsorte, für die sich auch der Denkmalschutz engagierte, waren mit der Hoffnung auf längere Nutzung durch Aktive der Musik- und Kulturszene etabliert worden. Ein Beispiel ist das 1902 eröffnete und vom Stadtbaurat Ludwig Hoffmann entworfene Stadtbad Oderbergerstraße in Prenzlauer Berg, das 1986 geschlossen wurde und lange Jahre nach der Wende zu vielfältigen Veranstaltungen einlud. Für die Sanierung des Bades und eine vielfältige Nutzung engagierten sich unter anderem eine Bürgerinitiative und eine gemeinnützige Genossenschaft, bis solvente private Investoren den Zuschlag des Berliner Senats bekamen. Nach wendungsreicher Geschichte

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poral Dynamics in the Configuration of the Berlin Design Field«, in: Regional Studies, 12 jan 2018, S. 1548-1558, DO 10.1080/0034304.2017.1413239 Siehe dazu die Kurzdarstellung auf der Webseite kw-berlin.de, abgerufen am 18.11.2019.

Kunst, Kultur und Stadt

und denkmalpreiswürdiger Restaurierung ist das Stadtbad Oderbergerstraße heute ein privat geführtes (Hotel-)Bad. – Ein weiteres Beispiel ist das stillgelegte Umspannwerk am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg: Es handelt sich um eines der Bauwerke, die der Architekt Hans Heinrich Müller ab 1924 für die Berliner Elektrizitätswerk Aktiengesellschaft realisiert hat. 1997 wurde der Bau zuerst als Ausstellungsraum für experimentelle Kunst und dann als Filmkulisse entdeckt und wandelte sich bald zur Eventlocation für große Unternehmen. Schließlich mietete Google ihn von einer Investmentfirma als Teil eines geplanten »Google Campus« für Startups, der 2017 eröffnen sollte. Nach heftigem Protest der Nachbarschaft sind die Flächen nun für die Nutzung als Coworking Spaces an eine gemeinnützige Institution übergeben worden.41 – Unter den prominentesten in den letzten zehn Jahren aufgegebenen zentralen Orten ist das lange von seinen Nutzer*innen verteidigte und schließlich 2012 doch geräumte Tacheles. In die ehemaligen Atelier- und Veranstaltungsräume soll nun neben Läden und Restaurants eine Dependance des kommerziell orientierten Fotomuseums Fotografiska einziehen – als Antwort auf die im Bebauungsplan verlangte kulturelle Nutzung.42 Die Zahl der Ateliers in Berlin hat dieweil abgenommen. Dem 2016 bereits auf jährlich 350 bezahlbare Ateliers geschätzten Schwund setzte das Kulturwerk des Berufsverbandes der bildenden Künstler*innen Berlins einen »Masterplan Art Studios 2020« entgegen, der mit Unterstützung des Berliner Senats und konkreten stadtplanerischen Eingriffen Berlins Attraktivität, Ruf und Mythos als Kunststadt bewahren sollte.43 Der Plan wurde nicht umgesetzt.

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Zur Entwicklung dieses Ortes von der Eröffnung der ersten Ausstellung (SUB) bis 2000 siehe http://www.scheinschlag.de/archiv/2000/05_2000/texte/stadt2.html, abgerufen am 2.3.2020; zum »Google Campus« und seiner Wandlung zum Coworking Space siehe https://www.tagesspiegel.de/berlin/geplanter-google-standortin-kreuzberg-sozialer-co-working-space-zieht-ins-umspannwerk/25090810.html, abgerufen am 2.3.2020. Hofmann, Laura/Schönball, Ralf: »Kaufhausruine in Mitte. Fotogalerie aus Schweden soll in ehemaliges Kunsthaus Tacheles ziehen«, in: Tagespiegel vom 11.9.2019, tagesspiegel.de, abgerufen am 18.11.2019. Der Plan wurde nicht umgesetzt; fortgeführt wurde allerdings das Atelierprogramm des Berliner Senats. Siehe https://www.bbk-kulturwerk.de/con/kulturwerk/front_ content.php?idcat=195, abgerufen am 18.11.2019. Aktuelle Zahlen unter: https:// www.bbk-berlin.de/con/bbk/upload/textarchiv19/Weissbuch-Atelierfoerderung_ Kulturwerk-bbk-berlin_2019.pdf

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Zwei Tendenzen Ende der 1990er Jahre war deutlich, dass die von Angela McRobbie für London konstatierte »zweite Welle« in der Entwicklung »kulturindustrieller Arbeit« auch in Berlin zu beobachten war: jene Phase, die geprägt war von »Entspezialisierung, Überschneidungen von kultureller Arbeit und Arbeit im Internet, der Nutzung der kreativen Möglichkeiten der Neuen Medien, der schnellen Zunahme von Mehrfachkompetenzen im künstlerischen Bereich, der geminderten Rolle jenes kulturellen Sektors, den ich als Independent bezeichnen würde, neuartigen Kunst-Ökonomie-Kooperationen mit Unterstützung der öffentlichen Hand«44 – und diese Beschreibung benennt nur einen Teil der mannigfaltigen Verflechtungen und Übergänge, die permanent Konzepte von Kunst, Kultur und Kreativität ebenso in Frage stellen wie ihre Bedeutung für die Stadt. Kunst- und Kulturaktivitäten an unterschiedlichsten Orten – von Opernhäusern bis zum Musikclub, von der Museumsinsel bis zum Atelier in der Fabrik – tragen zu dieser Zeit zum Stadtmarketing Berlins bei.45 Doch die Schwerpunkte im Marketing ändern sich. 2004 wird eine Kulturwirtschaftsinitiative des Senats gestartet, 2006 wird Berlin in das Creative Cities Network der UNESCO aufgenommen, und 2007 beruft der Regierende Bürgermeister Berlins, Klaus Wowereit, ein Berlin Board, das ein neues Stadtmarketingkonzept erarbeiten soll, in dessen Mittelpunkt nicht Kunst, wohl aber »Kreativität« steht: »Berlin hat die besten Voraussetzungen, um ein Kraftzentrum der wissensbasierten Ökonomie in Europa zu sein. [...] Mein Ziel ist es, dass Berlin in den nächsten fünf Jahren zu einer Topadresse für die Kreativen der Welt wird.«46 Sony ist zu dem Zeitpunkt als Konzern der Digitalwirtschaft bereits in der Hauptstadt etabliert. Google zieht 2017 mit seinem »Campus Berlin«, der sich an die Start-up-Szene richtet, nach Kreuzberg, und Amazon, seit 44

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McRobbie, Angela: »Vom Club zum Unternehmen. Der Niedergang der politischen Kultur in der schnelllebigen Welt der Kreativen«, in: Bittner, Die Stadt als Event (2001), S. 279-291, S. 279. Siehe zum Beispiel Thomas Biskup/Marc Schalenberg (Hg.): Selling Berlin. Imagebildung und Stadtmarketing von der preußischen Residenz zur Bundeshauptstadt (= Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, Bd. 6), Stuttgart 2007. Wowereit, Klaus: »Kraftzentrum Berlin«, in: Der Tagesspiegel vom 12.11.2007, zitiert nach: H. Bodenschatz/A. Hofmann: Berlin auf der Suche nach einer städtebaulichen Zukunft 2010, S. 242-247, S. 242.

Kunst, Kultur und Stadt

2011 ansässig, plant derzeit das höchste Bürohaus der Stadt in Friedrichshain. Mediaspree, das umstrittene Projekt der Ansiedlung von Medienunternehmen im Osten Berlins auf einem Areal von etwa 180 Hektar, wächst trotz Bürgerentscheid und Widerstand gegen die Gentrifizierung und die Verbauung des Spreeufers. Heute gehört die Kreativ- und Kulturwirtschaft, die durchaus auch Kunst, doch vor allem den Kunstmarkt, die Musik- und Designwirtschaft, Presse und Werbung, Radiosender, Fernsehen, Filmproduktion und Softwareentwicklung, die Entwicklung von Games und die Architektur umfasst, zu den wichtigsten und lukrativsten Wirtschaftszweigen der Stadt.47 Doch beherrschen eben nicht nur Konzerne die Kunst-, Kultur- und Stadtentwicklung Berlins. Noch 2006 konnte ein zentrumsnahes Gebiet von fünf Hektar Größe auf der Grenze der Bezirke Kreuzberg und Mitte durch das Künstlerkollektiv KUNSTrePublik e.V. für die Gründung des Skulpturenparks Berlin Zentrum aktiviert werden. Seine Betreiber*innen haben die Geschichte des vor dem Krieg auf über 60 Parzellen dicht bebauten Gebietes erkundet, zahlreiche Ausstellungen, Interventionen und künstlerische Aktionen kuratiert, unterstützt und selber eingebracht, 2008 das Gelände als einen Standort der 5. Berlin Biennale mitgestaltet sowie die langsame Bebauung der Umgebung mit teuren Wohnungen kritisch begleitet und in künstlerischen Projekten kommentiert.48 Die anschließende Gründung des ZK/U, des Zentrums für Kunst und Urbanistik, in einem ehemaligen Eisenbahndepot auf einer ca. 15.000 qm großen Fläche in der Nähe des Westhafens folgte einer ähnlichen Programmatik, die an der Schnittstelle von künstlerischen, architektonischen, raumtheoretischen und politischen Diskursen arbeitet. Das Künstlerkollektiv KUNSTrePUBLIK untersucht »die Potentiale und Grenzen von Kunst als Mittel der Kommunikation und Repräsentation von unterschiedlichen Interessen im öffentlichen Raum.«49 Das geschieht im Sinne einer »politischen künstlerischen Praxis, die das Feld des Ästhetischen verlässt und handlungsmächtig wird.«50 Mit ähnlicher Intention, doch in einem breiter gelagerten Prozess wird derzeit das Projekt Haus der Statistik vorangetrieben, das von der Genossenschaft ZUsammenKUNFT Berlin eG, 47

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Siehe Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung et al. (Hg.): Dritter Kreativwirtschaftsbericht. Entwicklung und Potenziale, Juni 2014; https://www. berlin.de/sen/kultur/kulturpolitik/kulturwirtschaft/dritter_kreativwirtschaftsbericht. pdf, abgerufen am 8.12.2019. KUNSTrePUBLIK e.V.: Skulpturenpark Berlin_Zentrum, Köln 2010. https://www.zku-berlin.org/de/about/, abgerufen am 8.12.2019. Heimo Lattner, Kommentar zu diesem Text, Dezember 2019.

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zwei Wohnungsbaugesellschaften, dem Bezirk Mitte und dem Berliner Senat in Kooperation gemeinwohlorientiert entwickelt wird. Das Modellprojekt ZUsammenKUNFT vereint 16 Gruppierungen, darunter Tanz- und Videokünstler*innen, gärtnerisch Aktive, die mit dem Urban Gardening-Projekt der Prinzessinnengärten verbunden sind, Projekte, die Geflüchtete begleiten und unterschiedliche Formen der Unterstützung anbieten, eine Druck- und eine Textilwerkstatt, Bildungsinitiativen und Netzwerke für professionelle Kunst- und Kulturschaffende sowie Künstler*innenkollektive mit offenen Ateliers.51 ExRotaprint, ein Kunstprojekt auf dem ehemaligen Gelände der Firma Rotaprint im von Arbeitslosigkeit gezeichneten Wedding, vermietet seine Flächen zu je einem Drittel an »Arbeit, Kunst, Soziales« und pflegt seine Nachbarschaft durch Angebote von Arbeit(-sräumen), wodurch es Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen versucht: »ExRotaprint als soziale Plastik bedeutet eine Dehnung des Kunstbegriffs, der hier nicht als Abbild oder Zitat, sondern als gestaltete Wirklichkeit Form findet und Kunst sein kann, aber nicht muss.«52 In den eben aufgezeigten Entwicklungen zeigt sich ein langer Prozess der Annäherung zwischen institutionalisierter Politik und Kunst, zwischen Stadtentwicklung und »Kreativen«. In dem Feld, das hier mit der Skizze zweier Tendenzen umrissen sein soll, prägen sich allerdings deutliche Differenzen aus. So ist es zwar keinesfalls mehr ungewöhnlich, dass Theorieentwürfe zur Stadt und Planungen zu ihrer Entwicklung ästhetische und symbolische Prozesse thematisieren. »Kreativität« ist aber sicher das häufiger bemühte Schlüsselwort und mit einem weit definierten Konzept von »Kreativitätswirtschaft« assoziiert, das ohne Weiteres auch global agierende Onlinekonzerne integriert. Der Bezug auf »Kunst« hat dagegen eine eigene und von der Referenz auf Kreativität unterscheidbare Rolle im eben umrissenen Feld. Wo die Kunst, wo die Künste in den Blick von Stadt-, Raum- und Projektentwicklung geraten, geschieht das nicht unbedingt in Widerspruch zu oder im Bestreiten von Kunstautonomie, sondern im Hinblick auf eine mit »Kunst« assoziierte Freiheit, die ihr erlaubt, etwa im konzeptuellen Rahmen einer »sozialen Plastik«, Kriterien, Qualitäten und Ziele ins Spiel zu bringen, die über die gängigen Praktiken öffentlicher Planungs- und Gestaltungsprozesse hinausweisen. Für Künstler*innen nicht nur in Berlin ist die Vorstellung, als »Komplement und Verstärker«, als relevante*r und wirkmächtige*r Akteur*in, in 51 52

https://hausderstatistik.org/, abgerufen am 8.12.2019. https://www.exrotaprint.de/arbeit-kunst-soziales/, abgerufen am 8.12.2019.

Kunst, Kultur und Stadt

ein lokales Geflecht von Stadtplanung, Stadtpolitik und Kulturinstitutionen mit künstlerischen Praktiken einzugreifen, heute keinesfalls mehr abwegig.53 Berlin hat nach der Öffnung der Mauer Bedingungen geboten, die neue Konstellationen von Kunst, Kultur und Stadt möglich gemacht haben. Doch die Verluste an Projekträumen und an Ateliers, an Arbeitsräumen der Kunst, zeigen, dass hier Konflikte existieren, die fast durchgehend im Sinne finanziell stärkerer Akteur*innen entschieden werden. Die Anziehungskraft Berlins aber verdankt sich nicht zuletzt den mit und durch Kunst und Künstler*innen entstandenen urbanen Szenen.

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Hier zitiere ich den Titel eines kürzlich erschienenen Bandes: Isabel Maria Funkenberger/Eva-Maria Baumeister/Christian Koch (Hg.): Komplement und Verstärker. Zum Verhältnis von Stadtplanung, künstlerischen Praktiken und Kulturinstitutionen, Berlin 2019.

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Children of Berlin – eine Ausstellung und ihr (kultur-)politischer Kontext Annette Maechtel

Im November 1999, pünktlich zum zehnjährigen Jubiläum des Mauerfalls, eröffnete das P.S.11 in New York die Ausstellung Children of Berlin: Cultural Developments 1989–19992 und präsentierte damit einer internationalen Öffentlichkeit die aktuelle Kunstentwicklung der neuen Hauptstadt des vereinigten Deutschlands. »Wir schenken der Welt ein Bild«3 , kommentierte die Süddeutsche Zeitung. Die New Yorker Ausstellung zeigte nicht nur Arbeiten von Künstler*innen, sondern auch von »art-based associations and publications, new media pioneers, architects, fashion designers, theater set-designers, musicians, and club-life-promoters«4 . Rückblickend spiegelt sie nicht nur ein hybrides Kunstfeld mit einem Crossover aus bildender Kunst, Clubkultur, 1 2

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Im Text wird die alte Schreibweise genutzt, wenngleich die Institution heute mit MoMA PS1 benannt ist. Die von Alanna Heiss und Klaus Biesenbach kuratierte Ausstellung Children of Berlin: Cultural Development 1989–1999 wurde im P.S.1. Contemporary Art Center in New York (das wenige Monate später eine Außenstelle des Museum of Modern Art werden sollte) vom 7.11.1999 bis zum 2.1.2000 gezeigt und wanderte 2000 weiter in das Folkwang Museum Essen. Dietz, Georg: »Wir schenken der Welt ein Bild. Kinder der Nacht: Die Ausstellung »Children of Berlin« im New Yorker Museum P.S.1«, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.11.1999. P.S.1: Pressemitteilung »Children of Berlin«, https://momaps1.org/exhibitions/view/ 240 von 1999. Die Ausstellung umfasste ein breites Spektrum an Positionen, zu denen Videoarbeiten (unter anderem von Heike Baranowsky, Daniel Pflumm, Johannes Kahrs), Bühnenbild (Bert Neumann), Performances (unter anderem Christoph Schlingensief, John Bock, Honey-Suckle Company), Fotografien (unter anderem Rineke Dijkstra und Thomas Demand), vor allem auch Architektur (Eike Becker, Philipp Oswalt, Grüntuch-Ernst, Sauerbruch Hutton), Mode und Design (unter anderem von Bless, Jürgen Frisch, 3deluxe, Vogt + Weizenegger), interdisziplinäre Gruppen (De:Bug, mikro e.V., BüroFriedrich, raumlabor) sowie die Clubkultur selbst (Cookies, WMF) gehörten.

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Annette Maechtel

Aktivismus und neuen Medien wider. Auch kann sie als paradigmatisch für die Neuprofilierung Berlins Ende der 1990er Jahre als Kreatives Berlin gelten. Zentrales Kennzeichen einer Kreativen Stadt ist dabei die diskursive, symbolische und materielle Verschränkung der vormals funktional getrennten Bereiche von Politik, Wirtschaft und Kunst- beziehungsweise Kulturproduktion.5 Damit einher geht der Wandel der Kulturpolitik von einer autonomiezentrierten hin zu einer projektgebundenen, ökonomisch orientierten Kunstförderung. Im Fokus des Beitrags steht insofern das komplexe und komplizenhafte Verhältnis, in dem sich Akteur*innen des Kunstfeldes mit ihrer künstlerischen Praxis zu politischen Strategien und ökonomischen Interessen bewegen, wenn Kunst- beziehungsweise Kulturproduktion eine ökonomisch verwertbare Ressource im globalen Wettbewerb der Städte um Investitionen, Fachkräfte und Tourist*innen darstellt.6 Hierfür wird beispielhaft in die 1990er Jahre zurückgeblickt, um entlang der für die neue Repräsentation Berlins beispielhaften Ausstellung Children of Berlin sowie der Entwicklung der Berliner Kunstförderung zu untersuchen, wie sich im Narrativ des Kreativen Berlins künstlerische, urbanistische, ökonomische und (kultur-)politische Praktiken verschränken, verschieben und auch unterscheiden.

Children of Berlin 1999 im P.S.1, New York City: ein neues Bild Die Ausstellung Children of Berlin von 1999 ging aus einer Initiative der Kurator*innen Klaus Biesenbach (damaliger Leiter der Kunst-Werke Berlin und Senior Kurator des P.S.1) und Alanna Heiss (Gründerin und damalige Direktorin von P.S.1) hervor. In der Pressemitteilung wurde die Ausstellung als »effort to address a broader definition of the creative energy present in Berlin

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Die Verbreitung des stadtpolitischen Konzepts der Creative City basiert maßgeblich auf den Veröffentlichungen von Charles Landry. Landry, Charles: The Creative City. A Toolkit for Urban Innovators, London 2000; Ders.: The Origins and Futures of the Creative City. The Round, Bornes Green near Stroud 2012. Vgl. hierzu Zukin, Sharon: The Cultures of Cities, Cambridge 1995; Reckwitz, Andreas: »Kreative Stadt Berlin?«, in: Lettre International 87 (Herbst 2009), S. 181-185; Pratt, Andy C.: »Creative cities: Tensions within and between social, cultural and economic development. A critical reading of the UK experience«, in: City, Culture and Society 1 (2010), S. 13-20; Rosalind Gill/Andy C. Pratt/Tarek E. Virani (Hg.): Creative Hubs in Question: Place, Space and Work in the Creative Economy, Cham 2019.

Children of Berlin – eine Ausstellung und ihr (kultur-)politischer Kontext

during the last ten years«7 angekündigt. »Nary a painting in sight«, fasste ein amerikanischer Kritiker die Schwerpunktsetzung der Ausstellung auf Videoarbeiten und Fotografien, auf interdisziplinäre Projekte und erweiterte Bezugsfelder zusammen.8 Die gekalkten Wände, hohen Decken und gusseisernen Türen der ehemaligen Schule im P.S.1 boten dem Berliner Kunsttransfer, zu dem auch die originalgetreue Nachbildung der Berliner Club-Bar Cookies sowie der Verkauf von Berliner Fashionitems gehörte, eine hervorragende Kulisse für die Positionen, die sich in Berlin außerhalb des white cube entwickelt hatten.9 Children of Berlin war ein Extrakt der ersten Berlin Biennale10 und erweiterte, wie auch schon der Club Berlin auf der Biennale Venedig 1995, die bildenden Künste hin zu Clubkultur, neuen Medien, Theater, Architektur und Design.11 Auch 1997 hatte sich mit dem Hybrid Workspace12 bereits eine künstlerische Praxis, die mit internetbasierten Medien und prozessualen Produktions-, Präsentations- und Distributionsmöglichkeiten arbeitete, der internationalen Kunstwelt vorgestellt.13 Der Hybrid Workspace war der erste 7 8 9

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P.S.1: Pressemitteilung 1999. Viveros-Fauné, Christian: »Kinder Power«, in: New York Press (Section Two) vom 2330.11.1999, S. 22. P.S.1 wurde 1976 von Alanna Heiss gegründet. Es ging aus dem Institute for Art and Urban Resources hervor, einer Organisation, die 1971 ebenfalls von Heiss ins Leben gerufen wurde, um leerstehende Gebäude in New York City als Ateliers und Ausstellungsräume temporär zu nutzen. Im Januar 2000 gaben das P.S.1 und das MoMA ihren Zusammenschluss bekannt. Vgl. https://momaps1.org/about/affiliation/ Die 1. Berlin Biennale fand von 30.9. bis 30.12.1998 im KW Institute for Contemporary Art statt und wurde von Klaus Biesenbach, Hans-Ulrich Obrist und Nancy Spector kuratiert. Vgl. https://www.berlinbiennale.de/de/biennalen/5/berlin-berlin Mit einer 72-stündigen Rund-um-die-Uhr-Veranstaltung mit Video- und Diaprojektionen, Musik und Performances sowie dem Kongress nettime fand der von Biesenbach organisierte Club Berlin im zwischengenutzten Teatro Malibran parallel zu den Eröffnungstagen der Venedig Biennale statt und erhielt große Aufmerksamkeit. Vgl. Biesenbach, Klaus: »Berlin/Berlin«, in: Lauren Boyle et al. (Hg.), 9. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst: The present in drag [anlässlich der Ausstellung 4.6-18.9.2016], Berlin 2016, S. 19-21. Ein Projekt von Eike Becker, Geert Lovink, Pit Schultz, Micz Flor, Thorsten Schilling, Heike-Karin Föll, Thomax Kaulmann, Alexander Branczyk, Susanne Dietze und anderen, initiiert von Catherine David, Klaus Biesenbach, Hans Ulrich Obrist und Nancy Spero (als Kurator*innen der 1. Berlin Biennale) von Juni bis September 1997. Vgl. Einladungsplakat, Farbdruck, zweiseitig, A0, Privatbestand der Autorin. Elf eingeladene Gruppen, die ausschließlich mit neuen Medien und Distributionsformen über Internet, Druckmedien oder Radiosendungen zu so unterschiedlichen Issues wie Cyberfeminismus, Netzkritik und auch Stadtaktivismus arbeiteten, konnten über

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Teil der Berlin Biennale und eine Koproduktion mit der documenta X in Kassel. Im Arte-Fernsehbeitrag über die documenta X wird er zusammengefasst als »hybride Mischkultur neuer und alter Medien«, die »aus Berlin« kommt.14 Wie sehr mit diesen durchweg von Klaus Biesenbach initiierten »Berlin-Exporten« eine Veränderung der Repräsentation der Stadt und ihres Kunstfeldes einherging, wird im Vergleich mit der 1987 im Museum of Modern Art gezeigten Ausstellung BERLINART 1961–1987 deutlich, die die künstlerischen Entwicklungen Berlins zwischen dem Mauerbau und dem 750-jährigen Bestehen der Stadt vorstellte. Der Ausstellungskatalog dokumentiert, bis auf wenige raumgreifende Skulpturen, vorwiegend die neo-expressionistische Malerei der Jungen Wilden.15 Künstler*innengruppen wie BüroBerlin, die bereits in den 1980er Jahren kollektive Autor*innenschaft praktizierten, fanden im Katalog lediglich als Einzelkünstler*innen mit Einzelwerken, durch kunsthistorische Einordnung und umfangreiche Einzelbiografien gerahmt, Erwähnung.16 Frauen waren bis auf zwei Ausnahmen nicht vertreten.17 Der Kurator Kynaston McShine zeichnete mit der Ausstellung ein eher düsteres Bild vom Berliner Kunstfeld: »Berlin’s art bore witness to melancholy, claustrophobia, and social tensions«18 . Dagegen wurde Children of Berlin 1999 von der amerikanischen Kritik mit den Worten hervorgehoben: »fresh amidst mid-unfolding […] a giddy, hyperactive show and a gripping historical yarn in the making«19 . Anhand der Rezeptionen beider Ausstellungen in New York, die etwas mehr als zehn Jahre auseinanderliegen, ist eine Veränderung des Bildes von Berlin abzulesen: Das ideologisch und historisch belastete Image, das Berlin noch 1987 prägte, hatte sich 1999, zehn Jahre nach dem Mauerfall und der veränderten

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ein »Diskussionsforum«, das per Email, Newsgroup oder Worldwideweb bedienbar war, nicht nur textbasierte, sondern auch auditive und visuelle Informationen prozessual editieren, sammeln und verteilen. Vgl. https://www.heise.de/tp/features/DieHybrid-Workspace-Story-3446058.html Arte, Kurzvorstellung der documenta 10 (1997), Länge 2:40 min.; einsehbar im Archiv der documenta: https://publicarea.admiralcloud.com/p/ced2ae903b72f34a09ecc9 Unter den 54 eingeladenen Künstler*innen waren Georg Baselitz, Rainer Fetting, Markus Lüpertz, Helmut Middendorf und Salomé als Repräsentant*innen der Jungen Wilden, aber auch Bernd Koberling, Wolf Vostell, Edward Kienholz und Daniel Spoerri. Vgl. Hermann Pitz als Teil der Künstler*innengruppe BüroBerlin, in: McShine, Kynaston: BERLINART 1961-1987, New York/München 1987, S. 203 sowie Biografie, S. 250. Ina Barfuss und Eva-Maria Schön waren die einzigen weiblichen Künstlerinnen unter den insgesamt 54 eingeladenen, künstlerischen Positionen. K. McShine: BERLINART 1987, S. 13. C. Viveros-Fauné: Kinder Power 1999, S. 22.

Children of Berlin – eine Ausstellung und ihr (kultur-)politischer Kontext

politischen Situation, zu einem Bild von jugendlichem Aufbruch und kreativer Aktivität gewandelt. Denn die Repräsentation der Stadt war vor 1989 durch den Wettstreit der Systeme als »Schaufenster der Freiheit« und nach 1989 durch die weltweite Zirkulation von Aufnahmen der Öffnung des Brandenburger Tors und des Abrisses der Mauer von den historischen Ereignissen bestimmt.20 Der geschichtsträchtige Eindruck der Stadt sollte im Zuge des Regierungsumzugs und -wechsels (1999) sowie der ökonomischen Krisen Ende der 1990er Jahre zu dem einer zukunftsorientierten, internationalen und wettbewerbsfähigen Metropole werden. Zahlreiche Kommissionen und Studien wurden beauftragt, um Zukunftsentwürfe und politische Strategien zu erarbeiten, die dem kreativen Potenzial Berlins große Bedeutung für die Neupositionierung und wirtschaftliche Entwicklung der Hauptstadt zurechneten.21 Dies ist vor dem Hintergrund des westeuropäisch zentrierten, politischen Leitbildes der Kreativen Stadt zu sehen, das seit Ende der 1990er Jahre eine Reihe von ökonomischen Versprechen an kreative Potenziale »von und in Städten« bündelt.22 Die Ausstellung Children of Berlin bediente dieses Narrativ, da der Fokus der Vermittlung weniger auf den künstlerischen Werken als auf dem Zukunftsversprechen und dem neuen urbanen Berlin-Lebensgefühl einer »new generation«23 lag. Nach der Eröffnung wurde beispielsweise eine Afterparty im Restaurant des World Trade Centers organisiert – von der Heiss noch 2014 als »one of the most legendary parties ever happened in New York City«24 spricht. Entsprechend folgte auch das vom Berliner Grafikbüro LSD25

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Vgl. Institut für Kommunikationsgeschichte und Angewandte Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin (Hg.): Berlin wirbt!. Metropolenwerbung zwischen Verkehrsreklame und Stadtmarketing, 1920-1995, Berlin 1995. Vgl. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Senatskanzlei (Hg.): Die BerlinStudie. Strategien für die Stadt, Berlin 2000; Abgeordnetenhaus von Berlin (Hg.): Bericht der Enquetekommission »Zukunftsfähiges Berlin«, Berlin 1999; Abgeordnetenhaus von Berlin (Hg.): Lokale Agenda 21/Zukunftsfähiges Berlin, Berlin 2001; Investitionsbank Berlin (IBB) (Hg.): Kompetenzprofil Berlin, Berlin 1999. Damit werden die Kreativen in der Stadt (Kreative Klasse) und die Kreativität der Stadt (Kreative Stadt) gleichermaßen angesprochen. Vgl. Merkel, Janet: Kreativität und Stadt. Zu Rolle, Wirkung und Formen horizontaler Kooperationsformen in der Beförderung von Kultur- und Kreativwirtschaft. Dissertation, Berlin 2011, S. 15. Heiss, Alanna: »Foreword«, in: Miriam Wiesel/Peter Herbstreuth (Hg.), Children of Berlin. Voices, Berlin/New York 1999, S. 3. Alanna Heiss im Gespräch mit der Autorin in New York City am 29.10.2014. LSD hat das Erscheinungsbild der Volksbühne Berlin nach der Wende, hierbei unter anderem das Logo des »laufenden Rads«, gestaltet.

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gestaltete Yearbook nicht mehr dem traditionellen Format eines Ausstellungskatalogs und bietet durch Porträts und Interviews persönliche Einblicke in das kreative Leben und Arbeiten im Nachwende-Berlin.

Abbildung 1

Vorder- und Rückseite des Ausstellungskatalogs, Miriam Wiesel/Peter Herbstreuth (Hg.): Children of Berlin. Voices, Berlin/New York 1999.

Dabei kamen keine Kunsthistoriker*innen oder Kunstkritiker*innen zu Wort, sondern Clubbetreiber*innen, Werbefachleute, Modedesigner*innen, Architekt*innen, Junggalerist*innen sowie »other prominent Berlin personalities«26 . Das Cover des Ausstellungshefts wie auch das Plakat sind mit Bildern einer »unfertigen Stadt«27 unterlegt. Es sind die Baustellen Berlins, die als Hintergrundfolie dienen und das Entwicklungspotenzial einer sich konstant

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P.S.1: Pressemitteilung 1999. Heilmeyer, Florian: »Die unfertige Stadt. Über den wechselnden Dialog zwischen Planung und Nutzung«, in: Arno Brandlhuber/Florian Hertweck/Thomas Mayfried (Hg.), The Dialogic City – Berlin wird Berlin, Köln 2015, S. 165-185.

Children of Berlin – eine Ausstellung und ihr (kultur-)politischer Kontext

wandelnden Stadt vermitteln sollen. Vorder- und Rückseite des Einladungsflyers bilden ein Musterfassadenbauteil im Anschnitt sowie die Fassade eines unrenovierten Gebäudes der Ostmoderne vor dem Fernsehturm ab.

Abbildung 2

Einladungsflyer Children of Berlin, farbig gedruckt, A5 gefaltet.

Diese Konzentration auf Ostberlin situierte Children of Berlin deutlich in Abkehr von dem Westberlin in der neuen Mitte – in jenem Stadtteil also, der infolge der Wiedervereinigung in besonderem Umfang von Leerstand gekennzeichnet war.28 Hier waren die »Freiräume« zu finden, jene »empty

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Die Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte mbH (WBM) verfügte 1990 laut Eigenauskunft in diesem Bezirk über 2.000 restitutionsbehaftete Gebäude mit vielen baufälligen, leerstehenden Läden, Lagerräumen und Fabriken. Vgl. Baumert, Karin: »Das Verhältnis von Arbeiten und Leben in der Spandauer Vorstadt in ihrer geschichtlichen und gegenwärtigen Bedeutung unter stadtsoziologischen Aspekten«, in: WBM et. al.: Kultur aus der Mitte, Berlin 1993, S. 60-69, S. 66.

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spaces and empty positions in the very center of the city«, die laut Biesenbach dazu führten, dass »something was starting to gain shape, no particularly in the art academies or the older galleries, but more around groups or places like Botschaft or Friseur, at clubs like WMF or Elektro and also at Kunst-Werke«.29 Einige der von Biesenbach benannten Gruppen und Orte existierten zum Zeitpunkt der Ausstellung Children of Berlin bereits nicht mehr, was den temporären Charakter dieser projektbasierten Konstellationen verdeutlicht. Der dynamischen Verknüpfung verschiedener Disziplinen, Medien und Räume wurde jedoch von Biesenbach ein »enormous creative potential«30 in Verbindung mit den Bedingungen Berlins zugesprochen. Die Presseankündigung fasste die an der Ausstellung Beteiligten als »cultural practicioners«31 zusammen und verwies damit explizit auf ein neues Rollenbild, in dem sich künstlerisches Arbeiten nicht mehr allein auf die bildende Kunst eingrenzen ließ. Der Begriff kursierte, so der Kurator Justin Hoffmann, in den 1990er Jahren insbesondere im deutschsprachigen Raum und brachte mehrere Tätigkeitsfelder zusammen, die er wie folgt beschreibt: »Texte verfassen, nachts als DJ arbeiten, in politischen Gruppen sich engagieren, einen Job in den Medien haben«32 . Nach Juliane Rebentisch sind »alle autorisiert […], das jeweils andere zu machen: Schreiber machen Installationen, Künstler schreiben«33 . Sie hebt den politischen Aspekt dieser hybriden Praxis in ihrer Kritik an hegemonialen Formen kultureller Produktion und singulärer Autorschaft hervor.34 Die Erweiterung der künstlerischen Praxis kam dabei keiner Auflösung in andere Disziplinen und Felder gleich, sondern stellte eine Praxis dar, die sich vielfältige Rollen und Aufgaben aneignete, um Hierarchien zu politisieren, Grenzziehungen zu prozessualisieren und die eigenen Bedingungen

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Biesenbach, Klaus: »Foreword«, in: Wiesel/Herbstreuth, Children of Berlin. Voices (1999), S. 3. Ebd. P.S.1: Pressemitteilung 1999. Hoffmann, Justin: »God is a Curator«, in: Christoph Tannert/Ute Tischler (Hg.), Men in Black. Handbuch der kuratorischen Praxis, Frankfurt a.M. 2004, S.111-116, S. 116. Rebentisch, Juliane: »Zum Zusammenhang«, in: Rita Baukrowitz/Karin Günther (Hg.), Team Compendium: Selfmade Matches. Selbstorganisation im Bereich Kunst [anlässlich des Projekts »Sei dabei!« Hamburger Woche der Bildenden Kunst], Hamburg 1994, S. 176-185, S. 180. Ebd., vgl. auch Osten, Marion von: Once We Were Artists (A BAK Critical Reader in Artists’ Practice), Utrecht 2017.

Children of Berlin – eine Ausstellung und ihr (kultur-)politischer Kontext

immer wieder neu zu instituieren.35 Der Begriff »Kulturproduzent*in« war die Kritik par excellence am klassisch-modernen Künstlerdiskurs und dekonstruierte den (männlichen) Einzelkünstler als autonomen Schöpfer und »Exklusivfigur«36 . Die Ausstellung Children of Berlin räumte mit diesem Verständnis radikal auf, um zugleich ein neues Ausnahmesubjekt in Form einer kreativen und urbanen Generation zu etablieren. Dabei wurden historische Bezüge – die neben den Sub- und Gegenkulturen der 1980er Jahre in Westberlin bei den Situationist*innen, der Institutionskritik oder auch in den disziplinübergreifenden Künstler*innengruppen der DDR zu sehen sind – genauso wie die damit verbundenen ästhetisch-politischen Diskurse abgekoppelt. Dagegen wurde das »enormous creative potential« dieser Akteur*innen eng an die urbanen Bedingungen Berlins gebunden. Children of Berlin gibt insofern nicht nur das Repräsentationsinteresse der Berliner Politik an einem medial und kulturell hybriden Kunstfeld einer »neue[n] Generation« wieder, sondern es wird ein bedingungsvoller Zusammenhang zwischen künstlerischer Kreativität und den »Möglichkeitsräumen« Berlins installiert.37

Be(rlin) creative: Ökonomisierung der Kreativität Die Ausstellung wurde durch eine Projektförderung des Berliner Senats und das Sponsoring eines deutschen Energiekonzerns finanziert.38 Der damalige

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Vgl. Nowotny, Stefan/Raunig, Gerald: Instituierende Praxen: Bruchlinien der Institutionskritik, Wien 2008. Reckwitz, Andreas: »Vom Künstlermythos zur Normalisierung kreativer Prozesse: Der Beitrag des Kunstfeldes zur Genese des Kreativitätssubjekts«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression: Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2010, S. 98-117, S. 109. Vgl. hierzu auch die von Biesenbach mitinitiierte Ausstellung 37 Räume im Juni 1992 entlang der Auguststraße in Berlin Mitte. Mit dieser wurde erstmals eine Allianz von Off-Kultur, Zwischennutzung und der Öffentlichkeitsbildung im internationalen Kunstfeld geknüpft. Vgl. Zuwendungsbescheid über eine Projektförderung in Höhe von 250.000 DM von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Bereich Kultureller Austausch. Auf dem Einladungsflyer werden außerdem der Energiekonzern RWE als Sponsor der Ausstellung sowie die Unterstützung durch das New York Department of Cultural Affairs, das Board of Directors und der members of P.S.1’s International Council benannt. Für beide Dokumente: Archiv KUNST-WERKE BERLIN e.V., Ordner »Children of Berlin«. KUNST-WERKE BERLIN e.V., Berlin. Dank an Jenny Dirksen.

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Berliner Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Peter Radunski, eröffnete die Ausstellung persönlich und betonte in seiner Eröffnungsrede das »Quirlige, […] Lebendige, […] Wagemutige« und »Innovative der jungen kreativen Szene Berlins«39 . Auf der Rückseite wirbt der Flyer für die vielen kulturellen Angebote in der Stadt Berlin, die unterteilt sind in »Konzerte, Tanz, Musical, Oper«, »Theater« und »Ausstellungen«. Dazu gehört für Peter Radunski aber auch die Loveparade, die für ihn, so ein Zitat auf dem Flyer, »das größte Event dieser Art weltweit ist«. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass sich damit eine Veränderung der Kulturpolitik des Vorgängers Ulrich Roloff-Momin feststellen lässt, der noch 1993 all jene hybriden Kunstproduktionen als »Wildwuchs« bezeichnete, die in den Zwischenräumen und Leerstellen Berlins im Entstehen waren.40 Bisher erhielten die medial und kulturell hybriden Aktivitäten lediglich auf der bezirklichen Ebene der Kulturämter – dies besonders im Bezirk Mitte – Unterstützung von Akteur*innen in Verwaltung und Politik, etwa durch die Vermittlung von günstigen Räumen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) sowie dezentralen Kulturfördertöpfen.41 Erst im Spiegel der Anerkennung durch internationale Kunstinstitutionen und Medien schien die Berliner Landespolitik auf Senatsebene das sozioökonomische Potenzial erkannt zu haben, das diese bislang marginalisierte Praxis auf globaler Ebene für Berlin hatte beziehungsweise hat: »Die Ausstellung Berlin-Berlin zeigt das pulsierende Biotop neuer Trends und Impulse der zeitgenössischen Kunst«, zitierte Radunski – zur Bestätigung – einen Artikel der International Herald Tribune vom 11. August 1999 im Berliner Abgeordnetenhaus.42

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Radunski, Peter, Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur: »Vorwort«, in: Almut Benkert/Elisabeth Breitkopf/Anke Michaelis/in Kooperation mit Partner für Berlin – Gesellschaft für Hauptstadtmarketing mbH (Berlin Partner) und Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur (Hg.), Berlin now. 50 Projekte junger Kultur, Berlin 1999, S. 7. Ulrich Roloff-Momin zitiert nach: Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 12/47, 29.4.1993, S. 3933. Ausführlicher dazu Maechtel, Annette: Das Temporäre politisch denken. Raumproduktion im Nachwende-Berlin am Beispiel Botschaft e.V. (1990-1996), im Erscheinen bei b_books Berlin. Peter Radunski zitiert in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 13/56, 11.12.1998, S. 4126. Die Ausstellung Berlin/Berlin war neben dem Hybrid Workspace ein weiterer Teil der 1. Berlin Biennale.

Children of Berlin – eine Ausstellung und ihr (kultur-)politischer Kontext

Abbildung 3

Flyer, A6, C4 Druck, Sommer 1999.

Ausstellungen wie die 1. Berlin Biennale und Children of Berlin waren offensichtlich dafür geeignet, das nach 1989 entstandene Identitätsvakuum positiv als Ausdruck eines dynamischen Umfeldes zu wenden. Dieser Gesinnungswandel vom »Wildwuchs« zum »pulsierenden Biotop« geschah zu einem Zeitpunkt, als die Entwicklung Berlins zu einer der führenden Metropolen Euro-

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pas ausblieb.43 Die Stadt konnte in den 1990er Jahren weder auf Industrie noch hochqualifizierte Dienstleistungen zurückgreifen.44 Außerdem war mit dem Zusammenbruch des Berliner Immobilienmarktes ein hoher Leerstand verbunden,45 was dazu führte, dass im Jahr 2000 rund 1,2 Mio. Quadratmeter Büroflächen leer standen.46 Die finanzielle Situation Berlins spitzte sich durch den Wegfall des jahrzehntelangen Sonderstatus und damit verbundener Berlinsubventionen weiter zu.47 Der bisherige Kulturzuschuss wurde »urplötzlich«48 von 210 Mio. im Jahr 1991 auf 28 Mio. DM im Jahr 1995 gekürzt.49 Dies führte insbesondere im Kultursektor zu neoliberalen Umstrukturierungen, wie etwa zur Schließung der Staatlichen Kunsthalle (1994) und zur Privatisierung des Schillertheaters (1994). Es ist nicht überraschend, dass die Berliner Politik in dieser wirtschaftlichen Krise die international wahrgenommene Kreativität feierte, die sie jedoch vor allem als wirtschaftlichen Faktor wahrnahm. In der vom Berliner Senat und dem Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in New York City versandten Einladung zu Children of Berlin wurde die Stadt mit ihren »challenging opportunities for media, art and media art« beworben.50 Folglich wurden zum offiziellen »Berlin-Dinner« anlässlich der Ausstellung lediglich »führende Persönlichkeiten aus dem Bereich media art (Medien, Gestaltung, Werbung)« eingeladen.51 Ebenso wurde zusätzlich zum Yearbook von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur zusammen mit Partner für Berlin Holding – Gesellschaft 43 44 45 46 47

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Vgl. Hertweck, Florian: »Eldorado Berlin«, in: Kenny Cupers/Markus Miessen (Hg.), Spaces of Uncertainty. Berlin Revisited, Basel 2018, S. 25-33. Vgl. Senatskanzlei: BerlinStudie 2000, S. 77 und Busch, Ulrich: »Berlin – Weltstadtvisionen und Finanzrestriktionen«, in: UTOPIE kreativ 1 (2007), S. 20-30. Jensen, Sören: »In Grund und Boden«, in: Manager Magazin 5 (1996), S. 153. Hansjörg Bach/Karl-Werner Schulte (Hg.): Immobilienökonomie. Bd. 4: Volkswirtschaftliche Grundlagen, München 2008, S. 320. Vgl. Weinzen, Hans Willi: »Von der Bundeshilfe in den Finanzausgleich. Berlins Finanzen im Umbruch«, in: Werner Süß (Hg.), Hauptstadt Berlin. Bd. 3: Metropole im Umbruch, Berlin 1996, S. 183-204, S. 188. Roloff-Momin, Ulrich: »Kulturstandort Berlin«, in: Werner Süß (Hg.), Hauptstadt Berlin. Bd. 2: Berlin im vereinigten Deutschland, Berlin 1995, S. 543-549, S. 546. Babias, Marius: »Braucht der Mensch Kultur?. Wenn ja, was darf sie kosten? Die Berliner Kulturpolitik unter Peter Radunski«, in: Kunstforum International. Bd. 134: Art & Pop & Crossover, Köln u.a. 1996, S. 481-482. Offizielles Einladungsschreiben der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Fax, einseitig, datiert 26.10.1999, Archiv KUNST-WERKE BERLIN e.V., Ordner »Children of Berlin«. KUNST-WERKE BERLIN e.V., Berlin. Ebd.

Children of Berlin – eine Ausstellung und ihr (kultur-)politischer Kontext

für Hauptstadtmarketing mbH (Berlin Partner) eine weitere Publikation mit dem Titel Berlin. Now. 50 Projekte Junger Kultur herausgegeben. Anstatt einer künstlerischen Entwicklung werden darin die Projekte einer »kreativen Szene«52 vorgestellt. Diese reichen entsprechend von Casting Agenturen über Bars hin zu Clubs und Musiklabels. Hervorgehoben werden im einführenden Text die Begriffe »Freiräume«, »Crossover«, »Eigeninitiative«, »Flexibilität« und »Vernetzung« als Mindset dieser Projekte.53 Als »Unternehmungen« bezeichnet und wegen ihrer »Innovationskraft«54 hervorgehoben werden die Projekte in ihrer Kreativität einerseits von der Hochkultur, andererseits aber werden sie von einer politisierten Gegenkultur – und dem »Bekenntnis zu einer linksorientierten Weltanschauung«55 – abgegrenzt. Hier kann eine deutliche Verschiebung des noch in den 1970er Jahren mit dem Begriff »Kreativität« verbundenen politischen Anliegens von Demokratisierung, Emanzipation, Partizipation und Selbstentfaltung ausgemacht werden.56 Der Antagonismus von Kreativität versus der Monotonie des Arbeitsalltags, wie er noch in den Ansätzen der Kulturpolitik der 1970er Jahre galt,57 ist mit der Politik der Kreativen Stadt aufgehoben.58 Kreativität steht nicht mehr für gesellschaftliche Utopien und das offene Experimentieren, sondern für reale ökonomische Inwertsetzungen. Dabei wird das »Unberechenbare« oder »Unökonomische« von kreativen Prozessen ausgespart und mit einem Wachstumsparadigma 52 53 54 55 56

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Radunski in A. Benkert et al.: Berlin now 1999, S. 7. Benkert, Almut/Breitkopf, Elisabeth/Michaelis, Anke: »Willkommen im Club«, in: A. Benkert et al., Berlin now (1999), S. 9-19, S. 9. Ebd. Ebd., S. 11. Zu den Veränderungen des Kreativitätsverständnisses der letzten 30 Jahre vgl. Knoblich, Tobias J.: »Das Prinzip Soziokultur – Geschichte und Perspektiven«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B11 (2001), S. 7-14; Osten, Marion von: »Be creative! Der kreative Imperativ – Anleitung«, in: Dies./Peter Spillmann (Hg.), Be creative! Der kreative Imperativ, Zürich 2003, S. 1-4; Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität: Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012. 1974 erschienen mehrere kulturtheoretische Schriften, die ein neues Kulturverständnis propagierten. Die Programmschrift der neuen Kulturpolitik, Die Wiedergewinnung des Ästhetischen von Hermann Glaser und Karl Heinz Stahl, war eine Kampfansage an die Kulturpolitik der Nachkriegszeit. Das Zusammenspiel von Kreativität und Stadt galt in den 1970er Jahren als Gegenpol zu einer funktionalen Stadt und seinen kapitalistischen Zwängen. Vgl. »Bildung und Kultur als Element der Stadtentwicklung: Hauptversammlung des Deutsches Städtetags 2.-4.5.1973«, in: Deutscher Städtetag (Hg.), Kulturpolitik des Deutschen Städtetages. Empfehlungen und Stellungnahmen von 1952 bis 1978, Köln 1979, S. 37-53, S. 38.

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und der Idee von steuerbaren Innovationen verbunden.59 Berlin biete eine »offene Gelegenheitsstruktur«, wie der Soziologe Heinz Bude die Bedingungen in der Hauptstadt für die sich Ende der 1990er Jahre bildenden Dot.ComUnternehmen beschreibt.60 Nicht zufällig verbindet sein Begriff »Generation Berlin« genau den Dreiklang von Unternehmertum, Kreativität und urbanen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die Ausstellung Children of Berlin machte folglich nicht nur das kreative, sondern vielmehr das (immobilien-)ökonomische Potenzial der Stadt sichtbar.

Kulturpolitik im Wandel: kreative Methoden Die Ökonomisierung des Kreativitätsbegriffs klingt in der Berliner Kulturpolitik bis heute nach. Der Berliner Senat für Wirtschaft, Arbeit und Frauen gab 2005 zusammen mit dem Senat für Wissenschaft, Forschung und Kultur erstmals einen Kulturwirtschaftsbericht heraus, um den ökonomischen Gewinn dieses Sektors zu beziffern.61 Dies ist deutlicher Ausdruck eines Paradigmenwechsels im Begründungs- beziehungsweise Legitimationskontext der Kulturpolitik, den der Kultursoziologe Christoph Behnke auf Ende der 1990er Jahre, also parallel zum Aufkommen des neuen Leitbildes der Kreativen Stadt datiert.62 Kunst- und Kulturproduktion werden dabei unter dem Gesichtspunkt der Investition statt wie bisher unter dem der Subvention betrachtet. Die traditionelle Kulturpolitik sei nicht durch etwas »außerhalb der Kultur Liegendes«63 argumentativ untermauert. Die Förderpolitik zielte auf autonome Werke und Einzelkarrieren freier Kunst und sprach sich für eine Anerkennung solcher Künstler*innen aus, die sich – fern vom Staatseinfluss – als »frei« bewährt haben.64 Dass Anfang der 1990er Jahre die Förderland59 60 61

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Osten, Marion von: »Unberechenbare Ausgänge«, in: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.), Kritik der Kreativität, Wien 2007, S. 103-117. Bude, Heinz: Generation Berlin, Berlin 2001, S. 7. Im Ergebnis liegt der Umsatz der Kulturwirtschaft 2004 bei 11 % des Bruttoinlandsprodukts der Berliner Wirtschaft und damit auf dem gleichen Niveau wie das verarbeitende Gewerbe in Berlin. Ebd., S. 22. Behnke, Christoph: »Künstlerförderung als Aufgabe des Kulturmanagements«, in: Fachverband für Kulturmanagement (Hg.), Forschen im Kulturmanagement. Jahrbuch für Kulturmanagement 2009, Bielefeld 2009, S. 65-95, S. 73. Ebd., S. 72. Vgl. Damus, Martin: Freiheit der Kunst und staatliche Kunstpreise. Materialsammlung der AG Grundlagenforschung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 1972.

Children of Berlin – eine Ausstellung und ihr (kultur-)politischer Kontext

schaft des Berliner Senats für Künstler*innen noch vor allem auf Arbeits- und Auslandsstipendien, Ankäufe oder Kunstpreise ausgerichtet war und Gruppenbewerbungen ausdrücklich nicht möglich waren, untermauert das Argument, dass sich die kulturpolitische Förderpolitik zur Jahrtausendwende veränderte.65 Das Förderinstrument der Berliner »Sozialen Künstlerförderung«, das von 1950 bis 2003 künstlerische Arbeiten über Werkverträge »in Auftrag« gab, wurde damals beispielsweise von den Fördermaßnahmen der Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten abgegrenzt, denn es galt als nicht mit der Autonomie der Kunst vereinbar.66 Heute hingegen wird Kunst nur noch gefördert, wenn es eine nachweisbare »Outputleistung«67 gibt. Hierfür ist die Debatte im Kulturausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses am 31. August 2015 aufschlussreich, bei der über den Haushaltsentwurf 2016/2017 und die Forderung der AG Zeitstipendien68 diskutiert wurde.69 Der damalige Staatssekretär Tim Renner (SPD) argumentierte, dass die Forderung von »Zeit« als Inbegriff einer Förderung ohne Vorgabe eines benennbaren Zwecks nicht als Legitimation für eine staatlich finanzierte Kunstförderung ausreiche.70 Die veränderte Förderlogik, die nach dem Output fragt, nicht zuletzt, um den erfolgreichen Mitteleinsatz zu evaluieren, spiegelt sich in der Zunahme öffentlicher wie auch privater Projektförderungen wider. Diese über Berlin hinausreichende und spartenübergreifende Entwicklung kann mit dem

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Rodowski, Ilona: HdK – und dann? Informationen und Hinweise für Absolventinnen und Absolventen künstlerischer Studiengänge – insbesondere der Bildenden Kunst [hrsg. von Hochschule der Künste Berlin], Berlin 1990; vgl. auch Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 11/1223, Antwort auf Kleine Anfrage Nr. 1546 vom Abgeordneten Joachim Günther (SPD) über »Förderungsmöglichkeiten für Künstlerinnen und Künstler in Berlin«, S. 9 unter dem Titel 68119 »Förderung von Künstlern«. Entsprechend wurde diese Fördermaßnahme der »Sozialen Künstlerförderung« anfangs vom Senat für Wirtschaft und später von der Senatsverwaltung für Soziales finanziert. Vgl. Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben, Landesversorgungsamt: 40 Jahre Soziale Künstlerförderung, Berlin 1990. Drewes, Sabine/Engelmann, Jan: Kreativen:Wirkung. Von der urbanen Universalformel zum Politikentwurf für die Wissensgesellschaft. Urbane Kultur, Wissensökonomie und Stadtpolitik, Berlin 2008, S. 9-13, S. 12. Das Zeitstipendium war als Förderung 350 einzelner bildender Künstler*innen zu je 7.000 Euro konzipiert, vgl. http://zeitstipendien.de Abgeordnetenhaus von Berlin, 17. Wahlperiode, Wortprotokoll Kult 17/70, 2.5.2016. Tim Renner zitiert in: Abgeordnetenhaus von Berlin, 17. Wahlperiode, Inhaltsprotokoll Kult 17/56, 31.8.2015.

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Begriff »Projektitis«71 beschrieben werden. Dies impliziert nicht nur zeitliche Befristungen auch ehemals dauerhafter institutioneller Förderungen,72 sondern ebenso die Bedingung der Evaluierbarkeit durch Finanz- und Zeitpläne, Öffentlichkeitswirksamkeit sowie den gesellschaftlichen Anspruch, (immer wieder aufs Neue) kreativ und innovativ zu sein. Dieser »Kreativitätsimperativ«73 ist Projektförderungen eingeschrieben und wirkt sich in Berlin besonders umfangreich aus.74 So verfolgt der 1996 vom Bund gegründete Hauptstadtkulturfonds das Ziel der Förderung einer Hauptstadtrepräsentation Berlins durch Projekte, die »nationale und internationale Ausstrahlung haben bzw. besonders innovativ sind«75 und die »in Berlin realisiert bzw. präsentiert«76 werden müssen. Es war 1995 jedoch nicht die Politik, sondern der Rat für die Künste von Berlin, ein Zusammenschluss unterschiedlicher institutioneller und freier Akteur*innen des Berliner Kunstfeldes, der die Vorlage für den Hauptstadtkulturfonds entwickelte. Der Rat für die Künste versprach sich mit der vom Bund finanzierten Projektförderung einen größeren Gestaltungsspielraum für Produktionen außerhalb der durch Institutionen festgelegten Programme.77 Der Hauptstadtkulturfonds übernahm die Förderung von künstlerischen Produktionen ab 1999 mit der Begründung: »Seit dem Mauerfall hat sich in Berlin eine vitale internationale Kunst- und Kulturszene ausgebildet, die sich durch ihre flexiblen Arbeitszusammenhänge und Organisationsformen, ihre flachen Hierarchien, die Tendenz zur

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Sievers, Norbert: »Projektförderung: Innovations- und Risikofaktor«, in: Kulturpolitische Mitteilungen 2 (2019), S. 37-41, S. 40. Vgl. Sievers, Norbert/Scheytt, Oliver: »Vorwort«, in: Norbert Sievers/Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Thema: Neue Kulturförderung. Jahrbuch für Kulturpolitik. Bd. 14, Essen 2014. Die Entwicklung ist international zu sehen, vgl. Held, Jutta: Kunst- und Kulturpolitik der 90er Jahre, Weimar 2000. Vgl. M. von Osten: Be creative 2003, S. 1-4. Nach der Wiedervereinigung waren es vor allem Fördermittel des Bundes und der EU, die in der Regel projektbezogen angelegt waren. http://www.hauptstadtkulturfonds.berlin.de/fileadmin/user_upload/HKF_Foerderkriterien_II_2020.pdf Ebd. Rat für die Künste von Berlin, Positionspapier mit erster Erwähnung des Hauptstadtkulturfonds, datiert 25.4.1995, S. 4; Historisches Archiv, Bestand AdK, vorläufige Signatur: RdK 14 (Rat der Künste, Laufzeit Herbst 1995). Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag von Heimo Lattner in dieser Publikation.

Children of Berlin – eine Ausstellung und ihr (kultur-)politischer Kontext

Netzwerkbildung und den Anspruch, sparten- und länderübergreifend zu arbeiten, auszeichne«78 . Diese vom Hauptstadtkulturfonds beschriebenen Arbeitsformen sind genau jene, die mit Children of Berlin auch bereits 1999 international zur Ausstellung gelangten. Damit schließt sich der Kreis zu einer Kulturpolitik Berlins, die einerseits mit Projektförderungen ein umfangreiches Instrument geschaffen hat, das im Gegensatz zu den zur Verfügung stehenden traditionellen Kulturförderinstrumenten die transdisziplinären und projektbasierten Produktionsweisen im Kunstbereich berücksichtigen kann.79 Und die andererseits zugleich neue Anforderungsprofile aufstellt. Die Philosophin Bojana Kunst verweist dabei auf einen zentralen Unterschied zwischen »how the project actually enters into the work of art and the project as the prevailing mode of production of artistic work.«80 Mit einer Projektförderlogik geht es insofern nicht mehr um einen Diskurs darüber, was als Kunst zu werten sei, sondern um Methoden und Produktionsweisen, wie Kunst hergestellt werden solle. Nach Bojana Kunst gehe es dabei um die Produktion neuer Subjekte in Form von »independent artists or administrators/managers«81 . Folglich unterstützen die heutigen EU-weiten kulturpolitischen Förderprogramme82 oder auch Qualifizierungsangebote83 die dafür notwendigen Produktionsund Präsentationstechniken. Es wird insofern nicht mehr die freie Kunst, sondern im neoliberalen Sinn die Freiheit der Produktion gefördert, ohne den prekären Arbeitsbedingungen im Kunstfeld Achtung zu schenken. Children of Berlin ist ein Ergebnis dieser neuen Ordnungslogik, die mit bestimmten Produktions- und Repräsentationspraktiken verbunden ist. Gegen das Bild, 78 79 80 81 82

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Hauptstadtkulturfonds, siehe https://www.google.com/search?client=safari&rls=en &q=Plattform+Berlin+-+Der+Hauptstadtkulturfonds&ie=UTF-8&oe=UTF-8 von 2011. Der Bund stellte 1996 erstmals jährlich 5 Mio. DM für den Fonds zur Verfügung, seit 2019 sind es jährlich 15 Mio. €. Vgl. www.hauptstadtkulturfonds.berlin.de Kunst, Bojana: Artist at Work. Proximity of Art and Capitalism, Winchester (UK)/Washington (USA) 2015, S. 169 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 15. Vgl. die seit 2017 eingerichtete Präsentationsförderung für Künstler*innen https:// www.berlin.de/sen/kultur/foerderung/foerderprogramme/bildende-kunst/artikel. 60223.php Europäische Sozialfonds-Programme sind ausdrücklich für die Qualifizierung der Kulturwirtschaft (KuWiQ) benannt. Daraus werden beispielsweise das Professionalisierungsprogramm für bildende Künstler*innen in Berlin des Bildungswerks der bbk berlin GmbH oder auch das BZKK – Beratungszentrum für Kulturförderung und Kreativwirtschaft unterstützt.

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das der Welt durch Repräsentationen der Stadt, wie etwa durch Children of Berlin, »geschenkt« wurde, wird unter Akteur*innen des Berliner Kunstfeldes ab 2011 vehement kulturpolitisch mobilisiert. Ab dem Zeitpunkt nämlich, als die Berliner Stadt- und Kulturpolitik zu offensiv im Wahlkampf eine Ausstellung – mit dem ursprünglichen Titel Leistungsschau junger Kunst aus Berlin – initiierte, die über die Missstände der Arbeitsbedingungen im künstlerischen Feld hinwegging.84 Von da an formulierte sich eine fundamentale Kritik an einer Politik der Kreativen Stadt. Künstler*innen und Kulturproduzent*innen forderten stattdessen eine Kulturpolitik,85 die Kunstproduktion nicht mehr wegen ihrer ökonomischen und repräsentativen Funktion, sondern wegen ihrer gemeinwohlorientierten Ziele legitimiere und fördere.86 Eben weil die Politik einer Kreativen Stadt bisherige analytische Unterscheidungen von kreativ und rational, von ökonomisch und nicht-ökonomisch, aber auch von autonom und funktional aufhebt, fordert sie geradezu dazu auf, die Wechselwirkungen zwischen den künstlerischen Praktiken und ihren kulturpolitischen Bedingungen sowie stadtpolitischen Effekten wieder aktiv zu benennen.

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Die Ausstellung war ursprünglich am Humboldthafen geplant und sollte damit genau dort in temporärer Ausstellungsarchitektur »emerging artists« präsentieren, wo der damalige Bürgermeister eine Kunsthalle auf einer landeseigenen Liegenschaft andachte. Nach Kritik an der Ausstellung wurde der Titel in based in berlin geändert. http:// www.basedinberlin.de Aus dieser Kritik heraus bildeten sich die kulturpolitischen Akteur*innen Haben und Brauchen und die Koalition der Freien Szene. Vgl. http://www.habenundbrauchen.de und https://www.koalition-der-freien-szene-berlin.de Vgl. http://www.habenundbrauchen.de/2012/01/haben-und-brauchen-manifest-2/

Forget Fear Künstlerisches Handeln in der Kritik Birgit Eusterschulte

Einleitung Die 7. Berlin Biennale beginnt mit dem Appell, die Angst zu vergessen. Unter dem Titel Forget Fear ruft sie unter der Prämisse des wirksamen Handelns zu einer künstlerischen Praxis auf, die »zu greifbaren Ereignissen« führt und künstlerisches Potenzial aus lähmender Ohnmacht und institutionellen Begrenzungen reißt.1 Im Sommer 2012 stellt der polnische Künstler Artur Žmijewski, der die Biennale zusammen mit der Kuratorin Joanna Warsza und dem russischen Kollektiv Voina verantwortet, eine Biennale vor, die in der Geschichte der Berliner Biennalen seit 1998 sicher als diejenige zu verstehen ist, die mit dem offensichtlichsten politischen Anspruch einerseits und der Absage an das, was im Ästhetikdiskurs im weitesten Sinne als Autonomie bezeichnet wird, aufgetreten ist. In der zur Eröffnung erscheinenden Biennale-Zeitung schreibt Žmijewski, die Konzeption unter seiner Regie sei einfach und lasse sich in einem Satz zusammenfassen: »Wir stellen Kunst vor, die tatsächlich wirksam ist, Realität beeinflusst und einen Raum öffnet, in dem Politik stattfinden kann.«2 Was sich auf den ersten Blick lesen mag wie die Rhetorik einer beliebigen Ausstellung, die eine politisch orientierte und sozial engagierte 1

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Žmijewski, Artur: »Vorwort«, in: Ders./Joanna Warsza (Hg.), Forget Fear, Ausst.-Kat., 7. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst, Berlin/Köln 2012, S. 10ff. Die Berlin Biennale fand vom 27.4. bis zum 12.7.2012 statt. Žmijewski, Artur: »7. Berlin Biennale für zeitgenössische Politik. 7th Berlin Biennale for Contemporary Politics«, in: Ders./Voina Warsza/Joanna Warsza (Hg.), Act For Art. Forget Fear, Zeitung zur 7. Berlin Biennale, Berlin [15.4.] 2012, S. 5-7, S. 6 [Hervorhebung im Original]. Dieser Satz ist mit einer Fußnote versehen, die das im Text verwendete »wir« mit den Mitgliedern des kuratorischen Teams – Joanna Warzsa, der Gruppe Voina und Igor Stokfiszewski – und deren Meinung identifiziert.

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künstlerische Agenda vertritt, zeigt sich im Anspruch einer direkten gesellschaftlichen und vor allem politischen Wirksamkeit um einiges radikaler. Das politische Wollen und die Forderung nach konkreten und relevanten Handlungen in der und durch die Kunst schlägt sich deutlich nieder in der Struktur der Ausstellung, die weniger durch die Präsentation künstlerischer Artefakte geprägt ist, sondern sich in einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm entfaltet. Zur Teilnahme eingeladen sind politisch arbeitende Künstler*innen ebenso wie Aktivist*innen und Politiker*innen, die »sich in die Kunst verirrt haben«.3 Es sind vor allem die Aktion Deutschland schafft es ab von Martin Zet und die Einladung von Indignados | Occupy Biennale zur ›Besetzung‹ der zentralen Ausstellungshalle im Erdgeschoss der Kunst-Werke, die dieser Biennale schon vor ihrer Eröffnung viel mediale Aufmerksamkeit und kritische Diskussionen, aber auch Unkenrufe eines Scheiterns einbringen.4 Die Biennale setzt auf direktes, zielgerichtetes Handeln und scheint in ihrem Anliegen keinen Unterschied machen zu wollen zwischen Formen von politischem Aktivismus und politischer Kunst. Die Herausforderung liegt dabei nicht in der Teilnahme unterschiedlicher politischer oder verschieden engagierter Gruppierungen, sondern in der unterschiedslosen Rahmung aller Beiträge als politische Akte.5 Schon einige Jahre zuvor hatte Žmijewski ein Manifest mit dem Titel »Angewandte Gesellschaftskunst« verfasst, dessen zen3 4

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A. Žmijewski: Vorwort 2012, S. 17 [Hervorhebung im Original]. Martin Zet war in Reaktion auf die große Popularität von Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab (2010), die sich in Bestsellerlisten und Verkaufszahlen deutlich ablesen ließ, angetreten; 60.000 Exemplare sollten durch Sammelaktionen dem Markt wieder entzogen und für eine Installation in Form eines Teppichs verwendet werden, der die türkische Flagge repräsentieren sollte. Zets Aktion Deutschland schafft es ab löste eine äußerst kontroverse Diskussion durch die von vielen assoziierte Nähe zur Bücherverbrennung der Nationalsozialist*innen über Kunstfreiheit und Zensur aus. Tatsächlich wurden nur einige wenige Exemplare des Buches gesammelt. Am Projekt Indigandos | Occupy Biennale waren Mitglieder von Occupy Berlin, 15 M Movement (Barcelona, Madrid), Occupy Frankfurt, Artists in Occupy Amsterdam, Occupy Museums und anderen Bewegungen beteiligt, die während der Dauer der Biennale ihre Tätigkeiten in die Ausstellungsräume verlegten. Vgl. zu beiden Projekten A. Žmijewski et al. (Hg.): Act For Art 2012, S. 11 und 14. Zu den eingeladenen Teilnehmer*innen und Projekten zählen unter anderem Yael Bartana & das Jewish Renaissance Movement in Poland (JRMIP), Breaking the News mit FEMEN, Filmpiraten, Mosireen und anderen, das Brimboria Institut, Joanna Rajkowska, das Zentrum für Politische Schönheit, Jonas Staal, Renzo Martens sowie Marina Naprushkina. Informationen zu diesen und weiteren Projekten finden sich auf der Website der Berlin Biennale unter www.berlinbiennale.de/de/biennalen/22/forget-fear

Forget Fear

trale Forderungen auch in die Konzeption seiner Biennale eingehen.6 In diesem Manifest ebenso wie in den im Kontext der Biennale verfassten Texten wird deutlich, dass sich für Žmijewski künstlerisches Handeln wesentlich durch dessen Zielgerichtetheit und praktischen Gehalt auszeichnet. Das Kurator*innen-Team, so heißt es im Vorwort des Katalogs, suche nach einer Kunst, »die in effektiven Veränderungsprozessen handelt und funktioniert und so bleibenden Einfluss auf die Realität hat.«7 Žmijewskis kuratorische Konzeption und die wiederholt zum Ausdruck gebrachte Vorstellung einer Kunst »auf dem Weg hin zu echter Veränderung unserer Kultur, hin zu einem künstlerischen Pragmatismus«8 arbeitet mit starken Polarisierungen und unvermittelbaren Oppositionen zwischen Kunst, die handelt, und solcher, die es nicht tut. Aus dieser programmatischen Rahmung der Biennale ergeben sich Fragen zum Verhältnis von kritischer Reflexivität und aktivem Handeln, dem Verhältnis von kuratorischer Konzeption, politischem Anspruch und deren Realisierung, aber auch nach der Strategie der Provokation und der Performanz des Kurators. Während Žmijewski ästhetische Fragestellungen gänzlich abzulehnen scheint und auch eine reflektierende ›politische Kunst‹ und künstlerisch-diskursive Formate, die das Politische im Modus der Kritik verhandeln, in seinen Augen keine ausreichende Wirksamkeit entfalten, bleibt zu klären, wie im Aufruf zum künstlerischen Pragmatismus politisches Anliegen und künstlerische Logiken aufeinandertreffen oder sich verbünden. Dem zielgerichteten Handlungsbegriff, wie er Žmijewskis Appell zugrunde liegt und der die Biennale auf konkrete Wirksamkeit verpflichtet, möchte ich in der Diskussion zweier Beiträge von Antanas Mockus und Teresa Margolles ein anderes Modell entgegensetzen, das den kuratorischen Prämissen nur bedingt entspricht. Die ausgewählten Beiträge gehen insofern eine denkwürdige Konstellation ein, als der Politiker Mockus dazu eingeladen ist, eines der Projekte der Berlin Biennale zu kommentieren. Doch diesen Kommentar möchte ich weniger mit Blick auf Margolles’ Beitrag lesen, sondern als Kommentar zur Biennale selbst – als einen, der die Frage stellt: Wie lässt sich mit Kunst gesellschaftlich und politisch handeln?

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Žmijewski, Artur: »Angewandte Gesellschaftskunst«, in: Sandra Frimmel et al. (Hg.), Artur Žmijewski. Kunst als Alibi, Zürich 2017, S. 47-69; das Manifest »Applied Social Art« erschien erstmals in Krytyka Polityczna, Nr. 11/12 (2007). A. Žmijewski: Vorwort 2012, S. 17. Ebd., S. 10.

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»This is not a museum, this is our action space«9 Die Biennale als politische Plattform ist ein relativ junges Phänomen, das sich im Zusammenhang mit kuratorischen Diskursen seit den späten 1990er Jahren herausbildet und »whose aims, vocabulary and forms tend to prioritise the ›political‹ over the ›aesthetic‹.«10 Die neue Biennale, wie Panos Kompatsiaris in seiner Untersuchung zur Politik zeitgenössischer Biennalen das in den 2000er Jahren entstandene Modell politisch engagierter Biennalen nennt, »consists of an effort to reach out and approach new social subjects, extending from activists and new social movements to disenfranched communities and contemporary social theorists, rather than merely the field of art connoisseurs.«11 Die Herausbildung eines kritisch-diskursiven Ausstellungsformates mit dem Ziel der Öffnung zu neuen Publika und gesellschaftspolitischer Orientierung lässt sich auch an der Geschichte der Berliner Biennale seit ihrer ersten Ausgabe 1998 feststellen, »performing the most significant aspects of the discursive exhibition, including an interdisciplinary nature, a durational character, an increased self-awareness regarding its positioning within capitalism and a desire to explore politics within the city.«12 Mit Blick auf die 6. Berlin Biennale 2010 unter der künstlerischen Leitung von Kathrin Rhomberg, die zu ergründen suchte, wie Kunst »disparate Wirklichkeiten wahrnehmbar machen und zur reflektierten Teilhabe an ihnen auf-

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Slogan von Indignados | Occupy Biennale im Rahmen der 7. Berlin Biennale. Kompatsiaris, Panos: The Politics of Contemporary Art Biennials. Spectacles of Critique, Theory Art, New York 2017, S. 5. Es ist diese Höherbewertung des Politischen und Sozialen gegenüber dem Ästhetischen, die unter dem Schlagwort »Social Turn« seit Mitte der 2000er Jahre kritisch und kontrovers diskutiert wird. Vgl. stellvertretend Bishop, Claire: »The Social Turn: Collaboration and Its Discontent«, in: Artforum, Bd. 44 (Februar 2006), S. 178-183. Dass das Politische und das Kritische zu Erkennungszeichen avancierter Kunst geworden seien, signalisiere Bishop zufolge einen Vertrauensverlust: »both in the intrinsic value of art as a de-alienating human endeavour […] and in democratic political processes […].« Bishop, Claire: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London 2012, S. 284 [Hervorhebung im Original]. P. Kompatsiaris: Politics of Contemporary Art Biennials 2017, S. 5. Ebd., S. 82, vgl. auch S. 76f. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass die Kunst-Werke – Institute for Contemporary Art, aus deren Kontext die Berlin Biennale gegründet wurde, selbst bereits seit den frühen 1990er Jahren für eine experimentelle und kritischdiskursive Ausstellungspraxis in Berlin und für einen Ort der Verhandlung des Politischen in der Kunst stehen.

Forget Fear

fordern«13 kann, wird klar, dass die nachfolgende Ausgabe einen deutlich direkteren Anspruch des Politischen und der konkreten Aktion als vorausgegangene Biennalen erhebt. Abzulesen ist dies bereits in der Umwidmung in 7. Berlin Biennale für zeitgenössische Politik, die Artur Žmijewski in der Biennale-Zeitung vornimmt, oder der provokanten Ästhetik des Erscheinungsbildes der BB7, das Buchstaben und Ziffer in einem Logo so zusammenführt, dass Assoziationen germanischer Runen und italienischer Fasces wachgerufen werden.14 Das Spiel mit Provokation und überzogener Rhetorik findet sich indes in den Texten des Kurator*innen-Teams sowie der Biennale selbst wieder. Žmijewskis Vorwort im Katalog zur Biennale liest sich wie ein aufgebrachtes, in alle Richtungen polemisierendes, zuweilen auch moralisierendes Pamphlet gegen den etablierten Kunst- und Ausstellungsbetrieb, in dem »KünstlerInnen, TheoretikerInnen und PhilosophInnen […] zu ›Praktikern der Ohnmacht‹ geworden« seien und Kunst nunmehr bloß »Selbstproduktion des Systems« sei.15 Weiter erläutert er, »die eingeschränkte Vorstellungskraft von KünstlerInnen und KuratorInnen [schafft es] heute nicht, die Schwelle hin zu echten Taten zu überschreiten. Die paradoxe Reaktion auf diese Lage sind ›leere‹, wirkungslose Werke und Ausstellungen. Alles, was der Kunst heute noch bleibt, ist inszeniertes Spektakel, in dem soziale und politische Probleme verhandelt werden – ohne jeglichen Einfluss auf die Realität […]«16 – und ohne ein Interesse an der tatsächlichen Umsetzung einer Sozialkritik. Die 7. Berlin Biennale versteht sich als ein Statement zur Neupositionierung künstlerischen Handelns in Gesellschaft und Politik und ist sichtbar inspiriert von globalen und aktivistischen Protestbewegungen wie dem Arabi-

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Rhomberg, Kathrin: »Was draußen wartet«, Auszug aus dem Katalog der 6. Berlin Biennale, https://www.berlinbiennale.de/de/kataloge/1375/was-draussen-wartet Pinto, Ana Teixero: »7th Berlin Biennale«, in: art-agenda, https://www.art-agenda.com/ features/233563/7th-berlin-biennale vom 27.4.2012. Die Übertragung der künstlerischen Leitung der Biennale an den Künstler Žmijewski, dessen Arbeiten, wie etwa sein Film 80064 (2004), zu kontroversen Diskussionen geführt haben und dessen Manifest »Angewandte Gesellschaftskunst« eine politische Angewandtheit von Kunst fordert, lassen sich als Wunsch zur Politisierung vonseiten des Kuratoriums der Biennale lesen. A. Žmijewski: Vorwort 2012, S. 10 und 15. Ebd., S. 13.

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schen Frühling oder Occupy Wall Street und dort formulierten Forderungen nach neuen Formen politischer Repräsentation.17 Die ausgesprochene Theoriefeindlichkeit und Skepsis gegenüber der Tradition institutionskritischer Konzepte und der Künstlerkritik, ebenso wie die wiederholte Polarisierung von Reflexion und Aktion, Repräsentation und Handlung und die Gegenüberstellung von uns und ihnen, fordern dabei eine kritisch-diskursive Ausstellungspraxis heraus. Zwar gesteht Žmijewski im Vorwort des Katalogs zu, dass nicht alle Kunst politische Aktion sein müsse, doch treten Polemiken gegen Institutionalisierung und falsch verstandene Autonomie so vernichtend und programmatisch auf, dass diese Option kaum relevant erscheint. Künstlerische Praxis soll eine Radikalität zurückgewinnen, die aus den reglementierenden Institutionen heraustritt und nicht auf »Harmonisierung« ausgerichtet ist – Konflikt, Provokation und Überschreitung verstehen sich als notwendige Mittel seiner kuratorischen Praxis. Der Appell, die Angst zu vergessen, richtet sich dabei an die Akteur*innen: weder sollen sie vor den realen Folgen ihres Handelns noch vor institutioneller Kontrolle zurückschrecken. Eine besondere Politizität beziehungsweise politische Effekte möchte die Biennale erzeugen, indem sie nicht nur künstlerische Projekte zeigt, die mit einem politischen Selbstverständnis in den realen Raum eingreifen, sondern indem sie sich politischem Aktivismus öffnet. Das Eingreifen in den Raum des Politischen oder des Realen produziert, wie Christy Lange es in ihrer Kritik formuliert, »hypothetical movements as political acts, which fail as politics, or projects so plagued by heavy-handed symbolism (see Łukasz Surowiec’s replanting of 320 saplings collected from Auschwitz-Birkenau) or so earnestly democratic that they fail as art (see Paweł Althamer’s Draftmen’s Congress, 2012).«18 Als problematisch erweist sich auch die Hinwendung zum politischen Aktivismus. Die schon in sich widersprüchliche Einladung zur Besetzung der Ausstellungshalle führt weder zur erhofften Produktivität eines Dialogs noch trägt sie die Energien des aktivistischen Aufbegehrens in die Ausstellung. Ganz im Gegenteil erzeugt die institutionelle Rahmung 17

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Die Auseinandersetzung mit dem Zusammenwirken von politischem Aktivismus und künstlerischer Praxis, die sich der direkten Aktion verschrieben hat, ist im gleichen Jahr etwa unter dem Titel Truth is Concrete auf dem Steirischen Herbst in Graz präsent und nur wenig später in der Ausstellung global Activism. Kunst und Konflikt im 21. Jahrhundert im ZKM Karlsruhe (2013-2014). Vgl. Lange, Christy: »7th Berlin Biennale«, in: Frieze (Online-Ausgabe), https://frieze. com/article/7th-berlin-biennale vom 1.6.2012.

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ein Aus- und Stillstellen des Protests, das man ironischerweise genau mit den Begriffen beschreiben kann, die aktivistische Positionen in kritischer Absicht an die Kunst anlegen: Spektakel und Ästhetisierung.19 In Kunstzeitschriften und Zeitungen hagelt es Kritik – und diese ist im Ton nicht minder polemisch als die kuratorischen Statements. Das Scheitern der Biennale, das Žmijewski selbst als eine Möglichkeit seines Experiments in Erwägung gezogen hatte, wird im Großteil der englisch- und deutschsprachigen Presse mit Hingabe beschrieben. Eine durchgängige Kritik an der kuratorischen Vorgehensweise bezieht sich auf die Rahmung aller Teilnehmenden in einem Meta-Werk, dessen Strategien allzu häufig Analogien zur künstlerischen Praxis des Kurators selbst aufweisen. Ein weiterer zentraler Kritikpunkt betrifft die Ästhetisierung und Exotisierung des Protests am Beispiel der ausgestellten Teilnahme aktivistischer Gruppierungen der Occupy-Bewegung und eines so vorgetäuschten Radikalismus der Biennale. Schließlich eint viele Kritiken der Widerstand gegenüber einer theoretisch schwachen und undialektischen Konfrontation von Aktion und Reflexion.20 Der Kritik ist in vielen ihrer Beobachtungen zuzustimmen. Auffällig ist jedoch, dass sie das von Žmijewski kuratorisch gesteckte Feld kaum verlässt und der Biennale nicht minder empört-moralisierend begegnet. Oder anders gesagt, auch in der Kritik verschwindet das »soziale Experiment« der Biennale, die Grenzen und Gemeinsamkeiten von Kunst und Aktivismus in einen produktiven Dialog zu stellen, hinter polemischen Äußerungen und dem Versuch der ›Korrektur‹.

Kunst, Politik, Gesellschaftskunst? Einer dieser verirrten Menschen, wie Žmijewski diejenigen Akteur*innen bezeichnet, die eher zufällig in das Feld der Kunst geraten sind, ist Antanas Mockus – Philosoph, Mathematiker und Politiker, der als Bürgermeister von Bogotá (1996-1998) durch den Einsatz von für die Politik unkonventionellen Mitteln über die Hauptstadt Kolumbiens hinaus bekannt wurde.21 Dazu ein19 20 21

Vgl. Groys, Boris: »Kunstaktivismus. Die totale Ästhetisierung der Welt als Eröffnung der politischen Aktion«, in: Lettre International, Nr. 106 (Herbst 2014), S. 88-92. Für eine ausführliche Diskussion der Biennale-Kritik siehe P. Kompatsiaris: Politics of Contemporary Art Biennials 2017, S. 108-115. Im Katalog wird Antanas Mockus als Bürgermeister von Bogotá vorgestellt, der eine »kugelsichere Weste, aus deren Brust ein großes Herz ausgeschnitten war«, trug und eine »gewaltlose, performative Politik der Bilder und Gesten« initiierte: etwa »Orte, an

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geladen, eines der Projekte der Biennale zu kommentieren, fällt seine Wahl auf den Beitrag der mexikanischen Künstlerin Teresa Margolles. Was Mockus’ politische Arbeit mit Margolles’ künstlerischer verbindet, ist der Kampf gegen den gewalttätigen, illegalen Drogenhandel, der nicht nur für Kolumbiens Hauptstadt eine Herausforderung darstellt, sondern auch im mexikanischen Ciudad Juárez tagtäglich Todesopfer fordert.

Abbildung 1: Teresa Margolles, PM 2010, 2012.

Installationsansicht 7. Berlin Biennale, KW Institute for Contemporary Art, Berlin. Foto: Marta Gornicka, Courtesy die Künstlerin und Galerie Peter Kilchmann, Zürich.

Teresa Margolles, die schon in vielen ihrer Arbeiten die gesellschaftlichen Folgen des mexikanischen Drogenkrieges thematisiert hat, zeigt auf der Biennale die Installation PM 2010 (Abb. 1). Über ein Jahr hinweg sammelte sie dafür das Titelblatt der mexikanischen Boulevardzeitung PM aus Ciudad Juárez, ebenjener Stadt an der Grenze zu den Vereinigten Staaten, die seit 2007

denen man seine Waffen gegen Spielzeuge eintauschen konnte, Abende, an denen nur Frauen ausgehen durften, Verkehr, der von PantomimekünstlerInnen anstatt von PolizistInnen geregelt wurde«. Warsza, Joanna: »Bogotá Change«, in: Žmijewski/Warsza, Forget Fear (2012), S. 158.

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besonders stark von Drogenkriminalität und Bandenkriegen betroffen ist. Alle 313 Titelseiten der wochentags erscheinenden Zeitung aus dem Jahr 2010 sind in schmale Rahmungen gefasst und Stoß an Stoß als Block gehängt. Acht Reihen aus je 39 gerahmten Titelseiten bilden eine wandfüllende Installation, wobei in der obersten Reihe ein Rahmen aus der Geschlossenheit der Struktur ragt. Aus der Ferne fällt die schreiende Ikonografie einer Boulevardzeitung mit sich wiederholendem Logo sofort auf. Erst bei näherem Herantreten enthüllt sich der Schrecken dieser gesammelten Zeitungen, deren Titelblätter neben Pinup-Girls täglich Aufnahmen grausam hingerichteter Menschen zeigen: Ein Tagebuch des tödlichen Drogenkrieges (Abb. 2).22 Der inhaltlichen Dimension steht eine formale, ja gleichfalls brutale Umsetzung gegenüber. Der Grausamkeit des Mordens werden Konformität und Ästhetisierung einer konzeptuellen Präsentation entgegengesetzt, die von der Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern zeugt, die als einzelne in der Masse untergehen. Zugleich erstellt Margolles mit PM 2010 ein Archiv der Gewalttaten, deren Erscheinen in einem gedruckten Boulevardblatt nicht viel mehr als einen Tag Gültigkeit gehabt haben dürfte, bevor sie von neuen Schreckensnachrichten abgelöst wurden. Die ursprüngliche Konzeption hatte vorgesehen, ein »Jahrbuch« (Margolles) aus den Titelseiten zu produzieren und es den Besucher*innen zur Verfügung zu stellen. An dessen Stelle tritt aufgrund zu hoher Produktionskosten ein Poster mit einer Auswahl von 24 Titelblättern, die zur Mitnahme auf einer Palette bereit liegen. Während es in der Biennale-Zeitung heißt, Margolles verweise auf die »kollektive Verantwortung«23 , bekräftigt die Künstlerin im Interview, sie habe keine Erwartungen an das Publikum.24 Sie überlässt es den Besucher*innen der Biennale, eine Verbindung zwischen ihnen und dem Präsentierten herzustellen. Antanas Mockus hingegen stellt in seinem Kommentar den Zusammenhang von gewaltsamem Drogenkrieg und Betrachter*innen direkt her. Margolles’ Installation wählt er aufgrund der thematisierten Problematik, denn, wie Mockus erklärt, sieht er in der Prävention von brutaler und tödlicher Gewalt eine der wichtigsten Aufgaben von Politik. Manchmal 22

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Allein im Jahr 2010 wurden in Ciudad Juárez mehr als 3.100 Menschen im Drogenkrieg getötet. Die mexikanische Stadt hat damit eine der höchsten Mordraten der Welt; https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-07/juarez-tote vom 14.7.2011. Žmijewski, Artur/Warsza, Joanna: »Teresa Margolles. PM 2012«, in: Žmijewski et al., Act For Art (2012), S. 12. Teresa Margolles im Interview zur Berlin Biennale (28.4.2012), https://www.youtube. com/watch?v=K1sVub370mQ

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Abbildung 2: Teresa Margolles, PM 2010, 2012 (Detail).

Foto: Marta Gornicka, Courtesy die Künstlerin und Galerie Peter Kilchmann, Zürich.

könne man, so Mockus weiter, klarer agieren, wenn man aus der Distanz auf etwas schaue. Und so fällt von Berlin aus sein Blick auf Mexiko, dem es anders als Kolumbien nicht gelungen sei, die Gewaltspirale des Drogenkrieges zu durchbrechen. Die installative Arbeit Blood Ties von Antanas Mockus findet auf einer Etage der Kunst-Werke gleich neben Margolles’ Installation ihren Platz (Abb. 3). Der Status des Kommentars bleibt jedoch uneindeutig. In der formulierten Bezugnahme auf ein anderes Werk wird der Anspruch auf künstlerische Eigenständigkeit zwar zurückgenommen, doch sprechen die Kurator*innen in Bezug auf Mockus’ Kommentar verschiedentlich auch von einem Kunstwerk. Die titelgebenden Blutsbanden werden in der Installation zwischen den Betrachter*innen der Biennale und jenen, die in Mexikos Drogen- und Bandenkriegen ihren Tod finden, hergestellt. Genauer: Als (potenzielle) Drogenkosument*innen werden sie als Mitverursacher*innen des illegalen Drogenhandels in Zentralamerika verstanden. Der ehemalige Bürgermeister von Bogotá fordert die Besucher*innen daher auf, für ihre Verantwortung einzustehen. Mit der Unterzeichnung des Vertrags »Kind Pressures: Blood Ties« gehen sie

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die persönliche Verpflichtung ein, während des Zeitraums der Biennale, von April bis Juli 2012, ihren Drogenkonsum zu reduzieren oder ganz darauf zu verzichten. Den so geschlossenen Pakt (Pact) können die Unterzeichnenden in einer ergänzenden Aktion (Act) noch bekräftigen, indem sie einen Tropfen Blut spenden.25 Diese Besiegelung betont die Gültigkeit des Vertrages und lässt zugleich die Verletzlichkeit des eigenen Körpers erfahren. Die gespendeten Blutstropfen werden auf kleinen weißen Karteikarten gesammelt, die gut sichtbar an der Wand angebracht den Fortschritt des Boykotts dokumentieren. An einem Tisch davor betreut eine medizinisch ausgebildete Person die Spenden und steht bei der Vertragsunterzeichnung zur Seite. Darüber hinaus veranschaulicht eine funktional anmutende Konstruktion den kausalen Zusammenhang von Drogenkonsum und im Krieg der Drogenmafia getöteten Menschen: In dieser Konstruktion hängt eine mexikanische Fahne an einem Seilzug-Mechanismus von der Decke. Dieser senkt die Fahne langsam, aber stetig in Richtung eines am Boden stehenden Gefäßes mit Säure, wobei das tägliche Absinken der Fahne in Relation zu den Drogentoten in Mexiko steht (Abb. 4). Ein Schild nennt die Zielvorgaben: »Reduce the Mexican fratricide. Cut by half the projected number of drug-related murders, at least during the Berlin Biennale (April 27 to July 1st ). Reduce the consumption of drugs at least while violence in Mexico remains so high. A kind boycott of bloody cocaine.« Mockus erläutert seine Apparatur »for producing blood free cocaine« in einem Interview und nennt zwei Wege, der Zerstörung der Flagge entgegenzuwirken. Der erste wäre, das Morden in Mexiko zu beenden. Die zweite Möglichkeit wäre, einen Tropfen Blut zu spenden, wobei dieser im Mechanismus der Installation für einen Toten in Mexiko stehe (»each time a mexican kills a mexican the flagg goes down«)26 . Eine grausame Proportion, wie der Politiker im Interview ergänzt, doch sie entspreche der Realität des Drogenhandels, in dem das einzelne Menschenleben nichts zähle. Für den ersten Weg, der ein unmittelbares Eingreifen in die reale Situation vor Ort erfordert, werden keine Handlungsoptionen genannt. Der zweite ist wesentlich auf symbolischer

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Der Pact des Vertrags lautet: »I here and now make a personal commitment, at least while the 7th Berlin Biennale for Contemporary Art is open (April 27–July 1, 2012), to stop using or to use less drugs or to find someone willing to do so.« Ein mit »Act« überschriebener Absatz ergänzt: »In addition, there is the opportunity to fortify your statement by donating a drop of blood. A card with your drop of blood can be given to our paramedic during the opening hours of the 7th Berlin Biennale for Contemporary Art.« Antanas Mockus im Gespräch über Blood Ties, https://vimeo.com/40489080

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Abbildung 3: Antanas Mockus, Blood Ties, 2012.

Installationsansicht 7. Berlin Biennale, KW Institute for Contemporary Art, Berlin. Foto: Marta Gornicka.

Ebene verortet. Die Besucher*innen können gegen die Zerstörung der Flagge angehen, insofern jede Vertragsunterzeichnung ihnen das Auslösen eines Mechanismus erlaubt, der diese wieder anhebt. Ein Effekt allerdings, der erst mit einer größeren Anzahl von Vertragsabschlüssen sichtbar wird und dessen Wirksamkeit die Unterzeichnenden über den beschriebenen Mechanismus hinaus kaum annehmen können. Zwei Bücher, die an der Halterung der mexikanischen Flagge angebracht sind und denen in diesem sachlichen und funktionalen Aufbau von Blutspende und Hebemechanismus keine praktische Funktion zukommt, fallen auf: Das eine ist die Reportage La ciudad de las muertas: La tragedia de Ciudad Juárez

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[Die Stadt der Toten. Die Tragödie von Ciudad Juárez] von Marcos Fernández und Jean-Christophe Rampal aus dem Jahr 2008 über Gewalt und Korruption in der mexikanischen Grenzstadt, das andere ist John Austins How to Do Things with Words – und hier begibt sich der Kommentar auf eine andere Ebene. Der Kommentar zu Margolles’ Installation über die Auseinandersetzung mit dem gewaltsamen Drogenkrieg in Zentralamerika bewegt sich zunächst auf inhaltlicher Ebene. Die Herangehensweisen beider Künstler*innen könnten dabei kaum unterschiedlicher sein. Während Margolles’ von der Repräsentation des Themas in Boulevardzeitungen ausgeht und Betrachter*innen mit der gewaltsamen Realität in Mexiko konfrontiert, stellt Mockus eine direkte Verbindung zwischen dieser Realität und den Besucher*innen der Berlin Biennale her. Er setzt auf die Möglichkeit des Agierens gegen diese Realität, indem er die Betrachter*innen zum Handeln aufruft. Die Möglichkeit des Partizipierens stellt den strukturellen Kern der Installation dar und bindet die Betrachter*innen unmittelbar ein. Offen bleibt allerdings, welchen Stellenwert Mockus der Teilhabe und dem direkten Handeln der Künstler*innen und des Publikums einräumt und wie der Kommentar in Bezug auf Margolles’ Installation zu verstehen ist. Diese Frage führt zurück zu John Austins How to Do Things with Words, das meines Erachtens als Kommentar zu Žmijewskis Appell zum künstlerischen Pragmatismus gelesen werden kann. In den unter diesem Titel veröffentlichten Vorlesungen aus der Mitte der 1950er Jahre entwickelt der Sprachphilosoph eine Theorie des Sprechaktes, der die Überzeugung zugrunde liegt, dass sprachliche Äußerungen nicht nur Sachverhalte beschreiben oder Behauptungen aufstellen, »sondern dass mit ihnen auch Handlungen vollzogen werden«.27 Ausgehend von der Einsicht in den Handlungscharakter von Sprache unternimmt Austin den Versuch, eine Kategorie performativer Äußerungen zu bestimmen und diese von konstativen zu unterscheiden. Performative Äußerungen zeichnen sich demnach durch zwei Eigenschaften aus: Sie sind selbstreferenziell, »das heißt[, sie] beziehen sich auf sich selbst, insofern sie das bedeuten, was sie tun, und sie sind wirklichkeitskonstituierend, indem sie die soziale Wirklichkeit herstellen, von der sie sprechen.«28 Die konstituierende Kraft von Sprache beruht dabei auf ihrer Einbettung in außersprachliche und kulturelle Praktiken, das heißt für das Gelingen einer performativen Äußerung müssen nicht nur sprachliche, sondern auch konventionelle und 27 28

Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einleitung, Bielefeld 2015, S. 37. Ebd., S. 38.

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soziale Bedingungen erfüllt sein.29 Diese Bedingungen stehen dabei nicht allein in der Verfügungsgewalt des Subjekts, auch sind sie nicht vollständig von der Gesellschaft determiniert: Es bleibt eine Unvorhersehbarkeit erhalten.30 Verträge wie diejenigen in Blood Ties folgen der Struktur performativer Äußerungen par excellence. Ein Vertragsabschluss greift – wie ein Versprechen – in die Realität des*der einzelnen Unterzeichners*in ein, insofern nicht nur der Inhalt des Vertrags festgestellt, sondern eine reale Verpflichtung eingegangen wird. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, wolle man den Hinweis auf die Performativität nur in Bezug auf einzelne Vertragsabschlüsse sehen. Vielmehr wird hier eine allgemeinere Aussage über die Performativität von Kunst gemacht. Der strikten Trennung von Sprechen und Handeln beziehungsweise Kunst und Realität, wie sie in Žmijewskis programmatischer Forderung nach echten Taten zum Ausdruck kommt, steht hier der grundsätzliche Handlungscharakter von Kunst entgegen, wenn auch – wie man aus der prekären Position des Buches auf der vertikalen Achse schließen kann – in Abhängigkeit von verschiedenen sozialen und institutionellen Faktoren. Tatsächlich misslingt das Vorhaben, während der Laufzeit der Biennale genügend Unterzeichner*innen zu gewinnen – und die mexikanische Flagge samt der Bücher sinkt in die Säure. Wenige Tage vor dem Ende der Biennale ist das »Scheitern« des Projektes unübersehbar. Zu diesem Schluss kommt Žmijewski in einer Kuratorenführung: »Probably this artwork is, maybe the only one, here which clearly, without ambiguity, presents the wish that art should function, should really work, it’s even over simple […].«31 Doch, so fährt er fort, seien die Besucher*innen der Biennale eben nicht wirklich daran interessiert, Leben in Mexiko zu retten. Während der Kurator Žmijewski das Gelingen der Installation am zuvor festgelegten und sichtbaren Ergebnis entscheidet, stellt sich vielmehr die Frage, was genau hier eigentlich scheitert und welche Bedeutung diesem Scheitern zukommt. Lässt sich vom Nichterreichen des gesetzten Ziels tatsächlich auf das Desinteresse der Betrachter*innen und die Wirkungslosigkeit von Kunst schließen? Oder ist Blood Ties nicht vielmehr 29 30

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Ebd. Siehe ebd., S. 69. Dorothea von Hantelmann stellt in How to Do Things with Art. Zur Bedeutung von Performativität von Kunst (Zürich/Berlin 2007) eine Analogie zur Kunst her: »Das Performative eines Kunstwerks ist die Realität, die es – kraft seiner Existenz an einem Ort, in einer Situation, kraft seines Produziertseins, Rezipiertwerdens und Überdauerns – hervorzubringen vermag.« Ebd., S. 12. Artur Žmijewski, 7th Berlin Biennale: Guided Tour Part 7, https://www.youtube.com/ watch?v=xp7vRFCKPXQ

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daran interessiert, die Handlungsbedingungen und -potenziale von Kunst zu reflektieren und ebendiese Fragen an die Besucher*innen zu richten?

Abbildung 4: Antanas Mockus, Blood Ties, 2012.

Installationsansicht 7. Berlin Biennale, KW Institute for Contemporary Art, Berlin. Foto: Marta Gornicka.

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Tatsächlich hatte Antanas Mockus als Bürgermeister von Bogotá in den 1990er Jahren große Erfolge erzielt, indem er mit kreativen oder für die Politik unkonventionellen Mitteln eine Veränderung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in konkreten Situationen bewirkte. Beispielhaft ist der Einsatz von Pantomime-Künstler*innen, die anstelle von Polizist*innen in das Verkehrschaos von Bogotá eingriffen und ohne autoritäre Mittel, aber humoristisch eine Sensibilität für das unkontrollierte und achtlose Verhalten der Verkehrsteilnehmer*innen erzeugten und in Folge veränderten.32 »Ja, ich schleuste Kunst in die Politik ein und testete, wie wir auf bestimmte Reglementierungen reagieren. Welche Verhaltenscodes haben wir, warum akzeptieren wir Grenzen im gesellschaftlichen Umgang? Kunst hat meiner Meinung nach viel mit der Entdeckung eines bestimmten Ordnungsprinzips zu tun. Auch in der Politik spielt dieses Ordnungsprinzip eine Rolle«,33 erklärt Mockus im Gespräch mit Joanna Warsza seine Vorgehensweisen, für die er den Begriff der »sub-art« verwendet. Sub-Art teile einige Eigenschaften mit Kunst, erhebe aber nicht den Anspruch, Kunst zu sein.34 Kunst ist »eine Möglichkeit, Dinge anzugehen und auf den Punkt zu bringen, die sich sonst nicht ausdrücken lassen«, sie vermittle »Wissen und biete neue Bedeutungen und Möglichkeiten an.«35 Wenn Mockus hier einerseits zwischen künstlerischen Methoden in der politischen Arbeit und Kunst andererseits unterscheidet, dann ist vor allem hervorzuheben, dass das Sichtbarmachen von Ordnungsprinzipien, die auch in der Politik eine Bedeutung haben, die Kunst als eine Form der Kritik und des reflexiven Zugangs ausweist.36 Ausgeprägter als in Margolles’ Installation zeigt sich darin das Anliegen des Künstlers, global wirksam werdende Mechanismen von (Drogen-)Konsum, Korruption

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Caballero, Mara Cristina: »Academic Turns City into a social experiment«, The Harvard Gazette vom 11.3.2004, https://news.harvard.edu/gazette/story/2004/03/academic-turns-city-into-a-social-experiment/ »Wenn ich in der Falle sitze, verhalte ich mich wie ein Künstler. Antanas Mockus im Gespräch mit Joanna Warsa«, in: Žmijewski/Warsza, Forget Fear (2012), S. 166. Antanas Mockus im Gespräch über Blood Ties, https://vimeo.com/40489080 Žmijewski/Warsza, Forget Fear (2012), S. 166 und 168 (»Wenn ich in der Falle sitze«). Die Verknüpfung von Kunst und Politik über Ordnungsprinzipien lässt an Jacques Rancières Überlegungen zur Aufteilung des Sinnlichen denken, an der die Sphären des Politischen und der Kunst teilhaben und so ineinandergreifen. Vgl. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006.

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und Gewalt sichtbar und die Involviertheit der Betrachter*innen in ausbeuterische Systeme erfahrbar zu machen. In diesem Sinne erscheint Blood Ties vor allem auf das Sichtbarmachen und kritische Reflektieren von Funktionsweisen ausgerichtet zu sein und nicht auf das Funktionieren selbst. Insbesondere wenn die vorgezeichnete Wirkung misslingt und die Frage ihrer Erreichbarkeit im Raum steht, stellt sich für die Rezipient*innen eine kritische Unbestimmtheit ein, die zuvor in der Gefahr steht, durch das inszenierte Spektakel der Teilhabe verstellt zu werden. Die imaginierte Handlungskette wird aus den Angeln gehoben und die Paradoxalität einer Struktur vorgeführt, die eine Funktionalität verspricht, deren Mittel und Bedingungen jedoch nicht – oder nur sehr bedingt – gegeben sind. Performativen Akten ist die Möglichkeit des Scheiterns konstitutiv eingeschrieben. Es ist an dieser Stelle noch einmal interessant, sich vor Augen zu führen, dass Austin selbst vom Scheitern – oder besser vom Misslingen und Verunglücken – gesprochen und die Bedingungen hierfür in seinen Vorlesungen ausführlich untersucht hat. Aber auch, dass er die von ihm zunächst eingeführte Unterscheidung performativer und konstativer Akte selbst zum Kollabieren gebracht hat.37 Vor diesem Hintergrund erscheint Blood Ties einmal weniger als ein Instrument zielgerichteten und konkreten Wirkens. In der Verflechtung von symbolischem und realem Tun ruft die Installation vielmehr zur Reflexion der Dimensionen des Handelns auf. Die Antwort scheint nicht in einer Logik des Gelingens oder Scheiterns eines zuvor gesetzten Zieles zu liegen. Die inszenierte Möglichkeit des Scheiterns trägt eine Ambivalenz in den scheinbar funktionalen Mechanismus ein, mit der die Frage nach der Reichweite und den Mitteln (künstlerischen) Handelns ebenso wie nach dessen Voraussetzungen und Bedingungen thematisch wird. Diese Frage ist an die Betrachter*innen gerichtet. Sie müssen über die Sinnhaftigkeit des Aufrufs entscheiden – wenn sie überhaupt zu entscheiden ist. In diesem Sinne lässt sich übertragen, was Juliane Rebentisch über partizipatorische Arbeiten sagt, in denen es »gar nicht oder nicht nur, um direkte Teilnahme geht – und zwar weder im Sinne einer Teilnahme am

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Sybille Krämer liest Austins »Inszenierung des Zusammenbrechens der Unterscheidung« als »Parabel für die Anfälligkeit aller Kriterien und das Ausgesetztsein aller definitiven Begriffe für die Unentscheidbarkeiten, die Unwägbarkeiten und Vieldeutigkeiten, die mit dem wirklichen Leben verbunden sind«. Krämer, Sybille: »Was tut Austin, indem er über das Performative spricht?«, in: Jens Kertscher/Dieter Mersch (Hg.), Performativität und Praxis, München 2003, S. 31.

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Sozialen noch aber um die am Werk –, sondern um die Problematisierung oder Thematisierung von Partizipation oder Teilnahme«38 und, hier wäre zu ergänzen, kollektiver Verantwortung. Es geht hier keineswegs darum, dem Prinzip des Boykotts einer solidarischen Gemeinschaft grundsätzlich eine Wirkung abzusprechen. Meine Überlegungen richten sich eher darauf, was diese Installation vorgibt zu tun und was sie tatsächlich verhandelt – denn als effektives Mittel der Drogenpolitik erscheint die Verzichtserklärung im Rahmen der Biennale doch unplausibel. Wäre es nicht ein krudes Vorgehen, die Besucher*innen derart in ein Scheitern einzubinden, wenn lediglich das Scheitern konstatiert wird? Mit Austin lässt sich zudem darauf verweisen, dass sich auch mit dem Misslingen von Äußerungen etwas vollzieht. Die Unwirksamkeit eines Sprechaktes »bedeutet nicht, dass man gar nichts getan hat – im Gegenteil sogar eine ganze Menge«39 . Der Sprechakt bleibt nicht ohne Folgen, er nimmt nur eine unvorhergesehene Wendung. In Blood Ties birgt das Scheitern, oder besser: die Möglichkeit des Nicht-Funktionierens, vor allem die kritischreflexive Dimension dieser Versuchsanordnung. Eine kritische Kunst erkundet nach Jacques Rancière »auch die Grenzen, die ihrer eigenen Ausübung eigen sind, sie weigert sich, ihre Wirkung vorwegzunehmen und beachtet die ästhetische Trennung, durch die diese Wirkung erzeugt wird. Diese Arbeit überprüft noch einmal die Aktivität der Zuschauenden, anstatt eine Passivität aufheben zu wollen.«40 Blood Ties zeichnet sich genau dadurch aus, dass es die sozialen und institutionellen Bedingungen der eigenen Produktion zum Gegenstand macht. Wenn ich diesen Beitrag als einen Kommentar zur Biennale lese, dann weil er die Reichweite und die Handlungsgerichtetheit künstlerischer Praxis zur Disposition stellt und die Handlungsdimensionen von Kunst reflektiert. Der Politiker Mockus erkennt das »elitäre Kunstkonzept«41 und dessen Logiken im Rahmen seiner Beteiligung an der Berlin Biennale an und fordert es zugleich heraus. Genau diese Logiken scheint die Biennale als Ausstellung ignorieren zu wollen, wenn die Konzeption so vehement nach der Meta-Politik eines gemeinsamen LebenWerdens (Jacques Rancière) verlangt, dass eine kritische und produktive Un38 39 40 41

Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, Hamburg 2013, S. 68. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979, S. 39. Rancière, Jacques: »Die Paradoxa der politischen Kunst«, in: Ders.: Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2008, S. 63-99, S. 93. Žmijewski/Warsza, Forget Fear (2012), S. 169 (»Wenn ich in der Falle sitze«).

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tersuchung der Trennlinie von Aktivismus und Kunst kaum mehr möglich erscheint und die spezifischen Handlungsräume künstlerischer und politischer Ansätze verloren gehen. »Die Berlin Biennale versprach«, so fassen die Künstler*innen Alice Creischer und Andreas Siekmann das kuratorische Dilemma zusammen, »die Schaubühne subventionierter Differenz endlich in Richtung des realen politischen Raumes zu verlassen. Sie vergaß dabei, dass sie selbst nicht die politische Realität ist, die sie in den vielen Initiativen zeigt.« Vielmehr unterschlage sie »diese repräsentative Spaltung« und zeige ihre Macht ganz unverhüllt, wie es etwa an der Ausstellung des »Occupy-Camps« sichtbar werde.42 Doch zugleich darf man nicht vergessen, dass der Aufruf zur unbedingten Wirksamkeit im realen Raum auch eine rhetorische Strategie der Provokation und der polemischen Überhöhung eines Künstlers ist, die sich gegen etablierte Verfahren der Diskursindustrie und des Ausstellungsbetriebs richtet. Und so lohnt es sich, die einzelnen Beiträge genauer in den Blick zu nehmen. Denn es finden sich auf der Biennale neben den Arbeiten von Teresa Margolles und Antanas Mockus, die so wenig in das Bild einer kausal-logischen Wirksamkeit passen wollen, zahlreiche Beiträge, die sich auf kritisch-reflexive Weise im Feld zwischen politischem Aktivismus und Kunst bewegen und deren je spezifische Interventionen in den gesellschaftlichen oder politischen Raum eigene Produktionsbedingungen keineswegs außer Acht lassen.

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Vgl. Creischer, Alice/Siekmann, Andreas: »Warum, warum gerade jetzt und in welcher Weise braucht die bürgerliche Gesellschaft politische Kunst so dringend?«, in: Springerin, Heft 4 (2012), S. 56.

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Positionen zur Kunst und Kultur in der Autonomen Bewegung der 1990er Jahre Ildikó Szántó

Im Frühjahr 1995 fand in Berlin ein überregionales Treffen autonomer Gruppierungen aus Deutschland unter dem Titel Autonomie-Kongreß statt. Diesen Kongress kann man als Bestandsaufnahme und Identitätssuche der radikalen Linken in ihrer Krise nach 1989 betrachten. Eines der Anliegen dieser Veranstaltung war, den theoretischen sowie praktischen Gehalt des Autonomiebegriffs für die Bewegung zu klären. Dabei tauchte immer wieder die Frage auf, inwieweit Autonom-Sein als rein politisches Konzept zu verstehen ist, oder eben als eine Angelegenheit, in der kulturelle Elemente eine wichtige Rolle spielen. Die Bruchlinien zwischen einem strikt politischen und einem kulturaffinen Selbstverständnis sind in den zum Kongress erschienenen Publikationen nachgezeichnet. Ausgehend von der Lektüre einzelner, teilweise sich widersprechender, aber sich im Anspruch der Zusammenführung von Kunst und Politik doch gleichender Beiträge in diesen Veröffentlichungen, erforscht der Aufsatz das spannungsreiche Verhältnis zwischen politischen und kulturellen Autonomieverständnissen dieses Milieus in dem spezifischen historischen Kontext der BRD der 1990er Jahre. Und so wird die oft gestellte Frage, wie das Kunstfeld denn mit Politik umgehe und welche Beziehung es zu ihr pflege, umgedreht: Wie verstand eine beziehungsweise diese politische Szene die Rolle von Kultur und Kunst für ihre Politik und welche Beziehungen pflegte sie zum Kunstfeld?

Die Autonomie der Autonomen »Politische Diskussionen sind nicht zu trennen von Leben, Spaß und Gegenkultur – auch nicht auf dem Autonomie-Kongreß. Das Zusammenkommen in diesen Tagen bekommt nur eine Bewegung, wenn sich Politik und Kul-

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tur nicht gegenüberstehen. Der Kongreß lebt davon, daß sich alle in diesem Sinne einbringen. Er lebt davon, daß die Aktivitäten zu Ostern ’95 – ob es sich um theoretische Diskussionen, Workshops, Theater, Filme, Ausstellungen, Partys, Musik, Sport, Essen oder sonstwas handelt – als Chance begriffen werden!«1 Hiermit endet der »Aufruf zum Autonomie-Kongreß«, ein Dokument, das von den Kongressinitiator*innen verfasst und unter anderem in der zum Kongress erschienenen zweiten Publikation abgedruckt wurde.2 Ein versöhnlicher Satz, der – ganz im Sinne des Kongresses – unterschiedliche Ansätze und Interessenschwerpunkte innerhalb der autonomen Szene miteinander ins Gespräch bringen wollte. Diese reichten von der Suche nach der »Zukunft militanter Politik«3 durch eine grundlegende Kritik an der informellen Organisationsform der Autonomen4 bis hin zu den Auseinandersetzungen über Kunst und Kultur, wie ihnen zum Beispiel das Thesenpapier »Wege in die Autonome Kultur – Kulturelle Autonomie?«5 nachgeht.

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O.A.: »Aufruf zum Autonomie-Kongreß. Ostern ’95 Berlin, Humboldt-Uni, Unter den Linden«, in: Kongreßini (Hg.), (r)eat it! reader. Autonomie-Kongreß-Reader (Teil II). o.O. [Berlin] o.J. [1995], S. 3-4, S. 4 [Hervorhebung im Original]. Die Texte aus diesem Kontext wurden alle entweder anonym, unter Angabe eines Pseudonyms, des jeweiligen Vornamens der Autor*innen oder einer Gruppenbezeichnung veröffentlicht. Zum Kongress erschienen insgesamt vier Publikationen: Drei vor dem Kongress und eine danach. Als erstes wurde 1994 das kongressvorbereitende Heft herausgegeben: Kongreßini (Hg.): Autonomie-Kongreß. Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. o.O. [Berlin] o.J. [1994]. 1995 erschienen ein zweites Heft: Kongreßini (Hg.): (r)eat it! reader sowie ein Buch: Kongreßlesebuch-Gruppe (Hg.): Der Stand der Bewegung. 18 Gespräche über linksradikale Politik. Lesebuch zum Autonomie-Kongreß, Berlin 1995. Als vierte Publikation folgte zwei Jahre später der Nachbereitungsreader: remixed unter wissenschaftlicher Betreuung des Institutes für Elbvertiefung, Bewegungslehre und Politikberatung Hamburg – Berlin – New York (Hg.): Autonomie-Kongreß der undogmatischen linken Bewegung. Standpunkte – Provokationen – Thesen, Münster 1997. O.A.: »Arbeitsgruppe ›Militanz und Autonomie‹«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 10-11, S. 11. FelS (Für eine linke Strömung): »AG Kritik der Autonomen«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 22. Zusammenfassend zur Entstehung dieser Gruppe, ihren Selbstwidersprüchen und ihrem Publikationsorgan arranca! siehe Schwarzmeier, Jan: Die Autonomen zwischen Subkultur und sozialer Bewegung, Göttingen 2001, S. 154-158. AG kultur fun und action: »Wege in die Autonome Kultur – Kulturelle Autonomie?«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 54-55.

Positionen zur Kunst und Kultur in der Autonomen Bewegung der 1990er Jahre

Die Idee des Kongresses entstand aus einem für die Autonomen typischen Konflikt heraus, während der szeneninternen Vorbereitung der Demonstration zum 1. Mai 1993 in Berlin. Ein Teil drückte seinen Unmut darüber aus, im anstehenden Straßenzug gemeinsam mit dogmatischen (stalinistisch-leninistischen) Gruppen marschieren zu müssen. Gleichzeitig merkte diese Fraktion aber auch, dass sie nicht in der Lage war, eine eigene, klare »politische Linie« in den Diskussionen zu diesem Thema zu formulieren6 beziehungsweise sich gegen den schweren Vorwurf des Rassismus (da die genannten Gruppen größtenteils aus Migrant*innen bestanden) angemessen zu verteidigen7 . Um diese Ratlosigkeit in den eigenen Reihen zu beheben, beschloss man, sich für die Debatten um die nächsten 1. Mai-Demos argumentativ vorzubereiten – ein Vorhaben, aus dem sich allmählich die Idee für den Autonomie-Kongreß herauskristallisierte.8 Aber was ist in diesem Kontext mit dem Begriff »die Autonomen« gemeint? Unter »den Autonomen«, wie der Begriff in diesem Text verwendet wird, versteht man eine schwer fassbare, informell organisierte, lose und heterogene soziale Bewegung, die Mitte der 1970er Jahre entstand.9 Aus der Lektüre der Readertexte zum Kongress wird deutlich, dass der Autonomiebegriff dieser Bewegung ein schillernder ist, den man am besten als ein Konglomerat verschiedener Elemente versteht: Ein Minimalkonsens bestand darin, dass unter Autonomie »Eigenverantwortung und Selbstbestimmung als gesellschaftspolitische Ziele und als Mittel zu ihrer Durchsetzung«10 verstanden 6 7 8 9

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O.A.: »Zur Einführung«, in: Kongreßlesebuch-Gruppe, Der Stand der Bewegung (1995), S. 8-31, S. 18. Vgl. dazu Geronimo: Glut und Asche. Reflexionen zur Politik der autonomen Bewegung, Münster 1997, S. 133-138. Zum Kongress im Allgemeinen ebd. S. 133-188. Vgl. dazu ebd. sowie o.A.: »Zur Einführung«, in: Kongreßlesebuch-Gruppe, Der Stand der Bewegung (1995), S. 8-31. Laut Klaus Farin tauchten die ersten, sich explizit »autonom« nennenden Gruppen ab 1980 in Westdeutschland beziehungsweise Westberlin auf. Vgl. Farin, Klaus: Die Autonomen, Berlin 2015, o. S. [E-book, Kapitel »Die Empörten«, Unterkapitel »Geschichte«]. Kongreßini: »Zum autonomen Grundrisse-Kongress. Antwort auf Käthe Kollwitz, (Interim Nr. 274)«, in: Kongreßini, Autonomie-Kongreß (1994), S. 6. Der Text benennt die zentralen Themen der Autonomen zu dieser Zeit: »Wer auf dieser Grundlage gegen Patriarchat und Kapital, gegen Rassismus, Sexismus und Ausbeutung kämpft, in der und dem sehen wir unsere GenossInnen, mit denen wir gerne auf dem Kongress zusammenkommen und über Erfahrungen, Probleme und anstehende Aufgaben reden wollen.« (Ebd.) Das Dokument war eine Antwort auf einen im Kommunikationsorgan der Autonomen, der Wochenzeitung Interim, erschienenen Text. Darin bemängelte die ostdeutsche Autorin unter anderem, dass der Autonomie-Kongreß nicht alle Linken

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wurden. Zusätzliche Aspekte, die explizit Erwähnung fanden, sind die Unabhängigkeit von Partei und Gewerkschaften (wie dies etwa in den Kämpfen der italienischen Operaist*innen anzutreffen war), der Widerstand gegen das Patriarchat, sowie Autonomie »als Freiheitsbegriff aus der deutschen Aufklärung (Kant)« und als »Abgrenzung der undogmatischen und spontan organisierten Kräfte gegenüber der Partei-orientierten kommunistischen Gruppen in der Anti-Atomkraftwerk-Bewegung ab Mitte der 70er Jahre«11 . Die beiden letzten Aspekte sind besonders wichtig, da sie den hier besprochenen politischen Autonomiebegriff historisch verorten: zum einen in der abendländischen Ideengeschichte der Aufklärung durch die Erwähnung Kants. Robert Foltin, ein Geschichtsschreiber der autonomen Bewegung, sieht die Verbindung des politischen Autonomiebegriffs zu Kant in der Hervorhebung des Willens und der Freiheit von Individuen im Gegensatz zu den fremdbestimmten Regeln einer vorschreibenden Sittlichkeit.12 Zum anderen werden durch den Bezug auf die Differenzierungsprozesse innerhalb der Linken die spezifischen historischen Bedingungen der autonomen Bewegung in Deutschland deutlich. Sie entstand in den 1970er Jahren, als ein Teil der linken Szene sich zunehmend von den dogmatischen, teils parteiförmig organisierten, marxistisch-leninistischen Organisationen abgrenzte.13 Der autonome Bewegungsflügel der undogmatischen Linken war

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zur Teilnahme einlud und die westdeutschen Gruppen mit ihren Themen die Debatte dominierten. Außerdem schrieb sie den Begriff »Autonome« der Geschichte der BRD und damit der Vergangenheit zu. Vgl. Kollwitz, Käthe: »Auf dem Holzweg ins 21. Jahrhundert. ›Risse‹ autonomer Politik«, in: Kongreßini, Autonomie-Kongreß (1994), S. 6. Eine Kritik, die in der Antwort der Kongressinitiator*innen nicht beachtet wurde und die auch deshalb zur Verortung der in diesem Aufsatz behandelten Diskurse dient: Es ist ein mehrheitlich westdeutscher Diskurs, bis auf eine Ausnahme, die weiter unten im Text besprochen wird. I. und L., Kongreßini: »Arbeitsgruppe zum Autonomie-Begriff für den Kongreß Ostern ’95«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 6-7, S. 6. Wiederabgedruckt unter dem Titel »Thesen zum Autonomiebegriff«, in: remixed, Autonomie-Kongreß der undogmatischen linken Bewegung (1997), S. 16-19. Vgl. Foltin, Robert: Autonome Theorien – Theorien der Autonomen?, Wien 2015, S. 18. Foltin fügt hinzu, dass der autonomen Bewegung die Kollektivierung dieser individuellen Vernunft sehr wichtig war. Vgl. ebd. Haunss, Sebastian: »Antiimperialismus und Autonomie. Linksradikalismus seit der Studentenbewegung«, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. 2008, S. 505-532. George Katsiaficas hebt in seiner Genealogie der deutschen autonomen Bewegung die prägende Rolle der autonomen Frauengruppen der 1970er Jahre hervor, welche als Re-

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mehr zu spontanen Aktionen bereit, argumentierte auf die erste Person bezogen und weniger ökonomistisch und schloss somit alle Lebensbereiche in seine Gesellschaftskritik mit ein. Er beschränkte sich nicht auf die Analyse des Produktionsbereiches, wie dies noch im klassischen Marxismus üblich war. Dies war eine Antwort auf die Unzulänglichkeiten der organisierten Linken nach 1968, darunter etwa deren problematisches Verhältnis zur Sowjetunion, ihre hierarchische Struktur und ihre Fixiertheit auf die Arbeiterschaft als revolutionäres Subjekt.14 Politik autonom zu betreiben hieß in diesem Zusammenhang die Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols, Selbstverantwortung, Unabhängigkeit, spontane und ungewöhnliche Aktionsformen, die Hervorbringung alternativer Räume sowie ein Fokus auf den Reproduktionsbereich.15 Standen in den 1970er und 1980er Jahren antiimperialistische Kampagnen und lokale, thematische Aktionen (wie zum Beispiel die Anti-AKW Bewegung oder die Proteste gegen die Startbahn West in Frankfurt a.M.) sowie Stadtteilinitiativen und Hausbesetzungen im Mittelpunkt der Bewegung, war dagegen in den 1990ern eine Verschiebung – als Reaktion auf den erstarkten Rechtsradikalismus im wiedervereinigten Deutschland – hin zum antifaschistischen Widerstand und zum Konzept der triple oppression zu beobachten.16 Historische Überblicke über die autonome Bewegung unterstreichen ihren subkulturellen Charakter, ihre Szenehaftigkeit und ihre Anlehnung an die Jugendkultur.17 Gleichzeitig wird auch die Heterogenität der Szene betont,

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aktionen auf die patriarchalen Strukturen in der Linken entstanden. Vgl. Katsiaficas, George: The subversion of politics. European autonomous movement and the decolonization of everyday life, Oakland/Edinburgh 1997 [2006], S. 67-80. Einen historischen Kristallisationspunkt dieses Ausdifferenzierungsprozesses einer nicht-dogmatischen, lebensbezogenen Linken im Gegensatz zu den marxistisch-leninistischen Organisationen stellte der Tunix-Kongress im Januar 1978 dar. Siehe dazu Anina Falasca/Annette Maechtel/Heimo Lattner (Hg.): Wiedersehen in Tunix! Ein Handbuch zur Berliner Projektkultur, Berlin 2018. Vgl. dazu zusammenfassend Schulze, Thomas/Gross, Almut: Die Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profil der Autonomen, Hamburg 1997, S. 11-40. Zu den Verschiebungen in den zentralen Themen der Bewegung siehe G. Katsiaficas: The subversion of politics 2006, S. 59-100 und S. 153-180. Vgl. K. Farin: Die Autonomen 2015, o. S. [E-book, Kapitel »Autonome – eine Jugendszene?«]; S. Haunss: Antiimperialismus und Autonomie 2008, S. 527f; Hillenkamp, Sven: »Die Autonomen. Zwischen kultureller Wirklichkeit und politischer Wirksamkeit«, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 8 (1995/2), S. 54-66; J. Schwarzmeier: Die Autonomen zwischen Subkultur und sozialer Bewegung 2001.

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welche sich beispielsweise in unterschiedlichen Haltungen (strikte Ablehnung oder Aufgeschlossenheit) zum Rauschmittelkonsum oder aber zur (Pop)Kultur niederschlug.

Die Positionen zur Kunst und Kultur in den Dokumenten des Autonomie-Kongreßes Der Autonomie-Kongreß 1995, an dem ca. 1.670 Menschen teilnahmen18 , wurde offen strukturiert – es gab zentrale Plena wie dezentrale Kleinplena, im Vorfeld geplante, aber auch spontane Arbeitsgruppen, sowie zahlreiche Programmpunkte um den Kongress herum, darunter Infowände, Partys, Konzerte, Filmvorführungen und Volksküchen sowie eine Demonstration am letzten Tag gegen die Abschiebehaftanstalt in Berlin-Moabit.19 Die Debatten um die Struktur und die inhaltlichen Schwerpunkte des Kongresses beziehungsweise die Konzeptpapiere zu den einzelnen AGs wurden in den zwei noch vor dem Kongress erschienenen und bereits erwähnten Kongressreadern veröffentlicht.20 Die unterschiedlichen Positionen zum Verhältnis einer »Politik der ersten Person« zur Kunst- wie Kulturproduktion und Rezeption lassen sich mit etwas Anstrengung aus diesen unübersichtlichen Textsammlungen extrahieren, in denen die von den AGs verfassten Ankündigungen im selbstgebastelten Layout ohne redaktionelle Überarbeitung abgedruckt wurden. Taucht im allerersten Reader das Thema »Kultur« noch gar nicht auf, nimmt es in dem zweiten umso mehr Raum ein.21 Dies verdankt sich der Tatsache, dass sich innerhalb der Gruppe der Kongressinitiator*innen eine sogenannte Kultur AG (welche auch unter den Namen AG kunstkulturfunaction22 beziehungsweise AG 18 19 20 21

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Vgl. O.A.: »Richtigstellung«, in: konpress, Sonntag, 16.4.1995, Abendausgabe, o.S. [S. 8]. Das sich ständig ändernde Programm des Kongresses findet man in den sechs Ausgaben der Kongresszeitung konpress zerstreut. Kongreßini, Autonomie-Kongreß (1994) und als Fortsetzung Dies., (r)eat it! reader (1995). Vgl. ebd. Die Zentralität des Themas »Kultur« hebt auch die Besprechung des vierten Readers in der Infozeitschrift des Leipziger Veranstaltungsortes Conne Island hervor: O.A.: »Autonomiekongreß: Die schwere Geburt, sowie publizistische Vor- und Nachwehen«, in: CEE IEH. der conne island newsflyer, Nr. 37, 1997. Online verfügbar unter: https://www.conne-island.de/nf/37/20.html (Onlinearchive der CEE IEH). Vgl. AG kultur fun und action: »Wege in die Autonome Kultur – Kulturelle Autonomie?«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 54-55 und O.A.: »Gegenkultur – Kunst

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Fun und Action23 agierte) bildete, die sich der Organisation des gesamten Kulturprogramms während des Kongresses widmete und sich laut der Protokolle der Treffen im Vorfeld überaus aktiv in die Kongressvorbereitung einbrachte.24 Das geplante Kulturangebot umfasste sehr unterschiedliche Formate, unter anderem Videoscreenings, Lesungen, Theorie-AGs, Konzerte, Partys, einen Siebdruckworkshop und Ausstellungen von Plakaten beziehungsweise von »künstlerische[n] Arbeiten von Szene-Menschen«25 – eine Vielfalt, die die Weite des Kulturverständnisses der Kultur AG bereits andeutet, wie sie weiter unten noch ausführlicher dargelegt wird. Im Folgenden fasse ich vier charakteristische Positionen zusammen. Die ersten drei Standpunkte werden in der Reihenfolge ihrer Entfernung vom eng gefassten Kunstfeld präsentiert: Zunächst die Position der Kultur AG, welche die Trennung von Politik und Kultur in der autonomen Szene diskutiert und beinah ohne Hinweis auf den institutionalisierten Kunst- und Kulturbetrieb auskommt; anschließend die Position der AG Kunst + Politik, welche zwar mit Referenzen aus dem Kunstfeld operiert, doch einen aktionistischen Kunsteinsatz befürwortet; daraufhin wird die Position des Zusammenschlusses aufgezeigt, welcher die Veranstaltung u.a. Copyshop organisierte, sich aus drei Künstler*innengruppen zusammensetzte und an den politischen, projektorientierten Rändern des damaligen Kunstfeldes lokalisiert werden kann. Die vierte Position, die ich die der »ostdeutschen Hedonist*innen« nenne, ist zwar am weitesten entfernt vom Kunstfeld, sie wird aber dennoch am Ende dieser Reihe platziert, weil sie ein neues und wichtiges Thema, nämlich den Konflikt zwischen Ost und West in der autonomen Szene, aufwirft. Sie ist Verfechterin eines informellen, genussorientierten, antiintellektuellen Kunstund Kulturverständnisses.

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– Politik«, in: ebd., S. 65. Dafür, dass sich hinter all diesen Namen wohl dieselbe AG verborgen haben muss, nämlich die AG Kultur, spricht zudem, dass jeder dieser Texte (wenn auch auf unterschiedliche Weise) für das Zusammenführen von Kunst, Kultur und Politik argumentiert. O.A.: »Ein einziges Protokoll von den letzten beiden offenen Autonomie-Kongreßtreffen am 20.9. und vom 18.10.94 im Blauen Salon«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 51-53, S. 52. Sie legten sogar ein nicht ausgearbeitetes Konzept für die Struktur des ganzen Kongresses vor. Vgl.: O.A.: »Strukturvorschlag aus Berlin«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 58-59. O.A.: »Kultur«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 33.

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Die Position der Kultur AG beziehungsweise der Kongressinitiator*innen Die Mitglieder der Kultur AG etablierten im zweiten Vorbereitungsreader zum Kongress eine vier Seiten umfassende Sektion für eine »Übersicht über Praxis und Theorie der Kultur«.26 Der kleinste gemeinsame Nenner der drei Beiträge dieser Sektion (eine Programmankündigung und zwei Statements von einzelnen, nur mit Vornamen genannten Mitgliedern der AG) ist die Kritik daran, dass in der autonomen Szene Politik und Kunst beziehungsweise Kultur voneinander getrennt werden und letzteren nur eine Reproduktionsfunktion (im Sinne einer Freizeittätigkeit) zugewiesen wird.27 Diese Trennung sieht »Phillipe« von der Kultur AG durch einen hegemonialen Kulturbegriff (womit wahrscheinlich ein von der Sphäre der Politik getrennter, im herkömmlichen, kunstphilosophischen Sinne »autonomer« Kunst- und Kulturbegriff gemeint ist) begründet.28 Neben dieser Reduktion auf eine Erholungsfunktion sei noch eine zweite Herangehensweise an Kunst und Kultur in den Kreisen der Autonomen erkennbar, und zwar ihr rein instrumenteller Einsatz als Vermittlerin politischer Inhalte. »Phillipe« sieht beide Ansätze als Beispiele eines »funktionalisierenden blick[es] auf kunst/kultur im verhältnis zu politik«29 . Dies ergänzend schlägt »Mafalda c/o Kultur-AG« in dem darauffolgenden Text vor, der »abspaltung und hierarchisierung zwischen ›kunst‹ und ›kultur‹« entgegenzuwirken, damit es nicht »zum einen zu einer verarmung der politischen ausdrucksmöglichkeiten, zum anderen zu einer entpolitisierung unserer [der kulturschaffenden Autonomen, IS] ›privaten‹ kulturellen praxis« komme.30 Die Kultur AG spricht sich daher für einen erweiterten Kulturbegriff inklusive bildender Kunst, Popkultur bis hin zur Alltagskultur aus. Wird Kultur so breit gefasst, bestehe zwar die Gefahr, dass sie leichter von der Konsumgesellschaft vereinnahmt werden könne, doch eröffne sich so auch die Möglichkeit, sie immer wieder subversiv zu wenden. Deswegen sei es wichtig,

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In dieser Form taucht der Titel nur im Inhaltsverzeichnis des Readers auf. Vgl. »Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert! Autonomie-Kongreß-Reader« [Inhaltsverzeichnis], in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 2. O.A.: »Kultur«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 33; Phillipe, »kultur« AG: O.T., in: ebd., S. 34; Mafalda c/o Kultur-AG: »Kunstkulturfunundaction«, in: ebd., S. 35-36. Phillipe, »kultur« AG: O.T., in: ebd., S. 34. Ebd. Mafalda c/o Kultur-AG: »Kunstkulturfunundaction«, in: ebd., S. 35-36, S. 35.

Positionen zur Kunst und Kultur in der Autonomen Bewegung der 1990er Jahre

sich innerhalb der autonomen Szene selbst künstlerisch zu betätigen, anstatt bürgerliche Kultur passiv zu konsumieren.31 Vielleicht ist es Folge dieses umfassenden Verständnisses von Kunst- und Kultur der Kultur AG, dass in der »Übersicht über Praxis und Theorie der Kultur« die historische Eingebundenheit dieses sozialen Feldes in gesellschaftliche Machtverhältnisse (zum Beispiel der Zusammenhang der Ausdifferenzierung des Kunstfeldes mit dem Erstarken des Bürgertums) getrennt von den Formen, die dieses Feld hervorbringt, betrachtet wird.32 Nicht wird die sozialhistorische Prägung des Feldes akzentuiert, sondern es wird das kreative Potenzial der Verwendung der Formen, die in diesem Feld entstehen, hervorgehoben; und als Antwort auf die Möglichkeit einer Vereinnahmung der Kreativität wird eine aktive, alltägliche, kulturelle Subversion eingefordert. Eine Eigentümlichkeit (und vielleicht auch ein politisches Potenzial) nicht-repräsentativ organisierter Bewegungen ist, dass das Profil einer Gruppe innerhalb der Bewegung, je nachdem, wer in ihrem Namen anonym spricht beziehungsweise schreibt, ganz unterschiedlich anmuten darf, während der Wille zur Kollektivität durch die Zuweisung der Äußerungen zur gesamten Gruppe trotzdem erkennbar bleibt.33 In diesem Sinne einer ausfransenden, aber doch Gemeinsamkeiten behauptenden Kollektivität fallen die abweichende Problemstellung und der Stil des Aufruftextes zu einem der Berliner Vorbereitungstreffen für die Planung des Kulturprogrammes auf, welches ebenfalls von der AG kunstkulturfunaction (i.e. Kultur AG) initiiert wurde. Das unter dem Titel »Gegenkultur – Kunst – Politik«34 erschienene 31 32

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Ebd., S. 35f. »[D]ie tatsache, daß bestimmte künstlerische formen von der herrschenden kultur vereinnahmt werden, spricht nicht zwangsläufig gegen diese formen. Wir müssen eher danach fragen, mit welchen absichten und für welche menschen künstlerInnen arbeiten und in welchem kontext ihre arbeiten rezipiert werden.« Ebd., S. 35 [Fehler im Original]. Siehe dazu die Grundsatzdiskussionen um Kollektivität und Individualität im Text zur als Auftakt zum Kongress vorgeführten theatralen Darbietung der Kongressinitiator*innen, in dem die aktuell wichtigsten Themen der Bewegung angesprochen werden. Unter den fünf Charakteren des Stücks befindet sich auch der »Innovator«, der die Subkultur für den Markt zu vereinnahmen sucht. Vgl. O.A.: »Autonomie ist selbstbestimmte Abhängigkeit. Text zur Eröffnungsveranstaltung des Autonomie-Kongreßes. Streitgespräch zwischen fünf allegorischen Figuren«, in: remixed, Autonomie-Kongreß der undogmatischen linken Bewegung (1997), S. 20-35. O.A.: »Gegenkultur – Kunst – Politik«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 65. Das angekündigte Treffen soll am 12.12.1994 stattgefunden haben.

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Dokument äußert wiederholt die Absicht der vielnamigen AG, ein kulturelles Programm zum Kongress zusammenzustellen, »welches sich nicht als begleitprogramm der politischen diskussionen versteht, sondern vielmehr als eigenständige form gesellschaftlicher auseinandersetzung (intervention) begreift.«35 Doch hat dieser Aufruf einen anderen Ausgangspunkt als die sonstigen Schriften der AGs: Anstatt die Nebensächlichkeit kultureller Produktion in Kreisen der Autonomen zu beklagen, schildern die Auftaktabsätze die Wichtigkeit gegenkultureller Räume für die politische Aktivität, aber auch die Gefahr, sich von der sie umgebenden sozialen Wirklichkeit zu isolieren und zu »subkulturellen inseln« zu verkommen, die leicht von der »herrschende[n] kulturwelt« usurpiert werden könnten.36 Von dieser Problematik ausgehend fragt der Aufruf nach den Möglichkeiten einer Allianz zwischen Kulturschaffenden und politisch Aktiven und spricht damit die Grenzen zwischen den beiden Szenen an.37

Die Position der AG Kunst + Politik Leider ist es mir nicht möglich, mit absoluter Sicherheit festzustellen, welche der in der Planung der Kultur AG aufgelisteten AGs und Veranstaltungen tatsächlich stattfanden und in welcher Form.38 Dem Nachbereitungsreader und der Tageszeitung des Kongresses (konpress genannt) ist immerhin zu entnehmen, dass die AG Kunst + Politik – eine AG, die höchstwahrscheinlich der Kultur AG nahestand, oder sich vielleicht auch mit ihr überlappte – realisiert wurde.39 35 36 37

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Ebd., Sandy Kaltenborn, einer der Gründer der Kultur AG, bestätigte im Gespräch mit der Autorin am 17.10.2019, dass dies das zentrale Anliegen der AGs gewesen sei. O.A.: »Gegenkultur – Kunst – Politik«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 65. »[W]ie ist das verhältnis von kulturschaffenden und künstlerInnen zu der politischen/linksradikalen/autonomen scene ? wo laufen die abgrenzungen (der diversen scenen) untereinander, wo inspirieren sie sich – kommen sie zusammen?« Ebd. [Fehler im Original]. Vgl. O.A.: »Kultur«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 33. Siehe Hinweis in O.A.: »Differenzen Spaltungslinien Solidarisierung«, in: remixed, Autonomie-Kongreß der undogmatischen linken Bewegung (1997), S. 49-52, S. 52; O.A.: »Verzeichnis aller Arbeitsgruppen auf dem Kongreß«, in: ebd., S. 156-157. Ebenso ist in konpress Nr. 1 ein »Raum[-] und Zeitverteilungsplan für den Autonomie-Kongreß« abgedruckt, in dem für den dritten Tag des Kongresses, den Sonntag, eine Raumbelegung für u.a. Copyshop aufgelistet ist. Vgl. O.A.: »Der Raum und Zeitverteilungsplan für den

Positionen zur Kunst und Kultur in der Autonomen Bewegung der 1990er Jahre

Der Ankündigungstext dieser AG wurde im zweiten Reader, direkt nach der vorhin besprochenen Sektion »Übersicht über Praxis und Theorie der Kultur«, abgedruckt.40 Er hebt sich von den restlichen, schwer lesbaren Beiträgen des Readers durch sein wohlüberlegtes Layout, seine Zitate von namentlich gekennzeichneten, philosophischen Autoritäten wie Guy Debord, Gilles Deleuze und Karl Marx – und durch sein Auftaktfoto mit sorgfältig angeordneten (Spielzeug?-)Pistolen ab.

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AG Kunst + Politik: »Kunst + Politik«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 37-40, S. 37.

Letzteres spielt auf die Aussage des Textes an, nach dem die »zweckentfremdete« Wiederverwendung der formalen Strategien von Dadaismus, Surrealismus und Situationismus (und damit der drei wiederkehrenden kunsthistorischen Referenzpunkte der Diskussion über Kultur in diesem Milieu)

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Autonomie-Kongreß«, in: konpress, Nr. 1, Donnerstag, 13.4.1995, o.S. [S. 1-3, S. 3]. In derselben Ausgabe ist wenig später eine Ankündigung für einen weiteren Büchertisch der AG Kunst + Politik sowie für die Veranstaltung von u.a. Copyshop zu finden. Vgl. ebd., o.S. [S. 6]. In konpress, Nr. 4, Abendausgabe von Sonnabend, 15.4.1995, o.S. [S. 6] stehen im Programm des nächsten Tages ein Diavortrag der AG Kunst + Politik ab 14 Uhr im Raum MA 143 sowie ein anderer ab 16 Uhr von u.a. Copyshop zu »Ästhetik und Widerstand«. Somit fanden beide Vorträge in unterschiedlichen Räumen, zu unterschiedlichen Zeiten statt. Inwiefern sie miteinander in Verbindung standen, bleibt unklar. AG Kunst + Politik: »Kunst + Politik«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 37-40.

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in einer neuen Kunst münde, die sich nicht von Politik trennen lasse und eine reale Veränderung der Gesellschaft bewirke. Dieses Vorgehen der Zweckentfremdung alter Formen wird mit der militanten Metapher einer »umgebaut[en] Spielzeugpistole[,] mit der sich scharf schiessen läßt«41 , anschaulich gemacht. Der Text bemängelt den Individualismus im Kunstfeld, der dort trotz Bemühungen um Grenzüberschreitungen in das Soziale hinaus vorherrsche. Am Ende des Dokuments wird ein AG-Stand angekündigt, der während des Kongresses zum Sammeln der Positionen zur AG Kunst + Politik dienen soll. Die um die Metapher der Spielzeugpistole aufgebaute Hauptthese mutet wie eine radikalisierte, auf die gelegentliche Militanz der Autonomen anspielende Neuformulierung des in Texten der Kultur AG vorkommenden Anspruches an, Kunst und Politik zusammenzuführen.

Autonomennahe Kunstschaffende und die »politische Option« der Gruppe u.a. Copyshop Unter einer anderen, zweiten Annoncierung des Büchertisches der AG Kunst + Politik, in der Kongresszeitung konpress, befindet sich eine halbseitige Ankündigung: »Botschaft e.V. – BüroBert – minimal club macht am Sonntag nachmittag ne [sic] Veranstaltung unter dem Titel ›u.a. CopyShop‹« (Abb. 2).42 Die Nennung der drei Gruppen sowie die Meldung, was bei dieser Veranstaltung zu sehen sein wird, weisen darauf hin, dass es sich bei den Organisator*innen um kunstfeldnahe Akteur*innen handelte: Es werde ein Video zur Blockade der Ausstellung Deutschsein in der Düsseldorfer Kunsthalle vom dor-

41 42

Ebd., S. 38. O.A.: »u.A. Copyshop«, in: konpress, Nr. 1, Donnerstag, 13.4.1995, o.S. [S. 6].

Positionen zur Kunst und Kultur in der Autonomen Bewegung der 1990er Jahre

Abbildung 2

O.A.: »u.A. Copyshop«, in: konpress, Nr. 1, Donnerstag, 13. April 1995, o.S. [S. 6].

tigen Wohlfahrtsausschuss gezeigt,43 das Ausstellungsprojekt Geld Beat Synthetik werde präsentiert44 und das Radioprojekt 70/90 diskutiert.45 43

Die »Wohlfahrtausschüsse« waren »lose, nicht parteipolitisch oder verbandmäßig organisierte Zusammenschlüsse von Leuten aus der popkulturellen Linken (MusikerInnen, KünstlerInnen, AutorInnen etc.), der klassischen autonomen Antifa und/oder Uni-

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Höchstwahrscheinlich von denselben drei Gruppen stammt auch der Text »Autonomie Kunst. Autonomie in der Kunst?« in der zweiten Ausgabe von konpress.46 Nach eigener Aussage fasse er »die Position dreier Gruppen zusammen, die vom gesellschaftlich ›Kunst‹ genannten Bereich heraus arbeiten« und die sich nicht im engeren Sinne als der autonomen Szene zugehörig verstehen. Damit gilt der Text in diesem Zusammenhang als Ausnahme, da er die Perspektive der den Autonomen nahestehenden Kulturschaffenden vertritt und nicht die der Autonomen auf die Kunst, wie die anderen, hier besprochenen Ansätze. Die anonymen Autor*innen schildern den Gegensatz zwischen einer eng gefassten Kunstautonomie – im Sinne der NichtInvolviertheit künstlerischer Produktion in den sie umgebenden gesellschaftlichen Umständen – und einer, diese Autonomie in Frage stellenden Kunst. Kunst sei immer im Kontext der »politischen, ÷konomischen [sic] und ideologischen Interessen« zu deuten, der sie umgibt. Das Gegenmodell zum Phantasma der autonomen Kunst sieht die Gruppe in einer Kunstauffassung, die auf der »politischen Option« in der Kunst beharre und nicht nur das Produzierte, sondern auch ihre ökonomischen wie sozialen Produktionsbedingungen als konstitutive Elemente begreife und einer Analyse unterziehe. Damit spricht sich die Gruppe auch gegen die Trennung von »politischem Inhalt« und »ästhetischer Form« aus. Eine solche Trennung entspräche einem durchideologisierten, konservativen Verständnis von Kunst, welche – ihre Autono-

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Linken«, die sich seit 1992 in Hamburg, Köln, Düsseldorf, Frankfurt a.M. und München organisierten. Heiser, Jörg: »Die Wohlfahrtausschüsse«, in: Marius Babias (Hg.), Im Zentrum der Peripherie. Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren, Dresden/Basel 1995, S. 251-266, S. 251. Siehe dazu den Katalog: BüroBert/minimal club/Susanne Schulz (Hg.): geld.beat.synthetik. Copyshop2 , Berlin/Amsterdam 1996. 70/90, 96,0 fm war ein Radioprojekt derselben drei Künstler*innengruppen, welches in den Räumen der Ausstellung dagegen-dabei 1995 im Kunstverein Hamburg stattfand. Gesendet wurde es im Hamburger Offenen Kanal. Siehe dazu O.A.: »70/90, 96,0 fm«, in: Hans-Christian Dany/Ulrich Dörrie/Bettina Sefkow (Hg.), dagegen dabei. Texte, Gespräche und Dokumente zu Strategien der Selbstorganisation seit 1969, Hamburg 1998, S. 319. Einen inhaltlichen Einblick in die Sendung bietet Maechtel, Annette: Das Temporäre politisch denken. Raumproduktionen im Nachwende-Berlin am Beispiel von Botschaft e.V. (1990-1996), im Erscheinen bei b_books Berlin. O.A.: »Autonomie, Kunst. Autonomie der Kunst?«, in: konpress, Nr. 2, Freitag, 14.4.1995, o.S. [S. 2-4]. Den Hinweis auf diesen Text habe ich Annette Maechtel zu verdanken. Eine Analyse desselben unter dem Aspekt der Kunstauffassung von Botschaft e.V. findet sich in A. Maechtel: Das Temporäre politisch denken.

Positionen zur Kunst und Kultur in der Autonomen Bewegung der 1990er Jahre

mie behauptend – ihre politische Involviertheit leugne (wofür der Einsatz des abstrakten Expressionismus im Kalten Krieg als Beispiel genannt wird). Im Gegensatz zu den im vorherigen Abschnitt besprochenen Texten der Kultur AG betont dieser Text das Eingebettet-Sein des Kunstfeldes in die beziehungsweise seine soziale Bestimmtheit durch die Gesellschaft. Dabei wird Kunst sehr spezifisch als ein Produkt des Kunstfeldes mit seinen Akteur*innen, Institutionen und historischen Bedingungen verstanden und weniger als eine sich in den Alltag ausfransende kreative Aktivität einzelner, wie sie in den Schriften der Kultur AG umschrieben wird. Ebenso distanziert sich das Schreiben explizit von einem emphatischen Kreativitätsbegriff, der seine Verstrickung mit dem Sozialen ausblendet. Doch der Text teilt mit denen der Kultur AG den Anspruch, Kunst und Politik zusammenzudenken, etwa wenn er feststellt: »Es bringt daher fnr eine gesellschaftskritische Perspektive nichts ein, Kunst & Politik zu trennen bzw. eine solche Trennung als gegeben zu betrachten. Das heißt nicht, reale Trennungen zu ignorieren: Warum bspw. KulturakteurInnen eine willentliche bzw. unwillentlich ergriffene Sonderrolle (Narrenfreiheit) genießen, indem sie fnr politische Projekte Geld bekommen, auf das bspw. Autonome Gruppen fnr eine vergleichbare Arbeit gar nicht erst spekulieren können.«47 »Reale Trennungen« zu untersuchen, wie es hier dargelegt ist, steht den Ansätzen sehr nahe, die zu diesem Zeitpunkt im Kunstfeld unter dem Stichwort »Institutionskritik« kursierten und Kunst explizit als ein soziales Feld auffassten.

Ostberliner Hedonist*innen und der Ost-West-Konflikt Forderten die bisherigen Positionen zu Kunst und Kultur innerhalb der autonomen Szene eine Nicht-Trennung oder Annäherung von Kunst und Politik oder politischer Szene, taucht in denselben Readern auch eine Stellungnahme auf, die eine solche Trennung nicht wahrhaben möchte. Ebenso unterscheidet sich der hier vertretene Kunstbegriff von den bisher besprochenen. Es geht dabei um eine konzeptuell wenig ausgearbeitete, hedonistische Herangehensweise, welche sich in der Initiative zur Organisation der zum Kongress parallel stattfindenden Internationalen Spaßtage in Berlin niederschlug.48 Wie

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Ebd., o.S. [S. 3] [Schreibfehler („fnr“) im Original]. Die Spaßtage wurden durch eine ostdeutsche Gruppe organisiert, die sich in den Kongressvorbereitungstreffen nicht gleichbehandelt fühlte. Sie fanden ergänzend

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die Ankündigung öffentlich macht, waren zu dieser Veranstaltung alle eingeladen, »die keinen Bock haben, sich unterbuttern zu lassen« und die »feiern, leben, musizieren« wollen, wie es ihnen passt.49 Wie aus einer Stellungnahme von »fünf Ostberliner Autonome[n]« zum Kongressvorbereitungstreffen in der Roten Flora in Hamburg (Februar 1995) ersichtlich wird,50 war die Idee der Spaßtage Resultat ihrer Frustration über die westdeutsch-dominierten Treffen, welche aus ihrer Sicht weder die Unterschiede ost- und westdeutscher Begriffsverwendungen berücksichtigten noch sich von einer bürokratischen Haltung der minutiösen Planung lossagen konnten.51 Der Bericht der »fünf Ostberliner« ist nicht nur deswegen interessant, weil er ein unreflektiertes Bestehen auf Informalität, Spontanität und Spaß, und eine – den Autonomen oft nachgesagte – antiintellektuelle Haltung demonstriert.52 Er ist auch deswegen von Belang, weil er zwischen den Zeilen die Unsensibilität der ostund westdeutschen Gruppierungen bezüglich der Erfahrung und Sozialisation der jeweils anderen durchscheinen lässt. Die Autor*innen beschreiben, dass sie gegenüber dem Organisationsplenum eine als »destruktiv und pubertär« wahrgenommene Haltung einnahmen und dass sich spätestens »beim Begriff der ›Kulturschaffenden‹ […] die Mehrzahl der Menschen aus dem Osten vor lachen [sic] nicht mehr halten konnte[].«53 Worauf dieser Satz anspielt, wird den heutigen Leser*innen nur nach kurzer Recherche klar. Der

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zum Kongress in den besetzten Häusern Ostberlins statt und waren »eher auf kultureller Ebene angesiedelt«. Vgl. O.A.: »Interview der Zeitung Graswurzelrevolution (GWR) vom Mai 1995 mit Thomas, Libertäres Forum Frankfurt/M. über den AutonomieKongreß, Ostern ʼ95«, in: remixed, Autonomie-Kongreß der undogmatischen linken Bewegung (1997), S. 140-142, S. 140. O.A.: »Aufruf für internationale SPASSTAGE Berlin«, in: Kongreßini, (r)eat it! reader (1995), S. 41. O.A.: »Ostern und so! Fünf Ostberliner Autonome und ein Hund reisten zur Vorbereitung des autonomen Kongresses«, in: Ebd., S. 73. Ebd. »[D]a gibt’s ja auch noch diejenige [sic], die mit so einem tollen, mit viel Mühe vorbereiteten und prima geplanten Kongreß einfach nix anfangen können. Nicht, daß sie es nicht auch versucht hätten, doch schon beim Versuch, Diskussionspapiere zu lesen, soll einigen von ihnen schlecht geworden sein […].« Ebd. Ebd. Auf weitere Kommentare oder eine Erklärung, was genau an dem Begriff so lustig war, verzichtet der Text. Eine andere Stellungnahme ostdeutscher Gruppen gibt er aber in einer zugespitzten Kritik der »Westautonomen« zum Begriff an: »Es ist eben ein Wort der DDR Sprache und sein ernsthafter Gebrauch zeigt wieder einmal, daß das Verhältnis des Westwiederstandes [sic] zur DDR, seine Sympathie mit dem ›besseren deutschen Staat‹ überhaupt nicht reflektiert worden ist.« O.A.: »Schon wieder Autono-

Positionen zur Kunst und Kultur in der Autonomen Bewegung der 1990er Jahre

Begriff »Kulturschaffende« gilt bis heute als eine emanzipative Bezeichnung für die im Kulturbereich Tätigen, mit dem ihre Eingebundenheit in der sie umgebenden sozialen und ökonomischen Ordnung hervorgehoben werden soll. Allerdings konnte ebendieses Wort, das sich gegen ein geniales Künstlerbild wendet, welches sich von der Gesellschaft durch seinen nicht-entfremdeten Schaffensmodus abhebt, im Jahr 1995 für ostdeutsche Ohren einen repressiven Nebenton besitzen, da er in der DDR den Künstler*innen aufgezwungen wurde. Solche Widersprüche und Missverständnisse konstruktiv zu klären, schien im Rahmen des Autonomie-Kongreßes – der oft für die Abwesenheit von ostdeutschen Gruppen, aber auch von Frauen- und Migrant*innenzusammenhängen kritisiert wurde – genauso wenig möglich, wie es der früheren Tournee der sogenannten Wohlfahrtausschüsse durch Ostdeutschland gelang. Letztere organisierten eine Veranstaltungsreihe in einigen ostdeutschen Städten, an der hauptsächlich westdeutsche, linke Kulturakteur*innen mit Vorträgen, Aktionen und Konzerten beteiligten waren, um den Ostlinken in Zeiten rassistischer Pogrome ihre Unterstützung zuzusichern beziehungsweise mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Die Tournee mündete im Desinteresse und in Ablehnung der ostdeutschen Gruppierungen, jedoch in gleichzeitigem Zueinanderfinden und einer Neuvernetzung der westlinken Bewegungsund Kulturszene.54

Fazit und Ausblick In den vorangegangenen Erörterungen ging es darum, aufzuzeigen, welche Standpunkte zu Kunst und Kultur sechs Jahre nach der Wende in der autonomen Bewegung kursierten und mit welchen künstlerischen Ansätzen eine Möglichkeit zur Allianz bestand. In den hierfür analysierten Texten war ein gemeinsamer Anspruch erkennbar – nämlich Kunst und Politik zusammenzuführen. Dieses Zusammenführen wurde jedoch sehr unterschiedlich konzeptualisiert: Die Kultur AG forderte die aktive, alltägliche künstlerische Tätigkeit im politischen Milieu, die AG Kunst + Politik befürwortete die Wieder-

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miekongreß? Versuch, von einer Kongreßkritik zu einer Strukturkritik zu kommen«, S. XX. Vgl. Fanizadeh, Andreas: »Vorwort«, in: Wohlfahrtsausschüsse (Hg.), Etwas Besseres als die Nation. Texte und Materialien zur Abwehr des gegenrevolutionären Übels, Berlin 1994, S. 7-14, S. 7-9.

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verwertung künstlerischer Formen mit dem Ziel, sie gesellschaftlich wirksam werden zu lassen, während u.a. Copyshop sich eine Allianz zwischen politisch bewussten Akteur*innen des Kunstfeldes und der politischen Szene wünschte. Ein vierter Ansatz, der der Organisator*innen der Internationalen Spaßtage, weigerte sich, zwischen Spaß, Kultur und Politik einen Unterschied festzumachen. Es stellt sich unweigerlich die Frage, wie denn der am Kongress unbeteiligte Teil des Kunstfeldes die autonome Szene beurteilte. Dies deutet ein Kommentar zum Kongress aus der Zeitschrift Beute. Politik & Verbrechen an – eine Plattform, die linksradikale Politik, Kunst und Popkultur miteinander verband. Darin kritisiert die Redaktion unter anderem die zu harmonische und konfliktvermeidende Ausrichtung des Kongresses, den Mangel an migrantischen Teilnehmer*innengruppen und grundsätzlich den ausschließenden Charakter und Dogmatismus der autonomen Szene. In einem ironischen Abschlusssatz wird die vermeintlich antiintellektuelle Haltung des Kongresses angeprangert und die Beute-Redaktion setzt ein Statement, in dem sie sich mit subtiler Ironie als von der autonomen Szene wegen ihrer Intellektualität abgewiesene deklariert.55 Fehlte der Beute-Redaktion ein differenzierter Blick auf den Kongress? Oder handelt es sich hier um Grabenkämpfe von Positionen, die im Nachhinein gar nicht so weit voneinander entfernt erscheinen? Oder war dies etwa der überhebliche Tonfall einer popkulturellen Linken, welche anstelle einer Krise, wie sie die linksradikale politische Szene nach 1989 erlebte, genau zur selben Zeit aufblühte?56 Hat sich die linksradikale Szene in den 1990ern in die Kunst und Popkultur zurückgezogen? Fragen, denen an anderer Stelle nachgegangen werden muss.

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Die letzten Sätze des Abschlussabsatzes kritisieren, dass die Autonomen ihre geschlossenen, ja sogar ausschließenden Strukturen während des Kongresses nicht zum Thema gemacht haben. Dem Mangel an ehrlicher Konfrontation mit diesem Problem »gab die manische Angst vor ›großen Namen‹, vor möglicherweise nicht ohne Anstrengung verstehbaren Redebeiträgen der Veranstaltung dann intellektuell den Rest. Bedauerlicherweise werden davon die Leute mit selbstbezüglichen Vorstellungen und einer klaren Organisationslinie profitieren. Leute, deren Positionen, wie sie auch die Beute vertritt, schon immer wahlweise zu ›reformistisch‹, ›populistisch‹, ›aktionistisch‹ oder zu ›avantgardistisch‹, ›abstrakt‹ und ›elitär‹ waren.« Die Redaktion: »Editorial«, in: Die Beute. Politik & Verbrechen, Nr. 1995/2, S. 3-5, S. 5. Vgl. dazu die These des Textes O.A.: »Vom Spaßhaben und Spaßverderben«, in: remixed, Autonomie-Kongreß der undogmatischen linken Bewegung (1997), S. 74-86.

Gegen-Ästhetisierung Kritik eines ungedeckten Versprechens Christian Krüger

Als Télephos wegen einer nicht heilen wollenden Wunde, die ihm Achilleus im Kampf um Mysien mit dem Speer zugefügt hatte, ein Orakel des Apollo befragt, offenbart dieses, dass »nur der Speer, der ihn geschlagen, ihn zu heilen [vermöge].«1 Das Wirkungsversprechen homöopathischer Kuren hat auch in der Philosophie einigen Anklang gefunden. Prominent liegt das Konzept des ›Ähnliches mit Ähnlichem kurieren‹ etwa Adornos, wiederum von Hegel her entwickelter Idee von Vernunftkritik zugrunde: einer Vernunft, die »ihre Rationalität [Male von Unvernunft heilend] auf sich selbst anwendet«2 . Auch Christoph Menke wirbt im Zuge seiner Überlegungen zum (Kunst-)Ästhetischen für eine philosophische Spielart dieser Heilkunst: Er erblickt, der homöopathischen Logik folgend, ausgerechnet im Ästhetischen das geeignete Mittel gegen den Verfall der normativen Ordnungen in den durchästhetisierten Gesellschaften von heute. Der Erosion jener Ordnungen, die die politische Praxis, die vernünftigen Diskurse oder das soziale Miteinander tragen, durch einen noch näher zu bestimmenden Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung könne, so Menke, durch eine durch die Kunst initiierte »Selbstästhetisierung« dieser Ordnungen begegnet werden – also »Ästhetisierung gegen Ästhetisierung«3 , oder: Gegen-Ästhetisierung. Ziel meines Beitrages ist es, das Versprechen zu prüfen, das Menke mit der Gegen-Ästhetisierung verbindet. Dazu werde ich in einem ersten Schritt zentrale Momente jener anhaltenden Entwicklung in Erinnerung rufen, die 1 2

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Schwab, Gustav: Sagen des klassischen Altertums, Frankfurt a.M. 2001, S. 303. Adorno, Theodor W.: Drei Studien zu Hegel, in: Horst Tiedemann et al. (Hg.), Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften. Bd. 5, Frankfurt a.M. 1986, S. 313. Hier rekurriert Adorno auch explizit auf den durch Wagners Parsifal vermittelten Télephos-Mythos. Menke, Christoph: »Ästhetisierung – des Denkens«, in: Ders.: Die Kraft der Kunst, Berlin 2014, S. 111-131, S. 131.

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als Ästhetisierung diskutiert wird. Dabei interessieren mich vor allem »soziale Pathologien«4 , das heißt Leiden von Subjekten, die ihre Ursache in einer spezifischen Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse haben, die als Folgen dieser Entwicklung diagnostiziert werden; und hier insbesondere ein Leiden, das man mit Axel Honneth »Bestimmungslosigkeit«5 , mit Simmel, wie Honneth in Erinnerung ruft, »Haltlosigkeit«6 oder mit Alain Ehrenberg auch »Depression«7 nennen kann. Ich werde deutlich machen, wo die Ästhetisierungs-Debatte sich mit Überlegungen von Menke deckt, der in erster Linie auf begrifflicher Ebene ästhetische Konstitutionsbedingungen normativer Ordnungen im Allgemeinen klären will und so eher nur indirekt zu dieser Debatte Stellung bezieht.8 Im zweiten Schritt werde ich Menkes Begriff der Ästhetisierung als Begriff einer bestimmten Wirkweise von Kunst erläutern und deutlich machen, warum dieser meiner Meinung nach nicht überzeugt. Ich komme so zu dem Urteil, dass damit auch das von Menke umrissene Versprechen der GegenÄsthetisierung vor dem Hintergrund der gesellschaftskritischen Befunde keines ist, sondern die mit dem gesellschaftlichen Ästhetisierungsprozess verbundenen Nöte eher perpetuiert.9

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Zum Begriff der sozialen Pathologie vgl. Honneth, Axel: Pathologien des Sozialen. Tradition und Aufgabe der Sozialphilosophie, in: Ders. (Hg.), Pathologien des Sozialen. Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt a.M. 1994, S. 9-69. Honneth, Axel: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010, S. 205; im Kapitel: »Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung«. Ebd., S. 210. Vgl. Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2015 [zuerst: La Fatigue d’être soi. Dépression et société, Paris 1998]. Wie sehr Menke der Ästhetisierungs-Debatte gleichwohl verbunden ist, wird unter anderem deutlich in »Die Kraft der Kunst. Sieben Thesen«, in: Menke, Die Kraft der Kunst (2014), S. 11-14. Vgl. auch den dieser Debatte gewidmeten Band: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2010. Damit erprobt dieser Text die für das Einstein-Forschungsvorhaben Autonomie und Funktionalisierung leitende Konstellation aus kulturhistorischer Analyse einerseits und begrifflich-philosophischer Arbeit andererseits am Beispiel einer der wirkmächtigsten und profiliertesten Ästhetiken der letzten Jahrzehnte – derjenigen Menkes – und arbeitet vermittels einer Kritik an den letztlich autonomieästhetisch orientierten Überlegungen Menkes einer der Leitthesen des Forschungsvorhabens zu, dass nämlich die gesellschaftliche Relevanz von Kunst nur plausibel gemacht werden kann, wenn man

Gegen-Ästhetisierung

I. »Ästhetisierung« war spätestens seit den 1990er Jahren ein Leitbegriff, unter dem sich eine Vielzahl großangelegter soziologischer Studien10 und philosophischer Kontroversen11 mit zeitdiagnostischen Ambitionen versammeln ließ. Ihnen allen ging es im Grunde darum, eine Entwicklung zu erfassen, die die Gesellschaft in vielen, wenn nicht in all ihren Teilbereichen zu betreffen schien, und Veränderungen auf den Begriff zu bringen, die sich in den Selbstverständnissen der Subjekte nicht weniger als in den gemeinschaftlich geteilten normativen Grundorientierungen zeigten. Nun geben Phänomene dieser Größenordnung und Reichweite naturgemäß Anlass zu unterschiedlichen Beschreibungen und Einschätzungen. Geht man allerdings etwas großzügiger über Differenzen und Details in der Charakterisierung, Bewertung und Erklärung dieser Entwicklungen hinweg, kann man mindestens folgende drei wiederkehrende Momente oder zumindest weithin diskutierte Bestimmungen des Prozesses der gesellschaftlichen Ästhetisierung ausmachen: Erstens: Lebenswelten und Lebensvollzüge werden zunehmend gemäß sinnlich-hedonistischer, affektiv-emotiver und – wie man ergänzen könnte – kallistischer Kriterien und Geschmacks-Präferenzen nicht nur erfahren und bewertet, sondern auch als in diesen Hinsichten gestaltbar begriffen und entsprechend gestaltet. So formuliert früh schon Wolfgang Welsch, dessen schlaglichtartige wie treffende Beobachtungen dann vielfach profunde Bestätigung fanden: »In der urbanen Umwelt meint Ästhetisierung das Vordringen des Schönen, Hübschen, Gestylten; in der Werbung und im Selbstverhalten meint sie

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künstlerische Praktiken nicht als Bruch mit sonstigen Praktiken, sondern als in einer wesentlichen Kontinuität mit diesen stehend begreift. Vgl. unter anderem Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1992; Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003 [zuerst: Le nouvel Esprit du Capitalisme, Paris 1999]; Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt a.M. 2012. Vgl. unter anderem Bubner, Rüdiger: »Ästhetisierung der Lebenswelt«, in: Ders.: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989, S.143-156; Welsch, Wolfgang: »Ästhetisierungsprozesse. Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Vol. 41 (1993/1), S. 7-29; Ilka Brombach/Dirk Setton/Cornelia Temesvári (Hg.): »Ästhetisierung«. Der Streit um das Ästhetische in Politik, Religion und Erkenntnis, Berlin 2010; Böhme, Gernot: Ästhetischer Kapitalismus, Berlin 2016.

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das Vordringen von Inszenierung und Lifestyle; […] und die Ästhetisierung des Bewußtseins schließlich bedeutet: wir sehen keine ersten oder letzten Fundamente mehr, sondern Wirklichkeit nimmt für uns eine Verfassung an, wie wir sie bislang nur von der Kunst her kannten – eine Verfassung des Produziertseins, der Veränderbarkeit, der Unverbindlichkeit, des Schwebens etc.«12 Es fällt nicht schwer, hier eine Parallele zu ziehen zu Menkes Referat der historisch weitzurückreichenden Ästhetisierungs- oder Theatrokratisierungskritik, als deren Urszene die Niederlage der angeblich theatersüchtigen Athener gegen die vergleichsweise unmusischen Spartaner gehandelt wird. Beklagt wird hier nämlich – und darin decken sich die Phänomenbeschreibungen über die Zeiten hinweg –, dass es zu einer weitreichenden Orientierung an »Einstellungen der Sinnlichkeit« und »des bloß unmittelbaren Reagierens auf Reize – durch Erregung«13 kommt. »[D]as Urteilen aufgrund von Einsicht […]«, so kann man mit Menke die Parallele weiterziehen, wird ersetzt »durch ein Urteil der Sinne, das sich nur auf Einzelnes, Oberflächliches, auf Reize richten kann; das Urteil in Befolgung von Gesetzen […] durch ein Urteil des Gefallens, des Geschmacks.«14 Politische Rede wird so etwa zur effekthascherischen Rhetorik, die ihr Interesse an der dem Gemeinwohl dienenden Sache einer Ökonomie der Aufmerksamkeit opfert; Wissenserwerb und -vermittlung werden von Formen des Infotainments abgelöst, überhaupt wird alles Unterhaltung, Fun und Fassade. Diese zumeist in kritischer Absicht vorgetragenen Diagnosen sind bekannt. Zweitens: Die zweite Grundbestimmung greift den letzten Aspekt von Welschs Charakterisierung auf – hinter der Juliane Rebentisch treffend einen konstruktivistischen Zeitgeist am Werke sieht15 – und verbindet das Credo der Gestaltbarkeit von Welt und Selbst mit einer zutiefst innovativen Dynamik. Anders gesagt: Das Regime der Disziplinargesellschaften, das dem

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W. Welsch: Ästhetisierungsprozesse 1993, S. 14. C. Menke: Ästhetisierung – des Denkens 2014, S. 117. Ebd., S. 114. Vgl. Rebentisch, Juliane: »Aesthetization and Democratic Culture«, in: Nick Axel et al. (Hg.), Superhumanity. Design of the Self, Minneapolis 2018. Siehe auch www.eflux.com, abgerufen am 27.9.2019: https://bit.ly/2lzb9g2; Dem Credo der Gestaltbarkeit oder der »self-creation« redet unter anderem auch Richard Rorty wirkmächtig das Wort, vgl. Ders.: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1989 [zuerst: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989].

Gegen-Ästhetisierung

Einzelnen wesentlich abverlangte, sich herrschenden und feststehenden Normen anzupassen und zu unterwerfen, wodurch Konformität und Kontinuität der gesellschaftlichen Praxis gesichert wurden, wird durch ein, wie ich sagen möchte, Novitäts-Regime abgelöst, in dem das Anormale selbst zur Norm wird, in dem das Neue stets das Alte, Tradierte und Hergebrachte sticht. Andreas Reckwitz spricht hier davon, dass die »Selbsttransformation auf Dauer«16 gestellt und »eine Norm der Abweichung«17 leitend wird. Und auch hierzu findet sich ein Pendant bei Menke: Zunächst wird das stets Originäre und Neue von ihm als Prinzip des Künstlerischen überhaupt markiert. »[D]ie Kunst«, heißt es, »kann nur so fortbestehen, daß sie jedesmal wieder von neuem beginnt«18 , wobei es nach Menke gerade nicht um einen Neubeginn geht, der zu neuen künstlerischen Formen, Gestalten, Gehalten gerinnt, wiewohl das unvermeidlich geschieht. Die Pointe ist eine andere: Es geht darum, dass das zur Form Geronnene eben stets wieder verflüssigt, dass sozusagen unaufhörlich Auflösungsarbeit betrieben werde. Diese Dynamik soll dann auch die nicht-künstlerischen Praktiken erfassen und dort für scheinbar nötige Erneuerung sorgen, indem sie diese Praktiken »in radikal anderer, neuer Weise«19 verständlich und vollziehbar macht. Drittens: Zuletzt scheint für viele Autor*innen ausgemacht, dass es eben insbesondere künstlerische Praktiken, das Kunstfeld oder Künstler*innenselbstverständnisse sind, die dieser Entwicklung als Blaupause gedient und katalysierend gewirkt haben. In diesem Sinne begreifen etwa Luc Boltanski und Ève Chiapello den gesellschaftlichen Wandel als (ambivalenten) Erfolg der von ihnen sogenannten »Künstlerkritik« an den uniformierenden normativen Leitlinien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft der Moderne.20 Auch Reckwitz macht geltend, dass »der Kunst die Rolle eines langfristig wirksamen Schrittmachers zukommt«21 , da im Feld der Kunst spätestens seit der Romantik Selbstverständnisse und Handlungsmaxime präfiguriert sind, die nach und nach gesamtgesellschaftliche Geltung erlangen. Ebenso Menke: »Es definiert die Logik und Energetik der Ästhetisierung, daß sie in der Kunst beginnt […][,] aber nicht auf die Kunst begrenzt bleiben kann. Die Ästhetisierung greift von der Kunst auf die Nicht-Kunst, auf Politik, Wissen, Reli16 17 18 19 20 21

A. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität 2012, S. 327. Ebd., S. 347. C. Menke: Ästhetisierung – des Denkens 2014, S. 118. Ebd., S. 120. Vgl. dazu L. Boltanski/E. Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus 2003. A. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität 2012, S. 17 und vgl. bes. ebd.: Kap. 2 und 3.

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gion aus und über.«22 Diese Geburt der Ästhetisierung aus dem Geiste der Kunst gilt es im Hinterkopf zu behalten, wenn ich nun zu den mit diesen Entwicklungen verbundenen Krisendiagnosen komme. Denn es soll eben die Kunst selbst gewesen sein (oder, wie manche meinen, »deren Karikatur oder Perversion«23 ), die die Wunden schlug, zu deren Heilung sie, gemäß Menke, zugleich das probate Mittel ist.24 Wichtig für das richtige Verständnis der zeitgenössischen Kritik ist, dass ihnen ein entscheidendes Register der älteren Tradition der ÄsthetisierungsKritik nicht mehr zur Verfügung steht oder von ihnen nicht mehr gezogen wird. Wie Rebentisch in ihrer Verteidigung ästhetischer Potenziale für die Belange des Politischen deutlich macht,25 blickt die Ästhetisierungskritik nämlich auf eine lange Geschichte zurück, die von Platons Dichterschelte bis hin zu Benjamins Kritik an den Selbst-Inszenierungen des Faschismus reicht. Ästhetisierung zu kritisieren hieß in diesen Fällen zumeist, auf Basis einer mehr oder minder stabilen Grenzziehung zwischen dem Ästhetischen und dem Nicht-Ästhetischen das destabilisierende Übergreifen und ruinöse Eindringen des Ästhetischen in das Nicht-Ästhetische zu kritisieren. Gemäß dieser Logik drohte Ästhetisierung stets von außerhalb des Politischen, des Moralischen etc. in diese Bereiche einzugreifen und ist damit wesentlich eine externe Gefahr. In dem Maße aber, wie nun Rebentisch, Menke und andere rund um die 2010er Jahre (in Verteidigung des Ästhetischen) für eine »Immanenz des Ästhetischen«26 plädieren und damit die vermeintlich nichtästhetischen Praktiken der Politik, des Wissens usw. als ihrerseits konstitutiv von ästhetischen Momenten geprägt erweisen, ist auch begrifflich als Möglichkeit expliziert, was seitens der überwiegend soziologischen Zeitdiagnosen längst beobachtet wurde: dass nämlich die durchästhetisierten Gesellschaften 22 23

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C. Menke: Ästhetisierung – des Denkens 2014, S. 119. Thomä, Dieter: »Ästhetische Freiheit zwischen Kreativität und Ekstase. Überlegungen zum Spannungsverhältnis von Ästhetik und Ökonomik«, in: Menke/Rebentisch, Kreation und Depression (2010), S. 150. Genaugenommen liegen die Dinge bei Menke allerdings etwas komplizierter. Für ihn ist Kunst zuvor nämlich selbst Gegenstand einer Ästhetisierungsdynamik, die nicht eigentlich ihre eigene ist. Menke spricht etwas dramatisierend davon, dass die »Künste […] das erste Opfer der Ästhetisierung [sind,] (weil ihre Gesetze zuerst von den Kräften ästhetischer Freiheit zerrieben werden)«; C. Menke: Ästhetisierung – des Denkens 2014, S. 117. Vgl. Rebentisch, Juliane: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Frankfurt a.M. 2011. Brombach et al.: Ästhetisierung 2010, S. 8.

Gegen-Ästhetisierung

an sich selbst und das heißt an ihren ureigenen ästhetischen Momenten zu leiden beginnen. Ästhetisierung wird damit zu einem endogenen Problem. Aus dem zuvor genannten folgt wiederum, dass die Probleme, die der Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung mit sich zu bringen scheint, nicht mehr durch eine Restitution von durchlässig gewordenen Grenzen zwischen einem vermeintlich eigenlogischen ästhetischen Funktionssystem oder Praxiszusammenhang (zum Beispiel der Kunst) und anderen nicht-ästhetischen Funktionssystemen und Praxiszusammenhängen zu lösen sind. Eine Umkehr der Entgrenzung des Ästhetischen ist nicht mehr möglich. Das Ästhetische ist ja, salopp gesagt, überall zuhause. Die neue Verhältnisbestimmung von Ästhetischem und Nicht-Ästhetischem (wie man dann allerdings wohl kaum mehr unbekümmert wird unterscheiden können) liegt denn auch Menkes Idee zugrunde, im besonderen Ästhetischen der Kunst ein Mittel gegen die Probleme einer Gesellschaft zu sehen, in der die Kunst in bisher ungekanntem Maße prägend geworden ist. Die kritischen Diagnosen sind nun allerdings, wen wird es wundern, ebenso vielfältig wie die Bestimmungen der gesellschaftlichen Ästhetisierung selbst; je nachdem, welcher Bestimmung die Gegenrechnung aufgemacht wird. Um nur zwei Beispiele zu nennen, die ich hier nicht weiter verfolgen werde: Gerhard Schulze, in dessen Analyse der sogenannten »Erlebnisgesellschaft« die erstgenannte Bestimmung eine zentrale Rolle spielt, denkt über das Problem nach, nur noch an hedonistischen Neigungen und damit an subjektiven Maßstäben des Lust- und Unlustempfindens orientierte Subjekte könnten in eine, letztlich Enttäuschung und Verunsicherung generierende »Spirale der Selbstbeobachtung«27 geraten. Ève Chiapello wiederum, deren Arbeiten paradigmatisch sind für die dritte der oben genannten Bestimmungen, sorgt sich, dass unter anderem die Vereinnahmung und Instrumentalisierung zahlreicher Anliegen der Künstlerkritik durch einen hochadaptiven Dienstleistungskapitalismus dazu geführt hat, dass der Gesellschaft eine einst wirkmächtige Instanz der Gesellschaftskritik in Form der Kunst verloren geht. Sie schreibt: »Die Konvergenz von ökonomischer und kreativer Logik hat nun zur unmittelbaren Folge, dass mit ihr die Möglichkeit dra-

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So Axel Honneth in seiner Rezension von G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft 1992, vgl. Honneth, Axel: »Soziologie. Eine Kolumne – Ästhetisierung der Lebenswelt«, in: Merkur vom Juni 1992.

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matisch eingeschränkt wird, etwas wie eine ›Künstlerkritik‹ vorzutragen.«28 In meinem Beitrag dagegen soll eine Problematik in den Fokus rücken, die eng an die zweitgenannte Bestimmung des gesellschaftlichen Prozesses der Ästhetisierung geknüpft ist. Worum geht es also? Ich hatte eingangs mit den Ausdrücken »Bestimmungslosigkeit«, »Haltlosigkeit« und »Depression« bereits angedeutet, um welches Problem oder Leiden es gehen soll. Welcher auch immer hier der treffendste sprachliche Ausdruck ist, im Kern führen sowohl Honneth als auch Ehrenberg die von ihnen diagnostizierten Probleme und Leiden auf eine eigentümlich forcierte Dynamik, oder schärfer: auf eine notorische Instabilität der sozialen Normen in den gegenwärtigen Gesellschaften zurück. Was hat es damit auf sich? Inwiefern geschieht hier etwas Neues und Besonderes? Man könnte ja geneigt sein, den Hinweis auf Dynamiken der Veränderung von Normen als eine allzu bekannte Tatsache und mitnichten neue Einsicht zu werten. Schon gar nicht, so scheint es, muss man an die Beobachtung solcher Veränderungen das Dämmern eines neuen Zeitalters knüpfen. Man könnte zum einen auf die Historizität von Normen rekurrieren, das heißt auf den empirisch geradezu erdrückend gut belegten Tatbestand des fortlaufenden historischen Wandels sozialer Normen – und damit meine ich den Wandel von Sitten, Umgangsformen, juristischen Vorschriften und Gesetzen, politischen Verfahrensweisen, religiösen Geboten und dergleichen –, der uns längst dazu bewogen hat, die Idee einer statischen, überzeitlich gültigen normativen Ordnung aufzugeben, zugunsten eines dynamischen, historischen Verständnisses sozialer Normen. Zum anderen könnte man darauf abheben, Normen seien wesentlich dynamisch oder instabil in dem Sinne, als dass jede Anwendung einer Norm das Potenzial birgt, diese zu verändern, da keine Norm aus sich heraus zugleich ihre Anwendung auf den Einzelfall normieren kann. So kann jede Normanwendung sich rekursiv als eine Transformation der ursprünglichen Norm erweisen und so zu einer Veränderung im Verständnis und Geltungsbereich dieser Normen oder auch zu neuen Normen führen. 28

Chiapello, Ève: »Evolution und Kooption. Die »Künstlerkritik und der normative Wandel«, in: Angelika Stepken (Hg.), Kritische Gesellschaften, Nürnberg 2006, S. 28-39. Man könnte Chiapello – beruhigend – entgegenhalten, dass zwar die soziologisch verstandene Praxis der Kunst ihre Differenz zu ökonomischen und anderen nicht-künstlerischen Praktiken eingebüßt hat und in diesem Sinne kein Reservoir kritischer, differenter Praktiken mehr bildet; dass damit aber über die (kritischen) Gehalte der künstlerischen Werke noch nicht viel gesagt ist.

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Nun sollte man allerdings die Einsichten in die immanente Dynamik des Normativen nicht einseitig überbetonen und vielmehr ebenso geltend machen, dass eine Norm nur als solche verstanden werden kann, wenn sie über den jeweiligen individuellen Anwendungsfall hinweg ein Allgemeines behauptet. Nur so lassen sich zum Beispiel einzelne Handlungen als verschiedene Instanziierungen desselben Handlungstyps verstehen, was wiederum für kooperative Praktiken, für Handlungsplanung und ähnliches von entscheidender Relevanz ist. Aber auch unser epistemisches Weltverhältnis geriete wohl einigermaßen aus den Fugen, wenn sich verschiedene Dinge nicht mehr unter dieselben Begriffe (verstanden als Normen) bringen ließen. Die Kontinuität und Verlässlichkeit, der Zusammenhang und also die Verständlichkeit der Welt sind damit verbunden, dass es Gesetze, Regeln, Normen gibt, die bei aller Dynamik und Veränderlichkeit doch spezifische Allgemeinheiten ausbilden. Daher lässt sich umgekehrt sagen: »Von einer Norm sprechen wir dort, wo die Einhaltung der Norm eine Regelmäßigkeit zur Folge hat«29 , wie es etwa mit Blick auf die, den Straßenverkehr strukturierenden und diesen so in weiten Teilen antizipierbar machenden Verkehrsregeln sinnfällig wird. Der Verdacht, den Honneth, Ehrenberg und Co. äußern, ist nun, dass im Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung ebenjene Regelmäßigkeiten generierende Allgemeinheit von sozialen Normen erodiert. Dies geschieht, indem eine »Norm der Abweichung« (Reckwitz) zur Leitnorm, indem es zum Prinzip wird, prinzipienlos zu verfahren oder, zugespitzt gesagt, dadurch dass Unordnung verordnet wird – oder Kreativität und Flexibilität, wie es gemeinhin euphemistischer heißt. Die Norm arbeitet hier gewissermaßen von innen gegen ihr eigenes Normierungspotenzial an; genauer: eine Meta-Norm der Novität und Differenz setzt alle anderen lokalen Normen in Bewegung und unter Druck, sich fortlaufend zu transformieren. Man kann nun das Nachdenken von Ehrenberg über das Phänomen der Depression gut so verstehen, dass er erkundet, wie auf intraindividueller Ebene dieser Verlust von Allgemeinheit und Regelmäßigkeit zum handfesten Problem wird. Ehrenberg spricht nämlich in diesem Sinne davon, dass der »Zeitbezug durch eine Zukunft beständiger Veränderung gekennzeichnet ist«30 , die die Individuen »in einer ständigen Bewegung hält«31 , sie drängt, »in einem unternehmerischen

29 30 31

Liptow, Jasper: Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis, Weilerswist 2004, S. 92 [Hervorhebung im Original]. A. Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst 2015, S. 20. Ebd., S. 30.

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Abenteuer über sich selbst hinauszuwachsen«32 ; wobei – und das ist wichtig – die »Grenze zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen schwindet«, die den Handlungen der Subjekte im disziplinären Regime noch Orientierung geboten hatte und durch »eine Spannung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen«33 ersetzt wird. Dabei ist es dem Kreativitätsimperativ, wie die neue Leitnorm auch genannt wird, immanent, dass der Möglichkeitsraum stetig wachsen und der Bereich des (vermeintlich) Unmöglichen mittels disruptiver Techniken und innovativer Praktiken immer weiter kolonisiert werden soll. Die Kehrseite, die Ehrenberg ausmacht, ist ein Verlust der Handlungsfähigkeit und Identität aufseiten der überforderten Subjekte. Von der Seite der Identität aus geschildert: Die zunächst emanzipatorische Effekte zeitigende post-traditionale Freiheit der persönlichen Entfaltung schlägt um in einen Zwang zur stetigen Neuerfindung. Doch wenn ich stets ein anderer werde und werden soll, betreibe ich letztlich Selbstauflösung. Die Geschichte der Depression sei daher die »Geschichte eines unauffindbaren Subjekts«.34 Und dieser Verlust an Identität lähmt uns auch praktisch, was unter gesellschaftlichen Verhältnissen, die ständige persönliche Initiative fordern, zusätzlich belastend auf unser Selbstverhältnis zurückschlägt – ein lupenreiner Teufelskreis. In den Worten von Ehrenberg: »Die Frage nach der Identität und nach dem Handeln hängen auf folgende Weise zusammen: In normativer Hinsicht ergänzt die persönliche Initiative die psychische Befreiung; in pathologischer Hinsicht verbindet sich die Schwierigkeit, eine Handlung zu beginnen, mit der Unsicherheit der Identität.«35 Von der Seite der Handlung aus geschildert: Handlungssubjekte sind verunsichert, nicht weil sie mit Verboten in Konflikt geraten, sondern weil sie als von den unendlichen zu ergreifenden Möglichkeiten überforderte Subjekte daran zu zweifeln beginnen, ob sie überhaupt imstande sind, etwas zu tun, zu handeln; zumal nicht mehr klar ist, wie diese oder jene Handlung eigentlich zu vollziehen ist, da auch hier die Norm der Abweichung greift. In der Hoffnung darauf, dass diese wenigen Bruchstücke eine gewisse Plausibilität entfalten, breche ich die Symptomatologie und Ätiologie der Depression oder der Halt- und Bestimmungslosigkeit hier ab und gehe direkt zum zweiten Teil meiner Überlegungen über, indem ich dafür argumentieren

32 33 34 35

Ebd., S. 27. Ebd., S. 30. Ebd., S. 34. Ebd., S. 223 [Hervorhebung im Original].

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möchte, dass Menkes Apologie des Ästhetischen ungeeignet ist, hier irgendeine Abhilfe in Aussicht zu stellen.

II. Auf den ersten Blick ist eine solche Abhilfe allerdings auch nicht das erklärte Ziel von Menkes Überlegungen. Vielmehr scheint er ein ungebrochen positives Verhältnis zur normzersetzenden Kraft des Ästhetischen zu haben. Sie habe nämlich einen vitalisierenden Effekt auf den Menschen, seine Praktiken und Institutionen: »Durch die Wirkung ästhetischer Energie ›bekömmt die Seele ihre ganze Lebhaftigkeit wieder; das, was erst bloß gefiel, fängt nun an zu rühren und in Bewegung zu setzen‹ […]. Die ästhetische Transformation der Seele, die Regression des Subjekts in ästhetische Natur ist eine ›belebende‹ Verwandlung der praktischen Vermögen, bis sie zu dunklen Kräften werden und zu spielen beginnen.«36 Geht man davon aus, dass die Selbstverständnisse des Menschen, seine alltäglichen Praktiken und die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er sich bewegt, stets auch in Einseitigkeiten, Routinen und Gewohnheiten zu erstarren drohen, liegt der Wert solcher ästhetischen Irritationen auf der Hand. Auch wenn Menke seinerseits das ästhetische Spiel der dunklen Kräfte, das in der Kunst entfesselt wird, sicher nicht in dieser umstandslosen Weise für allzu konkrete reformatorische Zwecke in Dienst nehmen würde – Ästhetisierung sozusagen als gesellschaftliche Frischzellenkur –, laufen seine Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Nicht-Kunst doch immer wieder auf einen Fluchtpunkt zu, in dem Kunst produktiv wird für das außerkünstlerische Sonst, und zwar, indem sie dieses eben belebt, bewegt, ins Spielen bringt. Was aber, wenn es in uns und um uns herum bereits ein Zuviel an Bewegung, Spielerei, Experiment, an Unbestimmtheit und Unstetigkeit gibt, wie ich das eben skizziert habe? Würde so nicht nur noch befeuert, was an destruktiver und destabilisierender Dynamik ohnehin schon herrscht? Brauchen, oder

36

Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008, S. 73f.

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mehr noch, vertragen die ohnehin auf »endlose Erneuerung«37 getrimmten Subjekte überhaupt noch weitere Anstöße? Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass Menke durchaus darauf zielt und zielen muss, die Relevanz ästhetischer Flieh- und Zersetzungskräfte gerade auch für bereits durchästhetisierte Gesellschaften geltend zu machen. Er will ja den Theatrokratie- und Ästhetisierungsphobiker*innen der Theoriegeschichte, die eben durchweg Kritik an ihrer eigenen, von Ästhetisierung erfassten und verdorbenen Kultur üben, zeigen, dass »Ästhetisierung zerstörerisch-auflösend und erneuernd-hervorbringend zugleich«38 wirken kann. Wie aber sollte der Aufweis dieses konstruktiven Potenzials der Ästhetisierung ihre Kritiker*innen je überzeugen, wenn dadurch nicht ihre lieben Sorgen mit der Ästhetisierung adressiert und gemildert würden? Wenn also die Verteidigung des Ästhetischen, wie es in Prozessen der Ästhetisierung wirksam wird, das Ziel ist, scheint mir eine Antwort auf oder eine Lösung der den Kritiker*innen vor Augen stehenden Probleme und Verfallsphänomene in ebendieser Zielvorgabe inbegriffen. Schauen wir uns also Menkes Argumentation etwas genauer an:39 Im ersten Schritt zeichnet Menke ausgehend von Nietzsches Auseinandersetzung mit Wagner zunächst eine der Kunst und den Künsten interne Ästhetisierungsdynamik nach, die darauf hinausläuft, kunstinterne Normen, wie zum Beispiel Gattungs- und Genrekonventionen, Regelpoetiken und dergleichen, aufzulösen. Doch dies stellt nur die erste Phase eines Prozesses dar, der nicht auf die Kunst und die Künste beschränkt bleibt, sondern vielmehr auch auf im engeren Sinne nicht-künstlerische Praktiken übergreift. Dabei ist es sogar zwingend, dass die Ästhetisierung sich nicht auf den Bereich der Kunst einhegen lässt. Für Menke ist dieser, die Grenzen zwischen künstlerischen und nicht-künstlerischen Praxiszusammenhängen nivellierende »Exzeß« gerade die »Logik, weil Dynamik, der Ästhetisierung«40 . Warum das so ist, lässt sich leicht einsehen. Die Ästhetisierungsdynamik, von der die Kunst und die Künste ergriffen werden, sofern 37 38

39 40

Dierks, Nicolas: Endlose Erneuerung. Moderne Kultur und Ästhetik mit Wittgenstein und Adorno, München 2015. C. Menke: Ästhetisierung des Denkens 2014, S. 118f, wo er wie folgt als Frage formuliert, wofür er argumentieren will: »Ist also die Ästhetisierung von Politik, Wissen und Religion gerade als Auflösung ihrer Normativität nicht bloß ihre Zerstörung, sondern […] die ›einzige vorhandene Basis‹ ihrer Erneuerung?« [Hervorhebung im Original]. Ich beziehe mich hier auf C. Menke: Ästhetisierung – des Denkens 2014. Ebd., S. 115.

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auch sie eine zunächst noch stark normierte Angelegenheit sind, ist, wie Menke ausführt, strukturell als ein Prozess »der Auflösung der normativen Ordnungen, die ihm [dem Prozess der Ästhetisierung, CK] begrenzend gegenübertreten«41 , zu verstehen. Und das ist ganz allgemein, nicht spezifisch auf Kunst bezogen gemeint. Zu diesen Begrenzungen gehören daher nicht nur Grenzen und Normen, die kunstintern regeln, wie zum Beispiel eine dramatische Handlung sich entfalten sollte, was das Wesen der Malerei ausmacht etc., sondern auch diejenige Grenze, die Kunst von Nicht-Kunst scheidet. Um es etwas greifbarer zu formulieren: In dem Maße etwa, wie die Assemblage mit der von Clement Greenberg verfochtenen malerischen Norm der flatness bricht und Alltagsobjekte in den Tafelbild-Relief-Zwitter einbringt, wird auch die Grenze zur außerkünstlerischen Objektwelt porös – man denke hier nur an die diesbezüglich paradigmatischen Arbeiten von Joseph Cornell. In Menkes Worten: »Das Ästhetische ist keine stabile, begrenzte Eigenschaft, schon gar kein stabiler begrenzter Bereich, sondern ein Prozeß und daher eine Tendenz, ein Trieb, eine Kraft, die sich gegen Grenzziehungen richtet, auf denen die normativen Ordnungen, in den Künsten wie außerhalb von ihnen, beruhen.«42 Gegenüber der regulierungswütigen Tradition scheint die moderne Kunstauffassung – zumindest was die Kunst und das eigene Kunstfeld anbelangt – ihren Frieden mit der normzersetzenden Dynamik gemacht zu haben, wofür die verbreitete Geringschätzung von Epigonentum und das Lob der künstlerischen Originalität43 sprechen. Künstlerische Leistungen, die wir schätzen, überschreiten das Hergebrachte und Bekannte.44 Selbst im Bereich der verfemten »kulturindustriellen« Unterhaltung trifft das Verdikt des Immergleichen längst nicht mehr zu, da auch hier jede Strukturprägnanz, wie übergewichtig auch immer, ohne ein Moment der Innovation nicht mehr auskommt. Die Frage ist indes, ob dies so auch für nicht-künstlerische 41 42 43 44

Ebd., S. 117. Ebd. Vgl. dazu unter anderem das erste, »Originality and Artistic Expression« genannte Kapitel in Kieran, Matthew: Revealing Art, Abingdon 2005. Vgl. dazu noch einmal N. Dierks: Endlose Erneuerung 2015. Menke sieht das ähnlich, auch wenn für ihn das Neue nicht eigentlich ein Erfolg des künstlerischen Bemühens ist, sondern vielmehr ein Glücken, das sich der Planung und Absicht des Kreativen entzieht, etwas, das ihm zufällt; ein Zufall, für den man allerdings offen sein muss, vgl. C. Menke: Die Kraft der Kunst 2014, S. 118ff.

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Praxiszusammenhänge, für Fragen der Identitätsbildung etc. in gleichem Maße gelten kann, oder ob wir hier nicht durchaus stärker auch auf die Register der Wiederholung, Stabilisierung, Affirmation des Bekannten, auch des Tradierten usw. setzen müssen. Für Menkes Ästhetik ist nun zunächst kennzeichnend, dass er all diese soeben gegebenen Erläuterungen sicher noch viel zu »inhaltistisch« finden würde. Im dunklen Spiel der ästhetischen Kräfte geht es, wie bereits gesagt, nämlich überhaupt nicht darum, dass irgendetwas sich zu signifikanter Form stabilisiert, dass neue Themen, Inhalte, Ästhetiken, Stile erarbeitet werden, die wir erfahrend, interpretierend, deutend uns erschließen und zu Verständnis bringen. Ästhetische Erfahrung ist vielmehr schieres »Bewegtsein«45 – und daher gilt: »Da der ästhetische Zuschauer nichts als dieses Pathos, diese Kraft [die ihn bewegt, CK] empfangen hat, besitzt er nichts, was er woandershin mitnehmen könnte. Er hat nichts erfahren oder gelernt, das er aufbewahren und mitteilen könnte.«46 Wie erhellend man diese Erläuterungen mit Blick auf unsere komplexe (und meines Erachtens zutiefst auch von inhaltlichen Auseinandersetzungen geprägte) Praxis der Kunst finden mag, sie rücken Menkes Überlegungen jedenfalls in bemerkenswerte Nähe zum Leiden provozierenden Moment der sich selbstüberholenden Deregulierung von Normen im Zuge der gesellschaftlichen Ästhetisierung: Alle Bestimmtheit, jede konkrete Ausprägung, jede Stabilität generierende Wiederholung von Praktiken wird auch im Zuge der von Menke erläuterten Ästhetisierung ausgehebelt – kurzum: »der Prozess der Ästhetisierung unterläuft die soziale Praxis des Bestimmens«47 . Und daher, vielleicht nicht von ungefähr, hat das bei Menke ähnliche subjekttheoretische Konsequenzen, wie sie auch Ehrenbergs DepressionsStudie, Fragen der Identität und der Handlungsfähigkeit von Subjekten verbindend, umkreist. Zunächst formuliert auch Menke einen praktischen Begriff von Subjektivität: »Subjektivität ist das praktische Selbstverhältnis des Sich-Führens, das seinen Ort, seinen Sinn und sein Maß im Etwas-Ausführen hat. Ein Subjekt zu sein und […] etwas zu können, ist dasselbe.«48

45 46 47 48

Ebd., S. 125. Ebd., S. 126. Ebd., S. 83. Ebd., S. 34.

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Nur um dann deutlich zu machen, dass genau diese subjektkonstituierenden praktischen Vermögen im Prozess der Ästhetisierung nicht mehr greifen. Das Subjekt, das jemand war, weil es etwas konnte, kann nun im Zuge der Ästhetisierung nichts mehr, jedenfalls keine selbstbestimmten, keine zweckhaften Handlungen vollziehen – vielmehr verharrt es in einem »Zustand rauschhafter Begeisterung«, ist ein passiv Erleidender von Kräften, »wie ein magnetisiertes Stück Eisen«49 . Klar ist nun auch für Menke, dass dieser Zustand des Verlustes praktischer Vermögen nicht von Dauer sein kann, wenn es so etwas wie Subjekte, verantwortliches Handeln, soziale Praxis, Politik – Formen der Kontinuität – überhaupt geben können soll. Deshalb: »Der ästhetische Zustand ist unerträglich.« Es »[bedarf der] Erlösung« von diesem Zustand oder umgekehrt: »der Austritt aus dem ästhetischen Zuschauen und seinem Pathos [ist] die Bedingung von Subjektivität.«50 Der Bruch mit dem Ästhetischen kann nun aber nicht einfach so erfolgen. Das heißt der Bruch muss bezogen bleiben auf das, womit er bricht. Die Erlösung kann nicht schlicht darin bestehen, eine andere Praxis zu beginnen, die den ästhetisierten Zustand abstrakt hinter sich lässt, wie der arbeitsreiche Montag das rauschhafte Clubwochenende. Es bliebe ja sonst unklar, wie der deregulierende Impuls des Ästhetischen ein produktives Moment mit Blick auf nicht-ästhetisierte Praktiken entfalten kann – und das ist es eben, was Menke erläutern will. Das dunkle Spiel ästhetischer Kräfte soll schließlich nicht nur ein zeitweilig auftauchendes Geschehen sein, das geht, ohne Spuren zu hinterlassen. Mehr noch: Es soll nicht einmal nur Spuren der Verwüstung des Normativen hinterlassen, sondern, wie gesehen, zugleich »erneuernd-hervorbringend« sein. Menke versucht nun, dieses Geschehen einer positiven Transformation des Normativen durch dessen Ästhetisierung unter Rekurs auf die Figur des »theates, der zum theoros werden wird«51 , zu fassen. Der theoros ist derjenige, der davon zu sprechen beginnt, davon berichtet, ein dem dunklen Spiel ästhetischer Kräfte rauschhaft ausgelieferter theates gewesen zu sein. Die Krux dabei ist, dass dieses Artikulieren des Rauschhaften, das bestimmte Reden über das unbestimmte Spiel der Kräfte, eben dieses Spiel notwendig verfehlen muss: »Ästhetisches Zuschauen ist ein Zuschauen, das keinen Gehalt hat – es

49 50 51

Ebd., S. 125. Beide in C. Menke: Ästhetisierung – des Denkens 2014, S. 116. Ebd., S. 124 [Hervorhebung im Original].

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ist nicht das Begreifen von etwas –, und deshalb gibt es über das ästhetische Zuschauen auch nichts zu berichten.«52 Der Bericht enthält daher nur die Kunde oder Erinnerung daran, dass das ästhetische Spiel stattgefunden hat, er konstatiert nur das Ereignis: »Der Bericht der Theorie spricht nicht darüber, was sich in dem ästhetischen Zustand zugetragen hat, sondern davon, daß es das ästhetische Zuschauen gegeben hat.«53 Zum einen also muss mit dem unbestimmten ästhetischen Spiel der Kräfte gebrochen werden. Das ist Bedingung der Möglichkeit von Subjektivität, sozialer Praxis und dergleichen. Und ein solcher Bruch erfolgt eben dadurch, dass bestimmte Praktiken, zum Beispiel des theoretischen Diskurses usw., vollzogen werden. Dafür hat Menke meines Erachtens plausibel argumentiert. Zum anderen behauptet er aber, die theoretische Artikulation sei wesentlich rückbezogen auf den ästhetischen Zustand: »Denken ist […] der Rückbezug der diskursiven Rede auf das [ästhetisch bewegte, CK] Zuschauen, aus dem es hervorgegangen ist.«54 Doch warum ist das so? Gibt es dafür begriffliche Gründe, die über die Geschichte des Begriffs der Theorie, wie sie Menke von Gadamer und Ritter her entfaltet, hinausreichen? Warum markiert das Denken nicht vielmehr einen neuen Anfang und denkt über das nach, was es auch zu fassen vermag, anstatt sich mit einem sich notwendig ins Vage verlierenden Rückbezug auf dasjenige herumzuplagen, mit dem es ohnehin gebrochen hat? Es scheint mir unklar, welche Antwort Menke hier gibt – und ob er eine gibt. Eine mögliche Antwort scheint damit verbunden, dass Menke das paradoxale Unterfangen, artikulieren zu müssen, was sich einer Artikulation wesentlich entzieht, einbettet in das Bemühen des Menschen, sich »selbst zu verstehen«55 . Wir denken über das dunkle Spiel der ästhetischen Kräfte nach, weil wir uns fragen: »Wer sind wir?«56 . Sich diese Frage vorlegen und in bestimmter Weise beantworten, bedeutet, sich zu jemandem zu machen. Und wenn wir, wie Menke nahelegt, in diesem Nachdenken darauf stoßen, dass all unsere Selbstbestimmungen auf einem Grund blanker Unbestimmtheit ruhen – dem dunklen Spiel von Kräften – und das heißt, dass unsere Selbstbestimmungen diesem Spiel wesentlich abgerungen sind, ohne ihm zu entkommen, erfahren wir etwas Wesentliches über uns, über die conditio humana. Doch was genau folgt aus dieser Einsicht, vor allem in praktischer Hinsicht: 52 53 54 55 56

Ebd., S. 124. Ebd., S. 125 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 127. Ebd., S. 128. Ebd., S. 127.

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Bescheidenheit in Bezug auf die eigenen Bestimmungen, das Ergreifen von Vorsichtsmaßnahmen gegen den erneuten Einbruch der Kräfte oder, weil das nicht möglich scheint, Fatalismus? Dass solche Fragen am Ende offenbleiben, hat damit zu tun, dass der Impuls der Ästhetisierung von Menke als wesentlich unbestimmt begriffen wird. Er gibt keine Richtung vor, in der das Denken und unsere Praktiken zu vollziehen oder weiterzuentwickeln sind: »der Bericht der Theorie [kann] nicht das Explizitmachen des im ästhetischen Zuschauen implizit Erfaßten sein«57 , denn es wird hier eben nichts erfasst. Doch damit ist nicht erklärt, was erklärt werden sollte, dass nämlich Ästhetisierung erneuernd-hervorbringende Wirkungen hat. Erneuerung oder Hervorbringung lässt sich nur als bestimmte Erneuerung oder Hervorbringung denken. Erneuert wird ein bestimmtes Altes in einer bestimmten Hinsicht oder Richtung. Hervorgebracht wird etwas, wo zuvor nichts war. Solche bestimmten Gestalten – neue politische Ideen, eine andere Einrichtung der Praxis, ein verändertes Selbstverständnis, eine modifizierte Kompetenz im Handeln – konstituieren sich aber nur im Bruch mit dem Ästhetischen, im Aussetzen des Ästhetischen. Menke spricht schließlich auch konsequent davon, dass der Prozess der Ästhetisierung sich »in sich selbst spaltet«58 . Er kaschiert allerdings, dass er alle konstruktiven Leistungen, jenseits des ästhetischen Spiels im engeren Sinne, auf der anderen Seite der Spalte, in diskursiven Praktiken und dergleichen verortet. Damit bleibt es dabei: Ästhetisierung selbst sagt uns nichts, bringt nichts hervor – nicht einmal zwingend, wie ich oben angedeutet habe, den abstrakten Impuls zur Selbstbestimmung oder -befragung. Wenn das aber der Fall ist, hat Menkes Apologie des Ästhetischen – außer einer erneuten Bekräftigung der deregulierenden Dynamiken der Ästhetisierung – den unter ebendiesen Dynamiken leidenden Subjekten in den durchästhetisierten Gesellschaften nichts zu sagen. Heilung oder Linderung sieht anders aus. Das homöopathische Versprechen erweist sich so als ungedeckt. Zwar deutet Menke in einem knappen eingeschobenen Exkurs zur Kunst59 noch an, dass sich die Dialektik von Ästhetisierung und ihrer (unmöglichen) Artikulation in der Kunst selbst noch einmal reflektiert. Da aber die künstlerische Reflexion letztlich ebenfalls in Unbestimmtheit endet – Kunst »[macht]

57 58 59

Ebd., S. 126. Ebd., S. 111. Vgl. ebd., S. 128.

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Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind«60 , sodass es nun der Kunstphilosophie oder der Kritik bedarf, das erneut Unmögliche zu versuchen, nämlich zu sagen, was diese Kunstdinge sind –, ließen sich die vorgebrachten Einwände wiederholen. Eine so verstandene Praxis der Kunst wird demnach nicht als eine Praxis verständlich, die den an Unbestimmtheit leidenden Subjekten etwas von dem Halt und der Orientierung bieten könnte, die sie so bitter nötig zu haben scheinen. Das könnte nur eine Kunst, die sich wagt, bestimmte Impulse zu Selbstbestimmungen zu geben – aber das hieße, Kunst anders denken.

60

Ebd., S. 129.

Philosophische Narrative der Verschränkung Judith Siegmund

Einleitung Das wissenschaftlich-künstlerische Forschungsvorhaben Autonomie und Funktionalisierung ist aus politischen Reflexionen künstlerischer Praxis und Kunstpolitik heraus entstanden. Eine kleine Gruppe löste sich aus der AG Kunstbegriff 1 der Kunstinitiative Haben und Brauchen, um ein wissenschaftlich-künstlerisches Forschungsvorhaben zu starten.2 Ein Gedanke, man kann sagen, ein Versprechen der Beantragung von Forschungsgeldern lag darin, den Brückenschlag ausgehend von künstlerischem Handeln, von Quellenstudium und von Archivarbeit sowie zeitdiagnostischer Reflexion auf das eigene Tun zu leisten – hin zu verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen: zu Kunstwissenschaft, Kulturwissenschaft, zu Philosophie, Medienwissenschaft und Soziologie. Aus heutiger Perspektive lässt sich sagen, dass dieses interdisziplinäre Arbeiten schwieriger war, als wir es uns damals vorgestellt haben. Die Tücken der Interdisziplinarität lagen und liegen dabei auf verschiedenen Ebenen: So war bereits in der Phase der Antragstellung deutlich geworden, dass der Philosophie als einer sogenannten Begriffswissenschaft aus Sicht historisch arbeitender Wissenschaften nicht zugetraut wird, zeitdiagnostische Beiträge zu leisten. Zur Debatte stand zunächst auch die Frage, ob künstlerisches Handeln und historisch denkende wissenschaftliche Disziplinen als Gegenstände philosophisch-systematischer Arbeit (und damit als nicht ebenbürtig) aufzufassen seien. Indirekt wurde damit auch das Verhältnis des Philosophierens 1

2

Vgl. http://www.habenundbrauchen.de/category/resources/arbeitsgruppen/kunstbegriff. Die AG Kunstbegriff wurde von Annette Maechtel und Heimo Lattner geleitet, Judith Siegmund und Birgit Eusterschulte haben später an ihr teilgenommen. Gründungsmitglieder von Autonomie und Funktionalisierung sind: Birgit Eusterschulte, Christian Krüger, Heimo Lattner, Annette Maechtel, Séverine Marguin und Judith Siegmund.

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(und folglich der eigenen Disziplin) zur Historizität schlechthin verhandelt. In unseren Diskussionen entwickelte sich die Position, dass wir das Verhältnis der verschiedenen Wissenschaften untereinander als das eines gegenseitigen Einsprechens auffassen möchten, welches gleichwohl von einem anderen Terrain aus stattfindet – ein Verfahren also, das keine Hierarchie voraussetzt. Unklar war des Weiteren die Rolle von künstlerischer Recherche und Arbeit im Projekt. Die künstlerische Perspektive hat sich auf die Archiv- und Quellenarbeit der kulturpolitisch interessierten, kulturwissenschaftlichen Fragestellungen eingelassen und hat mit historischen sowie kulturpolitischen Inhalten und Materialien in der Weise weiter gearbeitet, dass diese in Lesungen und Aufführungen zur Erscheinung kamen.3 Anlass für gemeinsame Textarbeit, öffentliche und interne Veranstaltungen mit Gästen sowie für Publikationen war eine Ausgangshypothese, die sich zusammenfassen lässt in dem Gedanken, dass in Berlin nach 1989 eine Verschiebung eines damals im Westen kollektiv geteilten Kunstbegriffs auf dem Feld der bildenden Künste stattfand.4 Ein durch die politischen Umbrüche evoziertes verändertes Selbstverständnis der Künstler*innen zeigte sich in Produktions- und Ausstellungsformaten ebenso, wie es nach und nach von den kunst- und kulturpolitischen Institutionen aufgenommen und seit den späten 1990er Jahren an die Künstler*innen zurückgespielt worden ist. Vorläufig lässt sich diese Verschiebung des Selbstverständnisses so umschreiben, dass ein bestimmter Autonomiebegriff der Künste, der in der Bundesrepublik sowie in deutschsprachigen, ästhetischen, westlichen Diskursen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden ist, seit 1989 nicht mehr in seiner bisherigen Art und Weise Geltung beanspruchen kann. Die Zäsur im Berlin der 1990er Jahre, die sich zunächst als WiederZusammenkommen seiner beiden getrennten Teile darbietet, wird heute

3

4

Die Lesungen entstanden in Zusammenarbeit mit dem Teilprojekt Projektisierung der Kulturförderung: Paradigmenwechsel in der Kulturpolitik im Berlin der 90er Jahre von Annette Maechtel und sind zugleich Teil der von Lattner und Maechtel herausgegebenen Reihe Ibid. Weitere Informationen unter: http://ibid.berlin, vgl. den Beitrag von Heimo Lattner in dieser Publikation. Diese These haben wir von Beginn an kontrovers diskutiert. In alternativer beziehungsweise abgeschwächter Formulierung lautet sie, dass sich Verschiebungen, wie sie sich nach 1989 gezeigt haben, besonders prägnant in Berlin sichtbar wurden (Birgit Eusterschulte).

Philosophische Narrative der Verschränkung

vermehrt beforscht.5 Jedoch ist dem Anteil, der der Kunst- und Kulturdefinition des ostdeutschen Teils von Berlin in der historischen Veränderung zukommt, bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, so ein Befund unserer Diskussion und Recherche. Auf jeden Fall ist der Mythos vom »leeren« Ostberlin, das von den Künstler*innen besetzt wurde, nicht haltbar.6 Einen wichtigen Aspekt in diesem Szenario der Umbrüche stellen Globalisierung und Neoliberalismus dar, die ihren Teil zur Veränderung Berlins und seiner Kunst- und Kulturszene beitrugen und immer noch beitragen. So sind kreativwirtschaftliche Stadtplanung und neoliberale Effizienz- und Evaluierungsrituale an den Veränderungen in den Künsten beteiligt. Eventisierung und der Einzug der Kreativen Klasse in die Viertel der Innenstadt stellen allerdings keine besonderen Phänomene der Stadt Berlin dar, sie sind andernorts auch zu finden, aber sie müssen im Nachdenken über Veränderungen der Berliner Künste mit berücksichtigt werden. Auch zu diesem Thema existieren Publikationen und Debatten, an die wir im Projekt anschließen konnten.7 Worin kann nun überhaupt die Rolle eines philosophischen Nachdenkens im Zusammenhang der Erforschung dieser historischen Brüche und Verschiebungen bestehen? Wenn es stimmt, dass auch die Philosophie selbst – hier als philosophische Ästhetik – eine historisch »gewordene« ist, dass sie also aus etwas entstanden ist und eine Geschichte hat, dann stellen konkrete Verschiebungen und Entwicklungen in den bildenden Künsten an einem konkreten Ort die Empirie dar, an der sich ästhetische Theorie messen lassen muss. So wie die ästhetische Theoriebildung Einfluss auf die Sicht von künstlerisch Handelnden nimmt, so wird sie sich in Umkehrung auch 5

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Beispielhaft genannt sei Mythos der Geschichte, Veranstaltung im Neuen Berliner Kunstverein am 26.9.2019; Ständige Vertretung, Forschungsprojekt 2020/21 in der nGbK Berlin; Wenzel, Jan: Das Jahr 1990 freilegen, Leipzig 2019. Der Erforschung des Territoriums, der besetzten Räume und ihrer Bewohner*innen haben sich auch Kunstinitiativen in den 1990er Jahren gewidmet, zum Beispiel Botschaft e.V., jedoch scheint es so, als ob kulturelle Verschiedenheiten es verhinderten, dass nachhaltige Beziehungen auf gleicher Augenhöhe zustande kamen. Dies ist ein Unterschied zum politischen Aktivismus, in dem wohl von Anfang an stärker symbiotisch strukturierte Formen der politischen Zusammenarbeit gefunden wurden. Vgl. dazu: Knut Ebeling/Heimo Lattner/Annette Maechtel (Hg.): Never Mind The Nineties. Eine Medienarchäologie des Kunststandorts Berlin, Berlin 2019, darin besonders das Gespräch mit Ulrike Steglich und Stephan Geene, S. 34ff. Maechtel, Annette: Das Temporäre politisch denken. Raumproduktion im Nachwende-Berlin am Beispiel Botschaft e.V. (1990-1996), im Erscheinen bei b_books Berlin.

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weiterentwickeln durch konkrete Veränderungen, die in der gesellschaftlichen Praxis und in den Künsten stattfinden. Wichtige Protagonist*innen aus der Geschichte der ästhetischen Theorie, darunter Theodor W. Adorno, stehen mit ihrer spezifischen Theoriebildung für diese Tatsache. Adorno schreibt beispielsweise über Kunst als gesellschaftliche und spricht dabei vom ›ästhetisch Besonderen als einem buchstäblich Allgemeinen‹: »[D]as idiosynkratische, zunächst bewußtlose und kaum theoretisch sich selbst transparente Verhalten ist Sediment kollektiver Reaktionsweisen.« Aber er fügt sogleich hinzu: »Daß Kunst sich heute zu reflektieren habe, besagt, daß sie ihrer Idiosynkrasien sich bewußt werde, sie artikuliere.«8 Das historisch und lokal Konkrete erscheint als eine Dimension auch eines begrifflichen Denkens, das zugleich an anderes Begriffliches anknüpft – so die meinen Überlegungen zugrunde liegende These. Ich möchte daher meinen Beitrag in zwei Teile gliedern, erstens in einen beschreibenden historischen und zweitens einen systematischen, der ein philosophisches Narrativ einer Bezugnahme entwickelt – einer Bezugnahme von Künsten auf Nichtkünstlerisches, welcher ein Gedanke von systematischbegrifflich gedachten Verschränkungen zugrunde liegt. Während in soziologischen und metaphilosophischen Darstellungen die Kunst beziehungsweise die Künste ein Feld darstellen, dessen Praxis sich auf Gesellschaft als ganze beziehen lässt, steht in der philosophischen Ästhetik nicht selten die Dimension subjektiven Erfahrens im Mittelpunkt. Die Herausforderung besteht also darin, das Dreieck von Subjekt, Künsten und Gesellschaft zu denken: Wie gelangt das Denken vom Ich zum Wir und was hätte dieses Denken zu tun mit einer neuen Orientierung an einer prekären/nachpoststrukturalistischen Gemeinschaftsbildung in den (bildenden und performativen) Künsten?

1.

Historisch denken – Berliner Künste und die 1990er Jahre

Ein Interesse unserer Forschungen und Diskussionen gilt dem Selbstverständnis der Protagonist*innen der 1990er Jahre im Feld der bildenden Kunst. Warum kam es in diesen Jahren zu einer bewussten Abkehr vom Kunstmarkt und zu einer kollektiven Orientierung an politischen und anderen gesellschaftlichen Handlungsformen im künstlerischen Feld? Wieso ist das Format der Ausstellung kritisch in den Fokus genommen worden? Worin liegen die 8

Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 60.

Philosophische Narrative der Verschränkung

Motive einer aktiv vorangetriebenen Interdisziplinarität bis hin zur Vermischung mit anderen Künsten und mit aktivistischen Anliegen?9 Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, dass Teilnehmende im Forschungsprojekt selbst bereits in den 1990er Jahren in Berlin künstlerisch und kuratorisch aktiv gewesen sind.10 Sabeth Buchmann schreibt als Protagonistin dieser Zeit: »Das poststrukturalistisch-psychoanalytisch geschärfte Bewusstsein um den phantasmatischen Charakter von Freiheit verschob den Autonomiebegriff daher eher auf die Möglichkeitsbedingungen machtkritischer Subjektivierung. Der emphatische Autonomiebegriff war folgerichtig systemimmanent gedachter Travestie und Subversion gewichen…«11 Die Formate der Probe und des Experiments werden von Buchmann demgemäß aus einem poststrukturalistischen Denkansatz abgeleitet, den die Künstler*innen des minimal club Anfang der 1990er Jahre schon mit nach Berlin brachten. Die leerstehenden Räume im Osten Berlins, im Wesentlichen in Berlin-Mitte und in Prenzlauer Berg, ermöglichten dann eine lang anhaltende »Erprobung« von selbstidentifikatorisch gewendeten Formaten der Diskussion, Aktion, Ausstellung und »Vermischung« (Buchmann).12 Diese Erprobung richtete sich unter anderem auch gegen den Werkbegriff, allerdings nicht in der Weise seiner Sprengung, wie es beispielsweise Happenings in den 1970er Jahren intendierten, sondern sie wandte sich gegen Werke im Sinne der institutionellen Repräsentation (von Macht).13 Nun war die Situation der Institutionen im Berlin der Nachwende aufgrund der historischen Situation anders und vielleicht auch komplizierter als im Rest der Bundesrepublik zur Zeit der Regierung Kohl. Zwar wurden damals im Zusammenhang mit dem Regierungsumzug zahlreiche Bundesinstitutionen von Bonn nach 9

10 11

12 13

Vgl. zum Beispiel Birgit Eusterschulte: »Un/Mögliche Funktionalisierungen oder Die Fallen des Ausstellens«, in: Kongressakten des X. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik 2018; http://www.dgae.de/wp-content/uploads/2017/06/Eusterschulte-dgae_2018.pdf, abgerufen am 23.1.2020. Dabei handelt es sich um Annette Maechtel und Judith Siegmund; Heimo Lattner kam 2001 nach Berlin. Buchmann, Sabeth: »(Politische) Kunst oder (soziale) Praxis? Eine Versuchsanordnung über die 1990er«, in: Birgit Eusterschulte/Judith Siegmund et al. (Hg.), Funktionen der Künste. Transformatorische Potentiale künstlerischer Praktiken (Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens), Stuttgart 2020. Manuskript im Privatbestand der Autorin. Ebd. Vgl. ebd.

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Judith Siegmund

Berlin verlagert, doch waren die ostdeutschen Institutionen gerade alle zerschlagen worden und in dem daraus entstandenen Machtvakuum gab es andere Akteur*innen, beispielsweise die eher dissidentisch geprägten Kulturverwaltungen im Ostteil der Stadt.14 Dass zum Beispiel die Kulturämter in Berlin-Mitte dissidentisch besetzt waren, darauf weisen die Texte hin, die Heimo Lattner und Annette Maechtel in ihren szenischen Lesungen vorgestellt haben. Die Richtigkeit dieser Einschätzung ist nicht im engeren Sinne nachgewiesen; eines scheint aber unstrittig und auch belegbar zu sein: dass es ein emphatisch verstandener Kulturbegriff war, der das Handeln der Ostberliner Akteur*innen des Kunstfeldes prägte.15 Diese Auffassung der Künste als Kultur entspricht nicht dem Verständnis aller Künstler*innen der ehemaligen DDR, viele haben sich eher kritisch und provozierend an ihm abgearbeitet, vor allem in den 1980er Jahren. Es handelt sich dabei eher um einen von oben verordneten Demokratismus, der den Nutzen der Kunst für alle im Auge hatte.16 Ein interessanter Befund, der im Forschungsprojekt anhand der Beschäftigung mit Gesprächsaufzeichnungen zutage trat, ist aber, dass diese staatliche Setzung offensichtlich einen starken Einfluss ausgeübt hat. Und so findet man sie ebenfalls wieder in den institutionellen Strukturen der Ostberliner Kulturämter, aber auch bei Beschäftigten in der Wohnungsverwaltung und in stadtbezirklichen Kunst-Gremien, in denen in den 1990ern über die Öffnung Ostberlins für bestimmte künstlerische Akteur*innen des Westens mitentschieden worden ist. So waren es zum Beispiel eben nicht die sogenannten Neuen Wilden, die damals im Westteil Berlins die eigentlich gefeierten Repräsentant*innen waren, denen diese Öffnung der Räume galt, sondern eingeladen wurden Künstler*innengruppen, in denen mit basisdemokratischen Formaten experimentiert wurde.17 Gerade der Funktionsbegriff nimmt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Stelle ein, denn das Nachdenken über die Funktion beziehungsweise Funktionen der Künste im Sozialismus war in der DDR eine Reflexion ihrer

14 15 16

17

Vgl. auch dazu die Tagung Berliner Zusammenhänge am 4.11.2018 im Silent Green Berlin. Vgl. die Beiträge von Annette Maechtel und Ildikó Szántó in dieser Publikation. Vgl. dazu auch Rehberg, Karl-Siegbert: » ›Westkunst‹ versus ›Ostkunst‹. Geltungskünste und die Flucht aus der geschichtlichen Kontinuität im geteilten Deutschland«, in: Gerhard Panzer/Franziska Völz/Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Beziehungsanalysen. Bildende Künste in Westdeutschland nach 1945, Wiesbaden 2015. Vgl. hierzu den oben zitierten Beitrag von S. Buchmann: (Politische) Kunst oder (soziale) Praxis? 2020, der das detailliert beschreibt.

Philosophische Narrative der Verschränkung

Demokratisierung. Mit Rekurs auf Schriften von Hanns Eisler aus den Jahren 1931 und 1962 möchte ich ein Beispiel für das Denken eines prominenten DDR-Komponisten über Musik geben. 1931 beurteilt Eisler noch den Funktionswandel der Künste sehr radikal als einen, der sich vom Schönheitsideal der bürgerlichen Klasse zu verabschieden habe, um – aufbauend auf einer bereits existierenden Arbeiterliedkunst – einer neuen Funktion der Kunst in der klassenlosen Gesellschaft, dem Kommunismus also, gerecht zu werden. Programmatisch schreibt er: »Die Musik benutzt ihre Schönheit nicht mehr als Selbstzweck, sondern bringt in die verwirrten Gefühle der einzelnen Ordnung und Disziplin [sic]. Wir sehen, daß hiermit eine neuerliche große Funktionsveränderung der Kunst erfolgt. Entstanden als Lehrmeisterin, als Kampfmittel in der schwierigsten Situation der Klassengeschichte, verliert die Kunst alles das, was der bürgerliche Künstler ›schön‹ nennt. Sie enthält in stärkstem Maße bereits in ihren Anfängen die neue Funktion der Kunst in der klassenlosen Gesellschaft.«18 1962 ist dieses Programmatische bereits in den ›Mühen der Ebene‹ einer DDRKulturarbeit angekommen, und Eisler schreibt über den Begriff der »gebildeten Nation«: »Ferner müssen wir auch darauf achtgeben, daß ›volkstümlich‹ kein starrer Begriff ist, sondern ein sich entwickelnder. Was 1962 volkstümlich ist, braucht 1972 in keiner Weise mehr volkstümlich zu sein. Was schwerer verständlich ist, wird leichter verständlich. […] Wir müssen das als einen Prozeß sehen und wissen, daß es nicht die Volkstümlichkeit gibt, die selig machende, auf die wir hinschauen müssen, sondern daß wir da sehr mitgehen müssen mit dem Strom der Entwicklung. […] Das Ziel unserer Volkstümlichkeit müßte sein, daß auch die kompliziertesten Werke der Klassiker und der Moderne allgemein und frei verständlich werden. Das würde ich mir dann als eine neue Volkstümlichkeit vorstellen, während die alte mit ihren doch, sagen wir, populär gemeinten Eigentümlichkeiten wie Sentimentalität, leichte Auffaßbarkeit sehr schlechte Begriffe hereinbringt.«19

18 19

Eisler, Hanns: Materialien zu einer Dialektik der Musik, Leipzig 1976, S. 77 [1931]. Ebd., S. 299 [Hervorhebung im Original].

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Nicht weniger als die Überwindung einer Trennung von High und Low Culture ist in diesem Statement verankert. Nun ist im Wesentlichen davon Zeugnis abgelegt worden, dass das Projekt einer volkstümlichen ›ernsten Kunst‹ gescheitert ist. Allerdings (und deswegen dieser gedankliche Umweg) könnte es sein, dass es sich im Selbstverständnis und der Entscheidungspraxis der Ostberliner Kulturinstitutionen in den 1990er Jahren doch stärker abbildet als bisher nachgewiesen wurde. Nicht selten liegen auch den Diagnosen aus westlicher akademischer Perspektive, das Projekt einer Demokratisierung der Künste im realen Sozialismus sei gescheitert, eine Ideologie und Programmatik zugrunde, die eine offene Prüfung der geschichtlichen Entwicklung verstellen.20 Es ist daher eine noch zu klärende Forschungsfrage – die allerdings im Rahmen der Forschungstätigkeit unseres Projekts als Frage klare Kontur annahm –, wie sich das poststrukturalistisch geprägte künstlerische Milieu, das die Ostberliner Räume für seine Zwecke und Performances nutzte, verhält zu den idealistischen Vorstellungen einer volkstümlichen Kunst als einer, der eine Funktion im Sozialismus zukommen sollte – nämlich eine emanzipatorische Funktion, die die an ihr Teilnehmenden zur Selbstständigkeit im Denken und zu positiver Emotionalität befähigt. Die kritische beziehungsweise ablehnende Haltung der jungen westlichen Künstler*innen und ›Kulturarbeiter*innen‹ gegenüber dem bürgerlichen Autonomiegedanken der Kunst ist auf den ersten Blick vielleicht dem der ostdeutschen Kulturverwaltungen ähnlich, denn sie richtete sich gegen den Kunstmarkt und, wie oben skizziert, gegen die Möglichkeit von Repräsentation schlechthin.21 20

21

Ein ernstzunehmender Kommentar zu dieser Frage scheint mir der Dokumentarfilm Der Funktionär zu sein, der die Arbeit von Klaus Gysi, dem ehemaligen Kulturminister der DDR der Ulbricht-Periode, aus der Sicht seines Sohnes Andreas Goldstein hinterfragt. Eine Stärke des Films ist, dass in ihm das demokratische Programm der DDRKulturpolitik – eine funktionale Auffassung der Künste – zunächst als ernstes Anliegen dargestellt ist, dessen Erstarrung für die Filmzuschauer*innen schrittweise nachvollziehbar, wenn auch nicht erklärbar wird. Deutlich wird, dass die Akteur*innen des Kulturbetriebs an eine Demokratisierung der Künste selbst geglaubt haben. Sabeth Buchmann erinnert »die Kunst der neunziger Jahre, ob in Berlin oder in anderen Städten, als eine Art kollektiver Erprobung von etwas anderem als ›Kunstmarkt‹, auch wenn künstlerische Praxis, wollte sie als solche wahrgenommen und wirksam werden, auf diesen bezogen bleiben musste«. S. Buchmann: (Politische) Kunst oder (soziale) Praxis? 2020, im Manuskript S. 9. Zu diesen im Forschungsprojekt Autonomie und Funktionalisierung sichtbar gewordenen Sachverhalten gibt es meines Wissens bisher keine wissenschaftliche Quellenforschung. Sie sind als Zeitzeugenzitate in den Protokollaufführungen von Heimo Lattner und Annette Maechtel deutlich geworden.

Philosophische Narrative der Verschränkung

Die Zurückweisung des kommerziellen Charakters der Künste ist aber ebenso dem sozialistischen Experiment schlechthin eingeschrieben gewesen; einem Experiment, in dem aus verschiedenen Blickwinkeln aktiv an Alternativen zu ökonomischen Kunstbegriffen gearbeitet worden ist, wie ich das mit dem kurzen Verweis auf Hanns Eislers Positionen aufzeigen wollte. Vielleicht ist diese Gemeinsamkeit der Autonomiekritik, die zwischen den sich an Selbstverwaltungsstrukturen abarbeitenden Künstler*innen und den auf demokratisierende Kulturarbeit setzenden Verantwortlichen im Osten Berlins zu bestehen scheint, aber ein Missverständnis, denn der Gedanke der Repräsentation ist dem Ostberliner Modell geradezu an erster Stelle eingeschrieben, während er auf der anderen Seite im Fokus der poststrukturalistischen Künstlerkritik stand und steht. Dennoch halte ich es für falsch, die von den ›Kulturarbeiter*innen des Ostens‹ repräsentativ gedachte Funktionalität der Kunst mit einer Funktionalität des Kunstmarkts und der repräsentativen Institutionen des Westens schlicht gleichzusetzen und damit seine folgerichtige Destruierung durch die jungen einströmenden Künstler*innen anzunehmen. Es ist ein nicht zu unterschlagender Aspekt, dass den Künstler*innen und ihren Initiativen die Räume von jemandem gegeben wurden, das heißt das Narrativ der Besetzung ist nicht zutreffend.22 Auch wurde der experimentelle Raum nicht durch Wiederholung und Variierung geschaffen, wie ein performancetheoretisches Narrativ der 1990er Jahre behauptet,23 sondern ganz in einem phänomenologischen Sinne war ein Raum da, der aus leerstehenden Läden und Wohnungen bestand, über deren Zurverfügungstellung Menschen entschieden haben, die eine konkrete Idee von Kunst und Gesellschaft hatten.24 Zudem waren – und auch das ist weniger ein gesicherter Befund als eine Arbeitshypothese – dissidentische Positionen Ostberlins von den staatli-

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23

24

Die politisch aktivistischen Hausbesetzungen wurden ebenfalls von den Künstler*innen wahrgenommen, manche waren auch an ihnen beteiligt, wie zum Beispiel in der Mainzer Straße. In den Texten Judith Butlers zum Beispiel geht es um die Konstitution von Subjekten und nicht von Räumen, dennoch scheinen die Gedanken zur Subjektkonstitution auf vieles andere, so auch auf die performative Konstitution von Räumen angewendet worden zu sein. Eine solche Darstellung geht davon aus, dass die Räume, in denen Menschen gelebt haben, ihre eigenen und nicht Räume der Vorkriegsbesitzer*innen waren, die sich nach der Vereinigung als juristisch rechtmäßige Besitzer*innen der Häuser wieder gemeldet haben. Das lässt sich meiner Ansicht nach auch philosophisch vertreten.

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chen Vorgaben und Idealen geprägt, vielleicht mehr als es ihnen damals selbst bewusst gewesen ist. Überführt man die beiden parallel laufenden und nur teilweise sich überkreuzenden Kunstbegriffe aus West- und Ostberliner Kontexten in die heutige Zeit, so lässt sich konstatieren, dass die aktivistisch geprägten, den Autonomiebegriff verschiebenden künstlerischen Positionen heute als Vorhut einer kreativwirtschaftlichen Stadtkultur gelesen werden können, deren Akteur*innen es zunehmend mehr Kraft gekostet hat, sich und ihre Arbeit von ebensolchen Strukturen im City-Marketing abzugrenzen.25 Aus diesen mit Globalisierung und Städtewettbewerben verknüpften Entwicklungen, in denen der Autonomiegedanke der Künste direkt verwertet worden ist,26 wurde die Ostkunst dann als bürgerlich, konservativ und langweilig ausgeschlossen.27

2.

Philosophisch denken: Akte der Verschränkung

Gehen wir davon aus, dass (wie einführend erwähnt) historische Recherchen und ihre Auslegung als ein Einsprechen in eine philosophische Theorie verstanden werden können, stellt sich sogleich die Frage, um welche philosophische Theorie es sich hierbei handelt. Gemeint ist an erster Stelle die ästhetische Theorie, mit deren Grundfragen das Forschungsprojekt gestartet war. Das Thema der Autonomie als Charakterisierung einer Einstellung der Freiheit seitens des Kunst rezipierenden Subjekts ist ein zentrales Narrativ in der deutschsprachigen Ästhetik seit der Nachkriegszeit bis 1989. Autonomie wurde auch in anderen Wissenschaften, 25

26 27

An dieser Stelle sei zum Beispiel auf den Begriff der »Projektisierung« verwiesen, der von Annette Maechtel erforscht wird. Vgl. Dies.: »Tu-nix, Tu-was, Tu-es-anders: Berliner Alternativkultur?!«, in: Dies./Anina Falasca/Heimo Lattner (Hg.), Berliner Hefte zur Geschichte und Gegenwart der Stadt, Nr. 7: Wiedersehen in TUNIX! Eine Handbuch zur Berliner Projektkultur, Berlin 2018, S. 93-101. Vgl. zum Beispiel den Beitrag von Susanne Hauser in dieser Publikation. Als Beleg ließen sich eventuell die Auseinandersetzungen um die verschiedenen Ostkunst-Ausstellungen nach 1990 heranziehen. Man könnte aus Kritiken zitieren. Eventuell wurden die ostdeutschen Künste aufgrund des ihnen innewohnenden repräsentativen Anspruchs sogar als rassistisch und nationalistisch angesehen, das heißt sie wurden dann mit den Überfällen auf Migrant*innen im Ostdeutschland der 1990er Jahre zusammengedacht. Vgl. S. Buchmann: (Politische) Kunst oder (soziale) Praxis? 2020.

Philosophische Narrative der Verschränkung

wie beispielsweise der Kunstwissenschaft, als eine Autonomie eines Feldes der Künste und ihrer Werke aufgefasst, mit der eine bestimmte Praxis verbunden ist, die sich hinsichtlich ihrer Freiheit und Unbestimmbarkeit von anderen, zum Beispiel alltäglichen, aber auch wissenschaftlichen Praxen unterscheidet. Diese anderen, nichtkünstlerischen Praxen wurden in der Debattengeschichte im Verhältnis zur Kunst oft unter dem Begriff der »Heteronomie« gefasst, und es war eine der erklärten Forschungsabsichten des Projekts, diese Gegenüberstellung von Autonomie und Heteronomie als Fragestellung nicht zu wiederholen. Ich möchte nun aus philosophischer Perspektive eine Verschiebung der hier angedeuteten Ausgangsfrage skizzieren, unter der sich meines Erachtens auch die veränderten Praktiken und Selbstverständnisse der Berliner Künste nach 1989 fassen lassen. Meine Intuition ist, dass das Außen künstlerischer Handlungen als ein Ziel, das außerhalb der Künste liegt, in diesen Handlungen selbst mit konzipiert ist und angestrebt werden kann. Der Zweck/das Ziel dieser poietischen Handlungen ist etwas, worum willen sie geschehen – so ließe es sich in Rekurs auf den Begriff der Poiesis von Aristoteles sagen. Gehen wir also im Rahmen philosophischer Ästhetik von der Kategorie des künstlerischen Handelns aus, lassen sich Fragen nach den gesellschaftlichen Potenzialen der Künste anders als in der Gegenüberstellung von Autonomie und Heteronomie erläutern. Gesucht wird dabei nach einer Theorie der Handlung, die es erlaubt, eine Verschränkung von innerkünstlerischen Praktiken und ihren außerkünstlerischen Wirkungen zu denken. Dem entspricht auf der Ebene der Subjektivität eine Verschränkung von Aktivität und Passivität sowie von kreativen und rationalen Dimensionen des Handelns. Im Folgenden werden einige philosophiegeschichtliche Ansatzpunkte für dieses Denken der Verschränkung skizziert. Vorab sollte man sich noch einmal vergegenwärtigen, wie jenes klassische Denken der Autonomie (von dem sich eine Handlungstheorie der ›Verschränkung‹ absetzen müsste) konfiguriert war, inwiefern es also zu einer Engführung, einer zu engen Auslegung des Handlungsbegriffs kommt, wenn an der Dichotomie von Autonomie und Heteronomie festgehalten wird. Denn in dem Autonomie/Heteronomie-Gedanken stehen Selbstgesetzgebung (gedacht als die Selbstgesetzgebung der Künste und die Freiheit der Kunst Rezipierenden) und Fremdgesetzgebung (gedacht als Fremdgesetzgebung durch den Künsten äußerliche gesellschaftliche Bereiche und gedacht als Unfreiheit) einander gegenüber; und selbst in ihrer dialektischen Vermittlung bleiben sie – bis hin zur Paradoxie – als voneinander getrennt zu denken. Diese Tatsache betrifft nicht nur die künst-

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140

Judith Siegmund

lerischen Akteur*innen, sondern auch die Rezipient*innen, denen ebenfalls eine wichtige systematische Bedeutung zukommt. Denn auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive lässt sich Kunst als eine Handlung oder eine Tat bestimmen. Und es wird in diesem Zusammenhang die Frage interessant, welche Stellung künstlerischen Handlungen in anderen gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhängen zukommt, welche Wirkungen und Bedeutungen sie haben. Ein Ausgangsgedanke, der diesen hier angestrebten Begriff des künstlerischen Handelns mit hervorbringt, ist der, dass auch unsere alltäglichen, erkennenden sowie praktischen Handlungen ein Verständnis des Subjektiven voraussetzen, das die hier angedeuteten vielschichtigen, aktiven und passiven Dimensionen beinhaltet. Zudem lässt sich sagen, dass es auch in anderen (nicht-künstlerischen) Handlungsformen ästhetische Anteile gibt, genauso wie auch Rationalität und Erkenntnis, Werturteile und affektiv-emotionale Anteile in ihnen gegeben sind. Darüber hinaus sind alle Darstellungen (als Herstellungen) – philosophisch gesprochen – immer ans Menschliche gebunden. Nichts von Menschen Geäußertes oder Gemachtes offenbart sich als ›reines nicht-medial gedachtes Selbst‹ einfach so, wie es ist.28 Auch die Frage nach einer Differenz von Künsten und Nichtkünsten ergibt sich, anknüpfend an das Aufgezählte, eventuell auf eine andere Weise als in Differenzfiguren von ästhetisch/nichtästhetisch, beherrschend/nichtbeherrschend, eindeutig/unbestimmt oder transparent/opak.

Zu philosophischen Narrativen der Verschränkung in der Geschichte der Ästhetik a)

Alexander G. Baumgarten

Bereits Baumgarten geht es in seiner Ästhetik im Hinblick auf Rhetorik und Poetik um das Vermögen, schön zu sprechen, um Übung als Weg der Anreicherung von Wissen und Können sowie um die Sinnlichkeit ästhetischer Erkenntnisformen – er bestimmt letztere im Rückgriff auf Leibniz als »Vorstellungen, die unter der Deutlichkeit verbleiben«.29 Nicht nur den Urteilen,

28 29

Vgl. Schürmann, Eva: Vorstellen und Darstellen. Szenen einer medienanthropologischen Theorie des Geistes, München 2018. Vgl. Einleitung von Judith Siegmund und Anna Calabrese in: Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht?, Bielefeld 2016, FN10.

Philosophische Narrative der Verschränkung

auch den Handlungen, die Schönheit und Geist verbinden, widmet Baumgarten seine Aufmerksamkeit (unter anderem auch in pädagogischer Absicht), wobei er davon ausgeht, dass dem, was als Gebilde ästhetisch anspruchsvoll ist, eine höhere Kraft und auch Wirkung zukommt. Die Voraussetzung dafür, Sinnliches und Intellektuelles zusammenzudenken, ist laut Dagmar Mirbach die Annahme einer Strukturgleichheit, die es Baumgarten erlaubt, von einer »organischen Philosophie« zu sprechen: »Als organon der menschlichen Erkenntnisvermögen – oder im Sinne der in § CXV der Meditationes aufgestellten Forderung nach einer ›Logik in einem allgemeineren Sinne‹ bzw. einer logica latius dicta – soll sie [die organische Philosophie, JS] sowohl die Logik im engeren Sinne (als logica strictius dicta, bezogen auf die oberen Erkenntnisvermögen) als auch die Ästhetik (als logica facultatis cognoscitivae inferioris) einschließen.«30 Baumgarten denkt poietische Handlungen und die eingesetzten Fähigkeiten ihrer Beherrschung zum Beispiel als Mittel zur besseren ästhetischen Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis und ihrer Vermittlung. Diese Mittel sind aber nicht einfach verfügbar, sondern sie bedürfen einer Übung, und die dabei erreichten Ergebnisse lassen sich nicht durch Lehrsätze erschöpfend erläutern. Die Lenkung von Affektivität bestimmt die Resultate, auch in den Wissenschaften, aber ebenso in Politik (Rhetorik) und anderen Künsten. Der Zweck, auf den hin etwas ausgeführt und dargestellt wird, ist in der jeweiligen Ausführung und Darstellung selbst von Bedeutung. Ich möchte ein Beispiel dafür geben, was mit einem solchen »Worumwillen« des Handelns gemeint sein könnte: In ihrem bereits oben erwähnten Beitrag »(Politische) Kunst oder (soziale) Praxis?« schreibt Sabeth Buchmann über die Berliner Projektkultur der 1990er Jahre: Es war »nicht der Glaube [an] eine unmittelbare Revolutionierung der Gesellschaft durch die Kunst, welche die Projektkultur antrieb, sondern die Hoffnung, dass sich Kunst auf eine Weise mit anderen Wissens- und ästhetischen Praktiken mischen würde, die imstande wäre, das Prinzip der Kollektivität gegen die hochindividualisierte Arbeitsgesellschaft in Stellung zu bringen«.31 30

31

Mirbach, Dagmar: »Einführung«, in: Dies. (Hg.), Alexander G. Baumgarten: Ästhetik, Hamburg 2007, S. XXXI. Vgl. dazu ebd., S. XXIX: »Die Analogie von Logik und Ästhetik gründet sich daher, zweitens, auf eine weitgehende Strukturgleichheit der jeweils der sinnlichen und der intellektuellen Erkenntnis zugeordneten Vermögen selbst.« S. Buchmann: (Politische) Kunst oder (soziale) Praxis? 2020.

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Judith Siegmund

Den letzten Teil des Satzes – »das Prinzip der Kollektivität gegen eine anders funktionierende Arbeitsgesellschaft in Stellung zu bringen« – verstehe ich hier im Sinne eines außerhalb der künstlerischen Handlung liegenden Zwecks, und die Vermischung der künstlerischen Praxis mit anderen Wissenspraktiken beziehungsweise anderen ästhetischen Praktiken ist ein Mittel, diesen Zweck zu verwirklichen.

b)

Max Weber

Der Gedanke eines Worumwillen, eines Zwecks des Handelns, durchzieht die westliche handlungstheoretische Philosophiegeschichte, die sich als eine Geschichte der zunehmenden Subjektivierung und der gesteigerten Intentionalisierung subjektiver Ziele darstellt.32 Bei Aristoteles zeigt sich im einzelnen Leben durch das Streben nach Vollendung eine zweckhafte Ordnung im Ganzen, das heißt Aristoteles meint, das Ganze der Welt folge einer intrinsischen Zweckhaftigkeit. Logik, Normativität und Universalität im Gedanken des zweckhaften Ordnungsprinzips treten allerdings im weiteren philosophiegeschichtlichen Verlauf sukzessiv in den Hintergrund und werden zunehmend ersetzt durch die Idee eines Subjekts, das sich die Ziele seiner Handlungen klarmacht. Bereits Thomas von Aquin baut die aristotelische Handlungslehre aus oder gar um, wenn er vorschlägt, die menschliche Handlungserfahrung zur Erklärung der göttlichen Schöpfungsgeschichte heranzuziehen.33 Die Intentionalität menschlicher Handlungen, ihre reflexive Thematisierung und der den Handlungen innewohnende Anspruch auf Geltung werden in der Geschichte immer mehr Maßstab des Weltverstehens. Diese Entwicklung erreicht in der Moderne im Gedanken vom »Idealtypus« des zweckrationalen Handelns bei Max Weber eine Art Höhepunkt. Dieser Idealtypus ist – wie der Name schon verrät – eine reine Denkfigur, in der eine Zweck-Mittel-Beziehung als gereinigt von jedweder Affektivität und von wertenden Urteilen denkbar wird. Die Idee des souverän handelnden Subjektes ist aber heute fast nur noch als Folie ihrer Dekonstruktion, als Gegenstand der oben schon einmal erwähnten poststrukturalistischen Unterwanderung präsent. Unbewusstes, Affektives und Kreatives sind zudem im 20. Jahrhundert als Einwand gegen die Idee der Handlungssouveränität und der ›reinen‹, das

32 33

Vgl. Siegmund, Judith: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2019, S. 71ff. Ebd., S. 108.

Philosophische Narrative der Verschränkung

heißt abstrakten Handlungsmacht des Subjekts zur Geltung gebracht worden. Das beherrschende und gewaltvoll seine Ziele durchsetzende Handeln wird von einigen Autor*innen sogar mit der Moderne schlechthin gleichgesetzt.34 Aus einer solchen (wiederum eindimensionalen) Darstellung ergibt sich zugleich die Kritik des so Aufgefassten, wie sich etwa an der Modernekritik Bruno Latours nachvollziehen lässt. Man könnte aber auch sagen, dass das, was am Ende der Moderne gegen das angeblich souveräne Subjekt (auch von Künstler*innen) in Stellung gebracht worden ist, in der Metageschichte des Subjekts – ursprünglich und geschichtlich betrachtet – im Subjektiven selbst enthalten ist: Im konkreten Handeln ist die Vermischung oder Verschränkung immer schon gegeben.

c)

John Dewey

Und so gibt es auch ästhetische Theorien, in denen der lebendige Kontakt der Subjekte zur Welt oder zur Umgebung, der ja durch die Annahme der genannten eindimensionalen Handlungsformen verunmöglicht wird, als Hauptgedanke im Fokus steht. John Dewey als ein Philosoph, der den Fokus auf die Prekarität der Subjekte legt, entwickelt eine Theorie ästhetischen Handelns und Erfahrens, in der die ständige Abhängigkeit, Verschränkung und auch Abstoßung von einer Umgebung die Konstitution des Subjekts erst ermöglicht.35 Responsivität und Affektivität bestimmen demzufolge vonseiten des Subjekts das Verhältnis zu seiner Umgebung, aber auch die Bewusstwerdung und Reflexivität seiner Handlungsfähigkeit gehen in seine Beziehung zum Gesellschaftlichen ein. Solche Vorstellungen eines infizierenden Kontakts lassen sich freilich bereits in der Ästhetik Baumgartens finden. Intentionalität und Unverfügbarkeit (wie sie zum Beispiel dem Begriff der »Übung« bei Baumgarten eingeschrieben sind) gehören gleichermaßen zum philosophischen Verschränkungsgedanken. Der Gedanke absoluter Beherrschung hingegen ist in diesem Zusammenhang undenkbar. Und die Differenz? Zumindest Dewey hat kein Problem damit, künstlerisches Handeln in seiner Beziehung zum Unverfügbaren als ein exemplarisches Handeln in der Demokratie auszuzeichnen.

34

35

Vgl. zum Beispiel den Begriff der Moderne in den Schriften von Bruno Latour oder Hannah Arendts Figur des Homo faber in: Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1960. Dewey, John: Kunst als Erfahrung, Frankfurt a.M. 1980.

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Judith Siegmund

d)

Anknüpfendes Handeln

Auch in der Hegel-Interpretation von Robert Pippin erscheint das künstlerische Handeln als eine Art Trial-and-Error-Praxis: Sich selbst in seinen Handlungen zu erkennen – dies immer wieder zu versuchen –, sei »ein modernes Schicksal«.36 Die Vorführung dieses »Problems der Instabilität«, das für alles moderne Handeln gilt, sei die Aufgabe oder Funktion der Kunst, so Pippin. Hinzufügen lässt sich: Das Versuchen selbst ist der Ort, an dem das Worumwillen, das heißt der Zweck der Handlung, eingeschrieben bleibt. Und dies ist zugleich der Gedanke, der vom Ich zum Wir führt. Denn das Worumwillen der künstlerischen Handlung geht über die Planung einer erfolgreichen Herstellung oder situativen Meisterung einer künstlerischen Arbeit in dem Sinn hinaus, als dass es eine Wirkung des Entstehenden in seine Gestaltung einbezieht. Hier lässt sich das Dreieck von (prekär gedachtem) Subjekt, einem imaginierten und einem angestrebten Wir als Gesellschaft vermittels des künstlerisch Hergestellten denken. Versteht man diese Bewegung so, dass in sie die Rezeption, Distribution und eventuell auch ein Nachdenken über Institutionen eingeschlossen sind, dann lässt sie sich als Verschränkungsnarrativ deuten, in dem es Subjekten darum geht, vielfältige Formen des gegenseitigen Anknüpfens zu erzeugen, die wesentlich nichts mit einer beherrschenden individuellen Leistung eines gesicherten Subjekts zu tun haben. Solch ein Verschränkungsszenario ist kompatibel mit einer als plural gedachten Gesellschaft, die sich weniger durch gleiche Narrative auszeichnet als vielmehr durch eine bestimmte Bereitschaft, an Fremdes, Affektives oder auch Gegenkulturelles anzuknüpfen. Auch mit einem poststrukturalistischen Subjektbegriff ist die Begriffsbestimmung von Künsten als Handeln womöglich vereinbar. Denn dem vorgeschlagenen Handlungsbegriff liegt eben nicht ein – man kann vereinfachend sagen – monolithischer Begriff eines Subjekts zugrunde, »das seine Praktiken selbst beherrscht«.37 Vielmehr verstehe ich Handeln in diesem Zusammenhang als ein prekäres Geschehen, in dem sich aktive und passive Anteile, rationale und spontane Phasen sowie subjektive und intersubjektive Perspektiven die Waage halten. Denn: Es geht hier nicht

36 37

Pippin, Robert P.: Kunst als Philosophie, Hegel und die moderne Bildkunst, Berlin 2012. Ein so aufgefasstes Subjekt ist im Allgemeinen im poststrukturalistischen Denken dekonstruiert worden. Vgl. dazu auch Georg Bertram, der auf den Subjektbegriff von Christoph Menke Bezug nimmt in: Bertram, Georg: Kunst als menschliche Praxis, Berlin 2014, S. 13.

Philosophische Narrative der Verschränkung

um die Darstellung eines handelnden Subjektes, um das Output des Handelns oder um die Bedeutung, die andere diesem geben, also nicht um einen eindimensional gedachten Akt einer Beherrschung durch einen sich selbst transparenten Willen, der sich zudem gegenüber einem Material und einer Mitwelt durchsetzt. Würde man Handeln so vereinfacht auffassen, dann wäre es leicht, eine bestimmte Weise des Nichthandelns, des Aufhaltens und Inder-Schwebe-Haltens sowie des Rätselhaften als Relativierung des Handelns zu idealisieren. Das Begriffspaar »Autonomie/Heteronomie«, dessen Reflexion eines der Ausgangsmotive des Forschungsprojekts gewesen ist, reproduziert in vielen Punkten eine solche problematische Idealisierung des Künstlerischen. Und problematisch beziehungsweise falsch ist diese Idealisierung vor allem deshalb, weil sie in der Regel einhergeht mit einer komplementären Herabstufung des Außen des Künstlerischen, nämlich seiner Wirkungen auf die umgebende Welt. Das bloß Rätselhafte, die Unterbrechung des Handelns, als welche die Kunst dabei vorgestellt wird, lässt das Künstlerische tendenziell nicht nur zweckfrei, sondern auch wirkungslos erscheinen. Dagegen richtet sich das hier entwickelte handlungstheoretische Denken der Verschränkung.

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Kulturwissenschaft Gabriele Dietze

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Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., 39 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2017, 158 S., kart., 30 SW-Abbildungen 14,99 € (DE), 978-3-8376-3972-8 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3972-2

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Kulturwissenschaft Katrin Götz-Votteler, Simone Hespers

Alternative Wirklichkeiten? Wie Fake News und Verschwörungstheorien funktionieren und warum sie Aktualität haben 2019, 214 S., kart., Dispersionsbindung, 12 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4717-4 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4717-8 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4717-4

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 8, 2/2019) 2019, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4457-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4457-3

Zuzanna Dziuban, Kirsten Mahlke, Gudrun Rath (Hg.)

Forensik Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2019 2019, 128 S., kart., 20 Farbabbildungen 14,99 € (DE), 978-3-8376-4462-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4462-7

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