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German Pages 422 Year 2014
Zülfukar Çetin Homophobie und Islamophobie
Queer Studies | Band 3
Zülfukar Çetin hat an der Freien Universität Berlin am Institut für Soziologie promoviert. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Rassismus und Antimuslimischer Rassismus, kritische Migrationsforschung, Homophobie, Heteronormativität und Intersektionalität.
Zülfukar Çetin
Homophobie und Islamophobie Intersektionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare in Berlin
Diese Veröffentlichung lag dem Promotionsausschuss Dr. phil. der Freien Universität Berlin als Dissertation vor. Gutachter_innen: Prof. Dr. Helgard Kramer-Washington, Prof. Dr. Klaus Jürgen Bruder, Apl. Prof. Dr. Sigrun Anselm, PD Dr. Rolf Hepp und Prof. Dr. Schirin Amir-Moazami. Die Disputation fand am 26.05.2011 statt. Die Veröffentlichung der Dissertationsarbeit erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
1.
Einleitung | 9
Zentrale Untersuchungsdiskurse | 15 2.1 Diskriminierung | 15 2.1.1 Juristische Definition | 16 2.1.2 Soziologische Definition | 20 2.2 Rassismus | 25 2.2.1 Die Entstehung des modernen Rassismus | 28 2.2.2 Ein Überblick über relevante gegenwärtige Rassismustheorien | 31 2.2.3 Versuch einer übergreifenden Definition | 39 2.2.4 Exkurs I: Kulturalistischer und differenzialistischer Rassismus | 41 2.2.5 Exkurs II: Elitenrassismus | 42 2.3 Islamophobie im Diskurs des kulturalistischen Rassismus | 43 2.3.1 Diskurse und Diskussionen über den Begriff der Islamophobie | 45 2.3.2 Kritik am Begriff der Islamophobie | 48 2.3.3 Islamophobie als eine Form des kulturalistischen Rassismus? | 51 2.4 Homophobie als Folge der Heteronormativität | 53 2.4.1 Heteronormativität | 53 2.4.2 Homophobie | 70 2.4.3 Exkurs III: Islam und Homosexualität | 79 2.5 Intersektionelle Diskriminierung: Mehrfache und mehrdimensionale Diskriminierung | 85 2.5.1 Intersektionalität aus sozialwissenschaftlicher Perspektive | 85 2.5.2 Mehrdimensionale, Mehrfache und Intersektionale Diskriminierung aus der politsch-aktivistischen Sicht | 95 2.
3.
Die Geschichte der homosexuellen Bewegung in Deutschland | 101
3.1 Homosexualität vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bzw. 1969 | 101 3.2 Die Homosexuelle Bewegung in der Zeit der BRD von 1969 bis 1994 | 105 3.3 Gegenwärtige Situation von Homosexuellen und das Lebenspartnerschaftsgesetz | 110 3.4 Binationale schwule Partnerschaften mit oder ohne eingetragene Lebenspartnerschaft | 113
Methodisches Vorgehen | 117 4.1 Zur Datenerhebung | 117 4.1.1 Das biographisch-narrative Interview | 117 4.1.2 Prinzipien zur Interviewführung | 119 4.1.3 Die Auswahl des biographisch-narrativen Interviews | 121 4.1.4 Auswahl der Interviewpartner | 121 4.1.5 Die Durchführung der Interviews | 122 4.1.6 Zugang zu den Interviewpartnern | 124 4.2 Zur Datenauswertung | 124 4.2.1 Die Datenaufbereitung und Transkription der narrativen Interviews | 124 4.2.2 Die Methode der Datenanalyse | 125 4.
5.
Rekonstruktive Auswertung ausgewählter Interviews | 131
5.1 Fall I: Arda | 131 5.1.1 Kurzbiographie von Arda | 131 5.1.2 Strukturelle Textanalyse des ersten Falls | 131 5.1.3 Biographische Gesamtformung | 161 5.2 Fall II Ali | 180 5.2.1 Kurzbiographie von Ali | 180 5.2.2 Strukturelle Textanalyse des zweiten Interviews | 181 5.2.3 Biographische Gesamtformung | 239 5.3 Fall III: Can | 258 5.3.1 Kurzbiographie von Can | 258 5.3.2 Strukturelle Textanalyse des dritten Interviews | 258 5.3.3 Biographische Gesamtformung | 284 5.4 Fall IV: Kai | 299 5.4.1 Kurzbiographie von Kai | 299 5.4.2 Strukturelle Textanalyse des vierten Interviews | 300 5.4.3 Biographische Gesamtformung | 330 5.5 Fall V: Hamid | 337 5.5.1 Kurzbiographie | 338 5.5.2 Biographische Gesamtformung | 338 5.6 Fall VI: Frank | 359 5.6.1 Kurzbiographie | 359 5.6.2 Biographische Gesamtformung | 359 Vergleiche minimaler und maximaler Kontraste | 371 6.1 Minimale Kontrastanalyse | 373 6.1.1 Typ A: Türkeistämmig: Arda und Ali | 373 6.1.2 Typ B: Binationale/bikulturelle Sozialisation: Can und Hamid | 378 6.1.3 Typ C: Deutsche Herkunft: Kai und Frank | 380 6.
6.2 Vergleich nach dem Prinzip des maximalen Kontrastes: Fall I (Arda) und Fall II (Can) | 382 6.2.1 Vergleichsebene I: Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft – Klassismen | 383 6.2.2 Vergleichsebene II: Biologistischer Rassismus | 385 6.2.3 Vergleichsebene III: Kulturalistischer Rassismus – Islamophobie | 388 6.2.4 Vergleichsebene IV: Staatsangehörigkeit Institutioneller Rassismus | 389 6.2.5 Vergleichsebene V: Sexuelle Orientierung Heteronormativismus | 391 7.
Fazit und Ausblick | 395
Literatur | 399
Anhang I: Tabellen | 412 Anhang II: Abkürzungen und Transkriptionszeichen | 421
1. Einleitung
„Homophobie ernst zu nehmen, heißt zu akzeptieren, dass sie auf unterschiedlichen Ebenen existiert und in verschiedenen Schichten der Gesellschaft. Wir sollten uns für die Homophobie innerhalb der CDU oder innerhalb der katholischen Kirche interessieren, aber auch unter Liberalen der Mittelklasse und neuen rechtspopulären Organisationen. Wenn wir dann vielleicht Homophobie innerhalb von Migranten communitys in Betracht ziehen, würden wir eine Art und Weise des Nachdenkens über Homophobie haben, die Rassismus nicht wiederholt. Aber untersuchen wir das Problem? Oder versuchen wir, diese Homophobie zu bekämpfen? Wenn wir das versuchen, müssen wir es in einem Zusammenhang einer Allianz machen, für die der Kampf gegen Rassismus genauso wichtig ist wie der Kampf gegen Homophobie.“ (Judith Butler, 01.07.2010)
Seit einigen Jahren wird im Bereich der Europäischen Union die Auffassung vertreten, dass sich europäische Identitäten bilden, die mehr Toleranz und Anerkennung gegenüber Anderen zeigen. Durch diese Behauptungen entlarven sich die europäischen Machtinhaber_innen selbst in Bezug auf die Tatsache, dass Europa Schwierigkeiten hat, Andere anzuerkennen bzw. sie zu tolerieren. Die Frage der Toleranz und der Anerkennung von Nicht-Europäer_innen manifestiert sich im Zusammenhang mit globalen Machtverhältnissen. Die Machtinhaber_innen sehen sich berechtigt, die Anderen zu tolerieren oder abzulehnen, sie anzuerkennen oder zu deklassieren. Seit einigen Jahren scheint Europa bemüht zu sein, Toleranz, Anerkennung und Akzeptanz in der Gesellschaft umzusetzen und jegliche Diskriminierungen abzubauen. In diesem Zusammenhang stellt sich eine weitere Frage: wer soll toleriert, anerkannt sowie akzeptiert werden? Allein diese grammatische Formulierung verrät Machtbeziehungen zwischen Überlegenen und Unterlegenen. Die Passivsatzkonstruktion der Frage stellt die unterlegene Situation der Tolerierten, Anerkannten sowie Akzeptierten dar. Als ich als junger Bildungsmigrant nach Deutschland kam, war für mich die Atmosphäre des toleranten Europas berauschend. Die Diskurse zur Freiheit der Menschen durch Toleranz waren so einflussreich, dass ich es als nicht europäischer Bil-
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dungsmigrant nacheifernswert fand, europäisch zu sein. So versuchte ich, Kontakte zu Europäer_innen zu knüpfen, um mehr davon zu erfahren, was Freiheit, Toleranz, Vielfalt, Akzeptanz etc. für sie bedeuten würde. Meine Bemühungen waren dennoch nicht ganz erfolgreich, so dass ich langsam begreifen musste, dass man nicht europäisch werden kann, sondern man wird europäisch geboren. Mit diesen Erfahrungen in den ersten Jahren meines Aufenthaltes in Deutschland kam ich zu Hinterfragungen, wie Europa nicht rassistisch sein kann bzw. wie Europa Freiheit definiert oder wie Europa die Freiheit erlebt. Solche Hinterfragungen entstanden nicht nur aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, sondern auch aus denen der in Europa lebenden Migrant_innen und aus Erfahrungen der als Migrant_innen bezeichneten Menschen. Die Ausgrenzungen finden nicht nur aufgrund der nicht-europäischen Zugehörigkeit statt, sondern Menschen erleben auch heteronormative Diskriminierung und zwar sowohl in Europa als auch außerhalb Europas. Bezüglich der heteronormativen Diskriminierung gibt es vor allem in den europäischen Gesellschaften einen verbreiteten Glauben, dass Migrant_innen aus islamischen Ländern extrem homophob seien und Gewalt an Schwulen und Lesben ausüben. Die Homophobie wird meistens mit dem Islam in Verbindung gebracht; der Islam wird u.a. als Auslöser homophober Diskriminierung angesehen. Eine weitere Behauptung ist, dass Menschen mit islamischem Hintergrund als integrationsunwillig bezeichnet werden, denn ihre Religion sei nicht mit den christlich geprägten europäischen Werten vereinbar. Auch wenn derartige eurozentrische Behauptungen nach dem 11. September 2001 verbreitet zu sein scheinen, haben sie eine längere Geschichte, die bis zum Anfang des Kolonialismus zurückgeht. Der Schwerpunkt der vorliegenden Studie liegt vor allem in der Forschung über Mehrfachdiskriminierung in Berlin. Aufgrund der kulturellen, religiösen, politischen, sozialen und sexuellen Vielfalt von Menschen in der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland besteht hier die Möglichkeit, eine qualitative Untersuchung zu intersektioneller Diskriminierung durchzuführen. Diese Arbeit stellt die Frage, welche Erfahrungen binationale schwule Paare mit Diskriminierungen in ihrer Biographie machen und gemacht haben und wie sie diese wahrnehmen, verarbeiten und mit ihnen umgehen. Diese Studie stellt neben dieser Fragestellung eine These auf, die im Rahmen dieses Dissertationsprojektes zu beweisen ist, dass nämlich Homophobie, der eine Mehrzahl von Berliner Schwulen ausgesetzt ist, auch im toleranten, freien und demokratischen Europa stattfindet. Um diese These zu begründen, werde ich auf die sozialgeschichtlichen Bedingungen der Diskriminierung eingehen. Mit einer soziohistorischen Analyse ist es möglich, die Formen der Diskriminierung zu verstehen. Es handelt sich hier nicht nur um die Bezeichnung bzw. die Definition der Diskriminierung durch unterschiedliche sozialwissenschaftliche und politische Forschungen, sondern auch um die subjektive Wahrnehmung, Deutung, Verarbeitung bzw.
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den Umgang mit der Diskriminierung durch die Diskriminierten, die sich in dieser Studie als Betroffene_r darstellen. Gegenstand meiner Untersuchung sind daher auf der einen Seite schwule Männer, die aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind. Die Homosexualität und die ausländische Herkunft bzw. abweichende religiöse oder kulturelle Zugehörigkeit bilden meistens die Gründe für strukturelle und institutionelle Diskriminierungen. Während die ausländischen oder als ausländisch angesehenen Befragten Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung im Einwanderungsland machen müssen, können sie im Alltag auch auf homophobe Diskriminierungen stoßen. So stellt sich eine weitere Frage: Wie lassen sich institutionelle und strukturelle Diskriminierungen im biographischen Verlauf der untersuchten ausländischen oder als ausländisch angesehenen schwulen Männer erkennen? Untersuchungsgegenstand sind auf der anderen Seite die deutschen schwulen Männer, die eine (Lebens-)Partnerschaft mit einem ausländischen oder als ausländisch angesehenen schwulen Mann haben. Aufgrund der kulturellen, nationalen oder religiösen Herkunft des ausländischen oder als ausländisch angesehenen schwulen Partners können auch sie durch ihre Familie und Verwandten, den Freundes- und Bekanntenkreis strukturellen Diskriminierungen ausgesetzt sein. So wurde in dieser Studie das Thema der intersektionellen bzw. Mehrfachdiskriminierungen der in Berlin lebenden binationalen schwulen Partnerschaften entwickelt. Da diese Studie sich mit homophoben, rassistischen und sozialen Diskriminierungen auf gesellschaftlicher und institutioneller Ebene befasst, bevorzuge ich in erster Linie eine Analyse der in Deutschland und im deutschsprachigen Raum durchgeführten Studien sowie wissenschaftlichen Beiträge. Zum Thema Diskriminierung, Rassismus und Homophobie finden sich in der Literatur zahlreiche Forschungen und theoretische Ansätze, die meine Arbeit bereichern und stützen würden. Dennoch gibt es zum Thema der intersektionellen bzw. Mehrfachdiskriminierungen bislang nur unzureichende Studien und theoretische Ansätze. Insbesondere gilt die soziale und institutionelle Situation der in Berlin lebenden binationalen schwulen Paare immer noch als unerforscht. Nur wenige Broschüren staatlicherseits liefern Informationen über die soziale und institutionelle Situation von binationalen schwulen Paaren. Auch sind sie nicht ausreichend informativ, denn sie berücksichtigen nur die binationalen schwulen Paare, die sich standesamtlich haben eintragen lassen. Die nicht eingetragenen binationalen schwulen Paare bzw. ihre soziale Lage finden keinerlei Beachtung. So beansprucht diese Studie, diese Lücke zu schließen und die mehrdimensionalen Lebensumstände der untersuchten Gruppe anhand der Interviewanalyse darzustellen. Im ersten Abschnitt des einleitenden Kapitels (2.1) der vorliegenden Studie gehe ich auf den Begriff der Diskriminierung ein. Hier ist wichtig, heraus zu arbeiten, welche Formen der Diskriminierung sich erkennen lassen und wie man sie im soziologischen und juristischen Sinne definiert.
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Im Zusammenhang mit dem Begriff der Diskriminierung stelle ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels (2.2) den Begriff des Rassismus zur Diskussion. Die begriffliche Klärung des Rassismus erfolgt durch eine globale historische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kolonialismus sowie des Kapitalismus. Im Anschluss an die Rassismusdiskussion stellt sich die Frage, ob islamfeindliche Positionen bzw. Islamophobie als eine Form des Rassismus bezeichnet werden können. So gehe ich in diesem Abschnitt (2.3) auf den Zusammenhang zwischen dem biologistischen und kulturalistischen Rassismus ein, um die Islamophobie als eine Form des Rassismus einordnen zu können. Hier wird ersichtlich, wie islamfeindliche Positionen bzw. Islamophobie in der Mehrheitsgesellschaft entstehen und gestärkt werden. Als eine andere Form der Diskriminierung behandle ich im darauf folgenden Abschnitt (2.4) das Thema Homophobie, die ich als eine Folge der Heteronormativität bezeichne. In diesem Teil der Arbeit stelle ich die These auf, dass die Heteronormativität bzw. Homophobie mit christlicher Moral in einem engen Zusammenhang steht. So vertrete ich hier die Auffassung, dass das Christentum bezüglich der Homophobie einen starken Einfluss auf die islamische Welt genommen hat und immer noch nimmt. Queer Politik, Queer Theory, Denaturalisierung des Sexes aus der foucaultschen Sicht und die butlersche Dekonstruktion der heterosexuellen Matrix stehen im Zentrum dieses Abschnittes. Nach der Destabilisierung der dichotomen heteronormativen Geschlechterordnung gehe ich auf das Verhältnis zwischen Islam und Homosexualität aus einer antiorientalistischen Sicht ein. Der letzte Abschnitt des zweiten Kapitels (2.5) gilt zunächst als Zusammenfassung der bisher durchgeführten Diskriminierungsdiskurse. Aufgrund der Tatsache, dass Diskriminierung verschiedene Facetten hat bzw. sich in unterschiedlichen Formen manifestiert, steht im Zentrum dieser Studie, das Zusammenwirken, die Überschneidungen sowie Zusammenhänge verschiedener Diskriminierungsformen zu untersuchen. So widmet sich dieser Teil der Arbeit dem Intersektionalitätsansatz, der sich mit den Entstehungsbedingungen der Mehrfachdiskriminierung unter Berücksichtigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung auseinandersetzt. Im dritten Kapitel behandle ich das Thema der homosexuellen Bewegung in Deutschland. Da die Geschichte der homosexuellen Bewegung eng mit der Entstehung antihomosexueller Paragraphen verbunden ist, gehe ich an dieser Stelle auf die historischen Entwicklungen sowie Ereignisse ein. So erhält der antihomosexuelle § 175 StGB1 eine besondere Aufmerksamkeit in dieser Studie, weil er schon seit dem Kaiserreich und dann bis 1994 in Deutschland in Kraft war. In diesem Kapitel erlangt das im Jahr 2001 in Kraft getretene Lebenspartnerschaftsgesetz (LPartG) eine besondere Beachtung. Auch wenn dieses Gesetz in erster Linie als Erfolg für die homosexuelle Emanzipationsbewegung betrachtet werden kann, zeige ich in 1
Alle folgenden Paragraphen ohne nähere Bezeichnung sind solche des StGB.
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meiner Studie auf, dass es trotz dieses Fortschrittes in der BRD immer noch homophobe Diskriminierungen gibt. Am Beispiel binationaler schwuler Partnerschaften möchte ich die problematischen Seiten des LPartG darstellen. Im vierten Kapitel wird die Untersuchungsmethode ausführlich behandelt. Im Rahmen der Dissertationsarbeit habe ich mit insgesamt 15 schwulen Männern biographisch-narrative Interviews geführt. Die grundlegende Bedingung eines Interviews war, dass der Interviewpartner in einer binationalen schwulen Partnerschaft lebt. Gemeinsam ist allen Interviews, dass ein Partner ausländischer Herkunft ist oder als solcher angesehen wird und der andere Partner deutscher Herkunft ist oder als solcher bezeichnet wird. Zu Beginn der Studie habe ich nicht auf die Herkunftsländer der Interviewten geachtet. So konnte ich verschiedene schwule Männer interviewen, die beispielsweise aus Griechenland, Frankreich, Kirgisien, Bosnien, Pakistan, dem Iran, der Türkei und Deutschland stammen. Nach jedem Interview erfuhr ich mehr über unterschiedliche Situationen schwuler Männer, die wiederum aus den verschiedensten Ländern stammen. In der Auswertungsphase der Interviews habe ich mich jedoch auf die Interviews mit ausländischen Männern konzentriert, die aus einem islamischen Land kommen oder einen muslimischen Hintergrund haben. Die Erzählungen über Homosexualität, Rassismus, Kulturalismus zeigten auf, dass die Menschen je nach ihrem Herkunftsland in unterschiedlichem Maße sowie in unterschiedlicher Art von Diskriminierungen betroffen sind. So wurden in den Auswertungen die Interviews mit schwulen Männern aus europäischen Ländern ausgeschlossen, weil sie zwar von Homophobie betroffen sind, jedoch anders behandelt werden als die schwulen Männer mit einem tatsächlichen oder zugeschriebenen islamischen Hintergrund. Die Interviews mit muslimischen Schwulen zeigten, dass sie in der Aufnahmegesellschaft homophoben, rassistischen und sozialen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Im Bezug auf die binationale Partnerschaft war es auch wichtig, Interviews mit einheimischen Schwulen durchzuführen, deren Partner einen islamischen Hintergrund hat. Die deutschen schwulen Männer sollten für diese Studie als Vergleichsfolie im Hinblick auf institutionelle Diskriminierungen fungieren. Die nach diesen Kriterien ausgewählten Interviews werden nach der Methode von Fritz Schütze ausgewertet (5). Die Präsentation der biographischen Gesamtformungen der Fälle ermöglicht einen breiten Überblick über Erfahrungen und Erlebnisse der Interviewpartner. Kindheit, Sozialisation, sexuelle Entwicklung, Comingout, Migrationserfahrungen, homophobe, rassistische, kulturalistische und klassistische Diskriminierungserlebnisse sowie binationale schwule Partnerschaften sind zentrale Themen der biographischen Narrationen. Im abschließenden Kapitel (6) werde ich die Ergebnisse der Auswertungen bzw. der Forschung vortragen. Hier werden einzelne Punkte zu Diskriminierungen herausgearbeitet. Anhand der Auswertung der Interviews wird zum Schluss ein minimaler und maximaler Vergleich gezogen. Ziel dieses Vergleichs ist es, zum einen
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ähnliche Diskriminierungserfahrungen und zum anderen unterschiedliche Wahrnehmungen, Verarbeitungs- und Umgangsstrategien mit Diskriminierungen darzustellen. Aus Datenschutzgründen werden die Interviews nicht angehängt, stattdessen werden die Interviewverläufe im Anhang tabellarisch dargestellt und im Rahmen der Arbeit nur forschungsrelevante Interviewstellen zitiert. Als Forscher sehe ich mich für den Datenschutz der Interviewpartner verantwortlich. Meine Aufgabe besteht in diesem Zusammenhang darin, dass ich die Anonymität der Interviewpartner gewährleiste, indem ich deren Namen, den genauen Herkunftsort, die genaue Berufsbezeichnung etc. maskiere. Mein Dank gilt zunächst meinen Interviewpartnern für ihr Vertrauen, ihre Offenheit und Bereitschaft, mir über ihr Leben zu erzählen. Besonders herzlich möchte ich mich bei meiner Betreuerin Frau Prof. Dr. Helgard Kramer-Washington und bei meinem Betreuer Herrn Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder bedanken. Von Anfang an haben sie mich unterstützt und ermutigt. Ohne ihre verlässliche Begleitung wäre diese Arbeit nicht entstanden. Der Forschungswerkstatt mit Dr. Kornelia Sammet und Dr. Jutta Lütten-Gödecke gilt mein Dank. Die methodischen und inhaltlichen Auseinandersetzungen bereicherten mich und meine Arbeit. Ich bedanke mich bei den Mitgliedern der Doktorand_innen-AG – Ça÷lar Yılmaz, Fatma Erdem, Levan Lortkipanidze, Lilith Wanner-Mack, Lorenz Graitl und Regina Krezo – für ihre Begleitung im Forschungsprozess. Mein Dank gilt auch der freundlichen Unterstützung von Katja Spory, (Katha)Rina Schmeller, Nils Eckardt, Wibke Müller, Oliver Bressler und Lisa Beerbaum. Ich danke meinem Partner Oliver Ohlsen dafür, dass er mir immer Kraft gegeben, mich ermutigt und motiviert hat, diese Arbeit auf die Beine zu stellen und schließlich fertig zu stellen. Mit dem Doktorandenstipendium der Hans-Böckler-Stiftung habe ich eine der besten Möglichkeiten gefunden, mich zu verwirklichen. Meine Arbeit widme ich meiner Mutter Fatma Çetin.
2. Zentrale Untersuchungsdiskurse
2.1 D ISKRIMINIERUNG Im einleitenden Kapitel der vorliegenden Arbeit geht es um eine interdisziplinäre Erläuterung des Begriffes der Diskriminierung. Im Voraus sei erwähnt, dass sie keinen Anspruch auf eine allgemeingültige Definition dieses Begriffes erhebt. Dennoch ist es von großer Bedeutung, Definitionen, die für meine Studie relevant sind, vorzustellen und zu diskutieren sowie Zusammenhänge zwischen fachspezifischen Erklärungen herauszuarbeiten. Das Wort diskriminieren leitet sich aus dem Lateinischen ab und bedeutet trennen, unterscheiden, absondern. Die etymologische Bedeutung des Wortes wird heute nicht mehr oder kaum verwendet. Heute steht der Begriff der Diskriminierung nahezu ausschließlich für Benachteiligen, Herabwürdigen, Herabsetzen. Diese eben aufgezählten Begriffe können m.E. nicht als Synonym für Diskriminierung betrachtet werden. Der Begriff der Diskriminierung wird in verschiedenen Bereichen unterschiedlich definiert. Da bis heute keine allgemein anerkannte Definition existiert, werde ich den Begriff der Diskriminierung aus juristischer und soziologischer Perspektive behandeln. Der Grund dieser Eingrenzung auf zwei Bereiche liegt darin, dass meine Studie sich mit Mehrfachdiskriminierungen binationaler schwuler Paare beschäftigt. Das soll heißen, dass diese Studie die Diskriminierung zunächst auf juristischer Ebene behandeln wird, da die von mir interviewten Personen sich als Betroffene von Mehrfachdiskriminierung empfinden bzw. betrachten. Aufgrund dieser tatsächlich empfundenen Situation der Interviewten verlangt meine Studie eine Auseinandersetzung mit den vorhandenen juristischen Definitionen, die einerseits zur Erkenntnis der Diskriminierung, ihrer Ursache und Erscheinungsformen sowie dem Erkennen der Täter_innen (Diskriminierenden) und der Betroffenen (Diskriminierten) dienen. Andererseits gehen die soziologischen und politischen Definitionen von den Mängeln der juristischen Definitionen der Diskriminierung aus. Obwohl der Diskriminierungsschutz durch die gesetzlichen Bestimmungen gewährleistet werden sollte, zeigen Gesetzesbücher, Antidiskriminierungsmaßnahmen
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und internationale Verträge augenfällige Lücken, wodurch ein vollkommener Diskriminierungsschutz nicht gesichert werden kann. Die Aufgabe dieser Studie ist es, aufzuzeigen, inwieweit gesetzliche Lücken bestehen und wie juristische Antidiskriminierungsmaßnahmen Erfolg erlangen. Eine soziologische Definition ist für diese Arbeit erforderlich, da sie Diskriminierung anderer als soziales Phänomen in den Blick nimmt und deren Ursachen und Folgen analysiert. In soziologischem Verständnis vollzieht sich Diskriminierung in Interaktionen zwischen a) einzelnen Personen, b) einer Person und einer (imaginären) Menschengruppe, c) Menschengruppen, d) Menschengruppen und Institutionen sowie e) zwischen einzelnen Personen und Institutionen. 2.1.1 Juristische Definition Aufgrund zunehmender Diskriminierungshandlungen in den verschiedenen europäischen Gesellschaften und der einflussreichen Diskriminierungsinstanzen (wie Religion, Gesetzgeber oder Arbeitsmarkt) und anlässlich des Vertrages von Amsterdam von 19971 und der EU-Charta 20002 beschloss die Europäische Union, ab 1
Amsterdamer Vertrag von 1997: In den letzten Jahren hat sich die EU einen beträchtlichen Korpus von Rechtsvorschriften geschaffen, um Maßnahmen gegen Diskriminierungen auf Grund des Geschlechts, bei Entlohnung, Arbeitsbedingungen und sozialer Sicherheit zu ergreifen. Dennoch hat man festgestellt, dass die Europäische Gemeinschaft Diskriminierungen auch wegen einer Reihe weiterer Gründe bekämpfen musste. Aus diesem Grund wurde mit dem Vertrag von Amsterdam aus dem Jahre 1997 der Artikel 13 eingeführt, der der Gemeinschaft die Berechtigung gab, Diskriminierungen wegen eines umfassenden neuen Spektrums von Gründen zu bekämpfen, einschließlich der Diskriminierungen wegen der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, des Alters, einer Behinderung oder der sexuellen Ausrichtung. Um sicherzustellen, dass alle in der EU lebenden Menschen einen rechtlichen Schutz gegen Diskriminierungen haben, verabschiedete der Rat im Jahr 2000 zwei Richtlinien: die Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der „Rasse“ und die Richtlinie zur Gleichbehandlung im Bereich der Beschäftigung. Diese Richtlinien stellen wichtige Fortschritte beim Schutz gegen Diskriminierungen in der gesamten EU dar. Sie haben beträchtliche Änderungen im nationalen Recht aller Mitgliedstaaten erforderlich gemacht, auch in denen, die bereits über umfassende Antidiskriminierungsvorschriften verfügten. Darüber hinaus sind die Mitgliedsstaaten damit befasst, ihre Gesetzgebung zu Diskriminierungen auf Grund des Geschlechts unter Berücksichtigung der Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsausbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (Richtlinie 2002/73/EG) zu aktualisieren (siehe Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2004).
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2003 eine EU-weite jährliche Umfrage zum Thema Diskriminierung durch zu führen. Das Ziel dieser Befragungen ist es, jegliche Art von Diskriminierung, sozialen Ungleichheiten und Benachteiligungen in den EU-Ländern festzustellen und die Situation der Diskriminierten auf Grundlage der Ergebnisse zu verbessern3. Nach der Unterzeichnung des Amsterdamer Vertrages wurde der Begriff erneut definiert. Demnach zielt Diskriminierung auf folgende Merkmale einer sozialen Gruppe oder eines Individuums: „Rasse“4 oder ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung (körperliche Behinderung, Lernschwierigkeiten oder psychische Krankheit), Alter, Geschlecht und sexuelle Orientierung. Diese Definition wird seit Jahren von verschiedenen politischen Antidiskriminierungsinstitutionen und Sozialwissenschaftler_innen aus dem Bereich der Ungleichheitsforschung berechtigterweise stark kritisiert, da sie mangelhaft und daher inakzeptabel ist, so dass sie nicht als endgültig anerkannte juristische Definition betrachtet werden kann. Die in der Definition vorhandenen Merkmale erweisen sich als problematisch. Vor allem der Begriff der „Rasse“ als ein Diskriminierungsmerkmal sollte in einer solchen Definition nicht verwendet werden. Da die Menschen einer „Rasse“ zugeordnet werden, erfolgt meistens gerade deswegen eine Benachteiligung, Ausgrenzung oder sogar Verfolgung. Aus diesem Grund stößt die oben aufgeführte Definition auf Kritik seitens des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Die Kritikpunkte des Instituts stützen sich auf die historische Verwendung des Begriffes. Demnach waren Rassenlehre und Antisemitismus eng miteinander verbunden. Der Rassenkampf stand für die Nationalsozialisten im Mittelpunkt ihrer Ideologie, die Menschen verachtete, verletzte und auch vernichtete. Die Reinhaltung des Blutes, die Ausmerzung des parasitenhaften Judentums waren Grundlage ihres Kampfes, der in der Massenvernichtung der Juden gipfelte. 2
Die Verpflichtung der EU auf den Grundsatz des Diskriminierungsverbots wurde durch die Verkündigung der Charta der Grundrechte im Jahr 2000 bestätigt. In Artikel 21 der Charta werden alle sechs in Artikel 13 EG-Vertrag von Amsterdam 1997 aufgeführten Diskriminierungsgründe abgedeckt sowie sieben zusätzliche Gründe hinzugefügt: soziale Herkunft, genetische Merkmale, Sprache, politische oder sonstige Anschauung, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Vermögen und Geburt. In Anlehnung an Artikel 12 EG-Vertrag verbietet Artikel 21 der Charta ferner jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (siehe CHARTA DER GRUNDRECHTE DER EUROPÄISCHEN UNION 2010 und Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2004: 12).
3 4
Siehe dazu: FRA 2009; ENAR 2007; EUMC 2006. Es ist hier anzumerken, dass der Begriff „Rasse“ in der deutschen Sprache ausschließlich als biologische Kategorie bzw. Merkmal verwendet wird. Im Gegensatz dazu wird der Begriff race im angloamerikanischen Zusammenhang oft als kulturelle Kategorie verstanden.
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(Cremer 2009: 9f.) Trotz dieser historischen Verwendung wird der Begriff auch heute in verschiedenen Zusammenhängen in einigen Gesellschaften mit diversen Konnotationen diskutiert. Es existieren auch heute noch Menschen oder Gruppierungen, die sich nach der „Rasse“ definieren. Da dieser Begriff mit einem ideologisch geprägten biologistischen Konzept eng zusammenhängt und die Existenz einer biologischen Kategorie wissenschaftlich nicht belegt werden kann, dürfte er in einem Antidiskriminierungsgesetz nicht verwendet werden (vgl. ebd.). Angesichts dieser Beanstandungen schlagen einige kritische juristische Organisationen vor, Formulierungen wie zugeschriebene Rasse, so genannte Rasse oder rassistische Diskriminierung zu verwenden (vgl. Weatherwax 2005: 51). Im folgenden Kapitel 2.2 werde ich auf Rassismus und Rassismustheorien näher eingehen. Der Antidiskriminierungsverband Deutschland (advd) stellt die Definition der Diskriminierung, wie sie sich im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vom August 2006 (AGG) findet, in Frage, denn dieses Gesetz beschränkt sich auf bestimmte konstruierte Merkmale einer Menschengruppe und eines Individuums, die nur aufgrund dieser Merkmale von Diskriminierung betroffen sein können. Auf die einzelnen problematischen Punkte des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes wird hier aufgrund des beschränkten Rahmens dieser Arbeit nicht eingegangen. Dennoch ist es für diese Forschung notwendig, nach einer umfassenderen juristischen Definition der Diskriminierung zu suchen und sich für die Analyse der Diskriminierungserfahrungen der von mir interviewten binationalen schwulen Paare an dieser Definition zu orientieren. Im Hinblick auf eine neue juristische Definition schlägt der Antidiskriminierungsverband Deutschland vor, den Begriff erneut zu definieren. Da die Diskriminierungsdefinition der Europäischen Kommission und des deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes von 2006 nur auf bestimmten Diskriminierungsmerkmalen basiert, wird sie vom Antidiskriminierungsverband Deutschland wie folgt ergänzt: „Diskriminierung trifft Menschen auf Grund ihrer (zugeschriebenen) ethnischen Herkunft, ihrer Nationalität, ihrer Sprache, ihres Aufenthaltsstatus, ihrer Hautfarbe oder äußeren Erscheinung, ihres Geschlechts, ihrer Religion und Weltanschauung, ihres sozialen Status, ihres Familienstandes, ihrer Behinderung, ihres Alters oder ihrer sexuellen Identität. Auch können Menschen von Diskriminierung betroffen sein, weil sich mehrere dieser Merkmale in ein und derselben Person verbinden (mehrdimensionale Diskriminierung5).“ (advd 2009: 5)
Diskriminierung wird demnach als Unterscheidung, Ausschluss, Beschränkung oder Bevorzugung verstanden, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein 5
Auf die mehrdimensionale bzw. intersektionelle Diskriminierung werde ich im Kapitel 2.5 näher eingehen.
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gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird. Der Antidiskriminierungsverband bezieht sich in seiner Definition auf das internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1966 (vgl. ebd.). Durch den Vertrag von Amsterdam und die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien bzw. Diskriminierungsverbote haben sich die Erscheinungsformen der diskriminierenden Handlungen stark verändert, und aus diesem Grund hat die EU-Kommission bestimmte Formen der Diskriminierung definiert bzw. festgestellt. Demnach können mittelbare Diskriminierungen von unmittelbaren unterschieden werden. Im Folgenden möchte ich juristisch definierte Erscheinungsformen der Diskriminierung erläutern: Mittelbare und unmittelbare Diskriminierung Als unmittelbare Diskriminierung bezeichnet man die Benachteiligung von Personen aufgrund der ihnen zugeschriebenen körperlichen, sozialen, politischen, ökonomischen und sexuellen Eigenschaften. Eine unmittelbare Diskriminierung kann auch darin bestehen, dass eine institutionelle und gesellschaftsstrukturelle Regelung sie offen artikuliert. Gewalt gegen einen Schwulen oder die befristete Arbeitserlaubnis für eine_n Ausländer_in gelten als unmittelbare Diskriminierungen. Unmittelbare Diskriminierungen kommen auch oft bei Stellenausschreibungen vor, die auf die Muttersprachler hinweisen und die Nicht-Muttersprachler automatisch ausschließen (vgl. Manolakos und Sohler 2005: 11). Die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie definiert die unmittelbare Diskriminierung wie folgt: „Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person auf Grund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“
In der Öffentlichkeit, in der Politik und in den Sozialwissenschaften wird auch von der offenen Diskriminierung gesprochen, die ebenfalls beobachtbar und erkennbar ist. Offene Diskriminierungen sind durch die verbalen und körperlichen Verhaltenswiesen der Diskriminierenden gekennzeichnet. Offen wird diskriminiert, wenn die Ungleichbehandlung durch direkten Verweis auf das unerwünschte Merkmal begründet wird (Zeckei 2008: 32). So gelten beispielsweise homophobe Witze oder Gewalt an Frauen oder Beleidigungen von Ausländer_innen als offene Diskriminierungen. Offensichtliche Diskriminierungen können unterschiedliche Auswirkungen auf die Betroffenen haben (Asbrock 2008: 20). Darüber hinaus sind die Wahrnehmung und Verarbeitung von Mensch zu Mensch unterschiedlich.
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Im Gegensatz zu unmittelbaren Diskriminierungen beinhalten die mittelbaren Diskriminierungen keine erkennbaren bzw. ersichtlichen Benachteiligungen gegenüber den Personen. Wenn zum Beispiel ein Gesetz oder eine gesellschaftliche Norm neutral formuliert ist, jedoch willkürlich umgesetzt wird, kann man hier von indirekten Diskriminierungen sprechen (Manolakos und Sohler 2005: 11). Die Definition der mittelbaren Diskriminierung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinie lautet: „Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.“
Im Hinblick auf mittelbare Diskriminierung kann man auch von verdeckten/subtilen sozialen Diskriminierungen sprechen. Als Beispiel für subtile Diskriminierung kann man Sitzdistanz, Ignoranz, Vermeidung und etliche bürokratische Hindernisse durch Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes nennen. Meistens werden Ausländer_innen in deutschen Behörden, auf dem Wohnungsmarkt oder Arbeitsplatz ignoriert bzw. auf versteckte Weise diskriminiert und von bestimmten Dienstleistungen ausgeschlossen. 2.1.2 Soziologische Definition Die soziologische Definition der Diskriminierung zielt auf Ungleichbehandlungen und deren Konsequenzen in einer Interaktion zwischen Mitgliedern einer Mehrheits- und Minderheitsgruppe. Nach Birgit Rommelspacher liegt Diskriminierung erst dann vor, wenn Menschen, die einer Minderheit angehören, im Vergleich zu Mitgliedern der Mehrheit weniger Lebenschancen, das heißt weniger Zugang zu Ressourcen und weniger Chancen zur Teilhabe an der Gesellschaft haben (Rommelspacher 2006: 1). In meiner Untersuchung sind schwule und als ausländisch definierte Männer mehrfach davon betroffen, dass sie in der Mehrheitsgesellschaft weniger Zugang zu ökonomischen, politischen und sozialen Ressourcen haben. Ich vertrete die These, dass diese Zugangsbarriere mit der Konstruktion von bestimmten Differenzmerkmalen zusammenhängt. Die Klassifizierungen und Kategorisierungen der Menschen nach gewissen naturalisierten Merkmalen (wie Weiblichkeit, Männlichkeit, Homo-, Trans-, Bisexualität oder Hautfarbe, Religion, Staatsangehörigkeit, un/gesunde Körper) können Mehrfachdiskriminierungen zur Folge haben. Die Re-Produktion bzw. Konstruktion der sozialen Differenzen beziehen sich auf die herrschenden und normativen Gesellschaftsstrukturen. Darüber hinaus spielen die mehrheitsgesellschaftlichen Normen eine signifikante Rolle bei der Diskrimi-
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nierung. Wer den Normen der Heteronormativität und der Aufnahmegesellschaft nicht entspricht, wird als anormal stigmatisiert. Zum Beispiel werden den in Deutschland lebenden Türk_innen bzw. auch Menschen mit anderen ethnisierenden Bezeichnungen Integrationsunwilligkeit, Kriminalität, Dummheit etc. zugeschrieben. Damit werden diese Menschen als anders konstruiert, negativ bewertet bzw. herabgewürdigt. So kommt es im Alltag immer wieder zu diskriminierenden Bewertungen von Menschen nach ihren individuellen sowie sozialen Merkmalen, die durch die Mehrheit naturalisiert und als abweichend bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang ist soziale Diskriminierung eine rein kategoriale Benachteiligung von Personen aufgrund einer meist negativen Beurteilung (vgl. Galliker und Wagner 1994: 34). Demzufolge werden Menschen nicht als einzelne Individuen wahrgenommen bzw. anerkannt, sondern sie werden als Mitglieder sozialer Gruppen angesehen. Kategoriale Diskriminierung bedeutet, dass Menschen als Muslime, Christen, Türken, Europäer, Nicht-Europäer eingeordnet, ihre individuellen Eigenschaften ausgeblendet, dagegen bestimmte Verhaltensschemata auf naturalisierte, kulturelle, religiöse oder nationale oder sexuelle Zugehörigkeit reduziert werden (vgl. ebd.). Auch Ulrike Hormel und Albert Scherr betrachten Diskriminierung als eine Form der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten. Sie gehen davon aus, „dass ethnisierende oder rassialisierende Konstruktionen imaginärer Gruppen und Reproduktionsprozesse sozioökonomischer Ungleichheit […] zwar analytisch unterschieden, aber keineswegs unabhängig voneinander betrachtet werden können.“ (Hormel und Scherr 2009: 51)
So konstatieren beide Sozialwissenschaftler_innen, dass die diskriminierungsrelevanten Gruppenkonstruktionen historisch und systematisch in einem engen Legitimationszusammenhang mit sozio-ökonomischen Herrschaftsverhältnissen stehen (vgl. ebd.). Den Herrschaftsverhältnissen immanent ist, dass bestimmten wenig einflussreichen Gruppierungen – Migrant_innen, Arbeitslosen, LSBTT6 – nicht die gleichen Rechte zugestanden werden wie der Mehrheitsgesellschaft. Staatsangehörigkeit kann als gutes Beispiel gelten. Es besteht ein gravierender Unterschied zwischen den Staatsangehörigen der EU-Länder und denjenigen anderer Länder, die nicht zur EU gehören. An dieser Stelle ist nochmals darauf hinzuweisen, dass es schwierig ist, eine allgemein akzeptierte Definition der Diskriminierung zu formulieren. Trotz dieser Definitionsschwierigkeiten stimmt eine Vielzahl der Sozialwissenschaftler_innen darin überein, dass es grundsätzlich strukturelle, institutionelle und individuelle Erscheinungsformen der Diskriminierung gibt. 6
LSBTT: Deutsche Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgeschlechtliche und Transgender
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Strukturelle Diskriminierung Strukturelle Diskriminierung beruht nicht nur auf institutionellen oder gesetzlichen Faktoren, sondern sie entsteht auch durch Handlungen und Haltungen, die den Normen und Regeln einer homogenen dominanten Mehrheit in der Gesellschaft nicht entsprechen. Dadurch werden Gruppen, die nicht diesen Normen entsprechen, benachteiligt. In binationalen schwulen Partnerschaften ist der ausländische und als ausländisch angesehene Partner am meisten von Diskriminierungen betroffen. Aufgrund seines „ausländischen“ Status kann er beispielsweise von den Familienangehörigen oder dem Freundeskreis des deutschen Partners diskriminiert bzw. ungenügend beachtet werden. In Bezug auf die strukturelle Diskriminierung spricht Birgit Rommelspacher auch von symbolischer Diskriminierung. Ihrer Meinung nach liegt Diskriminierung vor, wenn den Angehörigen einer Minderheit nur ein geringer oder gar kein Zugang zu sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Ressourcen ermöglicht wird. Sie vertritt die These, dass symbolische Diskriminierung gesellschaftliches Ansehen verweigert, indem die Anderen unwichtig gemacht werden. Themen, die sie betreffen, finden kaum Beachtung, weder beim Einzelnen noch in der Öffentlichkeit, es sei denn, sie dienen der Problematisierung der Anderen und ihrer Ausgrenzung (Rommelspacher 2009: 31). Strukturelle Diskriminierungen können auch durch staatliche und nicht staatliche Organisationen, Firmen, Vereine etc. hervorgerufen werden. Diese Art der Diskriminierung nennt man institutionelle Diskriminierung. Institutionelle Diskriminierung Der Begriff der institutionellen Diskriminierung kam erstmals in den Diskussionen über institutionellen Rassismus in den USA und in Großbritannien auf (vgl. Gomolla und Radtke 2009: 35). Der Begriff des institutionellen Rassismus wurde in den sechziger Jahren von S. Carmichael und C. V. Hamilton – Mitgliedern der US-amerikanischen Black Power Bewegung – zum ersten Mal verwendet (vgl. ebd. 43). In ihrem Buch Black Power (1967) zeigten sie auf, dass für die Diskriminierung von Schwarzen die traditionellen gesellschaftlichen Machtverhältnisse sowie Ungleichbehandlungen in den gesellschaftlichen Institutionen verantwortlich sind (vgl. ebd. 44). Heute werden institutionelle Diskriminierungen als Ergebnis sozialer Prozesse begriffen. Sie finden in einem Netzwerk gesellschaftlicher Institutionen statt, wie beispielsweise. auf dem Arbeitsmarkt, im Ausbildungssektor, der Wirtschaft, der Justiz (vgl. ebd. 43). Die Institutionen können diese Art der Diskriminierung bedingen bzw. fördern. Angelehnt an die früheren Diskriminierungs- und Rassismusforschungen betrachten Gomolla und Radtke die Institutionen als Kraftquelle der Diskriminierung (vgl. Gomolla und Radtke 2009: 40). Die Grundlage der institutionellen Diskriminierung besteht in der ungleichen Vergabe von sozial begehrten Gütern durch vor allem staatliche und nicht-staatliche Institutionen. Feagin und Booher
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Feagin erklärten 1986 den Begriff der Institution wie folgt: Institution bezieht sich sowohl auf konkrete Organisationen (Schule, Krankenhaus, Bank) als auch auf größere Einheiten oder Kombinationen (Wirtschaft, Religion) oder unorganisierte Institutionen wie z.B. die Familie (zitiert nach Gomolla und Radtke 2009). Feagin und Booher Feagin stellen fest: Gesellschaftliche Institutionen können diskriminierende Annahmen inkorporieren und diskriminierende Konsequenzen haben. Privilegien werden in historischen Prozessen der Monopolisierung grundlegender Ressourcen einer Gesellschaft entlang rassistischer oder geschlechtsspezifischer Trennlinien institutionalisiert. Die Ursachen von Ungleichheit sind in die Strukturen, Normen, in reguläre und informelle Regeln und Rollen eingebettet, sie sind verankert in sozialen Positionen und den damit verbundenen Rechten und Pflichten. Das gilt für eine Vielzahl sozialer, ökonomischer und politischer Institutionen in modernen Gesellschaften (Feagin und Booher Feagin 1986: 12, zitiert nach Gomolla und Radtke 2009: 43). Besonders staatliche Institutionen im Bereich der Gesundheit, des Rechtes, der Wohlfahrt und der Erziehung erzeugen soziale Ungleichheiten in einer Einwanderungsgesellschaft (vgl. ebd.). Beispielsweise sind Ausländer_innen mit islamischem Hintergrund auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungsbereich häufig von direkten und indirekten institutionalisierten Diskriminierungen betroffen. In Leitungspositionen werden zumeist nur Muttersprachler_innen7 eingestellt etc. Auch wenn die schwulen Paare in einigen europäischen Ländern gesetzliche Rechte erlangt haben, werden sie immer noch vom Gesetzgeber in unterschiedlichen Bereichen direkt und indirekt diskriminiert. Insbesondere stehen binationale schwule Paare unter institutionellem Druck durch die Ausländerbehörde. Auch wenn die eingetragene Lebenspartnerschaft in Deutschland anerkannt ist, wird meistens der ausländische Partner verdächtigt, eine Scheinlebenspartnerschaft eingegangen zu sein, was zu einer ständigen Überwachung des Paares durch die Ausländerbehörde führt. Solche institutionellen Diskriminierungen, denen binationale schwule Paare ausgesetzt sind, sind auch im Steuerrecht, Erbrecht und in einigen Bereichen der Öffentlichkeit zu finden. Derartige Diskriminierungen verursachen vor allen Dingen durch die Regeln und Praktiken einer Organisation oder einer Institution eine systematische Ungleichbehandlung und Benachteiligung einer Person oder einer Personengruppe in einer Mehrheitsgesellschaft (vgl. Manolakos und Sohler 2005: 10). Wenn man die institutionalisierte Diskriminierung betrachtet, so kann man erkennen, dass diese Form der Diskriminierung unabhängig von subjektiven Vorurteilen, Stereotypisierungen und Differenzierungen stattfindet. Auch wenn diese These 7
Bei der Benutzung des Gender Gap wird zwischen der männlichen und der weiblichen Schreibweise ein Unterstrich eingefügt: _ Mit diesem Unterstrich werden existierende Geschlechter, die bisher unsichtbar gemacht wurden, sichtbar gemacht.
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auf den ersten Blick plausibel zu sein scheint, kann man feststellen, dass die subjektiven Vorurteile, Stereotypisierungen und Differenzierungen die Internalisierung der institutionellen Diskriminierungen fördern können.Terkessidis erläutert diese These in seinem Buch Banalität des Rassismus folgendermaßen: „Wenn es in einer Gesellschaft einen bestimmten Wissensbestand gibt […]dann bildet dieses Wissen eine Einheit mit der Praxis bestimmter Institutionen in der Gesellschaft. Im Falle des Rassismus werden Gruppen durch eine institutionelle Praxis objektiviert und sichtbar gemacht, während sich dieses Wissen dann wieder auf dieses Objekt bezieht.“ (Terkessidis 2004: 100)
Im Vergleich zu direkten beziehen sich indirekte institutionelle Diskriminierungen auf die benachteiligenden Handlungen, die negative und differenzierende Wirkungen für die ethnischen Gruppen, Frauen oder LSBTT haben. Indirekte institutionalisierte Diskriminierungen ergeben sich meistens aus der Ausübung vorgeschriebener Regeln, die zu ungleichen sozialen Folgen bei verschiedenen Gruppen führen, und sie können auch ohne diskriminierende Absicht stattfinden (vgl. Gomolla und Radtke 2009: 50). Individuelle oder personale Diskriminierung Diskriminierende Handlungen basieren meist auf Stereotypisierungen, Vorurteilen und ausgrenzenden Verhaltensformen einzelner Individuen sowie auf Gesetzen, Gewohnheiten bzw. Traditionen. Individuelle Diskriminierungen werden von Personen gegenüber anderen Personen vollzogen (vgl. Asbrock 2008: 21). Sie finden meistens in Wechselbeziehung zwischen völlig unterschiedlichen Interaktionspartner_innen statt. Als Folge einer persönlichen Interaktion können diskriminierende Handlungen als Ungleichbehandlungen aufgrund von rassistischen, homophoben oder islamophoben Einstellungen erscheinen. Diese können zumeist als Missachtung, Ausgrenzung oder Gewalt zum Ausdruck kommen (vgl. Manolakos und Sohler 2005: 11): „Eine Personale Diskriminierung liegt vor, wenn die Diskriminierung direkt von Personen ausgeht, wenn also beispielsweise diskriminierende Äußerungen oder abwertende Verhaltenswiesen getätigt, direkte Gewalt ausgeübt wird oder eine Person aus diskriminierenden Gründen ausgeschlossen oder marginalisiert wird.“ (Kemper 2009)
Individuelle oder personale Diskriminierung kann sich auch aus strukturellen und institutionellen Diskriminierungen ergeben. Das heißt, dass individuelle Diskriminierungen mit sozialen Diskriminierungen zusammenhängen. Im Hinblick auf individuelle Diskriminierung liefert Gordon W. Allport in seinem Buch Die Natur des
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Vorurteils eine gelungene Definition, die als Basis für individuelle Diskriminierung angesehen werden kann: „Ein ethnisches Vorurteil ist eine Antipathie, die sich auf eine fehlerhafte und starre Verallgemeinerung gründet. Sie kann ausgedrückt oder auch nur gefühlt werden. Sie kann sich gegen eine Gruppe als Ganzes richten oder gegen ein Individuum, weil es Mitglied einer solchen Gruppe ist.“ (Allport 1954: 23)
Diese Definition Allports fungiert als Basis für Sozialwissenschaftler_innen der Gegenwart, die Diskriminierungsforschung betreiben. So einigen sich diese Forscher_innen dahingehend, dass Diskriminierung eine negative Handlung ist, die sich als Verweigerung von Gleichbehandlung gegenüber Angehörigen bestimmter Gruppen ausdrückt, wobei der Grund für die Zurückweisung ein kollektives Merkmal und kein individuelles sein darf (vgl. Asbrock 2008: 21).
2.2 R ASSISMUS Über die Frage, ob Deutschland wirklich ein Einwanderungsland ist oder ob es diesen Anspruch hat, wird mindestens seit der ersten Hälfte der 80er Jahre in vielen verschiedenen Bereichen der Sozialwissenschaften, der Öffentlichkeit und der Politik diskutiert (vgl. Terkessidis 2004: 16f.). Das Konzept des Multikulturalismus sei gescheitert, sagte im Jahr 2004 der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky gegenüber einer Berliner Tageszeitung. Das Scheitern dieses so genannten Multikulti-Projektes führte er unmittelbar auf die Integrationsunwilligkeit der Türk_innen und Araber_innen zurück: sie seien nicht bemüht, mit ihren Kindern zu Hause Deutsch zu sprechen (van Bebber 2004). In diesem Zusammenhang werden in der deutschen Medienlandschaft die Themen Einwanderung, Ausländer_innen, multikulturelle Gesellschaft, Integration, Ausländerfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit, Islam etc. tagtäglich publiziert. Diese Themen werden meistens am Beispiel der Migrant_innen muslimischer Herkunft, manchmal parteiisch, manchmal propagandistisch, behandelt. Zu den oben genannten Themen werden zahlreiche Studien durchgeführt. Diese Studien, beispielsweise Heitmeyers Deutsche Zustände, erfolgen aus der Perspektive der einheimischen Bevölkerung. Es werden Fragen zu Migrant_innen gestellt. Die als Ausländer_in oder Fremde konstruierten Individuen und ihre Erfahrungen mit Rassismus in der Aufnahmegesellschaft werden außer Acht gelassen. Nicht sie, als Betroffene_r, werden befragt, sondern die Meinungen der potenziellen Täter_innen des Rassismus über Ausländer_innen werden untersucht. Die Ausländer_innen werden in vielen dieser Studien als Betroffene der so genannten grup-
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penbezogenen Menschenfeindlichkeit bezeichnet8. Zumal werden die Ergebnisse solcher Studien, deren Wissenschaftlichkeit umstritten ist, in Politik und Öffentlichkeit weiter benutzt und verbreitet, ohne die zahlreichen Kritiken und Reaktionen von bestimmten Antidiskriminierungseinrichtungen und Projekten zu beachten. Da die Formulierungen der geschlossen standardisierten Fragen dieser Studie ergebnisorientiert sind und sie die Meinungen der Befragten steuern, ist zu erwarten, dass die Befragten rassistischen Aussagen zustimmen. Im Gegensatz zu den Deutschen Zuständen gibt es auch qualitative und quantitative Studien, die sich mit der Wahrnehmung der rassistischen und islamophoben (siehe Abschnitt 2.3) Diskriminierungen und mit den Erfahrungen der Betroffenen befassen. Die im Jahr 2006 durchgeführte Forschung der EUMC9 stellte fest, dass Menschen mit muslimischem Hintergrund am meisten dem Rassismus ausgesetzt sind (vgl. EUMC 2006: 11f.). Da diese Untersuchung mit den Betroffenen qualitativ geführt wurde, kristallisierten sich ausführlichere Informationen und Narrationen heraus. Diese Studie konnte beispielsweise aufzeigen, dass Rassismus und Islamfeindlichkeit nicht nur auf die Desorientierung von rechtsextremen Jugendlichen zurückgeführt werden kann, sondern auch auf gesamtgesellschaftliche Einstellungen gegenüber Migrant_innen mit muslimischem Hintergrund (vgl. ebd. 128). Im Bildungs-, Wohnungs- und Arbeitsbereich sind diese stark benachteiligt. Desweite8
Die Studien Heitmeyers beziehen sich auf eine Desintegrationstheorie, die besagt, dass die Desintegration rassistische bzw. rechtsextreme Neigungen der Befragten hervorrufen. Nach dieser Theorie tendieren Jugendliche zum Rechtsextremismus, weil sie sich in der Folge des Modernisierungs- und des damit verbundenen Individualisierungsprozesses befinden, die diese Jugendlichen zu Handlungsunsicherheit, Vereinsamung und Ohnmacht führen. Dieser Individualisierungsprozess des modernen Lebens hat soziale, kulturelle und berufliche Desorientierung zur Folge, die für die rechtsextremen Gewalttaten verantwortlich sein soll. In dieser Hinsicht kann man behaupten, dass Heitmeyer sich irrt, denn rassistische und rechtsextreme Gewalt sind in erster Linie politisch orientierte Handlungsmuster. Die soziale, berufliche und kulturelle Desorientierung, die als Ergebnis der Individualisierungsprozesse der Moderne verstanden werden können, kann nicht nur zu Gewalt an, Ausländer_innen, sondern auch zu Suizid, Aggressivität, Gewalt an Menschen überhaupt führen. Mit dieser Theorie, die den Rechtsextremismus psychologisiert, werden rechtsextreme Täter gerechtfertigt bzw. sie von ihrer Tat entlastet. Ein weiteres Problem dieser Studie besteht darin, dass ihre Definition von Islamophobie bzw. auch Rassismus den Blick auf randständige Bereiche lenkt und die Machtverhältnisse zwischen unterschiedlichen Gruppen und deren Diskursen, in die sie eingebunden sind, nur wenig reflektiert (vgl. Kramer 1997: 170; Rommelspacher 1992: 85; Breyvogel 1994: 24).
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Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (The European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia).
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ren konnte der Bericht von EUMC nachweisen, dass muslimische Migrant_innen sich immer beobachtet, bedroht und diskriminiert fühlen (vgl. ebd.). All das zeigt, wie Rassismus sich in einem Land, das den Anspruch erhebt, eine vielfältige Gesellschaft zu besitzen, etabliert hat. In diesem Abschnitt gehe ich explizit auf den Begriff des Rassismus ein. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges versuchte die UNESCO, den Begriff rassistisch oder rassistische Diskriminierung zu definieren (vgl. UNESCO 1950). In einem Statement machte die UNESCO deutlich, dass es keine wissenschaftliche Grundlage gibt, nach der Menschen in „Rassen“ oder rassistischen Kategorien eingeteilt werden können (vgl. ebd.): „Rassismus ist der Glaube, daß menschliche Populationen sich in genetisch bedingten Merkmalen von sozialem Wert unterscheiden, so daß bestimmte Gruppen gegenüber anderen höherwertig oder minderwertig sind. Es gibt keinen überzeugenden wissenschaftlichen Beleg, mit dem dieser Glaube gestützt werden könnte.“ (Ebd.)
Damit beabsichtigte die UNESCO die Verabschiedung weltweit wirksamer Antidiskriminierungsgesetze, um den Rassismus zu verhindern. Zur Bekämpfung des Rassismus und anderer Diskriminierungsformen unterzeichneten die Mitglieder der Europäischen Union 1997 den Amsterdamer Vertrag. Ein Antidiskriminierungsgesetz in Deutschland wurde allerdings erst im Jahr 2006 erlassen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz kann zwar zur Beseitigung des sichtbaren und möglicherweise gewaltvollen Rassismus einen wesentlichen Beitrag leisten, trotzdem entstanden neue subtile bzw. verdeckte rassistische Handlungsformen. In den Politik und Sozialwissenschaften in der BRD wurde dem Rassismus erst Anfang der 80er Jahre eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt (Terkessidis 1998: 16ff.). Die sich vermehrenden und nicht integrierbaren Gastarbeiter_innen, die nach Hause zurück gehen sollten, aber zu lange geblieben sind, wurden in der Mehrheitsgesellschaft als problematisch angesehen. So kam es schon damals zu rassistischen Angriffen durch Rechtsextreme auf Arbeitsmigrant_innen und ihre in Deutschland lebenden Familien (vgl. ebd.). Aufgrund dieser Tatsache gewann das Thema Rassismus bzw. auch rassistische Diskriminierung an Bedeutung. In diesem Zusammenhang versuchten diverse Sozialwissenschaftler_innen, den Rassismus zu analysieren und zu definieren. Auf die Fragen, was der Rassismus bedeutet, in welcher Form er erscheint und wie man ihn erkennen kann, geben sie verschiedenste Antworten. So kamen die Vertreter_innen der Rassismusforschung dazu, neue Formen des Rassismus empirisch aufzudecken und dadurch zu erläutern. Die diversen Definitionen des Rassismus überschneiden sich zwar meistens, jedoch besteht bis heute keine begriffliche Übereinstimmung bzw. keine allgemein
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akzeptierte Definition in den Sozialwissenschaften und den politischen Bereichen. Fakt ist, dass Rassismus und andere Diskriminierungsformen sich in europäischen Gesellschaften als soziale Realitäten darstellen und parallel zu sozio-ökonomischen, aber auch transnationalen politischen Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen im Laufe der Geschichte und in der Gegenwart immer wieder neue Formen einnehmen (vgl. Jäggi 1992: 16). Da sich diese Studie mit der Mehrfachdiskriminierung aufgrund der (zugeschriebenen) Mehrfachzugehörigkeit von ausländischen und als ausländisch angesehenen schwulen Männern, die in Berlin in einer binationalen Partnerschaft leben, beschäftigt, ist es notwendig, zum einen den Begriff des Rassismus theoretisch zu beschreiben und einen Überblick über verschiedene Rassismustheorien zu geben. Zum anderen werde ich versuchen, mich hinsichtlich der theoretischen Auseinandersetzung meines Untersuchungsfeldes mit dem Thema des neuen Rassismus einzugrenzen. Die theoretische Eingrenzung des neuen in dieser Studie zu behandelnden Rassismus liegt daran, dass einige der von mir interviewten Personen überwiegend aus islamischen Ländern stammen und manche aufgrund ihres familiären Hintergrundes eine mittelbare oder unmittelbare Beziehung zum Islam haben, weshalb sie in einer westlich säkularen Welt mit einer bestimmenden, kulturalistischen, rassistischen und diskriminierenden Normativität der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert sind. Im Folgenden werde ich versuchen, die Grundlage dieser Konfrontation der als Minderheit konstruierten Individuen mit der Geschichte des modernen europäischen Rassismus zu erläutern. Im Anschluss an die Geschichte des Rassismus gehe ich auf verschiedene Rassismustheorien näher ein. Im darauf folgenden Kapitel möchte ich versuchen, an Hand der dargestellten theoretischen Ansätze eine übergreifende Definition des Rassismus herzustellen. 2.2.1 Die Entstehung des modernen Rassismus „Der Rassismus ist eine Übertreibung. Wo immer wir ihm begegnen, haben wir es mit einseitigen und extremen Entstellungen der Wirklichkeit zu tun: überzogene Selbst und herabsetzende Fremdbilder, gewalttätige Ausgrenzung bis hin zum Vernichtungswahn, radikale Unterdrückung, übersteigerter Haß oder übertriebene Diffamierung.“ (Geulen 2007: 7)
Viele Rassismusforscher_innen sind sich über den Ursprung bzw. die Entstehung des Rassismus einig. Mark Terkessidis (1998), Karin Priester (2003), Georg M. Fredericson (2004), Christian Geulen (2007) und andere gehen vom Jahr 1492 aus. In diesem Jahr entdeckten die Spanier Südamerika und konnten die südlichen Gebiete Spaniens, die unter arabischer Herrschaft standen, wieder erobern. Zu dieser Zeit setzten die Spanier eine ethnische Homogenität voraus, um die nationalstaatliche Einheit gewährleisten zu können (vgl. Torres 2006: 11). Mit der Reconquista
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Spaniens wurde der Begriff „Rasse“ im Bezug auf die Juden erstmalig verwendet (Geulen 2007: 14). Ziel der Verwendung dieses Begriffes war es, die Menschengruppen voneinander zu unterscheiden (vgl. ebd.). Das Jahr 1492 wird auch als Beginn des Kolonialismus betrachtet, womit auch die Entstehung des Rassismus verbunden wird. Bezüglich des biologisierenden Rassismus gibt es dennoch eine Reihe von Rassismusforscher_innen, die die These vertreten, dass die Aufklärung des 18. Jahrhunderts den Rassismus erfunden hat. Geulen ordnet den Begriff der „Rasse“ im späten 18. Jahrhundert als eine naturwissenschaftliche Kategorie ein. Mit dem „Rassenbegriff“ dieser Zeit der Aufklärung versuchten Naturwissenschaftler, eine physiologische Dimension in den Ungleichheiten der Menschen herauszustellen. Geulen spricht auch davon, dass vom 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Menschen davon überzeugt waren, dass es verschiedene Menschenrassen gibt. Diese Tatsache des Rassenbegriffs bezeichnet er als erfolgreichste Idee der europäischen Moderne (vgl. ebd.). Wenn Geulen den Begriff „Rasse“ als eine Idee des modernen Europa bezeichnet, stützt er sich sicherlich auf die vorausgegangenen theoretischen Arbeiten zur Geschichte des Rassismus. So konstatiert Geiss, dass der Rassismus als Erklärungs- und Rechtfertigungsideologie der welthistorischen materiellen, militärischen und technischen Überlegenheit der Europäer seit ihrer Expansion in Übersee entstanden ist (vgl. Priester 2003: 11 und Geiss 1988: 15). Auch Mosse sieht die Entstehung des Rassismus im Westen bzw. in der Geschichte des modernen Europas. Den europäischen Rassismus erklärt er mit dem Übergang von der ersten zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In seiner Arbeit übersieht er die Auswirkungen der europäischen Expansion auf die Entwicklung des Rassismus. Die Wurzeln des Rassismus liegen, so Mosse, im 18. Jahrhundert, also in der Aufklärung (vgl. Mosse 1978: 7). Seiner Meinung nach leistete die Aufklärung zur Geschichte des Rassismus einen beachtlichen Beitrag. Sie betrachtete alle Menschen nach demselben Muster (vgl. ebd. 9). Im Hinblick auf die rassistische Seite der Aufklärung weist Mosse darauf hin, dass Rassismus und Nationalsozialismus miteinander zusammenhängen. Demzufolge gab der Rassismus vor, dass der Nationalsozialismus oder die geordnete bürgerliche Gesellschaft für den sozialen Zusammenhalt unumgänglich waren, und er sortierte alle diejenigen aus, die von der Gesellschaft als prinzipiell andersartig oder gefährlich zurückgewiesen wurden (ebd. 10). Bezüglich des Verhältnisses zwischen Rassismus und Nationalsozialismus stellen Mosse und Geiss einen engen Zusammenhang zwischen Rassismus und Antisemitismus her. Sie definieren den Rassismus in erster Linie als visuelle Ideologie, die auf Klischee und Stereotypen basiert (vgl. ebd. 9). In seinem Buch Die Geschichte des Rassismus konstatiert Mosse einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Rassismus und Sexismus: Er führt die Entste-
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hung dieses Zusammenhanges darauf zurück, dass die Anthropologie des 18. Jahrhunderts den Schwarzen vorgeworfen hätte, dass sie nicht in der Lage seien, ihren Sexualtrieb beherrschen zu können. Diese rassistische Feststellung findet man ebenfalls in den Äußerungen Hitlers, der die Juden bzw. jüdische Knaben auf eine herabwürdigende Weise stigmatisierte: Jüdische Knaben […] die an den Straßenecken herumlungern und blühende Geschäfte mit Prostituierten und ‚weißen Sklavinnen‘ treiben. (Ebd. 11) Darüber hinaus sieht Mosse den Rassismus als ideologisches Instrument, der die diskriminierenden Verhaltensnormen der Gesellschaft unterstützte, indem er versuchte, die Unterscheidung zwischen normal und anomal zu rechtfertigen. Zur Zeit der Aufklärung und des Nationalsozialismus wurde die Existenz von Schwarzen und Juden als Bedrohung für die Gesellschaft betrachtet. Später kamen zu den Schwarzen und Juden, als Opfer des naturalistischen Rassismus, noch die Geisteskranken, Homosexuellen und Gewohnheitsverbrecher, die durch ihr anomales Verhalten jenseits der gesellschaftlich erzwungenen Grenzen standen. (Ebd.) Im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit Sexismus und Rassismus stellt Mosse fest, dass die bürgerliche Gesellschaft auf einer wirtschaftlichen, sozialen und sexuellen Arbeitsteilung basiert. Der Rassismus förderte diese Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern im Rahmen seiner Kampagne für die Ehrbarkeit (vgl. ebd. 12). Diese Ordnung war das anerkannte Gesellschaftssystem. Der Rassismus sah dieses System durch die anomalen, also durch die Juden, Homosexuellen und Schwarzen, bedroht. So wurden alle, die nicht mit der anerkannten Gesellschaftsordnung übereinstimmten, als jene verfluchte Rasse tituliert (vgl. ebd.). Zudem betont Mosse, dass Männlichkeit gleichzeitig für Normalität stand. So wurden diejenigen Menschen, die von der Norm abwichen, als potenzielle oder tatsächliche Außenseiter_innen betrachtet. In diesem Zusammenhang galt es, die Außenseiter_innen zu demaskieren und die Gesellschaft von Anomalen zu befreien (vgl. ebd.). Robert Miles bezieht die Entwicklung des Rassismus auf die Biologie des 19. Jahrhunderts. Er vertritt die Meinung, dass die Menschen mit der Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert durch bestimmte körperliche Merkmale in sogenannte „Rassen“ gegliedert wurden. So wurde eine Verbindung zwischen den jeweiligen biologischen Merkmalen und angenommenen zivilisatorischen Fähigkeiten hergestellt und die Menschen in überlegene und minderwertige Rassen klassifiziert (vgl. Miles 1998: 10). In seinen Arbeiten stellt er fest, dass Rassismus sich im frühen 20. Jahrhundert in Europa in zwei unterschiedlichen Formen manifestierte (vgl. ebd. 19): Zum einen glaubten die prominenten Sozialisten an genetische Selektion, durch die die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, ihre Intelligenz und ihre kulturellen Fähigkeiten verbessert werden könnten. Zum anderen war es der Nationalsozialismus, der sich auf die klassischen rassistischen Philosophien des 19. Jahrhunderts bezog. Er benutzte die Rassenideen von überlegenen und unterlegenen ‚Rassen‘, um die Juden nicht mehr nur als eine
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religiöse Minderheit, sondern als eine „minderwertige Rasse“ zu definieren, die biologisch anders als die Arier sind. Im folgenden Abschnitt werde ich auf die soziohistorische Herangehensweise von Miles näher eingehen. Zum gegenwärtigen Rassismus schreibt Jäggi in seinem Buch Rassismus – Ein globales Problem, dass der heutige Rassismus in seinen verschiedenen Formen weit davon entfernt ist, überwunden zu sein. Das heutige sozio-ökonomische System und wesentliche Formen von Rassismus sind eng miteinander verknüpft. Darüber hinaus fördern diese gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen, aber auch konjunkturelle Entwicklungen und gesellschaftliche Trends die Zunahme von Rassismus (vgl. Jäggi 1992: 16). 2.2.2 Ein Überblick über relevante gegenwärtige Rassismustheorien Einleitend zitiere ich die geläufigste und bekannteste Rassismusdefinition des tunesisch-französischen Soziologen Albert Memmi, auf den sich zahlreiche Rassismusforscher_innen kritisch oder affirmativ beziehen: „Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“ (Memmi 1992: 164 und 1998: 45)
Aus dieser Definition gehen vier wichtige Indikatoren des Rassismus hervor: • • • •
Tatsächliche oder fiktive Unterschiede zwischen Opfer und Täter Wertung dieser Unterschiede zum Nutzen des Täters und zum Schaden des Opfers; Verabsolutierung und Verallgemeinerung dieser Unterschiede und die Rechtfertigung der Aggression und der Privilegien des Täters, also des Rassisten.
Unter Rassismus versteht Memmi die Instrumentalisierung der erfundenen Unterschiede. In einem Gespräch mit Christoph Burgmer sagt er: „Der Rassismus ist ein Werkzeug, mit dem ich Unterschiede instrumentalisiere“. Rassismus ist eine Instrumentalisierung der Unterschiede, sie beinhaltet die Merkmale einer Furcht vor allem Fremden und die Merkmale der Xenophobie.“ (Memmi 1998: 45ff.)
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Die Angst vor Fremden erzeugt die Fremdenfeindlichkeit10 zum einen, zum anderen führt sie zum „Unterscheiden“ zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Mit dem Begriff des Unterschiedes bringt er ausschließlich die Instrumentalisierung imaginärer oder auch behaupteter existenter Unterschiede. Demnach werden die Unterschiede erfunden und dann instrumentalisiert, um einen Menschen aufgrund seines behaupteten oder imaginären Andersseins auszugrenzen (vgl. ebd.). Der Rassist neigt zu Unterscheidungen, um seine Privilegien und seinen Nutzen zu bewahren. Wenn es beispielsweise keine biologischen Unterschiede gibt, dann werden kulturelle erfunden. Rassismus ist immer mit dem Beweis der Unterschiede zwischen dem Rassisten und dem Opfer verknüpft. In diesem Zusammenhang ist der Rassist bemüht, die Unterschiede des Fremden zu maximieren und die Ähnlichkeiten zu minimieren. In seinem Verhalten ist der Rassist zumeist komparativ. Er muss immer beweisen, dass er intelligenter, erfolgreicher, stärker etc. ist (vgl. ebd.). So kommt Memmi zum Begriff des Herrschaftsverhältnisses zwischen dem Rassisten und seinem Opfer: „In dieser Hinsicht beinhaltet der Rassismus die Herrschaft, die den Rassismus benutzt bzw. instrumentalisiert. Die Instrumentalisierung von Unterschieden ist also Teil der Bedingungen von Herrschaft. Somit hat jede Herrschaft eine Tendenz dazu, rassistische und kulturelle Unterschiede zu erzeugen.“ (Ebd. 47)
Eine rassistische Handlung wird gerechtfertigt, denn der Rassist „Hat Angst, weil er der Angreifer ist, und er greift an, weil er Angst hat. Dahinter steht die Tatsache, dass der Rassist zutiefst davon überzeugt ist, dass er ein Gut oder einen Besitz hat oder an sich bringt und verteidigen muss, auf das sein Opfer ebenso großes, wenn nicht größeres Recht hat als er […] ein rassistisches Verhalten äußert sich also in zwei komplementären Bewegungen, der Ablehnung des Anderen und der Behauptung des eigenen Selbst, die beide zum selben Ergebnis führen.“ (Memmi 1987: 100. In: Jäggi 1992: 36)
10 Auf eine Diskussion über den Begriff der Fremdenfeindlichkeit und Ausländerfeindlichkeit gehe ich hier nicht ein (siehe dazu Kramer 1997: 160). Da diese beiden Begriffe sich vom Rassismus unterscheiden und durch verschiedene Sozial -, Politik- und Medienwissenschaftler_innen unterschiedlich aufgegriffen werden, würde eine theoretische Auseinandersetzung mit diesen beiden Begriffen den Rahmen dieser Arbeit sprengen. In meiner Arbeit wird der Begriff des Rassismus verwendet, denn er entsteht, wie oben erwähnt, aus gesellschaftlichen Zusammenhängen, die politisch, historisch und soziologisch erklärt werden können. Ich vermeide die Verwendung der Begriffe Fremden- und Ausländerfeindlichkeit, denn sie werden entweder als individuelle Phänomene dargestellt oder sie rekonstruieren als Begrifflichkeit bestimmte Merkmale, wie Ausländersein etc.
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Die Legitimation der rassistischen Aggression und Gewalt dient zur Bewahrung des Eigentums des herrschenden weißen Mannes. Auffällig an dieser Definition ist, dass sie eine Vermischung des biologistischen und kulturalistischen Rassismus beinhaltet. Die erzeugten kulturellen und biologischen Unterschiede dienen als Legitimationsstrategie des Rassisten, um die ökonomischen Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten. Albert Memmis Definition, die ich oben zu verdeutlichen versucht habe, geht von der Erfindung der biologischen und kulturellen Differenzen zum Zweck der Legitimation der Herrschaft einer Mehrheitsgruppe aus. Im Hinblick auf Rassismus und seine Ursachen setzt sich Stuart Hall mit dem Rassismus als Kenntlichmachung der Differenzen auseinander. Die Differenzen werden naturalisiert. Ziel dieses Differenzierens ist laut Hall, sich gegenüber den anderen abzugrenzen (vgl. Hall 2004: 145). Diese Differenzen werden als essentiell markiert, um soziale, politische und wirtschaftliche Handlungen einer Mehrheitsgruppe zu rechtfertigen bzw. auch zu begründen. Diese Handlungen schließen bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen aus (vgl. Hall 1989: 913). Durch die Ausschließung der bestimmten fremden Gruppen wird den Ausschließenden ein privilegierter Zugang gesichert. Nach Hall geschieht diese Ausschließungspraxis durch die Macht der Mehrheitsgruppe. Halls Rassismusanalyse geht von der Hegemonietheorie von Gramsci aus. Demzufolge steht der Rassismus im Zentrum der Geschichte der Moderne. Der Rassismus der Moderne wird durch Formen der Herrschaft, die die Unterschiede politisch instrumentalisiert, in Bewegung gesetzt (vgl. Hall 1998: 157). Die Besitzer der Herrschaft begründen nach Hall einen Herrschaftszustand, indem sie Unterschiede zwischen wir und die Anderen herstellen. So sind die Anderen unzivilisiert, wir dagegen zivilisiert. Durch diese Unterschiede verstärkt sich der Rassismus, wie beispielsweise durch die unterschiedliche Kultur, das unterschiedliche Aussehen, die unterschiedlichen Glaubensvorstellungen (vgl. ebd.). Hall vertritt die These, dass es mit Hilfe von Macht möglich ist, dass die Mehrheitsgruppe die Minderheitsgruppe als nicht normal bzw. anders definiert und sie als untergeordnete Gruppe klassifiziert (Hall 1989: 920). In den rassistischen Handlungen geht es also um die Konstruktion des Anderen: Rassistische Praxen haben nicht nur die Funktion, im Hinblick auf ökonomische, politische, soziale und kulturelle Möglichkeiten zu diskriminieren, sondern auch, eine Identität herzustellen und Identifikationen abzusichern, die an eine Gemeinschaft gebunden sind. Die Identitätsgemeinschaft und die ausgeschlossene Gruppe werden als binäre Kontraste definiert. Das heisst: es gibt keine Konstruktion des Selbst, keine Identität, ohne eine Konstruktion des Anderen. Die Existenz des Westens liegt in der Konstruktion des Nicht-Westens (vgl. ebd.). Wie Stuart Hall betrachtet auch der britische Soziologe und Politikwissenschaftler Robert Miles die „Rassen“ als soziale Konstruktionen. Miles Untersuchungen zu Rassismustheorien zeigen auf, dass nicht nur Schwarze zu Objekten des Rassismus
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werden: und es gibt noch viele andere – wirkliche und imaginäre – physische und kulturelle Merkmale, die ebenso Gegenstand einer Bedeutungs- und Rassenkonstruktion werden können. (Miles 1992: 53) Miles geht in seiner Analyse des Rassismus soziohistorisch vor. Mit der Entstehung der Biologie als wissenschaftliche Disziplin im 19. Jahrhundert wurden die Menschen durch bestimmte körperliche Merkmale in sogenannte „Rassen“ gegliedert (vgl. Miles 1998: 10). Die Funktionsweise des Rassismus bestand somit darin, dass den Menschen nach genetischen Eigenschaften bestimmte Bedeutungen zugeschrieben wurden. Aus diesen Bedeutungszuschreibungen entstand ein System, das die Menschen kategorisierte und ihnen negative Eigenschaften zuordnete (Miles 1991: 9. In: Jäggi 1992: 18). Im Hinblick auf diese systematische Klassifizierung der Menschen unterscheidet Miles verschiedene Formen des Rassismus, die im Laufe der Geschichte je nach den strukturellen Veränderungen der sozialen Bedingungen variieren. Im 19. Jahrhundert konstruierte Rassismus bestimmte Eigenschaften der Menschen als naturgegeben. In Bezug darauf spricht Miles vom Rassismus als einer Ideologie. Der Ausdruck und die Erscheinung des Rassismus als Ideologie sind soziohistorisch bedingt. Das heißt, dass der Rassismus in verschiedenen Zeiten in verschiedenen Formen erscheint und dominiert. In dieser Hinsicht spricht Miles von Rassismen (vgl. Miles 1998: 10). Für die Analyse des Rassismus als einer sozialen Konstruktion setzt Miles dabei an, zunächst die ökonomische Struktur und die politischen Herrschaftsverhältnisse der Gesellschaften in einem engen historischen Kontext zu erörtern. Desweiteren sieht Miles einen wichtigen Aspekt in der Ausgrenzungspraxis. Diese Ausgrenzungspraxis macht Rassismus durch die Benachteiligung bei der Verteilung geringer gesellschaftlicher Ressourcen und in sozialen Institutionen erst sichtbar und wirksam (vgl. Dornis 2009). So werden beispielsweise Ausländer_innen und als ausländisch angesehene Menschen auf dem Arbeitsmarkt rassistisch ausgegrenzt bzw. ausgeschlossen. Demzufolge kann man die Rassismusdefinition von Miles wie folgt formulieren: „Rassismus ist eine Ideologie der sozialen Bedeutungs- und Rassenkonstruktion: Bestimmten biologischen Eigenschaften wird eine Bedeutung zugeschrieben. Diese Bedeutungszuschreibungen dienen also als Erkennungsmerkmal bestimmter Gruppen. Status und Herkunft der Gruppen werden als natürlich und unveränderlich konstruiert, so dass die „Andersheit“ der Menschengruppen als eine ihnen immanente Gegebenheit erscheint. Die z.B. als anders konstruierten Menschengruppen müssen mit zusätzlichen, negativ bewerteten (biologischen oder kulturellen) Merkmalen markiert und so dargestellt werden, als riefen sie negative Folgen für andere hervor“ (vgl. Miles 1989: 359).
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Aus dieser Rassismusdefinition von Miles lassen sich folgende zentrale Merkmale ableiten: • • •
zum ersten: die soziale Konstruktion von „Rassen“, zum zweiten: der biologische Determinismus und drittens: die Negativbewertung der als „Rasse“ konstruierten Gruppe.
Terkessidis beschäftigt sich mit dem Begriff des Rassismus angelehnt an Robert Miles. Miles bezeichnete den Rassismus als Ideologie; im Unterschied zu Miles bezeichnet Terkessidis den Rassismus als Apparat. Er versucht, die Miles`sche Definition des Rassismus zu erweitern. Ihm zufolge umfasst der Rassismus drei Komponenten: 1. Die Rassifizierung 2. Die Ausgrenzungspraxis 3. Die differenzierende Macht (vgl. Terkessidis 2004: 98ff.) Die Rassifizierung: Unter Rassifizierung versteht Terkessidis den Prozess der Rassenkonstruktion. In diesem Prozess der Rassenkonstruktion werden einer Menschengruppe bestimmte Eigenschaften als natürlicher Gruppe zugeschrieben. Die zugeschriebenen naturalisierten Merkmale der anderen Menschengruppe werden zudem mit der eigenen Gruppe verglichen, was zu einer Wertung der anderen Menschengruppen führt. Diesen Prozess der Rassenkonstruktion, die Terkessidis von Miles zitiert und weiter ausführt, bezeichnet er als Rassifizierung, die für eine Art Urform der Naturalisierung von Unterschieden steht. Die Wertungen sind zumeist negativ, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht erkannt werden können (z.B.: türkische Jugendliche sind sehr temperamentvoll). Die negativen Bewertungen/Zuschreibungen können der reinen Kategorisierung dienen, das heißt, Ausländer_innen und als ausländisch angesehene Menschen werden nach angeblichen biologischen oder kulturellen Eigenschaften klassifiziert. Im Gegensatz zu Miles geht er davon aus, dass Rassenkonstruktionen nicht nur aus biologischen Merkmalen entstehen, sondern auch aus soziologischen, symbolischen und geistigen (politische, kulturelle und religiöse Verhaltensweisen) sowie imaginären (vgl. ebd. 74f.). Die Ausgrenzungspraxis: Mit dieser zweiten Komponente des Rassismus meint Terkessidis dessen praktische Seite. Auch hier bezieht er sich auf Miles. Ausgrenzungspraxis heißt für ihn, dass eine Gruppe bei der Vergabe der Ressourcen und Dienstleistungen offenbar inkongruent behandelt wird. Demnach können die ungleich behandelten Gruppen im Prozess der Ressourcenvergabe und im öffentlichen Bereich sowie in der Hierarchie der Klassenverhältnisse systematisch über oder unterrepräsentiert werden (vgl. ebd. 100). Die differenzierende Macht: Mit dem dritten Element des Rassismus, differenzierende Macht, weist Terkessidis auf den Aspekt der Gewalt hin. Hier kann der Rassismus als die Macht und die Mittel einer Gruppe verstanden werden, eine andere Gruppe sichtbar zu machen bzw. zu unterdrücken. Als Beispiel nennt er die Möglichkeit, eine Ausweisung zu verfügen oder die Abschiebung durchzusetzen
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(vgl. ebd.). Mit dem dritten Element des Rassismus also mit der differenzierenden Macht versucht er, die Definition von Miles zu ergänzen, denn Miles hat in seiner Definition Macht ausgelassen. Auch Terkessidis betrachtet den Rassismus als Ergebnis des modernen Europas seit seiner Expansion. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich von vielen anderen Rassismusforscher_innen. Er betrachtet den Rassismus als hoch komplizierten Bestandteil der Moderne (vgl. ebd.). Im Bezug auf das Funktionieren des modernen Rassismus spricht er von rassistischem Wissen, das eine Einheit mit der Praxis bestimmter Institutionen in der Gesellschaft bildet (vgl. ebd. 101). Hier geht es um die wirtschaftlichen, staatlichen und soziokulturellen Institutionen: So wird das spezifische Ungleichheitsverhältnis Rassismus, welches in die Institutionen des Arbeitsmarktes, der Staatsbürgerschaft und der kulturellen Hegemonie eingelassen ist, in einem rassistischen Wissen gelebt und verstanden. (Ebd. 131) Damit legt Terkessidis drei Bereiche des institutionellen Rassismus fest: Arbeitsmarkt: Die primäre Institution des Ausschlusses durch Einbeziehung von Migrant_innen in Deutschland war und ist der Arbeitsmarkt. Die Gastarbeiter_innen wurden im sekundären Sektor beschäftigt. Sie übernahmen unqualifizierte, schlecht bezahlte und vor allem unsichere Jobs (ebd. 101). Terkessidis zeigt auf, dass diese soziale Zuweisung in einen bestimmten Bereich des Arbeitsmarktes später gewissermaßen gegen die Migrant_innen verwendet wird: Den Ausländer_innen wird aufgrund der Jobs, die sie ausüben, ein hohes Maß an innerer Homogenität insbesondere hinsichtlich ihrer Fähigkeiten zugeschrieben. Hieraus folgten wiederum Unterstellungen (etwa kollektive Dummheit oder Faulheit bzw. kulturelle Unterschiede), die dann wiederum als Erklärung und Legitimation für die strukturell bedingte soziale Ausschließung hinsichtlich besserer Jobs dienen. So sind die Arbeitsmigrant_innen am Arbeitsmarkt beteiligt, verfügen aber nicht über reelle Aufstiegschancen (vgl. Perlitius 2005). Staatsbürgerschaft: Der soziale Ausschluss von dem Arbeitsmarkt wird hier durch ein weiteres mächtiges Mittel sozialer Ausgrenzung oder auch sozialen Ausschlusses wiederholt, also durch die Kriterien für Staatsbürgerschaft (Terkessidis 2004: 102). Im Zuwanderungsgesetz gelten die Arbeitsmigrant_innen als Ausländerinnen. Durch diese sprachliche institutionelle Diskriminierung werden sie auf einen anderen Ort verwiesen, wodurch eine Ungleichheit der Migrant_innen entsteht: „Fortgesetzte Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt, hohe Arbeitslosigkeit und mangelnde Bildungschancen besitzen weiterhin nur ein geringes Potenzial zur Skandalisierung, weil die betroffenen Personen ja nicht als Mitglieder des Nationalstaates gesehen werden, sondern lediglich als „Gäste“, die quasi zu lange geblieben sind.“ (Ebd. 102)
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Kulturelle Hegemonie: Kulturelle Hegemonie zählt für Terkessidis ebenfalls zu den Ausschlussmechanismen. Die kulturelle Hegemonie macht sich besonders in der Schule, staatlichen Institutionen und auf dem Arbeitsmarkt der Aufnahmegesellschaft bemerkbar. Sie ist in zwei Bereichen anzutreffen: Zum einen ist mit kultureller Hegemonie die Durchsetzung eines bestimmten modernen Werte und Moralsystems gemeint. Es handelt sich dabei „um den Tugendkatalog des bürgerlichen Mittelstandes Selbstbeherrschung, Fleiß, Mäßigung etc. Zum anderen verweist der Begriff kulturelle Hegemonie auf die Abgrenzung und Definition einer eigentlichen“ Nation in einem Staat sowie auf die Abgrenzung und Definition eines dominanten Kollektivs mit den Namen „weiße Rasse“, „europäische Kultur“ oder auch „der Westen“ im Weltmaßstab.“ (Ebd. 102)
Auch Nora Räthzel bezieht sich in ihrem Definitionsversuch auf Miles. Sie nimmt Bezug auf die Idee der Naturalisierung der Kulturen. Die Immigration der im klassischen Rassismus als minderwertig bezeichneten Gruppen gilt im neuen Rassismus als Gefahr für die einheimische Kultur (vgl. Räthzel 2008: 278). In ihrem Konzept der Naturalisierung der Kultur konstatiert sie, dass man in den neuen Formen des Rassismus nicht offen davon spricht, dass die Kulturen vererbt sind, dennoch aber vor der Vermischung der Kulturen warnt. Die Behauptung, Kulturen änderten sich nicht, wenn Menschen an ihrem Ursprungsort blieben, beinhaltet eine Naturalisierung von Kultur, die der Naturalisierung von Gruppen als „Rassen“ entspricht (vgl. Hall 2000 und 2004: in: Räthzel: 278). Im Unterschied zur Milesschen Definition fügt sie mit Annita Kalpaka – die Macht und die daraus resultierenden Ausschließungspraxen hinzu (vgl. Kalpaka und Räthzel 1990: 14f.). In ihrer Definition stellt sich die Macht als wichtiges Kriterium für die Analyse des Rassismus dar. Sie vertritt die Auffassung, dass eine übergeordnete Gruppe rassistisch bezeichnet werden kann, wenn sie eine untergeordnete Gruppe als Rasse konstruiert, denn die übergeordnete Gruppe besitzt die Macht und kann dadurch die untergeordnete Gruppe ausgrenzen. Das Gegenteil dieses Machtverhältnisses kann aber nicht als rassistisch begriffen werden. Das heißt, wenn eine untergeordnete Gruppe eine übergeordnete Gruppe als Rasse konstruiert, kann sie nicht als rassistisch bezeichnet werden, denn sie verfügt nicht über die Macht, die Ausgrenzungspraxen gegenüber der übergeordneten Gruppe durchzusetzen (vgl. ebd.). Wichtig ist dabei zu erwähnen, dass sie mit Macht immer die Macht einer Gruppe meinen, nicht die eines Individuums. Im Bezug auf den Zusammenhang zwischen Macht und Rassismus liefert Colette Guillaumin relevante Erkenntnisse. Sie bezeichnet den Rassismus als eine Ideologie, die ökonomische und politische Machtverhältnisse unter verschiedenen Menschengruppen unterstützt. Demzufolge betreffen „Rasse“ und Rassismus Menschengruppen, von denen einige anderen ausgeliefert sind oder sich in deren Ab-
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hängigkeit befinden. Die Art und Weise dieser Abhängigkeit ist unterschiedlich, so wie die Erscheinungsformen des Rassismus auch unterschiedlich sind (vgl. Guillaumin 1997: 160). Die eben erwähnten Macht bzw. Herrschaftsverhältnisse, die sich auf rassistische Praktiken und Diskurse stützen, können sich über Gewalt durchsetzen oder über ökonomische Dominanz funktionieren. Rassismus kann auch als legitime Begründung für die Ausbeutung oder für die ungleiche Verteilung der Ressourcen dienen (vgl. ebd.). Es lässt sich also Folgendes feststellen: Rassismus als Ideologie ist demnach die Gesamtheit von ausgesprochenen Urteilen, Werten und ein Projekt der Veränderung und der Verwaltung der Gesellschaft (vgl. ebd.). In ihrem Beitrag RASSE, das Wort und die Vorstellung11 konstatiert sie die Merkmale der Ideologie des Rassismus wie folgt: Rassismus ist eine Ideologie: eine gesellschaftliche Praxis und eine institutionelle und/oder staatliche Form. (Ebd.) Wann der Rassismus und der Begriff der Rasse entstanden ist, erklärt sie mit der Geburt der Moderne: Der Begriff der „Rasse“ entstand in der industriellen, technischen und wissenschaftlichen Welt. Dieser Begriff der „Rasse“ gilt heute als wesentlicher Bestandteil der Gesellschaften der Gegenwart. Guillaumin vertritt die Auffassung, dass der Rassismus eine biologisierende Ideologie der modernen Welt ist. Ihrer Meinung nach ist diese biologisierende Ideologie zugleich eine Praxis, auf die man im Alltag, in den Arbeitsverhältnissen, in den staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen, in jeder Art der sozialen Beziehungen stößt. Die Ideologie des Rassismus als eine Praxis ist ebenfalls ein politisches Projekt, das sich in den Programmen und Reden der fremdenfeindlichen, sexistischen oder rassistischen Parteien, die sich auf eine Gesellschaft der Familie und der nationalen Reinheit, auf eine Gesellschaft der Ordnung fixieren, manifestiert. Dieses politische Projekt strukturiert sich als rechtliches System des Staates, in dem es die Kriterien der Staatsbürgerschaft in einer rassistischen Art und Weise aufstellt und diese legalisiert. Der Rassismus als Ideologie baut den praktischen Horizont des Staates auf. Das heißt, dass er eine reine „Rasse“ herstellt oder die Menschengruppen rassistisch klassifiziert, wie Weiße und Schwarze (vgl. Guillaumin 1992: 84f.). Stephen Castles stellt fest, dass der Rassismus als soziale Realität verschiedene Formen angenommen hat. Medienkampagnen gegen Ausländer_innen, Äußerungen von Angst vor Überfremdung der nationalen Kultur, Angst vor Aussterben der reinen Nation, rassistische Überfälle, eine Zunahme neonazistischer Organisationen, die Betonung der Rassenproblematik durch die großen politischen Parteien sind einige scheinbare Erscheinungsformen der Tatsache. (vgl. Jäggi 1992: 15). Das Wachstum des Rassismus begründet C. Jäggi mit der Konsolidierung neuer ethnischer Minderheiten zu einer Zeit der Wirtschaftskrise und der Umstrukturierung des 11 Herv. i. O.
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Arbeitsprozesses: Die objektive Unsicherheit aller Arbeiter wird durch die subjektive Bedrohung verstärkt, dass einheimische Arbeiter mit ausländischen Arbeitern um immer weniger Arbeitsplätze und knappere Sozialausgaben konkurrieren. (Ebd. 15) Mit dem Rassismus ist die Diskriminierung einer „Rasse“ durch die Angehörigen einer anderen „Rasse“, die glaubt höher stehend und tüchtiger zu sein, verbunden (vgl. ebd. 19). Zum Schluss dieses Abschnittes möchte ich auf die Rassismusdefinition von Birgit Rommelspacher eingehen. In ihrem Aufsatz Was ist eigentlich Rassismus versucht sie, eine zusammenfassende Definition herauszuarbeiten, auf die ich mich in dieser Arbeit beziehe. Demzufolge kann man Rassismus als System von Diskursen und Praxen bezeichnen, die dazu dienen, die geschichtlich entwickelten derzeitigen Herrschaftsverhältnisse zu rechtfertigen und zu reproduzieren. Rommelspacher spricht vor allen Dingen über modernen westlichen Rassismus. Sie vertritt die These, dass der moderne westliche Rassismus auf der Theorie der Unterschiedlichkeit menschlicher „Rassen“ aufgrund biologischer Merkmale basiert. In ihrer Auseinandersetzung mit dem modernen Rassismus zeigt sie vier Merkmale auf: Naturalisierung: soziale und kulturelle Differenzen werden naturalisiert und somit soziale Beziehungen zwischen Menschen als unveränderlich und vererbbar verstanden. Homogenisierung: Die Menschen werden dafür in jeweils homogenen Gruppen zusammengefasst und vereinheitlicht. Polarisierung: Bestimmte Menschen werden anderen gegenüber als grundsätzlich verschieden und unvereinbar gegenübergestellt. Hierarchisierung: Durch Hierarchisierung werden sie zugleich in eine Rangordnung gebracht. Rommelspacher betrachtet Rassismus als gesellschaftliches Phänomen: „Beim Rassismus handelt es sich also nicht einfach um individuelle Vorurteile, sondern um die Legitimation von gesellschaftlichen Hierarchien, die auf der Diskriminierung der so konstruierten Gruppen basieren. In diesem Sinn ist Rassismus immer ein gesellschaftliches Verhältnis.“ (Rommelspacher 2009: 29)
2.2.3 Versuch einer übergreifenden Definition Angelehnt an die bisher ausgeführten Rassismustheorien und vor allem an die Definition von Birgit Rommelspacher versuche ich, im Folgenden den Begriff des Rassismus erneut zu definieren:
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Rassismus bezeichne ich als soziales und komplexes Phänomen, das sich im Laufe der Geschichte in Herrschafts- bzw. Machtverhältnissen immer wieder reproduziert. Diese Machtverhältnisse ergeben sich aus verschiedenen miteinander verknüpften soziopolitischen Handlungen und Diskursen. Meines Erachtens beinhaltet Rassismus folgende Elemente: • • • • • • •
Macht bzw. Herrschaftsverhältnisse Ausgrenzungspraxen durch die Herrschaft Legitimation der Ausgrenzung durch Konstruktion der biologischen und kulturellen Differenzen/Naturalisierung Negative Wertung der als verschieden konstruierten Menschengruppen Hierarchisierung dieser Menschengruppen Konsolidierung der vorhandenen Macht
Rassismus manifestiert sich in einem Herrschaftsverhältnis zwischen einer herrschenden Mehrheitsgruppe und einer dominierten Minderheitsgruppe. Die Voraussetzung dieser Dominanz der Mehrheitsgruppe besteht darin, dass sie die Minderheit unterdrückt, um sie vom Zugang zu bestimmten sozialen, kulturellen, symbolischen und politischen Ressourcen auszuschließen (Hall, Miles, Terkessidis, Rommelspacher, Rätzhel). Dieser Ausschluss erfordert zugleich eine Legitimation (vgl. Memmi und Rommelspacher). Daher wird die Legitimationslogik des Rassismus in Gang gesetzt. Die Legitimation des Ausschlusses funktioniert dadurch, dass der Minderheitsgruppe bestimmte negative Merkmale zugschrieben werden, wie etwa rückständig, dumm, sexistisch, agressiv. Die Herstellung bzw. Konstruktion der Differenzen zwischen dem Eigenen (das Gute) und dem Fremden/Anderen (das Böse) fungiert als ein Legitimationsapparat des Rassismus (vgl. Memmi). In diesem Fall spricht Miles von der Rassenkonstruktion. „Rassen“ werden also konstruiert und negativ bewertet. Durch die negative Wertung werden Menschengruppen in unterlegene oder überlegene „Rassen“ sortiert. Das heißt, dass allen Mitgliedern der Minderheitsgruppe eine negative Bedeutung zugeschrieben wird. Durch diese negative Bedeutungskonstruktion wird die untergeordnete Minderheit bzw. Menschengruppe als anders, unvereinbar mit dem Eigenen bezeichnet und anderen Menschengruppen gegenübergestellt. Damit werden Menschen oder als „Rasse“ klassifizierte Menschengruppen in eine Rangordnung gebracht (vgl. Rommelspacher). Die Machtverhältnisse entstehen durch diese Hierarchisierungsmechanismen. Terkessidis spricht hier von einer kulturellen Hegemonie. Rommelspacher behauptet, dass es sich beim Rassismus nicht einfach um die individuellen Vorurteile, sondern um die Legitimation von gesellschaftlichen Hierarchien handelt, die auf der Diskriminierung der so konstruierten Gruppen basieren. In diesem Sinn ist Rassismus immer ein gesellschaftliches Verhältnis. Ich bin der Meinung, dass Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis auch durch die prominenten Persönlichkeiten gefördert
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werden kann. In dieser Hinsicht beziehe ich mich auf die Theorie des Elitenrassismus, die von Teun van Dijk entwickelt wurde (siehe Abschnitt 2.2.5). Politikerinnen, Medien, Wissenschaftler_innen, bekannte Künstler_innen tragen zur Konsolidierung des Rassismus als ein gesellschaftliches Phänomen bei. 2.2.4 Exkurs I: Kulturalistischer und differenzialistischer Rassismus Bezüglich des neuen Rassismus befasst sich der französische Soziologe Étienne Balibar mit der Frage nach dem heutigen Rassismus. Er bezeichnet den heutigen Rassismus in den europäischen Ländern als Anti-Immigranten-Rassismus, der sich gegen die Gastarbeiter_innen, ihre Familien und ihre Nachkommen richtet (Balibar 1992: 10). Hiermit handelt es sich um einen Neuen Rassismus ohne Rassen, den Balibar bereits Ende der achtziger Jahre als kulturalistischen Rassismus bezeichnete (Balibar 1989: 373). In seinem Konzept des kulturalistischen Rassismus wird der Rassismus nicht biologistisch begründet, sondern auf kulturelle Differenzen reduziert (vgl. ebd.). Demnach fungieren die kulturellen Differenzen als Grundlage der rassistischen Diskriminierungen. An dieser Stelle kommt der Begriff des differenzialistischen Rassismus ins Spiel. Das Kulturelle, das Soziale oder die Geschichte werden dabei naturalisiert und als vererbtes und unveränderliches Merkmal eines Individuums oder einer Gruppe verstanden (Balibar 1990: 28). Zum Konzept des differenzialistischen Rassismus liefert der französische Rassismusforscher Taguieff relevante Erkenntnisse. Den differentialistischen Rassismus bezeichnet er unter anderem als Neorassismus oder auch kulturellen/kulturalistischen Rassismus (Taguieff 1992: 222f.) Der kulturelle bzw. differentialistische Rassismus begründet unterschiedliche kulturelle oder ethnische Herkunft mit einem nicht zu entfernenden Fleck (ebd. 245). Im kulturalistischen Rassismus wird der Begriff der „Rasse“ mit der Kultur oder Ethnie erklärt. Die aktuellen rassistischen Argumentationen beziehen sich nicht mehr auf Diskurse der überlegenen und unterlegenen Menschengruppierungen, sondern sie gehen von einer unüberwindlichen kulturellen Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden aus. Die Differenzierung besteht in der Differenzkonstruktion von Wir und Andere. Es werden Unterschiede zwischen uns und ihnen hergestellt. In dieser Hinsicht wird Kultur biologistisch bzw. erblich gedeutet. Diese ideologische Rassialisierung drückt sich in der Kulturalisierung aus, die auch soziale Konflikte in den Einwanderungsgesellschaften hervorruft. So werden beispielsweise die Ausländer_innen mit islamischem Hintergrund immer wieder als die Anderen dargestellt, die zu deutscher und oder westeuropäischer Kultur einen großen Gegensatz darstellen. Ihre abweichende Kultur wird als fremd, gefährlich, unvertraut rekonstruiert, und diese angeblich fremde gefährliche und unvertraute Kultur erzeugt Angst in der Aufnahmegesellschaft. Aufgrund dieser kulturellen Differenzen sprechen z.B. manche kulturalistischen
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Rassisten davon, dass die islamischen und westlichen Kulturen niemals zusammenpassen. Taguieff bezeichnet das als das Prinzip der radikalen Unvereinbarkeit der unterschiedlichen Kulturen (ebd. 237). Die sozialen Konflikte werden kulturalisiert, die Differenzen werden verherrlicht und verabsolutiert (vgl. ebd. 236f.). Die Verabsolutierung der kulturellen Differenzen ist auf eine Unterscheidung von Assimilierbarem und nicht Assimilierbarem gerichtet. Diese Differenzen werden also als absolut und positiv angesehen. Der Verabsolutierung der Unterschiede wohnt eine Unvereinbarkeit der Kulturen inne (vgl. ebd.). Die Türkei bzw. Menschen mit türkischem Hintergrund gehören nicht zur Europäischen Union, denn sie haben eine andere konträre Kultur, die vom Islam geprägt ist. Es wird behauptet, dass aufgrund der angeblichen Anpassungsunfähigkeit der Ausländer_innen aus den islamischen Ländern in Deutschland soziale kulturelle Konflikte entstehen würden, die nicht zu überwinden seien. Daher propagiert NPD immer für Heimreise statt Einreise, was als Teil eines ideologisierten kulturalistischen aber auch biologistischen Rassismus gesehen werden kann. Differenzialistischer Rassismus reduziert das Individuum, das zu den anderen gehört, auf seine ethnische bzw. kulturelle Herkunft, bzw. es wird nicht als Individuum anerkannt, sondern kulturalistisch stereotypisiert. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass das Konzept des kulturalistischen Rassismus alleine nicht die Komplexität des Rassismus erklären kann. In diesem Konzept fehlen einerseits die wirtschaftlichen und politischen Aspekte des Rassismus. Andererseits gibt es immer noch andere Rassismen, die mit biologistischem Rassismus verflochten sind 2.2.5 Exkurs II: Elitenrassismus Zu den relevanten Rassismustheoretiker_innen gehört der Diskurswissenschaftler Teun A. Van Dijk. Er spricht von einem Rassismus der Eliten, die sich im sozio-politischen und wirtschaftlichen Machtgeflecht befinden. Demnach sind die Eliten diejenigen, die zentrale Politikkonzepte entwickeln, die einflussreichsten Entscheidungen treffen und die Modalitäten ihrer praktischen Umsetzungen kontrollieren. Zu diesen Eliten gehören die Regierungs und Parlamentsmitglieder, Direktoren oder Gremien des staatlichen Handelns, führende Politiker_innen, Manager_innen, einflussreiche Wissenschaftler_innen und auch Journalisten bzw. Massenmedien (van Dijk 1992: 291f.). Die Elitenrassisten haben die Macht, institutionelle und öffentliche Texte und Reden zu veranlassen, zu steuern und zu kontrollieren (vgl. ebd.). Sie haben in der Gesellschaft eine privilegierte Position und einen bevorzugten Zugang zu den Massenmedien. Mithilfe ihres Elitenstatus können sie die Politik, die Medien und öffentliche Diskurse beeinflussen, bestimmen oder ändern. Verschiedene Elemente des alltäglichen Rassismus werden durch verschiedene Elitengruppen vorfabriziert. Bezogen auf den alltäglichen Rassismus dieser Elitengruppen spricht
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van Dijk von unterschiedlichen Formen rassistischer Äußerungen. So stellt er fest, dass der Rassismus sich in indirekten, subtilen und toleranten Formulierungen ausdrückt (vgl. ebd. 292). Diese Form des Rassismus bezeichnet er als new Racism (van Dijk 1998: 127). Neuen Rassismus kann man aber auch subtilen Rassismus oder symbolischen Rassismus nennen (ebd.). Die Indirektheit und Biologisierung sind Hauptcharakteristika des neuen Rassismus. Ausländer_innen oder Menschen, die als ausländisch ettiketiert werden, werden demnach nicht nur aufgrund ihrer Äußerlichkeit oder Hautfarbe rassistisch diskriminiert, sondern auch sie werden aufgrund kultureller Unterschiede als anders betrachtet (ebd.). Die Elitenrassisten, die van Dijk auch moderne Rassisten nennt, neigen zur Leugnung des Rassismus (van Dijk 1992: 293). Der Grund dieser Leugnung besteht darin, dass die Eliten sich als höchst tolerant und pluralistisch definieren. Der moderne Rassismus spricht nicht mehr von der „Rasse“, sondern von kulturellen Differenzen (ebd.). Van Dijk vertritt die Meinung, dass Eliten ganz wesentlich und sehr viel direkter als autonormale Mehrheitsgesellschaftsmitglieder in die Formen des institutionellen Alltagsrassismus involviert sind; so haben sie z.B. großen Einfluss auf die Einwanderungsund Niederlassungspolitik oder können entscheiden, wen sie anstellen oder entlassen wollen, oder sie führen Forschungen und Beratungen über ethnische Angelegenheiten durch (vgl. ebd.).
2.3 I SLAMOPHOBIE
IM D ISKURS DES KULTURALISTISCHEN R ASSISMUS
Bei der von mir geführten qualitativen Studie mit binationalen schwulen Partnerschaften hat sich gezeigt, dass die befragten schwulen Männer, die über einen muslimischen Hintergrund verfügen, neben biologistischem und kulturalistischem Rassismus und Homophobie auch von Islamophobie betroffen sind. Der Begriff der Islamophobie scheint heute ein relativ neues Phänomen zu sein. Dennoch geht die erste Verwendung dieses Begriffes auf die 20er Jahre zurück. Islamophobie wurde zum ersten Mal im Jahr 1921 in Frankreich von Etienne Dinet und Sliman Ben Ibrahim in der Veröffentlichung L’Orient vu de l’Occident verwendet (vgl. Vakil 2008: 81f.).12 In diesem Buch sprachen Dinet und Sliman vom islamophoben Delirium bezogen auf eine von dem Jesuiten und Orientalisten Henri Lammens verfasste Biographie über den Propheten Mohammed.
12 Ben Ibrahim Sliman war Essayist und Etienne Dinet Schriftsteller und orientalistischer Maler. Orientalistisch heißt hier, dass er ein sehr romantisiertes Bild vom Orient hatte und diesen sehr positiv darstellte wie viele andere Maler im 19. Jahrhundert. Später konvertierte er sogar zum Islam (vgl. Vakil 2008: 81f.)
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Zur gegenwärtigen und geschichtlichen Verwendung dieses Begriffes existieren heute verschiedene Thesen innerhalb der Sozialwissenschaften und der praxisorientierten politischen Bereiche. Ungeachtet dieser frühen Verwendung des Begriffes behaupten zwei französische feministische Autorinnen, Caroline Fourest und Fiametta Venner, dass Islamophobie erstmalig 1979 im Iran von Mullahs verwendet wurde (vgl. Fourst und Venner 2003). Zugleich warnen die beiden Autorinnen vor leichtfertiger Verwendung des Begriffs, da man dessen Geschichte und Herkunft kennen müsse. Die Begriffsbildung datieren sie auf das Jahr 1979 im Iran, also auf den Beginn der islamistischen Konterrevolution, die auf die von sehr unterschiedlichen Kräften getragene gesellschaftliche Revolution gegen das Regime des Schahs folgte. Die damals gegründete so genannte Islamische Republik habe jene Frauen, die ihren Kopf nicht verhüllen wollten, was nunmehr per Gesetz unter Androhung körperlicher Züchtigung festgeschrieben war, als islamophob bezeichnet (vgl. ebd.). In einer Antwort auf diesen Artikel widerlegte Bernhard Schmid diese Behauptung der französischen Autorinnen. Demnach existierte das Wort Islamophobie, das aus dem Griechischen abgeleitet ist, nicht im persischen und arabischen Sprachgebrauch (vgl. Schmid 2003). Es ist belegt, dass die iranischen Frauen, die sich nicht verschleiern wollten, als bihicab (unverschleierte, halbnackte Frauen), zede eslam (gegen den Islam) oder auch zede engelab (gegen die Revolution) tituliert worden sind. Diese Bezeichnungen weisen dennoch keinen Begriff der Islamophobie auf (vgl. ebd.). Eine wissenschaftliche Definition von Islamophobie wurde 1997 in einem Bericht des britischen Runnymede Trust mit dem Titel Islamophobia: A Challenge for Us All erarbeitet (EUMC 2006: 73). Bezogen auf den Bericht von Runnymede Trust stellt EUMC folgende Merkmale der Islamophobie fest (EUMC 2006: 73 und Hieronymus 2008: 32), die wie folgt lauten: • •
• • • •
Islam wird als monolithischer, statischer und für Veränderungen unempfänglicher Block angesehen Der Islam wird als gesondert und fremd angesehen, er habe keine gemeinsamen Ziele und Werte mit anderen Kulturen, weder werde er von ihnen beeinflusst, noch beeinflusse er sie. Der Islam wird als dem Westen unterlegen angesehen. Er gilt als barbarisch, irrational, primitiv und sexistisch. Der Islam wird als gewalttätig, aggressiv und bedrohlich angesehen, als Untestützer des Terrorismus und in einen Kulturkampf verstrickt wahrgenommen. Der Islam wird als politische Ideologie angesehen, die um politischer und militärischer Vorteile willen genutzt wird. Kritik des Islams gegenüber dem Westen wird pauschal zurückgewiesen.
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Feindseligkeit dem Islam gegenüber wird benutzt, um diskriminierende Praktiken gegen Muslime und ihre Ausgrenzung von der gesellschaftlichen Mitte zu rechtfertigen. Feindseligkeit gegenüber Muslimen wird als natürlich und normal angesehen.
Nach dem 11. September 2001 und den nachfolgenden islamistischen Anschlägen in Europa gewann das Thema der Islamophobie in der Öffentlichkeit und in sozialpolitischen Bereichen eine steigende Aufmerksamkeit. Die öffentlichen, sozialwissenschaftlichen und politischen Debatten über Islam und Muslime sowie eine negative Berichterstattung über Migrant_innen, die sich als Muslime bezeichnen, führte zu einer Verschärfung der europäischen Islamophobie. Im Jahr 2005 bezeichnet der Europarat in einer Publikation (Islamophobia and its consequences on Young People) die Islamophobie als „Die Furcht vor oder ein voreingenommener Standpunkt gegenüber dem Islam, Muslimen und allem, was mit beiden zu tun hat. Unabhängig davon, ob sie sich nun in Gestalt alltäglicher Formen von Rassismus und Diskriminierung oder in eher gewalttätigen Formen äußert, stellt die Islamophobie eine Verletzung der Menschenrechte und eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt dar.“ (EUCM 2006: 74)
Ebenfalls beschäftigt sich das Dokumentationsarchiv Islamophobie (DAI), das im Jahr 2006 gegründet wurde, mit diesem Begriff, den es als unbegründete Angst vor dem Islam oder den Muslimen bezeichnet. Diese Angst basiert auf einem von Vorurteilen behafteten Bild vom Islam und von Muslimen (vgl. DAI 2006). DAI stellt fest, dass der Islam und die Muslimen als homogenisierte Begriffe wahrgenommen werden. Demzufolge werden diesen beiden Begriffen bestimmte Merkmalen und Eigenschaften sowie kulturelle Aspekte beigemessen. 2.3.1 Diskurse und Diskussionen über den Begriff der Islamophobie Parallel zum Islamdiskurs nach dem 11. September etablierte sich der Begriff der Islamophobie im mittel und westeuropäischen Sprachraum (vgl. Bielefeldt 2009: 182). Trotz der früheren Verwendung des Begriffes Anfang der 1920er Jahre gilt Islamophobie als Neologismus und beinhaltet das Suffix Phobie; auf die diversen sozialwissenschaftlichen Diskussionen über die Wortbildung werde ich im nächsten Abschnitt ausführlicher eingehen. Auf die Behauptungen verschiedener Sozialwissenschaftler_innen, dass Islamophobie ein neues Phänomen sei, antwortet der Wiener Kulturanthropologe Andre Gingrich wie folgt: Islamophobie, wie sie heute erscheint, ist nur eine neue Form der Islamfeindlichkeit, die es seit Jahrhunderten gibt. In seinem Definitionsversuch
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der Islamophobie weist er auf die sozio-historischen Kontexte hin. Demnach muss man die Islamophobie im Kontext der nationalen und regionalen europäischen Kulturen betrachten. Die gegenwärtige Erscheinungsform der Islamfeindlichkeit als Islamophobie bezieht sich auf ältere islamfeindliche Ideologien bzw. Haltungen der christlich geprägten europäischen Kulturen. Es handelt sich um eine Transformation des Phänomens. In dieser Hinsicht ist Islamophobie ein neuer Begriff, in dem alte Vorurteile und Feindschaften aufgegriffen und mit aktuellen lokalen und globalen Ereignissen in Beziehung gesetzt werden (vgl. Gingrich 2008: 108ff.). Skenderovic begründet die Islamophobie mit der Vorstellung der grundsätzlichen Andersartigkeit der Menschen mit muslimischem Hintergrund. Die Muslime werden nicht nur als andersartig betrachtet, sondern sie werden auch als Bedrohung und Gefahr für die gesamte westliche Welt angesehen (vgl. Skenderovic 2006: 81). John Bunzl, österreichischer Politikwissenschaftler, bezeichnet Islamophobie als Ressentiment sowohl gegenüber dem Islam als auch gegenüber Muslimen. Im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 und dem EU-Beitritt der Türkei entsteht Islamophobie weniger aus Problemen der Migrant_innen selbst als aus den Umgangsschwierigkeiten der Mehrheits- bzw. christlich geprägten Aufnahmegesellschaft mit dem Anderen (vgl. Bunzl 2008: 14). Matti Bunzl definiert Islamophobie als Project of Exclusion, als Projekt der Ausgrenzung. Es handelt sich in diesem Ausgrenzungsprojekt um die Unvereinbarkeit der Muslime mit den Europäer_innen13, die sich für eine säkulare bzw. christliche Lebensweise aussprechen (vgl. Bunzl 2007 und 2008). Die jährliche Studie Deutsche Zustände des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt und Gewaltforschung stellt folgende Definition auf: Islamophobie umfaßt die Ablehnung und Angst vor Muslimen, ihrer Kultur sowie ihren öffentlichen, politischen und religiösen Aktivitäten. (Heitmeyer 2008: 19) An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass das in der Definition verwendete Wort Kultur keinen konstruktivistischen Begriff darstellt. Diese Definition bringt hier eine den Muslimen von Islamophoben zugeschriebene und erfundene Kultur zum Ausdruck. Ungeachtet dieses Hinweises konstatierten Wilhelm Heitmeyer und seine Kolleg_innen in der Langzeitstudie (von 2002 bis 2008), dass Islamophobie in Deutschland zugenommen hat. Demzufolge stimmen die Befragten immer mehr zu, dass die Zuwanderung der Muslime verboten werden soll (vgl. Heitmeyer: Studienreihe Deutsche Zustände 2002-2009). In einer Zeitschriftenveröffentlichung geht Georg Klauda auf den Begriff Islamophobie ein. Er bezeichnet Islamophobie als ein Phänomen des Hasses gegenüber
13 Europäer_in wird an dieser Stelle kursiv geschrieben, da in Europa genügend Menschen mit islamischem Hintergrund existieren, die sich als Europäer_in bezeichnen, jedoch nicht als Europäer_in anerkannt werden.
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dem Islam und Muslimen und stellt sie als eine Art Antisemitismus-Ersatz dar (vgl. Klauda 2007): „Sie mobilisieren ähnliche verschwörungstheoretische Mechanismen, wie sie traditionell in der Judenfeindschaft wirksam sind, allen voran das, was Horkheimer und Adorno „pathische Projektion“ nannten: ein Phänomen wie Vergewaltigung wird herausgegriffen, systematisch ethnisiert und schließlich anhand von Koran-Zitaten bzw. der Zuschreibung einer arabischen Kollektivpsyche entweder als hinterhältiges, planmäßiges Vorgehen zur Eroberung Europas oder als essentialistischer Ausdruck einer mit dem Westen nicht vereinbaren „Kultur“ interpretiert. Die eingeforderten Konsequenzen sind Abschiebung, gesellschaftlicher Ausschluss, Verweigerung von Grundrechten oder die Verschärfung der Zuwanderungsgesetze.“ (Ebd.)
Im Islamophobiediskurs bevorzugt Ismail Küpeli eine historische Vorgehensweise bzw. historische Erklärungsmodelle. Er ist der Meinung, dass der Begriff der Islamophobie eine neue Ausdrucksform der kolonialen Islamfeindlichkeit darstellt und stellt fest, dass ältere Konzepte wie der Orientalismus14 mit den Begriffen Antimuslimischer Rassismus, Islamfeindlichkeit oder Islamophobie aktualisiert werden (vgl. Küpeli 2010). Die aktuellen Ressentiments und Klischeevorstellungen über den Islam und Muslime haben eine Geschichte, die sich auf koloniale Diskurse bezieht und durch Orientalismus gekennzeichnet sind (vgl. ebd.). Küpeli weist in seinem Artikel darauf hin, dass in Deutschland berechtigte Kritik an konkreten islamistischen Inhalten und Praxen verwendet wird, um Feinbilder zu konstruieren und den islamophoben Rassismus zu rechtfertigen. Heiner Bielefeldt versucht die Behauptung zu widerlegen, dass Islamophobie generelle Angst vor dem Islam bedeutet. Demzufolge kann Islamophobie nicht mit Ängsten vor dem Islam erklärt werden, sondern mit negativstereotypen Haltungen gegenüber dem Islam und seinen tatsächlichen Angehörigen (vgl. Bielefeldt 2009: 182). Aufgrund der negativen stereotypen Haltungen kann sich eine islamophobe Einstellung u.a. in verbaler Ausgrenzung und strukturellen Diskriminierungen oder auch tätlichen Angriffen gegenüber Menschen mit muslimischem Hintergrund zeigen (vgl. ebd.). Zudem zeigt sich Islamophobie in stigmatisierenden Zuschreibungen, die gegenüber Menschen aufgrund ihrer Herkunft und oder Gruppenzugehörigkeit stattfinden. Der Islamophobie können daher auch Personen ausgesetzt sein, die sich 14 Beim Orientalismus handelt es sich um die Konstruktion von Orient-Bildern als Negativfolie, von denen sich der Westen positiv absetzen konnte. Der Orientalismus arbeitet mit Zuschreibungen wie etwa westlich gleich aufgeklärt versus orientalisch gleich rückständig. Dabei wurde der Islam ebenfalls als Teil einer rückständigen Kultur definiert, und politische und ökonomische Prozesse wurden kulturalistisch umgedeutet.
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selbst überhaupt nicht als Muslime bezeichnen, dennoch zum Beispiel aufgrund ihres Namens oder ihres Familienhintergrunds oder ihrer Erscheinungsbildes mit dem Islam in negativer Weise in Verbindung gebracht werden. Islamophobie wird infolgedessen gelegentlich auch als eine Version von Kulturrassismus bzw. kulturalistischem Rassismus bezeichnet (vgl. ebd. 183). Ebenso wie Ismail Küpeli und Heiner Bielefeldt setzt sich Domenic Boyer mit den weit zurückliegenden Ursprüngen der Islamophobie in der Kolonialzeit auseinander (vgl. Boyer 2005: 522). Er vertritt die These, dass der Westen sich durch mythisierende Vorstellungen vom Orient bzw. vom Islam seit Anfang der Expansionspolitik selbst definierte (vgl. ebd.). Im Prozess dieser Selbstdefinition des Westens, so Boyer, bestimmten orientalistische Vorstellungen die Abgrenzung des Westens gegenüber den Anderen. Mit dieser Feststellung betont Boyer den diskursiven Charakter des Phänomens: Islamophobie ist eine politische Ideologie, die alte Ängste und Vorbehalte gegenüber Muslimen im westlichen Europa wieder belebt und diese als Instrument der sozialen Massenimagination und politischen Mobilisierung neu aktualisiert (vgl. ebd.). 2.3.2 Kritik am Begriff der Islamophobie Auch wenn ich in meiner Arbeit den Begriff der Islamophobie verwende, möchte ich auf die Kritik an diesem Begriff in den Politik- und Sozialwissenschaften eingehen. In den geläufigen sozialwissenschaftlichen und politischen Debatten wird wiederholt behauptet, dass die Definition des Begriffs Islamophobie wenig zweckdienlich sei, da der Begriff zu allgemein und wenig anschaulich sei: „Vermischung von rassistischer Stereotypisierung, Religionsauseinandersetzungen und politischer Kritik erweist sich als wenig hilfreich für eine adäquate Problembeschreibung. In der wissenschaftlichen Diskussion existieren darüber hinaus verschiedene Begriffe nebeneinander: „Islamophobie“, antiislamischer bzw. antimuslimischer Rassismus oder einfach nur Rassismus. Bisher konnte jedoch nicht hinreichend herausgearbeitet werden in welchem Verhältnis die Phänomene „Islamophobie“ und Rassismus stehen.“15
Christopher Allen, der Koautor des EUCM-Berichtes von 2006, behauptet, dass dieser Begriff nicht alle antimuslimischen Äußerungen beinhaltet. Ferner kritisiert Allen, dass die Islamophobie, so wie sie durch Runnymede Trust definiert wird, die körperlichen Angriffe gegen Muslime nicht zum Ausdruck bringt. Der Begriff wird manchmal von bestimmten politischen Aktivist_innen mit Antisemitismus verglichen. Im Gegensatz zum Antisemitismus, der von der Europäischen Union offiziell
15 URL: http://krawallsozi.blogsport.de/2009/10/04/kritikamislamophobiebegriff/
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definiert wurde16 und auch die physische Gewalt enthält, umfasst Islamophobie diese Art der Gewalt nicht. Mit der Verwendung des Begriffes läuft man daher Gefahr, den Antisemitismus zu relativieren (vgl. Faber 2008). Des Weiteren wird die Wortbildung von verschiedenen Politik und Sozialwissenschaftler_innen für kritisch erachtet. Nach Thorsten Gerald Schneiders dient Islamophobie als Kampfbegriff, der nicht in einem wissenschaftlichen Zusammenhang verwendet werden kann. Nicht nur Schneiders ist der Meinung, dass Islamophobie als Kampfbegriff eine berechtigte Islamkritik tabuisiert, sondern auch Fred Halliday beanstandet den Begriff. Halliday weist auf eine Gefahr der Verwendung des Begriffes hin. Mit diesem Begriff könnte Kritik an islamischen Ländern, deren Politik oder der Missachtung universaler Grundsätze seitens der Kritisierten abgelehnt bzw. tabuisiert werden (vgl. Halliday 2002: 15ff. In: Schöneberger 2009: 38). Demnach würden nicht nur die genannten Kritikpunkte tabuisiert, sondern auch jedwede Art der Religionskritik würde behindert (vgl. ebd.). Ein anderer grundsätzlicher Kritikpunkt des Begriffes entsteht durch die Wortbildung. Aufgrund des Suffixes Phobie werden diverse Gegenargumente aus verschiedenen Bereichen der Politik, Sozial und Geisteswissenschaften vorgebracht. Mit diesem Suffix drückt der Begriff Ängste und Bedrohungsgefühle gegenüber dem Islam und den Islamangehörigen aus (vgl. Skenderovic 2006: 80). Skenderovic stellt die These auf, dass der Begriff Islamo-Phobie alltagssprachlich mit bestimmten Haltungen und Ängsten assoziiert wird, und er weist auf die Gefahr hin, dass diese Haltungen und Ängste vor dem Islam und vor Muslimen als natürlich empfunden werden können. Diese Ansicht bezieht gleichzeitig die Vorstellung mit ein, dass die Angst vor dem Islam und vor Muslimen angeboren ist (vgl. ebd. 82). Durch die Verwendung des Begriffs der Phobie wird der ideologische Background, wie der Rassismus, ausgeblendet (vgl. ebd.). Eine weitere Kritik Skenderovics an dem Begriff bezieht sich darauf, dass dieser ein sozialpsychologisches Konzept darstellt. Damit meint Skenderovic, dass Islamophobie eine Angst vor dem Islam und den Muslimen beinhaltet, die im Unterbewussten liegt und nicht begründet werden kann (vgl. ebd.). Er stellt die These auf, dass Angst vor dem Islam und Muslimen zu einer emotionalen Abneigung führt und in diesem Zusammenhang kollektive Gefühle entwickelt werden, wenn man glaubt, dass Muslime die eigene europäische Identität bedrohen (vgl. ebd.).
16 Die Antisemitismusdefinition der EU: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass auf Juden äußert. Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus sind gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder ihr Eigentum, gegen die jüdischen Gemeinden und religiöse Einrichtungen gerichtet.“ (EUMC und Ulrich W. Sahm 2005)
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Auch Thorsten Gerald Schneiders spricht sich gegen den Islamophobie-Begriff grundsätzlich aus bzw. kritisiert ihn aus ähnlichen Gründen. Nach Schneiders handelt es sich bei dem Suffix Phobie um Ängste, die aber nicht immer existieren. Er begründet seine These, dass es in der Islamophobie nicht nur um Ängste geht, sondern auch um die politischen Ziele bestimmter Personen und Gruppierungen. Seine These versucht er mit den antiislamischen Haltungen der rechtspopulistischen Bürgerinitiative Pro-NRW zu begründen. Demnach sind die Mitglieder der Pro-NRW Bürgerinitiative über den Islam und dessen Institutionen besser als Normalbürger_innen informiert. Sie handeln weder aus Angst noch aus Unwissenheit, sondern greifen gezielt Aspekte auf und propagieren damit einen ideologisch besetzten antimuslimischen Rassismus (vgl. Schneiders 2010). Ähnlich argumentiert Skendorovic, dass Politiker_innen gezielt versuchen können, antimuslimische Denkweisen in der Gesellschaft mit ihren politischen Ansprüchen und Zwecken hervorzurufen. Dadurch instrumentalisieren sie die Muslimfeindlichkeit zu Gunsten ihrer parteipolitischen Ziele (vgl. Skenderovic 2006: 84). Der Begriff Islamophobie wird ebenfalls hinsichtlich des Suffixes durch die Sprachwissenschaftler_innen Martin Resigl und Ruth Wodak kritisiert. Sie sind der Meinung, dass mit dem Suffix Phobie oft etwas Negatives assoziiert wird. Zum einen weisen sie darauf hin, dass die Verwendung des Begriffes dazu führen kann, einer Emotionalisierung und Psychologisierung der sozialpolitischen Tatsache der Diskriminierung Vorschub zu leisten. Zum anderen würden mit der Krankheitsmetaphorik der Phobie ausgrenzende und diskriminierende Haltungen pathologisiert und somit auch verharmlost (Wodak und Resigl 1995. In: Skenderovic 2006: 84). Das Wort Phobie könnte zur Legitimation der islamfeindlichen Diskriminierungen dienen. Um diesen Legitimationsmechanismus zu verhindern, bestehen beide Sprachwissenschaftler_innen auf die Vermeidung der Verwendung des Begriffes. In der vorliegenden Arbeit verwende ich durchgehend den Begriff der Islamophobie. Die Gründe dafür sind vor allem, dass dieser Begriff sich trotz zahlreicher Kritik in den politik- und sozialwissenschaftlichen Bereichen zunehmend etabliert hat. So wird er etwa in den jährlichen Berichten des EUCM, in der Langzeitstudie von W. Heitmeyer und in diversen anderen wissenschaftlichen Arbeiten benutzt. Die Assoziation mit Xenophobie oder Homophobie dient zur Veranschaulichung einer weiteren Art der Diskriminierung und der dazugehörigen Vorurteile. Mit dem Begriff der Islamophobie ist es möglich, eine Vielzahl von Ressentiments, Abneigungen, negativen Zuschreibungen bzw. Etikettierungen und Ablehnungen gegenüber den Menschen mit islamischem Hintergrund zu bezeichnen. Auch wenn ich die anderen Begriffe, wie antimuslimischer Rassismus, antimuslimische Position oder Muslimenfeindlichkeit bzw. Feindbild Islam etc. nicht ablehne, plädiere ich für den Begriff der Islamophobie. Etliche politische und aber auch wissenschaftliche Arbeiten über den Begriff der Islamophobie zeigen, dass der Hass bzw. die Feindlichkeit und die Diskriminierung gegenüber Muslimen mit der Islamkritik ver-
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mischt wird (vgl. Malik 2008: 12). Die Vermischung von Begriffskritik und Islamkritik führt dazu, dass Differenzen ausgeblendet werden. Die Gleichsetzung von Islam, Christentum bzw. einer anderen Religion mit einer bestimmten Ideologie ignoriert die Pluralität und Verschiedenheit innerhalb der Religionsgemeinschaften. Heiner Bielefeldt spricht sich für offene Diskussionen aus, in denen man vor einer undifferenzierten Islamophobie-Behauptung warnen muss (vgl. Bielefeldt 2009: 191). Obwohl in vielen Fällen die Grenze zwischen legitimer Islamkritik und Islamophobie verschwimmt, verweist Bielefeldt auf die Unverzichtbarkeit solcher Grenzbestimmungen und plädiert für die Verwendung des Begriffs Islamophobie. Schließlich möchte ich mich bei der Verwendung des Islamophobie-Begriffes auf die Begründung des EUMC beziehen: „Im Versuch, die Diskriminierung von Muslimen im Wohnungsbereich, auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungswesen zu diagnostizieren, bleibt dem EUMC oft nur die Notlösung, allgemein diskriminierende Strukturen [mit dem Begriff der Islamophobie] zu beschreiben.“ (Bielefeldt 2009: 186)
2.3.3 Islamophobie als eine Form des kulturalistischen Rassismus? Wie im Abschnitt 2.2 (Rassismus) ausgeführt, spricht man heute nicht mehr von (biologistischem) Rassismus, sondern von Rassismen. Der zentrale Punkt der Theorie des neuen Rassismus liegt in der Begründung der Unvereinbarkeit verschiedener Kulturen. Religion, Sprache und Geschichte gelten als grundlegende Merkmale einer Kultur, die im neuen Rassismus essentialisiert werden. Im neuen Rassismus geht es vor allem um die Naturalisierung und Homogenisierung der anderen Kultur. In seiner Rassismusdefinition verdeutlicht Albert Memmi, dass das Unterscheiden zwischen dem Eigenen und dem Fremden als Instrument des Rassismus verstanden werden kann (vgl. Abschnitt 2.2). Auch Birgit Rommelspacher zeigt, dass die Hierarchisierung der Kulturen politischen, aber auch ökonomischen Zielen der hegemonialen Kultur dient. Im neuen Rassismus, der auch als kulturalistischer Rassismus bezeichnet wird, geht es in erster Linie um die Naturalisierung der kulturellen Merkmale. Biologische Unterschiede/Eigenschaften werden hier durch kulturelle ersetzt. Dass die Menschen mit islamischem Hintergrund als gefährlich, unvertraut, bedrohlich etc. konstruiert werden, zeigt den naturalisierenden, verallgemeinernden und differenzierenden Charakter des neuen Rassismus. In dieser Hinsicht kann man auch Islamophobie bzw. antimuslimische Positionen als eine Form des neuen Rassismus auffassen. Hinsichtlich der antimuslimischen Positionen ist Birgit Rommelspacher der Ansicht, dass die Unvertrautheit der deutschen Bevölkerung mit dem Islam und den Muslimen die islamfeindliche Einstellung der Aufnahmegesellschaft mit sich bringt (vgl. Rommelspacher 2009: 452). Diese Unvertrautheit
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kann Ängste mobilisieren, die mit jedem sozialen Wandel und immer mit Neuerungen und Pluralisierungsprozessen einhergehen. Es entstehen Ängste vor dem Verlust des Eigenen, selbst wenn man nicht genau bestimmen kann, was darunter zu verstehen ist (vgl. ebd. 451). Ich möchte an dieser Stelle einen Bezug zur Theorie des Eliten-Rassismus von Teun A. Van Dijk herstellen. Er vertritt die These, dass verschiedene Elemente des alltäglichen Rassismus in erster Linie durch verschiedene Elitengruppen vorgegeben bzw. vorgefertigt und in der Mehrheitsgesellschaft verbreitet werden. Die wiederholten antimuslimischen bzw. islamophoben Sprüche des ehemaligen Berliner Finanzsenators und gegenwärtigen Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin können an dieser Stelle als Bestätigung der Theorie des Elitenrassismus gelten. Im Folgenden zitiere und analysiere ich die Aussagen von Sarrazin über Ausländer_innen mit muslimischem und afrikanischem Hintergrund: „Wir werden auf natürlichem Wege durchschnittlich dümmer.“17
Mit Wir unterscheidet er die deutsche Mehrheit von anderen. Dass die deutsche Bevölkerung dümmer wird, ist für ihn ein Grund für Furcht vor Ausländer_innen. Zudem bezieht er dies auf die niedrigere Intelligenz bzw. auf die Dummheit der sich vermehrenden Ausländer_innen. Diese Dummheit wird in seiner Aussage biologisiert. „Zuwanderer, aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika, weisen weniger Bildung auf als Migranten aus anderen Ländern.“18
Türkei, Naher und Mittlerer Osten sowie Afrika werden mit anderen Ländern, die vermutlich zum Westen gehören, verglichen. Die Bevölkerungen der genannten Länder sind angeblich weniger gebildet als die anderen. Hier ist wichtig zu unterstreichen, dass die Bevölkerungsgruppen in eine Rangordnung gebracht werden, also intelligenter Westen und dummer Osten: „Einwanderer bekommen mehr Kinder als Deutsche. Es gibt „eine unterschiedliche Vermehrung von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Intelligenz“, Intelligenz wird von Eltern an Kinder weitergegeben, der Erbanteil liegt bei fast 80 Prozent.“19
17 Hervorhebung Zülfukar Cetin. Sarrazin erklärt die Verdummung der Deutschen, 2010. In: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,700031,00.html [Letzter Zugriff am 23.05. 2010] 18 Ebd. 19 Ebd.
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Mit Einwanderern meint Sarrazin nicht Ausländer_innen aus Europa, sondern die Anderen, die überwiegend einen islamischen Hintergrund haben, aus dem Osten stammen und eine, so wird unterstellt, niedrigere Intelligenz besitzen. An dieser Stelle bedürfen die Aussagen von Sarrazin keiner linguistischen Analyse. Ziel der oben ausgeführten kurzen analytischen Auseinandersetzung ist es, zu zeigen, dass Islamophobie, biologischer und kulturalistischer Rassismus in der Gesellschaft auch von oben nach unten diktiert wird. Das heißt, dass neorassistische bzw. islamfeindliche Handlungen der Mehrheitsgesellschaft durch die Eliten, wie beispielsweise Thilo Sarrazin, gefördert werden. Zur Förderung des antimuslimischen Rassismus leistet auch die Bürgerbewegung Pro-NRW einen beachtlichen Beitrag. Pro-NRW ist eine extrem rechte deutsche Organisation, die die so genannte Islamisierung durch muslimische Einwander_innen ablehnt und sich als islamkritisch versteht. Die islamkritische Propaganda von Pro-NRW beinhaltet meistens islamfeindliche Interessen und fordert das Verbot der Einreise von Menschen aus islamischen Ländern (vgl. Lewandowsky 2010). Auf Grundlage der bisher ausgeführten Diskussion um den Zusammenhang zwischen Neorassismus und Islamfeindlichkeit bzw. antimuslimischer Position lässt sich zeigen, dass Islamophobie u.a. als eine Form des kulturalistischen Rassismus bezeichnet werden kann. „Es wird keine imaginierte „Rasse“, sondern eine als Religionsgemeinschaft konzipierte Gruppe in den Blick genommen. Kulturalistische Zuschreibungen sind besser geeignet, Stimmung zu machen, als der Rekurs auf „rassische“ Merkmale, was auch Auswirkungen auf die Intensität und Art des nötigen Widerstands hat.“ (Schiffner und Wagner 2010)
2.4 H OMOPHOBIE
ALS
F OLGE
DER
H ETERONORMATIVITÄT
2.4.1 Heteronormativität Der Begriff der Heteronormativität wurde zum ersten Mal von dem Literaturwissenschaftler Michael Warner im Jahr 1993 in seiner Einleitung zu dem Heft Fear of a Queer Planet verwendet (Wagenknecht 2007: 18). Ihm zufolge macht der Begriff Heteronormativität deutlich, dass Heterosexualität als selbstverständlich, unhinterfragt und grundlegend gilt und normierend wirkt (vgl. Ebeling 2006: 289). So ist Heteronormativität als Herrschaft zu verstehen, die die Menschen in zwei körperlich und sozial klar voneinander unterschiedene Geschlechter einteilt, deren sexuelles Verlangen ausschließlich auf das jeweils andere gerichtet ist (vgl. Wagenknecht 2007: 17). Zudem diktiert Heteronormativität diese Zweigeschlechtlichkeit als natürlich und alternativlos, indem sie ein Wertesystem aufbaut, das auf biologisch-
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medizinischen Diskursen basiert (vgl. Ebeling 2006: 289). Durch die Unterstützung der biologischmedizinischen Diskurse zwingt Heteronormativität die Individuen, sich selbst über eine geschlechtlich und sexuell bestimmte Identität zu definieren, wobei die Mannigfaltigkeit möglicher Identitäten hierarchisch angeordnet ist und im Zentrum der Norm die kohärenten heterosexuellen Geschlechter Mann und Frau stehen (vgl. ebd.). Die Queer Theory, auf die ich im Folgenden eingehen werde, zielt in dieser Hinsicht auf die Dekonstruktion der biologistischen, naturalisierenden herrschenden Heteronormativität ab. Zu diesem Zweck verwendet Warner diesen Begriff (zitiert nach Wagenknecht 2007: 17) in der Absicht, • • •
Sexualität zu einer Grundkategorie der Gesellschaftsanalyse zu machen, nicht einfach Lesben und Schwule in eine ansonsten unveränderte Theorie einzubeziehen, auch nicht Toleranz für Minderheiten zu fordern, sondern einen aggressiven Impuls der Verallgemeinerung durch umfassenderen Widerstand gegen die Regime der Normalität zu geben, in denen „die Hetero-Kultur sich selbst als die Grundform menschlichen Zusammenlebens“ versteht „und als das Mittel der Reproduktion, ohne das die Gesellschaft nicht existieren würde.“
Zusammenfassend beabsichtigt Warner mit dem Begriff der Heteronormativität nicht nur die Untersuchung der Heterosexualität als sexuelle Praktik und die Hervorbringung von heterosexuellen Subjekten und Beziehungen, sondern für ihn ist es auch von großer Relevanz, die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wirkungen und Funktionen heterosexueller Normen aufzuzeigen. So seien beispielsweise auch Arbeits- und ökonomische Strukturen, Sprache, Religion, Sozial und Kultursysteme heteronormativ strukturiert, was verstärkt in der Queer Theory analysiert und untersucht wird (vgl. Ebeling 2006: 290 und Jagose 2001). Selbstverständlichkeit der Heterosexualität durch die Heteronormativität Auf der einen Seite hält das Konzept der Heteronormativität Heterosexualität für die unveränderbare Norm, auf der anderen Seite betrachtet sie sie als Bedingung für die Grundlage menschlicher Beziehungen (vgl. Ebeling 2006: 289). Demnach reguliert Heterosexualität nicht nur Subjektivität und Begehrenskonstellationen, sondern auch soziale Prozesse, kulturelle Denk- und Sichtweisen und gesellschaftliche Institutionen (vgl. Engel und Schuster 2007: 147). So wird Heterosexualität als selbstverständlich verstanden. Sie kann weder in Frage gestellt noch analysiert werden. Heterosexualität muss weder erklärt noch benannt oder legitimiert werden, denn sie stellt sich als Basis sozialer Bindungen dar. Nach heteronormativen Denkweisen hängt die Existenz sozialer Bindungen von Heterosexualität ab, die sich andauernd
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reproduzieren muss (vgl. Ebeling 2006: 290). Im Gegensatz zu ihr werden aber alle anderen Formen der Sexualität in Frage gestellt, pathologisiert, abgewertet und ausgeschlossen, oder sie werden immer als erklärungswürdig betrachtet (vgl. ebd.). Auf die Frage, wie Heterosexualität zur Norm wird, antworten die Vertreter_innen der Queer Theory und andere kritische Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen mit den Normalisierungsprozessen. Der Ethnologe Dieter Haller bezeichnet Heteronormativität als jene Betrachtungsweise, die das heterosexuelle Paar für die selbstverständliche Chiffre des Menschseins hält (vgl. Haller 2002: 1). Er bringt die Funktionsweise der Heteronormativität mit der Funktionsweise des Rassismus in Beziehung. Ihm zufolge „lässt sich [die Heteronormativität] mit der implicit whiteness vergleichen, der Tatsache, dass weiße Hautfarbe eine Selbstverständlichkeit sei, deren tatsächliche Verfasstheit zumeist nicht in wissenschaftliche Analysen eingeht, sofern sie sich nicht explizit mit den „ausgemachten“ Problemen „farbiger“ Bevölkerungen beschäftigt. Wie Weißheit die selbstverständliche Matrix bildet, die sich selbst nicht benennt, sich jedoch intensiv zelebriert; genauso bildet Heterosexualität die unhinterfragte Matrix, die zwar jeden Lebensbereich […] durchtränkt, für die jedoch eine eigene Bezeichnung nur selten in Anspruch genommen wird.“ (Haller 2002: 1)
Diese Funktionsweise der Heteronormativität sowie des Rassismus erfolgt in Normalisierungsprozessen, die Haller, in Anlehnung an Foucault, zu erklären versucht (Haller 2002: 2): • • • •
• •
Normalisierung führt individuelle Handlungen auf ein Ganzes zurück. Dieses Ganze stellt sich als ein Feld des Vergleiches dar. Zudem wird dieses Ganze als ein Raum der Differenzierung und das Prinzip einer zu befolgenden Regel verstanden. Hinsichtlich dieser Gesamtregel differenziert die Normalisierung Individuen untereinander. Durch Vergleich, Differenzierung und Wertung misst die Normalisierung in quantitativen Begriffen und hierarchisiert die Fähigkeiten, das Niveau, ‚die Natur‘ von Individuen. Sie versucht, die Individuen zu konformieren, indem sie wertend misst. Die Normalisierung geht auf jedwede Art der Begrenzung ein, die Differenz definiert, und zwar in Beziehung zu allen anderen Differenzen; sie bestimmt dadurch die äußere Grenze des Normalen zum Abnormalen.
Durch diese Foucaultsche Erklärung kommt Haller zu einer Definition der Normalisierung, die als Ursache der Heteronormativität gilt:
56 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE „Normalisierung vergleicht, differenziert, hierarchisiert, homogenisiert, schließt aus. Die Macht der Normalisierung verordnet den differenzierten Entitäten interne Homogenität; aber sie individualisiert auch dadurch, dass sie es möglich macht, Lücken auszumessen, Grade zu bestimmen, Spezifisches festzumachen und sich die Differenzen nützlich zu machen, indem man sie in Beziehung setzt.“ (Haller 2002: 2)
Auch Jutta Hartmann und Christian Klesse erklären Heteronormativität als zentrales Machtverhältnis, das über alle wesentlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche herrscht (vgl. Hartmann und Klesse 2007: 10). Sie sind der Meinung, dass heteronormative Geschlechterdiskurse auf der Annahme der Zweigeschlechtlichkeit und auf dem Diktat von heterosexuellem natürlichem und normalem Begehren basieren (vgl. ebd.). Demzufolge hat Heteronormativität die Macht, den gesunden und ungesunden Körper sowie adäquates Sozialverhalten normativ zu definieren und normalisierende Identitätszuschreibungen hervorzubringen (vgl. ebd.). So fungieren diese normalisierenden Identitätszuschreibungen als Grundlage für den Glauben, der sich in vielen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen durchsetzt, dass Geschlecht und sexuelle Orientierung(en) statisch und zweifelsfrei sind (ebd.). In diesem Zusammenhang erzeugt Heteronormativität hierarchische Beziehungen, die sich fast überall in der Gesellschaft (z.B. in der Familie, Schule, auf der Straße, auf dem Arbeitsmarkt, im Bereich der Gesundheit, an der Universität, etc.) manifestieren und die Lebensbedingungen der Individuen bestimmen. Gleichzeitig repräsentiert die Heteronormativität ihre Macht, indem sie die Wissensproduktion reguliert, Diskurse strukturiert, politisches Handeln leitet und über die Verteilung von Ressourcen bestimmt (vgl. Wagenknecht 2007: 17). Während Dieter Haller bezüglich der Funktionsweisen Parallelen zwischen Heteronormativität und Rassismus zieht, versucht Peter Wagenknecht aufzuzeigen, dass auch Rassismus und Klassenverhältnisse heteronormativ geprägt sind und ihrerseits die kulturellen Bilder und konkreten Praxen heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit prägen (vgl. ebd.). Bezüglich der Annahme der Selbstverständlichkeit wird Heteronormativität als eine Äußerung betrachtet, die Heterosexualität ontologisch und als ein Ganzes begründet und sich selbst nicht als Identität benennt; sie spricht für sich selbst, und von diesem Blickwinkel aus definiert sie das Andere. Gleichermaßen wie implicit whiteness ist also auch Heteronormativität eine Norm, die sich selbst nicht benennt, da sie fraglose Gültigkeit beansprucht und diese auch glaubhaft und mit Zwang behauptet (vgl. Haller 2002: 4). Queer Politik Die Infragestellung der heteronormativen Gesellschaftsstrukturen und der damit verbundenen sozialen Ungleichheiten sind zentrale Themen der Queer Theory. Sie hat die Heteronormativität zu ihrem zentralen Gegenstand gemacht, um die Wider-
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standspraxen gegen die hegemoniale Ordnung von Geschlecht und Sexualität systematisch zu reflektieren (vgl. Wagenknecht 2007: 18). Die Queer Theory entstand in erster Linie aus den politischen Queer Bewegungen, die versuchten, in der Gesellschaft marginalisierte Individuen und Gruppen in den Mittelpunkt zu stellen. Ziel der Queer Politik ist nicht, die Anerkennung und Integration so genannter Minderheiten, die marginalisiert werden, zu fordern und immer wieder Identitäten und entsprechende Abgrenzungen zu entwerfen, sondern die heteronormative Gesellschaftsordnung zu dekonstruieren (Engel und Schuster 2007: 146). An dieser Stelle ist es notwendig, das Wort Queer erneut zu definieren und zu erklären, wie es sich als Bezeichnung einer politischen Bewegung etabliert hat und wie unterschiedliche kritische Sozialwissenschaftler_innen der Gender- und QueerForschung dieses Wort übernommen haben. Das englische Wort queer lässt sich ins Deutsche mit seltsam, sonderbar, komisch, anrüchig, faul, wertlos, gefälscht, falsch oder schwul übersetzen (vgl. Langenscheidt Muret-Sanders, Englisch-Deutsch Großwörterbuch, 2004). Diesen möglichen Übersetzungen ist zu entnehmen, dass das Wort mehrere negative Bedeutungen beinhaltet. Im alltagssprachlichen Gebrauch wird queer in angelsächsischen Ländern vor allem von homophoben und schwulenfeindlichen Personen und Menschengruppen als Schimpfwort benutzt, um die LSBTT-Menschen, besonders aber Schwule, zu diskriminieren, zu diskreditieren, abzuspalten und zu verfolgen (vgl. Haller 2002: 8). Die Aktivist_innen der Queer-Politik haben das Schimpfwort queer als Selbstbezeichnung übernommen, denn dieses Wort bezieht sich auf all diejenigen Personen, die nicht mit den Wert und Moralvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft übereinstimmen (vgl. Woltersdorf 2003: 915). Wie bei den deutschen Wörtern Schwuler, Tunte, Lesbe, Kanacke etc. hat die Selbstbezeichnung queer einen ähnlich provokanten kämpferischen Charakter. Judith Butler verdeutlicht in einem Interview, die Queer Politik ziele mit der Verwendung dieses Wortes darauf ab, sexuelle Vielfalt zu würdigen sowie dramatisch und lautstark zu fordern, schließlich die vielen Demütigungen zu unterlassen, denen sexuelle Minderheiten bis heute noch ausgesetzt sind (vgl. Ganarin 2002: 408). Laut Butler hat der Begriff das gesellschaftspolitische Ziel, der erniedrigenden Wirkung von Sprache durch die Umdeutung, die Resignifikation des Wortes queer entgegenzuwirken. So wurde aus der abwertenden, spöttischen Bezeichnung für gleichgeschlechtliche Lebensweisen ein stolzer Kampfbegriff, dem sich über fixierte sexuelle Identitäten hinweg die unterschiedlichsten Menschen anschlossen (vgl. ebd.). Vor diesem Hintergrund ist es möglich, die Entstehungsbedingungen der Queer Politik zu verstehen und zu erklären. Die Queer Bewegung entstand Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre vor allem in den USA (Woltersdorf 2003 und Haller 2002). Als politische Bewegung versuchte Queer Politik, Homophobie, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und
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andere Formen sexueller Diskriminierung zu bekämpfen. In diesem Zusammenhang strebte die US amerikanische Schwulen- und Lesbenbewegung soziale Anerkennung und gleiche Rechte wie bei den Heterosexuellen an (vgl. ebd.). Führende schwule Aktivisten haben versucht, die Lesben und Schwulen als ethnische Identität anerkennen zu lassen und damit in die US-amerikanische Verteilungspolitik zu integrieren (vgl. Epstein 1987 in Woltersdorf 2003: 914). Weiterhin präsentierten sie Schwule und Lesben als assimilationswillige Gruppe, die zu großstädtischen Einkommenseliten gehören und anerkannt werden wollten (vgl. ebd.). So betrachtete die kapitalistische Wirtschaftsordnung die LSBTT-Personen als potenzielle Konsument_innen, die ausgebeutet werden können. Die so genannte Pink Economy der kapitalistischen Wirtschaftsordnung unterstützte die Schwule und Lesbische Bewegung bzw. die soziale Vielfalt, um immer neue Märkte und Konsument_innengruppen zu gewinnen. Diese Entwicklungen führten dazu, dass die CSD-Paraden zum einen kommerzialisiert und entpolitisiert worden sind. Zum anderen wurden die unterschiedlichen LSBTT-Personen als homogene Gruppe dargestellt, wobei diese Darstellung die klischeehaften heteronormativen Bilder bediente (vgl. ebd.). Zu diesen Entwicklungen kamen auch die sozialen Folgen der Verbreitung von AIDS, für das die schwulen Männer verantwortlich gemacht und wodurch sie stigmatisiert worden sind. Schwule, Lesben, Schwarze, Sexarbeiter_innen und Drogenabhängige wurden als Risikogruppen etikettiert. Nach all diesen Entwicklungen sahen sich die LSBTT nicht mehr ausreichend selbständig vertreten, so dass sie anfingen, eine Grundlage für die Entstehung der Queer Politik zu schaffen. Die Folgen der AIDS-Epidemie, die zur Stigmatisierung der Homosexuellen führten, bedeuteten für die Schwulen- und Lesbenbewegung einen Rückschlag, der überwunden werden musste. Daraufhin beabsichtigten die Aktivist_innen der Queer Politik, die homosexuelle Emanzipationsbewegung wieder zu beleben, wie sie bereits in den siebziger und frühen achtziger Jahren etabliert war (vgl. Haller 2002: 9). Parallel zur Queer Bewegung entstanden in den neunziger Jahren auch andere politische Aktivitäten, die einerseits mit der Queer Bewegung Überschneidungen hatten, sich andererseits aber auch davon abgrenzten. So organisierten sich beispielsweise Transsexuelle, Transgender-Personen und Intersexuelle, die im alltäglichen Sprachgebrauch als Zwitter bezeichnet werden (vgl. Wolterdorf 2003: 916). Die Queer und anderen politischen Bewegungen hatten im Laufe ihres Aktivismus auch einen beachtlichen Einfluss auf den universitären Bereich, in dem Gay and Lesbian Studies betrieben wurden (vgl. ebd.). Queer Theory Queer Theory ist ein wissenschaftlicher Theorie und Forschungsbereich, der Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre aus der oben dargestellten Queer Bewegung entstand und sich auf die kritische Auseinandersetzung mit den kulturellen
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Vorstellungen, sozialen Praxen und gesellschaftlichen Institutionalisierungsformen von Geschlecht und Sexualität konzentriert (vgl. Engel und Schuster 2007: 135). Der Begriff Queer Theory wurde 1989 zum ersten Mal von der US-amerikanischen Professorin Teresa de Lauretis verwendet. Ihr Ziel war, kategoriale und identitätspolitische Einschränkungen zu überschreiten (vgl. Haller 2002: 10; Woltersdorf 2003: 916 und Perko 2006). Demnach soll im Zentrum der Queer Theory eine kritische Analyse der historischen Formen der dogmatischen Geschlechterdichotomie und normativen Heterosexualität stehen, die als Machtinstanzen zu verstehen sind. Die Queer Theory soll nicht nur deren Normativität und Normalisierungsmacht in Frage stellen, sondern auch daran geknüpfte Hierarchiebildungen (vgl. Engel und Schuster 2007: 135). So ist die Queer Theory nicht als in sich geschlossene Theory zu definieren, sondern sie umfasst eine Vielfalt von verschiedenen theoretischen Konzepten und Denkansätzen, die Heteronormativität als soziales Ordnungssystem begreift. Des Weiteren beinhaltet die Queer Theory diverse Ansätze zur Erklärung von Identität und Sexualität als Grundlagen für die Schaffung kultureller Repräsentationen und Diskurse, für die Einsetzung von Gesetzen und staatlicher Politik, für religiöse und familiäre Intervention in das Leben der Individuen (Haller 2002: 10f.). So befasst sich die Queer Theory nicht mehr mit dem modernen Homosexuellen, seiner sozialen Position und seiner Genese, sondern eher mit der Heterosexualität sowie den Entstehungsbedingungen, der Ausgestaltung und der Wirkungsweise der Hetero/Homo-Binarität als einem Prinzip kultureller, sozialer und politischer Organisation (vgl. ebd.). Da sich die Queer Theory aus einer Emanzipationsbewegung von LSBTT-Personen ergab, kann sie in dieser Hinsicht als ein Teil eines politischen Bündnisses bezeichnet werden, der sexuell marginalisierte Gruppen wie Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgeschlechtliche, Transgender, Intersexuelle, Drag Queens und Kings, Prostituierte etc. zusammen bringt und der eine antiessentialistische Koalitionspolitik vertritt (vgl. Ebeling 2006: 293). Im Zusammenhang der kritischen Analyse der Heteronormativität setzt sich die Queer Theory mit den heteronormativen Konstruktionen von Sexualität und der Dekonstruktion der Normen von Heterosexualität bzw. dichotomer Geschlechterordnung auseinander (vgl. ebd.). Die Queer Theory versucht, die Heteronormativität zu dekonstruieren, indem sie die hegemoniale Annahme, die auf der Natürlichkeit von Sexualität beharrt, ablehnt (vgl. Haller 2002: 2). Während Heteronormativität nur ein binares Geschlechtssystem vorsieht und keine anderen Möglichkeiten von Sexualität anerkennt bzw. eine Hegemonie gegenüber den LSBTT-Personen beansprucht, will die Queer Theory eine Vielfalt von Formen von Sexualität eröffnen und das hegemoniale heteronormative Gesellschaftssystem überwinden (vgl. Ebeling 2006: 294). Ferner ist der Queer Theory wichtig, die in den siebziger und achtziger Jahren betriebene Schwulen und Lesbenforschung zu überwinden, die sich überwiegend
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mit den Themen von schwulen und lesbischen Personen befasst und dadurch eine homogene Identitätspolitik in Bezug auf Homosexuelle bedient hat. Dabei soll aufgezeigt werden, dass Identitäten als instabil, situativ, widersprüchlich, provisorisch, brüchig und produktiv verstanden werden (vgl. de Lauretis 1989. In: Ebeling 2006: 294). Die eben genannten und zu dekonstruierenden Dichotomien wie heterosexuell/homosexuell, männlich/weiblich, gesund/ungesund, schön/hässlich, etc. stellen keine universale metaphysische Notwendigkeit dar, sondern sie werden in konkreten gesellschaftlichen Situationen, kulturellen Praxen und hegemonialen Konflikten erzeugt und transformiert (vgl. Hennessy 1993. In Klesse 2007: 38). Wenn die Queer Theory etwas zu gesellschaftsverändernden Kämpfen beitragen will, dann muss sie diese dichotomen Konzepte mit einer konstruktivistischen Perspektive kontrastieren, indem sie diese Kategorien als soziokulturelle Produkte ausweist und die Vielfalt und Veränderlichkeit von Sexualität betont (vgl. Klesse 2007: 38 und Ebeling 2006: 294). Foucault und Denaturalisierung des Sexes Im Hinblick auf die politischen, sozialen und wissenschaftlichen Diskussionen zur Heteronormativität und auf die Entstehung der Queer Theory stellen die Macht und Diskursanalysen und die diesbezügliche Auseinandersetzung Foucaults mit der Geschichte der Sexualität einen Meilenstein dar. Seine Thesen leisten zur Dekonstruktion sowie Denaturalisierung der Sexualität einen wesentlichen Beitrag. In seiner Analyse der Sexualität geht er von der Kritik an den christlich geprägten westlichen Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts aus (vgl. Foucault 1983: 131ff.). Mit seiner Kritik an der Naturalisierung der Sexualität seit dem 18. und im 19. Jahrhundert im christlichen aufgeklärten Abendland bietet Foucault der Queer Theory eine geeignete Grundlage, die Ursprünge der Heteronormativität zu analysieren, zu erkennen und zu verstehen. Es besteht heute kein Zweifel mehr daran, dass die Heteronormativität auf die christliche Morallehre der westlichen Kultur zurückgeht. Diese christliche Morallehre erhebt die lebenslang treue Ehe als gottgegebene, natürliche Ordnung, in der die Frau dem Mann untergeordnet ist und Geschlechtsverkehr nur zwecks der Fortpflanzung ausgeübt werden soll (vgl. Wagenknecht 2007: 19). In diesem Zusammenhang betrachtet Foucault die Sexualität als einen dichten Durchgangspunkt für die Machtbeziehungen: zwischen Männern und Frauen, zwischen Jungen und Alten, zwischen Eltern und Nachkommenschaft (vgl. Foucault 1983: 125). In seinem Buch Sexualität und Wahrheit setzt er sich mit Macht und Diskurs auseinander, um herauszufinden, welche Rolle Institutionen wie beispielsweise Religion, Wissenschaft, Politik oder Ökonomie und Diskurse in der Normierung sowie Naturalisierung von Sexualität spielen; statt einem imaginären Wesen der Sexualität nachzugehen, fragt er explizit danach, wie Sexualität hergestellt wird. Hinsichtlich
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der Produktion der Sexualität durch die Praxen und Diskurse der hegemonialen Institutionen widerspricht er dem Diktat des christlichen Gedankengutes (vgl. Foucault 1983, Haller 2002, Engel und Schuster 2006). Im Gegensatz zum okzidentalen Denken behauptet Foucault, dass Sexualität nichts Natürliches ist. Er vertritt die These, dass sie durch Diskurse und Praxen der Institutionen produziert wird (vgl. Foucault 1983: 126f.). Die Frage, was als Diskurs bezeichnet wird und wie er funktioniert bzw. welche Rolle er im gesellschaftlichen Leben hat, kann man am Beispiel der Produktion der Sexualität durch die gesellschaftlichen Institutionen beantworten: Die Diskurse sind mehr als die Gesamtheit von Aussagen zu einem bestimmten Thema. Eher bezeichnen sie ein strategisches Feld von Gesagtem und Ungesagtem, Gesten und Haltungen, Seins und Verhaltensweisen sowie Raumgestaltungen, in dem sich die gesellschaftlichen (Macht-) Beziehungen ausgestalten und Bedeutungen erzwungen bzw. zwingend werden (vgl. Engel und Schuster 2007: 137). In der Archäologie des Wissens beschreibt Foucault die Existenzbedingungen des Diskurses: „[der Diskurs] existiert unter den positiven Bedingungen eines komplexen Bündels von Beziehungen […] Diese Beziehungen werden zwischen Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensnormen, Normsystemen, Techniken, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen hergestellt.“ (Foucault 1973: 68)
Der Diskurs hat eine normierende und regulierende produktive Funktion. Er regelt die Ordnung der Welt und die Herstellung von Wissen (vgl. Engel und Schuster 2007: 136). In seiner Diskursanalyse untersucht Foucault die ökonomischen, politischen und epistemologischen Bedingungen des Auftauchens geschichtlicher Dispositive und der darin einschneidenden Machtverhältnisse (vgl. ebd.). Die Untersuchung des Diskurses heißt für Foucault gleichzeitig auch die Untersuchung der Macht, denn der Diskurs ist von Machtstrukturen durchzogen (vgl. Bruder 2010: 81). Die Macht strukturiert die Diskurse und legitimiert sich auch durch die Diskurse. Der Diskurs des Sexes bzw. der Sexualität ist ein Produkt der heteronormativ geprägten Machtverhältnisse, die die Sexualität(en) naturalisieren, normieren, pathologisieren, psychiatrisieren: „‚Sexualität‘ ist der Name, den man einem geschichtlichen Dispositiv geben kann. Die Sexualität ist keine zugrunde liegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist, sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens und Machtstrategien miteinander verketten.“ (Foucault 1983: 128)
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Dieses Zitat zeigt, dass die Produktion der Sexualität(en) in engem Zusammenhang mit den Machtverhältnissen steht, die das Wissen um Sexualität durch die Diskurse formieren bzw. ausgestalten. Das heißt, dass dieses Wissen ein Ergebnis der Macht ist. Mit Stimulierung, Intensivierung, Formierung, Anreizung etc. gibt Foucault einen Hinweis auf den produktiven Charakter der Diskurse der Sexualität (vgl. Villa 2006: 160). Die modernen Diskurse der Sexualität, die aus den Machtinstanzen – wie beispielsweise Justiz, Medizin, Psychoanalyse, Sexualwissenschaft – entstehen, ermöglichen die Wahrnehmungen, Lebensweisen, Gefühle, bestimmte Körper-Lüste (vgl. ebd.). Bezüglich der Normierung und der Produktion der Sexualität geht Foucault von vier großen strategischen Komplexen aus, die die Sexualität durch ein Wissens/Machtdispositiv zur natürlichen Norm gemacht haben. Auf der Ebene der Macht wurde die Sexualität heteronormativiert. Auf der Ebene des Wissens wurde die Sexualität produziert, wie beispielsweise die Produktion des pathologischen Homosexuellen, der hysterischen Frau oder des masturbierenden Kindes (vgl. Foucault 1983: 125f.). Vermittels der Diskurs- und Machtanalyse sowie der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sexualität konnte Foucault nachweisen, dass das Wissen über Hetero- und Homosexualität relativ neu und ein Effekt der Macht ist. Er behauptet nicht, dass es vor dem 18. Jahrhundert keine Homosexualität bzw. Heterosexualität gab, weist jedoch darauf hin, dass die Sexualitäten durch Normierung, Regulierung sowie Normalisierungspraxen durch das Regime von Wissen bzw. Macht erzeugt wurden (vgl. Foucault 1983: 125ff. und Engel und Schuster 2006: 137). So wie Heterosexualität als Norm bzw. normal vorgeschrieben wurde, wurde vor allem die männliche Homosexualität pathologisiert sowie als anormal eingeordnet. Zudem legt Foucault besonderen Wert darauf, dass Macht/Wissen-Komplexe die verschiedenen sexuellen Identitäten und Praxen als Gegenstände der wissenschaftlichen Forschung und als gesellschaftliche Fakten erst entstehen lassen (vgl. Engel und Schuster 2006: 137). Ebenfalls werden parallel zur Verwissenschaftlichung von Sexualität und Geschlecht zwei strikt unterschiedene Geschlechtskörper und charaktere diskursiv hervorgebracht, die durch die Normen der Heterosexualität als komplementäre, d.h. einander ergänzende konstruiert werden. Die Natur wurde als Grund für die natürliche Unterordnung der Frau im Gegensatz zur Überlegenheit des Mannes angegeben. Entsprechend dieser Norm erscheinen Homosexualität und alle anderen nicht komplementären und nicht reproduktiven Sexualitäten als pathologische oder kriminelle Abweichungen (vgl. ebd.). So wird im 18. Jahrhundert die Homosexualität als Abweichung oder Perversion thematisch. Um die Erfindung der Homosexualität an dieser Stelle präzisieren zu können, ist es notwendig, auf die vier großen strategischen Komplexe und die damit zusammenhängenden Dispositive zurück zu greifen. Unter einem Dispositiv versteht Foucault
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„ein bestimmtes heterogenes Ensemble, das Diskurse, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes eben sowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft ist.“ (Foucault 1978: 119f.)
Foucault zeigt in Der Wille zum Wissen, dass durch die vier strategischen Komplexe Vorstellungen von Normalität entstehen, indem die Abweichungen festgestellt und geordnet werden: Die Hysterisierung des weiblichen Körpers: Es geht hier um einen dreifachen Prozess: Erstens wurde der Körper der Frau als vollkommen von der Sexualität durchdrungen betrachtet sowie pathologisiert. Zweitens wird ein Zusammenhang zwischen dem Körper der Frau und dem Gesellschaftskörper hergestellt. Das heißt, dass die ihr zugeteilte Sexualität also Frausein die Gesundheit der Bevölkerung sicherstellen soll, indem die Frau ihre Fruchtbarkeit für den Bestand der Gesellschaft regelt und gewährleistet. Und drittens prägte die Hysterisierung das Bild der Mutter und der nervösen Frau (Foucault 1983: 126). Die Pädagogisierung des kindlichen Sexes: Es geht hier um die Masturbation bzw. Onanie als eine kindliche sexuelle Aktivität. Aufgrund des christlichen Glaubens sollten die Kinder vor Masturbation geschützt werden; Onanie wird als bedrohlich und gefährlich angesehen. Nach dieser Überzeugung enthält die sexuelle Betätigung des Kindes moralische, kollektive, individuelle und physische Gefahren. Daher müssen Eltern, Erzieher, Ärzte und später Psychologen die Kinder kontrollieren. Der Kampf gegen die Onanie ist das bedeutendste Produkt der Pädagogisierung (vgl. ebd.). Die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens: Dem heterosexuellen Paar wird Verantwortung für den Gesellschaftskörper gegeben. Daher wird die Fruchtbarkeit des Paares gefördert, dessen sexuelle Aktivität wird als soziale Norm zum ökonomischen und moralischen Nutzen der gesamten Bevölkerung angesehen. (vgl. ebd. 127). Psychiatrisierung der perversen Lust: Hier meint und beschreibt Foucault die Figur des perversen Erwachsenen. Seine Lust wird mit einem neuen sexualwissenschaftlichen Diskurs verbunden, und sie wird als abweichendes Verhalten psychiatrisiert. Demnach muss das Begehren des perversen Erwachsenen normalisiert werden (vgl. ebd.). Mit diesen vier strategischen Komplexen zeigt Foucault wiederum die Produktion der Sexualitäten durch die Machtinstanzen. Demnach ist Sexualität nicht als Naturgegebenheit zu verstehen. Sie existiert als Wissen innerhalb bestimmter Diskurse, und sie ist mit Macht verbunden (vgl. ebd.). Macht soll hier nicht als repressiv verstanden werden; sie hat hier vielmehr einen produktiven Charakter. Macht verändert die Handlungsmöglichkeiten. Sie wirkt nicht vertikal, sondern horizontal.
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Das heißt, sie kommt von überall. Macht hat einen Einfluss auf das, was als Wissen gilt, sie beeinflusst sowohl das Gesagte wie auch das Nicht-Gesagte (Foucault 1978: 119f.). Die vier strategischen Komplexe werden für die Normalisierung, Pathologisierung und Psychiatrisierung der Sexualitäten instrumentalisiert. In Bezug auf den Übergang vom Allianzdispositiv zum Sexualitätsdispositiv durch die Moderne stellt Foucault einen Zusammenhang zwischen der Herausbildung des modernen Subjekts und einem Sexualitätsdispositiv fest. Durch den Übergang vom Allianz- zum Sexualitätsdispositiv entwickelte sich eine neue Machtform (vgl. Foucault 1983: 128ff.). Das Allianzdispositiv bezeichnet die soziokulturell unterschiedlichen Systeme des Heiratens und der Verwandtschaft, die mit der Weitergabe von Namen und Besitz verbunden sind (vgl. ebd.). Die Gesellschaft strukturierte sich im Ancien Regime über das Gesetz, Verbotenes und Erlaubtes, Sitten etc. (vgl. Sarasin 2005: 164). Die Sexualbeziehungen gestalteten sich nach dieser Gesellschaftsordnung, das heißt, das Allianzdispositiv verband die Sexualität mit der Weitergabe der Güter. Im Zusammenhang mit den ökonomischen und politischen Veränderungen des 18. Jahrhunderts in modernen europäischen Gesellschaften begann diese Art der Organisation der Sexualbeziehungen an Bedeutung zu verlieren (vgl. Foucault 1983: 128). Parallel zu dieser Entwicklung änderte sich auch das Verhältnis zwischen der Sexualität und der Ökonomie. Die moderne europäische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts entwickelte ein neues, am Individuum ausgerichtetes Dispositiv, das Foucault als Sexualitätsdispositiv bezeichnet, das das Allianzsystem überlagert, ohne es abzulösen (vgl. ebd.). Das Sexualitätsdispositiv zielt nicht mehr auf die Weitergabe von Gütern über Verwandtschaft, Familie, Institutionen ab, sondern auf den produzierenden und konsumierenden Körper des Individuums, auf das Leben und auf seine Expansion, auf die Erhaltung, Ertüchtigung, Ermächtigung oder Nutzbarmachung der ganzen Art (vgl. Foucault 1983: 176). Das Sexualitätsdispositiv instrumentalisierte und förderte die Sexualität, damit die Individuen produzieren und konsumieren (vgl. Engel und Schulster 2007: 139). So funktionierte das Sexualitätsdispositiv durch dynamische, mannigfaltige und sich verändernde Machttechniken, die die Identitäten, die Qualität der Lüste und die Empfindungen der Körper in den Mittelpunkt rückten (vgl. Foucault 1983: 128ff., zitiert nach Engel und Schuster 2007: 138f.). Durch die enge Verflechtung von Allianz- und Sexualitätsdispositiv nimmt die Sexualität die Funktion eines Scharniers zwischen dem Körper des Individuums und der Bevölkerung ein (vgl. Foucault 1983: 134; 173). Das Allianz- und das Sexualitätsdispositiv wirken sich gleichzeitig aus und rufen eine paradoxe Situation hervor, durch die parallel zum normativen Monopol von heterosexuellem Paar und Elternschaft eine individualisierte Vervielfältigung sexueller Subjektpositionen erfolgt (vgl. Engel und Schuster 2007: 139). Das Sexualitätsdispositiv konzentrierte sich von nun an auf die Familie (vgl. Foucault 1983: 132). Die bürgerliche Familie galt für das Sexualitätsdispositiv als Kris-
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tall (vgl. ebd. 134). Hier tauchen die vier großen strategischen Komplexe und die damit verbundenen Sexualitätsfiguren auf. Die Eltern, die Eheleute werden in der Familie die Hauptagenten eines Sexualitätsdispositivs (vgl. ebd.). Die Familie scheint eine Sexualität zu verbreiten, die sie in Wirklichkeit reflektiert und bricht (vgl. ebd.). Im Zuge der Psychologisierung und Psychiatrisierung werden neue Figuren konstituiert: nervöse Frau, […] perverser Gatte, das frühreife und bereits erschöpfte Kind und der junge Homosexuelle (ebd. 133). Foucault unterstreicht die Bedeutung dieser großen strategischen Komplexe, denn jeder von ihnen verbindet auf seine Weise die Disziplinartechniken mit den Regulierungsverfahren (vgl. ebd. 174). Die Hysterisierung des weiblichen Körpers und die Pädagogisierung des kindlichen Sexes beziehen sich auf die Erfordernisse der Regulierung, also auf Arterhaltung, Nachkommenschaft, kollektive Gesundheit. Die Frauen wurden für die Gesundheit ihrer Kinder, für die Existenz der Familie, für das Wohl der Gesellschaft verantwortlich gemacht. Bei der Psychiatrisierung der Perversen waren die Eingriffe regulierender Natur. Allgemein wird also der Sex am Kreuzungspunkt von Körper und Bevölkerung zur zentralen Zielscheibe für eine Macht, deren Organisation eher auf der Verwaltung des Lebens als auf der Drohung mit dem Tode beruht (vgl. ebd. 174f.). Ziel (der Macht) war dabei, erstens, das Begehren des modernen Subjekts entstehen zu lassen, die eigene Wahrheit zu entdecken, und zweitens, Vorstellungen von Normalitäten zu erzeugen (vgl. Engel und Schuster 2007: 136). In diesem Zusammenhang codiert die Macht die Verhaltensnormen als immanent und macht die Geschlechterdichotomie zur Norm, wobei sie die Homosexualität zum verworfenen Außen macht, weil mit den – zunächst männlichen – Homosexuellen eine Form der Sozialität entsteht, die als Bedrohung wahrgenommen wird (vgl. Wagenknecht 2007: 19f.). Butler: Dekonstruktion der heterosexuellen Matrix Wie in den vorangegangen Abschnitten dargelegt, ist Heteronormativität mit sozialen Machtverhältnissen verbunden. Diese sozialen Machverhältnisse manifestieren sich vor allem in den Klassenkämpfen bzw. im Klassismus, im Rassismus, in hierarchischen Differenzierungen bzw. sozialen Rangordnungen, im Kampf der Kulturen etc.. Es ist fast immer möglich, einer heteronormativen Gesellschaftsordnung in jedem dieser Machtverhältnisse zu begegnen. Wie diese heteronormative Gesellschaftsordnung entstanden ist, welche sozialen Folgen die Heteronormativität hat und wie sie zu überwinden ist, sind die Kernfragen der Queer Theory. Vertreter_innen der Queer Theory und Politik, wie mehrmals erwähnt, setzen sich mit der Dekonstruktion und der Destabilisierung der Selbstverständlichkeit von Identitäten, der vermeintlichen Natürlichkeit der Sexualität sowie den heteronormativ geprägten gesellschaftlichen Verhältnissen auseinan-
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der. In dieser Hinsicht finden die dekonstruktiven Ansätze Butlers in den Gender und Queer Studies sowie in politischen Bewegungen eine große Resonanz. Mit ihren Büchern Das Unbehagen der Geschlechter von 1991 und Körper von Gewicht von 1997 kritisiert Judith Butler die feministische Bewegung der siebziger und achtziger Jahre, und es gelingt ihr, die heteronormative Gesellschaftsordnung in Frage zu stellen. In ihren Arbeiten zeigt sie zugleich auf: • • •
wie das Geschlecht regulatorisch als natürlich/biologisch konstruiert wird, wie die Konstruktion des Geschlechtes die Heterosexualität bevorrechtigt und wie die Dekonstruktion normativer Gendermodelle der Legitimation lesbischer und schwuler Positionen dienen kann.
Ihre Kritik am Feminismus begründet sie damit, dass der westliche Feminismus die Kategorie Frau als natürliche sexuelle Identität erneut konstruiert und dadurch die dichotomen heteronormativen Identitätspolitiken bedient (vgl. Butler 1991: 15ff.). Im Gegensatz zum westlichen Feminismus bezeichnet Butler den Begriff Frau nicht als natürliche bzw. selbstverständliche Kategorie, sondern als regulatorisches Konstrukt bzw. als Erfindung der dominierenden Heteronormativität (vgl. ebd.). Mittels ihrer Kritik am Feminismus zielt Butler auf eine kritische dekonstruktivistische Analyse der hegemonialen Zwei-Geschlechter-Ordnung und dadurch auf das Unbehagen der Geschlechter ab, auf Gender Trouble, d.h. also, auf die Störung der Geschlechterkonstruktionen. In ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter entwickelt sie eine Theorie, die die Konstruktion und Dekonstruktion der sexuellen und geschlechtlichen Identitätsbildungen darlegt. Butler führt hier den Begriff der heterosexuellen Matrix ein: „Der Begriff heterosexuelle Matrix steht [...]für das Raster der kulturellen Intelligibilität, durch das die Körper, Geschlechtsidentitäten und Begehren naturalisiert werden. [...] Es geht darum, ein hegemoniales diskursives/epistemisches Modell der GeschlechterIntelligibilität zu charakterisieren, das folgendes unterstellt: Damit die Körper eine Einheit bilden und sinnvoll sind, muß es ein festes Geschlecht geben, das durch eine feste Geschlechtsidentität zum Ausdruck gebracht wird, die durch die zwanghafte Praxis der Heterosexualität gegensätzlich und hierarchisch definiert ist.“ (Butler 1991: 220 Fußnote 6)
Mit der heterosexuellen Matrix weist Butler auf eine soziale und kulturelle Anordnung hin. Sie versteht Sexualität als Diskursprodukt innerhalb der heterosexuellen Matrix in einem begrifflichen Dreieck: Das anatomische Geschlecht (sex), die Geschlechtsidentität (gender) und das sexuelle Begehren sowie die sexuelle Praxis (vgl. Butler 1991: 38). Diese drei Kategorien bedingen und beziehen sich aufeinander. Im Folgenden gehe ich zunächst auf die von Butler ausgeführte Unterscheidung von biologischem
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Geschlecht (sex) und gender (soziales Geschlecht/Geschlechtsidentität) ein. Anschließend behandle ich das Konzept der heterosexuellen Matrix weiter. Butler zur Unterscheidung von sex und gender: „‚Geschlechtsidentität‘ steht hier für gender, während ‚sex‘ im allgemeinen mit ‚Geschlecht‘ oder in Anspielung auf die Begriffsbestimmung bei Michel Foucault als ‚sexus‘ wiedergegeben wird. […] Der Begriff ‚sex‘ bezeichnet das biologische Geschlecht, während ‚gender‘ auf die kulturell und gesellschaftlich bedingten Identitätskonzepte verweist, die dem ‚Männlichen‘ und dem ‚Weiblichen‘ zugeordnet werden.“ (Butler 1991: 15)
Mit der Unterscheidung zwischen sex und gender greift Butler in der Queer und feministischen Theory sowie in den zeitgemäßen sexualpolitischen Bewegungen neue Aspekte auf, die sich in der Dekonstruktion, der Denaturalisierung sowie der Destabilisierung des dichotomen Geschlechtssystems zum Ausdruck bringen. Nicht nur die Ansätze Butlers zur Dekonstruktion der Zwei-Geschlechter-Ordnung sind ein Gewinn für die Queer und feministische Theory und Bewegung, sondern auch ihre Theorien über die Vervielfältigung der Begehrensverhältnisse eröffnen eine neue Herangehensweise in diesem Bereich. Mit ihren kritischen Ansätzen zeigt sie, dass nicht nur homo-, hetero- oder bisexuelle Begehrenskonstellationen, sondern auch viele andere Möglichkeiten der Art und Weise sexuellen Begehrens existieren. Es ist hier anzumerken, dass die Theorie von der Existenz verschiedener Begehrensrelationen nicht von Foucault oder Butler eingeführt wurde; vielmehr geht sie auf den Anfang des 20. Jahrhundertes zurück und wurde von Magnus Hirschfeld in seinem Buch Was muss das Volk vom Dritten Geschlecht wissen! Entwickelt (vgl. Engel und Schuster 2007: 45). Ziel von Foucault und Butler war es nicht, die Dekonstruktion der dichotomen Geschlechterordnung als neues Phänomen zu beschreiben, sondern die Materialisierung des Geschlechtes, des Körpers sowie der Sexualität abzulehnen. In Das Unbehagen der Geschlechter geht Butler auf die foucaultsche Genealogie ein: „Die genealogische Kritik lehnt es ab, nach den Ursprüngen der Geschlechtsidentität, der inneren Wahrheit des weiblichen Geschlechts oder einer genuinen, authentischen Sexualität zu suchen, die durch die Repression der Sicht entzogen wurde. Vielmehr erforscht die Genealogie die politischen Einsätze, die auf dem Spiel stehen, wenn die Identitätskategorien als Ursprung und Ursache bezeichnet werden, obgleich sie tatsächlich Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen mit vielfältigen und diffusen Ursprungsorten sind.“ (Butler 1991: 9)
Nach dieser Erläuterung der butlerschen Sex-Gender-Unterscheidung ist es an dieser Stelle erforderlich, auf den Begriff der heterosexuellen Matrix zurückzugreifen: Mit dem Begriff der heterosexuellen Matrix legt Butler fest, dass die sozialen Ge-
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schlechter nach bestimmten normativen Regeln konstruiert werden. Durch diese normativen Regeln werden Menschen als heterosexuelle Männer und Frauen eingeordnet (vgl. ebd. 23). Mit der heteronormativen Konstruktion des Geschlechtes sowie der Geschlechteridentität werden andere Formen der Sexualität und der Geschlechterbeziehungen als Abweichung von der heterosexuellen hegemonialen Zwangsordnung eingestuft. Wie es zur hegemonialen Heterosexualität kommt bzw. wie die Konstruktion von einem heterosexuellen Mann und einer heterosexuellen Frau realisiert wird, erklärt Butler am Beispiel der Konstitution sowie der Konstruktion der Körper, die auf gegenwärtigen Normalisierungs- und Disziplinierungspraktiken sowie Diskursen basieren (Butler 1991: 40 und 1997: 178). Durch die binäre Ordnung der Geschlechter wird Heterosexualität als Heteronormativität hergestellt. Auf Grundlage der Heteronormativität werden Regeln und Normen geschaffen, also konstruiert: „Die Vorstellung, daß es eine ‚Wahrheit‘ des Sexus geben könne, […] wird gerade durch die Regulierungsverfahren erzeugt, die durch die Matrix kohärenter Normen der Geschlechtsidentität hindurch kohärente Identitäten hervorbringen. Die heterosexuelle Fixierung des Begehrens erfordert und instituiert die Produktion von diskreten, asymetrischen Gegensätzen zwischen ‚Männchen‘ (male) und ‚Weibchen‘ (female) […] Die kulturelle Matrix, durch die die geschlechtlich bestimmte Identität […] intelligibel wird, schließt die ‚Existenz‘ bestimmter ‚Identitäten‘ aus, nämlich genau jene, in denen sich die Geschlechtsidentität nicht vom anatomischen Geschlecht herleitet und in denen die Praktiken des Begehrens weder aus dem Geschlecht noch aus der Geschlechtsidentität ‚folgen‘.“ (Butler 1991: 38f.)
Butler ist der Meinung, dass die heterosexuelle Matrix die Menschen in zwei eindeutig voneinander zu unterscheidende Geschlechter teilt. In dieser dichotomen Geschlechterordnung erscheint der anatomische Geschlechtskörper nicht nur als rein natürliches, sondern auch als ein kulturelles Erzeugnis. Der Geschlechtskörper wird in der hegemonialen Gesellschaftsordnung als Merkmal für die Geschlechterunterscheidung und Geschlechterdifferenzierung instrumentalisiert, indem man ihm eine besondere soziale Rolle und Identität sowie heterosexuelles Begehren zuschreibt. Die heterosexuelle Matrix zeigt die Heterosexualität als dominierende Gesellschaftsordnung, die Selbstverständlichkeit, Natürlichkeit und Unhinterfragbarkeit beansprucht. In diesem Gesellschaftssystem werden der Körper und seine soziale Funktion reguliert. So entstehen die Kategorien des heterosexuellen Mannes und der heterosexuellen Frau. Zur Legitimation dieser Kategorien werden Geschlechtskörper in der heterosexuellen Matrix nur als naturgegeben, biologisch deklariert.
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Denaturalisierung des Geschlechtes durch Performanz und Performativität Butler versteht unter Geschlechtsidentität eine kulturelle Fiktion bzw. eine kulturelle Konstruktion (vgl. Butler 1991: 22ff.). In Körper von Gewicht analysiert sie die Entstehungsbedingungen dieser Konstruktion des Geschlechts und versucht, diese zu destabilisieren. Der Ausgangpunkt ihrer Dekonstruktion ist die Materialisierung des Körpers (vgl. Butler 1997: 13). Demnach ist die Materialität des biologischen Geschlechts durch eine ritualisierte Wiederholung von kulturellen Normen konstruiert (vgl. ebd. 15). Diese These geht von der Sex-Gender-Unterscheidung aus. Es handelt sich hier offenbar um die Ablehnung der heteronormativen Charakterisierung und Definition des Körpers in den Diskursen. Butler hinterfragt die soziale Konstruktion des Geschlechtes. Sie stellt fest, dass die Körper sich auf der Basis der gegenwärtigen regulierenden Diskurse und Praktiken konstruieren (vgl. ebd. 21). In und durch diese Praxen und Diskurse kommt die grundlegende Strukturierung der Subjekte zum Ausdruck. Gemeint ist, dass aus Diskursen zur Geschlechtsidentität (gender) vergeschlechtlichte Körper bzw. biologisches Geschlecht (sex) werden: das biologische Geschlecht ist […] ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird. (Ebd.) Unter Materie versteht Butler jedoch nicht eine statische Einheit, sondern etwas, das zahlreichen Veränderungen unterworfen ist (vgl. ebd. 33f.). An dieser Stelle ist es wichtig, einen Blick auf die Theorie der Unterscheidung zwischen Performativität und Performanz zu werfen: Auf der einen Seite bedeutet Performanz eine Art darstellerischer Realisierung. Auf der anderen Seite bezeichnet die Performativität eine ständige Wiederholung der Normen, denen das Subjekt unterworfen ist (vgl. ebd. 36 und 321). Das bedeutet, dass die Normen das Subjekt konstituieren, bestimmen und einschränken. Während die Performanz ein handelndes Subjekt voraussetzt, bezweifelt die Performativität den Begriff des Subjekts und leugnet die Existenz des Subjektes (vgl. Ganarin 2002: 411). Butler sieht das anatomische Geschlecht, die Geschlechtsidentität und das sexuelle Begehren als performative Effekte an, die im Prozess der Produktion des Geschlechts auftauchen. Das heißt, dass Geschlechtsidentität (gender) und biologisches Geschlecht Ergebnisse bzw. Produkte diskursiver Praxen sind. Sie zitiert Beauvoir: Man kommt nicht als Frau zur Welt, sondern wird es. (Butler 1991: 25) In diesem Zusammenhang zeigt sie, dass der Körper in seiner Materie von den regulierenden Normen, die ihn und sein Konstrukt dominieren, abhängig ist. Mit dieser These bringt Butler den Zwangscharakter der heteronormativen Geschlechterordnung zum Ausdruck. Die heteronormative Zwangsordnung schreibt die soziale und kulturelle Rolle des Mannes und der Frau vor. Die Vorschriften und Aufforderungen der hegemonialen Heteronormativität müssen von Frauen und Männern erfüllt werden. Wer gegen diese Vorgaben und Aufforderungen verstößt, wird ausgegrenzt. Das Bestrafen durch soziale Ausgrenzung führt dazu, dass das Subjekt
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normgerecht handeln muss, um in der Norm bleiben zu können. Das normgerechte Handeln bzw. das normgerecht handelnde Subjekt bedingt ein anderes verworfenes Subjekt, das nicht mit den Normen der hegemonialen Heterosexualität übereinstimmt, damit das normgerechte Subjekt weiter existieren kann. Das heißt, die Existenzbedingung einer Normativität ist eine Abnormität. Heterosexualität muss die Homosexualität als Abweichung von sozialen Normen erzeugen, um weiter bestehen zu können. Sowohl Heterosexualität als Norm als auch Homosexualität als Abweichung von der Norm werden performativ hergestellt (vgl. Butler 1997: 32ff.). Das heißt, die sozialen Normen, die die Sexualität und die Geschlechter regulieren, sind in jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens ständig zu aktualisieren sowie zu erzeugen. Das Ergebnis dieser performativen Herstellung sind auf der einen Seite normgerechte Körper also der heterosexuelle Mann und die heterosexuelle Frau und auf der anderen Seite der abnorme Homosexuelle. Die Reproduktion der heterosexuellen Matrix, so Butler, ist dennoch paradoxal. Denn die heteronormative Geschlechterordnung stellt sich als Zwangsregime dar. Die Übereinstimmung mit den Normen bietet dem Subjekt einen privilegierten Status, der begehrenswert ist und das Subjekt zwingt, in der Norm zu bleiben. Wenn das Subjekt aber nicht mit dieser Norm übereinstimmt, dann muss es mit verschiedenen sozialen Komplikationen rechnen. Ziel der heterosexuellen Matrix, die die Geschlechts- und Sexualitätsnormen performativ reproduziert, ist einerseits die Handlungsunfähigkeit der Individuen durch Unterwerfung und andererseits die Naturalisierung der Norm der Heterosexualität durch die Herstellung der zweigeschlechtlich unterschiedenen Körper. Im folgenden Abschnitt werden homophobe Diskriminierungen sowohl aus der butlerschen Sicht der heterosexuellen Matrix als auch aus der foucaultschen Perspektive der Macht des Diskurses beleuchtet. 2.4.2 Homophobie Die Erscheinungsformen von Diskriminierung sind vielfältig, so wie die Menschen vielfältig sind. Jeder Mensch besitzt individuelle sowie soziokulturelle Eigenschaften. Manchen Menschen werden dennoch bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, um sie zu diskriminieren. Die Zuschreibungsmechanismen bezwecken in erster Linie den Ausschluss, die Ausgrenzung sowie die Benachteiligung bestimmter Menschen, die sich als Betroffene der Diskriminierung verstehen. Ziel dabei ist es, die Emanzipation sowie die Partizipation dieser Menschen an den sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Ressourcen zu verhindern. Wie im Rassismus geht es um die Differenzierung zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Wer Fremder und wer Angehöriger ist, wird immer normativ vorbestimmt. Es gelten für die Diskriminierung Normen, die für natürlich, selbstverständlich und unhinterfragbar gehalten werden. Wer sie internalisiert, bleibt in der Gruppe, wer sie verneint oder ih-
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nen nicht entspricht, wird ausgegrenzt. Es handelt sich hier um Diskriminierung der als abnormal, deviant und anders angesehenen Menschen. Ein weiteres zentrales Anliegen meiner Arbeit ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Homophobie als einer Diskriminierungsform und als Folge der Heteronormativität. Das Duden-Fremdwörterbuch definiert die Homophobie als krankhafte Angst vor und Abneigung gegen Homosexualität (vgl. Duden 2007). Als Diskriminierungsform wird Homophobie mit dieser Definition im Duden-Fremdwörterbuch als pathologische und psychologische Reaktion, Haltung oder Denkweise betrachtet. In dieser Definition werden die sozialen, politischen und hegemonial-kulturellen Aspekte der Homophobie ausgeblendet bzw. nicht berücksichtigt. Aufgrund des Suffixes Phobie wird der Begriff der Homophobie in Analogie zu Xenophobie als verstärkte Angst vor Homosexuellen, die nicht mit den Normen der hegemonialen Heterosexualität übereinstimmen, definiert. Auf der Grundlage der Ablehnung der Psychologisierung und der Pathologisierung einer sozialen bzw. gesellschaftlichen Diskriminierungsform spricht sich eine Mehrzahl von feministischen und GenderWissenschaftler_innen für den Begriff des Heterosexismus aus, der mindestens seit den 70er Jahren in der feministischen, schwul-lesbischen Bewegung verwendet wird und als Ersatz für den Begriff der Homophobie fungieren sollte (vgl. Hartmann und Klesse 2009: 9). Der auch heute verbreitete Begriff Heterosexismus ist durch strukturelle Diskriminierungen nicht-heterosexueller Sexualitäten in verschiedenen sozialen Sphären einschließlich der öffentlichen Bereiche des Staates, des Gesetzes, der Schule, der politischen Öffentlichkeit, der Medien, der organisierten Religion, der Straße, usw., aber auch in der privaten Sphäre wie z.B. der Familie gekennzeichnet (vgl. ebd.). Mit diesem Begriff stärkte man ein soziologisches und strukturalistisches Verständnis sexueller Unterdrückung und Ausgrenzung und trat der Psychologisierung und Pathologisierung antihomosexueller und sexistischer (frauenfeindlicher) Neigungen sowie Ressentiments entgegen (vgl. ebd.). Mit der Entstehung der Queer Theory und Bewegung, die auch den herkömmlichen westlichen Feminismus in Frage stellen, wird heute die Verwendung des Begriffes der Heteronormativität befürwortet. Im Unterschied zum Heterosexismus der 1970er und 1980er Jahre fokussiert sich Heteronormativität in den Queer Studies explizit auf Zwangsheterosexualität und die daraus resultierende Homophobie. Auch wenn der Begriff der Homophobie als Kampfbegriff der Queer Theory und Bewegung betrachtet wird und immer wieder auf seine pathologisierende und psychologisierende Bedeutung hingewiesen wird, ist es eine Realität, dass der Begriff sich vor allem in der schwulen und lesbischen Bewegung etabliert hat und auch unter umfassenden sozialen politischen, juristischen und kulturellen Aspekten verwendet wird. Daher ist die Verwendung dieses Begriffes für meine Studie erforderlich, da sie sich mit den Betroffenen der Homophobie auseinandersetzt und deren Sprache beachten muss.
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An dieser Stelle werde ich den Begriff der Homophobie erneut definieren. Anschließend gebe ich einen Überblick über die Entstehungsbedingungen, Erscheinungsformen und Folgen der Homophobie und gehe dann auf die Wahrnehmung, die Umgangs-, Verarbeitungs- sowie Bewältigungsstrategien der Homophobie ein. Homophobie ist als Folge der Heteronormativität zu verstehen. Heteronormativität basiert auf Naturalisierung, Selbstverständlichkeit, der dichotomen Zwangsgeschlechterordnung und der Unhinterfragbarkeit der Heterosexualität. Sie setzt die dichotome Geschlechterordnung voraus, normiert, konstruiert, konstituiert und schließt die nicht-heterosexuellen Lebensweisen aus. Hierdurch erzeugt sie feindliche diskriminierende Haltungen, die als Homophobie verstanden werden können. Vor diesem Hintergrund lässt sich Homophobie wie folgt definieren: Sie ist eine negative sozio-kulturell geprägte, ausschließende stigmatisierende Haltung gegenüber den Personen, die durch hegemoniale Heteronormativität als deviant, pervers, abnormal, anders eingeordnet werden. In einer Veröffentlichung der Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales wird Homophobie wie folgt definiert: „Homophobie bezeichnet feindliche Einstellungen gegenüber Homosexuellen aufgrund eines (vermeintlichen) sexuellen Verhaltens und eines damit verbundenen Auftretens in der Öffentlichkeit, das als ‚normabweichend‘ empfunden wird.“ (Homophobie in der Einwanderungsgesellschaft 2008: 5f.)
In dieser Definition ist Homophobie nicht nur ein individuelles Diskriminierungsverhalten, sondern auch ein gesellschaftliches Phänomen. Ihr kann man überall in einer heteronormativ dominierenden Gesellschaft begegnen. Im privaten und öffentlichen, im regionalen und überregionalen Bereich (im Herkunftsort und im Auswanderungsland), in der Schule, in der Familie, auf der Straße, in den Massenmedien, in den politischen Diskursen. Das heißt, Homophobie ist eine institutionelle, individuelle und strukturelle Diskriminierungsform. Als Diskriminierungsmechanismus, wie oben erläutert, funktioniert sie durch die Differenzierung zwischen Eigenem und Fremden, zwischen normalem und anormalem. Wer in der Norm der hegemonialen Heterosexualität bleibt, gehört zum Eigenen. Nicht nur aus meiner Studie geht hervor, dass Homophobie in der aufgeklärten europäischen und deutschen Gesellschaft immer noch existiert, sondern es gibt auch andere Studien, die vor und während meiner Forschung durchgeführt werden und wurden und die bestätigen, dass Homophobie in Deutschland – wie in vielen anderen Ländern – immer noch existiert (vgl. ebd. 7). Trotz der juristischen sowie sozio-politischen Maßnahmen – wie der Verabschiedung des Gesetzes zu eingetragenen Lebenspartnerschaften für die gleichge-
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schlechtliche Lebensweise am 1. August 2001 – können die Ansprüche des deutschen Staates auf eine tolerante20 plurale Gesellschaft nicht erfüllt werden. Die Ursachen der Homophobie werden in den letzten Jahren auf die religiöse und kulturelle Zugehörigkeit der vermeintlichen Täter_innen zurückgeführt. Im Zusammenhang mit Rassismus sowie Islamophobie wird meistens Menschen mit islamischem Hintergrund potenzielle Homophobie und Frauenfeindlichkeit zugeschrieben. Verschiedene Studien, u.a. die durch Manneo durchgeführten Befragungen, verbreiten Ergebnisse, die besagen, dass Menschen mit Migrationshintergrund homophob seien (vgl. Blech 2009). Zum einen betreiben diese Studien, deren Repräsentativität bzw. Wissenschaftlichkeit fragwürdig ist, eine islamophobe und rassistische Ideologie, worauf auch Judith Butler auf dem Berliner Christopher Street Day 2010 aufmerksam gemacht hat (vgl. Hamann 2010). Zum anderen gibt es Nachweise, dass die Fragebögen von Manneo gezielt manipuliert wurden, um Stimmung gegen Ausländer_innen mit islamischem Hintergrund zu machen (vgl. Blech 2009). Im folgenden Unterkapitel werde ich auf die Frage eingehen, ob Homophobie, unter der Schwule, Lesben, Transvestiten, Transsexuelle, Inter- und Bisexuelle zu leiden haben, ein migrantenspezifisches Phänomen darstellt, oder ob der Vorwurf gegenüber Migrant_innen – sie seien homophob – ein Produkt des eurozentrischen rassistischen Diskurses ist. Aktuelle Diskurse zu Migrant_innen und Homophobie Die im Titel gestellten Fragen sind nicht neu, sondern sie werden in der Einwanderungsgesellschaft immer wieder reproduziert und verbreitet. Bevor ich hier auf die Antworten eingehe, möchte ich zuerst einen Hinweis auf die in diesem Abschnitt verwendete Bezeichnung Migrant_innen geben: „Dem öffentlichen Diskurs folgend sind nicht Migrant_innen aus osteuropäischen oder afrikanischen, asiatischen oder amerikanischen Ländern gemeint; ‚Migrant_innen‘ sind hier Menschen mit Wurzeln in mehrheitlich muslimischen Ländern oder Gebieten – für den deutschen Kontext also v.a. Türk_innen und Kurd_innen, als die größten Migrant_innen-Gruppen, oder Araber_innen und Bosnier_innen. Darüber hinaus werden aber auch Menschen in die Schublade ‚Migration‘ gesteckt, die etwa als Sinti, Roma oder schwarze Deutsche aufgrund ihrer äußeren Erscheinung als ‚Migrant_innen‘ identifiziert werden. Offensichtlich ist es der Blick der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft, der hier entscheidet, über wen gesprochen wird.“ (Wolter und Yılmaz-Günay 2009: 38)
20 Die aktuelle schwul-lesbische Bewegung lehnt diesen „angeblichen“Anspruch auf eine tolerante Gesellschaft ab, denn sie ist der Meinung, dass Homosexualität nicht etwas ist, was toleriert werden soll, sondern dass man sie akzeptieren, anerkennen muss.
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Ob die Migrant_innen homophob sind, wird in der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht ausreichend diskutiert, sondern einfach so hingenommen, als wäre Homophobie eine selbstverständliche Eigenschaft muslimischer Migrant_innen. Darüber hinaus stellen sich hier einige Fragen, warum beispielsweise sich ein derartiger Diskurs entfaltet hat, wie er sich in den mittel- und westeuropäischen Gesellschaften etabliert hat und in welcher Art und Weise sich dieser eurozentrische Glaube – Migrant_innen seien homophob – verstärkt und verbreitet. In Bezug auf diese Fragen ist es notwendig, auf das Kapitel 2.3 Islamophobie zu verweisen. Aus einer der Definitionen der Islamophobie geht hervor, dass Menschen mit muslimischem Hintergrund als sexistisch, homophob etc. angesehen werden. Vor diesem Hintergrund bedarf die Homophobie einer sozialen, aber auch historischen Kontextualisierung mit der eurozentrischen Islamophobie. Im Folgenden werde ich zeigen, dass es zwischen Islamophobie, Rassismus und Homophobie einen engen historischen Zusammenhang gibt: • • •
Erstens war es die christliche Morallehre, die die Homosexualität als strafbar, als Unzucht, als widernatürlich deklarierte. Zweitens waren es die Kolonialmächte, die den Asiat_innen, Afrikaner_innen, Orientalen die Heteronormativität brachten (vgl. Klauda 2008). Drittens kann man von einer europäischen Gegenwart sprechen, die sich nicht von ihrer Homosexuelle negativ bewertenden christlichen Morallehre und kolonialen Vergangenheit lösen kann.
Zum Ersten: Antihomosexuelle Positionen sowie Homophobie sind ein wesentlicher Charakter der christlichen Kultur (vgl. ebd. 7). Die christlichen Kulturen haben besonders die männliche Homosexualität unter Strafe gestellt. Im 13. und 14. Jahrhundert – während der Kreuzzüge – stand Sodomie21 (mann-männlicher Analverkehr) fast in ganz Europa unter Todesstrafe (vgl. ebd. 2009). Diese Einstellung der christlichen Tradition basierte auf dem dritten Buch Mose des Alten Testamentes, in dem die Homosexualität als Unzucht, widernatürlich und Gräuel beschrieben wird: Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel. (3. Mose 18, 22) 21 Sodomie: Der Begriff wird von der historischen Stadt „Sodom“ abgeleitet. Die Einwohner von Sodom wurden als Sodomiten bezeichnet. Sodom wurde in der christlichen Tradition mit „widernatürlichen Sünden“ verbunden (in der Zeit von Augustinus von Hippo, gest. 430). Die widernatürlichen Sünden verwiesen meistens auf den mannmännlichen Analverkehr, den weib-weiblichen Sex oder sexuelle Betätigungen mit anderen Wesen anderer Art. Sodomie wurde im Christentum mit dem Tod bestraft (vgl. Klauda 2008: 64f.).
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Das dritte Buch des Alten Testamentes schreibt im Falle einer (männlichen) homosexuellen Betätigung die Todesstrafe vor: Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Gräueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen. (3. Mose 20, 13) Auch wenn heute diese Stellen des Alten Testamentes zum größten Teil in Europa und anderen Regionen der Welt nicht akzeptiert werden, sind sie für die Erörterung gegenwärtiger homophober Traditionen von großer Relevanz. Das dritte Buch Mose hinterließ seine Spuren in Europa. Auch wenn die Homosexuellen – ausgenommen bestimmter Länder – nicht hingerichtet werden, sind sie immer noch heteronormativen Diskriminierungen ausgesetzt. In einem Vortrag homophobe Moslems, aufgeklärter Westen und in seinem Buch Vertreibung aus dem Serail stellt Georg Klauda fest, dass die Muslime auch in der christlichen und kolonialen Geschichte immer wieder als Feindbild dargestellt wurden. So sahen die Engländer in der Zeit der Kolonialisierung homosexuelle Akte als türkische Sünde an (vgl. Klauda 2009: 2). Die als widernatürlich und unzüchtig geltende Homosexualität in europäischen Kulturen wird durch die Kolonialisierung auf Nicht-Europäer projiziert bzw. ihnen vorgeworfen. Damit begann die rassistische Konstruktion der Homophobie der nicht-christlichen Europäer_innen im Bezug auf nicht christliche Nicht-Europäer_innen. Zum Zweiten: Während der Kolonialisierungsepoche, in der die Kolonialmächte wieder mit Muslimen in Berührung kamen, wurden die Klischees gegenüber Muslimen mobilisiert, diesmal freilich unter der Maßgabe, ihnen westliche Zivilisation und Lebensart beibringen zu wollen (vgl. ebd.). In dieser Zeit wurden die Anderen als andere Rassen definiert, die als unterlegen galten. Um eine Überlegenheit gegenüber den anderen Rassen zu legitimieren, schrieben die Kolonialländer ihnen bestimmte sexualisierte Eigenschaften zu (vgl. Petzen und Yilmaz-Günay et. al 2010: 25). Die Konstruktion der „Rassen“ und deren negative Zuschreibungen gingen nicht nur biologistisch vor, sondern sie hatten auch kulturalisierenden und sexualisierenden Charakter, der die Kolonialmächte in die Lage versetzte, die diffamierenden rassistischen Praxen zu wirtschaftlichen Zwecken zu rechtfertigen (vgl. ebd. 26). Die Kolonialmächte betrachteten nicht-europäische Frauen und Männer als sexuell unersättlich, unkontrollierbar; aufgrund dieser Eigenschaften würden diese eher zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen neigen (vgl. do Mar Castro Varela 2008: 18). Diese Art der eurozentrischen Betrachtungen erzeugten Narrationen über den anderen Orient und die Orientalen, die exotisch sein sollten. Die Kolonialmächte haben die Nicht-Europäer_innen orientalisiert, indem sie derartige Geschichten erzeugt haben. Mit den exotischen Erzählungen wie beispielsweise Haremsgeschichten beabsichtigte man, Phantasien des lesbischen Begehrens hervorzurufen (vgl. ebd.). Diese Narrationen über den Orient definierten einerseits andersartiges Sexualverhalten, und andererseits normierten sie die richtige Sexualpraxis
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im Abendland (vgl. ebd.). Durch die Konstruktion der devianten Sexualität im Morgenland und die Normierung der heterosexuellen Sexualpraxen im Abendland konnten die Kolonialmächte – besonders Britannien – eine gesetzliche Grundlage für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung schaffen, indem sie gleichgeschlechtliche Praxen kriminalisierten (vgl. ebd.). Aus der juristischen und religiösen Kriminalisierung der Homosexualität ergab sich die Verfolgung und Bestrafung homosexueller Betätigung. Denn besonders Sodomie wurde in kolonialen europäischen Ländern als sündhaft und kriminell angesehen (vgl. ebd.). Während des Kolonialisierungsprozesses definierten die Kolonialländer ihre Kolonien als Brutstätten sexueller Andersartigkeit, die zivilisatorisch gesäubert werden müssten (vgl. ebd.). Um diese zivilisatorische Reinigung umsetzen zu können, fügten die Briten z.B. das Anti-Sodomit-Statut in das indische Strafgesetzbuch (Section 37722) ein (vgl. ebd. 19). In seiner historischen Analyse Heteronormalisierung der islamischen Welt gelingt es Klauda zu belegen, dass die Repression der gleichgeschlechtlichen Lebensweise nicht Bestandteil traditioneller Rechtsvorstellungen ist, sondern durch die Formierung von Homosexualität als einer spezifizierenden Identitätskategorie erst in der Durchsetzung moderner Verhältnisse in den islamischen Ländern produziert wird. Auch hier stabilisiert die Modernisierung des Rechts einen Prozess, der am Ende zur Verdammung von Homosexualität führt. Homophobie erscheint so als Ergebnis einer gewaltsamen Anpassung an die Denkformen der Kolonialmächte, die die gleichgeschlechtliche Lebensweise im Modernisierungsprozess erstmals identifizierten, bezeichneten und damit zum Objekt staatlichen Handelns machten (vgl. ebd. 19f.). Zum Dritten: Diskurse zu Homophobie und Migrant_innen in der Einwanderungsgesellschaft: An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass diese Studie nicht versucht, von Migrant_innen ausgehende Homophobie zu rechtfertigen, sondern sie zielt darauf ab, aufzuzeigen, dass weder Heteronormativität noch Homophobie kulturspezifische Phänomene sind. Auch unter den Migrant_innen existieren Homophobie und sexuelle Repression, so wie auch in europäischen christlichen Gesellschaften. Georg Klauda zeigt in seiner Analyse, dass die Homophobie in den islamischen Ländern erst im Prozess der Modernisierung entstanden ist (vgl. Klauda 2008: 18). Aus europäischer Perspektive scheint der Islam eine Religion zu sein, die die Unterdrückung der Frauen, die Ausgrenzung der Homosexuellen und die Ausübung der Gewalt im Namen Gottes erlaubt. In diesem Zusammenhang wird in den westeuropäischen Gesellschaften den Migrant_innen vorgeworfen, dass sie Frauen 22 Ziel der Section 377 ist es, durch die Kriminalisierung „unnatürlicher gegen die Ordnung der Natur verstoßender“ sexueller Aktivitäten für ein gesundes gesellschaftliches Umfeld zu sorgen (do Mar Castro Varela 2008: 19).
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unterdrücken und die gleichgeschlechtliche Lebensweise komplett untersagen. So werden in den aufgeklärten modernen europäischen Ländern Aussagen getroffen wie die, dass Migrant_innen – insbesondere jugendliche Migranten – homophob seien und die sicheren Lebensräume der Schwulen, Lesben, Transgender bedrohen. In einer 2007 im Auftrag des Lesben und Schwulenverbands (LSVD) durchgeführten Studie, deren Repräsentativität fragwürdig ist, wurde ein aus den Massenmedien stammendes Klischee verbreitet: Junge Migranten sind mehrheitlich schwulenfeindlich (Keller 2007). Der ehemalige Geschäftsführer des Verbandes, Alexander Zinn, greift dieses Ergebnis der vom antimuslimischen LSVD durchgeführten Studie auf und widmet ihm in mehreren seiner Schriften große Aufmerksamkeit. So schreibt er in seinen Thesen, dass es besonders Jugendlichen aus islamisch geprägten Ländern [...] aufgrund ihrer ‚kulturellen und religiösen Prägung‘ schwer falle, ‚die Homosexuellen als gleichwertige Lebensform‘ anzuerkennen. (zitiert nach Klauda 2008: 25) In einem anderen Artikel schreibt Zinn in ähnlicher Weise: Meistens jedoch geht aggressiv antihomosexuelles Verhalten von männlichen Jugendlichen aus und meist richtet es sich gegen Schwule […] Uwe Löher, Ansprechpartner für Schwule und Lesben bei der Berliner Polizei, hält dieses Verhalten für typisch bei Ђtürkisch oder arabischstämmigen Tätern‘. (Zinn 2004: 236) Mit ihren Aussagen zu den Ergebnissen der oben genannten Studie bediente Eren Ünsal23 in einem Interview das Klischee der Mehrheitsangehörigen gegenüber den Migrant_innen: viele Türken sehen in der Homosexualität eine Bedrohung für das Fortbestehen der Familien. Auch gelte Homosexualität im Islam als Todsünde (Keller 2007). Aus den oben kurz geschilderten antimuslimischen Positionen geht hervor, dass die Migrant_innen, die die größte Gruppe der Minderheiten in Deutschland bilden, als homophob identifiziert werden. Sie sind homophob, weil ihre Kultur anders ist, weil sie einfach anders sind. Muslime seien homophober, weil der Islam homophob sei. Die Kulturalisierung sowie Rassialisierung der Homophobie ist so stark, dass eine gesamte Bevölkerungsgruppe systematisch verurteilt wird. Durch die pauschale Beurteilung der Migrant_innen als anders, rückständig, sexistisch, homophob oder agressiv. wird ein klares Wir, welches als frei, tolerant und vorurteilsfrei imaginiert werden kann, erzeugt (vgl. do Mar Castro Varela 2008: 14). Mithilfe solcher Diskurse zu Migrant_innen können die westlichen Mehrheitsangehörigen die Gewinne der Zivilisation erreichen. Dass diese Gewinne bzw. die Herrschaft auf Gewalt basieren, bleibt aber ungehört (vgl. ebd.). In dieser Hinsicht geht es um eine strukturelle Macht, die nach wie vor den Weißen gehört und durch die sexualisierter Rassismus sowie rassifizierte/s Sexualität/Geschlecht aufrechterhalten wird.
23 Leiterin der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung
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Zusammenfassung Ich habe versucht, Begriffe wie Rassismus, Kulturalismus, Islamophobie, Heteronormativität, Homophobie, Heterosexismus und Diskriminierung in einem soziokulturellen, politischen und historischen Kontext zu analysieren sowie zu diskutieren. Im Laufe der textuellen Untersuchung stellte sich heraus, dass all die oben genannten Begrifflichkeiten eng mit der Macht des Diskurses und auch untereinander verbunden sind. Identitätspolitiken, Essentialisierungsstrategien, Marginalisierung sowie Differenzierung, all das bezeichnet eine ökonomische Macht, die auf eine Normalisierung abzielt, indem sie die Anderen, also die Devianten, Marginalen, Fremden etc. konstruiert. Ziel dabei ist, dass immer ein Fremder produziert werden muss, um das Eigene zu bewahren, zu bereichern, zu verstärken. Als Fazit ziehe ich folgende Schlüsse: Die Heterosexuellen haben die Nicht-Heterosexuellen erzeugt. Heterosexualität wird als selbstverständliche Norm eines Gesellschaftssystems festgelegt. Die nichtheterosexuellen Lebensweisen werden dabei anormalisiert. So dürfen beispielsweise gleichgeschlechtliche Partner heute in Deutschland eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft offiziell eingehen. Die erhaltenen Rechte der Lesben und Schwulen zeigen auf, wie sie offensichtlich als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Dies zeigt, dass Homophobie auf verdeckte Weise aufrechterhalten wird, indem man ihnen bestimmte (eingeschränkte) Rechte gibt, um sie zum Schweigen zu bringen. Migrant_innen werden zu Ausländer_innen gemacht, auch wenn sie in Deutschland geboren wurden, in Deutschland sozialisiert sind und ihre Schulausbildung hier absolviert haben und nichts oder wenig mit der Heimat ihrer Vorfahren, die aus einem anderen Land nach Deutschland kamen, zu tun haben. Den zu Ausländer_innen gemachten Migrant_innen wird Homophobie, Heterosexismus, Aggressivität, Dummheit zugeschrieben. Diese Eigenschaften werden als kulturelle Merkmale der Migrant_innen konstruiert. Die Konstruktion der kulturellen Differenzen ist dabei ein Mechanismus der Rassialisierung sowie des Rassismus. Was bisher nicht behandelt wurde, ist, dass in der Einwanderungsgesellschaft nicht nur homophobe, sexistische, aggressive, rückständige Migrant_innen leben, sondern dass es auch andere Migrant_innen gibt, die schwul, lesbisch, transgeschlechtlich intersexuell, bisexuell sind. Diese sind dennoch unterschiedlichen Diskriminierungsformen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt und von verschiedenen sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Ressourcen ausgeschlossen.
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2.4.3 Exkurs III: Islam und Homosexualität Die Frage, wie der Islam zur Homosexualität steht, wird im öffentlichen Diskurs meistens nicht gestellt, denn die Mehrheit der Angehörigen der nicht-islamischen Gesellschaften geht davon aus, dass der Islam Homosexualität verbietet und als Sünde ansieht. Trotz der verbreiteten Meinung, dass der Islam Homosexualität ablehnt, versuche ich an dieser Stelle aufzuzeigen, dass es problematisch ist, über Islam und Homosexualität pauschale Aussagen zu treffen. Es ist nicht zu leugnen, dass in der Gegenwart Homosexuelle in den meisten islamischen Ländern homophoben Diskriminierungen und Gewalt ausgesetzt sind. Diese Tatsache der Diskriminierung homosexueller Lebensweisen ist dennoch nicht ein Charakteristikum der islamischen Länder, sondern sie ist ein Phänomen der heteronormativen Gesellschaften, die nicht nur muslimisch sind. Die Aufgabe dieser Arbeit besteht nun auch darin, den Islam, der angeblich homophob ist, anhand der neuen sozialwissenschaftlichen Koranauseinandersetzungen und -analysen zu verstehen sowie zu erklären. Eine eigene Auseinandersetzung mit dem Koran ist hier aufgrund der knappen zeitlichen Ressourcen nicht möglich. Die verwendeten Textanalysen besitzen jedoch wissenschaftliche Qualität und bieten akzeptable Aussagen. Der Koran wandte sich ursprünglich an die Araber_innen des 7. Jahrhunderts (Mohr 2004: 10). Im Laufe der Geschichte ist die Zahl der Muslime gestiegen bzw. der Islam hat sich auch in andere Länder ausgedehnt, so dass der Koran aufgrund der hocharabischen Sprache nicht für alle Gläubigen verständlich war. Um die Zugänglichkeit des Korans gewährleisten zu können, entstand der Bedarf nach Übersetzung, Auslegung und Erklärung. Weil nicht jede_r befugt war, ihn zu übersetzen und auszulegen, mussten besondere Gelehrte diese Aufgabe erfüllen (vgl. ebd. 11). Ich bin der Meinung, dass der Koran in verschiedenen Ländern und Sprachen je nach den gesellschaftlichen Strukturen interpretiert wurde, so dass er auch unterschiedlich praktiziert wird. Gemeinsam in den Übersetzungen und Auslegungen des Korans war und ist, dass der Islam davon ausgeht, dass Gott (Allah), der Schöpfer und Erhalter der Welt, der Menschheit von Anbeginn an Offenbarung und Rechtleitung zukommen ließ (vgl. ebd. 9f.). Der Koran ist außerdem das, was Muhammed hinterlassen hat. Die religiöse Praxis des Islams wird neben dem Koran selbst auch durch die umfassenden Überlieferungen über die Aussagen und Handlungen Muhammeds (Hadith) gestützt (vgl. ebd. 11). Aufgrund der Analyse des Korans stellt der Islamwissenschaftler Andreas Ismail Mohr fest, dass das heilige Buch aus drei Bereichen besteht: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (vgl. ebd.). Der Bereich der Vergangenheit liefert Berichte über die Weltschöpfung, den Sündenfall, die früheren Völker und ihre Gottesgesandten und Propheten. In diesem Bereich des Korans wird das Volk Lot, das mit der Homosexualität verbunden wird, thematisiert. Im Bereich der Gegenwart wird
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die Zeit des Muhammed erwähnt, wobei die damaligen Verbote und Gebote eine zentrale Kategorie des Korans bilden. Zum Bereich der Zukunft gehören die Themen: das Ende der Welt, die Auferstehung der Toten und das Leben nach dem Tod in Paradies und Hölle (vgl. ebd.). Der mittlerweile bekannte Imam Muhsin Hendricks, der sich als schwuler Imam offenbart hat, bestätigt, dass der Islam auf dem Koran und den Hadithen, aus Überlieferungen über Muhammeds Aussagen und Handlungen basiert (vgl. Hendricks 2008: 24). Er ist der Auffassung, dass Koran und Hadith teilweise falsch übersetzt und interpretiert wurden. Die fehlerhaften Übersetzungen und Interpretationen führten zu irrealen Vorstellungen und unterschiedlicher Praktizierung des Islams in den verschiedenen islamischen Ländern (vgl. ebd. 23f.). Hendricks versucht, den Koran möglichst nah am Original zu übersetzen, um gegenwärtige Missverständnisse über den Islam und seine negative Haltung zur Homosexualität zu beseitigen. In seiner vergleichenden Analyse zwischen verschiedenen Koranübersetzungen und auslegungen findet er heraus, dass die Geschichte von Lot missverstanden und deshalb falsch übermittelt worden ist. Im Folgenden werde ich auf die Geschichte von Lot näher eingehen (vgl. ebd. 24). In seiner Korananalyse kommt Andreas Ismail Mohr zum Ergebnis, dass es im Koran und Hadith bestimmte Stellen gibt, die zwar nicht die Homosexualität behandeln, aber dennoch bestimmte Auskünfte über Fragen der Homosexualität im Islam geben könnten (vgl. Mohr 2004: 26 ff.). • •
Diese Stellen im Koran sind die Lot Geschichten; Gebote und Verbote im Islam; Männer ohne Verlangen nach Frauen und Jünglinge im Paradies. Die Stellen im Hadith sind Verfluchungen; Tribadie (lesbischer Sex), Unzucht (unehelicher Sex), Liwat (mann-männlicher Analverkehr) und Gefährliche Knaben.
Im Folgenden gehe ich in erster Linie auf die Koranstellen ein und konzentriere mich auf die Geschichten Lots und auf die Gebote und Verbote, die die Frage nach Unvereinbarkeit von Islam und Homosexualität klären. Die Geschichte von Lot Die Geschichte von Lot, mit der stets die Homosexualität und das Verbot der Homosexualität verbunden werden, wird im Koran insgesamt sieben Mal erwähnt. Ich werde auf diese Stellen (Sure24) nicht direkt eingehen, sondern versuchen, zu skizzieren, wie diese Geschichte im Laufe der Zeit auf der Grundlage des Korans unterschiedlich zuungunsten der Homosexuellen ausgelegt worden ist (vgl. ebd.). 24 Sure: Sure bezeichnet einen Abschnitt des Korans. Im Koran gibt es insgesamt 114 Suren.
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In einigen Koranstellen geht es darum, dass Lot, der Gottesgesandte, Warner und Neffe von Abraham ist, den Männern seines Volkes (also den Leuten von Sodom) unter anderem vorwirft, die eigenen Ehefrauen zu vernachlässigen und sich Männern begehrlich zu nähern – eine Sünde, die keiner in der Welt zuvor begangen habe (vgl. ebd. 13). Dies wird aber so ausgelegt, dass es sich bei dieser Sünde um Sex zwischen Männern handle und die Leute von Sodom die ersten gewesen seien, die sich diese Perversion einfallen ließen. Damit wird die Lot-Geschichte von den Ausleger_innen des Korans als Beleg dafür betrachtet, dass die mann-männliche Homosexualität eine Sünde sei und den Zorn Gottes auf sich ziehe (vgl. ebd.). Da Sexualverkehr zwischen Männern in den Interpretationen dieser Koranpassage als sündhafte und perverse Handlung des Volkes von Lot – im Arabischen Lut – angesehen wird, wird Geschlechtsverkehr unter Männern auf Arabisch lutiyya oder Liwat genannt, was dem lateinischen Begriff der Sodomie entspricht (vgl. ebd.). Sowohl Andreas Mohr als auch Imam Muhsin Hendricks finden diese Interpretation der betreffenden Koranstellen problematisch. Mohr stellt fest, dass im Koran nicht explizit von Sex und schon gar nicht von Homosexualität, Knabenliebe oder gar Analverkehr gesprochen wird. Diese Begriffe kommen im Koran nicht vor (vgl. ebd.). Er begründet dies mit Bezug auf den Begriff Homosexualität im 19. Jahrhundert. Die Begriffe Liwat, Sodomie können nicht mit dem Begriff der Homosexualität übersetzt werden, der in unterschiedlichen Epochen existiert (vgl. ebd. 14). Hendricks geht davon aus, dass es in der Geschichte Lots nicht um die Homosexualität des Volkes geht, sondern um die heterosexuellen Männer einer aristokratischen Schicht, die ihre Macht in jedweder Art und Weise repräsentierten (vgl. Hendricks 2008: 24). Demzufolge gab es im Volk Lots aristokratische Männer, die über alle möglichen sexuellen Freiheiten verfügten, wie es auch in der athenischen Aristokratie des 5. Jahrhunderts und im Saudi Arabien des 7. Jahrhunderts der Fall war (vgl. ebd.). Unter diesen sexuellen Freiheiten verstanden sie das Recht, mit Frauen, (heterosexuellen) Männern, minderjährigen Kindern und Tieren Sex zu haben. Neben diesen sexuellen Freiheiten waren sie berechtigt, aristokratische Frauen zu heiraten und damit ihre Nachkommenschaft zu gewährleisten (vgl. ebd.). Ziel dieser Männer vom Volk Lots war es, die Stadt Sodom vor fremden Besuchern zu schützen, indem sie die Fremden durch Vergewaltigung bzw. sexuelle Misshandlung in Furcht versetzten, damit sie nicht wieder in die Stadt Sodom kommen (vgl. ebd.). In dieser Hinsicht vertritt Hendricks die Meinung, dass man in Sodom nicht von Homosexualität sprechen kann (vgl. ebd. 25). Mohr macht zudem deutlich, dass das Vergehen des Volkes Lots im Koran als etwas ganz Neues bezeichnet wird, was auf der Welt niemals und nirgendwo gesehen wurde (Mohr 2004: 14). Dieses ganz Neue wird mit dem Vergehen bzw. der Homosexualität in Verbindung ge-
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bracht, was wiederum eine fragwürdige Auslegung des Korans darstellt. Zur Veranschaulichung zitiere ich eine Sure aus dem Koran: „Und (wir [= Gott] entsandten) den Lot (als Boten und Warner); als er zu seinen Leuten sagte: Wollt ihr etwas Abscheuliches begehen, wie es noch keiner von den Menschen in aller Welt vor euch begangen hat? Ihr kommt für wahr in Sinnenlust zu den Männern neben den Frauen. Nein, ihr seid ein Volk, das nicht maßhält. Seine Leute wussten nichts anderes zu erwidern, als dass sie sagten: Vertreibt sie (d.h. den Lot und seine Angehörigen) aus eurer Stadt! Das sind Menschen, die sich für rein halten! Und wir (= Gott) erretteten ihn und seine Familie mit Ausnahme seiner Frau. Sie gehörte zu denen, die zurückblieben. Und wir ließen einen Regen auf sie niedergehen. Schau nur, wie das Ende der Sünder war!“ (7:80-84 zitiert nach Mohr 2004: 11)25
Im Koran überlieferte Lot-Geschichten verdeutlichen, dass die Gäste der Stadt Sodom, die als Gesandte zu Lot kamen und vergewaltigt worden sind, auch Unterdrückung, Übergriffen sowie Verletzungen des Gastrechtes ausgesetzt waren. In dieser Hinsicht erläutert Mohr ausdrücklich: „Ein weiterer Aspekt, der unbedingt beachtet werden sollte, ist der, dass einige der LotGeschichten des Korans nahelegen, dass das eigentliche Vergehen der Sodomiter die angestrebte Vergewaltigung der Engel war, die als Gesandte (in Gestalt von Männern) zu Lot kamen (besonders Sure 11:78f; 15:68-71; 54:37); hierzu vergleiche man den Bericht im ersten Buch Mose (Genesis, Kapitel 19:49). Es geht somit um Übergriffe und Vergewaltigung, um Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Verletzung des Gastrechts. Die Lot-Geschichte hat jedoch nichts mit Liebe, Beziehung, Freundschaft zu tun. Aus der Erzählung kann also nicht auf die Verurteilung homosexuell liebender Männer und offensichtlich erst recht nicht von Frauen geschlossen werden.“ (Mohr 2002)
Gebote und Verbote im Islam Die im Koran existierenden Gebote und Verbote beziehen sich auf die Gegenwart des Korans. Sie beinhalten Themen zu Ehe, Ehebruch, Sexualität, Erbschaft und Kindern. Dennoch werden sie von unterschiedlichen fundamentalistischen Koranauslegern auch für die heutige Zeit für gültig gehalten. Manche Koranausleger bestehen darauf, dass die Vorschriften des Korans an die heutigen Gesellschaftsstrukturen angepasst werden sollen. Die im Koran existierenden Gebote und Verbote sollen eine legitimierte sexuelle Beziehung erlauben. Das heißt, Sexualverkehr darf entweder in einer Ehe oder in einem Konkubinat (eheähnliche Partnerschaft) stattfinden (vgl. Mohr 2004: 17).
25 Sure 7, Verse zwischen 80 und 84
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Die betreffenden Suren über Sexualität bzw. Sexualleben werden jedoch unterschiedlich ausgelegt. Hendricks behauptet, dass der Koran die Ehe nicht genau definiert. Demnach geht aus dem Koran nicht hervor, ob die Ehe lediglich die Verbindung von Frau und Mann bedeutet. Im Koran werden auch die Bedingungen einer Sexualbeziehung nicht thematisiert. Hendricks stellt die These auf, dass der Koran für die sexuelle Beziehung nicht einen Penis und eine Vagina voraussetzt, so dass man auch eine gleichgeschlechtliche Gemeinschaft, im Sinne der Ehe, gründen kann (vgl. Hendricks 2008: 23). Die fundamentalistischen Koranausleger sind dennoch der Meinung, dass die gleichgeschlechtlichen Beziehungen bestraft werden müssen. Mohr widerspricht dieser Meinung und versucht, die relevante Frage nach Liebe und Partnerschaft im Koran zu erklären. Er behauptet, dass diese Frage in den fundamentalistischen Kreisen nicht gestellt wird. Dabei heißt es doch im Koran (Sure 30:21), dass Gott für die Menschen Partner/Gatten geschaffen hat, bei denen sie Ruhe, Liebe und Barmherzigkeit finden (vgl. Mohr 2002). Obwohl es in der arabischen Sprache eine Unterscheidung von feminin und maskulin gibt, ist das Wort Partner (zaudsch) in dem Koranvers neutral formuliert (vgl. ebd.). Das heißt, dass alle Personen, die im Koran bezüglich der Partnerschaft/Ehe angesprochen werden, sowohl männlich als auch weiblich sein können. Mohr und Hendricks konstatieren, dass jeder muslimische Mensch, unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung, nach dem Koran grundsätzlich Liebe und Partnerschaft finden kann. Das heißt also, dass es auch für eine schwule oder lesbische Beziehung Platz im Islam geben kann. Trotz der konservativen und fundamentalistischen muslimischen Kreise gibt es genügend muslimische Gruppen, in denen die homosexuelle Orientierung von Mitgliedern nicht als Problem oder Sünde betrachtet wird (vgl. ebd.). Männer, die kein Verlangen nach Frauen haben Ein Zeichen für eine gewisse Akzeptanz der Homosexualität im Islam ist in Sure 24:31 erkennbar. Hier werden bestimmte Personen erwähnt, vor denen die Frauen ihre Reize nicht zu verbergen brauchen. Zu diesen Personen gehören: •
• •
Männliche Verwandte: Da eine Sexualbeziehung in der Verwandtschaft nicht vorgesehen ist, geht man davon aus, dass die Frauen auch während der Anwesenheit ihrer männlichen Verwandten (Brüder, Väter, Söhne, Ehemänner etc.) unverschleiert erscheinen können. Kinder: Da man davon ausgeht, dass Kinder noch kein sexuelles Begehren haben, können Frauen auch bei den Kindern unverschleiert auftreten. Effeminierte Männer: Männer ohne Verlangen nach Frauen (Muchannathûn): Effeminierte Männer sind meistens Diener von Frauen. Manche Koranausleger gehen davon aus, dass diese effeminierten männlichen Diener keinen Geschlechtstrieb haben und eine Art drittes Geschlecht darstellen. Aufgrund des nicht vorhandenen Sexualtriebes dieser effeminierten Männer mussten die Frau-
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en auch während der Anwesenheit von Muchannathûn ihre Reize nicht verstecken (vgl. Mohr 2004: 20). Jungen und Knaben im Paradies Im Bereich der Zukunft, die im Koran beschrieben wird, gibt es bestimmte Verse, die homo-erotische Anspielungen auf Jünglinge und Knaben behandeln (vgl. ebd. 22). So existieren im Paradies Jünglinge und Knaben, die begehrenswerte Schönheit, Liebe und Sexualität symbolisieren (vgl. ebd.). Nach islamischem Glauben verdienen Menschen das Leben im Jenseits (im Paradies), wenn sie auf der Erde ein anständiges gläubiges Leben geführt haben. Im Paradies werden sie von wunderschönen Jünglingen und Huris26 erwartet, die den Bewohnern des Paradieses Wein einschenken: „Auf golddurchwirkten Ruhebetten liegen die, die Gott nahe stehen, einander gegenüber, während ewig junge Knaben unter ihnen die Runde machen mit Humpen und Kannen (voll Wein) und einem Becher (voll) von Quellwasser (zum Beimischen), von dem sie weder Kopfweh bekommen noch betrunken werden und mit allerlei Früchten, was immer sie wünschen, und Fleisch von Geflügel, wonach sie Lust haben. Und großäugige Huris haben sie zu ihrer Verfügung, in ihrer Schönheit wohlverwahrten Perlen zu vergleichen.“ (Sure 56:15-23)
Anhand der bisher angeführten Belege aus dem Koran kann man schlussfolgern, dass Homosexualität im Koran nicht problematisiert wird. Die fundamentalistischen Koranübersetzungen und -auslegungen, wie ich anfangs dargestellt habe, können nicht als Beweis für einen Widerspruch zwischen Islam und Homosexualität angesehen werden. Diese Übersetzungen und Auslegungen beziehen sich meistens auf die biblischen Auslegungstraditionen, die vor allem mann-männliche Liebe unter Todesstrafe stellen (siehe Leviticus, das dritte Buch Mose). Ich teile die Meinung von Andreas Ismail Mohr und Imam Muhsin Hendricks, dass die Koranstellen vor ihrem geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergrund verstanden werden sollen. Denn der Islam stellt sich nicht als einheitliches Religionssystem dar. Der im Iran, im Irak, in der Türkei, in Ägypten, in den USA, in Europa gelebter Islam zeigt sich unterschiedlich. Es sind meistens antimuslimische Einstellungen, die den Islam als homogenes System beschreiben und diktieren. An dieser Stelle werde ich nicht auf die Überlieferungen von Muhammeds Handeln und Aussagen eingehen, denn seine Aussagen und Handlungen wurden und werden so unterschiedlich und möglicherweise mangelhaft interpretiert, dass man keine dieser Studie entsprechenden Befunde gewinnen kann. In seiner Hadiths26 hûr: großäugige Jungfrauen (volkstümlich Hûrîs genannt). Das Geschlecht von Huris wird im Koran nicht eindeutig beschrieben. Sie können sowohl weiblich als auch männlich sein.
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analyse (Analyse der Überlieferungen über die Worte und Taten Muhammeds) stellt Mohr fest, dass es in unterschiedlichen Hadith-Sammlungen eine große Menge widersprüchlichen und unhistorischen Materials aus späterer Zeit gibt, das als Aussage von Muhammed ausgegeben wird (vgl. Mohr 2004: 24).
2.5 I NTERSEKTIONELLE D ISKRIMINIERUNG : M EHRFACHE UND MEHRDIMENSIONALE D ISKRIMINIERUNG In diesem Abschnitt meiner Arbeit gehe ich auf die Begriffe Intersektionalität, Mehrdimensionale Diskriminierung sowie Mehrfachfiskriminierungen ein. Ziel ist dabei, die Zusammenwirkungen und Wechselbeziehungen von Rassismus, Islamophobie, Heteronormativität und Homophobie zu erörtern. Die Bedingungen intersektioneller Diskriminierungen hängen mit sozialen, kulturellen und ökonomischen Herrschaftsverhältnissen zusammen. Wie ich in den vorangegangenen Kapiteln erläutert habe, werden alle Identitätskategorien im Alltag, in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in der Politik und in vielen anderen Lebensbereichen innerhalb der Machverhältnisse konstruiert. Die Konstruktion der Anderen dient einerseits zur Privilegierung einer bestimmten Gruppe, andererseits zur Benachteiligung einer anderen Gruppe, der bestimmte Merkmale zugeschrieben werden. Durch die Konstruktion der Persönlichkeits- und Gruppenmerkmale entstehen Diskriminierungen. Die Facetten der Diskriminierungen in den Herrschaftsverhältnissen sind mehrdimensional. Das heißt, dass die Diskriminierung je nach Kontext und Situation stattfinden und legitimiert werden kann. Ich möchte im Folgenden die Komplexität der mehrfachen, mehrdimensionalen und intersektionellen Diskriminierung durch die Machtverhältnisse erörtern. Zu diesem Zweck konzentriere ich mich auf den Begriff der Intersektionalität als übergreifender Bezeichnung für Diskriminierungen aus mehreren Gründen, wobei ich hier darauf hinweisen muss, dass diese Gründe als rechtfertigende Begründungen der Diskriminierungen verstanden werden sollen. 2.5.1 Intersektionalität aus sozialwissenschaftlicher Perspektive Intersektionalität bezeichnet eine Kreuzung bzw. Überschneidung (engl. Intersection = Schnittmenge) von verschiedenen Diskriminierungsgründen und hergestellten Diskriminierungsmerkmalen in einer Person oder in einer Gruppe. Die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw prägte im Jahr 1989 den Begriff der Intersektionalität (vgl. Degele/Winker 2009: 12). Zum Begriff der Intersektionalität kam Crenshaw in ihrer Analyse von verschiedenen Gerichtsfällen, in denen Schwarze Frauen gleichzeitig rassistischen und sexistischen Diskriminierungen ausgesetzt waren. Zur Veranschaulichung der Verwobenheit der Ungleichheiten verwendete
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sie die Metapher Verkehrskreuzung, an der sich Machtwege kreuzen, überlagern und überschneiden (vgl. ebd.). Mit der Verkehrskreuzung meinte Crenshaw eine Plattform, auf der sich Differenzlinien (Geschlecht, „Rasse“, Klasse) überschneiden und in unterschiedlicher Weise soziale Ungleichheit determinieren (vgl. Urban 2010: 110). Mit anderen Worten geht es um die Wechselwirkungen und Überschneidungen zwischen ungleichheitsgenerierenden Kategorien, die die Diskriminierungen hervorrufen. Im Bezug auf das Zustandekommen der Ungleichheit bzw. der Diskriminierung stellt sich die Frage, wie zum Beispiel Geschlecht, sexuelle Orientierung, religiöser Hintergrund, sozialer Status, Herkunft, körperliche und gesundheitliche Verfassung zusammenwirken. In den meisten Arbeiten zur Ungleichheitsforschung, die seit den siebziger Jahren u.a durch die westlichen kritischen Feministinnen durchgeführt wurden, standen Klasse, „Rasse“ und Geschlecht und gleichzeitig das Zusammenwirken dieser Kategorien im Mittelpunkt (vgl. Strasser/Schein 1997: 9). Für die Erforschung der gleichzeitigen Wirkung verschiedener konstruierter Kategorien entwickelten sich weitere Formen qualitativer Ungleichheitsforschung, die u.a. als Intersektionalität und Mehrebenenanalyse bezeichnet werden. Vor diesem Hintergrund gehen Klinger und Knapp für eine erweiterte Ungleichheitsanalyse von zwei Annahmen aus: Erstens bezeichnen sie Ungleichheit nicht als eine vorübergehende Erscheinung. Ungleichheit stellt auch nicht eine marginale Anomalie bzw. Pathologie der modernen Gesellschaft dar. Klinger und Knapp sind der Meinung, dass Ungleichheit einen systemischen und systematischen Charakter hat (vgl. Klinger/Knapp 2007: 20). Insbesondere stellen sie die These auf, dass die modernen Gesellschaften sich in einem Widerspruch befinden: einerseits können sie ihre Prinzipien – Freiheit, Gleichheit und Solidarität – nicht verwirklichen, andererseits aber auf Dauer bestehende Ungleichheit nicht mit Sinn füllen, also erklären, begründen und legitimieren (vgl. ebd.). Zweitens fokussieren sich Klinger und Knapp auf die drei Achsen der Ungleichheit – Klasse, „Rasse“ und Geschlecht. Sie gehen davon aus, dass diese drei Achsen der Ungleichheit die Verhältnisse bezeichnen, die auf ebenso unterschiedliche wie nachhaltige Weise die Ungleichheitsstruktur fast aller Gesellschaften prägen (vgl. ebd. 21): „Klasse, ‚Rasse‘/Ethnizität und Geschlecht bilden sich genau in dem historischen Zeitraum als Relationen gesellschaftlicher Ungleichheit sowie als Ein- und Ausgrenzungsverhältnisse aus, in dem ein hierarchisch gestuftes Weltbild verblasst und alte Formen von Ungleichheit bzw. ihre Legitimationsdiskurse obsolet und außer Kraft gesetzt werden.“ (Klinger/Knapp 2007: 20f)
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Außer dieser Triade – den zentralen Herrschaftskategorien Klasse, Geschlecht und „Rasse“ – wird in der Ungleichheitsforschung auch die Berücksichtigung anderer Kategorien gefordert, wie beispielsweise Sexualität, Behinderung, Alter, Religion, Nation/Staat, Gesundheit, Besitz usw. (vgl. Degele/Winker 2010: 3). Der Grund für die Berücksichtigung weiterer Kategorien ist, dass die Kategorie Klasse ihren Anspruch auf Absolutheit verloren hat und Geschlecht sowie „Rasse“ entnaturalisiert worden sind (vgl. Klinger/Knapp 2007: 34). Durch die Entnaturalisierung verloren die beiden Kategorien Geschlecht und „Rasse“ ihre Eindeutigkeit, so dass sie auf die Ebene der Klasse treten. In diesem Moment taucht das Problem auf, dass diese drei Kategorien selten zusammen hinterfragt werden und eine eindimensionale Auseinandersetzung mit der Diskriminierung stattfindet. Um dieses Problem zu bewältigen, schlagen manche Sozialwissenschaftler_innen vor, den Begriff der Intersektionalität zu verwenden und eine intersektionelle Analyse der Ungleichheit durchzuführen. Mit der Intersektionalität zielen sie darauf ab, Zusammenhänge und Wechselwirkungen der drei Achsen der Ungleichheit hervorzuheben (vgl. Klinger/Knapp 2007: 34 f.). Zur methodischen und theoretischen Erweiterung der intersektionellen Ungleichheitsanalyse konzipieren Degele und Winker eine Mehrebenenanalyse. In ihrer Theorie der intersektionellen Ungleichheitsanalyse bzw. Mehrebenenanalyse unterscheiden sie nicht nur die gleichzeitige Zusammen- und Wechselwirkung der Kategorien, die Ungleichheit verursachen, sondern thematisieren außerdem drei verschiedene, miteinander verbundene Ebenen, binnen derer Differenzkategorien wirksam sind (vgl. Groß 2002: 158): „Wir wollen zeigen, wie die Verwobenheit von Ungleichheitskategorien auf verschiedenen Ebenen theoretisch zu fassen und im empirischen Forschungsprozess zu analysieren ist. Wir begreifen Intersektionalität als kontextspezifische, gegenstandsbezogene und an sozialen Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d.h. Herrschaftsverhältnisse), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen.“ (Winker/Degele 2009: 15)
In ihrem theoretischen und methodologischen Intersektionalitätsansatz gehen sie von einer Kritik der kapitalistischen Gesellschaft aus, die auf einer grundlegenden Dynamik ökonomischer Profitmaximierung basiert (vgl. ebd. 25). Ziel ihres Mehrebenenansatzes ist es, sowohl Wechselwirkungen von Differenzkategorien auf einer Ebene als auch über alle drei Ebenen hinweg analysieren zu können (vgl. ebd.). Ebene I: Soziale Strukturen: Als Beispiel nennen Degele und Winker die Reproduktion der Arbeitskraft. Damit die kapitalistisch strukturierte Gesellschaft weiter existieren kann, wird die Arbeitskraft reproduziert, während die Produktionsverhältnisse gesichert und die Produktionsmittel wiederhergestellt werden. Diese in der kapitalistisch strukturierten Gesellschaft vorhandene radikalisierte Marktökonomie
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ruft Ungleichheiten hervor, indem sie den kurzfristigen Zugriff auf geeignete, passend qualifizierte und flexible Arbeitskräfte zu möglichst geringen Löhnen erfordert (vgl. ebd. 26). Das Prekärste ist, so Degele und Winker, dass durch Lohndifferenzierungen und kostengünstige Reproduktionsarbeit ein flexibilisierter Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Hinzu kommt auch die unbezahlte Arbeit der Frauen in Familien. In dieser sozialen Ungleichheit spielt die Kategorie Geschlecht eine große Rolle, wobei die anderen Kategorien Klasse, „Rasse“ und Körper27 einen differenzierenden und regulierenden Einfluss auf den Zugang der Erwerbsarbeit nehmen (vgl. ebd.). Ebene II: Symbolische Repräsentationen: Degele und Winker sind der Meinung, dass die Kapitalist_innen gegen den Vorwurf der Ungerechtigkeit einer ideologischen Rechtfertigung bedürfen (vgl. ebd.). Normen, Ideologien und Repräsentationen erhalten in den kapitalistischen Rechtfertigungen den Status hegemonial abgesicherter Argumente. Diese Argumente basieren wiederum auf naturalisierenden und hierarchisierenden Wertungen auf der Basis mannigfaltiger Differenzkategorien. Ebene III: Identitätskonstruktionen: Damit meinen die Autorinnen die Verunsicherung der sozialen Akteur_innen durch die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse. Die Wege der eigenen Lebensabsicherung in einem kapitalistischen Gesellschaftssystem sind für Subjekte mit mannigfaltigen Unsicherheiten verbunden. Um die Verunsicherungen zu bewältigen, grenzen sich die Individuen von anderen ab und schaffen neue oder vorgeschriebene Zugehörigkeiten (vgl. ebd. 27). Durch die Zugehörigkeit zu anderen sozialen Netzwerken versuchen die Menschen, die Sicherheit ihrer Existenz zu erhöhen (vgl. Degele/Winker 2010: 6). Diese drei Ebenen werden in den wissenschaftlichen Diskussionen meistens unabhängig voneinander behandelt. Mit dem Ansatz der Intersektionalität beabsichtigen Degele und Winker, die drei genannten Ebenen – Strukturen, symbolische Repräsentationen und Identitätskonstruktionen – in Beziehung zu setzen (vgl. Degele/Winker 2009: 23). Strukturelle Herrschaftsverhältnisse In ihrer Analyse konkreter Herrschaftsverhältnisse und deren Verwobenheit in einem kapitalistischen System überwinden Degele und Winker die dualistischen Theorien, indem sie sich mit den unterschiedlichen strukturellen Herrschaftsverhältnissen und deren Wechselwirkungen in der Produktions- und Reproduktionssphäre auseinandersetzen (vgl. ebd. 37). Dabei unterscheiden sie auf der Strukturebene gegenwärtiger kapitalistischer Gesellschaften vier Herrschaftsverhältnisse entlang der Kategorien Klasse, Geschlecht, „Rasse“ und Körper, das heißt: Klassismen, Heteronormativismen, Rassismen und Bodyismen (vgl. ebd. 38). Sie 27 Auf „Körper“, als Differenzkategorie, gehe ich im Folgenden näher ein.
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gehen davon aus, dass kapitalistische Systeme sich durch diese hierarchische Herrschaftsverhältnisse aufrecht erhalten (vgl. ebd. 38). Damit weiten sie die klassische soziologische Triade Klasse, Geschlecht und „Rasse“ auf der Strukturebene um die Kategorie Körper aus (vgl. ebd. 39). Die Erweiterung der Differenzkategorien begründen Degele und Winker wie folgt: „‚Rasse‘ und Geschlecht sind Kategorien, die mit dem Rekurs auf eine vermeintliche Naturhaftigkeit begründet und legitimiert werden, bei Klasse ist das schon längst nicht mehr der Fall. Dort hat sich mit dem Kapitalismus der Glaube an Mobilität und die Ideologie des grundsätzlich möglichen Aufstiegs „vom Tellerwäscher zum Millionär“ durchgesetzt. Statt Naturalisierung sind dort Verbesserung und Optimierung herrschende Legitimationen und genau darin trifft sich die inzwischen soziologisierte (d.h. entnaturalisierte) Kategorie Klasse mit Körper […] Körper können ihren Wert steigern.“ (Ebd. 39f.)
Bei den Ein- und Ausschlussmechanismen im Arbeitsmarkt eines kapitalistischen Gesellschaftssystems spielen Körper eine entscheidende Rolle. Degele und Winker verbinden die Differenzkategorie Körper mit dem Verständnis des Neoliberalismus, in dem die Märkte und Wettbewerbe die effektivsten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handlungsfelder und Instrumente sind (vgl. ebd. 40). In diesem neoliberalen bzw. kapitalistischen Gesellschaftssystem existieren mentale Prägungen, kulturelle Standardisierungen, Optimierungen und Modifikationen von Körperlichkeiten. Auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt werden bestimmte erwünschte/unerwünschte Körpernormen erzeugt, wie beispielsweise die Definitionen von ‚brauchbaren‘, ‚nützlichen‘ und ‚um/formbaren‘ Körpern (vgl. ebd.). Sowohl Alter als auch körperliche Verfasstheit, Gesundheit und Attraktivität gehören zu den relevanten Ein- und Ausschlusskriterien des kapitalistischen Arbeitsmarktes. Degele und Winker sind der Meinung, dass in einem kapitalistischen Gesellschaftssystem die genannten vier Struktur bzw. Differenzkategorien miteinander verwoben sind sowie sich wechselseitig beeinflussen. Diese vier Strukturkategorien – Klasse, Geschlecht, „Rasse“ und Körper – sind für die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse entscheidend. Für die Analyse eines kapitalistischen Systems und die Verwobenheit bestimmter Herrschaftsverhältnisse definieren Degele und Winker die vier Strukturkategorien erneut. Im Folgenden werden die Definitionen der vier Struktur bzw. Differenzkategorien wiedergegeben: Strukturkategorie Klasse: Unter dieser Kategorie sind drei Ressourcen zu verstehen, über die die Menschen unterschiedlich verfügen: Erstens die ökonomische Ressource, die über die soziale Herkunft vermittelt wird. Dazu gehören Geld, Besitz, Vermögen etc. Zweitens die kulturelle Ressource: dazu gehören Bildung und Beruf, und drittens die soziale Ressource: damit sind die Netzwerke und Beziehungen gemeint (vgl. ebd. 42). Als eine Kategorie ist die Klasse für Diskriminierung bestimmend. Dies liegt daran, dass diese Ressourcen-
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ausstattungen zum einen stark verwoben sind, und zum anderen stehen Menschen unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung. Als Beispiel nennen Degele und Winker die herkunftsbedingte soziale Stellung der Menschen. Mit Herkunft ist beispielsweise Besitz und Vermögen vererbt. Die Herkunft hat aber auch einen starken Einfluss auf die Einstiegschancen in Bildung und Beruf und auf die sozialen Netzwerke (vgl. ebd.). Von der Klasse leiten Degele und Winker Klassismen ab, die sie als Herrschaftsverhältnisse bezeichnen (vgl. ebd. 44). Die Existenz dieser Herrschaftsverhältnisse basiert auf sozialer Herkunft, Bildung, Beruf und deutlichen Einkommens sowie Reichtumsunterschieden (vgl. ebd.). Strukturkategorie Geschlecht: In ihrer Definition von Geschlecht als einer Strukturkategorie beziehen Degele und Winker sich auf den Butlerschen dekonstruktivistischen Ansatz. Mit Geschlecht meinen sie nicht nur die Zweigeschlechtlichkeit, sondern auch die damit eng verwobene sexuelle Orientierung (vgl. ebd. 44). Sie kritisieren den vorhandenen hegemonialen Glauben an die Selbstverständlichkeit des binären heterosexuellen Geschlechtersystems. Angelehnt an Butler konstatieren sie ferner, dass die Strukturkategorie Geschlecht auf der Heteronormativität bzw. den Heteronormativismen basiert, die zu gesellschaftlichstrukturellen Konsequenzen führen (siehe dazu Abschnitt 2.4). Eine dieser strukturellen Konsequenzen ist die durchgehende geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in der Erwerbsarbeit. Die Geschlechtshierarchie auf dem Arbeitsmarkt hat beispielsweise zur Folge, dass die Menschen auf der Grundlage des dichotomen Geschlechtersystems unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu beruflichen Tätigkeiten haben und unterschiedliche Löhne erzielen (vgl. ebd. 46). Frauen werden für ihre Familienarbeit nicht bezahlt. Vor diesem Hintergrund manifestieren sich die Heteronormativismen in bestimmten Herrschaftsverhältnissen, die auf hierarchischen Geschlechterbeziehungen sowie der unhinterfragten Annahme natürlicher Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit basieren (vgl. ebd.). Die besondere Eigenschaft der Heteronormativismen ist die Aufrechterhaltung des binären Geschlechtersystems und der unhinterfragten Selbstverständlichkeit bzw. Natürlichkeit der Heterosexualität und Legitimität der heterosexuellen Paarbeziehungen (vgl. Jackson 2006: 117. In: ebd. 46). Degele und Winker arbeiten die Unterschiede zwischen Heteronormativismen und Klassismen heraus: Während Klassismen sich auf Grundlage der Leistung der Individuen legitimieren, finden Heteronormativismen ihre Legitimationsgrundlage in der Naturhaftigkeit (vgl. Degele/Winker 2009: 46). Strukturkategorie „Rasse“: In ihrer Definition von „Rasse“ gehen Degele und Winker von der sozialen Konstruktion der „Rasse“ aus. Demzufolge werden „Rassen“ durch spezifische, äußerlich wahrnehmbare oder behauptete physiologische Unterschiede sozial konstruiert (vgl. ebd. 47). Menschen, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören, werden über eine andere Hautfarbe, Körperkonstitution, Ethnie, Religion oder Weltanschauung rassifiziert und damit zu Anderen gemacht (vgl.
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ebd.). Als Struktur bzw. Differenzkategorie führen „Rasse“/Rassismen zu Ein- und Ausschlüssen von Menschen auf Grundlage sozial konstituierter Differenzen. Die Definitionen dieser Strukturkategorie beinhalten auch die Unterscheidung, Bewertung sowie Unterordnung von Menschen auf Grundlage der ausgewählten realen oder zugeschriebenen körperlichen Eigenschaften (vgl. ebd. 48 und Abschnitt 2.2.). Unter diesem Gesichtspunkt bezeichnen Degele und Winker Rassismen als Herrschaftsverhältnisse, die auf strukturellen Machtasymmetrien „zwischen durch symbolische Klassifikationen zu ‚Rassen‘ gewordenen Menschengruppen beruhen“ (vgl. Weiß 2001: 29. Zitiert nach Degele und Winker 2009). Es handelt sich bei Rassismen um politische Interessen, die unter dem Deckmantel natürlicher Differenzen legitimiert werden. Als Folge von Rassismen können strukturelle Diskriminierungen genannt wedern, wie z.B. Ausschluss vom Arbeitsmarkt oder beschränkte Zugangsmöglichkeiten zur Erwerbsarbeit (vgl. Degele/Winker 2009: 48). Strukturkategorie Körper: Zur vierten Strukturkategorie, durch die Degele und Winker die Triade von Klasse, Geschlecht und „Rasse“ ausgeweitet haben, gehört der Körper. In der intersektionellen Analyse der sozialen Ungleichheit(en) von Degele und Winker sind die Körper von großer Relevanz. Die Autorinnen sind der Meinung, dass Körper aufgrund der Tatsache mechanischer, genetischer, psychischer und physiologischer Manipulierbarkeit immer weniger als Naturtatsache, sondern als Kulturprodukte erscheinen (vgl. Wehling 2005: 559. In: ebd. 49). Um einen besseren Zugang zur Erwerbsarbeit zu finden, müssen die Körper in der Lage sein, sich fit, arbeits- und erwerbsfähig (employable) zu machen (Degele/Winker 2009: 49). Die körperliche Verfasstheit bzw. auch die Gesundheit der Körper spielen beim Ein- und Ausschluss auf dem Arbeitsmarkt eine entscheidende Rolle. Das Alter, (chronische) Krankheiten, körperliche Behinderungen etc. beeinflussen die Erfolgschancen des Individuums auf dem Erwerbsarbeitsmarkt negativ. In einem kapitalistischen Arbeitsmarkt wird die Gesundheit nicht mehr als natürliche Gegebenheit verstanden, sondern die Individuen werden für ihren Gesundheitszustand verantwortlich gemacht. Auffällig ist hier die Übereinstimmung der Strukturkategorie Körper mit Klasse. Das Leistungsprinzip ist für den Ein und Ausschluss des Individuums entscheidend (vgl. ebd.). In kapitalistischen Gesellschaften geht es für Körper lediglich darum, wie sie formbar sind und welche Voraussetzungen sie für die Erwerbsarbeitsfähigkeit erfüllen sollen (vgl. ebd. 50). Die Menschen werden nach ihren körperlichen Eigenschaften eingestuft und dementsprechend entweder berücksichtigt oder ignoriert. In kapitalistischen Gesellschaften haben Menschen bessere Erfolgs- und Aufstiegschancen, wenn sie beispielsweise jung, schön, fit, gesund, belastbar, beweglich, permanent lernbereit und willig sind und über eine große geistige und reaktive Leistungsfähigkeit verfügen (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang sind die Menschen in einem kapitalistischen Gesellschaftssystem für den Ein- und Ausschluss vom Erwerbsarbeitsmarkt selbst verantwortlich. Wer die Kriterien eines ‚Gesun-
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den‘, Jungen, ‚Attraktiven‘, ‚Leistungsfähigen‘ nicht erfüllt, wird entweder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen oder muss unterbezahlte Jobs annehmen. In diesem Zusammenhang betrachten Degele und Winker die Benachteiligungen aufgrund bestimmter körperlicher Merkmale als Bodyismen. Bodyismen bezeichnen Herrschaftsverhältnisse zwischen Menschengruppen auf der Grundlage körperlicher Eigenschaften wie Alter, Attraktivität, Generativität und körperliche Verfasstheit. Was die vier Strukturkategorien Klasse, Geschlecht, „Rasse“ und Körper verbindet, ist, dass sie in einem kapitalistischen System zur Verbilligung der Ware Arbeitskraft beitragen. Diese vier Strukturkategorien haben gemeinsam einen starken Einfluss auf die Zugangsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Hinzu kommen die ungleiche Verteilung der sozialen Ressourcen, Differenzierung der Löhne und ungleiche Zuweisung der Reproduktionsarbeit (vgl. ebd. 53). Symbolische Repräsentationen Degele und Winker gehen der Frage nach, in welchem Zusammenhang die untersuchten Phänomene und Prozesse mit Normen und Ideologien stehen. Mit den symbolischen Repräsentationen meinen sie Bilder, Gedanken, Ideen, Vorstellungen oder Wissenselemente, die durch gemeinsame Werte, kulturelle Ordnungen und Überzeugungen einer Gesellschaft entstanden sind (vgl. ebd. 20). Demnach tragen soziale Repräsentationen dazu bei, dass Menschen oder Menschengruppen bestimmte Merkmale zugeschrieben werden. In diesem Zusammenhang fördern symbolische Repräsentationen die oben dargestellten Herrschaftsverhältnisse – Klassismen, Heteronormativismen, Rassismen und Bodyismen (vgl. ebd. 54). Während symbolische Repräsentationen Identitäten konstruieren, dienen Identitätskonstruktionen zur Aufrechterhaltung der symbolischen Repräsentationen und damit auch der Herrschaftsverhältnisse (vgl. ebd.). Bezüglich der Verwobenheit der vier Struktur/Differenzkategorien auf der Ebene der symbolischen Repräsentationen weisen Degele und Winker auf theoretische Probleme hin, die je nach Kategorie unterschiedlich gelagert sind (vgl. ebd.). Klassismen auf der Ebene symbolischer Repräsentationen: Kategorien wie Bildung, Beruf, Einkommen sowie soziale Netzwerke werden nicht mehr als Naturtatsachen betrachtet, sie werden im Gegenteil individualisiert. Mit der Entwicklung des kapitalistischen Gesellschaftssystems wird die Bedeutung der Eigenverantwortung eines jeden Individuums immer stärker betont (vgl. ebd. 55). Rassismen auf der Ebene symbolischer Repräsentationen: Im Gegensatz zu Klassismen werden die Kategorien „Rasse“ und Geschlecht auf Naturhaftigkeit bezogen. Während rassistische Praxen und Aussagen auf die hierarchische Unterscheidung der Menschen (Unterlegene/Überlegene) abzielen, begründen die Kategorien „Rasse“ und Geschlecht die Unterlegenheit von (anderen) Menschen mit de-
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ren naturalisierten und kulturalisierten Merkmalen, um soziale Ungleichheiten legitimieren zu können (vgl. ebd. 56). Heteronormativismen auf der Ebene symbolischer Repräsentationen: Auf der Ebene symbolischer Repräsentationen wird Geschlecht als biologisches/natürliches Merkmal angesehen. Bezüglich des kapitalistischen Gesellschaftssystems erklären Degele und Winker die Stabilisierungsbemühungen der Heteronormativismen wie folgt: „In einer gesellschaftlichen Landschaft zunehmender Verunsicherung, geforderter Flexibilität und Leistungsbereitschaft gewinnen die Inszenierungen ‚des natürlichen Unterschieds‘ wieder an Bedeutung.“ (Degele/Winker 2009: 57)
In einer Zeit der Verunsicherung durch den Neoliberalismus, in der es immer weniger Arbeitsplätze gibt und staatliche Sozialhilfeleistungen und Renten immer unsicherer werden, begünstigt eine verstärkte Naturalisierung eines Geschlechtsunterschieds die Stabilisierung der kapitalistischen Gesellschaft (vgl. ebd.). Auf dieser Ebene spielt die geschlechtliche Fortpflanzung bzw. die Generativität eine bedeutende Rolle. Die Naturhaftigkeit der Zweigeschlechtlichkeit sowie der sexuellen Orientierung wird als Legitimation zur Konstruktion der Geschlechterdifferenzen verwendet Damit bilden sich in der Gesellschaft Stereotype, denen bestimmte geschlechterspezifische Aufgaben/Rollen zugeschrieben werden (vgl. ebd.). Soziale Ungleichheiten aufgrund des Geschlechtes und der sexuellen Orientierung werden durch die Naturalisierung der Heteronormativismen gerechtfertigt. Bodyismen auf der Ebene symbolischer Repräsentationen: Hier handelt es sich um soziale Ungleichheiten aufgrund der Körperlichkeiten sowie körperlichen Eigenschaften wie Alter, Attraktivität, Sportlichkeit, Behinderung etc.. Auf den ersten Blick scheinen die Diskussionen um das Verhältnis zwischen Körpern und Diskriminierungen mit den Diskussionen um das Verhältnis zwischen Diskriminierung und „Rasse“ sowie Geschlecht Ähnlichkeiten zu haben. Der Körper kann, wie bei „Rasse“ und Geschlecht, aufgrund seiner Naturhaftigkeit als Grund für soziale Ungleichheiten angesehen werden. Im Gegensatz zu dieser Ansicht weisen Degele und Winker darauf hin, dass die Naturhaftigkeit des Körpers in einem kapitalistischen Gesellschaftssystem an Bedeutung verloren hat (vgl. ebd. 57f.). Die öffentlichen Debatten konzentrieren sich nicht mehr auf die biologische/naturhafte Veranlagung des Körpers, sondern aufgrund der Vermarktungs- und Einsparungsinteressen auf die Umformbarkeit bzw. Veränderbarkeit von Alter, Leistungsfähigkeit, Aussehen. Auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt werden Menschen nach ihren jeweiligen vorzüglichen körperlichen Eigenschaften wie Belastbarkeit, Flexibilität, Schnelligkeit, hohe Leistungsfähigkeit bewertet, und dementsprechend werden sie eingestellt oder gekündigt. Darüber hinaus können Körper als Symbol von Statuskonstruktio-
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nen fungieren. In diesem Sinne unterscheiden sich die Diskurse um Körper von denen um Geschlecht und „Rasse“ (vgl. ebd. 58). Identitätskonstruktionen Im Hinblick auf die Verwobenheit von Kategorien bei den Identitätskonstruktionen beziehen sich Degele und Winker auf den doing-difference-Ansatz von Candace West und Sarah Fenstermaker (vgl. ebd. 59). Der doing-difference-Ansatz entstand durch die kritische Erweiterung des doing-gender-Ansatzes an die US-amerikanischen Debatten zur Intersektionalität (vgl. Bauschke 2010: 115). Das Konzept des doing gender zielt auf die Destabilisierung und Dekonstruktion der biologistischen, universalistischen und essentialistischen Konzepte ab, die Geschlecht primär als statische und ahistorische Größe darstellten. Ein weiteres zentrales Ziel des doinggender-Konzeptes war aufzuzeigen, dass Geschlecht sich als eine Differenzkategorie manifestiert, die durch soziale Situationen und Verhältnisse konstruiert wird (vgl. ebd.). Mit anderen Worten ist das Geschlecht nach dem doing-gender-Ansatz ein Ergebnis komplexer sozialer Prozesse und nicht naturhafter Ausgangpunkt für die Unterscheidungen im menschlichen Handeln, Verhalten und Erleben. Der Kritikpunkt von West und Fenstermaker, die das Konzept doing difference entwickelt haben, besteht darin, dass doing gender sich überwiegend auf eine Kategorie, auf das Geschlecht, konzentriert bzw. fixiert und andere Differenzkategorien außer Acht lässt (vgl. ebd. 116f.). In ihrem doing-difference-Ansatz berücksichtigen West und Fenstermaker die Komplexität der Differenzkategorien Gender, Klasse und Ethnizität und setzen sich mit der Frage auseinander, wie ethnische, klassen und geschlechtsspezifische Ungleichheiten in sozialen Interaktionen hervorgebracht werden (vgl. Fenstermaker/West 2001). Nach diesem Ansatz entsteht Geschlecht gleichzeitig mit Ethnie und Klasse. Alle drei Kategorien wirken auch zusammen, sie sind also als simultane Prozesse zu verstehen (vgl. Degele und Winker 2009: 59). Degele und Winker sind jedoch der Meinung, dass es für einen Intersektionalitätsansatz sinnvoller ist, die Untersuchungskategorien nicht nur auf Geschlecht, Klasse und „Rasse“ zu begrenzen, sondern die Anzahl der erforderlichen Kategorien sollten offen gehalten werden (vgl. ebd.). In ihrem Intersektionalitätsansatz gehen Degele und Winker von der Destabilisierung bestimmter Zuordnungen und Verunsicherungen der Individuen in einer kapitalistischen neoliberalen Gesellschaft aus. Aufgrund des starken Bedürfnisses nach Existenzabsicherung versuchen die Individuen, mit verstärktem Rückgriff auf traditionelle oder neuartige Differenzierungslinien durch Abgrenzung von Anderen Unsicherheiten zu verringern und eigene Sicherheiten zu erhöhen. Der Grund des Bedürfnisses nach einer Existenzabsicherung liegt darin, dass Individuen sich in einem kapitalistischen Gesellschaftssystem durch die zunehmenden Arbeitslosenquoten, die prekären Arbeitsverhältnisse und die sich negativ verändernden sozialstaatlichen Leistungen unsicher und existenziell bedroht fühlen (vgl. ebd.). Beim
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Kampf um die Teilhabe an sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen sind sie gezwungen, sich besser als Andere darzustellen. Dieser Kampf, vor allem auf dem kapitalistischen Erwerbsarbeitsmarkt, trägt zur Konstruktion des eigenen Selbst sowie der Identität im Alltag bei. Die Individuen einer kapitalistischen bzw. neoliberaleren Gesellschaft befinden sich immer in einer Situation, in der sie sich einerseits von Anderen abgrenzen und andererseits sich neue Zugehörigkeiten (nationalstaatliche, europäische, heteronormative etc.) verschaffen (vgl. ebd.). Das Verhältnis zwischen Identitätskonstruktionen und Herrschaftsverhältnissen taucht dadurch auf, dass die Weißen beispielsweise sich von nicht Weißen unterscheiden (Rassismen). Bei Identitätskonstruktionen entlang unterschiedlicher Differenzkategorien handelt es sich also um folgende Punkte: Erstens versuchen Individuen, Unsicherheiten in der eigenen sozialen Positionierung durch Ab- und Ausgrenzung zu vermindern. Zweitens versuchen Individuen, Sicherheit durch Zusammenschlüsse zu erhöhen. Drittens haben Individuen verstärkte Sorge um sich selbst. All das führt dazu, dass die Menschen nicht nur ihre Existenz absichern, sondern sie sind auch darum bemüht, ein bestimmtes umfassendes und vielfältiges Differenzierungssystem aufrechtzuerhalten. Bei den Identitätskonstruktionen spielen Hierarchisierungen und Naturalisierungen eine signifikante Rolle (ebd. 61f.). 2.5.2 Mehrdimensionale, Mehrfache und Intersektionale Diskriminierung aus der politsch-aktivistischen Sicht In diesem Anschnitt der vorliegenden Arbeit geht es um das Verständnis der Intersektionellen Diskriminierung. Die Berücksichtigung der gesellschaftspolitischen Ansichten ist für diese Studie von großer Relevanz. Aufgrund der alltäglichen Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen der Diskriminierung erweisen sich Antidiskriminierungsorganisationen und Zivilgesellschaften als praxisorientierte Akteur_innen, die nicht nur auf theoretischer Ebene mit Diskriminierung beschäftigt sind, sondern auch auf praktischer Ebene, auf der sie konkrete Lösungsansätze entwickeln. Für die Entwicklung derartiger Lösungsansätze organisieren viele Antidiskriminierungsstellen sowie Organisationen verschiedene Tagungen, Konferenzen und Kampagnen, die zur Transparenz von Diskriminierungen sowie Mehrmachdiskriminierungen beitragen. In diesem Teil beziehe ich mich auf einen Beitrag von Judy Gummich: Schützen die Antidiskriminierungsgesetze vor mehrdimensionaler Diskriminierung? In diesem Beitrag, den sie 2004 in einer Veranstaltung QueeBerlin Mehrfachzugehörigkeit als Bürde oder Chance vorgetragen hat, setzt sie sich mit Mehrfachen, Mehrdimensionalen sowie Intersektionellen Diskriminierungen auseinander.
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Die Mehrdimensionale Diskriminierung wird als vielschichtige Diskriminierung definiert, die an mehr als einem (konstruierten) Persönlichkeitsmerkmal anknüpft (vgl. Gummich 2004: 6). Sie stellt fest, dass mehrdimensionale Diskriminierungen durch identitätspolitisch orientierte Gruppen aufgrund folgender Faktoren nicht beachtet werden (vgl. ebd. 7): Kategorisierung: Durch das Definieren von festen und klar abgegrenzten Kategorien, die auf Ein- und Ausschlusskriterien basieren, werden bestimmte Menschen und Menschengruppen Diskriminierungen ausgesetzt. Die Kategorisierungen blenden mehrdimensionale Diskriminierungen aus.Homosexuellen werden nur auf ihre Homosexualität und Migrant_innen werden nur auf ihre Migrationsgeschichte reduziert. Vereinfachung und Generalisierung: Um politische Interessen besser durchsetzen zu können, werden komplexe Lebenssituationen vereinfacht und generalisiert. Dass Muslimen Rückständigkeit zugeschrieben wird und Homosexuelle nur mit etwas Sexuellem assoziert werden, zeigt grobe Vereinfachung als Grundlage der Diskriminierungen. Spannungsfeld zwischen Spezifischem und Differenz: Damit ist gemeint, dass eine wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung mit spezifischen Lebenssituationen von beispielsweise Schwulen unspezifischer werden kann, wenn in dieser Auseinandersetzung mehr Unterschiede benannt und zugelassen werden. Entweder/oderPrinzip: Dies bedeutet eine klare Zuordnung. In der Mehrheitsgesellschaft werden Sowohl/Als auch oder Unentschlossenheit nicht akzeptiert. Es gibt in bestimmten Diskursen entweder gut oder böse, entweder schwarz oder weiß. Gegenseitige Abgrenzung: Gemeinsame Interessen mit einer anderen Gruppe werden nicht erkannt bzw. nicht wahrgenommen. Das Ziel ist dabei, das eigene Profil zu schärfen. Mentalität der Besitzstandswahrung: Aufgrund der Furcht vor Verlust des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Status werden bestimmte Privilegien auf institutioneller Ebene abgesichert. Komplexer Ansatz von mehrdimensionaler Diskriminierung: Die Akteur_innen bestimmter Machtinstanzen vermeiden selbstkritische und komplexe Auseinandersetzungen, weswegen sie auch das Thema mehrdimensionaler Diskriminierungen nicht genau beachten. Diversity als Störfaktor: Obwohl der Diversity-Ansatz auf den ersten Blick positiv wahrgenommen wird, erweist er sich bei der Umsetzung innerhalb einer Gruppe als fragwürdig. Der Grund dafür ist, dass die Organisationen im Bereich der Antidiskriminierung zum einen identitätspolitisch orientiert sind. Zum anderen stellen sie sich so dar, als würden sie die Gesamtgruppen-Interessen vertreten. Weil sie die Gesamtgruppen-Interessen vertreten, ignorieren sie dabei die Interessen von Untergruppen. Diese Untergruppen werden als Bedrohung für die homogene Einheit wahrgenommen.
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Ausgangpunkt der intersektionellen Diskriminierung ist, dass Menschen aufgrund (konstruierter) mehrerer Persönlichkeitsmerkmale auf verschiedene Formen von Ausgrenzung, Benachteiligung sowie Herabwürdigung stoßen. Diese Persönlichkeitsmerkmale sind eng mit Zuschreibungen verbunden, die zu Diskriminierungen führen (vgl. ebd. 9). Diskriminierungen geschehen durch die Herstellung der sozialen Konstruktion von Identität, die aus sozialen, historischen, politischen und kulturellen Zusammenhängen erzeugt wird (vgl. ebd.). Soziale Konstruktion der Identität(en) und die daraus entstehenden Diskriminierungen sind für die Analyse intersektioneller Diskriminierungen von wesentlicher Bedeutung. Mit diesem Ansatz der intersektionellen Diskriminierung ist es möglich, unterschiedliche Facetten von mehrfacher, mehrdimensionaler und intersektioneller Diskriminierung zu verstehen sowie zu erklären. In der politischen Praxis geht man von Grundfacetten und Kombinationen aus. Grundfacetten Mehrfachdiskriminierung bzw. mehrere Gründe28 für Diskriminierung: Wird eine Person aufgrund mehrerer ihr zugeschriebener Persönlichkeitsmerkmale zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Situationen diskriminiert, dann ist sie Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt (vgl. ebd.). Anzumerken ist hier, dass mehrere Merkmale für die Diskriminierung nicht simultan wirken. Es geht hier nicht um eine gleichzeitige Diskriminierung aus mehreren „Gründen“, sondern darum, dass eine Person zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Räumen aus unterschiedlichen „Gründen“ diskriminiert wird. Zusammenwirkende Gründe für Diskriminierung: Bei dieser Diskriminierungsform handelt es sich um ein Zusammenwirken und eine gegenseitige Verstärkung mehrerer „Diskriminierungsgründe“ in einer Situation (vgl. ebd.). Beispielsweise kann ein Schwarzer dicker alter schwuler Mann simultan aufgrund dieser Merkmale diskriminiert werden. Sich überschneidende Gründe für Diskriminierung (ereignisorientiert): Intersektionale Diskriminierung findet aufgrund mehrerer (zugeschriebener) Merkmale statt, die sich auch simultan gegenseitig beeinflussen und aufeinander einwirken, beispielsweise. erfahren muslimische schwule Männer Diskriminierungen, die weder nicht-muslimische (deutsche/europäische) Schwule noch andere muslimische Migrant_innen machen. Hier überschneiden sich sexuelle Orientierung, Religionszugehörigkeit und nicht deutsche Herkunft. Diskriminierungen, die sich gleichzeitig überschneiden, haben für den intersektionalen Ansatz eine Schlüsselfunktion. Bei28 In Bezug auf die „Gründe“ für Diskriminierung ist es wichtig zu erklären, dass es keine tatsächlichen Gründe gibt, die die Diskriminierung legitimieren, sondern bestimmte Persönlichkeitsmerkmale werden als Grund (im Sinne von ‚Begründung‘) für die Diskriminierung herangezogen (vgl. Ebd.).
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spielsweise gibt es Situationen, in denen es nicht einfach ist, festzustellen, ob eine Person wegen der sexuellen Orientierung, der religiösen Zugehörigkeit oder des Erscheinungsbildes diskriminiert wird, denn sie wirken alle zusammen und sie sind miteinander verwoben (vgl. ebd. 10). Überlappende Gründe für Diskriminierung: Diese Diskriminierung findet in einer Situation aufgrund verschiedener Merkmale statt, die gleichzeitig, aber unabhängig voneinander herangezogen werden (vgl. ebd.). Wenn eine Hausverwaltung weder an Homosexuelle/Transgender noch Migrant_innen Wohnungen vermietet, eine Person aber beide Merkmale besitzt, so ist es schwer nachzuweisen, aus welchem Grund sie keine Wohnung bekommen hat. Meistens reicht ein Merkmal (z.B. Transgeschlechtlichkeit) als Grund für die Diskriminierung. Weitere Facetten: Kombinationen Intersektionelle Diskriminierung (prozessorientiert): Als intersektionelle Diskriminierung bezeichnet man jedwede Kombination von unterschiedlichen Facetten (mehrfach, überlappend, überschneidend) und Formen von Diskriminierung (direkt/indirekt, institutionell/individuell), die sich zusammen wechselseitig beeinflussen. Durch diese Zusammen- und Wechselwirkung entsteht eine sehr spezifische Form von Diskriminierung (vgl. ebd.). Die Benachteiligungen, Diskriminierungen und Ausgrenzungen hängen meistens mit dem jeweiligen geschichtlichen, kulturellen, politischen und sozialen Kontext zusammen (vgl. ebd.). Diskriminierungen in einem Lebensbereich verstärken und bedingen dabei häufig Diskriminierungen in anderen Lebensbereichen. Wenn zum Beispiel ein schwuler Mann aus einem afrikanischen Land nach Deutschland kommt, um mit einem schwulen deutschen Mann, den er eventuell per Internet oder in seinem Urlaub kennen gelernt hat, eine eingetragene Lebenspartnerschaft einzugehen, kann er möglicherweise bestimmten Diskriminierungshandlungen seines Partners ausgesetzt sein. Bis er seine Niederlassungserlaubnis erwerben kann, muss er mindestens drei Jahre mit dem deutschen schwulen Mann in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben und mit ihm zusammen wohnen. Wenn er aber in diesem Zeitraum von seinem Partner verbaler oder körperlicher Gewalt ausgesetzt, rassistisch behandelt oder wirtschaftlich ausgenutzt wird, muss er sich möglicherweise entscheiden, entweder seinen Partner zu verlassen und in seine Heimat zurück zu kehren, oder er muss die Diskriminierungen seines Partners ertragen. In diesem Beispiel sind strukturelle Faktoren (Aufenthaltsgesetz) und mehrere reale und zugeschriebene Persönlichkeitsmerkmale (Schwarz, schwul, Migrant) ineinander verwoben, die die Diskriminierung bedingen.29
29 Sowohl im empirischen Teil als auch im Kapitel 3.3. dieser Arbeit gehe ich auf die Situation binationaler Partnerschaften näher ein.
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Situationsbedingtheit und Kontextabhängigkeit von Diskriminierung: Diskriminierungen aufgrund sozialer Konstruktion der Identität(en) werden nach dieser Ansicht situations- und kontextabhängig erfahren (vgl. ebd. 11). Ein schwules Paar fühlt sich erst dann schwul, wenn die beiden Partner sich auf der Straße küssen und die anderen Menschen sie auffällig anschauen bzw. sie angegriffen werden. Oder wenn ein nicht deutsch genug aussehender Mensch gefragt wird, aus welchem Land er kommt, fällt ihm auf, dass er nicht deutsch genug aussieht. D.h. durch die Frage woher kommst du erfährt der Befragte seine Nicht-Zugehörigkeit, und sein nicht deutsches Aussehen wird mit Ausländischsein verbunden. Soziale Verortung in der Gesellschaft: Die soziale Verortung ist vom Geschlecht, sexueller Orientierungen, dem Alter, der Herkunft, dem gesundheitlichen Status oder der Klasse abhängig und nicht statisch (vgl. ebd.). Aufgrund der unterschiedlichen Wahrnehmungen dieser Differenzkategorien werden Diskriminierungen auch unterschiedlich durchgesetzt. Wenn eine Frau mit türkischer Herkunft ohne Kopftuch und mit akzentfreiem Deutsch an einer Hochschule ein antiislamisches Seminar leitet, wird sie in der Aufnahmegesellschaft mit europäischer Zivilcourage in Verbindung gebracht und positiv bewertet; wenn aber eine türkeistämmige Frau ein Kopftuch trägt, wird sie möglicherweise mit Rückständigkeit in Verbindung gebracht, und ihr können bestimmte Aufstiegschancen verweigert werden. Hierarchisierung/Ungleichgewichtung: Es geht hier um die Bewertung/Einstufung der von Diskriminierung betroffenen Personen/Personengruppen. Eine westeuropäische gut situierte heterosexuelle Person beispielsweise wird immer besser bewertet als eine homosexuelle Person aus einem ärmeren nicht-europäischen Land, die möglicherweise hiv+, schwul und drogenabhängig ist. Zusammenfassung Nach der Erläuterung verschiedener Facetten und Faktoren intersektioneller Diskriminierungen aus der Sicht kritischpolitischer Akteur_innen ergibt sich folgende Definition: Intersektionelle Diskriminierung liegt vor, wenn – beeinflusst durch den Kontext und die Situation – eine Person aufgrund verschiedener zusammenwirkender Persönlichkeitsmerkmale Opfer von Diskriminierung wird (ebd. 12).
Intersektionelle Diskriminierungen stellen eine Komplexität dar. Um diese Komplexität verstehen zu können, ist auf die gegenseitigen Wechselwirkungen der einzelnen Faktoren, Formen und Facetten einzugehen. So kristallisiert sich heraus, dass intersektionelle Diskriminierung interaktiv, dynamisch, relational, gebündelt, kombiniert, kumulativ, sich verstärkend, simultan, situations und kontextabhängig und prozessorientiert ist (vgl. ebd.).
3. Die Geschichte der homosexuellen Bewegung in Deutschland
In diesem Teil der vorliegenden Studie möchte ich auf die Geschichte der homosexuellen Emanzipationsbewegung in Deutschland eingehen, um die historische Entwicklung der derzeitigen rechtlich und gesellschaftlich verbesserten Situation der Homosexuellen veranschaulichen zu können. Die Diskriminierung und die damit verbundene Verfolgung von Homosexuellen in der Moderne basieren u.a. auch auf christlichen Moral- bzw. Wertvorstellungen. In den vorangegangenen Kapiteln bin ich auf das Verhältnis zwischen Christentum und Homosexualität ganz allgemein eingegangen. Im Folgenden behandle ich die Geschichte der homosexuellen Bewegung in Deutschland seit 1870/71, da mit der Gründung des II. Deutschen Reiches und der darauf folgenden Verabschiedung des § 175 Strafgesetzbuch, der Homosexualität unter Strafe stellte, der hundertdreißigjährige Kampf der Homosexuellen gegen Ächtung, Bedrohung sowie Vernichtung begann.
3.1 H OMOSEXUALITÄT VOM K AISERREICH BIS DES Z WEITEN W ELTKRIEGES BZW . 1969
ZUM
E NDE
Nach der Reichsgründung 1870/71 trat 1872 das ReichsStrafgesetzbuch in Kraft und damit auch der berüchtigte § 175 (vgl. Weiß/Tietz 2003: 21). Durch den Anschluß der süddeutschen Staaten an den Norddeutschen Bund und der daraus resultierenden Umbenennung in Deutsches Reich wurde auch das Sexualstrafrecht nach preußischem Muster vereinheitlicht (vgl. Kamp/Sölle 1995: 124). Der damalige §175 lautete: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ (Weiss/Tietz 2003: 21)
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Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld mit dem Thema Homosexualität und deren Ursprüngen. Mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten beabsichtigte er, Homosexualität mit dem Konzept eines dritten Geschlechts zu rechtfertigen (vgl. Dreyer 1997: 30). Hirschfelds wissenschaftliche Auseinandersetzung beinhaltete auch gesellschaftspolitische Ziele; so gründete er 1897 in Berlin das Wissenschaftlichhumanitäre Komitee – WhK (vgl. Weiß/Tietz 2003: 21). Das Wissenschaftlichhumanitäre Komitee hatte zu dieser Zeit zwei Hauptziele: Erstens waren die Mitarbeiter_innen bemüht, über eine wissenschaftliche Herangehensweise die Akzeptanz für homosexuelle Lebensweisen und Orientierungen zu erhöhen. Zweitens hatten sie sich die Beseitigung der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen bzw. die Abschaffung des §175 RStGB zum Ziel gesetzt (vgl. Dreyer 1997 und Weiß/Tietz 2003). Mit diesen Zielen sowie Auseinandersetzungen gilt das WhK als erste deutsche Organisation, die die homosexuelle Emanzipationsbewegung in Gang setzte (Seeck 2004: 160). Mit der Unterstützung von verschiedenen Prominenten erfolgten bis zum Ersten Weltkrieg insgesamt fünf Petitionen, um den §175 RStGB außer Kraft setzen zu lassen (vgl. Weiß/ Tietz 2003: 21). Die Bemühungen der ersten schwulen Bewegung waren aber erfolglos. Im Gegensatz zur antihomosexuellen Haltung im Deutschen Kaiserreich zeigte sich die Situation der Homosexuellen während der Weimarer Republik deutlich verbessert. In dieser Zeit blühten die schwul-lesbische Bewegung und Szenen, insbesondere in Berlin, stark auf. Diese Entwicklung manifestierte sich in der zunehmenden Anzahl von homosexuellen Lokalen, homophilen Zeitschriften und Einrichtungen für Homosexuelle (vgl. Bülow 2000: 29). Neben dem bereits bestehenden Wissenschaftlichhumanitären Komitee wurden auch andere Selbstorganisationen, wie beispielsweise der Bund für Menschenrecht und das Institut für Sexualwissenschaft gegründet (vgl. ebd.). Ziel dieser Verbände bzw. Organisationen war es, die Strafbarkeit der Homosexualität abzuschaffen, indem man die Akzeptanz und Anerkennung der Homosexualität in der Gesellschaft durchzusetzen versuchte. Die Arbeit von politischen, sozialen und wissenschaftlichen Organisationen konnte den Homosexuellen damals Möglichkeiten bieten, sich zu vernetzen und miteinander in Kontakt zu treten. Diese Organisationen dienten auch als politische Apparate, und sie ermöglichten den Homosexuellen soziale Unterstützung (vgl. ebd. 30). Die Bemühungen des WhK um die juristische Anerkennung der Homosexuellen und um die Abschaffung des §175 führten 1929 zu einem Teilerfolg. Aufgrund der ersten deutschen Homosexuellenbewegung wurde eine Petition in den Reichstag eingebracht, und der Rechtsausschuss des Reichtages beschloss, den § 175 weitgehend zu streichen (vgl. Siemens 2007: 335). Zu einer Lesung des Entwurfes im Reichstagsausschuss kam es jedoch nicht mehr, denn die NSDAP-Abgeordneten hatten kein Interesse an einer Gesamtreform des Strafrechts und sie haben deshalb die Streichung des §175 verhindert (vgl. Hergemöller 1990: 102).
D IE G ESCHICHTE DER HOMOSEXUELLEN B EWEGUNG
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Trotz einiger positiver Entwicklungen in der Weimarer Republik muss man darauf hinweisen, dass die soziale und politische Repression immer noch existierte. Die Freizügigkeit von Lesben und Schwulen beschränkte sich vor allem auf die Großstädte, und sie konnten sich außerhalb der schwullesbischen Szene nicht frei bewegen. Nicht nur im sozialen Bereich waren die Homosexuellen eingeschränkt, sondern auch die Aktivitäten der homosexuellen Emanzipationsbewegung waren nur begrenzt zugelassen (vgl. ebd. 31f.). Mit dem Ende der Weimarer Republik bzw. durch den Aufstieg und die Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde die homosexuelle Emanzipationsbewegung beendet und der §175 verschärft. Die Zeit zwischen 1933 und 1945 war durch die nationalsozialistische Diktatur und die damit verbundene Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung der Homosexuellen gekennzeichnet (vgl. Bülow 2000: 8). Am 05. Mai 1933 wurde das Institut für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld sowie dessen Bibliothek und Archiv durch die Schergen Hitlers vernichtet und das WhK am 08. Juni 1933 vollständig aufgelöst (vgl. Dreyer 1997: 31). Es kam zur Verfolgung der Schwulen und zur Deportation in Konzentrationslager, in denen sie mit dem rosa Winkel gekennzeichnet wurden (vgl. Bülow 2000: 121). Besonders diejenigen Männer waren von extremer Diskriminierung betroffen, die sowohl den rosa als auch den gelben Winkel trugen. Auf juristischer Ebene sah die Situation ebenfalls schlechter aus als vor 1933. Im Jahr 1935 wurde der § 175 durch die Nationalsozialisten verschärft (vgl. Weiß/Tietz 2003: 22). Die Kriminalisierung der Homosexuellen wurde zum ideologischen Gebot. Homosexualität wurde als widernatürlich angesehen, und die Nationalsozialisten glaubten fest daran, dass sich die Homosexuellen ihrer nationalen Pflicht zur Zeugung von Kindern verweigerten. Sie behaupteten: die Volksseuche der Homosexualität breite sich immer weiter aus und bedinge den Verlust von dringend benötigtem Nachwuchs. Damit waren gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Männern keine Privatangelegenheit mehr, sondern als Volksverrat einzustufen (vgl. Bülow 2000: 105). Zwischen 1937 und 1939 wurden fast 100.000 Männer in der geheimen Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung erfasst (vgl. ebd.). Zusammenfassend kann man die Verfolgung und Diskriminierung der Homosexuellen sowie die repressive antihomosexuelle Politik der Nationalsozialisten auf folgende vier nationalsozialistische homosexuellenfeindliche Ansichten zurückführen (vgl. ebd. 37f.): Homosexualität als Bedrohung des Bevölkerungswachstums: Homosexuelle galten zum einen als Verweigerer der nationalistischen Familienplanung, zum anderen bedrohten sie das Wachstum der Bevölkerung. Für den nationalsozialistischen Staat waren Ehe, Sexualität und Fortpflanzung Grundlagen der Erhaltung und der Vermehrung der „Rasse“, so dass Homosexualität nicht als private Angelegenheit angesehen wurde, vielmehr betraf sie die Angelegenheiten des nationalsozialistischen Staates (vgl. ebd. 38f.).
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Homosexuelle Cliquenwirtschaft: Die Nationalsozialisten behaupteten, dass Homosexuelle zur Bildung von Cliquen in der Wirtschaft und im Staat neigen. Sie würden einen Staat im Staate bilden und sich mit Gegnern des Nationalsozialismus verbünden (vgl. ebd. 42). Verführung Jugendlicher: Die Nationalsozialisten waren der Auffassung, dass Homosexuelle männliche Jugendliche verführen und deshalb eine Gefahr darstellen würden. Nationalsozialistische Homosexuellenforschung sah die Homosexualität als erworben an. Demnach war die menschliche Sexualität von hetero und homosexuellen Richtungen geprägt. Beim ersten gleichgeschlechtlichen Sexualkontakt könnten die homosexuellen Triebkomponenten des Jugendlichen geweckt und angefacht werden, und dies könnte den Jugendlichen lebenslang an die homosexuelle Triebrichtung binden. In dieser Hinsicht wurde Homosexualität als ansteckend betrachtet (vgl. ebd.). Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit: Die Nationalsozialisten sahen Homosexuelle als abnorm, krank und gefährlich an. Die gleichgeschlechtliche Sexualbeziehung würde das gesunde Sittlichkeitsgefühl der Mehrheit des Volkes verletzten. Durch Homosexualität entstünde die Gefahr der „sittlichen und haltungsmäßigen Zersetzung der völkischen Gemeinschaften und ihrer Zentrale“. Eine der Aufgaben des nationalsozialistischen Staates war es, das Volk durch die Strafverfolgung homosexueller Handlungen vor solchen Gefahren zu schützen (vgl. ebd. 43). Zur Bekämpfung der Homosexualität trafen die Nationalsozialisten folgende Maßnahmen, die auch zum Tod zahlreicher Homosexueller führten: •
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Mit einer Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Jahre 1935 wurden die verurteilten Homosexuellen gezwungen, sich freiwillig kastrieren zu lassen. Mit der freiwilligen Kastration wurde ihnen die Möglichkeit geboten, der Strafhaft und dem Konzentrationslager zu entgehen (vgl. Bülow 2000: 183). 1942 wurde die Zwangskastration legalisiert. 1935 wurde §175 des Reichsstrafgesetzbuches verschärft; damit wurde die Homosexualität total kriminalisiert (vgl. ebd.). Um die beiden Volksseuchen Homosexualität und Abtreibung wirksamer zu bekämpfen, wurde 1936 von Heinrich Himmler eine entsprechende Reichszentrale eingerichtet. 1940 befahl Himmler, die Männer, die nach §175 verurteilt waren, in Konzentrationslager zu deportieren, weil sie mehr als einen Partner verführten (vgl. ebd.). 1941 ordnete Hitler die Todesstrafe für homosexuelle Betätigung unter Angehörigen der SS und der Polizei an. Ziel dieser Anordnung war die Reinhaltung von SS und Polizei (vgl. ebd.).
D IE G ESCHICHTE DER HOMOSEXUELLEN B EWEGUNG
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1943 wurden Richtlinien für die Behandlung von Strafsachen wegen widernatürlicher Unzucht erlassen. Demnach sollte die Todesstrafe in besonders schweren Fällen verhängt werden (vgl. ebd.). 1944 wurde einem dänischen SS-Arzt – Carl Vaernet – erlaubt, im Konzentrationslager Buchenwald medizinische Experimente an Homosexuellen durchzuführen (vgl. ebd. 120).
Mit dem Kriegsende am 8. Mai 1945 kam es zur Befreiung der Häftlinge der Konzentrationslager. Die Verschärfung des §175 wurde dennoch nicht aufgehoben. Die befreiten Homosexuellen wurden zur Verbüßung ihrer Reststrafe in den normalen Strafvollzug überstellt. Die Bundesrepublik Deutschland übernahm die Nazifassung des §175, der in dieser Form bis 1969 in Kraft blieb (vgl. ebd.).
3.2 D IE H OMOSEXUELLE B EWEGUNG IN DER Z EIT VON 1969 BIS 1994
DER
BRD
Der § 175, der durch die Nationalsozialisten verschärft wurde und die mannmännliche sexuelle Handlung unter Strafe stellte, war bis 1969 in der BRD gültig. Am 01. September 1969 wurde der § 175 liberalisiert bzw. entschärft. So wurde schwule Sexualität toleriert, soweit die Beteiligten das 21. Lebensjahr vollendet hatten. Mit der allgemeinen Absenkung der Volljährigkeitsgrenze sank die Altersgrenze dann auf 18 Jahre. Ab 1969 wurde es also zum ersten Mal einer großen Gruppe schwuler Männer ermöglicht, dass sie ihr homosexuelles Begehren ohne andauernde Strafdrohung ausleben konnten (vgl. Haunss 2004: 191). Durch diese Reform gewann die homosexuelle Bewegung nach der Weimarer Republik wieder an Stärke. Die Entstehung der zweiten Schwulenbewegung hängt zum einen mit der Liberalisierung des § 175 und zum anderen mit der 1968er Bewegung zusammen. Hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen der 1968er und der zweiten Schwulenbewegung stellt sich ein Ereignis in der New Yorker Kneipe Stonewall Inn in der Christopher Street als Wendepunkt in der homosexuellen Emanzipationsbewegung dar (vgl. ebd.). In der Nacht vom 27. Juni auf den 28. Juni 1969 versammelten sich zum ersten Mal Schwule und Lesben, um gegen die alltäglichen Repressionen, Polizeiübergriffe und willkürlichen Personenkontrollen zu protestieren. Nach wiederholten Polizeirazzien wehrten sich Homosexuelle in der Christopher Street in tagelangen Straßenschlachten gegen die Polizisten. Während der Auseinandersetzung wurden 13 Personen festgenommen und mehrere verletzt. Anlässlich dieser Ereignisse traf sich am 15. Juli 1969 eine Gruppe von Lesben und Schwulen, die die Repressionen kollektiv erfuhren. Aus diesem Treffen ergab sich die erste öffentlich auftretende lesbisch-schwule Gruppe, die auch die erste lesbisch-schwule Demonstration der Geschichte veranstaltete (vgl. ebd. 192). Mittlerweile wird die-
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ses Ereignis jährlich international zum Anlaß genommen, mit Straßenumzügen für die Rechte von Homosexuellen zu demonstrieren. Das Ereignis des Aufstandes der Homosexuellen in der New Yorker Christopher Street regte die zweite deutsche Schwulenbewegung an, die sich für die Abschaffung des §175 einsetzte. Der § 175, der jeglichen sexuellen Kontakt zwischen Männern unter Strafe stellte, also Homosexuelle diskriminierte, wurde ab September 1969 mit der oben erwähnten Einführung der Altersgrenze von 21 Jahren liberalisiert, und nach dieser Änderung des Paragraphen war nur noch der Sex mit Minderjährigen strafbar (vgl. ebd.). Infolge der Liberalisierung des § 175 kam es in den siebziger Jahren zu einer relativ offenen Atmosphäre in der homosexuellen Szene. Es wurden mehrere Organisationen, Bars, Kneipen, Zeitschriften etc. gegründet. In Westberlin wurden die Homosexuelle Aktion Westberlin (HAW) und die Allgemeine Homosexuelle Arbeitsgemeinschaft (AHA) gegründet. Diese Gruppen engagierten sich in den Organisationen der politischen Linken (vgl.Gammerl 2010:10). In Hamburg wurde 1970 die ehemalige größte Gruppe Internationale Homophile Weltorganisation (IHWO) und 1974 in München der Verein für sexuelle Gleichberechtigung (VSG) gegründet (vgl. Haunss 2004: 194). Ziel all dieser Organisationen war die Bekämpfung der Homophobie und der damit verbundenen Stigmata, Ausgrenzungen und Benachteiligungen. Ein wichtiger Beitrag der Schwulenbewegung der siebziger Jahre war die An/Übernahme des Schimpfwortes schwul bzw. die Politisierung der Homosexualität – insbesondere der männlichen Homosexualität durch die positive politische Umdeutung dieses Schimpfwortes (vgl. ebd.). Im Jahr 1979 wurde in der BRD zum ersten Mal die Demonstration Christopher Street Day organisiert, um an den Stonewall zu erinnern (vgl. Bruns 2009). Trotz dieser positiven Entwicklungen kann man nicht behaupten, dass Homosexuelle damals einen unbegrenzt freien Handlungsraum hatten. Aufgrund des Vorwurfes der Unsittlichkeit befanden sich Lesben und Schwule immer noch in einer schwierigen Situation (vgl. ebd.). Ein offenes Zusammenleben als Paar fand in der Gesellschaft immer noch keine Akzeptanz, und das Coming-out bedeutete weiterhin eine existentielle Gefahr für Homosexuelle. Die Aktionen der oben genannten und vieler anderer Organisationen wurden stark behindert sowie Infostände von Schwulen mit der Begründung verboten, dass das Informationsmaterial die Jugend gefährden könne (vgl. ebd.). Die Homosexuellenbewegung der achtziger Jahre ist in der BRD durch den Institutionalisierungsversuch gekennzeichnet. Einerseits erhöhte sich die Anzahl lesbischer und schwuler Organisationen, und ihre Arbeit in der Gesellschaft wurde intensiviert. Außerhalb der bereits vorhandenen Schwulengruppen begannen immer mehr Schüler- und Jugendgruppen, sich sozialpolitisch zu organisieren. Sie gründeten Coming-outs- und neue Freizeitgruppen, veröffentlichten Zeitschriften (vgl. ebd.). Andererseits fand die Schwulenbewegung parallel zur Gründung der Partei
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Die Grünen 1980 ihre erste parlamentarische Unterstützung. Auch damals setzten sich die Grünen für die Rechte der Schwulen und Lesben ein und stellten zum ersten Mal in der Geschichte der BRD bei Landtags- und Bundestagswahlen offen schwule und lesbische Kandidaten auf (vgl. ebd.). Dieses antidiskriminierungspolitische Engagement darf jedoch nicht den Eindruck erwecken, dass gleichgeschlechtliche Lebensweisen ohne weiteres Akzeptanz und Anerkennung im Bundestag gefunden hätten. Als Mitte der achtziger Jahre Herbert Rusche als erster offen schwuler Bundestagsabgeordneter über die Liste der Grünen in den Bundestag einzog, weigerte sich damals ein Teil der beim Fahrdienst des Bundestages beschäftigten Fahrer, Rusche zu befördern, und einige Abgeordnete bestanden darauf, nicht mit Rusche in einem Auto fahren zu müssen (vgl. ebd.). Mitte der 80er Jahre legte Rusche und seine Fraktion der Grünen im Bundestag einen Gesetzentwurf vor, der die Abschaffung der §175 und §182 vorschlug (vgl. ebd. 201). Dieser Gesetzentwurf, der u.a. auf die Aufhebung der Ungleichbehandlung abzielte, wurde sowohl von der damaligen Regierungskoalition aus CDU und FDP als auch von der SPD abgelehnt. Dadurch blieb der §175 weiter bestehen (vgl. ebd.). Im Laufe dieser negativen Entwicklungen war die Schwulenbewegung Mitte der achtziger Jahre dann auch noch davon bedroht, massiv an Stärke zu verlieren, da die öffentlichen Debatten die schwulen Männer für die Ursachen und Folgen von AIDS verantwortlich machten. So wurden homosexuelle Männer mit diesen öffentlichen Diskussionen als unsittlich stigmatisiert (vgl. Bruns 2009), und der öffentliche Druck auf sie stieg enorm. Seitens des CSU-Politikers Peter Gauweiler kam es zu der extremen Forderung, dass alle HIV-infizierten Homosexuellen interniert werden sollten, was auch Ängste vor kollektiver Diskriminierung hervorrief (vgl. Gammerl 2010: 9). Die Provokationen und die Propaganda von Politiker_innen gegen Homosexuelle trugen dazu bei, dass die antihomosexuelle Diskriminierung im Zeitalter von AIDS wieder an Stärke gewann. Der damalige Kulturminister des Freistaates Bayern sagte beispielsweise, Homosexualität sei contra naturam […], nicht nur contra deum […] also naturwidrig“ und weiter: „Dieser Rand muß dünner gemacht werden, er muß ausgedünnt werden. (Sigusch 2010: 6) In dieser Zeit sprachen sowohl religiöse als auch weniger religiöse Publizisten, Mediziner_innen und Politiker_innen von AIDS als Schwulenkrankheit, Strafe Gottes für die Sünde Homosexualität, Quittung für wildes Treiben etc. (LSVD 2009). Trotz solcher diffamierenden antihomosexuellen Publikationen und Propaganda engagierten sich schwule Männer und schwule Gruppen gegen AIDS. Sie gründeten Selbsthilfevereine und -organisationen, wie z.B. die Deutsche AIDS-Hilfe, und führten Kampagnen für die AIDS-Betroffenen durch (vgl. Gammerl 2010: 10). Aufgrund einer starken Regionalisierung und organisatorischen Auflösung der vorhandenen Gruppen sowie mangelnder Vertretung schwuler Interessen durch die politischen Parteien war die Schwulenbewegung bedroht. Das Auftreten von AIDS
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und die Reaktionen von Politik, Gesellschaft und Massenmedien beeinflussten die Bewegung negativ (vgl. Glas 1993). Ab Ende der achtziger Jahre ist die schwule Bewegung wieder durch eine verstärkte Institutionalisierung geprägt. Von dieser Zeit an gewann die Bekämpfung von AIDS sowohl seitens des Staates als auch der Schwulenbewegung immer mehr an Bedeutung, so dass der Staat und Nicht-Regierungsorganisationen die Initiative ergriffen, um der Schwulenbewegung Gelder für AIDS-Präventionskonzepte zur Verfügung zu stellen. Parallel dazu fand die Schwulenbewegung politische Unterstützung bei der Rot-Grünen Berliner Koalition, die zur Institutionalisierung der Bewegung einen wesentlichen Beitrag geleistet hat (Dobler/Rimmele 2007: 544f). Durch diese sozialen und politischen Entwicklungen sowie durch ihren Kampf gegen AIDS konnte die Schwulenbewegung in der BRD eine gewisse Aufmerksamkeit und Akzeptanz finden, so dass das Bundesverfassungsgericht das Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Paare als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit anerkannt hat (Reisaus 2003: 28ff.). Nach dem Mauerfall und der darauf folgenden Vereinigung beider deutschen Staaten bekam die Homosexuellenbewegung neue Facetten, die sich in sozialen, politischen und juristischen Wandlungen und Veränderungen manifestieren. Der Zeitraum zwischen 1989 und 1994 ist für die Schwulen- und Lesbenbewegung auf der gesellschaftlichen, politischen und juristischen Ebene durch einen Wandel gekennzeichnet. Mit dem Ablauf der Frist für die Angleichung des alten DDR-Rechts an das Recht der BRD befand sich die Bundesrepublik in einem Entscheidungsprozess, ob der seit über 10 Jahren vorhandene §175 weiterhin in Kraft bleiben oder völlig abgeschafft werden sollte. 1994 beschloss dann der Deutsche Bundestag, den §175 zugunsten der Homosexuellen aus dem Strafgesetzbuch zu streichen (vgl. Steinke 2005: 63). Im Zuge der Abschaffung des §175 wurde auch das absolute Schutzalter für sexuelle Handlungen, wie zum Beispiel Geschlechtsverkehr mit Jugendlichen, einheitlich auf 14 Jahre festgelegt (§176) (vgl. Weidner 2007). Parallel zur Abschaffung des Paragraphen und der Verbesserung der sozialen Lage der Homosexuellen setzten sich die Aktivist_innen der Homosexuellenbewegung z.B. Volker Beck und Martin Bruns für die Einführung der Homo-Ehe ein. Der Kampf um die Homo-Ehe geht jedoch bis auf das Ende der achtziger Jahre zurück (vgl. Gerald 2010). Reformistische Aktivist_innen des Bundesverbandes Homosexualität e.V. stellten erstmals die Forderung an Politiker_innen, die HomoEhe einzuführen. Diese Forderung der Reformer_innen fand im Bundesverband Homosexualität e.V. jedoch keine Beachtung (vgl. ebd.). Nach diesem Scheitern im Bundesverband Homosexualität e.V. traten die Reformer_innen dem Schwulen Verband Deutschland (SVD) bei, der während der DDR-Zeit in Leipzig gegründet wurde und sich als Teil der Bürgerrechtsbewegung der DDR verstand (vgl. Bruns 2009). Im Jahr 1992 begann diese Organisation, die Diskussionen um die Homo-
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Ehe in die Öffentlichkeit zu tragen und startete eine Demonstration zur Umsetzung. Die Forderung nach der Homo-Ehe beinhaltete folgende Argumente: Durch sie sei es möglich, die Diskriminierung abzubauen, die rechtliche Situation der Lesben und Schwulen abzusichern, die gesetzliche Anerkennung und Integration der Homosexuellen und die Gleichstellung mit heterosexuellen Paaren zu gewährleisten (vgl. Frank 1997). Zu diesem Zweck versammelten sich rund 250 Lesben und Schwulenpaare bei den Standesämtern und versuchten, die beabsichtigte Homo-Ehe öffentlich bekannt zu machen. Diese Aktion von Lesben und Schwulenpaaren wird in der jüngeren Geschichte der Homosexuellenbewegung als Aktion Standesamt bezeichnet (vgl. ebd.). Die Lesben- und Schwulenbewegung der neunziger Jahre und die damit verbundene Aktion Standesamt erreichten historische Erfolge, die für die Bekämpfung struktureller bzw. institutioneller homophober Diskriminierung in Deutschland von großer Bedeutung sind. Nach der Aktion Standesamt mit 250 gleichgeschlechtlichen Paaren fand die Aktion zum einen in den Medien eine große Resonanz, so dass die Lesben und Schwulen in der Gesellschaft eine beachtliche Aufmerksamkeit erregt und gefunden haben (vgl. ebd.). Zum anderen war diese Aktion für die Annäherung der Lesben und Schwulenbewegung von Relevanz, denn sie arbeiteten bis in die neunziger Jahre unabhängig voneinander. Mit der Aktion Standesamt gelang es den Lesben und Schwulen, sich zusammen zu schließen (vgl. Dobler/Rimmele 2007: 544f.). Obwohl die Forderung nach der Homo-Ehe 1993 vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt wurde, stellte man fest, dass homosexuelle Paare diskriminiert werden. Um diese Benachteiligung zu beseitigen, wurde der Gesetzgeber aufgefordert, ein Rechtsinstitut neben der Ehe zu schaffen (vgl. Gerald 2010). Trotz dieser positiven Entwicklungen verursachte das Thema der Homo-Ehe auch die gegensätzlichen Diskussionen in der schwul-lesbischen Community. Während ein Teil der Community sich für die Umsetzung der Homo-Ehe aussprach, hatte sich ein anderer Teil gegen dieses Konzept positioniert (vgl. Weidner 2007). Im Folgenden skizziere ich die Positionen für und gegen die Homo-Ehe. Aus Sicht der Gegner_innen sei das Konzept der Ehe schon längst überholt. Ihrer Meinung nach sei es kontraproduktiv, die Ausweitung auf Lesben und Schwule statt deren Abschaffung zu fordern. Die Ehe sei das Instrument des Patriarchats, die Frau zu unterdrücken, daher sei es gefährlich, ähnliche Strukturen und Abhängigkeitsverhältnisse auch bei lesbischen und schwulen Lebensgemeinschaften zu schaffen (vgl. ebd.). Im Gegensatz dazu waren die Befürworter der Homo-Ehe zwar auch der Meinung, dass die Ehe reformbedürftig sei, jedoch vertraten sie die These, dass die Reform der Ehe noch lange dauern werde und dass man nicht so lange auf die Durchsetzung der Gleichberechtigung warten wolle. Lesben und Schwulen solle man die Möglichkeit geben, sich genauso wie Heterosexuelle frei entscheiden zu können, ob
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sie mit hoher Verbindlichkeit in der Ehe oder weniger verbindlich in nicht-ehelicher Lebensgemeinschaft zusammenleben wollen (vgl. Gerald 2007/Weidner 2007). Im Zuge der Debatten um die Homo-Ehe innerhalb und außerhalb der schwullesbischen Community erzielte man in den neunziger Jahren der BRD weitere Fortschritte, die in der Emanzipationsbewegung der Homosexuellen von historischer Bedeutung sind: •
• •
•
1992 Streichung der Homosexualität aus der internationalen Liste für Krankheiten. Dieses internationale Ereignis hatte auch einen Einfluss auf die Homosexuellenpolitik der BRD (vgl. ebd.). 1994 wurde der § 175 abgeschafft. Somit war (männliche) Homosexualität nicht mehr strafbar (vgl. Dietrich 2001, Gerald 2010, Weidner 2007). 1995 hatte die Bundestagsfraktion der Grünen einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, der eine Ergänzung des § 1353 BGB vorsah. Damit wäre klargestellt worden, dass auch gleichgeschlechtliche Personen eine Ehe eingehen können, und daraus hätten sich alle anderen für Ehepaare üblichen Rechtsfolgen ergeben. Dies war aufgrund der politischen Machtverhältnisse nicht durchsetzbar (Dietrich 2001: 2) 1997 in Hamburg beschloss die Rot-Grüne Koalition, dass sich homosexuelle Paare kommunal registrieren lassen können (vgl. Gerald 2010/Weidner 2007).
3.3 G EGENWÄRTIGE S ITUATION VON H OMOSEXUELLEN DAS L EBENSPARTNERSCHAFTSGESETZ
UND
Bis zum Jahrtausendwechsel war die Situation der Homosexuellen sowie homosexueller Paare in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern immer noch von gesellschaftlichen und juristischen Benachteiligungen geprägt. Die bisher eingeführten Reformen wiesen immer noch Defizite auf bei der Gleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen. Während Dänemark 1989 und 1993 Norwegen, Schweden, Grönland, Ungarn sowie Island ein Gesetz zur Eintragung gleichgeschlechtlicher Paare verabschiedeten, in Frankreich der zivile Solidaritätspakt entstand und die Niederlande die Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften inklusive des Adoptionsrechtes geöffnet hatten, lebten gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland dagegen mit gravierenden rechtlichen Benachteiligungen (vgl. Dietrich 2001: 3). Um diese juristischen Defizite aufzudecken und die Gesellschaft darüber aufklären zu können, waren vor allem die Grünen in der BRD engagiert, die auch in den Jahren zuvor versucht hatten, das Lebenspartnerschaftsgesetz in Kraft setzen zu lassen. Auf deren Initiative forderte das Europäische Parlament die BRD auf, die Diskriminierungen gleichgeschlechtlicher Paare rechtlich sowie gesellschaftlich zu
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beseitigen (Dietrich 2001: 3). Da die Unionsparteien sich gegen das eingetragene Lebenspartnerschaftsgesetz sowie gegen das Konzept der Homo-Ehe aussprachen, musste das Projekt Lebenspartnerschaft im Bundesrat in zwei Teile aufgeteilt werden (vgl. ebd.). Zum ersten Teil gehörte das Lebenspartnerschaftsgesetz, zum zweiten Teil das Ergänzungsgesetz. Während man zur Verabschiedung des Lebenspartnerschaftsgesetzes keiner Zustimmung im Bundesrat bedurfte, war diese für das Ergänzungsgesetz jedoch erforderlich (vgl. ebd.). Am 10. November 2000 wurde das Lebenspartnerschaftsgesetz für gleichgeschlechtliche Lebensweisen im Bundestag verabschiedet. Bei der Abstimmung im Bundesrat im Dezember 2000 wurde der zustimmungspflichtige Teil des Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetzes von der CDU-Ländermehrheit abgelehnt (vgl. Gerald 2010). Das von den Grünen entworfene Lebenspartnerschaftsgesetz enthielt folgende Regelungen, die auf die Gleichstellung der homosexuellen Paare abzielte (vgl. Dietrich 2001: 3f.): • • • • • • •
• • • •
Schaffung eines familienrechtlichen Instituts, behördliche Eintragung der Lebenspartnerschaft, Regelungen für den Fall der Trennung, Namensrecht wie bei Eheleuten, Regelungen zum Güterstand, Unterhaltsverpflichtung, kleines Sorgerecht für Kinder in der Partnerschaft, d.h. Lebenspartner erhalten die Befugnis zur Mitentscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens, verbesserte Sozialleistungen durch Erhöhung des Leistungssatzes beim Arbeitslosengeld und der Einbeziehung in das Bundeserziehungsgeld, wenn Kinder vorhanden sind, Angehörigenstatus und umfassende Zeugnisverweigerungs- und Auskunftsrechte, Schaffung von Verwandtschaftsverhältnissen (Schwiegereltern, Schwägerschaft), wichtige Rechtsfolgen im Mietrecht, d.h. der überlebende Lebenspartner darf in der Mietwohnung wohnen bleiben, gesetzliches Erbrecht wie bei Ehegatten, Einbeziehung der Lebenspartner in die Kranken- und Pflegeversicherung und Nachzugsrecht für den ausländischen Lebenspartner einschließlich Arbeitsgenehmigung.
Am 15. Februar 2001 konnte das Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften vom ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau unterzeichnet werden, worauf die Bayerische und Sächsische Staatsregierung negativ reagierten und einen Antrag auf Aussetzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes stellten. Am 18. Juli 2001 lehnte das Bundesverfassungsgericht diesen Antrag ab und setzte das Gesetz am 1. August 2001 in Kraft (vgl. Gerald 2010).
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Das Lebenspartnerschaftsgesetz von 2001 kann als wesentlicher Fortschritt in der deutschen Emanzipationsbewegung der Homosexuellen bezeichnet werden, dennoch konnte es immer noch keine Gleichstellung zwischen homosexuellen und heterosexuellen Paaren gewährleisten. Angesichts dieser Tatsache wurde das Gesetz im Jahr 2004 in den folgenden Bereichen ergänzt, und am 01. Januar 2005 traten diese Novellierungen in Kraft (vgl. Gerald 2010): • • •
• • •
•
Übertragung des Verlobtenstatus auch auf gleichgeschlechtliche Paare (Anwendung z.B. beim Recht auf Aussageverweigerung), Güterstand der Zugewinngemeinschaft wie bei der Ehe als Regelfall (d.h., wenn nicht anderweitige Vereinbarungen getroffen werden), Stiefkindadoption, wenn eine_r der gleichgeschlechtlichen Partner_innen leibliche Kinder mit in die Beziehung bringt (wie bei der Ehe auch hier nur bei Einwilligung des anderen leiblichen Elternteils), Unterhaltsrecht nach Trennung wie bei der Ehe, Hinterbliebenenversorgung in der gesetzlichen Rentenversicherung wie bei der Ehe. Im Laufe der Gleichstellung der homosexuellen Lebensweisen wurde 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) mit einem Antidiskriminierungsziel eingeführt (siehe Kapitel 2.1). Trotz der oben aufgezählten Verbesserungen des Gesetzes bestehen immer noch einige Ungleichbehandlungen im deutschen Recht (vgl. Steffens 2010: 15f.). Obwohl Artikel 3 des Grundgesetzes die Ungleichbehandlung aufgrund von Geschlecht, Herkunft und Abstammung, Sprache, Glaube und politischer Anschauung sowie Behinderung verbietet, fehlen hier immer noch sexuelle Orientierung oder sexuelle Identität.
Obwohl die rechtlichen Unterschiede zwischen den Lebenspartnerschaften und Ehen minimalisiert wurden, erfolgt bei homosexuellen Paaren im Vergleich zu heterosexuellen Paaren bezüglich des Adoptionsrechtes weiterhin eine Ungleichbehandlung (vgl. ebd.). Bei der Adoption ist nur die Stiefkindadoption des leiblichen Kindes des/der Partners/in zugelassen, dagegen nicht die Stiefkindadoption des adoptierten Kindes des/der Partners/in und demnach auch keine gemeinschaftliche Adoption (vgl. ebd.). Ein weiteres Defizit des Lebenspartnerschaftsgesetzes manifestiert sich in der Ungleichbehandlung im Steuerrecht. Lebenspartner und Lebenspartnerinnen werden beim Einkommensteuerrecht wie Ledige behandelt. Derzeit sind die Lebenspartner_innen von Ehegattensplitting ausgeschlossen (vgl. hib/HLE: 2010). Im Gegensatz zu kinderlosen Ehepaaren haben homosexuelle Paare mit Kindern keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung. Das heißt, kinderlose Eheleute werden vom
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Staat unterstützt, homosexuelle Paare mit Kindern können dagegen finanzielle Nachteile haben (vgl. Steffens 2010: 15). Der Europäische Gerichtshof fordert, gleichgeschlechtliche Lebenspaare in der Europäischen Union heterosexuellen Ehepaaren gleichzustellen. 2008 kritisierte die Europäische Union die BRD und forderte sie auf, die Lebenspartnerschaften mit Ehepaaren beamtenrechtlich gleichzustellen. Diese beamtenrechtliche Gleichstellung ist jedoch noch nicht vollzogen worden (vgl. ebd).
3.4 B INATIONALE
SCHWULE P ARTNERSCHAFTEN MIT ODER OHNE EINGETRAGENE L EBENSPARTNERSCHAFT
Mit der Verabschiedung des Lebenspartnerschaftsgesetzes am 1. August 2001 wurde homosexuellen Paaren ermöglicht, ihre Partnerschaft standesamtlich oder bei einem Notar (von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich) eintragen zu lassen. Der Erlass des Gesetzes war u.a. besonders für diejenigen schwul-lesbischen Paare von biographischer Relevanz, bei denen die Partner_innen unterschiedliche Staatsangehörigkeiten besitzen und daher auch einen unterschiedlichen Rechtsstatus haben. Bis zum Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzes stellten sich binationalen gleichgeschlechtlichen Paaren große bürokratische Hürden in den Weg, ihr Leben in Deutschland gemeinsam zu führen. Es war besonders für die ausländischen Partner_innen unmöglich, eine Aufenthaltserlaubnis zu erwerben, wenn sie aus Drittstaaten nach Deutschland kamen und in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebten. Aufgrund der Tatsache der Nichtanerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften mussten die Betroffenen unter massiven staatlichen und gesellschaftlichen Diskriminierungen leiden. Diese staatlichen Hürden hatten zwangsläufig die Trennung der Partnerschaften oder möglicherweise die Auswanderung des einheimischen Homosexuellen zur Folge. Mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz, das als Wendepunkt im Kampf um die Gleichberechtigung gilt, sind derartige Probleme teilweise beseitigt worden. Durch das LPartG erwerben binationale homosexuelle Paare folgende rechtliche Vorteile: •
• •
Das Problem des Aufenthaltsstatus des ausländischen Partners wird dem Status eines heterosexuellen Ausländers, der auch in einer binationalen Partnerschaft lebt, gleichgestellt. Durch diese Gleichstellung des ausländischen homosexuellen Partners wird auch die Arbeitserlaubnis in der BRD gesichert. Die Gründung einer binationalen Partnerschaft durch das LPartG begünstigt einen Ortswechsel und ermöglicht dem ausländischen Partner, sich von den möglichen Folgen der Diskriminierung in seinem Herkunftsort zu lösen.
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Hinsichtlich dieser Vorteile ist die Eintragung der Lebenspartnerschaft vor allen Dingen für die ausländischen Partner_innen von biographischer Bedeutung. Dennoch wird das Gesetz in der Praxis nicht immer konsequent umgesetzt, insbesondere wenn die ausländische Partner_innen aus einem Land kommen, das nicht zur Europäischen Union gehört. Die bürokratischen Hürden tauchen erst dann auf, wenn die Unterlagen aus dem Herkunftsland beigebracht werden sollen. Viele deutsche Standesämter_innen sind darüber informiert, dass eine eingetragene Lebenspartnerschaft für Lesben und Schwule nicht in jedem Staat anerkannt wird. Trotz dieser Kenntnisse bestehen sie darauf, dass die Antragssteller_innen (die ausländische Partner_innen) das Ehefähigkeitszeugnis aus dem Herkunftsland beibringen müssen. Bei der Beschaffung ausländischer Dokumente wie Geburtsurkunde, Ehefähigkeitszeugnis etc. müssen die ausländische Partner_innen meistens bürokratische Barrieren überwinden, die im Herkunftsland bzw. beim Konsulat bestehen, was wiederum lebensentscheidende Konsequenzen nach sich ziehen kann. Denn häufig wollen die offiziellen staatlichen Stellen der Herkunftsländer sehr genau wissen, zu welchem Zweck ein Ehefähigkeitszeugnis erstellt werden soll. In Staaten, in denen Homosexualität allgemein nicht akzeptiert wird und unter Strafe steht, ist es für die betroffenen ausländischen Partner_innen immer wieder mit sehr viel Überwindung verbunden, sich an die Behörden ihres alten Herkunftslandes zu wenden, um die notwendigen Unterlagen zu besorgen (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2006: 3). Gravierend ist hierbei, dass in den fortschrittlicheren westlichen Ländern die Sachbearbeiter_innen nicht immer über die erforderlichen Fachkenntnisse und Sensibilität gegenüber den nicht-deutschen Lesben und Schwulen verfügen. Insbesondere erschweren deutsche Behörden den Staatsangehörigen einiger afrikanischer und asiatischer Staaten die Möglichkeit, eine Lebenspartnerschaft in Deutschland zu begründen (vgl. ebd. 3). Die beizubringenden persönlichen Unterlagen aus diesen Staaten werden durch die deutschen Auslandsvertretungen generell nicht mehr amtlich beglaubigt (Echtheitsbestätigung). Diese Dokumente werden mithilfe von so genannten Vertrauensanwälten vor Ort (Geburtsort) anhand von Registern, aber auch durch Befragung von Verwandten, Nachbarn und Freund_innen überprüft, um die Echtheit der beigebrachten Unterlagen bestätigen zu lassen, was zwangsläufig zu Verletzungen der Intimsphäre, insbesondere zu Zwangsouting führen kann (vgl. ebd.). Ein weiteres Problem binationaler homosexueller Paare zeigt sich während und nach der Antragstellung der ausländischen Partner_innen auf eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch bei allen beteiligten Behörden, u.a bei der Ausländerbehörde, werden die ausländischen Partner_innen verdächtigt, nur zum aufenthaltsrechtlichen Zweck eine Lebenspartnerschaft mit einer/-m Deutschen einzugehen (vgl. ebd.). Dabei werden die Kompetenzen der deutschen Partner_innen bei der Partnerwahl bezweifelt bzw. in Frage gestellt. So kann es immer dazu kommen, dass das Paar durch die Initiative der Ausländerbe-
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hörde überwacht wird. Das Paar muss in diesem Fall stets bemüht sein, Nachweise über die Echtheit seiner gefestigten Beziehung zu erbringen (vgl. ebd.), denn die Behörden gehen davon aus, dass die Partnerschaft aufgelöst wird, wenn die ausländischen Partner_innen ihre Niederlassungserlaubnis bzw. eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erlangt haben. Diese Einstellung der Zuwanderungsbehörden ist darauf zurückzuführen, dass diese sich auf bestimmte Prognosen über die Häufigkeit von Scheinehen bzw. Scheinlebenspartnerschaften beziehen, wobei es bisher jedoch keine wissenschaftlichen Statistiken und Zahlen dazu gibt. Wenn Lesben oder Schwule aus Vorehen Kinder haben, wird das meistens als Indiz für die Existenz einer Scheinlebenspartnerschaft genannt. Die Behörden lassen zumeist außer Acht, dass die Coming-out-Phase von manchen Lesben und Schwulen erst in einem späteren Lebensabschnitt abgeschlossen werden kann. So kommt es immer wieder zu Gesetzesverschärfungen im Bereich des Ausländerrechtes (vgl. ebd.). Die Voraussetzungen der Einreise nach Deutschland aufgrund der Lebenspartnerschaft werden immer wieter erschwert: •
•
•
Der_die ausländische Partner_in muss schon vor der Einreise über einfache Deutschkenntnisse verfügen. Davon sind wieder die ausländischen Schwulen und Lesben aus den Drittstaaten betroffen. Die Staatsangehörigen der EU und der Industrieländer haben immer das Privileg der Freizügigkeit in Deutschland, und dafür müssen sie auch keine Deutschkenntnisse besitzen (vgl. Weidner 2009b). Der Lebensunterhalt der ausländischen Partner_innen muss gesichert sein. Wenn die Lebensunterhaltssicherung der ausländischen Partner_innen nicht nachgewiesen werden kann, haben sie keinen Rechtsanspruch auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis mehr, sondern sie können die Aufenthaltserlaubnis nur noch in der Regel beanspruchen (vgl. ebd.). Der Aufenthaltsstatus der ausländischen Partner_innen ist von der Dauer der Lebenspartnerschaft abhängig. Im Unterschied zu deutsch-deutschen Partnerschaften bedeuten bei binationalen Paaren partnerschaftliche Konflikte oder eine angedrohte Trennung häufig auch den angedrohten Verlust des Aufenthalts, was dem Verlust der gesamten inländischen Existenz gleichkommt. Dieses von Anfang an spürbare Ungleichgewicht der Partner_innen in einer binationalen Partnerschaft verursacht Schwierigkeiten miteinander bzw. existenzielle Abhängigkeiten der ausländischen Partner_innen von inländischen Partner_innen, woraus sich innerhalb der Beziehung ein Machtverhältnis ergeben kann (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2006: 4)
Trotz der skizzierten bürokratischen Schwierigkeiten, die mit rassistischen, homophoben bzw. heteronormativen sowie klassistischen Einstellungen der Behörden verbunden sind, zeigt sich im Allgemeinen Deutschland und im Besonderen Berlin
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als Zufluchtsort für viele homosexuelle Migrant_innen, die in ihren Herkunftsländern sowie -städten immer noch gesellschaftlichen und staatlichen Diskriminierungen ausgesetzt waren. Nach der Wiedervereinigung Ost- und Westdeutschlands ist Berlin eine Anlaufstelle für Asylsuchende geworden. Unter diesen Asylsuchenden sind auch viele Homosexuelle, die in ihrem Herkunftsland diskriminiert werden. Das am 1. August 2001 eingeführte Lebenspartnerschaftsgesetz (LPartG) für gleichgeschlechtliche Paare wirkt sich somit auch auf die binationalen homosexuellen Partnerschaften aus. Innerhalb eines Jahres nach der Verabschiedung des LPartG sind mehr als 500 binationale homosexuelle Paare eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen (vgl. Correll 2002). Die Zahl der eingetragenen binationalen homosexuellen Paare steigt stetig. Als Grund für diese Zunahme lässt sich der labile aufenthaltsrechtliche Status der ausländischen Partner_innen nennen. Denn die Instabilität des Aufenthaltsstatus stellt sich als Bedrohung der Partnerschaft dar, so dass sich Paare gezwungen fühlen können, diesen bürokratischen Weg zu gehen, um in erster Linie ihre Partnerschaft aufrechterhalten zu können. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu erwähnen, dass es andere binationale Paare gibt, die nicht auf das LPartG angewiesen sind und ihre Partnerschaft durchaus weiter führen können, z.B. ein Franzose und ein Deutscher. Die Binationalität dieser Paare bezieht sich also nicht primär auf die Staatsangehörigkeit des ausländischen Partners, sondern auf dessen so genannten Migrationshintergrund und Staatsangehörigkeit. Diese Bezeichnung ist wiederum mit den in dieser Arbeit aufgegriffenen Rassismen bzw. „Rassenverhältnissen“ eng verbunden.
4. Methodisches Vorgehen
4.1 Z UR D ATENERHEBUNG 4.1.1 Das biographisch-narrative Interview Anhand des biographisch-narrativen Interviews werden schwule Männer, die in einer binationalen Partnerschaft leben, zu ihren Lebenserfahrungen und Verarbeitungsstrategien mit Mehrfachdiskriminierungen befragt. Das biographisch-narrative Interview stellt eine der am häufigsten eingesetzten Methoden qualitativer Datengewinnung dar. Dabei stütze ich mich auf frühe Erkenntnisse von Fritz Schütze, der u.a. als einer der Begründer_innen des biographisch-narrativen Interviews gilt, zugleich aber auch auf Rosenthal und Fischer Rosenthal. Im Unterschied zu standardisierten und teilstandardisierten Interviewverfahren ist das biographisch-narrative Interview eine offene Interviewmethode. Die Technik besteht dementsprechend darin, den Interviewpartner nicht mit vorformulierten Fragen zu konfrontieren, sondern zum freien Erzählen anzuregen. Das biographisch-narrative Interview folgt nicht einem vorstrukturierten Frage-AntwortSchema, sondern stützt sich auf die durch eine Einstiegsfrage hervorgebrachte selbststrukturierte Erzählung der Lebensgeschichte des Interviewpartners. Die Einstiegsfrage wird dabei als Erzählaufforderung formuliert. Die Besonderheit des biographisch-narrativen Interviews liegt darin, dass sich die Erzählung nach den Relevanzkriterien des Interviewpartners strukturiert, was durch die Offenheit der Fragestellung erzielt wird. Dieses verlangt vom Interviewer eine Bereitschaft zum aufmerksamen und aktiven Zuhören und Verstehen Wollen und setzt voraus, sich bei der Erzählung des Interviewten zurückzuhalten. In meiner Studie wird dem Interviewpartner durch eine offene Einstiegsfrage überlassen, die erlebten Diskriminierungen und den Entscheidungsprozess für eine binationale Lebenspartnerschaft vor dem Hintergrund der gesamten Lebensgeschichte ausführlich darzustellen. Der Interviewsituation innewohnende Faktoren wie beispielsweise Geschlecht bzw. sexuelle Orientierung, Alter, Beziehungsstatus,
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Sprachkenntnisse und sozialer Status des Interviewers beeinflussen die biographische Erzählung des Interviewten. Der Interviewpartner kann in seinem Erzählverhalten auf einige oder alle dieser Faktoren bewusst oder unbewusst reagieren und bestimmte Erwartungen des Interviewers vorwegnehmen. Auf die Interviewführung wird im Abschnitt 4.1.4 ausführlicher eingegangen. Das narrative Interview besteht in seinem Vorgehen aus drei zentralen Phasen (vgl. Schütze 1983: 285): Es beinhaltet die Eingangserzählung sowie den immanenten und den exmanenten Nachfrageteil (vgl. Brüsemeister 2000: 127). Die erste Phase des Interviews wird durch eine biographisch orientierte erzählauffordernde Einstiegsfrage eingeleitet. Diese Einstiegsfrage bezieht sich entweder auf die gesamte Lebensgeschichte oder sozialwissenschaftlich besonders interessante Phasen der Lebensgeschichte, kann aber auch ein bestimmtes biographisches Ereignis ansprechen (vgl. Schütze 1983: 285). In meiner Studie richtet sich die Einstiegsfrage auf die gesamte Lebensgeschichte der ausländischen und deutschen schwulen Männer. So verwende ich folgende Erzählaufforderung als Einstiegsfrage der Interviews: „Ich interessiere mich für die Lebensgeschichte der ausländischen/deutschen schwulen Männer, die in einer binationalen Partnerschaft leben. Du kannst zum Beispiel mit deiner Kindheit anfangen, wo, wann du geboren bist. Du kannst ausführlich werden, wir haben Zeit. Während deiner Erzählung werde ich dich nicht unterbrechen und mache mir ein paar Stichpunkte, damit ich nachfragen kann, wenn ich etwas nicht verstanden habe und noch etwas erfahren möchte. Aber du kannst jetzt ruhig anfangen zu erzählen.“
Die Fokussierung der gesamten Lebensgeschichte zielt darauf ab, detaillierte Informationen darüber zu erhalten, ob die befragte Person ihr Coming-out bereits abgeschlossen hat oder sich immer noch in dieser Phase befindet, welche Bewältigungsmöglichkeiten vorhanden sind und wie es zu einem Aufenthalt in Berlin sowie zu einer binationalen Partnerschaft kam. Damit werden sowohl das biographische Ereignis der Partnerschaft als auch bestimmte Diskriminierungserfahrungen in eine Abfolge von lebensgeschichtlich aufeinanderfolgenden Ereignissen und Erfahrungen eingebettet und können dementsprechend interpretiert werden. In meiner Erzählaufforderung habe ich auf Begriffe wie beispielsweise Diskriminierung, Szene und Mehrheitsgesellschaft verzichtet, denn der Interviewpartner würde seine Biographie so erzählen, wie er gerne von anderen (z.B. vom Interviewer) gesehen werden will (vgl. Bruder 2003: 9). Durch meine Einstiegsfrage fordere ich den Interviewpartner auf, alles zu sagen, was ihm bezüglich der Einstiegsfrage durch den Kopf geht. (Ebd. 10) Auch wenn ich den Interviewpartner zu seiner gesamten Lebensgeschichte interviewe, wird nicht seine ganze Lebensgeschichte interpretiert, sondern lediglich die für meine Forschung relevanten Abschnitte seines Lebens. Es geht mir um das
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Verhältnis zwischen der diskriminierenden heteronormativen Mehrheitsgesellschaft und den diskriminierten schwulen Männern aus der Sicht des Erzählers. Es scheint mir wichtig herauszufinden, wie der (ausländische) schwule Mann die heteronormative Mehrheitsgesellschaft und deren Diskriminierungen wahrnimmt, betrachtet und definiert sowie wie er selbst sich positioniert. Im zweiten Schritt des narrativen Interviews kommt es zu erzählgenerierten bzw. internen (immanenten) Nachfragen. Anhand der während der Erzählphase gemachten Stichpunkte werden Nachfragen gestellt, die sich direkt auf die soeben abgeschlossene Erzählung beziehen. Hierbei handelt es sich einerseits um Verständnisfragen oder aber um Fragen, die sich auf Lebensbereiche beziehen, deren Bedeutungen noch unklar geblieben sind oder unerwähnt blieben. Wichtig ist dabei, dass diese immanenten Fragen so gestellt werden, dass sie den Erzählenden zu weiteren Erzählungen ermuntern. In diesem Teil des narrativen Interviews darf der Interviewer keine Warum-Fragen stellen; diese würden anstelle von biographischen Erzählungen Argumentationen und Rechtfertigungen provozieren. Die Hauptaufgabe des Forschers liegt darin, die Narration aufrechtzuerhalten.Immanente Fragen werden wie folgt formuliert: Wie ging es weiter? Wie kam es dazu, dass? Können Sie dazu noch mehr sagen? In einem dritten Schritt des narrativen Interviews werden sogenannte externe (exmanente) Nachfragen gestellt. Hier werden Bereiche angesprochen, die für die Forschungsfrage über das bereits Erzählte hinaus von Relevanz sind und im bisherigen Interviewverlauf noch nicht beantwortet wurden. Wenn z.B. der Interviewpartner nicht von seinen Diskriminierungserfahrungen oder seiner Partnerschaft erzählt hat, dann kann der Interviewer zu diesen Themen Fragen stellen. Abgeschlossen wird mit der Frage, ob es weitere bisher nicht angebrachte Punkte gibt, die den Gesprächspartnern erzählenswert erscheinen. 4.1.2 Prinzipien zur Interviewführung Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sind die biographischen Erzähltexte, die aus den narrativen Interviews hervorgehen. Ein biographisch-narratives Interview setzt voraus, dass eine Interaktion zwischen dem Interviewer und dem Interviewpartner stattfindet (vgl. Hermanns 2000: 360). Nach Hermanns besteht die Aufgabe des Interviewers darin, dem Interviewpartner die Rede zu übergeben, ohne thematische Interventionen durch den Interviewer zuzulassen (vgl. Hermanns 1992: 120). Des Weiteren soll der Interviewer den Interviewpartner auch schon im Vorfeld des Treffens über Ziel und Bedeutung des Interviews informieren. Es ist zum Beispiel mit
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dem Interviewpartner zu klären, dass das Interview mittels eines Diktiergerätes aufgenommen werden wird. Der Interviewpartner soll ferner von Vertraulichkeit und Anonymität überzeugt werden, damit er seine Geschichte ohne jegliche Zensur erzählen kann. Rosenthal zufolge lassen sich für die biographisch-narrative Interviewführung bestimmte Prinzipen formulieren (Rosenthal 1995: 187): Raum zur Gestaltentwicklung: Das Hauptinteresse des Forschers liegt darin, neue Erkenntnisse und theoretische Konzepte lebensgeschichtlicher Prozesse und Lebenserfahrungen in einem empirischen Feld zu gewinnen. Dabei stehen Subjektivität und Handlungszusammenhänge im Vordergrund. In dieser Hinsicht soll dem Interviewpartner Raum zur Gestaltentwicklung seiner Geschichte gegeben werden. In der Erzählphase des Interviews sollte der Interviewer die Interviewpartner nach Möglichkeit nicht unterbrechen, und erst im Anschluss an eine Nachfragephase weitere Fragen stellen, denn wie der Interviewte seine Präsentation gestaltet, worüber er erzählt, argumentiert oder was er auslässt, gibt uns Aufschluss über die Struktur seiner biographischen Selbstwahrnehmung und die Bedeutung seiner Lebenserfahrung. (Rosenthal/Rosenthal 1997: 143). Förderung von Erinnerungsprozessen: Bei der autonomen Erzählgestaltung des Interviewpartners gehört es zur Aufgabe des Interviewers, sich absolut zurückzuhalten. Jede detaillierte Frage kann den Erzählfluss des Interviewpartners stören. Bei Interviews, bei denen der Interviewpartner immer wieder von nachforschenden Fragen unterbrochen wird, zeigt sich, wie die Erzählsequenzen von Frage zu Frage kürzer werden (vgl. Rosenthal 1995: 195). Der Interviewpartner hat demzufolge bessere Möglichkeiten, seine Geschichte ohne Interventionen detailliert zu erzählen: Von Geschichte zu Geschichte werden die Erzählungen detaillierter, aus dem Gedächtnis des Erzählers tauchen mehr und mehr Einzelheiten und Erlebnisse auf. (Ebd.) Förderung der Verbalisierung heikler Themenbereiche: Die Verbalisierung heikler Themen setzt Offenheit, Vertrauen und aktives Zuhören voraus. Rosenthal zufolge wird Vertrauen neben der Offenheit der Interviewer hauptsächlich durch Zuhören-Können und damit verbunden dem Sich-Einlassen auf den Biographen hergestellt. (Ebd. 196) Eine gelungene Interaktion und entstandene Nähe zwischen dem Erzähler und Zuhörer fördern die Offenheit des Erzählers und ermöglichen die Verbalisierung heikler Themenbereiche. Eine zeitlich und thematisch offene Erzählaufforderung: Der Interviewer soll im Interview eine zeitlich und thematisch offene Erzählaufforderung geben. Durch die Offenheit der Erzählaufforderung ist es möglich, dass der Erzähler seine Geschichte oder persönliche Themen freiwillig zum Ausdruck bringt. Eine Erzählaufforderung ohne Themeneinschränkung ist für eine interpretative Analyse die konsequenteste Methode (ebd. 198). Aufmerksames und aktives Zuhören: Während der biographischen Erzählung soll der Interviewer den Erzähler durch sein aktives und aufmerksames Zuhören unterstützen, das sich in Form parasprachlicher Bekundungen wie hm oder Aha
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oder durch Mimik, Blickkontakt sowie Körperhaltung des Interviewers zeigt (ebd. 200). So signalisiert der Interviewer seine Akzeptanz und sein Verständnis gegenüber dem Erzähler und seinen Erlebnissen. So kann der Erzähler seine Lebensgeschichte im Vertrauen erzählen (ebd. 196). Im Falle von Stockungen in der biographischen Erzählung soll der Erzähler mit sensiblen und erzählgenerierenden Nachfragen zum Weitererzählen ermutigt werden. Sensible und erzählgenerierende Nachfragen: Diese Fragen beziehen sich auf das Zuhören in der Haupterzählung des biographisch-narrativen Interviews. Wenn der Erzähler während des Interviews seine Erzählung zu Ende bringt und dabei bestimmte für die Forschungsfrage relevante Themen unerwähnt lässt, muss der Interviewer mitmilfe der während der Erzählung notierten Stichpunkte sensible und erzählgenerierende Nachfragen entwickeln. Diese Nachfragen haben die Funktion, wietere auf das Forschungsthema eingehende Aussagen zu gewinnen (ebd. 202). Hilfestellung beim szenischen Erinnern: Diese Technik dient zur gemeinsamen Zusammensetzung der Geschichte(n) des Erzählers. Sollte der Erzähler sich nicht an bestimmte Erlebnisse erinnern, kann der Interviewer dabei helfen, den Erzähler in die damalige Situation zurückzuversetzen und ihn an einzelne Bestandteile zu erinnern (ebd. 207). 4.1.3 Die Auswahl des biographisch-narrativen Interviews Im Vergleich zu anderen qualitativen Methoden hat das biographisch-narrative Interview mehrere Vorteile, die für meine Forschung günstig sind. Die Interviewpartner können ihre Themen und Relevanzen bezüglich einzelner Erlebnisse oder Lebensaspekte frei wählen. Es wird ihnen die Möglichkeit eingeräumt, ihre subjektive Perspektive durch die Thematisierung ihrer alltäglichen Bewertungen und Deutungen darzustellen. Die Interviewpartner können ihre emotionale Beteiligung beispielsweise im Erklären, Begründen oder Rechtfertigen ausdrücken. Es ist anzunehmen, dass den Interviewpartnern das biographische Erzählen vertraut ist. Die Interviewpartner schildern geschichtliche und handlungsbezogene Ereignisse und Erfahrungen. Das narrative Interview ermöglicht die Selbstthematisierung. Es werden keine abstrakten Meinungen oder Einstellungen der Interviewten abgefragt, denn das Untersuchungsinteresse richtet sich gerade auf die Frage, wie die Befragten konkrete Lebenserfahrungen darstellen und diese begründen. 4.1.4 Auswahl der Interviewpartner Es gibt insgesamt vier relevante Kriterien für die Auswahl der Interviewpartner: •
Das erste relevante Kriterium bezieht sich darauf, dass die Interviewpartner in einer schwulen binationalen Partnerschaft leben. Es werden sowohl ausländi-
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•
•
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sche als auch deutsche Partner interviewt. Es werden keine Paarinterviews, sondern nur Einzelinterviews durchgeführt. Des Weiteren gibt es kein festes Kriterium für die Auswahl der Interviewpartner bezüglich ihrer Herkunft. Die Interviewpartner können sowohl aus deutschen Familien als auch aus Migrant_innenfamilien abstammen. Allerdings können die ausländischen Partner auch in ihrem Herkunftsland sozialisiert und dann nach Deutschland emigriert sein. Das spezifische Herkunftsland der Interviewpartner spielt keine besondere Rolle. Bei der Auswertung bzw. der Interpretation der Interviews bevorzuge ich dennoch solche, die mit Interviewpartnern geführt wurden, die über einen islamischen Hintergrund verfügen. Es ist für diese Studie wichtig, herauszufinden, in welcher Situation sich muslimische schwule Männer in der Mehrheitsgesellschaft befinden. Aufgrund der Debatten zu Islam, Migrant_innen und Homosexualität konzentriert sich diese Studie auf Mehrfachdiskriminierungen. Ein weiteres Kriterium für die Auswahl der Interviewpartner ist, dass beide Partner in Berlin leben. Ob beide Partner zusammen wohnen oder nicht, findet im Interview nicht in erster Linie Beachtung.
4.1.5 Die Durchführung der Interviews Arda Das Interview mit Arda habe ich auf seinen Wunsch in seinem Büro durchgeführt. Der Grund dafür war, dass er nicht die Zeit hatte, eigens für das Interview durch die Stadt zu fahren. Ein weiterer Grund für den Interviewort war, dass der Interviewpartner das Gespräch an einem relativ neutralen Ort führen wollte. Das Interview wurde im Dezember 2007 durchgeführt und hat insgesamt 53 Min. gedauert. Ali Im Anschluss an das Interview mit Arda habe ich mein zweites Interview mit Ali geführt. Das Gespräch mit Ali erfolgte am selben Tag und am gleichen Ort. Dieses Interview fand auf Initiative meines ersten Interviewpartners (Arda) statt, denn zur Zeit des ersten Interviews war auch Ali auf der Arbeitsstelle Ardas. Auf eine spontane Interviewanfrage reagierte Ali sehr interessiert und zeigte gleich seine Bereitschaft, mit mir in einem Raum der Arbeitsstelle Ardas das Interview zu führen. Dieses Gespräch wurde im Dezember 2007 durchgeführt und beträgt insgesamt 2 Stunden 43 Minuten.
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Can Dieser Interviewpartner wurde mir über einen Bekannten vermittelt. Auf Anfrage bezüglich eines Interviews reagierte Can gleichfalls offen, dennoch insistierte er auf Anonymität, die ich im Vorgespräch zusicherte. Auf seinen Wunsch hin wurde das Interview in meiner Wohnung durchgeführt. Der Grund dafür war, dass Can zur Zeit des Interviews keine eigene Wohnung besaß und abwechselnd bei seinem Partner und seiner Tante wohnte. Von einem öffentlichen Ort, wie einem Café oder ähnlichen Lokalen, hielt er nicht viel, weil er sich davor fürchtete, dass das Gespräch an einem öffentlichen Ort unterbrochen werden könnte. Das Gespräch mit Can wurde im Mai 2009 durchgeführt und hat insgesamt 1 Stunde 25 Minuten gedauert. Hamid Diesen Interviewpartner konnte ich durch einen Kollegen bei einem Forschungscolloquium bezüglich eines Interviews ansprechen. Nachdem ich ihn per Email kontaktiert und angesprochen hatte, erklärte er ebenfalls per Email seine Bereitschaft, sich von mir interviewen zu lassen. Auf seinen Wunsch hin erfolgte das Gespräch in meiner Wohnung. Da dem Interview weder ein telefonisches noch ein persönliches Gespräch voran ging, war es in diesem Fall notwendig, am Tag des Interviews ein kurzes gegenseitiges Vorstellungsgespräch durchzuführen. Dies war für den weiteren Verlauf des Gesprächs sehr produktiv, denn Hamid konnte dadurch eine gewisse Vertrautheit mir gegenüber gewinnen und seine Geschichte ohne Hemmungen erzählen. Dieses Interview wurde im Januar 2009 durchgeführt und beträgt insgesamt 1 Stunde 29 Minuten. Kai Das Interview mit Kai wurde durch eine studentische Hilfskraft meiner Doktormutter initiiert. Interessant bei diesem Interviewpartner ist, dass ich während des Vorgespräches feststellte, dass er zufällig der Lebenspartner meines ersten Interviewpartner – Arda ist. Dieses Gespräch wurde auf seinen Wunsch hin in seiner Wohnung, in der er mit Arda gemeinsam, lebt, durchgeführt. Das Interview fand in einer offenen Atmosphäre in seiner Küche statt. Während des Gesprächs bot er mir und der studentischen Hilfskraft Schwarzen Tee nach türkischer Art an. Diese Geste des Interviewpartners nahm ich als Signal wahr, dass er mir mitteilen wollte, dass er als deutscher Interviewpartner weiß, wie er seine türkeistämmigen Gäste, in diesem Falle mich als türkeistämmigen Interviewer, empfangen muss. Nach einer ausdrücklichen Bitte um Diskretion bzw. Anonymität des Gespräches begann er seine
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Lebensgeschichte außerordentlich offen zu erzählen. Das Interview hat insgesamt 1 Stunde 19 Minuten gedauert; es wurde im Mai 2009 durchgeführt. Frank Dieser Interviewpartner hat sich in einer Präsentation der vorliegenden Studie in einem Forschungsseminar freiwillig gemeldet, sich von mir interviewen zu lassen. Das Gespräch hat auf seinen Wunsch in meiner Wohnung stattgefunden und insgesamt 1 Stunde 26 Min. gedauert; es wurde im März 2010 durchgeführt. Alle Interviews wurden nach Absprache mit Interviewpartnern mit einem Diktiergerät aufgenommen. 4.1.6 Zugang zu den Interviewpartnern Im Rahmen meiner Studie wurden insgesamt zehn ausländische und fünf deutsche schwule Männer interviewt. Der Zugang zu den Interviewpartnern wurde mithilfe unterschiedlicher Methoden gesichert. Zu Beginn meiner Forschung habe ich einen informativen Brief verfasst, der die Aspekte meines Dissertationsvorhabens detailliert beschreibt. Diesen Brief reichte ich an mehrere schwul-lesbische Vereine bzw. Organisationen, an meine Freund_innen und Bekannten weiter, von denen ich glaubte, dass ich durch sie Kontakt zu ausländischen und deutschen schwulen Männern, die in einer binationalen Partnerschaft leben, herstellen könnte. Durch diesen Brief konnte ich vier Interviewpartner gewinnen. Der Verein Gays und Lesbians aus der Türkei (Gladt) hatte mir weitere drei Interviewpartner vermittelt. Die anderen Interviewpartner habe ich nach dem Schneeballsystem gefunden.
4.2 Z UR D ATENAUSWERTUNG 4.2.1 Die Datenaufbereitung und Transkription der narrativen Interviews Bei der Transkription der Interviews beziehe ich mich auf einen Aufsatz von Brüsemeister. Die Transkription eines narrativen Interviews richtet sich nach der Forschungsfrage (vgl. Brüsemeister 2000: 163). Voraussetzung für die Transkription ist eine vollständige Aufnahme des Interviews mit einem Diktiergerät oder Tonbandgerät. Eine Tonbandaufnahme macht es möglich, sich als Forscher vollständig auf die Interviewsituation zu konzentrieren und zugleich situationsbedingte sowie nonverbale Elemente zu beobachten. Die Thematik meiner Studie Diskriminierungen in der Lebensgeschichte von binationalen schwulen Partnerschaften verlangt
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eine biographische Tiefen bzw. Detailanalyse. In diesem Fall gilt es, das Interview genauer zu transkribieren (vgl. ebd.). Die Verschriftlichung eines biographisch-narrativen Interviews bietet dem Forscher für die Auswertung und Interpretation die Möglichkeit der umfassenden Analyse einzelner Erzählsequenzen. Die Auswertung der transkribierten Interviews konzentriert sich mehr auf die inhaltliche als auf die sprachliche Ebene. Die Interviews werden in zwei Sprachen, dabei jeweils in der Muttersprache des Interviewten, abgehalten, um einen unmittelbaren genauen Ausdruck garantieren zu können: in Türkisch und Deutsch als Mutter, Zweit- oder Fremdsprache. In Türkisch durchgeführte Interviews werden von mir ins Deutsche übersetzt. Bei der Übersetzung müssen grammatische Fehler oder Dialekte ignoriert und der biographische Erzähltext in geschriebener Sprache verfasst werden. Durch diese Art der Transkription müssen jedoch Merkmale der gesprochenen Sprache wie die Auslassung einzelner Laute oder die Angleichung aufeinander folgender Laute vernachlässigt werden. Um die Analyse durchzuführen, konzentriere ich mich neben verbalen und nonverbalen Komponenten der Interviewpartner auf die Semantik und die Idiomatik der Sprachen. Bei der Aufzeichnung der „nichtsprachliche[n] Lautäußerungen (wie z.B. hm, ähm, aha usw.) bzw. Sprechpausen“ verwende ich verschiedene Notationszeichen. Die Interpunktion hat dabei keine syntaktische Bedeutung (Brüsemeister 2000: 163). Interpunktionen, die ich in Klammern notiere, kennzeichnen bestimmte Situationen im Interview. Die bei der Transkription verwendeten Notationszeichen werden im Anhang im Einzelnen aufgeführt. 4.2.2 Die Methode der Datenanalyse Interpretationstechnik nach Fritz Schütze Die Auswertung bzw. Datenanalyse in der vorliegenden Arbeit bezieht sich auf die biographischen Erzähltexte. In einem biographisch-narrativen Interview stellt der Erzähler seine Geschichte in verschiedenen Handlungsabfolgen sowie Handlungssituationen dar (vgl. Brüsemeister 2000: 129). Der Interviewpartner wird während seiner biographischen Erzählung zum Theoretiker seiner selbst (vgl. ebd.). In seiner Erzählung argumentiert und bewertet er Ereignisse, Handlungen und Situationen. Schütze zufolge erfolgt die biographische Erzählung des Interviewpartners in doppelter Zeitlogik (vgl. ebd.). Einerseits erzählt der Interviewpartner, was er zu den verschiedenen Handlungszeitpunkten dachte, und andererseits beinhaltet seine Erzählung aktuelle Sicht- und Deutungsmuster (vgl. ebd.). Diese Strukturierung der biographischen Erzählung durch die doppelte Zeitlogik spielt in Schützes Auswertungsverfahren eine entscheidende Rolle. Dabei unterscheidet Fritz Schütze zwischen zwei Analyseebenen:
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Die Logik des Handelns, wie sie im Zuge von Erzählung auftaucht und Die Logik der Darstellung, wie es sie in Argumentationen und Bewertungen gibt. (Ebd. 167)
Diese Unterscheidung kommt in der Art und Weise der Auswertung des Interviews zum Ausdruck. Nach Schütze gibt es fünf Analyseschritte bei biographischnarrativem Textmaterial (vgl. Schütze 1983: 286): • • • • •
formale Textanalyse strukturelle inhaltliche Beschreibung analytische Abstraktion Wissensanalyse kontrastive Analyse
Im ersten Analyseschritt setzt der Forscher sich mit dem transkribierten Textmaterial auseinander. Dieser Schritt der Auswertung ist eine formale technische Anweisung: Die formale Textanalyse besteht mithin darin, zunächst einmal alle nicht narrativen Textpassagen zu eliminieren und sodann den bereinigten Erzähltext auf seine formalen Abschnitte hin zu segmentieren. (Ebd.) Im Zentrum der formalen Textanalyse stehen nur Erzählsegmente des Interviewtextes. Der Interviewtext soll zuerst anhand der verschiedenen Textabschnitte (Einleitung, Haupterzählung, Nachfrageteil) zerlegt werden. Danach hat der Forscher den Text in die unterschiedlichen Textsorten einzuordnen, d.h. Argumentations-, Beschreibungs- und Erzähltext (vgl. Iwert 2002: 26). In diesem Schritt der Analyse sind die Erzählsegmente thematisch zu ordnen. Nach der Bestimmung der zentralen Themen, die die biographische Erzählung gliedern, werden sie in einen Zusammenhang gestellt. Im zweiten Analyseschritt handelt es sich um eine strukturelle inhaltliche Beschreibung des Erzähltextes. In diesem Schritt der Auswertung erfasst der Forscher mithilfe der Erzählsegmente und der dargestellten Situationen, welche typischen Handlungsmuster sich darin finden (vgl. Brüsemeister 2000: 179). Die inhaltliche Analyse des Erzähltextes erfolgt hier segmentweise. Inhaltliche Kriterien bilden jetzt weitere Kriterien für die Segmentierung in (Unter-)Segmente. Genaue zeitliche Datierungen einzelner Ereignisse, die Beschreibungen von Wandlungen und Brüchen im Erzählfluss sind relevante Anhaltspunkte für die Segmentierung des Erzähltextes (Iwert 2002: 260). Die Segmentierung eines narrativen Interviews bzw. eines Erzähltextes kann auch durch sprachliche Markierer verdeutlicht werden. Zu den wichtigsten Beispielen dieser sprachlichen Markierer gehören folgende Elemente (vgl. Detka 2005: 4): •
Rahmenschaltelemente, die den Beginn eines neuen Segments der Erzählung anzeigen können. Wie z. B. und dann; und denn; dann,
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Zeitliche Schwellen, diese bringen einen zeitlichen Übergang zum Ausdruck, wie z. B. nach 5 Jahren oder vor der Hochzeit und Pausen z. B. vor Beginn eines neuen Segments.
Als Ergebnis der strukturellen Analyse entsteht eine Liste mit typischen Handlungsweisen, die sich auf die verschiedenen Situationen, Ereignisse oder Erlebnisse beziehen (Brüsemeister, 2000: 180). Ein relevantes Merkmal dieses Analyseschritts liegt darin, dass die Auswertung sich zum einen auf die Textsorte richtet, in der bestimmte Abschnitte des Lebens oder Sachverhalte dargestellt werden (vgl. Hermanns 1992: 122). Bei der Textsortenanalyse ist zwischen erzählenden, argumentativen und beschreibenden Texten zu unterscheiden (vgl. ebd.). Zum anderen werden die einzelnen Segmente einer detaillierten strukturellen Beschreibung unterzogen. Bei der strukturellen Paraphrasierung werden in erster Linie zunächst inhaltliche und formale Aspekte ausführlich analysiert, um die einzelnen Prozeßstrukturen des Lebensablaufs herauszuarbeiten und so die Lebensgeschichte in ihren wesentlichen Abläufen zu rekonstruieren (vgl. Egloff 1997: 24). Nach Schütze geht es bei den Prozeßstrukturen um Analysekategorien. Danach sind „Prozeßstrukturen des Lebensablaufs [...]mithin die systematischen elementaren Aggregatzustände der Verknüpfungen der Ereigniserfahrungen, die in der Erzählkette berücksichtigt werden – Aggregatzustände der Erfahrungs- und Aktivitätswelt des Biographieträgers, die in der Stegreiferzählung voneinander durch geordnete Verfahren der Einleitung und Ausleitung abgetrennt sind und komplexe Binnenstrukturierungen aufweisen.“ (Schütze 1984: 93)
Bei der strukturellen Beschreibung können Forscher_innen vier grundsätzliche Prozessstrukturen unterscheiden (vgl. Schütze 1981). Diese sind: Institutionelle Handlungsmuster: Dies sind institutionalisierte Phasen im Lebens- und Familienzyklus, wie etwa Eheschließung, Familiengründung, Berufs- und Ausbildungskarrieren. Die Erwartungen des Erzählers und seiner Interaktionspartner sind auf den Vollzug dieser lebenszyklischen Einschnitte gerichtet. Biographische (intentionale) Handlungsmuster: Damit sind die Handlungen, die vom Individuum selbst bewusst bestimmt, geplant und durchgeführt werden, gemeint, beispielsweise selbst bestimmte Migration, Berufsauswahl, Entscheidung für Heirat. Verlaufskurven: Es handelt sich dabei um konditionelle (d.h. nicht intentionale) Ereignisverkettungen, die das Individuum unter bestimmten Bedingungen erfassen und von denen es mehr oder weniger getrieben wird, zum Beispiel Scheitern des Coming-out und darauf folgende Diskriminierungserfahrung, Schwierigkeiten beim beruflichen Aufstieg. Wandlungsprozesse: Diese sind die „Prozesse der lebensgeschichtlichen Entfaltung von Kreativitätspotentialen der Selbstidentität“ und eine „Umschichtung der
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lebensgeschichtlichgegenwärtig dominanten Ordnungsstruktur des Lebensablaufs“ (Schütze 1981: 103). Als dritter Analyseschritt des biographisch-narrativen Interviews folgt die analytische Abstraktion. Hier werden die Ergebnisse der strukturellen Analyse „von den Details der einzelnen dargestellten Lebensabschnitte gelöst [und] die abstrahierten Strukturaussagen zu den einzelnen Lebensabschnitten werden systematisch miteinander in Beziehung gesetzt.“ (Schütze 1983: 286) D.h., in diesem Schritt der Auswertung werden die Handlungsweise und Entwicklungspfade aus der konkreten Beschreibung gelöst und in analytische Formulierungen transformiert, um die biographische Gesamtformung zu charakterisieren (Iwert 2002: 262). Im vierten Analyseschritt des Interviews, der Wissensanalyse, geht es darum, die bislang eingeklammerten argumentativen Textpassagen, Eigentheorien des Erzählers über sich und seine Umwelt, mit den aus den Erzählungen festgestellten charakteristischen Handlungsweisen zu vergleichen (vgl. Brüsemeister 2000: 181). D.h., die Wissensanalyse bezieht sich zunächst auf die Interpretation der biographischen Erzählpassagen, und erst im Anschluss an diese werden die theoretisierenden, argumentierenden und bewertenden Erzählpassagen in die Deutung eingeschlossen (vgl. Griese 2000: 29). Dieser Analyseschritt ermöglicht die systematische Wiederherstellung der Orientierungs-, Verarbeitungs-, Selbstdefinitions-, Legitimations-, Ausblendungs- und Verdrängungsfunktion in der autobiographischen Erzählung (vgl. Schütze 1983: 286). Der fünfte Analyseschritt, die kontrastive Analyse, besteht darin, die Ergebnisse der Einzelfälle miteinander kontrastiv zu vergleichen. Das Ziel des kontrastiven Fallvergleichs ist es, Generalisierung und Generierung der biographischen Daten zu gewinnen. In diesem Analyseschritt werden Schütze zufolge zunächst Interviewtexte gewählt, damit in einer Strategie des minimalen Vergleichs (vgl. ebd.) Gemeinsamkeiten zwischen den Einzelfällen herausgearbeitet werden können, zum Beispiel Ähnlichkeiten in Bezug auf den biographischen Entscheidungsprozess für eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaftsschließung. Wenn es nur um die allgemeine Form dieses Entscheidungsprozesses geht, reicht im Prinzip der Minimalvergleich zweier Interviewtexte (ebd.). Durch die Strategie des minimalen Vergleichs kann die theoretische Relevanz bestimmter Analyseergebnisse bestätigt werden. In der Strategie des maximalen Vergleichs werden maximale Verschiedenheiten zwischen den einzelnen Fällen herausgearbeitet. Die Analyse der von mir geführten biographisch-narrativen Interviews wird nach den oben genannten Auswertungsschritten durchgeführt. Das Ziel der Analyse ist es, einen Zusammenhang zwischen den Diskriminierungserfahrungen, der Migration und der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaftsschließung herzustellen. Zuerst werden für jedes Fallbeispiel diese signifikanten biographischen Lebensabschnitte und deren Auswirkungen auf den Lebenslauf rekonstruiert. Die Verknüpfung der einzelnen Erzählpassagen mit den jeweiligen subjektiven Deutungsmus-
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tern der Erzähler gibt Informationen über das subjektive Erleben der rassistischen, homophoben sowie islamophoben Diskriminierungen, der Migration und des Lebenspartnerschaftsschließungsprozesses und seiner Bedeutung innerhalb des gesamten Lebenslaufes. Es handelt sich hier um die Rekonstruktion der Wissens- und Relevanzsysteme der Subjekte, um ihre Deutung ihres Lebens, ihre Einordnung von Erlebnissen und Erfahrungen (vgl. Rosenthal 1995: 219).
5. Rekonstruktive Auswertung ausgewählter Interviews
5.1 F ALL I: ARDA 5.1.1 Kurzbiographie von Arda Arda ist zum Zeitpunkt des Interviews 38 Jahre alt. Im Alter von zwölf Jahren kam er erstmalig nach Deutschland und blieb zunächst neun Monate bei seiner Mutter, die mit einem anderen Mann verheiratet war. Er fühlte sich in dem häuslichen Umfeld nicht wohl, was ihm Anlass gab, in die Türkei zurückzukehren. Dort hatte er seinen Schul- und Hochschulabschluss erworben. Zum zweiten Mal kam er während seiner Studienzeit (1992) durch ein internationales Projekt nach Deutschland. Arda war damals 23 Jahre alt und plante, sein Leben nun in Deutschland weiterzuführen, was ihm trotz etlicher Bemühungen nicht gelang; die Ausländerbehörde schickte ihn zurück in die Türkei. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Arda seit sechs Jahren in Berlin und ist dort mit einem deutschen Mann verpartnert1. Er arbeitet in einer politischen Organisation, in der er sich für die Rechte und eine Verbesserung der sozialen Situation von ausländischen LSBTT-Personen einsetzt. 5.1.2 Strukturelle Textanalyse des ersten Falls Segment 1: Kindheit Segment eins bezieht sich auf die ersten Lebensphasen des Befragten. Hier erzählt Arda, wo und wann er geboren ist und stellt mit wenigen Sätzen die familiäre Struktur dar. Schon im ersten Segment thematisiert er seine sexuelle Orientierung während der Kindheit. Er sei etwas anders als sein Bruder und es gab deshalb für 1
Verpartnert bedeutet, dass eine Person in einer eingetragenen schwulen oder lesbischen Partnerschaft lebt.
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ihn keinen Platz in der Fußballgruppe seines Bruders, weil er nicht Fußball spielen mochte. Seine sexuelle Orientierung drückt sich für Arda auch in seinem Desinteresse für Fußball oder Jungenspiele aus. Aufgrund dieses Desinteresses stellt Arda für seinen Bruder ein Gegenüber dar, dessen als gegensätzlich empfundene Eigenschaft er nicht zu akzeptieren vermag: „Ich mochte nicht Fußball spielen das hat mich nicht interessiert, ich hatte zum Beispiel Interesse für Seilspringen oder Mutter-Vater-Kindspiel, und deswegen gab es zwischen mir und meinem Bruder einen Gegensatz, der schon damals entstanden ist, also ich weiß nicht genau, vielleicht weil ich eine etwas andere Neigung während meiner Kindheit hatte.“ (Zeile 18-22)
Dennoch wurde Arda, anders als sein Bruder, stets von seinem Vater akzeptiert. Arda sieht diese Akzeptanz auch in der Tatsache, dass der Vater für ihn einst ein Tänzerinnenkleid genäht habe. Dieses Verhalten des Vaters Arda gegenüber ist Ursache für Konflikte mit dem Bruder. Im Gespräch fällt auf, dass Arda seine Person im Kontrast zu seinem Bruder darstellt: „Mein Vater war mir gegenüber beispielsweise toleranter, weil ich tanzen sehr mochte […] Und weil mein Vater ein Schneider war, wie soll ich sagen, hatte er mir, ähm, als Unterstützung meines Hobbys oder meines Talents oder meines Tanzens sogar einen Rock genäht, also einen Tänzerinnenrock […] das hat mir natürlich sehr gefallen. Und das war es, was mein Bruder nicht akzeptierte.“ (Zeile 22-28)
Das beschriebene Segment hat in erster Linie die sexuelle Orientierung des Interviewten während der Kindheit zum Thema. Die Geschwisterkonstellation und die Akzeptanz des Vaters sind zusammenhängende Subthemen des ersten Segments. Schütze zufolge kann ein Segment auch Untersegmente beinhalten, die mit dem Hauptsegment zusammenhängen. Segment 2: Meine Freundinnen verlassen mich immer Im vorangegangenen Segment schilderte Arda die Entwicklung in seiner Kindheit und das konträre Verhältnis zu seinem vier Jahre älteren Bruder. Bereits im zweiten Segment taucht das Adjektiv homosexuell auf. Der Erzähler zeigt hier an, dass er sich völlig im Klaren ist, was er dem Zuhörer erzählen möchte. So geht er ganz bewusst auf die thematischen Felder des Interviews ein, um das narrative Interview aufrechtzuerhalten. Im zweiten Segment stellt Arda seine Jugendzeit mit dem Schwerpunkt sexuelle Entwicklung weiter dar und versucht zu beweisen, dass sich seine Anpassungsprobleme im Gymnasium aufgrund seiner sexuellen Orientierung ergaben. Arda wurde stets von seinen Freundinnen verlassen und begann folglich den Ursprung dieser Problematik zu hinterfragen. Er bezeichnet die gymnasiale Zeit
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als Flirtzeit unter den Schüler_innen. Jeder der Mitschüler_innen hatte eine Freundin oder einen Freund. Auch er hatte Freundinnen. Doch habe er seine Freundinnen nicht küssen wollen, und er konnte sich nicht ausreichend um sie kümmern, weshalb sie ihn verließen. „Zum Beispiel hatte ich schon damals auch so ein Anpassungsproblem, weil, ähm, meine Freundinnen mich immer verließen. Ich hatte sowieso insgesamt nur zwei Freundinnen gehabt, und sie beide verließen mich aus diesem Grund, weil ich mich nicht um sie kümmerte. Sie haben mich verlassen du magst mich nicht, du kümmerst dich nicht um mich, oder du willst mich nie küssen und so weiter und so fort und aus diesen Gründen haben sie [mich] verlassen.“ (Zeile 42-47)
In diesem Segment berichtet Arda wieder selbstbewusst von seiner sexuellen Orientierung. Auffällig ist nun, dass die tatsächlich damals erlebte und die heute erzählte Lebensphase des Interviewten sich in gewisser Weise unterscheiden. Arda wusste in der Vergangenheit – in der gymnasialen Zeit seiner Anpassungsprobleme nichts von seiner andersartigen Sexualität. Zum Zeitpunkt des Interviews kann er jedoch den Ursprung seines Problems erklären. Das zeigt, dass sich Arda im Laufe der Zeit mit der Problematik befasst hat und das Problem lösen konnte, indem er sich zu einem späteren Zeitpunkt als homosexuell bekannte. Die sexuelle Orientierung steht auch in diesem Segment vertieft im Zentrum. Der Interviewte erklärt seine Probleme in der Jugendzeit mit einer sexuellen Orientierung, von der er damals noch nichts wusste. Er hat sich auf Partys gestört gefühlt, weil seine Mitschüler_innen dort als Paare erschienen und in verschiedenen Ecken der jeweiligen Wohnung intim wurden. Möglicherweise hat er in solchen Momenten eine Bedrohung seitens seiner Freundinnen gespürt, da er ihren Forderungen nicht nachkommen wollte. Diese Bedrohung bezeichnet er als Verlassenwerden. Sie führt schließlich dazu, dass er sich nicht länger in die Gruppe integrieren konnte: Die Anpassungsschwierigkeiten regen ihn zur Selbstreflexion an, obwohl er den Begriff Homosexualität noch nicht kannte: „Und zwischendurch war das auch für mich ein Fragezeichen, warum ich [sie] nicht mochte […] ich wusste noch nicht, was ich bin, ob ich homosexuell bin oder nicht oder warum ich die Frauen nicht mochte […] also solche Fragen hatte ich gar nicht im Kopf und ich dachte, dass sich alles normal entwickelte; weil es kein Vorbild gab, war mir so ein Begriff wie Homosexualität nicht ganz nah.“ (Zeile 48-51)
Segment 3: Transvestit des Wohnviertels Im Anschluss an das vorangegangene Segment erwähnt Arda einen Transvestiten des Wohnviertels, den er als Vorbild seiner (sexuellen) Entwicklung bezeichnet.
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Hier zeigt er die konträre Haltung der Gesellschaft Homosexuellen gegenüber auf: Also wir dachten nicht daran, ihn zu verprügeln oder zu steinigen oder zu beschimpfen, im Gegenteil, wir haben ihn immer begrüßt, mit ihm gesprochen […] er war das Symbol unseres Kiezes, jeder mochte ihn. (Zeile 58-66) Über die Sprachweise des Transvestiten amüsierte sich die Umgebung – was keine Verachtung und möglicherweise auch keine Demütigung gewesen sei. Der Transvestit, der Mädchen Ali (kız Ali) hieß, sei im Viertel sehr beliebt gewesen; er stand im Mittelpunkt, weshalb ihn Arda beneidete und begann, ihn zu Hause zu imitieren. Wie Arda zu Beginn des Segments schilderte, kannte er den Begriff der Homosexualität nicht, fühlte sich aber dem Transvestiten nah, der schließlich die Vorbildfunktion in der Entwicklung von Ardas Sexualität übernimmt: Ich beneidete ihn, wie er tanzte, wie er seinen Po bewegte, ich machte ihn auch zu Hause nach, indem ich den Rock trug, welchen mein Vater für mich genäht hatte, ähm, also es gab so eine Entwicklung. (Zeile 67-71) Auch in diesem Segment steht das Thema der sexuellen Entwicklung des Interviewten im Vordergrund. Segment 4: Harmloser schöner Übergang vom Selbstouting zum Coming-out Arda beginnt das vierte Segment mit der Studienzeit, in der er sich verstärkt zu hinterfragen begann. Zu dieser Zeit, in der er das Bedürfnis hatte, seine Homosexualität auszuleben, war er zwischen 18 und 19 Jahre alt. Als Vorbild nennt er zwei berühmte türkische Künstler_innen: Zeki Müren (†1996) und Bülent Ersoy. Zeki Müren wird in der Türkei als Sonne der Kunst bezeichnet. Er war als Sänger in der Türkei für seine feminine Art bekannt, die in den türkischen Medien stets thematisiert wurde. Doch erklärte er sich nicht als homosexuell. Seine Homosexualität war aber in der Gesellschaft stillschweigend akzeptiert. Als weiteres Vorbild nennt Arda die transgeschlechtliche Sängerin Bülent Ersoy. Zu Beginn der 80er Jahre hat sie in der Türkei für ihre Geschlechtsumwandlung gekämpft und die Problematik der Diskriminierung der LSBTT in Filmen behandelt. Beide Künstler waren in den 80er Jahren Spitzenreiter der populären türkischen Musik und spielten eine große Rolle für die Anerkennung der türkischen Homosexuellen. Obschon Arda beide Sänger als Vorbild nennt, haben sie für seine Entwicklung lediglich eine unzureichende Rolle gespielt: Als Vorbild gab es für mich nur Bülent Ersoy und Zeki Müren (Zeile 75). Das von Arda verwendete Adverb nur zeigt die Schwierigkeit einer Identifizierung mit den beiden Vorbildern auf. In dieser Zeit begann er allmählich westliche Musik zu hören und fand Sänger, die seinem Geschmack entsprachen und denen er sich nah fühlte. Neue Begriffe wie gay oder homosexuell kamen auf. Er hörte David Bowie und Prince, die ihm einen Weg aus der Einsamkeit boten; es gab noch Andere, die genauso wie Arda waren – hier wurde eine Identifizierung möglich. David Bowie und Prince waren in den 80er Jahren weltweit berühmt. Durch ihren auffälligen Stil wurde häufig über die sexuelle Orientierung der Sänger spekuliert. Arda
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stellte sich beide als homosexuell vor. Die Ziehung von Parallelen zwischen seinem Selbst und den Eigenschaften der beiden Sänger basiert auf der sexuellen Orientierung des Erzählers. So entdeckte er im Alter von 18 Jahren seine Homosexualität: „Als Vorbild gab es für mich nur Bülent Ersoy und Zeki Müren […] aber mit der Uni haben wir natürlich begonnen, uns für westliche Musik zu interessieren […] es gab nur ein Programm, das „Number One“ hieß und da habe ich David Bowie gesehen und war begeistert, und dann habe ich noch einen fremden homosexuellen Sänger gesehen und dann habe ich Begriffe wie gay oder homosexuell kennen gelernt. Naja, und als ich sie kennen gelernt habe, dachte ich: ach, ich bin nicht so anders als sie. Als ich mich einsam fühlte, ähm, begegnete ich unterschiedlichen Vorbildern und deswegen war ich Prince-Fanatiker.“ (Zeile 83-75)
Das Selbstouting fand durch das intensive Hören westlicher Musik statt. So konnte sich Arda auch vor einem Freund, in den er verliebt war, outen, denn die westliche Musik verband sie miteinander. Aufgrund der positiven Reaktion seines Freundes bewertet er sein erstes Coming-out positiv: „Und damals hatte ich einen Freund, in den ich verliebt war. Als ich ihm zum ersten Mal sagte ich bin wahrscheinlich homosexuell, hat er sich gewundert und, dings, gesagt merkst du das erst jetzt? weil er schon von Anfang an wusste, dass ich homosexuell bin […] und weil er trotzdem die Freundschaft mit mir weiter geführt hat, hatte ich einen sehr schönen Übergang […] das war mein erstes Coming-out nach außen, in der Uni-Zeit, ja im Jahr 88, mit 18-19. und dann hat das mich natürlich ermutigt, und dann habe ich mich nach und nach überall geoutet […] also die Übergänge waren sehr süß und harmlos.“ (Zeile 83-90)
Die Präposition trotz lässt erkennen, dass Arda mit der Akzeptanz seines Freundes nicht gerechnet hatte. Diese unerwartete Akzeptanz war für ihn ein großes Ereignis im Laufe seiner Coming-out-Phase und ermutigte ihn, sich auch seinen Verwandten gegenüber zu outen. Mit dem sehr schönen Übergang ist eventuell der Übergang von einer versteckten Homosexualität zu einem offen gelebten homosexuellen Dasein gemeint. Er konnte sich nun – durch den positiven Start eines solchen Übergangs – auch vor seinem Vater und vor seinem Bruder als homosexuell erklären. Ihre Reaktionen waren ebenfalls positiv. Der Übergang schreitet in positiver Weise fort; Arda bezeichnet ihn als sehr süß und harmlos. Wiederum fällt in diesem Segment auf, dass Arda detailliert auf seine sexuelle Entwicklung eingeht. Segment 5: Ungeplantes Coming-out im Hörsaal Im Segment fünf stellt Arda sein Coming-out im Hörsaal der Universität dar. Auf Wunsch des Dozenten sollte jeder Student eine kurze Autobiographie schreiben, die dann anschließend im Hörsaal vorgelesen werden sollte. Ohne von dem zweiten
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Punkt dieser Abmachung zu wissen, schrieb Arda seine Biographie auf eine sehr leidenschaftliche Art und Weise. Diese Form des Coming-out fällt ins Auge. Denn zu Beginn des Segments berichtet Arda, dass er sich im Hörsaal als homosexuell offenbart hat. Als ich ihn fragte, wie es dazu kam, erklärte er mir den Ablauf des Coming-outs; es wurde deutlich, dass er zunächst nicht die Absicht hatte, sich im Hörsaal zu outen, sondern nur dem Wunsch seines Dozenten folgen und dessen Aufforderung zur Aufrichtigkeit erfüllen wollte. Hier ist anzunehmen, dass sich Arda auf der Suche nach einer emotionalen Verbindung zu dem Dozenten befand. Er fasst die Aufforderung des Dozenten als eine persönliche auf und richtet demnach seine Autobiographie nicht an alle Studierenden, sondern ausschließlich an ihn. Die erst vor kurzem entdeckte Homosexualität steht im Zentrum seines Lebens, und zumindest der Dozent, den Arda als offenherzig beschreibt, sollte davon unterrichtet werden. Sein Coming-out wurde zur Leidenschaft, was für Arda eine Selbstverständlichkeit war: „Dann habe ich natürlich mit dieser Leidenschaft geschrieben […] und dann habe ich gedacht, wenn es um Aufrichtigkeit geht, dann ist hier auch meine Aufrichtigkeit. Ich hatte sowieso etwas, was ich neulich an mir entdeckt hatte, dann konnte ich halt das (mit dem Professor) teilen.“ (Zeile 103-107)
Aus der Erzählung Ardas wird deutlich, dass seine Autobiographie den Charakter eines privat geschriebenen Briefes hatte und durch ein Missverständnis falsch adressiert wurde. So kam es im Hörsaal während eines Seminars zu einem weiteren Coming-out. Arda führt in diesem Teil des Segments die Reaktionen seiner Kommilitonen auf, berichtet jedoch nicht von seinen eigenen Gefühlen während des Ereignisses. Am Schluss des Segments wird ersichtlich, dass er den Prozess im Hörsaal als spannend empfand. Des Weiteren scheint er stolz zu sein, sich in den 80er Jahren als homosexuell geoutet zu haben: Wie konnte man nur sowas schreiben, was heißt denn das, etwas ganz neues, das Jahr achtundachtzig, das war etwas, was man nie zur Sprache brachte, vor etwa zwanzig Jahren. (Zeile 117-119) Es lässt sich aus diesem Segment folgern, dass sich Arda möglicherweise in einer intensiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst befand. Segment 6: Ich habe niemals das Bedürfnis gehabt, mich zu verstecken Im sechsten Segment geht Arda auf die Erfahrungen mit Diskriminierung in der Universität ein und schildert seine Bewältigungsstrategien. Er bezeichnet die Diskriminierungen als einige negative [Ereignisse]. Nachdem er im Hörsaal geoutet wurde, fand er sich von seinem Freundeskreis ausgeschlossen:
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„Dann ereignete sich so manches Negative und zwar haben sich manche Leute nicht mehr in der Mensa zu mir gesetzt, weil sie Angst hatten vor Gerüchten, bzw. dachten ich hätte mit den Männern, mit denen ich in der Mensa gegessen habe, automatisch geschlafen […] im Grunde konnte keiner meine Zivilcourage hinnehmen […] das Universitätsleben war einfach so.“ (Zeile 120-124)
Dieses Zitat soll als Beleg für seine Ausgrenzungsbehauptung gelten. Das Comingout im Hörsaal hatte den Verlust einiger Freundschaften zur Folge. Arda musste sich nun für eine offen homosexuelle Lebensweise entscheiden. Die Argumentation für diese Entscheidung hat einen rechtfertigenden Charakter. Nach dem Coming-out hatte er einige seiner Freund_innen verloren, die vorher nichts von seiner Homosexualität gewusst hatten. Ein solcher Verlust war für ihn nur schwer zu verkraften; er hatte darunter zu leiden. Er traf nun die nötigen Maßnahmen, um sich für die Zukunft vor einem solchen Schmerz zu schützen. So erklärte er sich von diesem Zeitpunkt an jedem gegenüber offen als schwul: „Als das im Hörsaal an der Uni vorgelesen wurde, habe ich einige Freunde verloren […] naja, deswegen, um das nicht wieder zu erleben, habe ich es den Leuten, die ich wieder sehen oder kennen lernen wollte, auf jeden Fall gleich am Anfang gesagt und ja also wenn du mit diesem Thema irgendein Problem hast, dann lernen wir uns nicht kennen […] und danach habe ich wieter so offen gelebt.“ (Zeile131-135)
Die Konjunktion wenn beinhaltet eine Voraussetzung. Arda setzt beim künftigen Umgang mit Menschen, die er gerade im Begriff ist kennen zu lernen, eine deutliche Akzeptanz seiner Homosexualität voraus. Am Ende des Segments interpretiert Arda das versteckte Leben vieler Homosexueller als Heuchelei; hier ist eine persönliche Abgrenzung bzw. Unterscheidung von anderen Homosexuellen, die versteckt leben, zu bemerken. Er kündigt an dieser Stelle bereits das Thema des nächsten Segmentes an: Ich habe niemals das Bedürfnis gehabt, mich zu verstecken, ähm, das war auch sowieso nicht nötig gewesen […] das ist für mich wie eine Heuchelei, außer vor meiner Mutter. (Zeile 139-140) Segment 7: Ich habe mich in meinem Leben lange Zeit nur vor ihr versteckt… In Segment Sieben führt Arda das Verhältnis zu seiner Mutter und sein Coming-out ihr gegenüber aus: „Außer meine Mutter, sie war sowieso nicht in meinem Leben, weil wir getrennt lebten, musste sie das in der ersten Etappe nicht wissen, das war auch überhaupt nicht nötig in meinen Augen. Denn sie war alt, sie war muslimisch, also ihre religiösen Werte fielen ins Gewicht, deswegen, war sie sowieso nicht in meinem Leben präsent, ich sah sie ein paar Mal im
138 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE Jahr, und das hat mich nicht wirklich interessiert, ob sie davon weiß oder nicht. Beziehungsweise wollte ich mit meiner Mutter kein Problem haben wegen dieses Themas. Ich habe mich in meinem Leben lange Zeit nur vor ihr versteckt. Mittlerweile weiß auch sie schon.“ (Zeile 145-151)
Bis vor fünf Jahren wusste seine Mutter nichts von seiner Homosexualität, was Arda auf ihr Alter, ihre Glaubenszugehörigkeit und die Entfernung zu ihr zurückführt. Sie sei religiös und alt, ferner lebe sie in Deutschland. Aus diesen Gründen sah Arda keine Veranlassung, sich seiner Mutter gegenüber als homosexuell zu erklären. So konnte er etliche absehbare Konflikte mit der Mutter vermeiden. Dieses Segment ist als Belegerzählung einzuordnen – Ardas Erzählung wird durch Begründungen und Argumentationen unterstützt. Im Übrigen enthalten die Argumentationen wiederum eine Art Rechtfertigung für das Erlebte. Arda eröffnet das Segment mit Begründungen. Die Mutter sei sowieso nicht in seinem Leben; weil Mutter und Sohn räumlich getrennt leben; denn sie sei alt, muslimisch und hätte religiöse Werte. Es wird deutlich, dass Arda seiner Einschätzung nach dem Zuhörenden eine Erklärung schuldig ist. Er befindet sich in diesem Segment in einer ambivalenten Situation. Einerseits versucht er, die Distanz zu seiner Mutter aufzuzeigen: Das hat mich nicht wirklich interessiert, ob sie davon weiß oder nicht, andererseits verspürt er Angst vor eventueller Ablehnung oder einem Problem gleicher Art: Beziehungsweise wollte ich mit meiner Mutter kein Problem haben. In seinem Verschweigen sieht er eine Problemlösung bzw. Konfliktvermeidung. Desweiteren kündigt er ein neues Thema an. Das Untersegment handelt vom Coming-out der Mutter gegenüber. Zum Zeitpunkt des Interviews hatte sich Arda seit bereits fünf Jahren vor seiner Mutter als homosexuell erklärt. Hier geht er auf die Reaktion und den Umgang der Mutter mit der Situation ein. Auffällig in diesem Segment ist, dass er nicht vom Entscheidungsprozess erzählt, weswegen oder wie er sich bei seiner Mutter geoutet hat, sondern er berichtet nur, seine Homosexualität seiner Mutter bereits erklärt zu haben. Es lässt sich die These aufstellen, dass Arda einen relativ langen Zeitraum benötigte, um seine Coming-out-Phase abzuschließen. Das Coming-out der Mutter gegenüber kündigt gleichzeitig den Abschluss der Coming-out–Phase an, wobei der Prozess der eigentlichen Auseinandersetzung mit dem Coming-out ausgelassen wird. In der Weiterführung der Erzählung berichtet Arda, sich der Mutter gegenüber telefonisch als homosexuell geoutet zu haben: „Es ist schon fünf Jahre her, als ich es meiner Mutter sagte, habe ich das sowieso so gesagt, ich habe geheiratet; meine Mutter wollte die Braut kennen lernen und dann habe ich ihr gesagt, dass es sich nicht um eine Braut sondern um einen Bräutigam handle. Ich habe gesagt, dass ich einen Mann geheiratet habe, denn ich bin homosexuell. Zuerst hat sie das natürlich nicht verstanden. Ach so, gut, in Ordnung hat sie gesagt. Nach zehn Tagen rief sie mich wie-
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der an und fragte: was hast du mir gesagt?; sie hat zehn Tage lang darüber nachgedacht, was das bedeutete aber ich glaube, sie konnte das nicht nachfühlen.“ (Zeile 155-165)
Nachdem er mit seinem Partner die Lebenspartnerschaft eingegangen war, rief er seine Mutter an und teilte ihr dieses mit. Über diese Mitteilung habe sich die Mutter gefreut und nachgefragt, wann sie die Braut kennen lernen könne. Darauffolgend erklärte er seiner Mutter, dass es sich nicht um eine Braut, sondern um einen Bräutigam handelt, denn er sei homosexuell. Die Mutter reagierte mit Ach so, gut, in Ordnung und brach das Telefonat ab. Der Abbruch des Telefonats stellte sich als eine Schockreaktion der Mutter dar. Nach zehn Tagen habe die Mutter zurückgerufen, um nachzufragen was hast du mir gesagt? Die Details des zweiten Telefongesprächs werden hier ausgelassen; stattdessen stellt Arda eine evaluative These über die Frage seiner Mutter wie folgt auf: Aber ich glaube, sie konnte das nicht nachfühlen. Die These, dass die Mutter seine Homosexualität nicht nachfühlen könne, basiert unter Umständen auf der räumlichen und emotionalen Distanz zwischen Mutter und Sohn. In der folgenden Darstellung berichtet Arda zusätzlich von der Reaktion seiner Mutter: Ich wusste das sowieso schon seit deiner Kindheit. Diese Aussage verdeutlicht, dass die Mutter die Distanz Ardas nicht empfindet oder die Tatsache schlicht ignoriert. Die Passage zeigt einen Annäherungsversuch an ihren Sohn. Über die Beschreibung der Reaktion der Mutter kündigt er nun ein neues Untersegment an, in dem er zurück zu seiner Kindheit geht und von der Erziehung seitens seiner Mutter erzählt. Die Aussage: Sie wollte sogar immer eine Tochter haben aber sie hat keine Tochter bekommen (Zeile 166-167) und die darauf folgende: Denn meine Mutter wollte immer eine Tochter und hat mich wie ein Mädchen gekleidet (Zeile 170-171), stellen einen neuen Zusammenhang dar. Wurde er durch die Erziehung der Mutter homosexuell? Arda versucht hier, zwischen der mütterlichen Erziehung und seiner sexuellen Entwicklung einen Zusammenhang herzustellen. Diese Schlussfolgerung des Erzählers hat einen rechtfertigenden argumentativen Charakter. Das Segment wird mit einem Satz beendet, der das Fazit eines Lebensabschnittes darstellt: Ich hatte so eine Kindheit – ihren Wünschen entsprechend. (Zeile 170-171) Segment 8: Stiefvater-Halbbruder Das achte Segment beginnt mit der Mitteilung der zweiten Heirat der Mutter und der Ablehnung des Stiefvaters seitens Ardas; er war außerstande, seinen Stiefvater als seinen Vater anzunehmen. Aus der folgenden Aussage Ardas lässt sich schließen, dass die Mutter die Familie verlassen hat: Danach hat meine Mutter einen anderen Mann geheiratet. (Zeile 177) Die Zeitangabe danach ist unklar, er geht nicht auf die näheren Umstände ein, er erzählt nicht genau, wann und wie die Mutter den anderen Mann geheiratet hat. Eine Aussage aus dem elften Segment verstärkt die
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These; aufgrund seines vermutlich sehr jungen Alters fehlt ihm hier die Erinnerung: Mit zwölf habe ich von der Existenz meiner Mutter erfahren. (vgl. Segment 11) Die Ablehnung des Stiefvaters lässt sich möglicherweise auf die mütterliche Bevorzugung des anderen Mannes vor dem leiblichen Vater und den Kindern zurückführen. Im Gegensatz zum Stiefvater akzeptiert Arda seinen Halbbruder als leiblichen Bruder. Der Stiefvater wird somit gezielt distanziert. Arda führt seine Erzählung wie folgt weiter: Wir sind drei Brüder, ich habe noch einen Halbbruder. (Zeile 175) Die Partikel noch drückt hier eine gewisse Umdeutung und Distanzierung der Geschwisterkonstellation aus. Er teilt mit, zwei Brüder zu haben – einen leiblichen und noch einen Halbbruder, der von dieser Person (Zeile 180) stammt. Diese Mitteilung wird mit einer Evaluation weitergeführt: Eigentlich ist er mein leiblicher Bruder weil wir aus dem gleichen Bauch stammen. (Zeile 181-182) Das relativierende eigentlich bringt die Unterscheidung zwischen einer Nicht-Wirklichkeit und Wirklichkeit hinsichtlich der Bruder-Definition zum Ausdruck. Er sei zwar sein Halbbruder, aber in der Wirklichkeit sei er sein leiblicher Bruder, weil beide von derselben Mutter geboren wurden. Die Konjunktion weil unterstützt Arda in der Argumentation seiner These und schließt das Segment an das neunte Segment an. Segment 9: Verhältnis zu dem leiblichen Bruder Das neunte Segment beginnt mit der Frage des Interviewers nach dem Altersunterschied zwischen Arda und seinem leiblichen Bruder. Der Sinn dieser Frage liegt darin, Arda anzuregen, von dem Verhältnis zu seinem Bruder zu erzählen. Nach der Angabe des Altersunterschieds geht er auf die zwischenbrüderliche Beziehung ein. Er hat einen um vier Jahre älteren Bruder; beide wurden zusammen von Ardas leiblichen Vater erzogen. Dieses Segment lässt sich als Fortsetzung dem ersten Segment zuordnen. Das erste Segment handelte von der Kindheit, der sexuellen Entwicklung Ardas und den individuellen Unterschieden zu seinem Bruder. Hier nun bestätigt er abermals, keine größeren Probleme mit seinem Bruder gehabt zu haben: „Ich habe nicht so viele Probleme gehabt mit ihm [Bruder]. Wir waren nicht so eng miteinander, also seit der Kindheit waren wir sehr distanziert. Ich glaube das lag daran, dass wir sehr unterschiedlich sind. Unsere Interessen passten nicht zusammen, unsere Hobbys. Wir ähneln uns auch nicht, ähm, sowohl vom Charakter her, als auch körperlich sind wir sehr verschieden. Ähm, ja, ich habe mit meinem Bruder nicht sonderliche Probleme gehabt. Und er hat mich sowieso nicht so ernst genommen. Und das war für ihn nicht so wichtig, und weil ich für ihn nicht so wichtig war, denke ich, das interessierte ihn auch nicht so sehr, ob ich homosexuell oder transsexuell oder Transvestit bin.“ (Zeile 185-194)
Er führt die problemlose Bruder-Beziehung auf die distanzierte Haltung seines Bruders zurück. Arda analysiert in diesem Teil des Segments die Beziehung zu seinem
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Bruder seit der Kindheit: Die Aussage Wir waren nicht so eng miteinander soll als Beleg seiner Behauptung gelten. Als Grund für das Fehlen von Nähe scheint ein Mangel an Interesse füreinander zu bestehen, der bereits seit der Kindheit vorliegt. Die obige Aussage ist einerseits argumentativ bzw. rechtfertigend, andererseits konträr zur vorherigen Aussage. Hier begründet und rechtfertigt Arda die kalte BruderBeziehung. Keiner der beiden soll verantwortlich gemacht werden. Folgende Darstellungen der zwischenbrüderlichen Beziehung unterstützen meine Annahme, dass Ardas Aussagen hier widersprüchlich sind (vgl. Zeile 188ff.). Obwohl er zum zweiten Mal versichert, eine unproblematische Beziehung zu seinem Bruder zu haben, geht er – ob bewusst oder unbewusst – auf einige Problemfelder ein; beispielswiese hätte sein Bruder ihn sowieso nicht ernst genommen, er sei für den Bruder nicht so wichtig. Durch die Verwendung der Worte sowieso bzw. nicht so zeigt er seine Überzeugung von den in der zwischenbrüderlichen Beziehung bestehenden Problemen. Das bisher Erzählte bezieht sich auf die Vergangenheit, wobei Arda den Zeitraum nicht genau abgesteckt hat. Die Haupterzählung wird mit der Positionierung des Bruders zu Ardas sexueller Orientierung beendet ich glaube, das interessiert ihn auch nicht so sehr, ob ich homosexuell oder transsexuell oder Transvestit bin und kündigt das Thema des Untersegments, die nun verbesserte Beziehung der Brüder, an. Arda führt hier die Besserung der zwischenbrüderlichen Beziehung auf eine – durch das mittlerweile erreichte Alter bedingte Reife beider Brüder zurück; ein vernünftiger Kontakt wurde hiermit ermöglicht: Wir haben jetzt einen vernünftigeren Kontakt, wir sind reifer geworden, vernünftiger, wir beide sind älter geworden, er ist über vierzig Jahre alt und ich bin achtunddreißig, jetzt haben wir mittlerweile Kontakt. (Zeile 195-196) Segment 10: Bereichernde kulturelle Unterschiede zwischen Partner und Bruder Im vorangegangenen Segment vertiefte Arda die Darstellung des kalten Verhältnisses zu seinem Bruder, fügte jedoch gegen Ende des Segments hinzu, die Beziehung würde sich mit zunehmendem Alter der beiden Brüder verbessern. Arda scheint hier ein Bemühen des Bruders hinsichtlich der familiären Beziehungen zu erkennen. Die allmähliche Harmonisierung ermöglicht es Arda, seinem Bruder seinen Partner vorzustellen: Sogar mein Mann ging zu ihm (Bruder) und blieb eine Woche bei ihm. (Zeile 200) Durch die Verwendung des Begriffes sogar bringt er den Steigerungsgrad der positiven Veränderung zum Ausdruck. Die Zusammenarbeit von Ardas Partner und der Frau seines Bruders in einem Projekt begünstigte die Entwicklung einer Beziehung und wird von Arda als Ergebnis von bereichernden ‚kulturellen Unterschieden‘ dargestellt: Kulturelle Unterschiede, diese Differenzen versuchen wir meistens positiv zu nutzen (Zeile 215). Es fällt auf, dass Arda erstmalig das Thema Partnerschaft anführt: also auch mein Mann ist in irgendeiner Weise der Familie beigetreten. (Zeile 209) Als Beleg für Ardas Behauptungen in Bezug auf die
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brüderliche Beziehung gelten die Mitteilungen über das mittlerweile erreichte Eintreten des Partners in die Familie sowie über die bestehenden kulturellen Unterschiede, die eine ergänzende Rolle in der partnerschaftlichen Beziehung spielen. Arda betont wiederholt: Wir sehen das [kulturelle Unterschiede] als etwas ergänzendes […] nicht als trennend (Zeile 217). Das Erscheinen des Adjektivs trennend bezeugt indirekt, dass kulturelle Unterschiede in der Partnerschaft durchaus Grund für einen möglichen Konflikt oder eine eventuelle Trennung sein könnten. Gegen diese Möglichkeit stellt er die These auf, dass die kulturellen Differenzen nicht trennend, sondern im Gegenteil verbindend wirken; sie sind in der Lage, in der Partnerschaft bestehende Mängel auszugleichen. Als Beleg seiner These führt er folgende Schlussaussage des Segments an: Ich glaube, das liegt an unserer Perspektive, dass diese Ehe oder Partnerschaft so fruchtbar geworden ist. (Zeile 218219) Segment 11: Erste Reise nach Deutschland Das elfte Segment beginnt mit der Frage an Arda, ob er vor der Eintragung der Lebenspartnerschaft Kontakte zu Deutschland hatte. So führt er die Geschichte seiner ersten Reise nach Deutschland und seiner früheren familiären Situation aus. Seine Mutter sei Ende der 60er Jahre als Gastarbeiterin nach Hamburg gekommen und dort geblieben. Er wurde 1969 in der Türkei geboren; bei Berücksichtigung seines Geburtsjahres kann angenommen werden, dass seine Mutter ihn bereits kurz nach seiner Geburt verlassen hat. Arda erzählt, mit seinem Bruder zusammen von seinem Vater erzogen worden zu sein: „Meine Mutter lebte in Deutschland […] als Gastarbeiterin ist sie gekommen, Ende der sechziger Jahre, und sie ist in Hamburg geblieben. Ich bin 1980 nach Deutschland und war bis dahin bei meinem Vater groß geworden. Mein Vater, mein Bruder und ich sind zusammen aufgewachsen, drei Jungs in einem Haus.“ (Zeile 223-226)
In den folgenden Darstellungen geht es nun um das Zusammenleben mit seinem Bruder und seinem Vater; die familiäre Situation wird mit dem Unterton eines leichten Humors beschrieben. Es habe zu Hause drei Mädchen gegeben: Er, sein Vater und der Bruder: Drei Jungs in einem Haus, so dass wir im Grunde wie Frauen waren. (Zeile 226-227) Dieses Zitat stellt den Versuch der Relativierung einer schwierigen familiären Situation dar; Arda versucht, ein mögliches Leiden unter der Mutterlosigkeit zu verschleiern. Das demonstrative Adverb so in der folgenden Aussage Wir sind so aufgewachsen und dann habe ich meine Mutter offiziell kennen gelernt. (Zeile 231-232) kann als Beleg für die tragische Betrachtungsweise des Interviewten gelten, es drückt sein Leiden durch die Mutterlosigkeit auf indirekte Weise aus. Mit so aufgewachsen sein ist vermutlich ohne Mutter aufgewachsen sein
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gemeint. Und dann habe er seine Mutter offiziell kennen gelernt. Die Zeitangabe und dann bringt den bislang bestehenden Zustand der Mutterlosigkeit wieder zur Sprache; das Kennenlernen der Mutter kann nach einer Summierung der folgenden Aussagen interpretiert werden: Die Mutter hat die Kinder in unregelmäßigen Zeitabständen besucht, ohne sich ihnen als leibliche Mutter zu offenbaren. Arda erwähnt, dass er sie, bis dahin nicht als seine Mutter kannte, sondern als eine Frau, die kam und wieder ging (Zeile 233) Sein Vater habe ihnen gesagt, dass ihre Mutter verstorben sei, damit sie nicht ihre Mutter vermissen bzw. nach ihr fragen. Hier versucht Arda, die Rechtfertigung seines Vaters zu stützen und begründet dessen Verhalten mit der Aussage: Aber mein Vater hatte uns gesagt, dass meine Mutter tot ist, damit wir sie nicht vermissen oder suchen […] weil sie beide ein ganz anderes Leben führten. (Zeile 233-235) Die Trennung der Eltern wird aus der Sicht des Vaters legitimiert. Arda geht in diesem Segment nicht den Auswirkungen der Trennung nach; er scheint die Aussage des Vaters über den Verbleib der Mutter akzeptiert zu haben, was die Analyse der Mutter-Sohn-Beziehung erschwert. Mit der Mitteilung, dass er im Alter von zwölf Jahren von der Existenz seiner Mutter erfuhr, kehrt Arda zur Haupterzählung zurück und berichtet, wie er nach Deutschland kam. Dieser Abschnitt der Erzählung hat einen informativen Charakter, das heißt, der Zuhörer erlangt Informationen über den Kennenlernprozess mit der Mutter und die Reise nach Deutschland, die jedoch durch keinerlei Beschreibung ausgeschmückt werden: Mit zwölf habe ich von der Existenz meiner Mutter erfahren, sie lebte in Hamburg (Zeile 235-236). Anschließend stellt Arda seine These auf: Und [sie] hat mich damals mit Schokoladen oder Bonbons herumbekommen und führt den Beleg der These an: Und ‚komm‘ sagte sie mir, wir gehen nach Deutschland, da gibt es noch mehr Bonbons […] und das war meine erste Reise nach Deutschland, im Jahr 1980. (Zeile 236-238) Segment 12: Religiöser Stiefvater und Gewalt Im vorangegangenen Segment thematisierte Arda die schwierige familiäre Situation, das Kennenlernen der Mutter und die erste Reise nach Deutschland. Das zwölfte Segment beginnt mit einer Zeitangabe, Ich bin damals [hierher] gekommen, aber nur für sechs Monate geblieben. (Zeile 241) Diese Zeitangabe bezieht sich auf den Zeitraum, der vom Kennenlernprozess und der ersten Reise nach Deutschland ausgefüllt wurde. Der zweite Satz des Segments, der mit aber beginnt, leitet eine neue Lebensphase des Erzählers ein. Er sei gekommen, aber nur sechs Monate geblieben. Etwas scheint gegen seinen Willen abgelaufen zu sein. Es ist anzunehmen, dass Arda damals zu der Einreise nach Deutschland gezwungen wurde. Er führt seine Erzählung mit einer Argumentation weiter: Er habe sich durch die Unterdrückung durch den Stiefvater gestört gefühlt, was der Grund für einen nur kurzen, sechsmonatigen Aufenthalt war (Zeile 242).
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Auffällig an dem narrativen Interview ist, dass der Erzähler überwiegend von anderen Personen berichtet, sie bewertet, rechtfertigt oder beschuldigt. In seinen Narrationen werden die Anderen als Handelnde identifiziert und wie in einem Theaterstück als Charaktere mit unterschiedlichen Grundeigenschaften auf eine Bühne gestellt (vgl. Brüsemeister 2000: 168). In den folgenden Aussagen korrigiert er sich insofern, als er den genaueren Zeitraum seines Aufenthaltes angibt. Arda lebte nicht sechs, sondern neun Monate in Deutschland. Er fühlte sich in der (neuen) Familie nicht wohl, da sein Stiefvater ihn ständig unter Druck setzte, in die Moschee zu gehen und dort zu beten oder den Koran zu lesen (Zeile 242-247). In diesem Segment steht der Stiefvater im Vordergrund; er wird als streng religiös bezeichnet. Arda stellt seine Situation als unbehaglich dar (Zeile 242). Er stellt einen Vergleich zwischen seinem (leiblichen) Vater und dem Stiefvater an. Durch den Stiefvater trat unvermittelt die Religion in sein Leben, die er bis dahin bei seinem leiblichen Vater in keinster Weise zu praktizieren hatte. Nach der Aussage Ardas lässt sich erahnen, dass ihn der leibliche Vater säkular erzog und Arda infolgedessen mit der konservativen Erziehung des Stiefvaters nicht zurechtkam. Die derart gegensätzliche Situation zwischen Religiösität und säkularer Weltanschauung bewirkte bei Arda Unbehagen in der neuen Situation und seine Auflehnung gegen den Stiefvater. Die Konflikte beschreibt er in der Art und Weise als dramatisch; er übt Kritik an der Erziehung der Mutter und des Stiefvaters. Anstatt Deutsch zu lernen oder sich mit seinen Schulaufgaben zu beschäftigen, musste er zur Koranschule gehen, den Koran fehlerfrei lesen können und in der Moschee regelmäßig beten (Zeile 247-250). Diese Kritik bezieht sich möglicherweise aus seiner gegenwärtigen Sicht auf einen vergangenen Lebensabschnitt. Im Falle der unzureichenden Erfüllung seiner religiösen Aufgaben wurde er vom Stiefvater durch körperliche Züchtigung bestraft, was zu Ardas Flucht und Rückkehr in das Haus seines leiblichen Vaters führte. Arda ergänzt seine bewertenden Aussagen: Er könne ihnen (Mutter und Stiefvater) auch heute noch nicht verzeihen (Zeile 252); er zieht aus dieser Erziehung die Bilanz, dass seine Zukunft aufs Spiel gesetzt wurde und führt als Beleg die Behauptung an: also gerade in meiner Zeit2, ja in dieser Zeit habe ich den Islam kennen gelernt, es wurde religiöser Druck und natürlich auch Gewalt ausgeübt. (Zeile 256257) Die gewalttätige Neigung des Stiefvaters erklärt er mit der Tatsache, dass er kein leiblicher Sohn war, was ferner die anfängliche Empathie zu einer Antipathie zwischen Stiefvater und Stiefsohn werden ließ. Er bezeichnet seinen Stiefvater als gewalttätigen Menschen, der ihn unter Vorwänden schlug. Folgendes Zitat belegt seine Behauptung:
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Hier ist die Zeit der Pubertät gemeint.
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„Ich sage natürlich, weil mein Stiefvater war ein Mensch, ähm, der gerne gewalttätig war. Ich war sowieso nicht sein [leiblicher] Sohn, zum Beispiel, wenn ich den Koran falsch las, dann hat er mir eine Ohrfeige verpasst, anstatt es, ähm, mir genauer zu erklären“ (Zeile 259-260).
und „um nicht geschlagen zu werden, habe ich ihn angelogen. Und weil ich gelogen habe, hat er mich dann geschlagen.“ (Zeile 262-263)
Im Resümee des zwölften Segments erklärt Arda, dass ihn diese Gewalterfahrungen zur Flucht zwangen. Zur Lösung des Konfliktes haben ihn die Mutter und der Stiefvater nach neun Monaten in die Türkei zurück geschickt und dort an einer Imamschule als Internatsschüler eingeschrieben. Auf die Zeit des Internats wird im Interview nicht eingegangen, sie dauerte circa drei bis vier Jahre. Die Flucht in das väterliche Haus geschah möglicherweise nicht unmittelbar nach Ardas Rückkehr, sondern nach Ablauf der Internatszeit, in der er seinen Mittelschulabschluß erwarb und dann das Gymnasium besuchte: „Naja, ich habe heftige neun Monate erlebt, es kam mir so vor, als wären das drei, vier Jahre gewesen. Wenn ich heute darüber nachdenke, ich habe wirklich gerechnet […] wären das insgesamt neun Monate, aber als ob es drei, vier Jahre wären, jedenfalls wurde ich so geschlagen, als wäre ich drei, vier Jahre lang geschlagen worden [...] Weil ich bis dahin gar keine Ohrfeige von meinem Vater bekommen hatte, es ist so eine gewaltvolle Kindheit vergangen, und danach haben sie mich wieder zur Imam Hatip Schule3 geschickt, als ein Internatsschüler habe ich das Imam Hatip Gymnasium besucht, bis ich begriffen habe und es mir bis zum Hals stand. Als ich dann in der neunten Klasse war, bin ich weggelaufen und ging wieder zu meinem Vater.“ (Zeile 265-273)
Segment 13: Zweiter Aufenthalt in Deutschland Dieses Segment wird mit einer Zeitangabe eröffnet; es handelt von der 1992 während seines Studiums an der türkischen Akademie der Künste umgesetzten Entscheidung Ardas, ein zweites Mal nach Deutschland einzureisen. Die internationalen Jugendgemeinschaftsdienste (IJGD) beschafften ihm ein Visum zwecks eines Studiums an einer deutschen Hochschule: Als ich an der Universität an der Akademie der Künste studierte, im Jahr 92 bin ich wieder nach Berlin gekommen. Damals gab es ein Jugendprojekt. Es gab einen Verein, der IJGD hieß. (Zeile 274-276)
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Die Imamschule ist in der Türkei eine Form von Priesterschule, in der die Imame ausgebildet werden. (Z.Ç.)
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Aus aufenthaltsrechtlichen Gründen wurde er jedoch nach drei Monaten durch die Ausländerbehörde in die Türkei ausgewiesen. Während des zweiten Deutschlandaufenthaltes besuchte er eine Sprachschule, um Deutsch zu lernen. Obwohl er im Rahmen eines Projektes eingereist war, bestand sein Ziel in erster Linie in einem Studium der Theaterpädagogik in Berlin. Mit eben dieser Absicht bewarb er sich für einen Studienplatz. Nach seiner Aussage hatte er die Bewerbungsvoraussetzungen erfüllt. Er ging vom Ausländergesetz aus, das ausländischen Studieninteressierten in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis garantiert, wenn sie die Zulassungsvoraussetzungen eines Studiums an einer deutschen Hochschule erfüllen. Trotz seiner Bemühungen um einen Studienplatz und der Erfüllung der Voraussetzungen wurde ihm keine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Die Begründung der Ablehnung seitens der Ausländerbehörde erklärt Arda nicht. Er beschreibt in den folgenden Darstellungen, dass er wieder in die Türkei fliegen sollte, um bei der dortigen Deutschen Botschaft einen Antrag auf ein Visum zu Studienzwecken zu stellen. Er berichtet jedoch, dass die Reise aus finanziellen Gründen nicht machbar war. So sei er in Deutschland geblieben, bis die Polizisten ihn in der Schule ertappt und zum Flughafen begleitet hätten: „Damals begann ich in einem Kurs offiziell Deutsch zu lernen, und auf der anderen Seite habe ich angefangen, mich für Theaterpädagogik zu bewerben, ich sollte einige Formulare ausfüllen, oder mich einschreiben, ich hatte alles gemacht und ich sollte die Prüfung Grundstufe II4 bestehen, um an der Universität studieren zu dürfen, ich hatte auch diese Prüfung bestanden […] aber ich konnte kein Visum bekommen, sollte wieder in die Türkei fliegen und [dort] den Antrag auf ein Visum stellen [bei der Deutschen Botschaft] und dann wieder hierher kommen. Aber aus wirtschaftlichen Gründen war das nicht möglich, wieder hin und her, ähm, und, ja, dann bin ich einfach hier geblieben und nicht gegangen. Danach wurde ich unter polizeilichem Zwang ausgewiesen, nur weil ich zehn Tage länger geblieben bin […] als ich wieder in die [Sprach-] Schule ging, um mich über die Ausbildung zu informieren, haben mich die Polizisten in der Schule gesucht, sie haben mich dort gesehen und dann haben sie mich bis nach Hause begleitet, und sie haben auf mich gewartet, ich habe meine Sachen gepackt, bin zum Flughafen gefahren und sie haben mich mit der Lufthansa in die Türkei geschickt.“ (Zeile 277-291)
Nach einem anschließenden zehnjährigen Aufenthalt in der Türkei kam er 2002 wieder nach Deutschland: nach zehn Jahren, 2002, bin ich wieder gekommen. (Zeile 292) Arda greift das Hauptthema des folgenden Segments auf, nämlich die Ankunft in Deutschland und den Kennenlernprozess des Partners.
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Prüfung Grundstufe 2: Das Niveau der deutschen Sprachkenntnisse.
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Segment 14: Dritter Aufenthalt in Deutschland und der Partner Arda leitet das Segment mit der Erzählung vom Kennenlernen des Partners und der Bleibesituation in Deutschland ein. Die Geschichte der im vorigen Segment angekündigten Reise nach Deutschland wird nicht dargestellt. Hier wäre zu erwarten gewesen, dass er über den zehnjährigen Zeitraum zwischen 1992 und 2002 erzählen würde, wie er zu dieser Zeit sein Leben in der Türkei geführt bzw. welche Erfahrungen er gemacht hat. Stattdessen überspringt er diesen Lebensabschnitt und führt einen anderen aus: den des dritten Aufenthaltsversuches in Berlin. Reiht man die letzte Zeile des vorangegangenen Segments an die erste Zeile dieses Segments, so lässt sich daraus schließen, dass Arda mit der Absicht eines unbefristeten Aufenthalts wieder nach Deutschland gekommen ist: 2002, bin ich wieder gekommen und habe meinen Freund kennen gelernt […] und dann haben wir geheiratet und ich bin geblieben. (Zeile 292-294) Angesichts dieser Aussage kann davon ausgegangen werden, dass Arda auf die vergangenen zehn Jahre nicht eingehen möchte. Er stellt seine Absicht einer dritten Deutschlandreise direkt im Anschluss dar. Ferner kündigt er drei Untersegmente an: erstens das Kennenlernen des Partners, zweitens die Phase der Verpartnerung und drittens den Erhalt des Bleiberechts durch Ardas Einbürgerung. Hierbei ist nur schwer zu unterscheiden, welches der drei Ereignisse im Zentrum der Erzählung steht. Nach zehn Jahren reist er ein, lernt seinen Freund kennen, geht mit ihm Lebenspartnerschaft ein, erhält die deutsche Staatsangehörigkeit und bleibt in Deutschland. Diese Form der Erzählung stellt eine Selektion aus den Erinnerungen an tatsächliche Begebenheiten dar (vgl. Herrmanns 1984: 115) und blendet die Hintergründe der Ereignisse aus. Die für den Erzähler relevanten Themen werden zum Ausdruck gebracht, während alle als irrelevant eingestuften Ereignisse nicht thematisiert werden. In zusammenfassender Form beendet Arda die Erzählung von seiner neuen Lebensphase in Deutschland, und so verspürte ich in der Rolle des Fragen stellenden Interviewers das Bedürfnis nachzubohren, um die Dinge in ihrer Gänze zu erfahren. Den Nachfrageteil des Interviews begann ich mit der Frage, wie der Interviewte seinen Partner kennen gelernt hat (Zeile 295-296). Die Antwort auf die erste Nachfrage beginnt mit einer Ankündigung des Interviewpartners, meiner Frage nachzukommen und über seine Beziehung von Anfang an zu erzählen. Die Verwendung des Begriffs natürlich (Zeile 297) signalisiert die Bereitschaft Ardas. In den Zeilen 297-309 wird der Hintergrund der Bekanntschaft mit dem gegenwärtigen Partner detailliert dargestellt. Zu diesem Zeitpunkt war Arda erst seit kurzem in Deutschland. Der wieder aufgenommene Kontakt zu einem deutschen Freund, den Arda bereits seit mehreren Jahren aus der Türkei kannte, habe ein Kennenlernen ermöglicht, da sein heutiger Partner ein Kumpel dieses Freundes sei. Arda erzählt, er habe sich um diese Freundschaft gekümmert (in Form eines Briefverkehrs), um seine Deutschkenntnisse nicht zu verlernen. Nach dem Skizzieren der Hintergründe geht Arda konkret auf die näheren Umstände ein. Arda trifft
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seinen deutschen Freund, der selbst mit Freund_innen gekommen war, auf einer Party. Auf dieser Party, die in der X-Bar stattfand und in der der Eurovision Song Contest live übertragen wurde, konnten sie sich in einer ansprechenden Umgebung treffen. Unter den Bekannten seines Freundes befand sich auch sein heutiger Partner: „Wir haben uns auf dem Eurovision Song Contest kennen gelernt, also in X-Disco, wo das Finale von Eurovision Song Contest [live übertragen wurde] ich war auf eine Party gegangen, er war auch da und wir haben uns auf der Party kennen gelernt, als ein Kumpel eines Freundes von mir, den ich in der Türkei als Tourist kennen gelernt hatte […] ich habe ihn [wieder] getroffen, als ich nach Berlin kam im Jahr 2002, dazwischen sind die Jahre vergangen, dann habe ich ihm gesagt, es wäre nicht schlecht, wenn wir uns wieder treffen, weil ich den Kontakt nicht abgebrochen hatte, damit ich mein Deutsch nicht vergesse […] und wir haben uns auf dieser Party getroffen, und er hat mich mit seinem Kumpel bekannt gemacht, so haben wir uns kennen gelernt.“ (Zeile 297-306)
Das Hauptthema des Segments, das von dem Entscheidungsprozess für eine eingetragene Lebenspartnerschaft handelt, wird nun eingeleitet. Wieder konstruiert Arda den Hintergrund des Entscheidungsprozesses, wieder geht er auf die Vorgeschichte der Beziehung ein und beschreibt, wie es zu der Beziehung kam. Er schildert die ersten Treffen mit seinem späteren Partner nach dem Kennenlernen in der X-Disco: „Danach sind wir am nächsten Tag ins Kino gegangen, und dann bin ich ins Museum gegangen, na ja wir gingen in Berlin spazieren. In seiner freien Zeit, an den Wochenenden, haben wir gemeinsam ein paar Pläne gemacht […] Wir haben dann gesehen, dass wir uns gut verstehen, dann haben wir überlegt, was man am besten machen kann, damit ich hier bleibe. Eigentlich bemühte ich mich darum, zu erfahren, wie ich hier bleiben konnte, was für Möglichkeiten es gab, ich hatte ständig Termine mit Rechtsanwälten und zu einem Termin kam er auch mit.“ (Zeile 309-315)
In dieser Zeit informierte Arda sich intensiv über Aufenthaltsvoraussetzungen in Deutschland. Bei einem bevorstehenden Termin mit einem Rechtanwalt ergriff der Partner die Initiative und bot an, ihn zum Rechtsanwalt zu begleiten. Der Rechtsanwalt klärte sie über die Möglichkeiten der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis durch eine eingetragene Lebenspartnerschaft oder eine Heirat auf. Nach der Beratung entschieden sie sich, diese einzugehen: Nachdem wir uns detailliert informiert haben, was für Nach- und Vorteile das hätte, hat mein Freund mir dings gesagt also (Zeile 321-323). Die Haupterzählung ist nun abgeschlossen; der Erzähler leitet ein Untersegment ein, in dem er den Entscheidungsprozess berücksichtigt. Das Untersegment handelt von der Beschreibung der Beziehung. Interessant ist, dass es stark von bewertenden, argumentierenden und beschreibenden Aussagen geprägt ist. Eine
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solche Ausdrucksform zeigt, dass sich Arda gedanklich mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft auseinandergesetzt hat. An dieser Stelle des Interviews reflektiert er direkt die Bedingungen einer Beziehung, die auf gegenseitigem Verstehen basiert: Wir verstehen uns wirklich sehr gut (Zeile 321). Das Adverb wirklich verstärkt seine unmittelbare Behauptung und ergänzt sie um eine Belegerzählung, die beweisen soll, dass sich der Erzähler mit seinem Partner wirklich sehr gut versteht sowie eine harmonische Beziehung hat (Zeile 325-329). In dieser Harmonie sieht er den Grund für das Heiratsangebot seines Partners, das ihm einen legalen Aufenthalt in Deutschland ermöglichen soll. Er kommentiert die Lage als seltsame Situation und führt einen neuen Beleg für diese an: Ich hätte nicht sagen können, ob er mich heiraten würde, denn er war nicht irgendjemand. (Zeile 332) Es ist anzunehmen, dass die Lösung des Aufenthaltsproblems durch eine Heirat bereits vom Erzähler in Betracht gezogen worden war; doch war er wohl beunruhigt, die Beziehung durch eine solche Forderung zu zerstören. Die Aussage ich hätte nicht sagen können, die im Konjunktiv steht, bringt seine Angst und Verunsicherung zum Ausdruck. Mit der Bezeichnung seines Partners als nicht irgendjemand erklärt er die Verunsicherung seinerseits. Arda zieht sich also zurück und wartet auf eine Reaktion seines Gegenübers. In diesem Fall steht der Partner im Zentrum der Erzählung, der seinerseits die Initiative zur Eintragung der Lebenspartnerschaft übernommen hat. In der folgenden Äußerung beschreibt Arda den Stand der Beziehung im Hinblick auf den Nutzen der Lebenspartnerschaft: Eigentlich war das auf den ersten Blick so eine Heirat, als hätte man sie geplant, um hier bleiben zu können […] aber natürlich haben wir uns im Laufe dieses Prozesses besser kennen gelernt, je mehr wir uns kannten, desto mehr haben wir uns geliebt. (Zeile 334-337) Hier in der letzten Aussage des Segments wird einerseits der Beziehungsverlauf zusammengefasst, andererseits wird veranschaulicht, wie es zu einer eingetragenen Lebenspartnerschaft kommt. Diese Aussage rechtfertigt die Absicht des Erzählers, eine eingetragene Lebenspartnerschaft aus aufenthaltsrechtlichen Gründen einzugehen, da er sich im Laufe der Zeit für eine gelungene Beziehung engagiert hat. An dieser Stelle greift Arda das Hauptthema des folgenden Segments auf: seine Vorstellung von der Partnerschaft. Segment 15: Ich glaube, das ist eine Beziehung, die ich nicht wieder finden werde Das fünfzehnte Segment beginnt mit einem Rahmenschaltelement denn, das die Ängste des Erzählers bezüglich der Partnerschaft zum Ausdruck bringt. Die Annahme des Interviewers, die vom vorangegangenen Segment ausging, dass Arda aufgrund seiner Ängste seinen Partner nicht auf die Lebenspartnerschaft angesprochen hat, wird einerseits bestätigt, doch wird der Sinn der Angst durch die ersten zwei Sätze des Segments korrigiert: Denn ich bin auf nichts gestoßen, wovor ich Angst hatte. Also gut, wovor habe ich denn Angst? Zum Beispiel hasse ich wegen
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meiner gewaltvollen Kindheit jegliche Gewalt. (Zeile 338-340) Im ersten Satz berichtet Arda von der Übereinstimmung des Partners mit seinen Vorstellungen. Seine Voraussetzungen für eine Partnerschaft lauten: Und die Person, mit der ich lebe oder kommuniziere, soll mir gegenüber nicht aufbrausend und laut werden. (Zeile 340-341) Diese Voraussetzung rührt aus einer Kindheit, die von Gewalt gegen ihn geprägt war. Als Folge davon hat sich eine generelle Tendenz zur Gewaltvermeidung in zwischenmenschlichen Beziehungen entwickelt. Die Bedingung einer Beziehung liegt also in der Bereitschaft seines Partners, einem gewaltlosen Verhältnis aktiv zuzustimmen. Im Laufe des Segments wiederholt Arda dieses Anliegen und fügt hinzu, dass es bis zum Zeitpunkt des Interviews noch nie zu durch Gewalt gekennzeichneten Konflikten in der Beziehung gekommen ist (Zeile 346). Er kehrt dann wieder zum Thema des vorangegangen Segments zurück. Die Lebenspartnerschaft war zunächst als Bleibemöglichkeit vorgesehen, entwickelte sich jedoch bald zu einer wirklich intensiven Beziehung: Also, das war am Anfang so ein Plan, damit ich hier bleiben kann, aber danach hat sich das in eine Beziehung verwandelt, und ich glaube, das ist eine Beziehung, die ich nicht wieder finden werde. (Zeile 346-348.) In der abschließenden Aussage verdeutlicht Arda seine allgemeine Zufriedenheit mit der Beziehung und macht schließlich sechs Sekunden Redepause, bis ich ihn durch eine Nachfrage zum Weitererzählen auffordere. Segment 16: Kontakt zu der Schwiegerfamilie Das sechzehnte Segment beginnt mit der Nachfrage des Interviewers, ob Arda zur Familie seines Partners Kontakt habe. Er stellt eine Hintergrundkonstruktion dar und nimmt Bezug auf die ersten Jahren seines Aufenthaltes, eine Zeit, in der er arbeitslos und noch nicht mit seinem Partner verpartnert war. Er besuchte mit seinem Partner die Schwiegereltern in Bayern. Die Situation schildert er als seltsam, denn erstmalig trat er in das Leben einer mehrheitsdeutschen Familie ein. Auch wenn Arda an dieser Stelle des Interviews seine Fremdheitsgefühle5 nicht ausdrücklich erwähnt, so geht aus den folgenden Aussagen dennoch hervor, dass er bedingt durch sein Fremdsein Zweifel hatte, von den Schwiegereltern akzeptiert zu werden. An seinen Aussagen ist nicht zu erkennen, wo genau sein Zweifel herrührt. Zwei Annahmen können jedoch aufgestellt werden: seine Homosexualität oder seine Situation als Ausländer in einer mehrheitsdeutschen Familie: Das war für mich sehr seltsam, denn ich ging zu einer deutschen Familie. Zuerst hatte ich Angst und war unsicher, ob sie mich akzeptieren würden. (Zeile 355-356) Die Annahme einer 5
Mit dem Begriff fremd beziehe ich mich auf die zweidimensionale Definition von Hahn. Demnach „wird als fremd beschrieben, was anders ist bzw. dem Anderssein zugeschrieben wird. Die zweite Dimension bezieht sich auf unser Wissen vom anderen. Fremd ist dann, was uns unvertraut, unbekannt, neu und unerforscht vorkommt.“ (Hahn 2000: 33)
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zweidimensionalen Fremdheitserfahrung seitens des Interviewers wird hier bestärkt. Als homosexueller ausländischer Mann mit islamischem Hintergrund fiel es ihm nicht leicht, sich bei den Schwiegereltern vorzustellen bzw. sie näher kennen zu lernen. Arda geht weiter auf seine Schwiegereltern ein und beschreibt, wie er jemand von der Familie geworden ist: Zuerst hatte ich Angst davor und war unsicher, ob sie mich akzeptieren würden; wo sollte ich am Tisch sitzen? Dies und das, aber ich bin ganz natürlich ein Mitglied der Familie geworden. (Zeile 356-358) Arda scheint die Scheu vor der Familie seines Partners verarbeitet zu haben; es kommt zu einem positiven Ergebnis, nämlich Akzeptanz durch die Familie des Partners. Der Begriff aber verstärkt die Selbstverständlichkeit des Eingliederungsprozesses. Das Thema Akzeptanz bzw. sich als einer von der Familie fühlen taucht in diesem Segment vier Mal auf. Das zeigt die Relevanz der schwiegerelterlichen Akzeptanz aus der Sicht des Erzählers; das Ereignis symbolisiert Ardas Bewältigung von Fremdheitserfahrung in einem engen mehrheitsdeutschen Umfeld. Er führt oft Belege für die Akzeptanz der Familie an, so die Geschenke, die er an wichtigen Tagen des Jahres von den Schwiegereltern geschickt bekommt oder auf Wunsch der Schwiegermutter gemeinsam aufgenommene Fotos; sie weisen die Akzeptanz seiner Familienmitgliedschaft durch die Schwiegerfamilie gleichermaßen nach (Zeile 358ff.). Segment 17: Bereichernde kulturelle Unterschiede in der Schwiegerfamilie Das siebzehnte Segment beginnt mit dem Rahmenschaltelement außerdem, das Bezug auf das vorangegangene Segment nimmt und es mit einem anderen Thema fortsetzt. Hier verdeutlicht der Interviewpartner seine Familienmitgliedschaft in der gerfamilie durch das Anführen eines Belegs. Außerdem soll heißen, dass er zusätzlich mit anderen Mitgliedern der weiteren Familie bekannt gemacht wurde; das Kennenlernen weiterer Verwandter festigt demnach sein Zugehörigkeitsgefühl in der Schwiegerfamilie. So wird das Hauptthema des Segments, nämlich die Bereicherung durch kulturelle Unterschiede, eingeleitet. Arda ist in der Familie die einzige Person, die über einen tatsächlichen oder imaginierten islamisch-türkischen Hintergrund verfügt. Obschon zunächst als unser türkischer Sohn dargestellt, wurde seine Herkunft nicht als diskriminierender Faktor betrachtet. Im Gegenzug erzählt er, dass es natürlich seltsame Dinge gibt (Zeile 379ff.). Als Beispiel für diese seltsamen Dinge führt er an, dass manchmal unterschiedliche Ess- bzw. Trinkgewohnheiten auffallen, die er persönlich jedoch als bereichernd empfindet: „Also sie hören von mir neue Sachen, sie sehen durch mich neue Dinge. Zum Beispiel wenn sie kochen, dann sag ich ‚ich würde so kochen und nicht so‘ oder ‚ich hätte dieses Gewürz benutzt und nicht das andere‘ und wenn ich ihnen ein anderes Gewürz empfehle, dann empfinden sie das als bereichernd.“ (Zeile 386-388)
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An dieser Stelle des Interviews gerät der Erzähler in eine sieben Sekunden dauernde Erzählstockung, die mich zu einer weiteren Nachfrage anregt. Segment 18: Das Lebenspartnerschaftsgesetz In den letzten zwei Segmenten führte Arda seine Beziehung zum Partner und zur Schwiegerfamilie detailliert aus. Im Anschluss an seine Erzählung fragte ich nun nach, was sich in seinem Leben mit der Eintragung der Lebenspartnerschaft geändert hat und ob er nach dem Eintragung der Lebenspartnerschaft von bestimmten Diskriminierungen betroffen war. Ohne ernsthaft auf meine Frage einzugehen, antwortete mir Arda in knappen Sätzen: er wäre in Deutschland aufgrund seiner sexuellen Orientierung noch nicht diskriminiert worden und kenne sich mit dem Thema LpartG nicht weiter aus. Auffällig ist, dass er sein klares Desinteresse für das LpartG, von dem er durch das Erlangen seines Bleiberechts profitierte, auf selbstbewusste Weise zum Ausdruck bringt. Das interessiert mich aber auch nicht (Zeile 398). Auf die letzte Frage dieses Segmentes, ob er jemals von institutioneller Diskriminierung betroffen gewesen wäre, antwortete er relativ schnell und konsequent, als hätte er über das Thema der Diskriminierung in Deutschland nicht sprechen wollen. So ist dieses Segment abgeschlossen. Segment 19: Rückkehrgedanken – Ich bin hier Ausländer, dort schwul Aufgrund der Erzählstockung Ardas versuchte ich, das Interview durch eine weitere Nachfrage in Gang zu halten. So lautete die nächste Frage, ob der Interviewte für die Zukunft an eine Rückkehr in seine Heimat denke. Die Erzählung gewinnt durch den Bericht eines Traumes bezüglich der Zukunft und der Heimat wieder an Dynamik. Angefangen hatte der Interviewpartner seine Erzählung mit naja, was Zögern oder Skepsis ausdrückt. Er hätte eigentlich einen Traum, in der Türkei ein Projekt zu initiieren, wobei er unsicher sei, ob dieser Traum in Erfüllung gehen wird oder nicht (Zeile 409-418). Eine Rückkehr in die Türkei hinge mit dem Projekt für Straßenkinder6 zusammen. Arda bleibt jedoch aufgrund seiner sozialen und finanziellen Situation, die er als Hindernis bezeichnet, skeptisch, ob er dieses Projekt tatsächlich würde durchführen können (Zeile 417ff.). Er zählt die wichtigsten Voraussetzungen für die Durchführung des Projektes auf: ein regelmäßiges Einkommen und dadurch soziale und finanzielle Stabilität; nur so wäre er in der Lage, sein Projekt in die Wege zu leiten (Zeile 420). Seine derzeitige soziale und finanzielle Instabilität scheint er in einer Äußerung auf seinen Status als Migrant zu beziehen; er erklärt, dass er sich in Deutschland noch nicht ausreichend eingelebt habe und somit für ein so um-
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Mit Straßenkindern meint der Interviewpartner die obdachlosen Kinder.
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fangreiches Projekt noch nicht bereit sei (Zeile 417). Er räumt ein, dass er dieses Traumprojekt in Pension und natürlich in der Türkei verwirklichen würde: „Also ich habe so einen Traum, und dieser Traum wird wohl nur in meiner Rente in Erfüllung gehen oder so. Es gibt in finanzieller und zeitlicher Hinsicht Hindernisse, ich bin sozusagen noch nicht zu mir gekommen, ich weiß jetzt noch nicht, wann dieser Traum in Erfüllung gehen wird, denn ich habe bis jetzt noch keinen regelmäßigen Job, kein regelmäßiges Einkommen, worauf ich mich verlassen kann. […] aber ich träume weiter [davon] und ich habe für die Zukunft so einen Traum, so eine Stiftung [für die Straßenkinder] zu gründen, und ich weiß noch nicht, wie ich das in die Realität umsetzen werde, und wenn ich das realisieren könnte, so denke ich, das natürlich in der Türkei zu machen.“ (Zeile 416-424)
Mit dieser Aussage leitet er ein Untersegment ein, das von der Vorstellung des Interviewpartners von seiner Heimat handelt. An dieser Stelle geht es ihm um die eigene Betrachtung, Bewertung und Interpretation von Heimat. Einerseits erkennt er den Bedarf seiner Heimat nach karitativen Projekten, die sozial benachteiligte Menschen fördern, jedoch kann er sich nicht vorstellen, sein ganzes Leben in der Türkei zu führen. Noch vor der Verdeutlichung der Gründe gegen ein Leben in der Türkei stellt er seine zukünftige Lebensvorstellung dar, die beinhaltet, dass er nur im Rahmen dieses von ihm entworfenen Projektes und nur unter der Voraussetzung eines zirkulären halbjährlichen Aufenthaltes in Deutschland und in der Türkei leben könne: Und das heißt, dass ich mir in der Türkei ein Leben so vorstellen würde, nämlich ein halbes Jahr abwechselnd hier und dort zu leben. (Zeile 429-430) Damit kündigt er sowohl ein neues Thema als auch die Rechtfertigung der Gründe dafür an, warum ein Leben in der Türkei für ihn unvorstellbar ist. Mit der Aussage: Aber ich habe jetzt nicht das Bedürfnis zu sagen, ‚OK!, ich habe hier nichts mehr zu tun, jetzt gehe ich zurück in meine Heimat (Zeile 430-431) versucht er, seinen unbefristeten Aufenthalt in Deutschland zu legitimieren. Es wird ersichtlich, dass er möglichenfalls in Deutschland in einer besseren Situation lebt und dass eine Rückkehr in die Heimat nach dem Erlangen dieser Situation aus seiner Sicht unrecht wäre. Die nächste Aussage unterstreicht die Legitimation seines Wunsches, in Deutschland und nicht in der Türkei weiter zu leben: Also ich habe nicht so ein Heimatgefühl. (Zeile 432) Aufgrund seines Gefühls der Heimatlosigkeit kommt ein Aufenthalt in der Türkei nicht in Frage: denn sie [die Türkei] hat mir nicht das gegeben, was ich verdient hätte. (Zeile 433) Hier führt Arda indirekt die Situation der in der Türkei lebenden Homosexuellen an. So unterstreicht er, dass seine Heimat ihm seine Rechte nicht zugesteht, was ihn selbst von dort vertrieben hat. Im Nachhinein fügt er hinzu, dass er auch Deutschland nicht als seine Heimat bezeichnet: Hier [in Deutschland] ist auch nicht meine Heimat, weil ich denke, dass ich mehr verdient habe, als sie [Deutschland] mir geben. (Zeile 433) In der folgenden Aussage bringt er die Verwobenheit seines sozialen Status als Diskriminierter in den beiden Ländern zum
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Ausdruck, weshalb er sich in der Gegenwart heimatlos fühlt: Denn ich habe hier einen migrantischen Status. (Zeile 435) Arda weist auf die rassistische Diskriminierung von Menschen hin, von der er sich wahrscheinlich auch betroffen fühlt. Mit der Ergänzung der letzten Aussage und dort [in der Türkei] einen schwulen Status (Zeile 436) fasst er seine Heimatlosigkeitsgefühle zusammen, die aus seinem Migrantenstatus und seiner Homosexualität hervorgehen und an mehreren Stellen dieses Segmentes zum Ausdruck gebracht werden. In der letzten Passage des Untersegmentes kommt er wieder zu der bereits zu Beginn ausgeführten Legitimation zurück, weshalb er trotz seines Status als Migrant in Deutschland weiter leben will. Auffällig ist an dieser Stelle, dass Arda konträre Aussagen zu den zu Beginn des Untersegments formulierten Aussagen über Deutschland macht; er scheint damit die Gründe für Deutschland rechtfertigen zu wollen: Der einzige Unterschied [zu der Türkei] ist, dass ich mich hier wohler fühle. (Zeile 436f.) Dieser Satz führt die abschließende Argumentationskette des Untersegments weiter, um dem Zuhörer zu verdeutlichen, weswegen er sein Leben in Deutschland führen will (Zeile 437-441). Das Segment wird mit einer Bilanzierung abgeschlossen, die gleichzeitig das nächste Thema des Interviews ankündigt: Es wäre ziemlich absurd, wenn ich alles hier lassen und zurückkehren würde. Also die Bedingungen sind die gleichen, aber hier fällt’s eher ins Gewicht, sowohl finanziell als auch sozial. (Zeile 436-441) Mit dieser Koda erstellt der Interviewpartner eine Hintergrundkonstruktion für seine Auswanderung aus der Türkei nach Deutschland. Segment 20: Diskriminierungserlebnisse in der Türkei Die Einführung des neuen Themas, das von der Auswanderung und diesbezüglichen Diskriminierungserfahrungen handelt, erfolgt durch die Hintergrundkonstruktion, die zum besseren Verständnis der weiteren Erzählung der Diskriminierungserlebnisse in der Türkei eingeführt wird. Die Hintergrundkonstruktion ist in die Erzählung eines Traumes vom Beruf des Lehrers, der nicht verwirklicht werden konnte, eingebettet: „Weil es mein Traumjob war, Lehrer zu werden, aber in der Türkei ist das nicht in Erfüllung gegangen […] ich bin nicht zur Armee gegangen. Ich habe keinen Wehrdienst geleistet. Weil ich gesagt hatte, dass ich homosexuell bin und wegen dieses Befreiungsscheines7 wurde mir mein Beamtenrecht8 entzogen, weil ich keinen Militärdienst gemacht hatte.“ (Zeile 443-446)
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Eine Bescheinigung, aus der hervorgeht, dass der Interviewpartner aufgrund einer psychosexuellen Störung vom Militärdienst befreit ist.
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Um in der Türkei Beamter zu werden, darf man keine psychischen Störungen haben, und Männer über 20 Jahre müssen ihren Wehrdienst bereits geleistet haben.
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In der letzten Aussage des vorigen Segments spricht Arda über Wohlbefinden in sozialer und finanzieller Hinsicht in Deutschland. Er veranschaulicht, dass er in der Türkei nicht auf einem derartigen sozialen und finanziellen Niveau leben könnte, da ihm durch einen Beschluss der türkischen Armee das Beamtenrecht entzogen wurde (Zeile 445). Die folgenden Darstellungen klären über den Grund des Rechtsentzugs auf. Arda erzählt von seiner Absicht, sich durch einen psychiatrischen Nachweis seiner passiven Homosexualität vom Wehrdienst in der Türkei befreien zu lassen (Zeile 445 und 460ff.). Der vom Militär erstellte Befreiungsschein, der auf einer psychiatrischen Diagnose basiert, verbietet ihm jedoch außerdem eine Tätigkeit als Beamter und somit auch als Lehrer. Nun führt Arda die Gründe für seinen Unwillen, den Militärdienst zu leisten, an: Ich habe mehrere Personen gekannt, die schon zur Armee gegangen sind, dort von mehreren Personen vergewaltigt wurden und dann Depressionen bekommen haben. (Zeile 447) Die Angst vor einer möglichen Vergewaltigung in der Armee und deren Folgen veranlassten den Interviewpartner zu einer Auseinandersetzung mit dem türkischen Militär: Nach diesen ganzen Geschichten wollte ich sowas nicht erleben. (Zeile 452-453) Der Versuch, die Verweigerung des Militärdienstes zu legitimieren, wird mit verschiedenen Fallbeispielen ausgeführt, so dass dieses Segment den durchgehenden Charakter einer Belegerzählung trägt: Außerdem war es für mich nicht möglich an einem Ort mit über hundert Männern zu leben. Das war nicht möglich ohne erkannt zu werden […] Ich hätte mich bestimmt verraten. (Zeile 453-455) Er bringt Argumente für seine Angst vor dem Militär, das sein Leben beeinträchtigen könnte. Arda hat Angst, dass seine Homosexualität seitens der Soldaten erkannt werden könnte und auch davor, dass er sie nicht verstecken könnte. Die eventuellen Folgen, nämlich eine mögliche Vergewaltigung oder Stigmatisierung, führt er wie folgt an: Dann kannst du die Leute nicht zum Schweigen bringen und musst mit dem ganzen Bataillon schlafen. Es gibt Menschen, die das erlebt haben. (Zeile 457-458) Arda stellt hier dar, dass er sich einerseits in die Situation dieser Menschen hineinversetzen kann, sich andererseits jedoch keinesfalls selbst in einer ähnlichen Situation befinden möchte. Dieser Motivation entwächst die Entscheidung zur Verweigerung des Militärdienstes. Nach der Darstellung der Hintergrundkonstruktion führt Arda nun seine Diskriminierungserfahrungen beim Militär weiter aus: Ich bin zur Armee, zur Rekrutierungsstelle gegangen und habe gesagt, dass ich homosexuell bin und keinen Wehrdienst leisten möchte. Dann haben sie mir gesagt, dass ich von dem Wehrkrankenhaus ein Gutachten bringen soll. (Zeile 460-463) Die Reaktion der Rekrutierungsstelle auf seine Anfrage schildert Arda in einer konträren Weise, die auf den ersten Blick nicht erkennen lässt, ob die Rekrutierungsstelle ihn tatsächlich aufgrund seiner Homosexualität diskriminiert hat: Und als sie das Wort homosexuell gehört hatten, haben sie ohnehin Angst bekommen […] also am Anfang haben sie in keinster Weise ihre Scheu gezeigt. (Zeile 465-466) Der konträre Charakter der Aussage kann auf die Unsicherheit des Interviewten
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hinsichtlich einer Einordnung der Situation zurückgeführt werden. Berücksichtigt man die sehr bestimmten Aussagen aus vorangegangenen und folgenden Segmenten, dann wird ersichtlich, dass sich Arda nicht häufig von Diskriminierungen betroffen gefühlt hat bzw. fühlt; dennoch war er sich der Thematik des Interviews bewusst. Es ist anzunehmen, dass er bemüht war, auf die Themen einzugehen, bei denen er das Interesse des Interviewers vermutete. So kündigt er nun ein Untersegment an, das sich um den Prozess der Befreiung vom Militärdienst dreht. Es beginnt mit dem Satz: Danach wurde ich zur Psychiatrie überwiesen. (Zeile 467) Auch in diesem Teil des Interviews werden andere Personen ins Zentrum der Erzählung gestellt, wie es bereits in vorigen Segmenten zu beobachten war (Zeile 467-484). Arda stellt die Behandlung durch den Psychiater dar, der mit der Begutachtung beauftragt war und der herausfinden sollte, ob Arda wirklich ein Homosexueller ist oder nicht. Zu diesem Zweck wurde Arda vom Psychiater unterschiedlichen Tests unterzogen. Sie beinhalteten überwiegend Themen, die sich auf sein Sexualleben bezogen und über welche er nicht gerne sprechen wollte. Teilt er die Fragen des Psychiaters selbst auch nicht direkt mit, so geht dennoch aus der folgenden Aussage hervor, dass er zu ihrer Beantwortung gezwungen wurde: Ich habe auf eine persönliche Frage, die sie nichts anging, geantwortet […] weil das protokolliert wurde, diese ganzen Fragen wurden niedergeschrieben für die Akten. (Zeile 473-475) Diese mit weil ausgeführte Aussage, die gleichzeitig die Handlungsweise des Interviewpartners während des psychiatrischen Gesprächs rechtfertigt, kann als Beleg für die oben genannte Annahme gelten. Nachdem Arda den Test, der als Beweis für Homosexualität gilt, bestanden hatte, musste er zusätzlich einem Ausschuss des türkischen Militärs sechs Fotos vorlegen, auf denen sein passiver Analverkehr mit einem Mann sichtbar ist. Die Aufforderung des Militärs zur Vorlage der Fotos betrachtet er zunächst nicht als demütigend, obschon er sich während des Interviews über die bestehende Herabsetzung klarer wurde (Zeile 480-486). Arda eröffnet somit ein neues Thema: die Klischeevorstellungen des türkischen Militärs homosexuellen Menschen gegenüber. In diesem Segment schildert Arda die Auseinandersetzung mit dem türkischen Militär, das er von seiner passiven Homosexualität zu überzeugen hatte. Dann sagte ich, ‚nimm guck mal, ich mach das so‘.9 (Zeile 487ff.) In diesem Zitat spricht Arda den Militärausschuss an, der den Analverkehr begutachten sollte; Arda wird während des Interviews wütend über die damalige Situation. Diese Reaktion widerspricht seiner vorherigen Aussage, er empfinde die Aufforderung des Militärs zur Vorlage der Fotos nicht als demütigend (vgl. Zeile 484ff). Er schließt nun eine Erzählung über die Aufnahme dieser Fotos an, die als Nachweis seiner passiven Homosexualität dem Militärausschuss vorgelegt werden sollten: Ich habe ein Foto aufnehmen lassen, wo sowohl mein Gesicht als auch die Position er9
Der Interviewpartner zeigt seine Fotos dem Militärausschuss und sagt wütend, wie er Analverkehr hat.
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kennbar sind. (Zeile 488f.) Mit dieser Aussage erläutert er zusätzlich die Vorschriften des Militärs, wie diese Fotos auszusehen haben sowie die Klischeevorstellung von homosexueller Sexualität: wenn du passiv bist, dann bist du homosexuell […] wenn du aktiv bist, dann bist du sowieso ein Mann. (Zeile 496-500) In den Zeilen 500-515 schildert er den Prozess seiner Entlassung durch den Militärausschuss. Die Darstellung wird in einem sachlichen Erzählstil ausgeführt, durch den der Interviewpartner die Situation weder bewertet noch rechtfertigt; es bestehen somit nur geringe Interpretationsmöglichkeiten. Das Ziel des Interviewpartners besteht darin, dem Zuhörer den Beschluss der türkischen Armee zu vermitteln, nämlich dass er für den Wehrdienst als unfähig eingestuft und dementsprechend befreit wurde10: „Nachdem ich die Fotos abgegeben hatte, hat ein Ausschuss getagt, alle Obersten, Oberstleutnante, […] sehr viele Menschen saßen da, unter ihnen waren auch zwei, drei Ärzte. Und dann haben sie mich gefragt ‚warum willst du nicht zur Armee?‘ , ich habe geantwortet ‚ich bin homosexuell, bitte, hier ist mein Akte‘, ich habe ihnen mein Akte gegeben, ‚meine Fotos sind auch hier‘ […] Sie haben die Fotos angeschaut und sind meine Akte durchgegangen, dann haben sie ‚alles klar‘ gesagt. Dann ging ich raus, nach zehn Minuten hat mich der Diener aufgerufen und mir gesagt, dass ich meine Begutachtung irgendwo abholen soll, ich bin dahin gegangen und habe sie abgeholt. Und dann habe ich diese Begutachtung bei der Rekrutierungsstelle abgegeben. Nachdem ich das abgegeben hatte, haben sie mir eine Bescheinigung gegeben, dass ich für den Militärdienst nicht fähig bin und sie haben mir gesagt, dass ich den Beschluss […] zugeschickt bekommen werde, dann bin ich losgegangen. Nach zwei Monaten bekam ich den Beschluss mit fünfzehn oder zwanzig Unterschriften von Ankaras Bundeswehrkräften. So bin ich nicht zur Armee gegangen.“ (Zeile 503-516)
Nach seiner Wehrdienstbefreiung suchte Arda nach Arbeitsmöglichkeiten in der Türkei und versuchte, an einer Prüfung teilzunehmen, um als Beamter im öffentlichen Dienst arbeiten zu können. Als Teilnahmevoraussetzung galt jedoch ein geleisteter Wehrdienst oder aber (im Falle einer Verweigerung) eine Bescheinigung des Militärs, aus der der Grund der Befreiung hervorgeht. Dadurch jedoch, dass er aufgrund einer psychosexuellen Störung gar nicht zur Armee musste, durfte er in der Türkei nicht als Beamter arbeiten: Sie [Anmeldestelle für die Prüfung] haben nach dem Beschluss des Ausschusses gefragt. Ich sagte ‚psychosexuelle Störungen‘. Sie haben geantwortet, wenn das eine psychische Störung ist, dann darf ich sowieso kein Beamter werden. (Zeile 518-521) Arda wurde also nicht für die Prüfung zugelassen und erfuhr auf diesem Wege von dem Entzug des Beamten und des Öffentlichkeitsarbeitsrechtes. Hier deutet er 10 Seit 2010 verzichtet die türkische Arme auf solche Beweisfotos (vgl. Gülen 2010). Unter: http://www.odatv.com/n.php?n=dunyanin-en-buyuk-porno-arsivi-tskda-1111101200 [Letzter Zugriff am 14.11.2011].
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an, dass er wohl doch von einer institutionellen Diskriminierung betroffen war: Und da habe ich begriffen, dass ich übertölpelt wurde. (Zeile 521f.) Im weiteren Verlauf der Erzählung schildert Arda an einem Fallbeispiel die Auswirkungen des Rechtsentzuges. Er hatte sich bei einer Kosmetikfirma als Schönheitsexperte beworben, er wurde auch zunächst für diesen Job aufgenommen, bis er der Firma seinen Befreiungsschein vorlegte. Auch die Firma lehnte ihn aufgrund der vom türkischen Militär diagnostizierten psychosexuellen Störung ab (Zeile 524-533). Dies war für den Interviewpartner ausschlaggebend, die Türkei zu verlassen: Und das hat mich wahnsinnig gemacht. Und dann habe ich mich entschlossen, dieses Land zu verlassen. (Zeile 533-535) Dieses Segment wird wie das Vorherige, das das Wohlbefinden des Interviewpartners zum Ausdruck brachte, mit einem Vergleich zwischen dem Herkunftsland und Deutschland abgeschlossen: ich kann die Türkei nicht als meine Heimat sehen, wirklich. […] Dort ist nur der Ort, wo ich geboren bin, aber der Ort, wo ich mich genährt und gesättigt habe, ist hier, wirklich! (Zeile 539-541) Segment 21: Ich fühle mich hier [Berlin] wohl In diesem Segment bringt Arda sein Zugehörigkeitsgefühl deutlicher zur Sprache, indem er Berlin und die Türkei bezüglich seines Lebens als offen Schwuler vergleicht. Mit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit verstärkte sich sein Zugehörigkeitsgefühl: „Dort [in der Türkei] habe ich mich sowieso fremd gefühlt, ich fühle mich eher hier [in Berlin] zugehörig […] besonders nachdem ich die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen hatte, habe ich das noch tiefer gefühlt. Nun habe ich nur einen Ausweis vorzulegen, wenn ich von irgendwelchen Diskriminierungen betroffen bin.“ (Zeile 541-544)
Segment 22: Für Integration empfehle ich binationale Partnerschaften Eine weitere Frage des Nachfrageteils beinhaltet das Thema der binationalen Partnerschaft. In diesem Segment geht Arda auf die Vorteile einer binationalen Partnerschaft ein und stellt seine Zufriedenheit mit der seinen auf sehr stolze Weise dar. Die binationale Partnerschaft bietet unterschiedliche Vorteile, die ihm das Leben in einem fremden Land erleichtern und im Umgang mit der unaufhörlich diskutierten Integrationsfrage helfen. Durch seinen Partner kann sich der Interviewpartner über das gesellschaftliche Leben und politische Ereignisse in Deutschland unmittelbar informieren bzw. am gesellschaftlichen Leben partizipieren: „Ich habe sehr viele Vorteile dadurch, dass ich in einer binationalen Partnerschaft lebe. Weil mein Partner Deutscher ist, verbesserte sich mein Deutsch in kurzer Zeit, wir erledigen alles auf Deutsch und weil mein Partner Deutscher ist, hatte ich die Gelegenheit, Informationen aus
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erster Hand zu bekommen, wie dieses System funktioniert […] wie Deutschland regiert wird, wie alles läuft.“ (Zeile 551-556)
So sieht Arda seinen Partner als hilfreiche Unterstützung im Partizipationsprozess. Darüber hinaus kommt er auf die Vorteile seines Partners zu sprechen, der in einer Grundschule als Lehrer tätig ist und eine Mehrheit von Schüler_innen türkischer Herkunft unterrichtet; auch Arda bietet ihm hierbei Unterstützung, indem er ihn (beispielsweise) über das türkische Bildungssystem informiert, wodurch sich möglicherweise qualitativ bessere Kommunikationsmöglichkeiten mit den Schüler_innen ergeben (Zeile 557-559). Wiederholt erwähnt der Interviewpartner hier die Vorteile kultureller Differenzen in der Partnerschaft. Durch einen ergänzenden Austausch führen kulturelle Unterschiede nicht zu einem kulturellen Konflikt, sondern zu einer Bereicherung und positiven Entwicklung der Beziehung (Zeile 559560). Arda erklärt seine Zufriedenheit mit seiner Partnerschaft wie folgt: Das ist immer noch so, dass wir unsere Differenzen so nutzen, dass wir uns gegenseitig ergänzen. […] wir entwickeln uns gegenseitig, also deshalb bin ich sehr zufrieden mit meiner binationalen Beziehung. (Zeile 559-561) Und er empfiehlt sowohl den Mehrheitsdeutschen als auch Migrant_innen, binationale Beziehungen zu unterstützen (Zeile 560-561). Das Segment wird mit einer kritischen Aussage über die Integrationspolitik Deutschlands abgeschlossen; um gelungene Integration zu erreichen, sollten binationale Partnerschaften gefördert und diesbezügliche Projekte umgesetzt werden (Zeile 561-564). Segment 23: Offener Homosexueller auch auf der Bühne In diesem Segment wird das Berufsleben des Interviewpartners thematisiert. Arda arbeitet in einer leitenden Position in einem Verein, in dem er verschiedene soziale und kulturelle Projekte bezüglich Homosexualität führt und unterstützt. Auf die Frage, ob er beruflich in noch anderen Bereichen tätig sei, antwortet er: Aber natürlich, ich mache auch andere Sachen. Bei X-Theater arbeite ich als Schauspieler (Zeile 573). Während er im X-Theater als Schauspieler arbeitet, leitet er in einer Berliner Grundschule, deren Schüler_innen überwiegend Kinder von Migrantenfamilien sind, ein Theaterprojekt. Die Frage des Interviewers, ob der Interviewte sich im Theater auch mit dem Thema Homosexualität auseinandersetze, ermöglicht ihm, ausführlicher von seinem Berufsleben und seiner Homosexualität zu erzählen. Die letzten zwei Theaterstücke thematisierten Homosexualität; Arda hat hier die Rolle eines Transvestiten gespielt: natürlich, natürlich, also auch das war Thema in den letzten zwei Stücken, in denen ich gespielt habe. (Zeile 573-575) Er spricht hier mit Selbstverständlichkeit an, dass er als Schauspieler auch homosexuelle Charaktere darstellt (Zeile 575-578). Die Reaktionen des Publikums, das überwiegend über einen türkischen Migrationshintergrund verfügt, stellt er als positiv dar. In der fol-
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genden Aussage erklärt der Interviewpartner, dass er ganz absichtlich die Rollen homosexueller Charaktere annehme, um bestehende Vorurteile der Gesellschaft abzubauen. So versteht er sich als offen schwuler Aufklärer. Seiner Aussage nach hat die auf der Bühne geleistete Aufklärungsarbeit Erfolg, so dass es auch mit anderen Menschen hinter der Bühne oftmals zu Gesprächen und Diskussionen über Homosexualität kommt (Zeile 580-589). Damit leitet Arda ein neues Untersegment ein: Er ist im Theater, an dem er als Schauspieler arbeitet, der einzige offen Schwule und hat dort erstmalig das Thema der Homosexualität zur Diskussion gestellt: „Auch in den früheren Stücken hatte ich überwiegend den weichen Typen dargestellt; auch wenn ich einen Machotyp spiele, hat dieser Typ einige feminine Züge […] Das mache ich ganz bewusst, um die Klischeevorstellungen abzubauen, und das gelingt mir; hinter der Bühne konnten wir über Homosexualität diskutieren. Das kam vor mir dort nicht in Frage.“ (Zeile 585-591)
Hierbei beschwert sich Arda über Kolleg_innen, die ihre Homosexualität verheimlichen, zeigt jedoch auch Verständnis für individuelle Unterschiede bezüglich des Coming-out: Das Coming-out ist bei jedem unterschiedlich, also bei mir hat das in sehr kurzer Zeit stattgefunden aber bei manchen dauert das Jahre lang. (Zeile 593594) Segment 24: Meine Mutter hat sich auch geoutet! Im vorangegangenen Segment ging Arda auf das Coming-out ein, das er als individuellen Prozess bezeichnet. Das letzte Segment trägt einen Bilanzierungscharakter und zieht gleichsam ein Fazit des gesamten Interviews. Arda kommt wieder auf das Thema des Coming-out zu sprechen. Er sieht das Coming-out nicht als rein individuelles Ereignis, sondern ist vielmehr der Meinung, dass zwei Parteien in den Prozess involviert sind, einerseits derjenige, der sich outet, und andererseits die Person/en, die mit dem Coming-out konfrontiert wird/werden. Um seine Meinung zu veranschaulichen, führt er einen Beleg an: ich zum Beispiel habe meiner Mutter gesagt, dass ich homosexuell bin, es sind schon fünf Jahre vergangen und die Frau (Mutter) überwindet ihr Coming-out erst jetzt. Denn das ist auch für sie ein Coming-out. (Zeile 596-597) Arda betont hier, dass auch das jeweilige Gegenüber in diesem Fall seine Mutter Zeit benötigt, um sich mit dem Thema der Homosexualität auseinandersetzen und die Homosexualität der Angehörigen akzeptieren zu können: Sie besteht diesen Prozess erst seit kurzem. Nun können wir locker darüber reden. Aber in den letzten vier Jahren wurde nicht darüber gesprochen, das blieb immer ein Tabu, sie wusste davon, aber wollte nichts davon hören. (Zeile 599-601)
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5.1.3 Biographische Gesamtformung In diesem Auswertungsschritt werden die Ergebnisse der oben ausgeführten strukturellen Textanalyse zusammengefasst; zudem werden Aspekte biographisch relevanter Lebensabschnitte miteinander in Beziehung gesetzt, wodurch schließlich die Konkretisierung der biographischen Gesamtformung des Interviewpartners möglich wird. Entscheidend für das Konzept der biographischen Gesamtformung ist es, bestimmte Prozessstrukturen des Lebenslaufes, die ihrer Wichtigkeit gemäß in einen Zusammenhang mit der gesamten Lebensgeschichte gestellt werden, zu schildern. Das Ziel der biographischen Gesamtformung besteht darin, herauszufinden, welchen Stellenwert bzw. welche Bedeutung beispielsweise das Coming-out für die gesamte Biographie des Betroffenen hat. Das Coming-out kann Auslöser bestimmter staatlicher und gesellschaftlicher Diskriminierungen sein. Anhand der Ergebnisse der strukturellen Textanalyse werden die biographischen Folgen des Coming-out und der Diskriminierungen im Zusammenhang mit Migration und darauf folgender eingetragener Lebenspartnerschaft des Interviewpartners untersucht. Entwicklung sexueller Orientierung Die Kategorie Entwicklung sexueller Orientierung unterteilt sich in drei biographische Phasen des Erzählers. Die erste Phase umfasst die Zeit der frühen Kindheit, die von bestimmten Ausgrenzungen geprägt ist. Die zweite Phase ist von der Suche nach individueller Identität und diesbezüglichen Identifikationsmöglichkeiten gekennzeichnet; ein Identifizieren mit anderen eventuell Homosexuellen – im Sinne von sie erkennen, ihre Homosexualität feststellen – wird zentral. Die letzte Phase der Entwicklung der sexuellen Orientierung lässt sich an Anpassungsschwierigkeiten des Interviewpartners in der gymnasialen Zeit und an Versuchen, heterosexuelle Partnerschaften einzugehen, festmachen. Die erste Phase des Coming-out Die Entwicklung von Ardas sexueller Orientierung wird bereits in den ersten Zeilen des Interviews beschrieben. An seine erste Vermutung, anderer Neigung zu sein, kann er sich nicht erinnern. Er unterscheidet nicht zwischen einem vor oder einem nach dem Anderssein und versucht in der Narration wiederholt, sich anders als Andere darzustellen: Ähm, naja seit der Geburt, ähm, ja, natürlich war es seit meiner Kindheit sowieso klar, was für eine Neigung ich hatte. (Zeile 16-17) Er konnte sich als jüngerer Bruder nicht mit den Interessen des Älteren identifizieren. Im Gegenteil sprachen ihn mädchenhafte Spiele an, wie etwa Seilspringen oder das Vater-MutterKind-Spiel. Diese Situation, in der er sich als tendenziell femininer Junge befand, verursachte Konflikte mit dem Bruder, die sowohl den Rückzug als auch die Ausgrenzung des Interviewten verursachten. So erlebte Arda seine Identifikation mit dem Anderssein durch das Selbstdifferenzieren von Anderen, von Jugendlichen und
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gleichaltrigen Kindern seines Viertels; die Wahrnehmung seiner Person als anders, die ihm der Bruder und dessen Fußballclique entgegenbrachten, förderte den Prozess. Die Argumente und Belege seiner sexueller Orientierung ergeben sich aus einem sich mit gleichgeschlechtlichen Kindern vergleichen und von ihnen differenzieren (vgl. Segment 1) und aus einer klaren Gegenüberstellung des Selbst und des Anderen: Deswegen gab es zwischen mir und meinem Bruder einen Gegensatz, der schon damals entstanden ist, also ich weiß nicht genau, vielleicht weil ich eine etwas andere Neigung während meiner Kindheit hatte. (Zeile 20-22) Im Folgenden wird auf die Ignoranz des Bruders und die Ausgrenzung durch ihn und seine Clique eingegangen. Sie ist von einer Vernachlässigung während der Kindheit durch den Bruder gekennzeichnet. Bemühungen, den Erzähler in den eigenen Freundeskreis zu integrieren, bleiben aus. Die ignorante Haltung des Bruders ist für die gesamte Biographie Ardas von großer Bedeutung. Wie in verschiedenen Abschnitten der Erzählung geschildert wurde, bestanden zwischen Arda und seinem Bruder ohnehin keine Gemeinsamkeiten; er fühlte sich nicht ernst genommen. Die Distanz zwischen beiden Brüdern wird im Laufe der Erzählung vertiefend ausgeführt; das Erkennen der Intensivierung dieses Aspektes bleibt jedoch auf Seiten des Erzählers aus. Diese Distanz führte ihn dazu, sich von seinem Bruder präziser zu differenzieren: Sowohl körperlich als auch in Bezug auf charakterliche Eigenschaften seien beide zu unterschiedlich (vgl. Zeile 189-190). Durch das Negieren der zwischenbrüderlichen Beziehungsprobleme beabsichtigt Arda, deren Legitimierung zu erreichen. Er klammert die damaligen Konflikte während des Interviews aus und stellt die verbesserte zwischenbrüderliche Beziehung in den Vordergrund (vgl. Segment 9). Die im Interview angeführte Ignoranz des Bruders, die Arda in der Kindheit öfters feststellte, hatte eine weitere biographisch relevante Folge: Arda machte erstmalig aufgrund seiner sexuellen Orientierung Erfahrungen mit Ausgrenzung. Die Auswirkungen dieser Erfahrung sind in zweierlei Hinsicht zu interpretieren: Erstens fand die Reflexion der eigenen Andersartigkeit im Blick auf ein Gegenüber statt. Erst so konnte dem Erzähler die eigene Entwicklung einer Orientierung, die nicht dem Verhalten gleichaltriger Kinder entsprach, bewusst werden. Zweitens misslang ihm die Integration in die Fußballgruppe seines Bruders. Die Gründe dieser gegenseitigen Ausgrenzung führt er auf seine sexuelle Orientierung zurück. Dabei verallgemeinert er die problematische Begegnung mit der Fußballclique des Bruders in besonderem Maße zu einer starken Form gesellschaftlicher Ausgrenzung, die eine einschränkende Funktion auf eigene Handlungswünsche gehabt haben soll: Besonders gab es für mich zum Beispiel keinen Platz in der Fußballclique meines Bruders. (Zeile 17-18) In der Erzählung stellt sich diese Ausgrenzung während der frühen Kindheit als Verlaufskurve dar, was eine Auseinandersetzung mit Diskriminierung seit eben dieser Zeit bedeutet. Die Ausgrenzung wird von Arda als normal bezeichnet, da er sich
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ohnehin anders fühlte und kein Interesse an Fußball, sondern an mädchenhaften Spielen hatte. (vgl. Segment 1). Die sozialen Umstände, die eine Akzeptanz homosexueller Lebensweisen faktisch nicht zuließen, werden in diesem Teil des Interviews bewusst ausgeblendet. Interessant ist, dass nicht die sexuelle Orientierung, sondern die gesellschaftliche Homophobie verdrängt wird. Das Handlungsschema der Verdrängung trägt biographische Züge, die Arda in seinen unterschiedlichen Lebensphasen entwickelt hat und nun in verschiedenen Sequenzen des Interviews zum Ausdruck bringt. Einige relevante Beispiele für Handlungsschemata der Verdrängung sowie die sich in diesem Zusammenhang ergebende Anpassungsverlaufskurve werden im Rahmen dieses Kapitels näher beschrieben. Aus den im Interviewtext markierten Befunden geht hervor, dass Arda immer wieder versucht, das Verhalten einiger Personen in seiner Umgebung zu rechtfertigen. Diese Intention der Rechtfertigung findet im biographisch verankerten Handlungsschema der Verdrängung ihre Begründung. Es stellt sich die Frage nach einem möglichen Ansatz zur Erklärung des Verdrängungsvorgangs: Die Rechtfertigung stützt sich auf die Annahme, dass die sozialen und institutionellen Strukturen ein Verstehen bzw. eine Akzeptanz homosexueller Lebensweisen nicht zuließen. So wird ein Handlungsschema entwickelt, das sich beschreiben ließe als Wunsch nach Verständnis in dem Moment, in dem die Diskriminierenden zu Verständnis nicht bereit sind. Diese gesellschaftliche Positionierung Ardas kann wie folgt ausgelegt werden: Toleranz gegenüber den Diskriminierenden seitens des Diskriminierten: Diese Einstellung des Interviewten bewirkt eine auf Konfliktmeidung zielende Akzeptanz der heteronormativen Gesellschaft. Es handelt sich um einen Drang bzw. Zwang des Diskriminierten, zu kompensieren. Um der heteronormativen sozialen Umgebung gerecht werden zu können, müssen die Handlungserwartungen dieser sozialen Umgebung erfüllt werden; dies geschieht in Form einer Selbstdarstellung des homosexuellen Jugendlichen als echter Mann. Unterwürfigkeit des Diskriminierten unter die diskriminierende heteronormative Gesellschaft: Ob die Unterwürfigkeit Ardas eine selbstbestimmte Einstellung darstellt oder als Prozess durch die Gesellschaft ausgelöst wurde, bildet eine der zentralen Fragen der Untersuchung. Die Akzeptanz des Erzählers ist als Handlungsstrategie zu bezeichnen, die eine Schutzfunktion gegenüber den Diskriminierenden erfüllt. Die Abwehr des eigenen Ich steht hier im Vordergrund. In der ersten Phase der Entwicklung der Homosexualität ist seitens des Interviewpartners ein Versuch des Selbstschutzes vor dem gesellschaftlichen Stigma zu erwarten. Diese Abwehrhaltung resultiert darin, dass sich Arda allmählich in einem Doppelleben etabliert. Der bestehende Zwang des Erzählers, zu akzeptieren, ist auf die oben genannten Schutzmechanismen zurückzuführen, welche zur Abwehr weiterer Ausgrenzungen, Diskriminierungen und Stigmatisierungen der heteronormativen Gesellschaft beitragen sollen. Diese Situation führt meiner Einschätzung nach zu einer unterwürfi-
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gen Haltung Ardas während der Identitätsfindung. Um nicht diskriminiert zu werden, versuchte er vergeblich, sich mit dem heterosexuellem Mann zu identifizieren. Ich habe in diesem Teil der Auswertung die Entwicklung der sexuellen Orientierung des Interviewten anhand der biographisch relevanten Diskriminierungs bzw. Ausgrenzungserfahrungen während der frühen Kindheit veranschaulicht. Die gesamte Narration von Ardas Kindheit ist vom Gefühl einer Neigung durchzogen, die als abweichend erkannt wird, jedoch nicht klar definiert werden kann (Siehe Segment 1 und 2). Die heteronormative Umgebung regt dabei die Reflexion an. So erfährt er seine Andersartigkeit an den Reaktionen seines sozialen Gegenübers, das gleichsam als Spiegel fungiert. Ein weiterer Befund dieses biographischen Abschnitts bildet die Feststellung Ardas, in der Zeit seiner Kindheit aufgrund seiner Andersartigkeit von bestimmten Ausgrenzungen, jedoch noch nicht von Stigmatisierung betroffen gewesen zu sein. Die des Weiteren angeführten biographisch relevanten Ereignisse bezüglich der Entwicklung seiner sexuellen Orientierung während der Kindheit lassen sich anhand des Interviewtextes wie folgt darstellen: Anstatt Fußball zu spielen, tanzte Arda mit einem Rock bekleidet, was der Erwartungshaltung der heteronormativen sozialen Umgebung deutlich widersprach. Die Entwicklung des intentionalen Handlungsschemas der Selbstbestimmung und behauptung setzt bereits in dieser Zeit ein. Im Interview weist er besonders auf seine Imitation eines Transvestiten hin, der zentrale Bedeutung zukommt. Hier konnte er etwas ausmachen, das sich identisch zu ihm selbst verhielt. Arda kennt zu dieser Zeit keine Homosexualität bezeichnenden Begriffe, wie etwa gay, homo, Transvestit. Nur seine Andersartigkeit und seine Ähnlichkeit mit dem Transvestiten werden als solche erkannt. Dieser Umstand stößt eine bewusste oder unbewusste Auseinandersetzung mit sich selbst an. Im folgenden Abschnitt der Arbeit wird die biographische Bedeutung des Transvestiten bezüglich der Identitätsfindung näher untersucht. Die bisher dargestellte Auswertung beinhaltet die Zeit der frühen Kindheit; die von Arda nur oberflächlich gehaltene Beschreibung der Grundschulzeit macht deren Auswertung an dieser Stelle schwierig. Auseinandersetzung mit sich selbst und der sexuellen Orientierung Im Folgenden handelt es sich um die Auseinandersetzung eines Jugendlichen mit der eigenen sexuellen Orientierung, um seine Identifikation mit Gleichgesinnten sowie um das eindeutige Identifizieren eines Gleichgesinnten im speziellen vor dem eigenen Coming-out. Die sexuelle Entwicklung Ardas ist von seinen sozialen Kontakten abhängig und insofern mit den Normen der sozialen Umgebung konfrontiert, was eine unmittelbare Abhängigkeit zwischen ihm und der Gruppe, in der er sich bewegt, etabliert. Die Festlegung seiner Handlungsweisen, die von der sozialen Umgebung vorgenommen wird, akzeptiert keine Abweichung von der Norm. Dennoch bringt er seine Orientierung in gesellschaftlich unüblichen Handlungsweisen zum Ausdruck. Den
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einzig offenen Umgang mit seiner Unkonventionalität erfährt Arda im Verhalten seines Vaters, der ihm eigens ein Tänzerinnenkleid anfertigt. Dieses Kleid ist für ihn von biographischer Bedeutung. In dieser Phase, auch wenn sie immer noch von Unklarheit bezüglich sexueller Orientierung gekennzeichnet ist, tauchen erste Indizien für die sexuelle Orientierung auf. Das Tragen des Tänzer_innenrocks verschärft die Konflikte mit dem Bruder. Erst durch diese brüderliche Interaktion wird sich Arda jedoch der Unkonventionalität seines Handelns im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft bewusst. Er erkennt die Modifizierungen, die vorzunehmen wären, um sein Verhalten den gesellschaftlichen Erwartungen an normale Männer anzupassen. Hierbei ist die zentrale Frage zu stellen, ob sich in seiner sozialen Umgebung Vorbilder bewegten, deren Verhalten er zu verinnerlichen imstande war, die ihm Handlungsmöglichkeiten zur Nachahmung anboten. In der Eingangserzählung des biographisch narrativen Interviews erwähnt Arda den Transvestiten, der meiner Einschätzung nach eine Vorbildfunktion eingenommen hat. Er trug möglicherweise zu einer verstärkten Identifizierung des Interviewten mit der Homosexualität oder dem Transvestismus bei, da er im Wohnviertel eine gewisse Akzeptanz bei den Anwohnern besaß. In der Narration wird der Transvestit als belustigendes Objekt dargestellt, das die Anwohner_innen in seinem Auftreten amüsiert (vgl. Segment 4). Diese Darstellung des Transvestiten durch Arda entspricht der Einstellung der heteronormativen sozialen Umgebung zu homosexuellen Lebensweisen. Die Angst vor wiederholter Ausgrenzung und vor der Fixierung einer klar heterosexuellen Rollenzuschreibung bestimmte gewisse soziale Handlungsmotive Ardas mit und bedingte seine Partizipation an gesellschaftlich verankerter Homophobie und Transphobie. So hat auch er sich über den Transvestiten lustig gemacht: Und wir begegneten ihm, ein Mann, der sich wie ein Mädchen verhielt, und wir lachten immer über ihn, aber das war kein Verachten, im Grunde war das war Verachtung im Unterbewusstsein (Zeile 55-57). Der Unterschied zwischen erzählter und erlebter Geschichte besteht im Eingeständnis der verachtenden Komponente des öffentlichen Amüsements. Die bereits in der Kindheit auffällig weit entwickelte nicht-heteronormative Orientierung Ardas konnte durch eine heimliche Imitation des Transvestiten weiter bestärkt werden: Naja, weil er so weich sprach, lernte ich ein bisschen eine transvestite Identität kennen, aber ich wusste nicht, ob er ein Transvestit war oder ein Mädchen oder Mann. (Zeile 61-63) Hinsichtlich der eigenen Homosexualität bzw. sexuellen Orientierung besaß der Transvestit große biographische Bedeutung für Arda. Sein Kennenlernen stimulierte die Suche nach sexuellen Orientierungen, die für Arda Vorbilder sein konnten und ihm entsprechende Handlungsmöglichkeiten zu vermitteln in der Lage waren. Die Frage nach Sexualitäten taucht erst hier auf. Die möglichen Probleme, die in der Konfrontation einer heteronormativen sozialen Umgebung mit homosexuellen Lebensweisen entstehen würden, werden in der Erzählung nicht verdeutlicht. Entscheidend für die Bildung seiner sexuellen Orientierung ist seine Fähigkeit zur Selbsteinordnung. Im Rückblick stellt Arda fest, dass die Wei-
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chen für seine spätere Homosexualität bereits im Alter von sechs Jahren gestellt wurden. Anpassungsprobleme In der gymnasialen Zeit, in der Arda vermutlich zwischen 15 und 17 Jahre alt war, fand er sich zunehmend mit heterosexuellen Handlungsweisen konfrontiert. Er spricht von einer Flirt-Zeit der Jugendlichen. Er empfand den Zwang, sich seinen heterosexuell orientierten Mitschüler_innen anzupassen, ein Prozess, der von enormen Schwierigkeiten geprägt ist. Seine sexuelle Orientierung wurde zur Barriere in zwischenmenschlichen Beziehungen. Wiederholt verließen ihn seine Partnerinnen, was er selbst auf mangelndes und unehrliches Interesse seinerseits zurückführt. Es stellte sich für ihn die Frage, warum er kein Verlangen nach Frauen hatte. In diesem Moment wandelte sich die Anpassungsverlaufskurve zu einer Identitätserforschung, die ebenfalls den Charakter einer Verlaufskurve trug. Es lässt sich feststellen, dass sich der Interviewpartner hier bereits in der Anfangsphase des Coming-out befand. Die an sich selbst gerichtete Frage hinsichtlich seiner sexuellen Orientierung markiert den Beginn einer Auseinandersetzung mit sich selbst über die Differenzierung des Selbst von Anderen. Das wiederkehrende Desinteresse der Partnerinnen bringt einen Wandlungsprozess in Gang, der sein Leben, seine künftigen Erlebnisse und Handlungsweisen systematisch verändern wird. Hiermit wird ein Kapitel seiner Biographie abgeschlossen; ein neuer Abschnitt beginnt, der ihn in eine bestimmte Richtung homosexueller Lebensweise führen wird. Im Folgenden gehe ich auf die Coming-out-Phase Ardas ein, die sich von der gymnasialen Zeit bis zum Anfang des Studiums erstreckt. Diese Phase der Biographie bringt innere und äußere Konflikte mit sich; Selbstzweifel, Verunsicherung, eine damit verbundene Suche nach der Ich-Identität sowie Unklarheiten bezüglich Homosexualität und weitere Differenzerfahrungen werden einen konstitutiven Bestandteil bilden. Die Erfahrung des Misslingens heterosexueller Partnerschaften während der Gymnasialzeit leitete den Beginn der Coming-out-Phase ein und trug Auslösecharakter; erst hier, im Zwiespalt zwischen Anpassung und individueller Identitätsentwicklung, wird die Frage nach der eigentlichen sexuellen Orientierung aufgeworfen. Die Bekanntschaft mit dem Transvestiten in der Kindheit konnte als Anstoß nicht ausreichend fruchten, da die Frage nach seinem sozialen Geschlecht unbeantwortet blieb. Coming-out als Verlaufskurve Obschon sich der Anfang des Coming-out biographisch festmachen lässt – sein Ende muss unbestimmt bleiben. Das Individuum, das über die Option eines Comingout verfügt, gerät immer wieder mit anderen Individuen in Kontakt, die beobachten, überwachen, bewerten, verurteilen, belohnen/bestrafen, womit nur einige Formen der Normierung dominierender und unterdrückender Mehrheitsgesellschaften ge-
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nannt sind. Der offene/versteckte Homosexuelle wird regelmäßig zu einem Vergleich seiner Erscheinung und Handlungen mit den Normen der Mehrheit gezwungen. Die Normierungen erzwingen die Unterscheidung schwuler Männer von normalen Männern; Ausgrenzung, Diskriminierung kann entstehen, was eine Definition des Coming-out als niemals abgeschlossener Prozess nahe legt. Der erste Versuch eines Coming-out Der Versuch einer Selbstdefinition begann mit dem Eintritt in die Universität. Die Rolle prominenter Homosexueller aus der Türkei und aus westlichen Gesellschaften schien in der Coming-out-Phase Ardas von beträchtlicher Relevanz zu sein. Die Ähnlichkeiten mit den als Vorbilder dargestellten Homosexuellen ermöglichte ihm ein Einordnen seiner selbst in die Kategorie der Homosexualität (vgl. Segment 4). Das Bewusstsein der eigenen Homosexualität, das in späteren Teilen der Narration eine wichtige Rolle bei seiner Selbstbehauptung spielt, nimmt hier seinen Anfang. Das Selbstwertgefühl und die Selbstbehauptung in der Öffentlichkeit erfuhren eine Stärkung. Erstmalig öffnete sich Arda gegenüber einem engen Freund, in den er zu dem Zeitpunkt verliebt war, als Homosexueller. Einerseits scheint der erste Versuch eines Coming-out dem platonischen Freund gegenüber gelungen zu sein, Arda stößt auf bedingungslose Unterstützung; andererseits wird das Thema der ‚ersten homosexuellen Kontaktaufnahme‘ im Interview ausgeblendet. Ob und inwiefern sich die Beziehung zu dem Freund gewandelt hat, ob es beispielsweise zu sexuellem Kontakt kam, bleibt unklar. Zu der Zeit des Coming-out spricht Arda von einer schwulen Szene in der X-Stadt nicht, so dass sich eine weitere Frage stellt, ob Arda sich praktisch in einer türkischen schwulen Szene bewegt hat oder nicht. Die Akzeptanz des Freundes wird als schöner harmloser Übergang von einem versteckten Dasein hin zu einem offen homosexuellen Leben bezeichnet. Arda fühlt sich nach kurzer Zeit zu einem Coming-out vor der Familie ermutigt. Die Reaktion seines Vaters bewertet er als positiv, stößt jedoch wieder auf das Desinteresse des Bruders – ein Aspekt, auf den er in seiner Narration nicht weiter einzugehen bereit war, was auf eine bewusste Verdrängung schließen lässt. Zudem ist zu vermuten, dass sich der Erzähler in einer speziellen Phase seines Coming-outs befand und sich mit der in der Familie erfahrenen Akzeptanz befasste bzw. diese verarbeitete. Die Familienkonstellation Vater-Sohn-älterer Bruder spielt in Bezug auf die Selbstakzeptanz eine weitere biographisch bedeutsame Rolle, die zu weiteren Coming-outVersuchen führen wird. Ungeplantes Coming-out im Hörsaal Trotz des harmlosen Übergangs missfiel es dem Erzähler, sich in der Öffentlichkeit als homosexuell zu offenbaren; bedingt durch ein Missverständnis kam es dennoch zu einem Coming-out vor etwa vierzig Student_innen (für den Ablauf dieses Coming-out vgl. Segment 5). Immer noch befand er sich auf der Suche nach weiterer
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Akzeptanz in seinem unmittelbaren Umfeld. Die auf Wunsch des Dozenten verfasste Autobiographie, in der er die eigene Homosexualität thematisierte, wurde im Hörsaal von einem anderen Studenten vorgelesen und bewirkte somit ein unerwartetes Outing Ardas in der Öffentlichkeit. Interessanterweise wird dieser Moment nicht als negativ, sondern als spannend bewertet: „Und meine Biographie wurde von einem Anderen vorgelesen, er hat mich sogar angeschaut, nachdem er das gelesen hatte, und dann hat mich der ganze Hörsaal angeschaut. Er hat es dann noch einmal gelesen, war nicht sicher, was darauf geschrieben war, denn das war im Jahr achtundachtzig […] er hat das laut gelesen, nachdem er das gemerkt hatte, hat er mich angeguckt, alle haben mich angeguckt und er hat dann den Satz wiederholt, denn er dachte, dass er sich verlesen hätte, wie konnte man so was schreiben, was heißt denn das, etwas ganz neues, das Jahr achtundachtzig, das war etwas, was man nie zur Sprache brachte.“ (Zeile 112119)
Hiermit wird ein bedeutender Teil der Coming-out-Phase vorerst abgeschlossen. Im Laufe des Interviews hebt Arda seine Gewohnheit hervor, sich beim Kennenlernen als Homosexueller vorzustellen. Das Begreifen der eigenen Homosexualität als wichtige Eigenschaft eröffnete ihm eine biographisch relevante Möglichkeit, sich für eine Politisierung der Situation diskriminierter Homosexueller in der Türkei einzusetzen. Das Coming-out wird aus Sicht des Erzählers größtenteils erfolgreich durchgeführt. Nur das Coming-out vor der Mutter bleibt aus, um mögliche Unannehmlichkeiten in der Mutter-Sohn-Beziehung zu umgehen. Die Phasen des Coming-out vor sich selbst und vor der Öffentlichkeit lassen sich aus Ardas Sicht etwa zwischen dem 15. und dem 20. Lebensjahr festmachen. Im Gegensatz zum Prozess der Selbstakzeptanz, der in der gymnasialen Zeit verortet und als deprimierend empfunden wird, beansprucht das Coming-out nach außen etwa ein Jahr und wird als positiver Prozess beschrieben. Das um dreizehn Jahre verspätete Coming-out vor der Mutter Obwohl Arda seine Coming-out-Phase mit der Zeit auf der Universität als abgeschlossen betrachtet, erfolgt seine Offenbarung der Mutter gegenüber erst 13 Jahre später (im Jahre 2001). Er nimmt hier einerseits Bezug auf ihre religiös-moralischen Werte, ihr Alter und ihre instabile gesundheitliche Situation, beschreibt jedoch andererseits eine sowohl emotionale als auch räumliche Distanz zur Mutter. Obgleich keine Angst vor Ausgrenzung seitens der Mutter thematisiert wird, lassen Ardas Aussagen auf bestehende Ängste vor möglichen negativen Reaktionen der Mutter schließen; ein jahrelanges Verstecken vor der Mutter ist zu erkennen (vgl. Segment 7). Die Rolle der Mutter ist in der Biographie des Erzählers von auffälliger Distanz gekennzeichnet, die unterschiedliche Dimensionen annimmt. Im Gegensatz zu Ar-
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das Vater ist sie religiös und lebt, nachdem sie die Familie verlassen hat, in Deutschland; sie kommt und geht, etabliert keine feste Bindung zu den Kindern, ist für den Zerfall der Familie verantwortlich (vgl. Segment 1, 7, 8 und 11). All das sind Faktoren, die einen Rückzug Ardas von einer Intensivierung der Mutter-Sohn-Beziehung veranlassen; dennoch ist er in der Lage, sich ihr gegenüber als homosexuell zu erklären. Wie es zur Entscheidung des (telefonisch stattfindenden) Coming-out kam, findet im Interview keine Erwähnung. Die anfängliche Reaktion der Mutter wird als Schock beschrieben. Der zu erwartende Kontaktabbruch seitens der Mutter wird nicht vollzogen; der Kompromiss einer jahrelangen Tabuisierung des Themas wird wirksam, die Homosexualität des Sohnes wird ausgeklammert. Der Zwiespalt zwischen konservativ geprägter Erwartungshaltung und der Lebenswirklichkeit des Sohnes mögen eine Krise der Mutter ausgelöst haben, die sie im Laufe der Zeit allein zu bewältigen hat. Nach fünf Jahren des Schweigens scheint die Mutter die Vorstellung verkraftet zu haben und nimmt die Homosexualität des Sohnes hin. Arda bezeichnet diese Zeitspanne, in der eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst und dem des Sohnes erfolgt, als notwendigen Verarbeitungszeitraum. Auch seine Mutter hätte ein Coming-out erfahren, da sie mittlerweile hemmungslos und frei von Angst vor einem Stigma über das Thema zu sprechen bereit ist. Die Phasen des Coming-out • • • • • •
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Das eigene Selbst wird in Frage gestellt. Es hat sich eine Selbstbezeichnung als weder Mann noch Frau, sondern Homosexueller heraus kristallisiert. Prominente einheimische und westliche Homosexuelle erleichtern das Comingout nach innen, vor dem Selbst. Gegenüber seinem besten Freund erfolgt ein erster und gelungener Versuch des Coming-out nach außen im 18. Lebensjahr. Mit dem Coming-out gewinnt Arda an Selbstsicherheit in seiner Umgebung. Das Coming-out vor der Familie wird als gelungen dargestellt. Der Vater warnt seinen Sohn vor Stigmatisierung und Diskriminierung seitens der Gesellschaft. Die Mutter tabuisiert das Thema; erst nach fünf Jahren lernt sie mit der Homosexualität ihres Sohnes umzugehen. Die Verarbeitung und Bewältigung nehmen Zeit in Anspruch. Die Reaktion des Bruders lässt sich als neutral beschreiben. Arda stößt weder auf Akzeptanz noch auf Ablehnung. Das Coming-out nimmt im Hörsaal der Universität seinen weiteren Verlauf. Die Reaktionen der Mitstudent_innen sind größtenteils als negativ zu bewerten. Ein Kampf gegen homophobe Diskriminierung kommt in Gang.
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Diskriminierung Weder ein Anfang noch ein Ende der Diskriminierungserfahrungen des Erzählers lassen sich genau bestimmen. Im Interview lassen sich Diskriminierungen feststellen, die ihrer Natur nach unterschiedlich auf die Wahrnehmung und die Handlungsstrategien Ardas wirken. Diskriminierungserfahrungen in der Türkei: Ich bin schwul Direkt nach seinem Coming-out im Hörsaal der Universität erfuhr Arda Diskriminierungen, die in der heteronormativen gesellschaftlichen Struktur begründet sind. Die Erfahrungen mit Ausgrenzung, die ihm sein früherer Freundeskreis zufügte, bedeuten für Arda eine große Enttäuschung; der Verlust von Freundschaften trieb ihn zu einer Entwicklung konsequenter biographischer Handlungsstrategien, die ihm als psychologischer Schutz vor weiterer Stigmatisierung und Diskriminierung in zwischenmenschlichen Verhältnissen dienen. Im Interview kommen keine Informationen über weitere Diskriminierungserfahrungen in diesem Zeitraum zur Sprache. Während der Studienzeit kam Arda durch Vermittlung eines internationalen Projektes nach Deutschland, wo er anschließend versuchte, sich ein neues Leben aufzubauen. Der Anlass, der ihm zu dieser Entscheidung verhalf, wird nicht erwähnt. Das Coming-out im Hörsaal, die daraus resultierende Ausgrenzung und die Reise nach Deutschland fanden in chronologischer Abfolge statt. Obgleich der Interviewte die drei biographisch relevanten Ereignisse nicht in einer chronologischen Reihe erzählt und keinen direkten narrativen Zusammenhang etabliert, legt die gesamte Narration den Gedanken nahe, die Reise nach Deutschland habe sich aus den Diskriminierungserfahrungen Ardas in der Heimat ergeben und sei mit einer Aufenthaltsabsicht verbunden gewesen. Aus den erlebten Diskriminierungen erwachsen folgende biographische Handlungsschemata, die als Bewältigungsstrategien verstanden werden können: • • •
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Der Erzähler lebt seit dem Coming-out im Hörsaal als offen Schwuler. Es kommt zu konditionalen Freund- und Bekanntschaften. Das Etablieren einer neuen Freundschaft ist an eine Voraussetzung gebunden; bringt das Gegenüber nicht ausreichend Akzeptanz für seine Homosexualität auf, findet keine Freundschaft statt. Flucht aus der Familie; Flucht aus der Heimat; Flucht aus einem ausgrenzenden Freundeskreis; Vermeiden etlicher zwischenmenschlicher Diskussionen und Konflikte.
Diese Bewältigungsstrategien sind in vielerlei Hinsicht sowohl positiv als auch negativ zu sehen. Arda standen zwei Optionen offen, die einen bedeutenden Einfluss auf sein Leben haben sollten: Das Leugnen der Homosexualität im Hörsaal, was das
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Initiieren eines Doppellebens zur Folge gehabt hätte, oder aber das Bekennen. Nach diesem Coming-out war er in seinem Selbstbewusstsein bestärkt, ein offen homosexuelles Leben in der Türkei wurde vorstellbar; der Kampf gegen strukturelle Diskriminierungen jeglicher Art ist hiermit eröffnet. Da ihn die negativen Reaktionen der Mitstudent_innen jedoch erschüttern, was nicht seinen Erwartungen entsprach, ergriff er die Gelegenheit, sich einem internationalen universitären Austauschprojekt anzuschließen und das Land zu verlassen. Der fluchtartige Aspekt der Reise trug biographischen Charakter. In unterschiedlichen Lebensphasen versucht Arda, Bedrohungen durch Flucht aus dem Weg zu gehen. Aufgrund fehlender Aufenthaltsunterlagen ließ sich jedoch der Plan eines Lebens in Deutschland nicht verwirklichen. Zu Beginn der 90er Jahre, im Alter von 23 Jahren, wurde er durch die Ausländerbehörde aus Deutschland ausgewiesen. Wieder in der Türkei, unterlag er der Wehrdienstpflicht. Bedingt durch seine sexuelle Orientierung ist ihm ein 12 bis 18 Monate langer Aufenthalt in der Kaserne unter unzählbaren Soldaten nicht vorstellbar. Die die Wehrdienstverweigerung betreffenden Argumentationen Ardas zeigen Ängste vor möglicher sexueller Vergewaltigung, vor Stigmatisierung und Bestrafung. Um sich vor Diskriminierungen sozial-struktureller und institutioneller Art zu schützen, stellte er bei der türkischen Armee einen Antrag auf Wehrdienstverweigerung. Der Antrag wurde aufgrund vorgelegter Fotos und dank einer psychiatrischen Diagnose von psychosexueller Störung durch eine militärische Kommission bewilligt (vgl. Segment 20). Die Bewilligung der Wehrdienstverweigerung stellte Arda zunächst zufrieden, denn zu diesem Zeitpunkt waren ihre Folgen noch nicht abzusehen. Die Bescheinigung der Wehrdienstunfähigkeit hatte allerdings den Ausschluss Ardas aus dem Beamten und öffentlichen Dienst zur Folge. Eine Möglichkeit existenzieller Absicherung wurde ihm schlichtweg entzogen. Ein zweiter Versuch, das Land zu verlassen, stellte gleichzeitig einen Versuch der Überwindung des Leidensprozesses dar, den der Entzug der Grundsatzrechte als Staatsangehöriger ausgelöst hatte. Ein Wandlungsprozess, der eine grundsätzliche Veränderung des Lebens des Erzählers nach sich ziehen wird, fand seinen Anfang. Um dauerhaft dort zu bleiben, kehrte Arda im Jahre 2000 nach Deutschland zurück. Die biographische Narration Ardas weist auf eine Dominanz folgender Prozessstrukturen hin: • • •
Meiden, Flucht, Schweigen, Verleugnen, Verdrängen als biographische Handlungsschemata; Konfrontation mit Kommiliton_innen, der türkischen Armee und dem Arbeitsmarkt als Verlaufskurve bzw. Erleidensprozesse; Die Entscheidung, die Heimat zu verlassen um ein neues Leben in einem fremden Land zu beginnen, stellt sich als ein Wandlungprozess dar.
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Diskriminierungserfahrungen in Deutschland: Ich bin Ausländer Die Flucht aus der Türkei nach Deutschland fand nach den oben genannten Diskriminierungserfahrungen, die der Interviewte in seiner Heimat machen musste, statt. Als Lösungsmöglichkeit für seine Existenzprobleme sollte ihm Deutschland, wo das LpartG im August 2001 in Kraft getreten ist, ein freies Leben ermöglichen. Im Jahr 2002 kam er zum dritten Mal nach Deutschland mit der Absicht, nicht wieder um zu kehren. Deutschland war ihm nicht fremd, da er sich in der Vergangenheit in Deutschland aufgehalten hatte. Daher muss er hinsichtlich der Zeit der letzten Migration nicht über Anpassungsschwierigkeiten reden. Mit dem Kennenlernen des Partners in einem LSBTT-Lokal wurden die anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten in Deutschland relativ schnell überbrückt. Ziel dieses Abschnittes der Arbeit ist, die möglichen Diskriminierungserfahrungen des Interviewten anhand der sequenziellen Analyse zusammenzufassen. In diesem Interview behandelt er das Thema Diskriminierungserfahrungen ziemlich zurückhaltend. Die negativen Diskriminierungen, die er in der Türkei machte, und deren Auswirkungen auf seine Lebensgeschichte wurden im vorherigen Abschnitt zusammengefasst dargestellt. Im Nachfrageteil des Interviews habe ich den Erzähler aufgefordert, mir seine Diskriminierungserfahrungen in Deutschland zu erzählen. Bis zu diesem Moment verstand ich unter Diskriminierung, dass Menschen aufgrund ihrer Religion, Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht bzw. sexueller Orientierung etc. benachteiligt werden. Meine Frage richtete ich an Arda auf der Grundlage dieser Definition von Diskriminierung. Ich war auf die negativen Diskriminierungserfahrungen in Deutschland aufgrund der sexuellen Orientierung und der Herkunft Ardas fokussiert und wollte dementsprechende Erzählungen hören. So führt er seine Erzählung fort, dass er in Deutschland auf keine negative Diskriminierung aufgrund seiner Homosexualität gestoßen war. Er sprach oft über positive Diskriminierungen. Das heißt, dass seine türkische Abstammung dank seiner Homosexualität anerkannt wurde (vgl. Segment 16 und 17). Sein Schwulsein diente zur Annäherung der Einheimischen an die türkische Kultur. In seinem Freundeskreis, der überwiegend aus Deutschen bestand, stand er im Mittelpunkt. Die deutschen Freund_innen konnten Fragen nach der türkischen Kultur stellen, ohne in irgendeiner Beziehung Angst zu haben. In solchen Situationen konnte Arda authentische Seiten der türkischen Kultur vermitteln. Diese privilegierte Situation gefiel ihm einerseits; andererseits fühlte er sich im Laufe der Zeit jedoch gestört, da er auf Wunsch der mehrheitsdeutschen Freund_innen seines Partners andauernd etwas zur türkischen Kultur präsentieren musste: Zum Beispiel wenn alle seiner Freund_innen sich versammeln, ähm, dann bitten sie mich darum, ob ich orientalisch tanzen würde, oder man erwartet von mir solche exotischen Dinge. (Zeile 392-394) Obwohl er nicht über negative Diskriminierungen aufgrund seiner Homosexualität sprach, konnte er in der Erzählung sein Nicht-Zugehörigkeitsgefühl in Deutschland zum Ausdruck bringen. Der Satz Ich bin dort [in der Türkei] schwul und
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hier habe ich migrantischen Status zeigt, dass er sich in Deutschland aufgrund seiner Herkunft diskriminiert fühlt, da er hier vermutlich wegen seines Ausländerseins ungleichbehandelt wird und etlichen direkten oder indirekten rassistischen Diskriminierungen begegnet, die er im Interview nicht erwähnt hat: Hier ist auch nicht meine Heimat, weil ich denke, mehr verdient zu haben, als sie [die Deutschen] mir geben. Denn ich habe hier einen migrantischen Status, und dort einen schwulen Status. Also auch hier hat sich nicht viel geändert. (Zeile 433-435) Diese Aussage veranschaulicht sein Nicht-Zugehörigkeitsgefühl aufgrund seines Status als Migrant in Deutschland. Die bildliche Heimatlosigkeit bzw. das Vertriebensein sind gravierende Auswirkungen der Diskriminierungserfahrungen auf die gesamte Biographie, die von verschiedenen Formen der Flucht geprägt ist. In dem letzten Satz des obigen Zitates bringt er die Situation andersartig definierter Menschen deutlich zum Ausdruck. Die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen üben Macht auf die Minderheiten aus. Aus diesem Zitat geht hervor, dass er in Deutschland in zweierlei Hinsicht diskriminiert wird: erstens aufgrund seines ausländischen bzw. migrantischen Status durch die herrschende Aufnahmegesellschaft, zweitens aufgrund seiner Homosexualität durch die heteronormative Mehrheitsgesellschaft. Trotz dieser Mehrfachdiskriminierungen bilanziert er seine gegenwärtige Situation und macht einen Vergleich zwischen Deutschland und der Türkei. Somit revidiert er in den weiteren Erzählungen seine Aussage über seine negativen Befindlichkeiten in Deutschland: Im Gegensatz zur Türkei fühlt er sich in Deutschland sozial besser gestellt. Diese Situation belegt er mit den gegebenen Rechten und der Existenzabsicherung. Was er in der Türkei nicht verwirklichen konnte, war in Deutschland relativ möglich (vgl. Segment 21). Binationale Partnerschaft Die in der Türkei erlebten Diskriminierungserfahrungen des Erzählers brachten ihn dahin, sich auf die Suche nach einer neuen Heimat zu machen. So kam er zum dritten Mal nach Deutschland, um dort ein neues Zuhause zu suchen. Hierbei stellt sich die Frage, wie die Wahl des neuen Landes, in dem er sein Leben weiterführen wollte, getroffen wurde. Arda kam erstmalig im Alter von 12 Jahren nach Deutschland, wo er sich damals insgesamt neun Monate aufgehalten hatte. Zum zweiten Mal kam er durch das internationale Projekt und wollte in Deutschland sein Studium absolvieren. Dieser Wunsch konnte aus aufenthaltsrechtlichen Gründen nicht erfüllt werden, so musste er in die Türkei zurückkehren. Der dritte Versuch zielte direkt auf einen unbefristeten Aufenthalt in Deutschland ab. Die erste Phase seines letzten Aufenthalts wird von ihm ausgeklammert bzw. nicht beschrieben. Diesen dritten Aufenthaltsversuch verbindet er unmittelbar mit dem Kennenlernen seines gegenwärtigen Partners. Er lernt seinen Partner auf eine schwul-lesbische Party über einen deutschen Kumpel kennen. Hier ist wichtig zu erwähnen, dass Arda bis zu diesem Punkt des Interviews noch nicht über eine
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schwule Szene, in der er sich möglicherweise bewegt, erzählt hat. Die mittelbare Erwähnung der schwulen Szene findet dadurch statt, dass Arda die Umstände des Kennenlernens des Partners mit wenigen neutralen Sätzen berichten wollte. Aus seiner gesamten Narration geht nicht hervor, dass er sich in der Türkei bereits in einer schwulen Szene befunden hatte. Der Freund, den er in einem LSBTT-Lokal über einen Bekannten kennen gelernt hatte, wurde in kurzer Zeit zum Liebespartner. Den Verlauf des Kennenlernens beschreibt er ziemlich kurz. Zu dieser Zeit fühlte er sich aus aufenthaltsrechtlichen Gründen verunsichert und war auf der Suche nach Möglichkeiten, um seinen Aufenthaltsstatus in Deutschland zu verbessern und dort bleiben zu können (vgl. Segment 14). Die Auseinandersetzung mit diesen bleiberechtlichen Problemen fand in der Kennenlernphase statt, so dass er direkt oder indirekt seine Probleme zwangsläufig mit seinem Partner reflektierte. In dieser Zeit befand er sich in verschiedenen Konflikten: Erstens bestand die Gefahr, dass er wieder ausgewiesen werden. Zweitens war die neue Beziehung durch diese Ausweisungsgefahr bedroht. Der Partner war dadurch zu Beginn bzw. im Laufe der Beziehung mit involviert. Der Interviewpartner befand sich aus aufenthaltsrechtlichen Gründen in einer tiefen Krise und fühlte sich durch die Ausländerbehörde bedroht. In diesem Leidensprozess taucht sein Partner in der Rolle des Helfers auf, der ihn von seiner Last befreien sollte. In dieser Zeit der Beziehung war dem Partner eine Trennung aufgrund des deutschen Ausländerrechtes nicht vorstellbar, so dass er sich verpflichtet fühlte, Arda in dieser Hinsicht zu unterstützen. So hatte er Arda bei Behördengängen oder bei Rechtsanwält_innen begleitet, um sich beraten zu lassen und die auf Deutsch erhaltenen Informationen für Arda zu übersetzen. Das individuelle Erleiden wurde mit der neu gegründeten Partnerschaft zu einem kollektiven Kampf gegen die Gefahr. Die Verlaufskurve der Existenzangst in Deutschland verwandelte sich mit der Partnerschaft in eine andere biographische Verwicklung, die sich in der Trennungsangst des Paares manifestierte. So geht aus der Narration hervor, dass die erste Phase der Partnerschaft durch die bedrohlichen Gesetze und die Angst vor deren möglichen Folgen gekennzeichnet ist. Ein Jahr nach dem Inkrafttreten des LpartG geht Arda mit seinem deutschen Partner eine Lebenspartnerschaft ein, zunächst, um in Deutschland bleiben zu können, dann aber auch, um mit seinem Partner in einer Lebensgemeinschaft zusammen zu leben. Beziehung und Wahrnehmung kultureller Differenzen Durch die eingetragene Lebenspartnerschaft gewann die Beziehung an Stärke. Die Beziehung wird als harmonisch bezeichnet und basiert auf gegenseitigem Verständnis und Zärtlichkeit. In seiner Partnerschaft scheint Arda ganz vorsichtig zu sein, und diese Form der Aufmerksamkeit verlangt er aber auch von seinem Gegenüber. In der Harmonie der Beziehung und der gegenseitigen Aufmerksamkeit findet die eingetragene Lebenspartnerschaft ihre Begründung. Auch wenn sie anfänglich aufgrund des Bleiberechts geplant war, wurde sie in kurzer Zeit zu einer reellen Lie-
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besbeziehung und Lebenspartnerschaft. So haben beide Partner in einer Einzimmerwohnung gewohnt, Arda ist seit fünf Jahren mit seinem Mann zusammen. In der Partnerschaft erfüllen beide Partner einerseits die institutionellen Handlungserwartungen, d.h., sie haben eine Lebenspartnerschaft gegründet, um sich nicht wieder zu trennen. Das binationale Paar erfüllt die Voraussetzungen einer harmonischen Partnerschaft, nämlich sich in jeder Zeit gegenseitig zu unterstützen und zu lieben. Damit wurden institutionelle Handlungsmuster zu intentionalen Handlungen. Aus der gesamten Narration lassen sich folgende Befunde bezüglich der binationalen Partnerschaft feststellen: • • •
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Die Angst des Erzählers vor der Abschiebung durch die Ausländerbehörde beschleunigt die Annäherung des Paares. Das Paarwerden gewinnt an Dynamik. Die Verlustangst des Partners ist höchster Punkt der Verlaufskurve der Partnerschaft und veranlasst die Eintragung der Lebenspartnerschaft. In Bezug auf die Partnerschaft ist von großer Relevanz, dass Ardas Partner auf seine Bedürfnisse und die besondere Situation, in der er sich als ein ausländischer schwuler Mann mit islamischem Hintergrund befindet, Rücksicht nimmt. Dank des gegenseitigen Verständnisses und des aufeinander Eingehens gewinnt die gefühlsmäßige Harmonie der Beziehung der Qualität. Aufgrund der während der Kindheit erlebten Gewalterfahrungen geht Arda auf die Beziehung zunächst vorsichtig ein, um jegliche Konflikte in der Beziehung zu vermeiden. Im Falle eines Konfliktes verlässt er den Raum. Das biographische Handlungsschema Fliehen wird im Hinblick auf mögliche Konflikte in der Beziehung praktiziert. Die kulturellen Differenzen innerhalb der Partnerschaft werden genutzt und als bereichernd definiert. Daher wird aufgrund des unterschiedlichen religiösen bzw. kulturellen Hintergrunds kein Konflikt innerhalb der Beziehung erlebt. Arda genießt die Vorteile einer binationalen Partnerschaft. Durch diese Partnerschaft fiel es ihm leichter, die deutsche Sprache zu erlernen und die Struktur der Gesellschaft zu verstehen. Der deutsche Partner wird als derjenige definiert, der ihm Informationen aus erster Hand über das deutsche Gesellschaftssystem und die Sprache vermittelt. Das Lebenspartnerschaftsgesetz, von dem Arda profitiert hat, findet bei ihm keine große Beachtung. Es war für ihn nur ein Mittel, das Bleiberecht zu erhalten.
Die Wahrnehmung des Paares durch Andere Im vorangegangenen Abschnitt handelt es sich um die Selbstwahrnehmung des Paares und die Darstellung der binationalen Partnerschaft durch den Erzähler. Dieser Teil der Auswertung befasst sich mit der Fremdwahrnehmung des Paares durch dessen soziale Umgebung in Deutschland. Fokus der Auswertung ist, wie Arda die Fremdwahrnehmungen betrachtet und diese deutet. Er führt im Interview möglichst
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viele Menschen aus seiner gesamten sozialen Umgebung an, um mir ein großes Tableau über seine Befindlichkeiten insgesamt in seinem Lebenslauf zu zeichnen. Wenn man seinen Beruf Theaterschauspieler in Betracht zieht, so ist zu erkennen, dass seine Erzählart auch von seinem Beruf beeinflusst ist. Auf diesem Tableau sind verschiedene Menschen zu sehen: die Mutter, die sich ab und an blicken lässt; der Vater, der sich mit der Homosexualität seines Sohnes sehr früh abgefunden hat; der Partner, der ihn vor der Abschiebung und deren negativen Folgen bewahrt hat; die türkische Armee, die ihn als psychosexuell krank klassifiziert hat. Im Hinblick auf die binationale schwule Partnerschaft wird auf folgende Personenkreise und deren Verhältnisse bzw. Wahrnehmungen aus der Sicht des Interviewten eingegangen: Die Wahrnehmung und das Verhältnis der Familie Ardas zu Arda: Das Paar findet Akzeptanz in der Familie. Die Entwicklung dieser Akzeptanz seitens der Familie findet jedoch in der Erzählung keine Erwähnung. Arda führt die Verbesserung des Verhältnisses zu seinem Bruder auf das reifere Alter zurück. Obwohl seine Mutter über seine Homosexualität und Partnerschaft erst spät erfahren hat, erzählt er nicht, ob die Mutter auch seine binationale schwule Partnerschaft respektiert. Die Wahrnehmung und das Verhältnis der Familie des Partners zu Arda: Aus Segment 15 geht hervor, dass Arda nicht als Partner des Sohnes wahrgenommen wird. Die Familie des Partners stammt aus einem kleinen bayerischen Dorf, in dem das gesellschaftliche Leben von katholisch-religiösen Werten geprägt ist. Bei der Einführung Ardas in die Familie des deutschen Partners ist kein Verstoß seitens der Familie zu erkennen. Er fühlt sich in die Familie seines Partners integriert. Dies wird auf den gegenseitigen Respekt zwischen der Familie und ihm zurückgeführt. In Bezug auf die Diskriminierung aufgrund seiner Herkunft bzw. seines religiösen Hintergrunds begegnet er keinen negativen Reaktionen in der Schwiegerfamilie. Die positive Diskriminierung taucht aber auch hier auf, so dass er immer wieder etwas von seiner Kultur vorstellen muss, so wie traditionelle Gerichte oder orientalisches Tanzen. Diese Situation bewertet er einerseits positiv, in dem Sinne, dass ein bereichernder kultureller Austausch zwischen ihm und seiner Schwiegerfamilie stattfindet. Andererseits fühlt er sich von den Aufforderungen der Familie überfordert. Arda scheint die familiären Traditionen verinnerlicht zu haben, da er die Schwiegerfamilie an Weihnachten und an bestimmten für die Familie besonderen Tagen regelmäßig besucht und sie beschenkt (vgl. Segment 15). Die Wahrnehmung und das Verhältnis des gemeinsamen/eigenen Freundeskreises zu Arda: Hier kann, wie im vorherigen Abschnitt, wiederum von positiver Diskriminierung gesprochen werden. Aufgrund seines ausländischen islamischen Hintergrunds ist er nicht auf konkrete negative Diskriminierungen durch den Freundeskreis des Partners gestoßen. Im Gegenteil profitierte er von seiner Homosexualität, die den stigmatisierten Status der in Deutschland lebenden Türk_innen verschleiert. Behandlungen durch die deutschen Behörden und andere nicht staatliche Institutionen: Nachdem Arda mit seinem Partner die Lebenspartnerschaft eingegangen
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ist, konnte er zunächst seinen aufenthaltsrechtlichen Status verbessern und anschließend einen Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft stellen, der durch die Ausländerbehörde bewilligt wurde. Mit der Veränderung seines Status musste er im Laufe der Zeit mit seinem Partner etliche Formalitäten in den verschiedenen deutschen Behörden vollziehen. In diesem Prozess begegnet er keinen diskriminierenden Handlungen der Behörden bzw. Institutionsmitarbeiter_innen. Auffällig ist, dass er sich nicht mit dem Thema LpartG, von dem er profitiert hat, beschäftigen will. Die Formalitäten bei den Behörden hätten reibungslos erledigt werden können, so seine Aussage. Auch wenn Arda in Deutschland sowohl als Schwuler als auch als Ausländer möglicherweise hätte diskriminiert werden können, teilt er im Gespräch mit, dass er bisher keine diskriminierenden Handlungen bemerkt hat. Die Wahrnehmung und das Verhältnis der Arbeitskolleg_innen zu Arda: Als Mitglied einer Organisation, in der verschiedene Projekte zu Homophobie, Transphobie, Sexismus und Rassismus durchgeführt werden, hat er keine Probleme bzw. findet für seine binationale schwule Partnerschaft Respekt. Auch in seinem Beruf als Theaterschaupieler lebt er offen homosexuell. Hier kommt es nicht zum Thema der Partnerschaft. Aus dem gesamten Interview geht jedoch hervor, dass er in den verschiedenen Bereichen der Aufnahmegesellschaft sowohl persönlich als auch mit seinem Partner eine gewisse Akzeptanz findet. Als Theaterschauspieler übernimmt er auch feminine Rollen, worauf die türkischen Zuschauer positiv reagieren. So bezeichnet er seine gesellschaftspolitische Position als lehrend und aufklärend durch das Theater. Herkunftsfamilie Wie in der strukturellen Textanalyse zu sehen ist, hat Arda eine mutterlose Kindheit erlebt. Als er im Säuglingsalter war, verließ seine Mutter die Familie, worauf Arda allerdings nicht detailliert eingegangen ist. Hier ist zu vermuten, dass er entweder diese Zeit zu verdrängen versucht oder keine weiteren Informationen über seine Familie geben möchte. So wuchs er bei seinem Vater mit seinem vier Jahre älteren Bruder auf. Der Vater, der beruflich Schneider ist, übernahm die Erziehung der Kinder und kümmerte sich zusätzlich um den Haushalt. Die vom Vater für tot erklärte Mutter war Anfang der 60er Jahre in Deutschland als Gastarbeiterin tätig und war dort mit einem konservativen sunnitischen Mann verheiratet. In der Erzählung wird die Mutter als eine Frau aus der Kindheit dargestellt, die in ihrer Urlaubszeit ab und an kam und wieder ging. Dennoch wusste Arda nicht, dass diese Frau seine Mutter war. Als er von der Existenz seiner Mutter erfuhr, war er zwölf Jahre alt. Wie er auf diese Information reagierte, findet jedoch keine Erwähnung. Auch an dieser Stelle des Interviews ist auffällig, dass er bestimmte biographisch relevante Ereignisse nur oberflächlich benennt, jedoch nicht ausführlich erzählt. Aus dieser Erzählhaltung ist zu schließen, dass er mich als fremden Interviewer wahrnimmt und die für ihn als intim geltenden Ereignisse für sich behält. Die ersten zwölf Jahre
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seines Lebens verbrachte er bei seinem Vater. Der Vater wird als alleinerziehend beschrieben, der auch die Rolle der Mutter übernahm. Über eine andere Frau bzw. Stiefmutter gibt Arda keine Informationen. Als er zwölf Jahre alt war, kam die Mutter wieder und holte ihn nach Deutschland. Dort hatte sie eine andere Familie, und von ihrem zweiten Mann bekam sie noch einen Sohn. Arda fühlte sich im häuslichen Umfeld seiner Mutter nicht wohl und war außerdem in dieser Zeit der Unterdrückung und der Gewalt seitens seines Stiefvaters ausgesetzt. Die vom Stiefvater ausgeübte Unterdrückung führt Arda auf die Religiosität des Stiefvaters zurück. In dieser Zeit wurde er zum ersten Mal mit der Religion konfrontiert und gezwungen, zur Koranschule zu gehen. Da Arda dieser Aufforderung nicht nachkommen wollte, wurde er oft durch den Stiefvater schlecht behandelt. Den neunmonatigen Aufenthalt bei seiner Mutter Anfang der 80er Jahre bezeichnet er als gewaltvolle Zeit in seiner Kindheit. Diese Situation gibt ihm Anlass, die Mutter und ihre Familie zu verlassen. Wichtig ist, dass er in dieser Zeit begann, das biographische intentionale Handlungsschema Flucht/Verlassen zu entwickeln. Arda wollte nicht länger in Deutschland leben und bestand darauf, in die Türkei zurück zu kehren. Da die Mutter die Erziehung Ardas übernahm, schickte sie ihn unter der Voraussetzung in die Türkei zurück, dass er dort zu einer Imamschule geht und im Internat dieser Schule untergebracht wird. In diesem Aushandlungsprozess zwischen der Mutter und ihm ist zu erkennen, dass beide Parteien über einen starken Willen verfügten und sich unbedingt durchsetzen wollten. Zudem macht dieser Aushandlungsprozess eine Verlaufskurve deutlich, nämlich die der Entwicklung des Durchsetzungsvermögens Ardas. Eine Rückkehr in die Türkei gelang ihm, aber er musste die Voraussetzung der Mutter erfüllen. Arda konnte die Imamschule bzw. das Internat drei Jahre lang ertragen. Nach diesen drei Jahren ergriff er wieder das intentionale biographische Handlungsschema Flucht, ging zurück zu seinem leiblichen Vater und konnte dort ein Gymnasium besuchen. Bis zum Beginn seines Studiums, im Alter von etwa 18-19 Jahren, lebte er bei seinem Vater und Bruder. Mit dem Beginn des Studiums zog er dann in eine andere größere Stadt und gestaltete dort sein Leben als offen Homosexueller. Sohn-Mutter-Beziehung Aus der gesamten Narration ergibt sich, dass Arda aufgrund des Verlassens und der Trennung der Mutter von der Familie zu seiner Mutter eine emotionale Distanz entwickelt hat. Die Beziehung zu ihr ist hinsichtlich der familiären Geschichte als gestört zu bezeichnen. Das bis zum zwölften Lebensalter mutterlose Leben und dessen emotionale Auswirkungen werden nicht detailliert erzählt, vermutlich deshalb, weil er sich nicht mehr mit dieser Zeit befassen möchte und in der Gegenwart zu dieser Vergangenheit Distanz gewinnen will. So kann man hier von einer Verdrängung während des Interviews reden.
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Das Thema der Mutter wird auf emotionale Art zum Ausdruck gebracht. Sie ist ausdrücklich als eine kommende und gehende Frau beschrieben, was bedeutet, dass zwischen der Familie und der Mutter erstens eine räumliche und zweitens eine emotionale Distanz entstand. Die aus den unterschiedlichen Lebensarten der Eltern resultierende Trennung wird durch den Vater Arda gegenüber legitimiert, indem er die Mutter für tot erklärte, um ein mögliches Stigma der Kinder hinsichtlich der Mutter zu verhindern. Nach dem Wiederauftauchen der Mutter beginnt Arda, seine Mutter schrittweise kennen zu lernen. Schließlich nimmt sie Arda im Alter von zwölf Jahren nach Deutschland mit. Von diesem Zeitpunkt an kann man von einer MutterSohn-Beziehung reden, die für Arda dramatische Folgen hatte. Der im vorangegangenen Abschnitt dargestellte neunmonatige Aufenthalt bei der Mutter und dem Stiefvater führte zu einer Verschlechterung der Mutter-SohnBeziehung. Durch den Stiefvater, den Arda als diesen anderen Mann bezeichnet, ist die Beziehung zu seiner Mutter belastet. Er hat in dieser Zeit, die durch Gewalterfahrungen gekennzeichnet ist, die Möglichkeit verpasst, seine Mutter kennenzulernen. So zählt er ihre Eigenschaften im weiteren Gang der Erzählung auf: dass sie alt war, religiöse Werte hatte usw. Daher hatte er Angst vor einer Ablehnung seitens der Mutter, wenn er sich ihr gegenüber als homosexuell bekannt hätte. In diesem Teil der biographischen Gesamtformung handelt es sich wiederum um die dominierenden Prozessstrukturen der Lebensgeschichte hinsichtlich der Mutter-Sohn-Beziehung. Im Zentrum der Auswertung stehen die folgenden aus den Narrationen hervorgegangenen Befunde: Positionierung Ardas der Mutter gegenüber • •
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Die eigene Homosexualität hat er nur vor der Mutter versteckt, da ihre Lebenseinstellung keine Akzeptanz für Homosexuelle ermöglichte. Räumliche und emotionale Distanz zur Mutter ist als Ausdruck der Flucht im Sinne der Verleugnung von Ablehnung und Stigmatisierung durch die Mutter zu interpretieren. Die Beziehung bleibt lange Zeit gestört, da die Mutter mit dem anderen Mann zusammen war und die Kinder verließ. In der Familie wird über die Mutter nicht gesprochen, die Probleme werden verschwiegen. Damit ist ein anderes intentionales Handlungsmuster entwickelt, nämlich Verschweigen als Form der Verdrängung.
Positionierung der Mutter Arda gegenüber • •
Die Mutter reagiert auf die Homosexualität Ardas mit einem Schock. Fünf Jahre lang wird über die Homosexualität nicht gesprochen.
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Nach fünf Jahren konnte die Mutter allmählich über die Homosexualität ihres Sohnes sprechen, sowohl mit Arda als auch mit ihrem Umfeld. Dadurch hat sie sich als Mutter eines Homosexuellen geoutet.
In diesem Aushandlungsprozess erfahren beide Parteien zwei Verlaufskurven: Zum einen war Arda in einer Situation, seine Mutter von seiner Homosexualität zu überzeugen. Die Verlaufskurve der Selbstbehauptung ist auch hier zu erkennen. Zum anderen scheint auch die Mutter in einer Verlaufskurve zu sein. Als konservative Mutter versuchte sie ihren Sohn zu überzeugen, dass er eine Frau heiraten und ein normales Leben führen könnte. Die Akzeptanz der Homosexualität ihres Sohnes fiel ihr nicht leicht, so dass sie über das Thema fünf Jahre lang nicht sprechen wollte: Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich homosexuell bin, es sind schon fünf Jahre vergangen, und die Frau überwindet ihr Coming-out erst jetzt, denn das ist auch für sie ein Coming-out. (Zeile 596-598) In diesen fünf Jahren scheint sie bemüht zu sein, Akzeptanz und Respekt Arda gegenüber zu finden. Erst nach dieser langen Zeit konnte sie das Thema ansprechen und auch in ihrem Umfeld darüber reden, ohne sich deshalb zu schämen. Diesen Prozess der Mutter bezeichnet er gleichfalls als Coming-out. So empfiehlt er anderen versteckten Homosexuellen, sich hemmungslos als homosexuell zu bekennen und ihrem Gegenüber Zeit zu lassen, um gegenseitige Akzeptanz und Respekt finden zu können. Leiblicher Bruder In den vorangegangenen Abschnitten der biographischen Gesamtformung dieses Interviews habe ich die distanzierte Beziehung zwischen Arda und seinem Bruder dargestellt. In diesem Teil der Auswertung gehe ich auf die positive Veränderung dieser Beziehung ein. Der während der Kindheit ignorante und ausgrenzende Bruder scheint sich im Laufe der familiären Lebensgeschichte mit dem Thema der Homosexualität seines Bruders beschäftigt zu haben, so dass er später einen besseren Kontakt zu ihm herstellte. So konnte er die Homosexualität und homosexuelle Partnerschaft seines Bruders akzeptieren. Für Arda besteht die Geschichte der geschwisterlichen Beziehung aus zwei Epochen: Während sein Bruder früher gegenüber Arda distanziert war, ist er mittlerweile bemüht, die zwischenbrüderliche Beziehung zu intensivieren.
5.2 F ALL II: ALI 5.2.1 Kurzbiographie von Ali Geboren wurde Ali 1964 in einer großen Stadt der Westtürkei. Er hat eine 6 Jahre ältere Schwester, die in der Türkei lebt. Mit 23 Jahren kam er erstmalig nach Deu-
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tschland und lebte einen Monat in Frankfurt/M. Zum zweiten Mal kam er im Alter von 24 Jahren für ca. 1,5 Jahre nach Deutschland. Damals versuchte er, durch eine Scheinheirat in Deutschland bleiben zu können. Aufgrund von Ängsten verzichtete er auf diese Heirat und musste in die Türkei zurückkehren. Zum dritten und letzten Mal kam er im Jahr 2007 mit 43 Jahren nach Deutschland. Hier ging er mit seinem gegenwärtigen Partner, den er früher in einem Internet Chat-Room kennenlernte, eine Lebenspartnerschaft ein. Ali hat 3 Jahre lang Volkswirtschaftslehre studiert und dann sein Studium abgebrochen. Bis er nach Deutschland kam, übte er verschiedene Jobs in unterschiedlichen Bereichen aus. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt er seit neun Monaten in Deutschland und ist arbeitslos. 5.2.2 Strukturelle Textanalyse des zweiten Interviews Segment 1: Biographisches Das erste Segment beginnt mit einem Gespräch zwischen dem Interviewer und dem Erzähler, der im Folgenden Ali genannt wird. Der Interviewer stellt sich vor und schildert das Forschungsvorhaben, um eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Im Anschluss beschreibt er den Ablauf des biographischen narrativen Interviews. Ali zeigt intensives Interesse am Forschungsthema, betont jedoch, dass er nicht wisse, wie er mit dem Interview beginnen soll. Um die biographische Narration zu ermöglichen, gibt der Interviewer Beispiele für den Anfang eines biographischen narrativen Interviews. Ali erklärt, er wolle der Erzählaufforderung des Interviewers nachkommen und seine Biographie von Anfang an erzählen. Insgesamt setzt sich das erste Segment aus zwei Subsegmenten zusammen, von denen das erste aus einer knappen biographischen Schilderung besteht. Um dem Interviewer zu zeigen, dass er eine chronologische Erzählart bevorzugt, gibt Ali zunächst sein Geburtsjahr an. In wenigen Sätzen wird die Biographie kurz zusammengefasst und als problemlos bezeichnet. So sei Ali in seiner gesamten Lebensgeschichte auf keine Probleme gestoßen: „Ich bin 1964 in X-Stadt geboren. Und circa bis vor einem Jahr war ich in der Türkei. Es gab auch Zeiten, in denen ich ab und zu ins Ausland vereist und zurück in die Türkei gegangen bin. Aber ich war meistens in der Türkei. Vor einem Jahr habe ich einen deutschen Mann kennen gelernt und bin hierher gekommen […] ähm, meine ganze Ausbildung habe ich in XStadt absolviert, ähm, habe Wirtschaftswissenschaften studiert […] nach dem dritten Jahr habe ich aufgehört (.) Und danach habe ich mich mit tausenden von Dingen beschäftigt […] Eigentlich denke ich nicht, dass ich in meinem ganzen Leben ernsthafte (..) große Probleme erlebt habe.“ (Zeile 29-36/46-47)
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Im zweiten Subsegment thematisiert er jedoch, dass er als versteckter Schwuler ohnehin mit großen Schwierigkeiten konfrontiert ist. Trotz dieser schwierigen Situation kann er sich nicht an ein Ereignis erinnern, bei dem er aufgrund seiner sexuellen Orientierung diskriminiert wurde: „Ich kann mich aber nicht erinnern, weder im Arbeitsleben noch im Privatleben auf ein sehr ernstes Problem gestoßen zu sein, ich habe in meinem Leben gar nichts aus der Kindheit, was mich sehr geprägt hat oder was ich nie vergessen kann“ (Zeile 62-65).
Segment 2: Ich habe mich schon immer als anders betrachtet. Aufgrund einer Erzählstockung kommt es im zweiten Segment zu einer Intervention durch den Interviewer, die helfen soll, die biographische Erzählung wiederherzustellen. Der Interviewer greift auf die Aussage des Erzählers zurück: Aber das ist ohnehin eine schwierige Situation, wenn man als versteckter Schwuler lebt (Zeile 51-52). Die folgende Frage an Ali, wie und wann ihm seine Homosexualität bewusst geworden sei, ermöglicht es, das Gespräch weiter zu führen. Das zweite Segment beginnt mit folgender Aussage: Seit ich mich erinnern kann, habe ich das gemerkt […] Also ein Mensch fängt mit sechs, sieben an, bestimmte Dinge zu verstehen und sich an diese zu erinnern […] Aber ich wusste auch schon in diesem Alter über mein Anderssein. (Zeile 71-74) Ali nennt hier einen Zeitpunkt der Bewusstwerdung des eigenen Andersseins. Im Laufe dieses Segmentes ist Ali durchweg bemüht, zu vermitteln, dass es in seinem Leben nicht zu einer sexuellen Konversion gekommen sei, denn: „Also ich bin nicht jemand, der bis zum 17./18. Lebensjahr bis zum 20. Lebensjahr ein bestimmter heterosexueller Prototyp war und sich danach mit einem Mal verändert hat. Ich habe mich schon immer, seitdem ich existiere, als anders betrachtet. Mit anders meine ich, dass ich mich schon immer als Schwuler empfunden habe. Ich habe das immer gewusst. Weil es immer etwas gab, was verkehrt war.“ (Zeile 76-80)
Es ist anzunehmen, dass Ali verhältnismäßig jung war, als er sein inneres Comingout erlebt hat; es gelang ihm früh, zur Selbstakzeptanz zu finden. Da er sich schon als junger Mann seiner sexuellen Orientierung bewusst war, kann hier nicht von einer Identitätskrise durch die sexuelle Orientierung die Rede sein. Um dieses Ausbleiben einer Identitätskrise zu betonen, führt er Beispiele an: den eigenen Freundeskreis, der größtenteils aus Freundinnen bestand und fehlende längerfristige Kontakte zu heterosexuellen Freunden. Insbesondere die Interessengebiete heterosexueller Männer, die er nicht teilen konnte, seien hierfür ausschlaggebend gewesen:
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„Wenn drei, fünf Männer zusammen kommen, dann haben sie nur zwei Dinge, worüber sie sich unterhalten, entweder Fußball oder Frauen. Ähm, weil diese beiden Dinge mich nicht interessiert haben, konnte ich zum Beispiel niemals eine enge Freundschaft mit meinen Freunden knüpfen. Ich war eher meinen Freundinnen nah.“ (Zeile 83-86)
Mit dieser Aussage dokumentiert Ali seine verkehrte Situation während der eigenen Kindheit und Pubertät. Das zweite Segment beschließt er mit der Koda was noch, hmm? (Zeile 86); diese wird als Frage verfasst und fordert den Interviewer auf, weitere zu besprechende Themen des Interviews zur Diskussion zu stellen. Segment 3: Der beste Weg, um etwas zu verstecken, ist, dass man es offen zeigt. Da die Erzählung erneut ins Stocken gerät, wird auch das dritte Segment mit einer Fragestellung des Interviewers eröffnet. Er greift eine Aussage des vorangegangenen Segments auf und fragt, inwiefern sich Ali als verkehrt empfunden habe, auf welche Handlungen und Erlebnisse er dieses Empfinden zurückführe und nach welchen Kriterien er es beurteile. Ali geht auf die spezifische Situation ein, als Homosexueller in einer heteronormativen Gesellschaft aufzuwachsen und zu leben. So etabliert er einen Zusammenhang zwischen der eigenen Sozialisation und gesellschaftlichen Strukturen. Ein Junge, der sich als schwul wahrnimmt, wird in einem heteronormativen sozialen Umfeld großgezogen, das ein Einhalten der Normen und, falls dies nicht möglich ist, den gesellschaftlichen Rückzug fordert. Die folgende Aussage beschreibt klare gesellschaftliche Bedingungen: Wenn man in einer patriarchalen Gesellschaft ist, dann wird man automatisch nach bestimmtem Standard erzogen (Zeile 93-95). Im Anschluss an diesen Satz erklärt Ali, dass er nicht dieser Standard-Erziehung entsprochen hat, weswegen er sich von anderen differenzieren bzw. distanzieren musste: „Du weißt ja, sobald ein junger Mann seine Sexualität mit Masturbieren entdeckt, hat er kein anderes Thema mehr im Kopf außerhalb […] Genau in diesem Punkt bin ich von Anderen völlig abgewichen […] Weil ich in diesem Punkt den Menschen nicht viel zu sagen hatte. Weil ich nichts zu sagen hatte, beschäftigte ich mich auch nicht damit, worüber sie immer gesprochen haben.“ (Zeile 96-102)
Ali beschreibt, weshalb er sich als anders versteht und wie er mit diesem Selbstverständnis umgeht. Durch die Distanzierung zu gleichgeschlechtlichen Bekannten und Freunden gewinnt Ali einen Rückzugsraum, der eine schützende Funktion erfüllt. Er entgeht der ihm unangenehmen Situation, sich an den Gesprächen junger Männer über Sexualität beteiligen zu müssen. Dieser Moment des Interviews lässt auf eine Angst vor bevorstehenden Diskriminierungen schließen. Durch den Rückzug in sein Versteck, durch das Verheimlichen der eigenen Homosexualität vermeidet
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Ali mögliche Diskriminierungen: Was noch wichtiger war: für mich war es besser, dass ich mich von denen ferngehalten habe, um mein Desinteresse verheimlichen zu können. Daher war ich ziemlich entfernt von meinen Freunden. (Zeile 102-105) Wie diese Hintergrundkonstruktion zeigt, macht die Tatsache, mit einer verheimlichten Homosexualität in einem heteronormativen Umfeld leben zu müssen, für Ali ein spezifisches Verhalten unabdingbar. Obwohl er sich von männlichen Bekannten und Freunden fernhält, kann er enge Freundschaften zu Freundinnen aufbauen, die ihm hilfreich sind, die eigene Homosexualität zu verbergen. Von anderen werden diese Beziehungen als Flirts bzw. als Liebesaffären gewertet; zum anderen erhielt Ali aufgrund seiner zahlreichen Freundinnen den Spitznamen Mädchen Ali. Kommt ihm ersteres gelegen, um die eigene Homosexualität geheim zu halten, so empfindet er letzteres als verachtend gegenüber seiner Person. Mit zwei Sätzen fasst Ali das Segment zusammen und kündigt das Thema des nächsten Segments an: Schließlich ist es ein eigenständiges großes Problem, dass man als ein Schwuler aufwächst und lebt. (Zeile 115-116) Segment 4: Die Last meines Lebens: Ich habe mich immer einsam gefühlt. Das vierte Segment beginnt mit einem Vergleich gesellschaftlicher Probleme der Gegenwart und der Vergangenheit, die nicht lokal begrenzt, sondern auf einen globalen Raum übertragen werden. Unter früher fasst Ali seine Jugendzeit als Schwuler zusammen. Wird heute im gesellschaftlichen Diskurs über Homophobie, Gewalt an Homosexuellen und lückenhafte Gesetze diskutiert, so fanden derartige Themen früher keine relevante Beachtung: „Ähm, nun sind das natürlich andere Probleme als die, worüber wir heutzutage diskutieren. Also heute, in diesem Moment, reden wir beispielsweise über Homophobie, ähm, über die Gewalt an Homosexuellen reden wir, oder wir reden, dass es rechtliche Lücken gibt. Wir reden meistens über technische Themen.“ (Zeile 118-121)
Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit richtet sich heute auf technische Themen, womit strukturelle Problematiken gemeint zu sein scheinen. Indem sie öffentlich diskutiert werden, werden Informationen über Gesetze und ähnlich reglementierende gesellschaftliche und politische Dynamiken verbreitet. In Alis Jugend wurden derartige Probleme nicht zur Sprache gebracht, weshalb er für sich selbst in diesem Zeitraum derartige Schwierigkeiten schlicht ausschließt: „Aber es gab damals nicht solche Themen. Ich hatte nie ein technisches [strukturelles] Problem. Ich hatte kein Problem mit meiner Familie, ich hatte kein Problem mit der Schule, ich hatte kein Problem mit mir selbst. Also ich war nicht ein Kind, welches wegen seiner Homosexualität hinten geblieben ist.“ (Zeile 121-124)
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Zur Bekräftigung dieser Behauptung führt er folgendes Argument an: Im Gegenteil, ich war in der Schulzeit einer der Beliebtesten. Und ich denke, es ist immer noch so. (Zeile 124-125) Um soziale und individuelle Probleme voneinander zu differenzieren, bezieht Ali das Thema Schwulsein wiederholt auf sein nächstes soziales Umfeld. Als Schwuler sei er gezwungen gewesen, ein einsames Leben zu führen: „Aber ich war immer einsam. Denn auch wenn meine Freundinnen meine besten Freundinnen waren, mit denen ich enge Freundschaften geschlossen hatte, konnte ich ihnen keine Information darüber geben, dass ich homosexuell oder anders bin. Weil man darum weiß, führt man ein ganz anderes einsames Leben, indem man dieses Wissen mitschleppt. Also: du bist mit deiner Familie, du gehst nach Hause, du hast ein Zuhause, du hast eine Ordnung, du hast deine Mutter, deinen Vater hast du. Dann gehst du in die Schule, dort hast du haufenweise Freund_innen, du hast deine Lehrer_innen […] Und du bist nicht alleine. Aber innerhalb dieses Gewimmels bist du einsam, so eine Situation gibt es.“ (Zeile 125-133)
Diese Selbstwahrnehmung als einsamer Homosexueller lässt sich möglicherweise auf eine Angst vor homophoben Diskriminierungen zurückführen. Um nicht ausgeschlossen zu werden, grenzt sich Ali von der eigenen Familie, von seinem schulischen und schließlich von seinem gesamten sozialen Umfeld ab; er ist mit der Einsamkeit konfrontiert, die sich in der Schilderung der Kindheit und Jugend als überwältigende Verlaufskurve darstellt. Diese Verlaufskurve der Einsamkeit aufgrund der sexuellen Orientierung endet mit einem Fazit – mit einer Bilanzierung der eigenen Vergangenheit: Und was ich im Grunde erlebe, ist diese Einsamkeit. Das ist das Problem, die Last meines Lebens, welche aus der Homosexualität hervorgeht. Ich habe mich also immer einsam gefühlt (Zeile133-134). Segment 5: Immer noch weiß keiner aus der Zeit meiner Kindheit, dass ich schwul bin. Ali eröffnet das fünfte Segment mit der Aussage, dass er sich niemals und nirgends zugehörig gefühlt habe. Als Beleg für dieses Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit führt er die Tatsache an, sich vor seiner Familie nie als Homosexueller bekannt zu haben: „Ich habe mich niemals irgendwohin zugehörig gefühlt, obwohl ich mit meiner Familie gelebt habe. Meine Familie weiß immer noch nicht, dass ich homosexuell bin. Die Zeit, in der ich mir vorstellen konnte, dass ich das hätte sagen können […] war ich Ende 30, und meinen Vater gab es nicht mehr, meine Mutter war schon alt geworden. Deswegen war es kein Problem mehr, dass ich das ihnen hätte erklären müssen. Mit dieser Information hätte ich meiner Mutter nur Leid zugefügt und nichts weiter. Und meine Freunde aus meiner Kindheit, aus dieser Zeit, wissen immer noch nicht, dass ich homosexuell bin.“ (Zeile 136-142)
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Ab seinem Alter Ende 30 differenziert Ali seine sozialen Beziehungen in solche davor und danach. Sein früheres soziales Umfeld soll und darf nichts von seiner Homosexualität wissen; neuen Kontakten und Freund_innen erzählt er hingegen von seiner sexuellen Orientierung. Die kontinuierliche Verheimlichung der eigenen Homosexualität vor der Familie und dem alten Freundeskreis rechtfertigt er über das unnötige Leid, das die Neuigkeit verursacht hätte. Zudem hätte sein früheres soziales Umfeld nicht über ausreichende Informationen verfügt und hätte daher nicht einschätzen können, was Homosexualität für sie und für Ali bedeutet. Da das Aussehen Alis nicht mit klischeehaften homophoben Vorstellungen übereinstimmte, merkten ihm Mitglieder der heteronormativen Gesellschaft seine Homosexualität nicht an. Die folgende Aussage belegt seine Behauptung: „Weil ich so ein großer und so behaarter Mann bin, können die Menschen nichts ahnen. Auch wenn in meiner Sprechweise und meinen Handlungen kleine Weichheiten zu merken sind, beziehen sie das auf die Intellektualität oder darauf, dass ich etwas mehr studiert habe oder dass ich intelligent bin. Deswegen denke ich, dass sie das nicht ans Licht bringen könnten, selbst wenn sie im Kopf kleine Fragezeichen hätten. Denn in unserer Gesellschaft gibt es, ähm, nicht so viele Informationen, um zu diesem Thema etwas zu sagen. Ähm, was die Homosexualität ist, was sie nicht ist, wie sie ist, wie man sie auslebt, ähm, darüber wissen sie gar nichts. Was sie darüber wissen, ist nur, dass die femininen Männer, die wir, ähm, als Tunten bezeichnen, homosexuell sind. Das ist alles. Aber ich bin nicht so ein Typ.“ (Zeile 143151)
Mit dieser Aussage versucht er zu beweisen, dass und weshalb er sich in seinem Herkunftsland als schwuler Mann verstecken konnte. Die soziale Situation zwang ihn dazu, ein Doppelleben zu führen, worauf er in diesem Segment nicht direkt eingeht. Gegen Ende dieses Segments deutet Ali an, seine Familie und sein ehemaliger Freundeskreis könnten seine Homosexualität möglicherweise vermutet haben, wären jedoch aufgrund heteronormativer Klischeevorstellungen nicht in der Lage gewesen, diese Annahme zu artikulieren. Möglicherweise hätten sie ihre Vermutung bezüglich seiner Homosexualität unterdrücken müssen, da sich Ali in seinem Erscheinungsbild nicht dem etablierten Klischee eines schwulen Mannes zuordnen ließ: Deshalb denke ich, dass sie ihre Fragen, die ihnen aufgrund meines Verhaltens kommen, ganz einfach unterdrücken. Aus diesem Grund weiß immer noch keiner aus meiner Vergangenheit, zu dem ich immer noch Kontakt habe, dass ich gay bin. (Zeile 151-153) Durch das Rahmenschaltelement deshalb etabliert Ali einen klaren kausalen Zusammenhang zwischen heteronormativen Klischeevorstellungen und der Möglichkeit, die eigene Homosexualität vor seinem sozialen Umfeld zu verbergen.
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Segment 6: Im Grunde lebe ich nun schon ziemlich offen. Zu Beginn des sechsten Segments kontrastiert Ali die eigene Vergangenheit mit der gegenwärtigen Situation. Zum Zeitpunkt des Interviews bekennt sich Ali bereits seit zehn Jahren offen zu seiner Homosexualität; wie es zu diesem Wendepunkt in der Biographie kam, erläutert er in diesem Teil des Interviews jedoch nicht. In den letzten zehn Jahren hat sich Ali in einem anderen und neuen sozialen Umfeld bewegt, in dem er seine Homosexualität nicht verstecken musste. Alte Freund_innen sind von diesem neuen Umfeld ausgeschlossen – sie sollen und dürfen weiterhin nichts von seiner Homosexualität wissen: Also, die sind aus meiner Kindheit, also, ähm, diese Menschen, die ich ehrlich gesagt angelogen habe, mit denen ich mich durch das Lügen angefreundet habe, mit denen ich Kontakt hatte, (.) wissen nicht. (Zeile 155-166) Die Aussage veranschaulicht eine starke Differenzierung zwischen zwei Freundeskreisen. In die Erzählung von einerseits innigen aufrichtigen und andererseits unehrlichen oberflächlichen Freundschaften wird eine Hintergrundkonstruktion eingebettet, worin möglicherweise nicht die Angst vor homophoben Reaktionen des alten Freundeskreises, sondern ein Versuch zu sehen ist, den jeweiligen Freundschaftsgrad zu messen. Durch seine homosexuelle Orientierung sieht sich Ali offenbar gefühlsmäßig gezwungen, sich von seinem alten Freundeskreis und seiner Herkunftsfamilie zu distanzieren: „Denn man hat so angefangen und so weitergemacht. Solche Verhältnisse, Freundschaften, die einfach so weitergeführt werden, gehen leider nicht so in die Tiefe. Denn es gibt in dieser Sache nur Lügen […] Weil sie nicht an Innigkeit gewonnen haben, habe ich nicht mehr das Bedürfnis gehabt, ihnen das mitzuteilen, auch wenn ich dann in der Lage war, das zu artikulieren. Ich habe immer noch nicht dieses Bedürfnis.“ (Zeile168-174)
Aus dieser Aussage wird ersichtlich, dass Ali nicht an die Innigkeit und Aufrichtigkeit seiner alten Freundschaften glaubt. Er zieht sich innerlich zurück, versteckt seine Homosexualität und führt weiterhin ein Doppelleben. An dieser Stelle des Interviews kommt es durch die Frage, ob sich nahestehende Personen nach einer potentiellen Partnerin erkundigt hätten, erneut zu einer Intervention des Interviewers. Der vornehmlich weibliche Freundeskreis fungiert für Ali in gewisser Weise als Tarnung seiner Homosexualität. Sonstige Bekannte halten seine Freundinnen für Liebesbekanntschaften; so erfährt Ali seitens seines Umfeldes keinen Druck, eine Partnerin zu wählen. Einen weiteren Vorteil sieht er in den zahlreichen Kindern und Jugendlichen, die in seinem Wohnviertel leben und ihm erlauben, in der Menge unterzugehen: „Mit Mädels habe ich mich immer sehr gut verstanden. In dieser frühen Jugendzeit, die wir heute Kindheit nennen könnten, gab es Freundschaften, O.K., es gab auch männliche Freun-
188 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE de, wie zum Beispiel: wir sind Kiezkinder, die im Kiez aufgewachsen und groß geworden sind; und nicht in großen Mehrfamilienhäusern. Weil wir im Kiez zusammen groß geworden sind, waren wir in einem Viertel mehr oder weniger 15-20 Kinder, die nah beieinander waren, also nur in einem einzigen Viertel. Trotzdem haben wir mit den drei, fünf Kiez-Gemeinden zusammen gelebt, als wären alle nur eine Kiez-Gemeinde gewesen. Wir waren sozusagen 4050 Kinder miteinander, und weil das so war, fiel mir die Camouflage, das Tarnen, viel leichter.“ (Zeile 175-189)
Im Anschluss an diese Erläuterung führt Ali ein Untersegment an, das sich knapp mit seiner Jugendzeit befasst. Mit dem allmählichen Heranwachsen ändert sich seine Strategie einer Camouflage der sexuellen Orientierung nicht: er versteckt sich nun hinter seinem guten Aussehen und der daraus resultierenden Popularität. Ali führt Umstände an, die ein Verbergen der eigenen Homosexualität vor dem sozialen Umfeld begünstigten. Zunächst stellt er hierbei fest, er hätte sich in der Zeit des Heranwachsens zum jungen Mann für Mädchen interessieren sollen. Das Modalverb sollen verweist eindeutig auf eine Erwartungshaltung der heteronormativen Umgebung, der Ali nicht entsprechen kann und will: und als ich dann in dem Alter war, in dem ich mich für die Mädels interessieren sollte (Zeile 191). Den gesellschaftlichen Forderungen nachzukommen, liegt nicht in Alis Interesse. Das Segment schließt mit der folgenden kausalen Aufzählung, die sich als Beleg für eine gelungene Camouflage-Strategie deuten lässt: „Hatte ich sowieso sehr viele Freundinnen. Körperlich war ich nicht so ein Typ, der zu den schlechten oder hässlichen Typen zählte. Ich war so ein Typ, der gut reden konnte, ehh, und weil ich seit der Mittelschule arbeitete, war ich auch ein Typ, der kein Problem mit Geld hatte. Deswegen war ich immer ein populärer Typ. Deswegen waren die Anrufe meistens von den Mädels. Es gab auch einige Männer, die anriefen. Meine Freunde, die zu mir nach Hause kamen, waren meistens Frauen, aber es gab auch Männer. Deswegen hat meine Mutter nie gedacht, dass ich gay bin.“ (Zeile192-198)
Segment 7: Das ist eine Tragödie der türkischen Männer, die sie erleben müssen. In diesem Segment thematisiert Ali allgemein gesehen die Situation türkischer Männer während bzw. nach dem Wehrdienst und geht hierbei insbesondere auf sein spezifisches Erleben dieser Zeit als homosexueller türkischer Mann ein. Ab dem für den Wehrdienst erforderlichen Alter (und spätestens nach Absolvieren des Wehrdienstes) konzentrieren sich gesellschaftliche und familiäre Erwartungen auf eine baldige Heirat der jungen Männer. Im vorangegangenen Segment erzählte Ali von seiner gelungenen Tarnung und stellte fest, er habe seitens seiner Familie keinen beachtenswerten Druck bezüglich der Partnerfindung gespürt. Innerhalb des siebten Segmentes fungiert das vorangegangene Zitat als Hintergrundkonstruktion. Da sein
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nahes soziales Umfeld seine Homosexualität nicht bemerkte, empfand Ali Heiratsaufforderungen seitens seiner Familie nicht als problematisch und nahm sie nicht weiter ernst. Er bezeichnet diese Lage einerseits als Tragödie, behauptet jedoch andererseits, er hätte die Situation nicht als gravierend problematisch erlebt: „Meine Mutter hat eine Zeit lang, besonders nach dem Wehrdienst. wie du weißt, das ist eine Tragödie der türkischen Männer, die sie erleben müssen. Sie befinden sich in einer Situation, in der sie unbedingt heiraten müssen und werden durch die Familie wegen dieses Themas unter Druck gesetzt.“ (Zeile 201-204)
Im Gegensatz zu vielen anderen türkischen Männern kann Ali diesen Druck bewältigen und sich gegenüber seiner Mutter durchsetzen. An dieser Stelle erinnert er den Interviewer an die vorangegangene Schilderung seiner Einsamkeit und betont zweimal, stets selbstbestimmt gelebt zu haben; offenbar sieht er die Einsamkeit, die ihm aus seiner Situation als verborgener Homosexueller erwächst, als Quelle seiner Selbstständigkeit. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Ali relativ früh mit einem einsamen Leben abgefunden hat und es für ihn so einfacher war, auf innige Kontakte zu nahstehenden Bekannten und Verwandten zu verzichten. Mit der Zeit scheint er eine spezifische persönliche Einstellung entwickelt zu haben: ohne den Kontaktverlust zu nahestehenden Personen zu fürchten, setzt er gezielt seinen Willen durch. Eine solche Einstellung fördert die Selbstständigkeit seiner Person. Ali beendet das siebte Segment mit der Behauptung, er habe Konflikte um die Heiratsaufforderung der Mutter stets durch sprachliches Geschick umgehen können. Auch zum Zeitpunkt des Interviews, im Rückblick, scheint ihm diese Situation nicht weiter belastend oder problematisch: „Damals war ich durch eine Kraft, durch eine Macht auch in diesem Thema immer eigenwillig gewesen. Und weil ich so ein Typ war, der auch gut sprechen konnte, konnte ich meine Familie mit bestimmten Sätzen, die sie nicht verstehen konnten, zum Schweigen bringen. Durch wissenschaftliche, technische, anarchistische Sätze fiel es mir immer leichter, ihnen zu entweichen. Denn meine Mutter war eine Hausfrau, die, wenn sie mich nicht verstand, dachte, ich hätte etwas sehr Wichtiges gesagt. Also habe ich in dieser Hinsicht nicht so viele Schwierigkeiten gehabt. Aber trotzdem versuchte meine Mutter zurückhaltend, mich zur Heirat zu überreden.“ (Zeile 209-216)
Segment 8: Studium Aufgrund einer Erzählpause beginnt das achte Segment mit einer immanenten Verständnisfrage seitens des Interviewers, die das Thema der Studienzeit aufwirft. Im Anschluss an das Gymnasium begann Ali mit 17 bis 18 Jahren Volkswirtschaftslehre zu studieren. An Klausuren nahm er regelmäßig teil, Seminare und Vorlesungen
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besuchte er jedoch nur unregelmäßig, da in seiner Universität keine Anwesenheitspflicht herrschte. So machte er innerhalb der ersten zwei Jahre keine universitären Bekanntschaften; möglicherweise fühlte sich Ali in diesem Zeitraum stark desorientiert. Erst nach zwei Jahren ändert sich diese Situation: In den ersten zwei Jahren kannte ich niemanden an der Uni. Nach zwei Jahren […] habe ich eine Clique gehabt. Na ja, etwa 11,5 Jahre ging ich mit dieser Clique in die Uni oder so. Das war so gewesen. (Zeile 226-228) Im dritten Studienjahr kam es jedoch zum Abbruch des Studiums, worauf Ali im gesamten Interview nicht weiter eingeht. Erneut neigt er an dieser Stelle zu einer Erzählpause: der Interviewer interveniert durch eine immanente Frage und eröffnet so ein neues Thema Interviewer: Und danach, also nach der Universität kam dann wahrscheinlich der Wehrdienst. Oder war das vorher? (Zeile 229-230) Segment 9: Die erste Einreise nach Deutschland Die letzte Frage des vorangegangenen Segments negiert Ali. Diese Frage, ob er nach dem Studienabbruch zur Armee gegangen ist, geht von der allgemeinen Situation der Mehrheit der türkischen Männer aus, die ab einem bestimmten Alter oder sozialen Status der Wehrdienstpflicht nachkommen müssen. Im dritten Studienjahr plant Ali zusammen mit seiner Freundin11 eine Europareise. Das für ihn sicherlich wichtige Vorhaben wurde in dieser Konstellation nie verwirklicht, unabhängig davon brach er in dieser Zeit auch sein Studium ab. Dennoch führte die gescheiterte Urlaubsplanung Ali schließlich auf indirektem Wege nach Deutschland. Die folgende Narration fungiert für die erste Deutschlandreise als Hintergrundkonstruktion: „Damals hatte ich eine Freundin, die man als meine Partnerin bezeichnen könnte. Manchmal habe ich auch einige Freundinnen gehabt, mit denen ich geflirtet habe12 […] Und eine dieser Freundinnen arbeitete am Flughafen und hatte mir gesagt, ich möchte mit dir Urlaub machen, zum Beispiel drei, vier Tage in Paris […] Aber die Universität lief inzwischen weiter. Wir haben unter uns so eine Entscheidung getroffen. Größter Grund dieser Entscheidung ist, dass ich seit meiner Kindheit den Traum hatte, die ganze Welt zu sehen […] eine Auslandsreise war damals nicht so einfach […] Um ins Ausland gehen zu können, musstest du erstens sehr viel Geld haben, zum zweiten war es sehr schwierig, ein Visum zu bekommen [...] deswegen konnten sich die Menschen in der Türkei nicht vorstellen, ins Ausland zu reisen. Weil meine Freundin damals am Flughafen arbeitete und sie zu mir mit dieser Information kam, war das für mich der erste Anstoß dazu. Während wir das planten, kam mein Kindheitskumpel in die Türkei, um Urlaub zu machen. Dann habe ich ihm die Sache erzählt, dass wir planen, nach 11 Im Folgenden erklärt Ali, wie es zu der Partnerschaft mit einer Frau kam. 12 Unter Flirt versteht man im Türkischen eine kurze Beziehung zwischen Mann und Frau.
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Paris zu gehen […] dann hat er mir gesagt, komm, meine Eltern sind in die Türkei zurückgekehrt, und wir […] fahren mit einem ganz freien Wagen zurück [nach Deutschland]. Das war auch gerade ungefähr die Zeit, in der wir auch verreisen wollten. Und als er mit diesem Angebot zu mir kam, habe ich es sofort angenommen. Denn wir würden mit drei guten Freunden durch Bulgarien, Jugoslawien, Österreich usw. fahren.“ (Zeile 250-267)
In dieser Hintergrundkonstruktion behandelt Ali mehrere Themen zugleich, die ineinander verschränkt sind. Die Erzählung der Deutschlandreise wird über folgende Thematiken erklärend eingeleitet: das intensive Arbeitstempo in der Studienzeit, die als Partnerin zu bezeichnende Freundin und der Kindheitsfreund, der aus Deutschland in die Türkei zurückkehrt. Ali arbeitet gegen Ende seiner Studienzeit sehr intensiv für das Studium. Durch das gleichzeitige Ausführen einer Nebentätigkeit gelingt es ihm trotzdem nicht, den angestrebten Studienabschluss zu erreichen. In dieser Zeit ist er mit einer Frau zusammen, die er als Partnerin bezeichnet; er weicht an dieser Stelle der Erzählung vom Thema ab und meint, dem Interviewer eine Erklärung geben zu müssen. Einerseits ist er bemüht, das Thema Deutschland zu Ende zu führen, zugleich versucht er jedoch, seine heterosexuelle Partnerschaft zu erklären: „Manchmal habe ich auch einige Freundinnen gehabt, mit denen ich geflirtet habe, wie man damals sagte. Da gab es Mädels, aber du musst in der Türkei mit den Mädels nicht im Bett landen. Deswegen ist Flirten viel einfacher, was du höchstens machen musst, ist vielleicht küssen, also in einer Disco oder auf einer Party […] wenn es günstig ist, dann kannst du sie küssen […] Aber mehr konntest du nicht machen. Sex kam nie in Frage. Deshalb war es eigentlich gar kein Problem, dass man mit einer Frau flirtete, auch wenn das langweilig war. Deswegen hatte ich ab und zu einige Freundinnen gehabt, mit denen ich geflirtet habe.“ (Zeile 243-250)
Die letzte Aussage fungiert hier als Rechtfertigung seiner heterosexuellen Partnerschaft: aufgrund seiner Homosexualität sei es zu keiner sexuellen Berührung gekommen. Alis Bereitschaft, eine heterosexuelle Partnerschaft einzugehen, lässt sich über herrschenden gesellschaftlichen Druck erklären: das Verhältnis zu einer Frau schützt ihn vor möglichen Diskriminierungen. Im Gespräch kommt er nun zurück zum Thema der Deutschlandreise: Da Alis Partnerin kein Urlaub bewilligt wurde, konnten die diesbezüglichen Pläne nicht realisiert werden. Nun, was Ali als Zufall bezeichnet, tauchte ein Kindheitsfreund auf, der lange Zeit mit seinen Eltern in Deutschland gelebt hatte und zum Urlaub in die Türkei zurückgekehrt war. Er bot ihm eine gemeinsame Fahrt nach Deutschland an – ein Angebot, das Ali als einmalige Gelegenheit empfand; es sei zu dieser Zeit für einen türkischen Durchschnittsbürger aus finanziellen Gründen undenkbar gewesen, eine derartige Auslandsreise anzutreten. Die Vorstellung, mit einem privaten Wagen über Osteuropa nach Deu-
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tschland zu reisen, war verlockend, Ali musste die Chance ergreifen. Er entscheidet sich in diesem Moment für die Reise und möglicherweise gegen die Fortsetzung seines Studiums. Interessanterweise plant Ali die Deutschlandreise nicht nach dem Abbruch des Studiums, sondern in seiner Studienzeit. Er arbeitet viel und hat kaum Zeit für andere Aktivitäten. Durch seine Arbeit, die er nicht näher erläutert, verdient er bestens, weshalb er der Tätigkeit viel Energie widmete; verglichen mit dem Studium schien ihm die Lohnarbeit um einiges wichtiger gewesen zu sein: „Mein Vater war damals Beamter. Ich konnte das Geld, das mein Vater verdiente, in fünf, sechs Tagen verdienen. Also ich verdiente fünf, sechs Mal mehr als ein Beamter. Deswegen habe ich wegen des Geldes kein Problem gehabt. Aber mit der Zeit hatte ich schon Probleme. Wegen der Arbeit hatte ich keine Zeit. Am Tag musste ich circa 14 Stunden arbeiten und dann gab es auch noch die Uni. Dann hatte ich auch noch die Familie, und eine bestimmte Ordnung. Dies und das hatte ich. Damals hatte ich definitiv große Probleme mit der Zeit.“ (Zeile 234-239)
Ali betont hier, zu dieser Zeit keinerlei finanzielle Probleme gehabt zu haben. Die zeitlich sehr angespannte Situation beeinträchtigte ihn jedoch in seinem Studium und führte letztendlich zum Abbruch der universitären Ausbildung. Im weiteren Verlauf des Segments kommt Ali wieder auf das Thema Deutschland zurück und erzählt, er sei mit drei recht jungen Freunden über Osteuropa nach Deutschland gereist. Seine Erzählart zeigt, dass diese Reise eine biographische Bedeutung für ihn hat: sie weckte in ihm den Wunsch, sein Leben komplett zu ändern. Ali beendet das Segment mit folgender Erzählkoda, die bereits das nächste Thema der Lebensgeschichte einleitet: Na ja, damals waren wir 20-21 Jahre alt oder so. Das war sehr attraktiv. Und dann bin ich auch mitgefahren und hierhergekommen. Einen Monat bin ich in Deutschland geblieben, und dann bin ich zurückgekehrt. (Zeile 266-269) Segment 10: Dann habe ich alles eingepackt und bin wieder nach Deutschland gekommen. Das zehnte Segment wird mit dem Rahmenschaltelement dann eröffnet, das eine chronologische Erzählbemühung des Erzählers aufzeigt. Nach einem einmonatigen Deutschlandaufenthalt kehrte Ali in die Türkei zurück und verarbeitete dort die vergangene Deutschlandreise. Er weist in seiner Erzählung auf die Attraktivität Deutschlands hin, die ihn in Betracht ziehen lässt, dort sein Leben zu etablieren. Aus diesem Anlass nahm er erneut Kontakt zu seinem Kindheitsfreund auf, den er in der Vorbereitung eines längerfristigen Deutschlandaufenthaltes um Unterstützung bat. An dieser Stelle beendet Ali das Hauptsegment und leitet ein Subthema ein, indem
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er die Hintergründe für die Realisierung einer zweiten Deutschlandreise erläutert. In diesem Teil der Erzählung spielt der Kindheitsfreund die zentrale Rolle: Da zu dieser Zeit eine heterosexuelle Heirat der einzige Weg zu einem legalen Aufenthalt war, machte er für Ali eine Frau ausfindig, die bereit war, mit diesem eine Ehe einzugehen. Ali nahm zuerst die Hilfe des Freundes an. Er artikulierte im Gespräch seine Bereitschaft, eine formelle Ehe zu schließen, um sich den aufenthaltsrechtlichen Vorschriften anzupassen: „Dann habe ich alles, was ich hatte, eingepackt und bin wieder nach Deutschland gekommen. Aber dieses Mal wollte ich heiraten und dann in Deutschland bleiben. Aber als wir zur Sache kamen, also zur Heirat, na ja, wir haben die erforderlichen Formalitäten erledigt. Wir sind, ähm, zum Konsulat gegangen. Die Unterlagen haben wir dort abgegeben, und die anderen Bescheinigungen sind dann aus der Türkei gekommen, sie wurden beglaubigt, damals war es so gewesen […] Die Formalitäten von der Frau waren hier sowieso erledigt. Dann sollten wir hin [zum Standesamt] gehen, einen Termin bekommen und dann unterschreiben.“ (Zeile 276284)
Hier beginnt ein neues Subsegment, das die Angst des Erzählers vor der Scheinehe zum Ausdruck bringt; Ali erzählt von einer älteren deutschen Frau und erwähnt dabei ihren vierzehnjährigen Sohn. Nach seiner Beschreibung fühlte sie sich dem Kindheitsfreund gegenüber aus unerwähnten Gründen schuldig und kam daher seiner Bitte nach, eine Heirat mit Ali einzugehen. Nach einer gegenseitigen Absprache reiste Ali mit der Absicht sich niederzulassen nach Deutschland ein. Vereinbart war eine zweijährige Ehe, durch welche das Erteilen einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis erreicht werden sollte; im Anschluss daran war eine Scheidung vorgesehen. Dank dieser Abmachung schien sich die Eheschließung problemlos realisieren zu lassen: So kam es zu einer Terminvereinbarung beim deutschen Standesamt, während der sich der Interviewpartner jedoch mit einem Mal bedroht fühlte; in diesem Moment empfand er die Heirat aus folgenden Gründen als risikobehaftet: „Als wir zu dieser Etappe kamen, erschien mir das äußert riskant, eine Frau zu heiraten. Also nicht im sexuellen Sinne. Erstens hatte ich mit der Frau keinen schriftlichen Vertrag. Ich musste zwei Jahre lang mit der Frau verheiratet sein. Nach diesen zwei Jahren hätte die Frau sich nicht von mir scheiden lassen wollen. Die Frau war etwas alt und hatte einen 13-14 jährigen Sohn und er durfte das nicht wissen, niemand durfte das wissen. Das sollte nur auf dem Papier existieren […] Das alles erschien mir etwas riskant, und das Verhalten der Frau hat mich dazu geführt, noch mal zu überlegen. Und an dieser Stelle habe ich darauf verzichtet.“ (Zeile 284-290)
Da er gewisse Umstände und Verhaltensweisen der Frau als bedenklich einstufte, verzichtete Ali auf die Heirat, blieb jedoch weiterhin in Deutschland. Er beschließt
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das Segment wieder mit einer Koda, die auf das Ende eines Lebensabschnittes verweist: Circa ein bis anderthalb Jahre bin ich in Deutschland geblieben damals, und danach bin ich zurückgekehrt, und das Deutschlandkapitel wurde dadurch geschlossen. (Zeile 290-292) Segment 11: Zum ersten Mal war ein Mann in meinem Leben. Nach der Schilderung der zweiten Deutschlandreise im vorigen Segment stockt Ali erneut in seiner Erzählung, was ihm diesmal selbst auffällt. Um diese ihm offensichtlich unangenehme Situation zu beenden, ergreift er die Initiative des Interviewers und stellt eine Frage, die helfen soll, seine Erinnerung zu stimulieren: Was sollte ich erzählen eigentlich, ich weiß nicht mehr, aber (Zeile 292-293). Um die biographische Erzählung aufrechtzuerhalten, fasst der Interviewer das vorangegangene Segment zusammen. Im Anschluss daran fordert er den Interviewpartner auf, das Thema Deutschland weiter auszuführen. Alis Aussage: Ja, natürlich, natürlich, das habe ich sehr gewollt, damals hierher zu kommen (Zeile 305) verweist auf einen vergangenen nicht realisierten Wunsch und auf den daraus resultierenden Schmerz. An dieser Stelle entsteht wieder eine Erzählpause, die etwa 5 Sekunden andauert. Der Interviewer stellt Ali eine ablenkende Frage, die zum einen auf den ersten einmonatigen Deutschlandaufenthalt und zum anderen auf seine anfänglichen homosexuellen Erfahrungen zurückgreift. Durch diese Intervention kann sich Ali erneut auf das Interview konzentrieren und erzählt weiter: „Interviewer: hast du dann in deinem einmonatigen Deutschlandurlaub Kontakt oder eine nähere Berührung mit Homosexuellen gehabt? Ali: Nein. (.) Aber beim zweiten Mal habe ich das gehabt“ (Zeile 306-308).
Nach dieser Interaktion mit dem Interviewer leitet der Erzähler das Hauptsegment ein. Als er zum zweiten Mal nach Deutschland kam, hatte er beabsichtigt, mit Hilfe der Scheinheirat legal in Deutschland zu leben. Obwohl zu erwarten gewesen wäre, dass der Verzicht auf die Heirat zu einer obligatorischen Rückkehr in die Heimat führen würde, hielt sich Ali noch über einen Zeitraum von ungefähr 18 Monaten in Deutschland auf. Ob er über ein anderweitiges Visum verfügte oder sich ohne Papiere aufhielt, wird an dieser Stelle des Interviews nicht thematisiert. Relevant scheint ihm vielmehr das Thema der homosexuellen Kontakte in Deutschland zu sein, so dass er auf die Frage eingeht, ob er in Deutschland gleichgeschlechtliche Kontakte gehabt habe: In dieser Zeit habe ich meine homosexuelle (..) Identität kennen gelernt [...] Zum ersten Mal war ein Mann in meinem Leben im sexuellen Sinne. Ein Mann, mit dem ich tatsächlich eine sexuelle Beziehung hatte. (Zeile 314317)
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Ali revidiert seine ambivalente Aussage selbst und versucht, auch seine homosexuellen Erfahrungen chronologisch darzustellen: Er hat in Deutschland erstmals eine längerfristige gleichgeschlechtliche Beziehung geführt, merkt jedoch erst im Laufe der Erzählung, dass er auch schon zuvor, in der Türkei, etliche Erfahrungen in diese Richtung gemacht hatte: „In der Türkei hatte ich bereits ein paar kleine Abenteuer gehabt. Mit den Nachbarskindern, mit dem einen oder dem anderen hatte ich schon was gehabt, das war schon passiert. Aber in der Tat habe ich als Erwachsener, mit 21 oder so, mit einem Mann wirklich eine Beziehung gehabt. Das war damals in Frankfurt.“ (Zeile 317-320)
Es fällt ihm schwer, die sexuellen Kontakte, die er als kleine Abenteuer mit Nachbarskindern bezeichnet, als Beziehung zu definieren. Ali erklärt hier mittelbar, was für ihn eine tatsächliche Beziehung ausmacht. Man kann annehmen, dass die sexuellen Kontakte zu Nachbarskindern und anderen Männern einmalig waren und sich nie auf eine kontinuierliche Partnerschaft ausweiteten. Des Weiteren scheint es, wie im Laufe des Interviews zum Ausdruck kommt, dass die homosexuellen Beziehungen in der Türkei nicht als echte Beziehungen akzeptiert werden. Die Intention der Erinnerung an die erste homosexuelle Beziehung wird in folgender Aussage deutlich: Zum ersten Mal war ein Mann in meinem Leben. Was die Dauer und Form der Beziehung angeht, konstatiert Ali, er sei von den 18 Monaten Aufenthalt insgesamt zehn Monate mit seinem Partner zusammen gewesen. Aufgrund dieser Aussage fragt der Interviewer nach dem aufenthaltsrechtlichen Status des Erzählers; nach dem damaligen Aufenthaltsrecht beschränkte sich ein legaler Aufenthalt ab dem Tag der Einreise auf lediglich drei Monate. Trotz des gescheiterten Heiratsversuches war Ali jedoch voller Hoffnung, in Deutschland ein Leben mit Papiere führen zu können. Als sich dies als unmöglich herausstellte, blieb ihm ab dem vierten Monat in Deutschland nur der illegalisierte Aufenthalt. In diesen Zeitraum fiel seine erste tatsächliche homosexuelle Beziehung, die er wie folgt schildert: „Wir haben die letzten neun, zehn Monate dieser 1,5 Jahre zusammen verbracht. Zusammen verbracht aber nicht in dem Sinne, dass wir in einer Wohnung gelebt haben, so war es nicht. Wegen seines Jobs hatte er Dienstreisen. Er verreiste oft, nach seiner Dienstreise zum Beispiel hatten [wir] eine Woche. Das war wegen seines Jobs so gewesen. Und beispielsweise verbrachten wir diese [freie] Woche nur zusammen, und wenn er wieder verreiste, dann kümmerte ich mich wieder um meine Sachen, ähm, und wenn er zurück war, dann konnten wir wieder zusammen sein.“ (Zeile 331-337)
Dieses Zitat beschreibt den Verlauf der Beziehung in einem Zeitraum von etwa zehn Monaten in einem in der Tendenz sachlichen und neutralen Ton. Es sind keine Wertungen oder Argumentationen auszumachen; der Interviewer stellt daher eine
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immanente Frage, die auf mögliche Wahrnehmungs und Deutungsmuster des Erzählers abzielt: Interviewer: Kannst du das so definieren, zum Beispiel: Wir waren ein Pärchen (Zeile 343). Obwohl diese Intervention des Interviewers den Erzählfluss unterbricht, gelingt es Ali, auf die Frage einzugehen und mit seiner Erzählung fortzufahren. Wenn er selbst während der zehn Monate auch nicht das Gefühl hatte, eine Partnerschaft zu führen, so sei ihm doch bewusst gewesen, dass sie der Bekannten – und Freundeskreis seines Partners als Paar betrachtete: „Ich konnte uns nicht als ein Pärchen definieren bzw. ich habe über so was nicht nachgedacht […] Aber viele Menschen haben das vielleicht so gesehen. Denn ich wurde mit seinem ganzen Freundeskreis bekannt gemacht. Ähm, er war eine ziemlich gut situierte Person. Ich habe mit ihm unglaubliche Tage und unglaubliche Nächte erlebt.“ (Zeile 344-350)
Die Aussage begründet, warum beide Partner als Liebespaar wahrgenommen wurden und leitet zugleich Alis Erleben seiner als Partner zu bezeichnenden Bezugsperson ein. So beschreibt er die Beziehung wertend und unterscheidet sie von einem Paarverhältnis: „Also dank ihm habe ich Dinge gesehen, die ich in meinem ganzen Leben nie gesehen hatte. Ich bin auf Sex-Partys gegangen, auf die ich in meinem ganzen Leben nie gegangen war. Ich bin auf die Drogen-Partys gegangen. Auf die Schwimmbad-Partys bin ich gegangen. Auf die sehr luxuriösen Partys gegangen […] Deswegen haben mich alle zum Beispiel als seinen Lover gekannt. Damals war ich 21-22 Jahre alt und er 39. Also es gab einen sehr großen […] Altersunterschied. Ich habe aber niemals das Gefühl gehabt, dass wir nun ein sehr schönes Pärchen geworden sind. Denn das war meine erste Beziehung.“ (Zeile 349-357)
Mit diesen Aussagen veranschaulicht Ali, welche Begeisterung seine damalige Beziehung bei ihm ausgelöst hat; er schildert, dass ihn sein damaliger Partner bewusst in die deutsche schwule Szene einführte. Trotz der geschilderten gemeinsamen Erlebnisse konnte er dieses Zusammenleben jedoch nicht in eine partnerschaftliche Kategorie einordnen, da er und sein Partner nicht zusammen wohnten. Das gemeinschaftliche Wohnen scheint für Ali das zentrale Kriterium einer Partnerschaft zu sein. Zudem dient ihm der genannte Altersunterschied als weiterer Beleg dafür, dass er die Beziehung nicht als Partnerschaft empfunden habe: Damals war ich 2122 Jahre alt und er 39. Also es gab einen sehr großen Unterschied, Altersunterschied. (Zeile 355-356) Im Gesamtkontext des elften Segments argumentiert Ali, er habe die Beziehung aufgrund des großen Altersunterschiedes, des getrennten Wohnens und der für ihn unzureichend gemeinsam verbrachten Zeit nicht als Paarverhältnis erlebt. Dennoch habe er mit seinem Partner eine Beziehung geführt. Er gibt für diese ambivalente Behauptung weitere Belege an: Ich habe aber niemals das Gefühl gehabt, dass wir nun ein sehr schönes Pärchen geworden sind. Denn das
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war meine erste Beziehung. (Zeile 357-358) Auf diese Aussage hin stellt der Interviewer eine Verständnisfrage, die eine Definition der Beziehung seitens Ali erwirken soll: Interviewer: also du hast dich ihm damals nicht so ganz zugehörig gefühlt. (Zeile 358) Die Frage nach dem Zugehörigkeitsgefühl zielt darauf ab, die ambivalenten Aussagen des Interviewpartners bezüglich der Kategorien Beziehung und Partnerschaft zu klären. Die Antwort auf diese Frage: Ich habe mich bis heute niemandem ganz zugehörig gefühlt. Ich kann auch jetzt nicht sagen, dass ich mich jemandem zugehörig fühle (Zeile 359-360) bestätigt die Behauptung Alis, er habe sich weder zu der Zeit seiner ersten Beziehung noch in der Gegenwart einem Partner zugehörig gefühlt. So wird deutlich, dass sich Ali tatsächlich nicht mit der Vorstellung eines Paarverhältnisses identifizieren kann und konnte. Am Ende des Segments betont er dennoch, die erste Beziehung sei einer der schönsten Abschnitte seines Lebens gewesen. Segment 12: Wehrdienst: Ich habe (dort) die größte Liebe meines Lebens erlebt. Dieses Segment wird mit einer neuen externen Frage des Interviewers eingeleitet, die darauf abzielt, die biographische Narration aufrechtzuerhalten und Ali bei seiner Erzählung zu unterstützen. Der Forscher fragt, ob Ali nach seinem 18 monatigen Deutschlandaufenthalt in Türkei zurückgekehrt sei. Ali beginnt auf diese Frage hin seine Geschichte von der Zeit des Wehrdienstes, die ein neues Thema konstituiert: Nachdem ich zurückgekehrt bin, habe ich sofort meinen Wehrdienst begonnen. Also nach circa 23 Monaten war ich schon Soldat. Dann hat der Wehrdienst 1,5 Jahre lang gedauert. (Zeile 369-370) Nach der Rückkehr in die Türkei lebte er für die Zeit von zwei bis drei Monaten ohne eine bestimmte Beschäftigung, bis er schließlich zum Wehrdienst eingezogen wurde. Es ist anzunehmen, dass sich Ali während seines illegalisierten Deutschlandaufenthaltes keine Perspektive für eine sichere Bleibemöglichkeit bot und er sich daher gezwungen fühlte, zurückzukehren und die baldige Einberufung in Kauf zu nehmen. Das für den türkischen Militärdienst reguläre Alter hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits überschritten. Während der eineinhalbjährigen Dauer des Wehrdienstes hielt er den Kontakt mit seinem in Deutschland lebenden Partner aufrecht: Im Laufe dieser anderthalb jährigen Wehrdienstzeit bin ich mit dieser Beziehung, die ich erwähnt habe, per Brief im Kontakt geblieben. Weil es in dieser Zeit weder Handy noch Internet noch irgendwas gab, hatten wir per Brief Kontakt. (Zeile 370-373) Interessant ist hier, dass Ali das Thema der Beziehung weiter ausführen möchte; er greift es in diesem Segment erneut auf und beschwert sich dabei über unzureichende Kommunikationsmöglichkeiten. Es bleibt unklar, ob die Beziehung noch während des Wehrdienstes oder kurz danach beendet wurde. Die Gründe für das Aus macht Ali allerdings deutlich:
198 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE „Aber ich bin bei solchen Sachen zu faul, also ich kann keinen richtigen Brief schreiben. Auch wenn ich [den Brief] zu schreiben schaffe, schaffe ich aber nicht [ihn] zu schicken, ich hatte solche Probleme, habe sie immer noch. Ähm, deswegen ist [der Kontakt] nach einiger Zeit abgebrochen, meinetwegen.“ (Zeile 373-376)
Ali übernimmt die Verantwortung für den Kontaktabbruch und bezieht sich dabei indirekt auf das vorangegangene Segment, in dem er erklärte, sich niemandem zugehörig zu fühlen und sich nie als Partner innerhalb einer Paarbeziehung wahrgenommen zu haben. Tatsächlich empfand Ali wohl keine emotionale Bindung zu seinem Partner, so dass er nach einiger Zeit beschlossen hat, den Briefwechsel zu beenden. Die folgende Aussage kann für diese These als Beleg dienen: Eh ich, der Pascha, war zu bequem, deshalb habe ich mir nie vorgestellt, dass ich ein Mann bin, der seine erste Beziehung ein Leben lang führt. Ich habe also in meinem Kopf nie so einen Gedanken gehabt. (Zeile 376-378) Außerdem ist zu vermuten, dass Ali die Beziehung aufgrund seiner Perspektivlosigkeit hinsichtlich eines langfristigen Deutschlandaufenthaltes sinnlos erschien. Da eine Scheinheirat nicht mehr in Frage kam und das LpartG für gleichgeschlechtliche Lebensweisen zu dieser Zeit noch nicht existierte, war es für ihn pragmatisch gesehen das Naheliegendste, die Fernbeziehung zu beenden. Dieses Thema des Segmentes hat den Charakter eines Subsegmentes: das Thema Militärdienst bildet im zwölften Segment das Hauptthema, während alle anderen angesprochenen Themen, die in die Zeit des Militärdienstes fallen, als Subsegmente zu bezeichnen sind. Als Ali das Thema Beziehung/Briefkontakt während des Wehrdienstes beendet hat, legt er eine Redepause von 28 Sekunden ein. Auch das nächste Subsegment beginnt mit einer Nachfrage seitens des Interviewers. Die Frage, ob man in der Kaserne seine Homosexualität bemerkt habe oder er bestimmte Soldaten als sexuell anziehend wahrnahm, beeinflussen den Erzählfluss positiv und ermuntern Ali erfolgreich, seine Geschichte fortzuführen. In der folgenden Erzählung geht er auf seine Situation in der Kaserne als versteckter Schwuler ein; die Strategien des Auslebens der eigenen verheimlichten Homosexualität in der Kaserne sind Schwerpunkte dieses Subsegmentes: „Na klar, hat es sie gegeben […] zum Beispiel, ich mag es sehr, die Menschen, die ich mag, anzufassen. Und ich, als langjähriger Homosexueller, kenne die Wege sehr gut, wie ich das harmlos zeigen kann […] Ich habe sehr gut gelernt, wie ich durch die Späße berühren, sogar küssen kann, als wäre es ganz selbstverständlich.“ (Zeile 381-386)
Anhand der erzählerischen Darstellung seiner Selbstbehauptung beweist Ali, dass es einem Schwulen selbst in einer Kaserne durchaus möglich ist, die eigene Homosexualität durch homoerotischen Humor auszuleben. Es ist von einer ambivalenten Situation auszugehen, in der sich Ali über die eigene Homosexualität lustig machen
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musste, um sich anderen Soldaten physisch nähern zu können. Durch eine zwangsläufige Selbsteingliederung in homophobe Verhaltensstrukturen gelang es ihm, seine Sexualität vorübergehend zu befriedigen. Im Verlauf dieses Subsegmentes wird Ali ausführlicher und erklärt genauer, wie es ihm in der Armee gelang, seine Homosexualität zu verbergen: Jedoch gab es wiederum keinen Typen, der mir gefiel, denn ich stand nicht auf junge Typen. (Zeile 387) Da die größtenteils jüngeren Männer auf Ali nicht sexuell anziehend wirkten, kam es seinerseits nur selten zu homoerotischen Witzen; die Tarnung der eigenen Homosexualität fiel ihm so leichter. Da er in der Kaserne als Schreibkraft und Sprachlehrer tätig war, musste er sich nicht an den Kriegsübungen beteiligen, was ebenfalls die Geheimhaltung seiner sexuellen Orientierung begünstigte: so konnte er sich von anderen Soldaten fernhalten, ohne in Erklärungsnot zu geraten. Ali ist zu dieser Zeit 24 Jahre alt und lag damit vier Jahre über dem Durchschnittsalter von 20 Jahren.13 Sein Alter und seine besondere Tätigkeit verhalfen ihm zu außergewöhnlichem Respekt seitens seiner Umgebung. Schließlich nannte er als letzten begünstigenden Faktor einen Umstand, der es nahezu unmöglich machte, in der Kaserne an Sex zu denken; nach seinem Bericht wurde allen Soldaten ein Medikament verabreicht, das sexuelles Verlangen schwächen und Erektionen verhindern sollte. Nach dieser relativ ausführlichen Argumentationskette beendet Ali das Subsegment der Versteckstrategien und eröffnet mit einem jedoch ein neues Subsegment. Trotz der oben geschilderten Situation verliebte sich Ali in einen Soldaten und lebte für sein Empfinden diese Liebe in gewisser Weise aus: Jedoch habe ich meine erste große Liebe in der Armee erlebt (Zeile 413). Im Folgenden greift er auf seine ehemalige Beziehung in Deutschland zurück und verknüpft diese erzählerisch mit der neuen Liebe. Er stellt nun fest, dass er sich damals in Deutschland tatsächlich verliebt hatte: „Aber ich denke, dass ich mich in Deutschland wirklich in diesen Menschen, mit dem ich gelebt habe, verliebt habe. Denn ich bin schließlich zum ersten Mal [mit jemandem] zusammen gewesen. Das war ein Mann, und er hatte mich sehr beeindruckt. Das war nicht möglich, dass man sich nicht beeindrucken lässt. Weil er mir ein sehr reiches und anderes Leben anbot.“ (Zeile 415-418)
Ali führt hier Argumente für die Beziehung zu seinem deutschen Partner an und unterscheidet zugleich Liebe von Verliebtsein. Verliebt zu sein scheint für ihn gleichbedeutend mit dem Gefühl, von einem anderen Menschen beeindruckt zu sein. Das reiche und für ihn gänzlich neue Leben und die Möglichkeit, erstmalig mit einem fremden Mann zusammen zu sein, waren damals Beweggründe, die Be13 Jeder männliche türkische Staatsbürger ist ab dem 20. Lebensjahr verpflichtet, seinem Militärdienst nachzukommen. Durch sein Studium und seinen Auslandsaufenthalt konnte Ali seinen Antritt zum Militärdienst um vier Jahre verzögern.
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ziehung einzugehen. Erst nach dieser beeindruckenden Beziehung kann Ali zum ersten Mal einen Mann lieben: Aber meine erste Liebe war (.) in der Armee gewesen (Zeile 418-419). Ali beschreibt seine erste Liebe sehr ausführlich. Es gelang ihm eine enge Freundschaft zu dem Mann aufzubauen, der ihn interessierte; diese Freundschaft bezeichnet er als Beziehung. Trotz der schwierigen Situation, in der er seine Liebe verheimlichen musste, identifizierte er sich selbst als Liebespartner. Das folgende Zitat beschreibt den Beziehungsverlauf in der Kaserne: „Wir waren circa 15 Monate zusammen und in diesen 15 Monaten waren wir zwei Monate sauer aufeinander. So was machen die Verliebten untereinander […] Also zicken, zieren, so ist das. Na ja, wir waren zwei Monate böse, dann drei Monate wieder versöhnt […] und auf diese Weise haben wir eine Beziehung geführt. Er wusste aber niemals, dass ich gay war. Aber wir waren sehr gute Freunde. Und deswegen waren wir immer zusammen, und ich war in ihn verliebt und er wusste das nicht […] Er mochte mich als einen guten Kumpel. Ich mochte ihn mehr als einen Kumpel […] Deswegen waren wir oft beisammen, immer zusammen. Wir waren aus der gleichen Stadt […] Dann war der Wehrdienst zu Ende. Ähm, wir sind zurück nach […] gekehrt. Mein Problem war damals, wie ich die Beziehung mit meinem Freund weiterführe. Denn ich war immer noch verliebt.“ (Zeile 419-430)
Ali erlebte den Verlauf der Freundschaft sehr intensiv; die Angst vor Ablehnung ließ ihn schweigen. Nachdem beide Männer den Militärdienst absolviert hatten, gingen sie ihrer Wege, was Ali zunächst schwer fiel. Seine Liebe hielt an, und er versuchte, den Kontakt weiter aufrechtzuhalten. Da sie beide aus derselben Stadt stammen, trafen sich die Freunde gelegentlich, jedoch wurde der Kontakt allmählich brüchig. Ali hat nun Zeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und erlebte sein inneres Coming-out: „Dann mussten wieder ein paar Jahre vergehen, bis wir uns wieder begegneten. Es gab eine Zeit, die einfach so verging. Natürlich hatte ich innerhalb dieser Zeit einige Affären. Mein Sexualleben hatte sich total geändert […] größten Teil der Probleme meiner Person hatte ich schon überwunden.“ (Zeile 437-440)
Es ist anzunehmen, dass sich Alis flüchtige sexuelle Erfahrungen, die er als kleine Affären bezeichnet, nach dem inneren Coming-out ereigneten. Den Prozess der Selbstakzeptanz beschreibt er nicht, sondern berichtet lediglich, persönliche Probleme, die er nicht genau benennt, überwunden zu haben. Diese Aussage verweist auf einen als problematisch erlebten Prozess der Selbstidentifikation mit der eigenen sexuellen Orientierung. Nach dem inneren Coming-out verbringt Ali ungefähr 18 Jahre in der Türkei; auf diesen Zeitraum geht er an dieser Stelle des Interviews nicht ein. Die nächste Information setzt folgendermaßen ein: Nun weiß mein Freund, der meine erste Liebe war, dass ich hier [in Berlin] mit einem Mann ver-
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heiratet bin, und er kennt diesen Mann. In der Türkei habe ich sie miteinander bekannt gemacht. (Zeile 440-442) Das Wort nun bezieht sich auf den Zeitpunkt des Interviews. Die vergangenen 18 Jahre werden im Interview ausgeblendet. Dieses Coming-out findet jedoch keine explizite Ausführung. Im Verlauf des Interviews erzählt Ali, wie es zu dieser Offenbarung kommt. Es folgt eine argumentative Hintergrundkonstruktion des Coming-out: „Denn in der letzten Zeit, bevor ich hierher gekommen war, hatten wir uns wieder öfter getroffen. Unsere Wohnungen waren sehr nah beieinander, wie das Schicksal es wollte. Und er hat alles erfahren, ich habe alles erzählt und auch, dass er meine erste Liebe war. Ich habe ihm alles erzählt.“ (Zeile 442-445)
Aus dieser Hintergrundkonstruktion wird ersichtlich, dass Ali seinen Freund nun nach längerer Zeit wieder häufiger sieht. Durch die Nähe ihrer Wohnorte können sie den Kontakt intensivieren, so dass sich mit der Zeit eine freundschaftliche Basis bildet, die Ali zu seiner Offenbarung anregt. Bemerkenswert ist an diesem Subsegment, dass Ali hier zum ersten Mal von seinem gegenwärtigen Partner spricht; er ist nicht das Hauptthema dieses Subsegmentes, wird jedoch als Beleg für das Comingout gegenüber dem früheren Freund angeführt. In den folgenden Sequenzen des Interviews geht er dann auf seinen jetzigen Lebenspartner ein. Die Reaktion des ersten Liebespartners auf Alis Coming-out wird mittelbar ausgedrückt: Die Aussagen, sie seien noch gute Freunde und der erste Liebespartner kenne und schätze seinen gegenwärtigen Lebenspartner, fungieren als Belege für dessen positive Reaktion. Nach dem Erzählen von seiner ersten Liebe in der Armee und den diesbezüglichen Offenbarungen kommt Ali in einem abschließenden Satz auf den Militärdienst, das Thema des Hauptsegmentes, zurück: Es gab kein Problem in der Armee, das war gut. Das einzige Problem war, dass man Soldat sein musste. Ansonsten habe ich kein Problem gehabt, bezüglich des Sexes, der Homosexualität. (Zeile 447449) Auffällig ist hier, dass die zuvor genannten Probleme des ewigen Versteckens und der Angst vor Diskriminierung nicht artikuliert werden. Im nächsten Analyseschritt wird näher auf diesen Umstand eingegangen. Das Segment endet mit einer positiven Bilanzierung: Wie gesagt, ich habe [dort] die größte Liebe meines Lebens erlebt (Zeile 459). Segment 13: Deutschlandaufenthalt – Partner Nachdem der Interviewpartner das Ende des vorangegangen Segmentes mit der Bilanzierung der Wehrdienstzeit signalisiert hatte, griff der Interviewer ein neues The-
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ma auf, das vom gegenwärtigen Deutschlandaufenthalt handelt. Die Frage, wie die Idee, nach Deutschland zu kommen, entstanden ist, beantwortet Ali, ohne zu überlegen. Die Erzählung beginnt zunächst mit einer abwehrenden Antwort: Es gab keine Idee, hierher zu kommen. Ich habe niemanden geheiratet, um hier, nach Deutschland zu kommen. Ähm, ich hatte keine Absicht, also keine Überlegungen mehr, nach Deutschland zu kommen. (Zeile 461-463) Nach dieser defensiven bzw. rechtfertigenden Positionierung führt er eine Hintergrundkonstruktion seiner Deutschlandreise und des Aufenthaltes an. Die Hintergrundkonstruktion beginnt mit der Geschichte einer Auseinandersetzung zwischen Ali und einem Freund, der Hakan heißt. Bevor Ali nach Deutschland kam, wohnte er in der Türkei mit Hakan in einer Wohngemeinschaft zusammen. Während dieser Zeit der Wohngemeinschaft hatten beide Freunde vor, nach Deutschland zu kommen. Da Hakan früher nach Deutschland kommen konnte, beauftragte Ali ihn, ihn nach seiner Ankunft nach Deutschland zu holen: „Wir haben uns ziemlich bemüht, ein Visum zu bekommen. Aber egal, am Ende hat das geklappt, er ist hierhergekommen. Damals hatte auch ich die Absicht, hierher zu kommen. Wir hatten mit Hakan ein Abkommen unter uns, also wenn ich nach zwei Jahren immer noch da bin, sagte ich zu Hakan, also wenn du mich irgendwie immer noch nicht hierher geholt hast, dann mach ich alles Mögliche, um ein Visum zu bekommen, und dann komme ich hierher und verprügele ich dich ganz schön. Also, so was hatte ich ihm gesagt.“ (Zeile 465-471)
Jedoch wurde dieser Plan der beiden Freunde nicht umgesetzt, so dass Ali darauf verzichten musste, nach Deutschland zu kommen. An dieser Stelle des Interviews erklärt er, aus welchem Grund er auf Deutschland verzichtete: „Aber nachdem Hakan hierhergekommen war, hat sich mein Leben ziemlich geändert, deswegen hatte ich gar keine Gedanken mehr im Kopf an Ausland [...] Ich hatte kein Ziel mehr, welches ich mit Fleiß und Eifer immer verfolgt oder angestrebt habe, wie zum Beispiel ins Ausland zu gehen. Ich hatte solche Überlegungen oder Absichten nicht mehr.“ (Zeile 471474)
Mit dieser Hintergrundkonstruktionserzählung versucht er möglicherweise zu beweisen, dass er nicht wegen eines angestrebten Deutschlandaufenthaltes eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen ist, da er ohnehin darauf verzichtet hatte. Aufgrund der starken Veränderung seines Lebens sah er vermutlich keine Gründe mehr, ins Ausland zu gehen. Die prägenden Lebensänderungen kommen hier nicht zum Ausdruck. Es ist anzunehmen, dass in diesem Zeitraum im Leben Alis eine grundlegende Wandlung stattgefunden hat, so dass er bereit war, seine Zukunftsplanung grundsätzlich zu verändern. Durch diese vermutliche Wandlung hat er wohl die Entscheidung getroffen, in der Türkei weiterzuleben und mit den dortigen
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sozialen Umständen zurechtzukommen. Die Hintergrundkonstruktionserzählung beendet er und befasst sich dann mit einem neuen Thema, in dem es um den Zusammenhang zwischen der neuen Deutschlandreise und dem Kennenlernen des gegenwärtigen Partners geht. Dass er aber irgendwie seinen jetzigen Partner erstaunlicherweise kennen gelernt hat und beide Partner sich ineinander verliebt hatten, all das ermöglichte ihm, wieder nach Deutschland zu kommen. Für diesen Lebensabschnitt kann man von einer Wandlung sprechen, die die gesamte Biographie des Erzählers grundsätzlich verändern sollte. Das heißt, dass Ali seine Heimat verlassen und sich auf die neuen Lebensumständen einstellen musste. Migrationsbedingte Situationen wie das Erlernen einer fremden Sprache, das Sich-einleben in der Ankunftsgesellschaft und Arbeitslosigkeit sind einige anfängliche Hürden, mit denen er sich auseinandersetzen musste: Aber erstaunlicherweise habe ich meinen jetzigen Mann kennen gelernt und mich verliebt. Auch er hat sich in mich verliebt. Ähm, und meine Bedingungen waren günstig, hierher zu kommen. (Zeile 474-476) Mit dieser Aussage kündigt Ali ein neues Subsegment an. Die ungünstigen Bedingungen für das Zusammenleben eines schwulen Paares in der Türkei bedeuten für ihn auf der einen Seite, dass beide dort nicht als Paar anerkannt werden, so dass diese Situation prekäre soziale und finanzielle Folgen hätte. Eine mögliche Arbeitslosigkeit des deutschen Partners, Angst vor Stigma, Diskriminierung, Ausgrenzung in der Türkei sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Auf der anderen Seite gelten als günstige Bedingungen, dass er ohnehin in dem Herkunftland einen ungeordneten Lebens- und Arbeitsrhythmus hatte und es nichts gab, was ihn mit dem Herkunftsort verband. Somit war es aussichtslos, mit seinem Partner in der Türkei zu leben: „Das war viel schlauer, dass ich hierher komme, anstatt dass er in die Türkei kommt […] Auch wenn ich fast nur zwei Worte kannte, konnte ich Deutsch. Zum Zweiten würde Deutschland unsere Ehe anerkennen, wenn wir uns verheiraten würden. Und weil Deutschland mir die Rechte, die aus der Heirat entstanden sind, gibt, war es einfach schlauer, dass ich hierher komme. Wenn er dorthin gekommen wäre, hätten wir keine Chance gehabt, beispielsweise zu heiraten. Auch wenn wir geheiratet hätten, hätte das keinen Sinn gemacht, denn sie [die Türkei] erkennen sie [die Homo-Ehe] nicht an. Also wenngleich wir nun auch dorthin gehen würden, würde die Türkei uns nicht als Ehepartner anerkennen. Deswegen haben wir uns zusammengesetzt und das alles überlegt und entschlossen. Das Beste wäre, dass ich hierher komme.“ (Zeile 480-489)
In dieser Aussage geht er außerdem auf das Thema der Anerkennung der Lebenspartnerschaft in Deutschland ein. Aufgrund der verbesserten rechtlichen Lage der Homosexuellen in Deutschland, wo die eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft anerkannt wird, konnte er sein Leben dort weiterführen. Deutschlands LpartG bietet ihm neue Rechte, die auch seiner sozialen und finanziellen Absiche-
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rung förderlich sind. Nachdem er die gelungenen Visumformalitäten beschrieben hat, beendet er das 13. Segment mit der Koda: wir haben uns angemeldet, das Visum bekommen, und wir sind hierher gekommen. (Zeile 489-490) Segment 14: Partnerschaft: Meine Türen sind immer allen offen. Egal, wer du bist. Aufgrund der wiederholten Erzählstockung fragt der Interviewer, wie Ali seinen Partner kennen gelernt hat bzw. wie die Kennenlernphase verlaufen ist. Kennen gelernt hat er seinen Partner durch das Internet. Nach dieser Angabe führt er eine neue Hintergrundkonstruktion an, um zu veranschaulichen, zu welchem Zweck er das Internet genutzt hat. Ali versteht sich als Mitglied einer speziellen schwulen Szene, nämlich der Bärenszene.14 Aufgrund der heteronormativen Strukturen in der Gesellschaft nehmen viele der in der Türkei lebenden Bärentypen Kontakte zu den anderen Bärentypen per Internet auf. Somit können sie die Anonymität gewährleisten und neue Menschen sicherer kennen lernen. Die Beweggründe für die Kontaktaufnahme per Internet beschreibt Ali mit folgender argumentativen Aussage: „Ich bin nicht der Typ, der sexuell auf die jungen Typen steht. Deshalb, du weißt, dass es im Internet, ähm, Gays gibt, die wir als Bären bezeichnen, da gibt es die Homepage der Bären. Ich interessiere mich für die Homepage der Bären. Was heißt interessieren, das ist falsch, also wenn ich mir eine Gay-Homepage, also Homepage der Bären, angucken will. Es gab drei, vier Homepages von den Bären, die ich kannte. Am Anfang war ich nur jemand, der sie sich anguckte. Ich war so ein Typ, der sich die Fotos anschaute und las, was sie so schrieben. Dann hat sich die Idee ergeben, dass auch ich zum Beispiel meine Fotos veröffentliche. Zuerst habe ich ein anonymes Foto reingestellt, okay, mein Gesicht war zu sehen, aber es war nicht so erkennbar, wer ich war und so. Aber nach einiger Zeit ist auch das [die Phase] vergangen. Ähm, dann habe ich in einer dieser Homepages drei, vier Face-Fotos von mir, wo ich ganz deutlich erkennbar bin, veröffentlicht. Da wurde ich sehr oft angesprochen, denn ich passte den Bärentypen ganz gut. Also, ich bin sehr behaart, gut gebaut oder so. Du weißt ja, dass die Bären meistens auf solche Typen stehen.“ (Zeile 500-512)
Der Zugang zur Bärenszene per Internet eröffnete ihm die Chancen, mehrere Bären aus verschiedenen Ländern zu erreichen. Durch die vermehrte Vernetzung per Internet und durch die anderen Cyberkontakte15 fühlt er sich in seiner Bärenidentität bestärkt bzw. darin bestätigt, dass er zum einen ein ansprechender Typ ist, zum anderen von anderen ausländischen Bärentypen als türkischer Bärentyp anerkannt ist. Nach dieser Hintergrundkonstruktionserzählung kommt er auf das Kennenlernen 14 Zu der Bärenszene gehören die bärtigen, behaarten und korpulenten Männer, die andere bärtige, behaarte und korpulente Männer bevorzugen. 15 Hiermit gemeint sind die Kontakte, die er per Internet hergestellt hat.
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seines deutschen Partners zurück: Und wie ich gesagt habe, war mein Partner einer von diesen Typen. Also mein jetziger Partner. Aber ehrlich gesagt, ich habe niemanden mit einer großen Begeisterung geschrieben. (Zeile 528-529) Hiermit berichtet er, wodurch er seinen Partner, der sich auch als Bär bezeichnet, kennen gelernt hat. Interessant ist, dass Ali versucht, sich in dem Sinne zu rechtfertigen, dass er nicht mit großer Begeisterung an seinen Partner geschrieben hat. Die Begründung findet sich in seinen vorherigen und auch folgenden Aussagen. Zum einen bewertet er den virtuellen Kommunikationsraum Internet relativ negativ, da die Kontakte aufgrund der Virtualität nicht dem realen Leben entsprechen könnten. Zum anderen bietet das Internet eine relativ große Vielfalt, in der verschiedene Menschen aus unterschiedlichsten Interessen Kontakte herstellen. Er erklärt dies so: Während einer auf der Suche nach einer Liebesbeziehung ist, könnte ein anderer auf der Suche nach einer sexuellen Beziehung sein. Durch diese großen virtuellen Verschiedenheiten der Cyberkontaktpersonen hat er kein Vertrauen in das Internet. Da die Menschen im Internet die Möglichkeit hätten, sich gegenseitig zu belügen, stünde das dem Beginn einer Liebesbeziehung im Wege: Weil ich jetzt weiß, dass das Internet wirklich einen großen virtuellen Charakter hat, deswegen ist dort die Möglichkeit hoch, dass etwas Lüge ist, was [im Netz] versprochen wird. (Zeile 530532) Durch diese Aussage belegt er seine Bedenken gegen virtuelle Kontakte. In den darauf folgenden Aussagen stellt er fest, dass dieses Misstrauen gegen das Internet einen transstaatlichen Charakter hat: Das alles lernt man, indem man sich [im Netz mit Anderen] schreibt. Ob das in der Türkei ist oder auf diesen Internetseiten mit anderen bestimmten Menschen aus der ganzen Welt, lernt man bestimmte Sachen. (Zeile 533-535) Die Erzählart Alis hat einen stark argumentativen und zugleich beschreibenden Charakter. Während er eine Feststellung trifft, versucht er diese durch seine Erfahrungen zu untermauern und aus verschiedenen Ereignissen seiner Biographie kausale Zusammenhänge herzustellen. So kommt er auf das Thema der Partnerschaft bzw. das Kennenlernen des Partners zurück. Seinen Partner lernt er, wie oben aufgeführt, per Internet kennen. Interessant ist, dass er nicht auf den virtuellen Prozess der Kontaktaufnahme mit seinem Partner eingeht, sondern zu erzählen beginnt, wie sein Partner ihn angesprochen hat. Der Partner aus Deutschland kommt in die Türkei, um ihn einerseits zu besuchen, andererseits aber auch, um andere sexuelle Kontakte in der Türkei zu haben. Der Anfrage des künftigen deutschen Partners kommt er ohne weiteres nach, was ein Indiz dafür wäre, dass sie einen relativ engen virtuellen Kontakt miteinander hatten. An dieser Stelle führt er eine weitere Hintergrundkonstruktion an, in die die Bejahung der Anfrage seitens des Partners eingelagert wird. Zum einen bezeichnet er sich als offenen Menschen, der gerne Gäste zu Hause empfängt:
206 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE „Meine Türen sind für ihn offen, er war immer willkommen, weil ich sowieso allein lebte. Ich hatte damit kein Problem. Zudem war meine Wohnung in der Türkei fast wie ein Tempel. Man konnte nicht zählen, wer zu mir kam und ging. Deswegen habe ich ihm damals gesagt, als er in die Türkei kommen wollte, dass er immer zu mir kommen kann, wann er möchte, das war überhaupt kein Problem. Ich könnte ihn vielleicht nicht so empfangen, wie er es sich vorstellt […] Ich habe ihm meine Wohnung zur Verfügung gestellt. Er konnte sie so benutzen, wie er seine Wohnung benutzt. Ich würde ihm meine Schlüssel geben, wir müssen uns nicht unbedingt gefallen, und wir müssen auch nicht unbedingt zusammen schlafen.“ (Zeile 539547)
So drückt er seine eigene Offenheit dadurch aus, dass seine Wohnung jedem Menschen zugänglich ist. Mit dieser Aussage betont er, dass es ihm in erster Linie nicht um eine sexuelle, sondern um eine menschliche Begegnung geht. Das heißt, dass er alle Möglichkeiten offen lässt und auf seinen Gast wartet. Dadurch kommt zusätzlich seine Gastfreundlichkeit zum Ausdruck, mit der er sich auf den mystischen Philosophen Mevlana bezieht: „Komm, bleib bei mir. Es ist auch OK, auch wenn ich nicht wissen darf, wie du heißt. Komm. Das ist doch gar kein Problem. Komm. Das reicht nur, wenn du das brauchst, das ist das. Komm. Meine Türen sind immer allen offen. Egal, wer du bist, du kannst trotzdem kommen. So wie Mevlana.“ (Zeile 556-560)
Durch diese Aussagen zeigt er seine Bereitschaft, immer auf Menschen zuzugehen, so wie er seinem Partner angeboten hatte, dass er in die Türkei zu Besuch kommen konnte, auch wenn sich am Ende keine Beziehung hätte ergeben können. Aufgrund dieser bedingungslosen Aufnahme des Partners stellt sich während des Interviews die Frage, inwieweit Ali seinem Partner, den er zu dieser Zeit noch nicht im realen Leben kennen gelernt hatte, vertrauen konnte. Der Aspekt des fehlenden Vertrauens in die Internetkontakte ist in den vorangegangenen Aussagen ins Gespräch gebracht worden. Die Antwort auf diese Frage folgt in einer Argumentationskette, die auf der einen Seite einen individuellen, auf der anderen Seite einen sozialen Strang hat: Dank seiner Lebensphilosophie fühlt er sich sicher, in den zwischenmenschlichen Beziehungen offen zu sein und nicht unbedingt über Vertrauen nachdenken zu müssen. Durch die verschiedenen sozialen Kontakte zu seinen Freund_innen in der Vergangenheit konnte er eine gute Menschenkenntnis erwerben, was sein Selbstvertrauen stärkte. Zu den sozial bedingten Argumenten seiner bedingungslosen Annahme gehören die Faktoren, die ihn vor möglichen Gefahren durch fremde Menschen verstärkt schützten, während er aus einer virtuellen Bekanntschaft in eine reale Beziehung trat. Weil der Partner aus einem fremden Land kommt, positioniert Ali ihn als Auswärtsspieler. Ali befindet sich demgegenüber im Heimspiel. Daher kann der deutsche Partner nicht mitbestimmen, wie nach dem ersten Treffen gehandelt wer-
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den soll. Hier übt Ali eine Macht aus, die sich aus seiner Position als Gastgeber ergibt. Aufgrund dieser Macht konnte er sich nicht vorstellen, dass der deutsche Partner auch eine Gefahr hätte sein können: „Als er mir sagte, dass er zu mir kommen möchte, habe ich auf keine Weise gezögert, ob ich vertrauen soll […] darüber habe ich mir keinen Kopf gemacht. Wahrscheinlich habe ich ihm ‚komm bitte schön‘ gesagt. Also da ist ein Bett. Es ist ganz gleich, ob wir zusammen schlafen, oder du alleine schläfst. Ich habe keine Bedingung. Also, es gibt keine Garantie, dass wir Sex haben werden. Wir müssen nicht unbedingt zusammen sein, wenn du hierher kommst. Denn ich bin offen. Zudem kann er mich sowieso nicht zwingen, mit ihm Sex zu machen, wenn ich darauf keine Lust hätte. Außerdem ist er hier im Auswärtsspiel, er ist aus einem anderen Land gekommen. Die Macht ist in meiner Hand. Deswegen habe ich mir […] keine Gedanken gemacht.“ (Zeile 571-579)
Nach dieser Erzählung über den Kennenlernprozess stellte sich die Frage, wie es zu einer Partnerschaft kam. Der Grund, warum der deutsche Partner in die Türkei gekommen ist, war zum einen, Ali kennen zu lernen, zum anderen auch, andere türkische Männer, mit denen er eventuell sexuell hätte verkehren können, zu treffen. Dieser Aushandlungsprozess, der möglicherweise während der virtuellen Kommunikation im Internet stattgefunden hat, wird nicht direkt thematisiert. Ein anderer Beweggrund des Partners ist die sexuelle Berühmtheit der türkischen Bärentypen in der Bärenszene, so Ali: Eigentlich war der Grund, warum mein Partner im Juni gekommen ist, ähm, mit mir Sex zu haben. Ähm, sogar nicht nur mit mir, sondern auch mit einigen türkischen Männern, die er finden wollte. Denn, wie du weißt, die türkischen Männer sind besonders unter den Bären sehr beliebt. (Zeile 585-588) Auch wenn der Partner aus sexuellen Gründen in die Türkei kam, betont Ali zum zweiten Mal, dass Sex nur im Falle gegenseitigen Gefallens hätte geschehen dürfen. An dieser Stelle des Interviews leitet Ali ein Subthema ein, das die Zeit nach der Ankunft des Partners behandelt. Nachdem der Partner bei Ali angekommen war, schien er seine Urlaubszeit nur beim Gastgeber verbringen zu wollen. Das führt der Erzähler darauf zurück, dass der Gast sich bereits am Anfang der ersten realen Begegnung verliebt hatte, so dass er ab dem dritten Tag seines Besuches nicht mehr allein ausgehen wollte: Aber er ist zu mir gekommen und dann ist er ab dem dritten Tag nirgendwo anders hin gegangen. (Zeile 593-594) Im Verlauf dieses Subsegmentes geht er auf die Entscheidung zur Eintragung der Lebenspartnerschaft ein. In dem zehntägigen Türkeiaufenthalt haben beide Partner die Möglichkeit gehabt, sich kennenzulernen und aufeinander zuzugehen. Nach den zehn Tagen kehrte der Partner nach Deutschland zurück und hielt den Kontakt zu Ali weiterhin aufrecht. In dieser Zeit, in der beide Partner entfernt voneinander lebten, hatten sie meistens telefonischen Kontakt. Zudem konnte sein Partner in bestimmten Zeitabständen in die Türkei kommen, um ihn zu besuchen. Diese Situation des Pendelns
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hielt acht Monate an. Beide Partner hatten in dieser Zeit mehr Möglichkeiten, sich näher kennen zu lernen und eine Entscheidung zu treffen: „In acht Monaten kam er neun Mal in die Türkei (.) ab da telefonierten wir jeden Tag. Ähm, dann haben wir ausnahmslos jeden Tag telefoniert […] Und er kam auch auf jeden Fall alle zwei, drei Wochen, wenn auch nur für drei, fünf Tage. Und danach, während diesem Hin und Her haben sich Gefühle entwickelt. Nach den Gefühlen entstanden die Gedanken, was wir machen sollten, und schließlich haben wir uns für so was entschieden, und nun sind wir verheiratet.“ (Zeile 615-620)
Segment 15: Der Partner In diesem Teil des Interviews berichtet Ali von einer biographischen Wandlung seines Partners, die durch einen sexuellen Orientierungswechsel gekennzeichnet ist und als Hintergrundkonstruktion dieses Segments fungiert. Nachdem Ali über sein Zusammenkommen mit dem Partner gesprochen hat, gibt er einen zusätzlichen Bericht über seinen Partner. Damit ändert er den inhaltlichen Verlauf des Interviews. Der Partner hatte bis vor acht Jahren in einer heterosexuellen Partnerschaft bzw. in einer Familie gelebt. In dieser Ehe bekam er zwei Söhne, die mit ihrer Mutter außerhalb von Berlin leben. Er geht weiter über die Bewusstwerdung der eigenen Homosexualität des Partners und die darauffolgende Trennung von der Familie. Durch die verspätete Entdeckung der eigenen Homosexualität geriet der Partner in eine nicht zu bewältigende Situation innerhalb seiner Familie. Nach einem vermutlich langen inneren Konflikt bezüglich seiner heterosexuellen Ehe traf er die Entscheidung, sich von seiner Frau scheiden zu lassen und dann die Familie zu verlassen: Nachdem er es gemerkt hat, hatte er sich entschieden, sich von seiner Frau zu trennen, denn er hielt die gemeinsame Wohngemeinschaft mit seiner Frau nicht für richtig. (Zeile 629-630) Diese Aussage hat erstens einen Legitimationscharakter, der die Entscheidung des Partners rechtfertigt; zweitens hat sie eine überleitende Funktion, die den Zusammenhang zwischen homo- und heterosexueller Lebensweise des Partners herstellt. Nach Beendigung der heterosexuellen Ehe führt er sein Leben sieben Jahre lang als alleinstehender schwuler Mann. Acht Jahre nach der Trennung von seiner Frau konnte er sich auf eine eingetragene Lebenspartnerschaft einlassen. Ali beendet dieses Segment mit einem positiv evaluativen Bericht über seine Partnerschaft: Danach lernte er mich kennen, nachdem er sieben Jahre als alleinstehender Schwuler gelebt hat. Im achten Jahr hat er wieder geheiratet, mein Liebster. Mich [hat er geheiratet]. (Zeile 631-632)
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Segment 16: Wir hatten eine sehr intensive Beziehung… Im Anschluss an das vorangegangene Thema der Heirat wird der Frage der binationalen Partnerschaft nachgegangen. Der erste Teil dieses Segmentes befasst sich mit dem Beziehungsverlauf. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Ali mit seinem Partner seit neun Monaten in Deutschland. Die Erzählung hat einen deskriptiven Charakter. Die ersten sieben Monate seines Aufenthaltes lebt er in einer kleinen Einzimmerwohnung mit seinem Partner. Diese kleine Wohnung bedeutet für ihn räumliche und emotionale Nähe zu seinem Partner. Worauf er den Zuhörer auch hinweisen möchte, ist, dass die Beziehung trotz oder dank der kleinen Wohnung nicht zerstört wurde. Im Gegenteil, die Partner haben eine intensive Beziehung: Wir haben sogar sieben-siebeneinhalb Monate in einer Einzimmerwohnung gelebt […] Die war sehr schön, aber zu klein. Also wir hatten eine sehr intensive Beziehung. (Zeile 642-646) An dieser Stelle stockt wiederum die Erzählung, weshalb der Interviewer intervenieren musste, um den Erzähler zum Weitersprechen anzuregen. Durch diese Intervention beginnt Ali ein neues Thema, das von seiner Beziehung zu einem deutschen Mann handelt. Auf die Nachfrage des Interviewers, ob es einen besonderen Grund für die Wahl eines deutschen Partners gegeben hat, antwortet er mit einer Rückfrage, die den Interviewer herausfordert. Es habe keinen besonderen Grund gegeben, dass er einen Deutschen zum Partner hat. Durch die Rückfrage Was denkst du über die Liebe? (Zeile 659) beabsichtigt Ali, das Interview in eine Diskussion umzuwandeln, was nicht dem Schema des biographisch narrativen Interviews entspricht. Um diese Interviewform aufrecht erhalten zu können, bemüht sich der Interviewer, eine Antwort zu geben, die zum einen die Diskussion verhindern und zum anderen dem Erzähler eine biographische Erzählanregung ermöglichen muss. Die Antwort seitens des Interviewers Man kann über die Liebe nicht diskutieren, also ich weiß es nicht (Zeile 660) konnte zwar nicht die biographisch narrative Besonderheit des Interviews bewahren, aber sie führte den Erzähler zu der Entwicklung einer Eigentheorie über Liebe, die er im Verlauf seiner Darstellung anhand eigener Erfahrungen zu belegen versucht. Die Darstellung dieser Eigentheorie dient als Hintergrundkonstruktion für die Wahl des deutschen Partners. Für ihn sei die Liebe ein Synonym für Unkontrollierbarkeit, Regellosigkeit, Unordnung, Chaos, Unbestimmtheit, Zufall etc.. Weil sie, seiner Meinung nach, vor allem auf Zufall basiere, hätte Ali sich zufällig auch in jemand anderen verlieben können: Deswegen ist es nur ein Zufall, dass mein Partner Deutscher ist […] Wie gesagt, es gab Menschen, die aus Russland schrieben, aus Amerika, aus Libyen, aus Indien oder auch aus Pakistan. (Zeile 687-689) Auffällig ist, dass Ali seine Partnersuche auf Nicht-Einheimische gerichtet hat. Dies kann man darauf zurückführen, dass Ali sich eventuell in der Türkei nicht wohl fühlte und den ausländischen Partner als eine Lösung oder als eine Möglichkeit angesehen hat, um zu emigrieren. Hiermit spielte das Herkunftsland eines künf-
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tigen Partners keine wesentliche Rolle: Einer von diesen Männern hätte es sein können, in den ich mich hätte verlieben können. Aber es war mein jetziger Mann, und er war ein Deutscher. (Zeile 689-690) Segment 17: Ich denke nie darüber nach, dass ich mit einem Deutschen verheiratet bin. In der Nachfragephase handelt es sich um den Beziehungsalltag Alis mit seinem Partner. Aufgrund des engen Zusammenlebens in einer kleinen Einzimmerwohnung stellt sich die Frage, wie das Paar seinen Alltag gestaltet, ob es wegen der intensiven Nähe bzw. fehlender Distanz partnerschaftliche Probleme erlebt oder ob kulturelle Differenzen in der Beziehung eine entscheidende Rolle spielen. Ali scheint in seinen Aussagen zufrieden und stolz zu sein, dass er mit seinem Partner diese räumliche und emotionale Nähe hat. Die Intensität der Beziehung drückt sich gerade durch diese räumliche Nähe aus. Im Anschluss daran kommt die Frage nach möglichen kulturellen Differenzen und diesbezüglichen Auseinandersetzungen innerhalb der Partnerschaft zur Sprache. Das Thema eventueller kultureller Unterschiede führt den Erzähler zur Entwicklung einer weiteren Eigentheorie über partnerschaftliches Leben hinsichtlich der Bi- bzw. Gleichnationalität. Er spüre in dem engen Zusammenleben mit einem deutschen Partner zahlreiche kulturelle Differenzen, jedoch seien diese für den Zusammenhalt der Partnerschaft nicht entscheidend. Er ist der Meinung, dass die Probleme aufgrund der kulturellen Unterschiede unverzichtbar sind, aber sie werden in jeder Art von Partnerschaft erlebt. So vertritt er die Meinung, dass die partnerschaftlichen Probleme prinzipiell nicht unbedingt auf die Herkunft bezogen werden müssen. Darüber hinaus spiele die Herkunft seines Partners keine wichtige Rolle. Das wesentliche für ihn ist, dass er mit einem Menschen zusammenleben kann, der ihm Zuneigung schenkt: „Ich denke nie darüber nach, dass ich mit einem Deutschen verheiratet bin. (.) Ich bin mit meinem Mann verheiratet. Also, er ist der Mann, den ich liebe. Deswegen ist das für mich kein Problem, ob er Deutscher ist oder ich Türke bin. Wenn ich da irgendein Problem spüren würde, dann würde ohnehin etwas fehlen. Also es gäbe sowieso in der Beziehung ein Problem, wenn mein Gegenüber wegen meines Türkenseins eine Haltung gegen mich beziehen würde, oder wenn ich wegen seiner deutschen Herkunft etwas gegen ihn hätte […] In diesem Fall würde die Beziehung auf bestimmten Lügen basieren oder auf bestimmten Vorurteilen. Übrigens glaube ich nicht, dass ich mich in jemanden verlieben würde, der wegen meiner türkischen Herkunft bestimmte Haltungen einnehmen würde […] Deswegen habe ich mit meinem Partner gar kein Problem wegen der Herkunft.“ (Zeile 724-733)
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Segment 18: Die Beziehungen der Deutschen zu den Ausländern finde ich ziemlich kalt. Aufgrund der relativ kurzen Aufenthaltsdauer kommt es im Nachfrageteil zum Thema des Freundes- bzw. Bekanntenkreises des Erzählers. Ob Ali sich im Zeitraum von neun Monaten ein soziales Umfeld in Deutschland schaffen konnte und ob er sich in einem Freundes- oder Bekanntenkreis bewegt, sind zentrale Themen dieses Segmentes. Da Ali sich als Interviewort einen Raum im X-Verein gewünscht hat, liegt die Annahme nahe, dass er zumindest in diesem Verein bestimmte Bekanntschaften bzw. Freundschaften hat. Er kann jedoch diesen Verein, den er in seiner freien Zeit besucht, nicht als soziales Umfeld bezeichnen. Als Beleg führt er eine Argumentationskette an, die aus seiner eigenen Theorie über Grundlagen einer Freundschaft hervorgeht. Demnach basiert eine Freundschaft auf einer gegenseitigen Verbindlichkeit, die sich nicht nur auf einen Raum und eine Zeit beschränkt: „Ich habe hier nicht irgendein soziales Umfeld. Mein einziges soziales Umfeld ist, wenn wir das als soziales Umfeld bezeichnen könnten, ist hier [der Verein]. Meiner Meinung nach ist es hier aber auch nicht. Und hier [sind] drei Menschen oder fünf Menschen. Also wir treffen uns nur dann, wenn wir hierher kommen. Also ich habe mit denen eine nur auf Hier begrenzte Freundschaft.“ (Zeile 744-750)
Mit dieser Aussage deutet er seine Einsamkeit in Berlin an, denn seine sozialen Kontakte sind in erster Linie institutionelle Verbindlichkeiten, die sich aus den möglichen Vereinstätigkeiten ergeben. Die mittelbar angedeutete Voraussetzung einer Freundschaft, die auf Kontinuität basieren soll, vermisst Ali in seinem neuen sozialen Umfeld in Berlin. Im Anschluss an diese Eigentheorie leitet er ein Subsegment ein, das von den zwischenmenschlichen Beziehungen aus Sicht eines Ausländers handelt. Er unterstreicht ausdrücklich, dass er nicht unbedingt bemüht ist, neue Freundschaften in der Ankunftgesellschaft zu schließen, weil die Deutschen hier nicht so kontaktfreudig sind. (Zeile 758) Er versucht hier zu argumentieren, aus welchem Grund er neue Freundschaften vermeidet. Die fehlende Kontaktfreudigkeit der Deutschen wird seinerseits konstatiert und ermöglicht ihm eine Gegenposition mit der Konsequenz, dass er sich von den Menschen zurückzieht. Diesen Standpunkt führt er auf seine alten und neuen Erfahrungen in Deutschland zurück und belegt sie mit folgender Aussage: „Ich finde die Beziehungen zu kalt. Die Beziehungen der Deutschen zu den Ausländern finde ich ziemlich kalt. Denn es gibt ein paar Leute, die ich kennen gelernt habe, die Freunde meines Partners. Es gibt die Menschen, mit denen wir uns unterhalten […] Aber ich finde sie langweilig und kalt. Denn worüber sie sich unterhalten, ist immer das Gleiche, also was man wo gekauft hat, was was kostet, Miete, Geld und all solche Sachen. Also sie sprechen immer
212 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE über solche technischen Sachen. Es gibt niemanden, der über Gefühle oder über sich spricht.“ (Zeile 775-781)
Hier bekommt die Sehnsucht nach innigen Freundschaften eine große Bedeutung, und oberflächliche zwischenmenschliche Beziehungen werden kritisiert. An dieser Stelle kann man zwischen dem Haupt- und diesem Subsegment einen Zusammenhang herstellen, der die Grundlage einer innigen Freundschaft verdeutlichen kann. Auffällig ist hier auch die Aussage über das Verhältnis der Deutschen zu Ausländer_innen. Hier werden Ausgrenzungserfahrungen eines Ausländers in der Ankunftgesellschaft durch die Bewertung der Einheimischen als kalt und langweilig deutlich. Dass die Deutschen nur über technische Dinge, nicht aber über eigene Gefühle sprechen, beeinflusst Alis soziale Kontakte. All diese genannten Gründe stellen für ihn eine Hürde auf dem Weg zu innigen Freundschaftsbeziehungen dar. Da er über das Thema Freundschaft relativ lange spricht und sich davon nicht lösen kann, erscheint das gesamte Segment emotional sehr beladen zu sein. Auch wenn er es nicht direkt thematisieren will, ist aus dieser Aussage erkennbar, dass er in Deutschland doch Erfahrungen mit Fremdheit macht. Mit dem anschließenden Satz führt er das Interview mit einem neuen Subsegment fort, das sich auch mit der Kritik an den in der Türkei lebenden Menschen befasst. Hiermit versucht er, zu beweisen, dass es zwischen Deutschen und Türk_innen keinen großen Unterschied bezüglich zwischenmenschlicher Beziehungen gibt: Aber das ist auch in der Türkei so. Auch in der Türkei mögen es die Leute nicht, über ihre Gefühle zu reden. Aber hier lebt man es noch härter, soweit ich das gesehen habe. Deswegen kann ich mir nicht vorstellen, dass ich hier viele Freundschaften aufbauen kann. (Zeile 781-784) Damit deutet er die gegenseitige Entfremdung der Menschen in den beiden Ländern an, die sich darin zeigt, dass die Menschen nicht über private Themen reden und dass er sich nicht vorstellen kann, besonders in Deutschland innige Freundschaften aufzubauen. In der Fortsetzung der Erzählung betont er, dass seine Aussagen nicht missverstanden werden sollen, da sie aus eigenen Erfahrungen hervorgehen und möglicherweise von den Erfahrungen anderer Menschen abweichen. Um ein Missverständnis zu verhindern, führt er einige Erfahrungsmuster an, die für seine sozialen Blockaden in der Ankunftgesellschaft als Beleg gelten: „Bitte verstehe es nicht falsch, dass ich Vorurteile hätte […] Der hauptsächliche Grund dafür ist, dass ich in der Türkei einige bestimmte Freunde habe, gegenüber denen ich total nackt stehe16, und die mir gegenüber auch total nackt stehen. Ich habe meine Menschen dort, wo wir gar keine Geheimnisse, gar keine Sorgen haben, während wir beisammen sind. Während die Situation in der Türkei so war, es ist immer noch so […] kann ich mich hier nicht auf die 16 In der türkischen Bildsprache kann „gegenüber jemandem nackt dastehen“ mit bedingungsloser Aufrichtigkeit übersetzt werden.
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oberflächlichen Freundschaften verlassen […] hier könnte man sich höchstens eine Stunde auf einen Tee treffen oder man trinkt Kaffee, ich weiß aber nicht, ob man rauchen dürfte. Das weißt du ja, wenn man nicht rauchen darf, darf man halt nicht rauchen […] Ähm, deswegen habe ich kein Bedürfnis, in Deutschland eine Freundschaft zu haben.“ (Zeile 786-796)
Dieser Beleg, der zugleich auch ein Vergleich zwischen Deutschland und der Türkei bzw. den Deutschen und den Türk_innen ist, stellt seine anfänglichen Schwierigkeiten dar, die man als Verlaufskurve in den zwischenmenschlichen Beziehungen bezeichnen kann. Während er die türkischen freundschaftlichen Beziehungen auf dem höchsten Niveau abbildet, weil sie innig bzw. intensiv sind, stellt er die Freundschaftsbeziehungen in Deutschland auf niedrigerem Niveau dar, weil sie oberflächlich oder kalt sind. Aufgrund der fehlenden Intensität der menschlichen Beziehungen in Deutschland traut er sich nicht, neue Freundschaften im Ankunftland zu schließen, denn auch die Freundschaftsbeziehungen sind seiner Ansicht nach normativ. So kann man die These aufstellen, dass sich Ali als neuer Migrant in einer Phase befindet, in der er sich mit den neuen und alten Erfahrungen in der Türkei und in Deutschland auseinandersetzt bzw. sie verarbeitet.. In solch einer Situation des Interviews, in der der Interviewpartner seine Erzählung auf eine emotionale Weise gestaltet, scheint er bemüht zu sein, die Interviewatmosphäre zum Positiven zu ändern: So kündigt er ein neues Untersegment an, in dem er sich selbst damit tröstet, dass er in Deutschland trotz allem doch nicht einsam ist: „Hier habe ich sowieso meinen Kumpel Hakan, und mein größter Freund ist mein Mann. Ich brauche nicht mehr. Und sollte ich meine Freunde brauchen, dann würde ich für drei Tage in die Türkei fliegen, dann könnte ich dort alles erzählen, teilen, dann würde ich zurückkehren und zwar recht befriedigt.“ (Zeile 799-802)
Weil er seinen Lebenspartner als größten Freund bezeichnet und einen in Deutschland lebenden langjährigen Kumpel aus der Türkei hat, hat er kein Bedürfnis, hier in Deutschland neue Freundschaften aufzubauen, denn auch die Türken, die hier leben, sind nicht so innig. Die sind oberflächlich (Zeile 805). An dieser Stelle richtet er seine Kritik an die Türk_innen, die in Deutschland leben, die nach seinem Urteil oberflächlich und nicht innig sind. Diese Eigenschaften der in Deutschland lebenden Türk_innen führt er als weitere Gründe für seinen Rückzug vom gesellschaftlichen Leben an. Im Nachhinein versucht er die Oberflächlichkeit der türkeistämmigen Migrant_innen zu rechtfertigen: Leider verhalten sich auch die Türken, die hier leben, berechtigterweise in bestimmten Sachen so wie Deutsche. Sie denken wie die Deutschen, soweit ich gesehen habe. Sie sind eigentlich auch so wie sie, auch wenn sie es nicht merken. (Zeile 807-810)
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Aus diesen Aussagen geht hervor, dass Ali es verständlich findet, dass die in Deutschland lebenden Türk_innen sich in bestimmten Bereichen an die deutsche Gesellschaft angepasst haben, wenn sie sich zum Beispiel so oberflächlich verhalten. Diese Erklärung des Erzählers gibt aber keinen weiteren Aufschluss darüber, inwieweit die türkeistämmigen Migrant_innen sich im Vergleich zu den in der Türkei lebenden Menschen verändert haben. Dessen ungeachtet beabsichtigt er, seine Befindlichkeit in Deutschland aus der Perspektive eines Anderen auszudrücken. So kann man in dem gesamten Segment davon ausgehen, dass er sich in Deutschland keiner sozialen kulturellen Gruppe bzw. Gemeinde zugehörig fühlt und sich in einem neuen Lebensabschnitt in der Ankunftsgesellschaft befindet. Im Laufe seiner Erzählung geht er auf die kulturellen Differenzen ein, die er in der Ankunftsgesellschaft erlebt: Während er die türkeistämmigen Migrant_innen darin kritisiert, dass sie bemüht sind, westlich zu sein, moniert er mit Nachdruck, dass man sich emotional, seelisch und geistig verwestlicht. Man kann nur formal westlich sein. Denn unsere Wurzeln stecken im Osten. Zum Glück gibt es den Osten. (Zeile 819-820) Er betont, dass man sich zwar äußerlich ändern kann, jedoch es nicht immer möglich ist, sich innerlich zu ändern, denn es liegt an den Wurzeln. Zudem bewertet er die Deutschen erneut und neigt dazu, sie schablonenhaft zu charakterisieren: Sie haben nicht so was, wie Teilen, gibt es bei ihnen nicht, so eine Art zu denken. So ein Gefühl haben sie nicht. Das ist [bei ihnen] noch nicht entwickelt, sie sind zu technisch und ich bin immer vor der Technik weggelaufen. (Zeile 823-826) Dass die Deutschen nicht daran denken können, etwas zu teilen oder über eigene Gefühle zu reden, führt er wahrscheinlich auf die industrielle kapitalistische Struktur der Aufnahmegesellschaft zurück. Er nimmt sie technisch wahr, wogegen er versucht, die türkische Gesellschaft als Gesellschaft der Gefühle darzustellen. Damit schildert er einen Kontrast zwischen industrialisierter technischer Ankunftsgesellschaft und dem Herkunftsland. Nach dem fortlaufenden Vergleich zwischen Osten und Westen hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen knüpft er an das Thema Partnerschaft an und teilt das Ende dieses Segmentes mit. Segment 19: Nee nee, ich bin ein Gefühlsmann. Dieses Segment wird mit einer Überleitung zu dem vorhergehenden Segment hergestellt. Während er in Deutschland vor zu technischen Beziehungen wegläuft, hatte er in der Türkei eine Zeitlang als technischer Mann gelebt. Hier drückt er seine Auseinandersetzung mit sich selbst aus. Aus dieser als Verlaufskurve zu bezeichnenden Auseinandersetzung erscheint er als Mann der Gefühle, der aus dem Osten stammt und sich im Westen fremd fühlt: „Eine lange Zeit habe ich mich im Leben als einen technischen Mann begriffen, also Technik war für mich das Leben. Aber nachdem man angefangen hat, etwas zu lernen und dann zu
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verstehen, ähm, ähm, nee nee, ich bin ein Gefühlsmann, was meine Gefühle mir befehlen, was dieser Körper mir zeigt, das mache ich. Ich lebe das aus, und das kommt aus dem Orient.“ (Zeile 828-831)
In dieser strikten Differenzierung des Ostens vom Westen behandelt er wiederholt die Relevanz des Teilens innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen, die seiner Ansicht nach in Deutschland bzw. im Westen nicht existieren. Er würde sich völlig einsam fühlen, wenn er mit anderen Menschen nichts teilen würde. Aus diesem Grund ist er der festen Meinung, dass ich nur mit den Menschen Freundschaften aufbauen kann, mit denen ich etwas teilen kann. Und es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass ich hier solche Menschen mit diesem Niveau finden kann. (Zeile 832-834) Wobei er in seinen folgenden Aussagen erklärt, dass diese Feststellung über den kalten Westen nicht zu verabsolutieren ist, da es natürlich Ausnahmen wie [s]einen Mann gäbe. Seine Behauptung, dass es Ausnahmen geben könnte, versucht er am Beispiel seines Partners zu belegen: Es kann natürlich Ausnahmen geben, ich bin mir sicher. Beispielweise ist mein Mann einer von diesen [Ausnahmen]. (Zeile 835836) Während er an dieser Stelle seinen Partner zu den Ausnahmen zählt, nämlich zu den seltenen Deutschen, die wohl nicht typische westliche Eigenschaften haben, führt er dies auf die Liebesbeziehung und auch auf die ostdeutsche Herkunft seines Partners zurück. Somit bleibt seine Meinung über Differenzen zwischen dem Osten und Westen unverändert. Nachdem er erörtert hatte, dass die Beziehung mit seinem Partner auf der Liebe und seinem persönlichen Charakter basiert, fügt er hinzu, woher sein Partner stammt. Diese beiden Faktoren, die die Liebesbeziehung möglich machen, finden nicht selten Beachtung in seiner Erzählung: Jedoch auch er hätte nicht mein Freund sein können. [Aber] wenn es dann um die Aúk17 geht, ändert sich die Situation, wie du weißt. Und wenn zu dem Aúk auch der Sex kommt, ändert sich die Situation noch mehr. (Zeile 836-838) Liebe und Sex spielen für Ali eine signifikante Rolle, wenn es um den Zusammenhalt der Liebespartnerschaft geht. Hiermit verknüpft er Themen wie selbstlose Freundschaften, Liebesbeziehungen, Sex oder Liebe. So stellt er eine vage These auf, nämlich dass er nicht wüsste, ob er mit seinem Partner eine selbstlose Freundschaft hätte aufbauen können, wenn es innerhalb der Beziehung kein Aúk und keinen Sex gegeben hätte. Demnach gehören diese beiden Faktoren nicht zu den Voraussetzungen einer Freundschaft. Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass Ali sich an dieser Stelle seiner Erzählung selbst falsifiziert, der Partner könnte doch nicht zu den Ausnahmen gehören. Denn Freundschaft ist etwas ganz Besonderes, völlig uneigennützig. Ich weiß nicht, ob ich mit meinem Mann so eine selbstlose Freundschaft hätte aufbauen können, wenn ich das am Anfang gewünscht hätte. (Zeile 838-840) 17 Aúk: Liebe zwischen zwei Menschen, die sich emotional, sexuell, sozial etc. begehren.
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Nach dieser Erörterung von Freundschaft und Liebesbeziehung geht er auf die Herkunft seines Partners ein, um wieder zu schildern, auf welcher Basis die Partnerschaft gegründet worden ist. Zum einen betont er wiederholt die Besonderheiten der selbstlosen Freundschaft, in der man weder Aúk noch Sex haben kann. Zum anderen gibt es die Liebesbeziehung, die auf gegenseitigem liebevollen und sexuellen Begehren basiert. Dazu kommt auch die Herkunft des Partners, die möglicherweise eine bedeutende Rolle für Ali hat (Zeile 841). Auffällig an seiner Darstellung ist die Betonung der Tatsache, dass sein Partner Ostdeutscher und nicht Westdeutscher ist. Die Frage Ost vs. West scheint ihn beschäftigt zu haben, so dass er sich bei Gelegenheit pro-ostdeutsch darstellt. Hier beginnt Ali, einen Vergleich zwischen der Türkei und der ehemaligem DDR zu ziehen. Zunächst wird durch diesen Vergleich die gemeinsame Basis der Partnerschaft herausgearbeitet: Er ist in [aus] Ostdeutschland aus einem sozialistischen Regime gekommen, dort aufgewachsen. Er ist auch 40 Jahre alt (Zeile 842). Zudem geht es hier nicht um die Unterschiede der Länder, sondern um Ähnlichkeiten: „Ich denke, dass es im sozialistischen Regime im Grunde gar keinen Unterschied zu meiner Jugendzeit in der Türkei gibt […] Nun hatten auch sie Fernseher, aber sie durften in Ostdeutschland nur die ostdeutschen Fernsehprogramme anschauen, sie kannten die andere Dinge nicht, was in der Welt passierte [...] Sie haben das hingenommen, was der Staat ihnen angeboten hat. Denn sie hatten keinen Ehrgeiz. Sie hatten nichts, um ehrgeizig zu sein. Warum? Ihre Wohnung, die Lebensmittel, wovon sie satt wurden, hat ihnen alle der Staat gegeben. Die einzige Sache, die sie machen sollten, war, das Leben weiter zu führen. Weder Sport noch Arbeit […] sie hatten keinen Luxus. Wir hatten in unserer Kindheit auch ähnliche Dinge.“ (Zeile 846-853)
Aus diesem und vorhergehenden Zitaten geht hervor, dass Ali sich zum einen mit dem Osten Deutschlands und zum anderen mit seinem ostdeutschen Partner identifiziert, so dass er Parallelen zwischen zwei Ländern ziehen konnte. Anschließend greift er auf die Zeit seiner Kindheit zurück und schildert die soziale, politische und wirtschaftliche Lage der damaligen Türkei, um die Ähnlichkeiten mit dem ostdeutschen Partner zu belegen: „In den ersten sechs Jahren meines Lebens gab es keinen Fernseher. Also es gab in meinem Leben nicht so eine Information, dass es Fernseher gegeben hat. Es ist nicht so, als hätte es den Fernseher nicht gegeben, aber wir hatten ihn nicht zu Hause. Wir wussten nichts von der Existenz des Fernsehers […] Ich habe erst nach den ersten sechs Jahren meines Lebens die Information, dass Fernseher existieren, erfahren. Und erst danach ist der Fernseher in unser Leben getreten.“ (Zeile 856-861)
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In diesem Beispiel kommt die Bedeutung des Fernsehapparates sowohl für die Entwicklung der Menschen generell als auch für die individuellen Erfahrungen in einer durch die Entwicklung der Kommunikationstechnologien veränderten Welt zum Ausdruck. So trifft Ali eine bewertende Aussage: dass der Fernseher ein Meilenstein der Menschheit ist. Vor und nach dem Fernseher. Also der Fernseher ist etwas, was die Menschen verdirbt. (Zeile 862f.) Damit kommt er auf die qualitative Verschlechterung zwischenmenschlicher Beziehungen zurück und betont, dass er aus einer Zeit stammt, als in seiner Familie anfänglich noch kein Fernseher existierte und es darüber hinaus bessere zwischenmenschliche Beziehungen gegeben hat. Diese Schlussfolgerung des Segments bezieht sich wiederum auf das Ziehen von Parallelen zwischen der damaligen Türkei und dem ehemaligen Osten Deutschlands. Segment 20: Soziales Umfeld des Partners Die Nachfragephase folgt in diesem Segment mit der Frage nach dem sozialen Umfeld des Partners. Es geht hier nicht nur um die Freundschaften bzw. Bekanntschaften des Partners, sondern auch darum, ob Ali auch in das soziale Umfeld des Partners integriert ist. Seine Antwort auf diese Frage gliedert Ali in drei Personengruppen, mit denen er und sein Partner regelmäßig oder gelegentlich Kontakt haben: Zur ersten Gruppe, mit der auch Ali sporadisch Kontakt hat, gehört die Ex-Familie des Partners. Aus seinen Aussagen über das Verhältnis zwischen dem Partner und seiner Ex-Familie ergibt sich, dass Ali in seinen ersten neun Monaten in der BRD zweimal bei der Ex-Familie seines Partners zu Gast war. An dieser Stelle beschreibt er das Verhältnis zwischen seinem Partner und dessen ehemaligen Familie. Der Partner hat von seiner Ex-Frau zwei Söhne. Zum Zeitpunkt des Interviews ist der jüngere Sohn acht Jahre alt, wobei Ali nicht erwähnt hat, wie alt der ältere Sohn ist. Sowohl die Ex-Frau als auch der ältere Sohn des Partners wissen schon von der homosexuellen Lebenspartnerschaft. Damit weist Ali darauf hin, dass er und sein Partner von der Ex-Familie akzeptiert werden. Der achtjährige jüngere Sohn wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht über die schwule Partnerschaft und die Homosexualität seines Vaters informiert. Im Interview lässt sich schwer erkennen, aus welchem Grund die Homosexualität des Vaters vor dem jüngeren Sohn verborgen wird: „Wir sind zwei Mal zu denen gegangen. Sie wissen schon, dass wir verheiratet sind. Ähm, seine Frau weiß es, sein älterer Sohn weiß es. Er hat auch einen jüngeren Sohn, acht Jahre alt. Der weiß zwar, dass wir hier zusammen leben, also dass wir zusammen in einer Wohnung wohnen, aber er weiß noch nicht, dass wir uns lieben und verheiratet sind. Aber er weiß schon, dass wir zusammen wohnen.“ (Zeile 879-883)
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Zur zweiten Gruppe der sozialen Kontakte des Partners gehört sein Ex-Partner. Auffällig ist hier, dass der Partner die Kontakte zu seinen ehemaligen partnerschaftlichen Beziehungen nicht abbricht, auch wenn er sich von ihnen getrennt hatte. Auch hier wird Ali in den Kontakt mit dem Ex-Partner eingeführt. Dennoch geht Ali nicht auf die Inhalte dieses Kontaktes ein. Zur dritten Gruppe gehören die alten Freund_innen des Partners, die aus seiner Studienzeit stammen. Ali trifft sich mit dieser Gruppe nur selten. Bevor Ali auf die Beziehung zu den Schwiegereltern eingeht, bringt er das Thema der zerstörten Freundschaften seines Lebenspartners zur Sprache. Interessant ist, dass er nach der Schilderung des sozialen Umfeldes seines Mannes auf folgendes aufmerksam macht: Außerdem hat mein Partner nach unserer Heirat gemerkt, dass viele seiner Freundschaften bzw. Bekanntschaften, die er vor unserer Heirat hatte, abgebrochen wurden […] weil er mich geheiratet hat. (Zeile 891ff.) Das Schließen der Lebenspartnerschaft scheint ein Grund dafür zu sein, dass der Partner viele seiner Freund_innen verloren hat. Diese Aussage verdeutlicht, dass die alten Freund_innen das Paar nicht anerkennen wollten. Diesen Kontaktabbruch der Freund_innen bezieht Ali zwar auf sich, aber er weist darauf hin, dass dies nicht mit seiner türkischen Herkunft zusammenhängt, sondern mit den Erwartungen der Freund_innen an den deutschen Partner. Bis zur Eintragung der Lebenspartnerschaft verfolgten „diese sogenannten Freundschaften, ob mit Frauen oder Männern, ist egal […] böse Hintergedanken, wie wir am Anfang des Gesprächs erwähnt haben. Also diese ganzen Freunde, die sich vorher immer gemeldet haben und jetzt nach der Heirat nicht mehr bei ihm melden, wollten mit ihm zusammen sein. Deswegen haben sie den Kontakt abgebrochen.“ (Zeile 898-902)
Ali bezeichnet diese Erwartungen der Freund_innen seines Partners als böse Hintergedanken. Während sie die Freundschaft als Mittel zum Zweck einer Partnerschaft ausnutzten, folgte der deutsche Partner nur dem einzigen Ziel einer selbstlosen Freundschaft: „Der Grund für diese langen Freundschaften war wahrscheinlich, dass sie gehofft haben, ihn [meinen Partner] irgendwann irgendwie herumzukriegen. Das sind seine Vermutungen, nicht meine, denn ich weiß nichts davon. Daher sagt er immer, dass es gar kein Problem gab, bis er mich heiratete.“ (Zeile 908-910)
An dieser Stelle distanziert sich Ali von den Aussagen seines Partners und betont, dass er nicht die Vorgeschichte der zwischenmenschlichen Beziehungen seines Partners kennt, und deshalb kann er diesbezüglich keine schlussfolgernden Aussagen treffen. Ali berichtet weiter, dass das soziale Umfeld seines Lebenspartners zum Zeitpunkt der Partnerschaftsschließung informiert worden sei und kein Prob-
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lem damit gehabt hätte. Die Probleme entstanden erst nach der Umsetzung der Eintragung der Lebenspartnerschaft. Angelehnt an die Aussagen seines Mannes führt Ali diese Situation darauf zurück, dass die Freund_innen anfangs dieses Lebenspartnerschaftsvorhaben des deutschen Partners mit einem türkeistämmigen Schwulen nicht ernst genommen hätten. Die folgende Aussage belegt seine Begründung: „Er erzählte ihnen auch, dass er mich heiraten würde. Trotzdem gab’s kein Problem. Aber ich denke, dass sie [die Freunde] am Anfang nicht daran geglaubt haben, so dass sie mit ihm erst nach der Heirat alles beendet haben […] so erzählt mir mein Partner. Nachdem ich ihn geheiratet habe und nach Deutschland gekommen bin, hat sich niemand von seinen alten Freunden bei ihm gemeldet.“ (Zeile 912-917)
Dieses Segment wird mit einer Antwort auf eine Nachfrage über die Eltern des Partners abgeschlossen. Ali berichtet hier, dass der Vater des Partners nicht mehr am Leben sei, die Mutter aber noch lebt, wobei der Kontakt zwischen Mutter und Sohn schon vor der Gründung der Lebenspartnerschaft abgebrochen wurde: Er hat keinen Vater, aber seine Mutter lebt noch. Aber der Kontakt zu seiner Mutter ist schon vor mir abgebrochen, wie das zwischen mir und meiner Mutter ist. (Zeile 930-931) Die Koda dieses Segments kündigt das nächste Thema an, in dem der Erzähler der Beziehung zu seiner eigenen Mutter nachgeht. Segment 21: Mütter und Söhne Dieses Segment beginnt mit einer Aussage über das Verhältnis zwischen Ali und seiner Mutter, zu der er nur selten Kontakt hat. Im Hinblick auf die Mutter-SohnBeziehung weist er auf Parallelen zwischen seiner Situation und der seines Partners hin: Also auch ich habe nicht so einen engen Kontakt mit meiner Mutter. Wie soll ich sagen, ich telefoniere ein Mal im Monat oder im Jahr mit meiner Mutter. (Zeile 932-933) So versucht er zu belegen, dass er und sein Mann aus ähnlichen familiären Verhältnissen kommen und auch aus diesem Grund möglicherweise miteinander harmonieren. Im Laufe dieses Segmentes intensiviert er seine Erzählung über die Parallele zu seinem Mann. Nachdem er die Art und die Häufigkeit des Kontaktes zu seiner Mutter relativ schnell geschildert hat, geht er auf die Mutter-Sohn-Beziehung seines Partners ein: „Meine Mutter spricht einige Dinge aus, die mich nerven, und wenn ich dann sauer bin, dann spreche ich auch ein paar Sätze aus, die ihr weh tun. Dann legen wir das Telefon auf. Und was weiß ich, nach 20 Tagen telefonieren wir noch mal, dieses Mal sprechen wir gut miteinander oder so. Das Verhältnis meines Mannes mit seiner Mutter ist auch ähnlich. Daher weiß seine Mutter von uns nichts, also sie weiß noch nicht, dass ihr Sohn mit einem Mann verheiratet ist.“ (Zeile 934-939)
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Ali stellt hier die Beziehungen zwischen Müttern und ihren schwulen Söhnen als beschädigt dar und geht dieser Problematik nicht weiter nach. Diese Situation verdeutlicht er am Beispiel der Mutter-Sohn-Beziehung seines Partners. Die große Distanz zwischen dem Partner und dessen Mutter einerseits und andererseits die frühere heterosexuelle Ehe sowie die Kinder aus dieser Ehe fungieren für ihn als Tarnung, so dass er sich bis zum Zeitpunkt des Interviews bei seiner Familie nicht als Schwuler offenbaren musste. Mit der folgenden Aussage, die für die in diesen beiden Fällen gestörten bzw. zerstörten Beziehungen zwischen Müttern und ihren schwulen Söhne gelten kann, beendet Ali seine Erzählung in diesem Segment: „Denn er hat sowohl zu seinem Bruder als auch zu seiner Mutter nicht so engen Kontakt, sie haben einen großen Abstand voneinander […] weil sein Bruder und seine Mutter noch nicht wissen, dass ihr Sohn homosexuell ist […] Denn er hatte schließlich geheiratet und zwei Söhnen bekommen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie vermuten würden, dass er homosexuell ist.“ (Zeile 943-948)
Segment 22: Diskriminierung Dieses Segment wird mit einer weiteren Nachfrage nach den möglichen strukturellen bzw. institutionellen Diskriminierungserfahrungen des Erzählers eingeleitet. Während im vorigen Segment der Schwerpunkt auf den beschädigten Mutter-SohnBeziehungen lag, stellte sich in diesem Segment die Frage, ob er sich in seinem sozialen Umfeld und bei Behördengängen mit seinem Partner diskriminiert fühlte. Aus der Aussage Alis Niemals, so was ist nicht geschehen (Zeile 953) geht hervor, dass er bis zum Zeitpunkt des Interviews noch keine Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht hat. Um dies zu beweisen, führt er als Beispiel an, dass er zwar vom früheren Partner seines Mannes bedroht wurde, aber diese Bedrohung nur mit Eifersucht zusammenhing. Es kam noch nicht zu homophober bzw. rassistischer Diskriminierung. Weder von der sozialen Umgebung des Partners noch durch Behörden: „Nachdem ich hier gekommen war, habe ich auch ihn kennen gelernt, ähm, und jetzt spricht er mit mir mehr als mit meinem Partner […] also ich habe jetzt mit ihm kein Problem. Auch mit seiner Frau und seinen Kindern habe ich kein Problem. Ein paar Mal haben wir uns mit einer Freundin meines Partners […] getroffen. Mit ihr habe ich auch kein Problem […] ich bin nicht auf solche Dinge gestoßen.“ (Zeile 961-966)
Im Anschluss an diese Aussage geht er auf die Frage des Interviewers nach institutionellen Diskriminierungen ein und betont wiederum, dass er und sein Partner Nichts Negatives erlebt [haben]. (Zeile 976) Aus dem gesamten Interview ergibt sich, dass der Interviewpartner sich nicht von einer konkreten bzw. spürbaren Dis-
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kriminierung betroffen fühlt. Weder in der Türkei noch in Deutschland kann er von institutioneller Diskriminierung sprechen: „Ich habe auch in der Türkei eine Bescheinigung gebraucht, um einen Mann heiraten zu dürfen, von dem Einwohneramt. Und dort war es extrem überfüllt, es gab sehr viele Arbeiter und sie arbeiteten mit ziemlich geringem Abstand voneinander. Auch dort begegnete ich nicht einer negativen Reaktion […] Aber ähnliche Dinge erlebt man wahrscheinlich auch hier.“ (Zeile 980ff.)
Dass er und sein Partner nicht auf Diskriminierungen gestoßen sind, begründet er mit einer eigenentwickelten deterministischen Theorie: Aber ich muss jetzt was sagen, wenn man zu seinem Gegenüber offen und aufrichtig ist, dann kann dein Gegenüber nichts Negatives zeigen, es ist egal, wer dein Gegenüber ist, das kann auch ein Türke sein. (Zeile 977-979) Mit dieser Aussage sagt er gleichzeitig, dass er den Pflichten eines Bürgers ehrlich und aufrichtig nachkommt und daher keinen Grund sieht, diskriminiert zu werden. Zum Schluss dieses Segmentes bringt er wieder sein Unbehagen über Deutschland zum Ausdruck und kündigt das Thema des nächsten Segments an. Segment 23: Ich habe ehrlich gesagt die Nase voll von hier. Während das vorangegangene Segment auf institutionelle und strukturelle Diskriminierungen abzielte, handelt dieses Segment von seiner Befindlichkeit in Deutschland und von seinem Unbehagen aufgrund seiner Erfahrungen mit der deutschen Bürokratie. Das Leben in Deutschland bezeichnet er als durch Bürokratie und Arbeit fremdbestimmt bzw. vorgeschrieben. Der Staat bedeutet für ihn bedrängende Vorschriften, Bürokratie und Arbeitswelt. In einem Land, in dem der Staat seine Bürger_innen bedrängt, könne sich Ali in der Zukunft kein Leben vorstellen: „Ich mag es nicht, so eng mit dem Staat zu leben. Ich mag nicht solche Dinge oder Formulare ausfüllen. Ich kann so was nicht machen. Deshalb möchte ich in der Zukunft nicht in Deutschland leben. Also nach einer bestimmten Zeit, wenn ich dann fit bin, möchte ich mit meinem Mann woanders hingehen. Also ich habe ehrlich gesagt die Nase voll von hier.“ (Zeile 993-996)
Interessant ist, dass er sich in Deutschland trotz der gesetzlichen Anerkennung seiner gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft nicht in guter Verfassung befindet. Während er im Ankunftland bezüglich seiner Homosexualität auf keine gravierenden Probleme stößt, hat er dort aufgrund der gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen ernsthafte Probleme, so dass er sogar daran denkt, das Land mit seinem Partner zu verlassen:
222 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE „Es reicht mir, bestimmte Dinge gesehen bzw. erlebt zu haben. Aber alles ist hier zu technisch. Zum Beispiel muss man irgendwoher eine Bewilligung bekommen, um auf den eigenen Balkon eine Satelliten-Antenne zu stellen. Alles ist vorgeschrieben, das ist zu viel für mich. Das Leben ist hier zu beengt. Ich mag das nicht. Deswegen habe ich, ehrlich gesagt, keine Lust hier zu bleiben. Das weiß auch mein Mann […] deswegen wünschen wir uns nur, dass wir zusammen und glücklich sein werden, und wir wollen nicht, dass man uns einengt. Ähm, deswegen will ich nicht in Deutschland leben […] ich werde nicht erlauben, dass mein Leben in Deutschland von der Arbeit bestimmt wird.“ (Zeile 998 ff)
An dieser Stelle des Segmentes regt sich Ali über die deutsche Bürokratie und gesellschaftlichen Strukturen auf und kritisiert sie empört. Damit kommen die mittelbaren migrationsbedingten Fremdheitserfahrungen zum Ausdruck. Seinen Aussagen ist auch zu entnehmen, dass er sich bewusst nicht an die deutsche Gesellschaft anpassen will. Denn er will kein fremdbestimmtes Leben führen. Für sein zukünftiges Vorhaben bekommt er auch die Unterstützung seines Partners, damit das Paar in Zukunft ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Als Lösung dieser Verlaufskurve der migrationsbedingten Fremdheit findet er den Weg, Deutschland zu verlassen. Das Segment wird mit einer neuen Nachfrage des Interviewers, die zu dem nächsten Segment überleitet, beendet: Viele [Homosexuelle] sind der Meinung, dass hier die einzige Stadt ist, wo sie sich ein Leben vorstellen können. (Zeile 1018) Segment 24: Wir existieren nicht in vielen Gesetzen. Im Anschluss an das vorangegangene Segment handelt dieses von Berlin als eine Metropole der Homosexuellen. Ali sieht sich jedoch nicht primär als Homosexueller: Aber ich habe mich nie als ein Homosexueller, also in Anführungszeichen Homosexueller gesehen. Ich bin in erster Linie ein Individuum. (Zeile 1021-1022) Mit dieser Aussage erklärt er, aus welchem Grund er sich nicht diskriminiert fühlt. An dieser Stelle fordert er den Interviewer auf, das Thema weiter auszuführen. Auf die Aussage des Interviewers denn die Homosexualität ist für viele Homosexuelle ein zentrales Thema (Zeile 1026) reagiert er empört und scheint über dieses Thema mit mir diskutieren zu wollen. Er stellt eine Behauptung auf: Ich teile das nicht. Der einzige Punkt der Homosexualität, der mich von den Anderen unterscheidet, ist Sex. (Zeile 1028-1029) Nach dieser Aussage gewinnt das Interview wieder an Erzählfluss. Auffällig in diesem Segment ist, dass Ali nicht von seinen Erfahrungen bzw. Erlebnissen erzählt, sondern Eigentheorien über die Homosexuellen anführt. Auch in diesem Segment regt er sich auf und kritisiert die Menschen, die sich mit ihrer Sexualität darstellen bzw. davon profitieren: „Ich mag es nicht, dass ein Mensch sich mit seiner Sexualität [sexuellen Identität] verwirklicht. Das ist unnötig […] Deswegen mag ich die Atmosphäre nicht, in der die Sexualität
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übertrieben wird. Es ist egal, ob es bei Frauen, bei Männern oder Homosexuellen ist. Ich bin nicht dabei, wenn ein Mensch nur seine Sexualität zum Ausdruck bringt. Denn er hat nichts anderes anzubieten.“ (Zeile 1057ff.)
Nach dieser Kritik des Interviewpartners thematisiert der Interviewer die Situationen der Homosexuellen, die immer diskriminierenden Handlungen der heteronormativen Gesellschaft ausgesetzt sind. Interviewer: Also, unser Problem ist, dass es so viele Dinge gibt, die für […] Homosexuelle beleidigend und verachtend sind. (Zeile 1072-1073) Daraufhin stellt Ali seine Eigentheorie über den Begriff der Diskriminierung dar. Folgendes Zitat macht die Auffassung des Erzählers deutlich: „Aber diese Beleidigungen, diese Verachtungen gelten nicht nur für Homosexuelle, sondern auch für Heterosexuelle. Stell dir ein Haus vor, wo nur die Heterosexuellen wohnen. Es würde reichen, um schlecht behandelt zu werden, wenn einer weniger verdienen oder Tag und Nacht Alkohol trinken würde. Ich werde nur wegen meiner Homosexualität schlecht behandelt […] also ich bin nur dagegen, dass man solche Sachen übertreibt […] Denn wir, also wir Homosexuellen machen das desto öffentlicher, je mehr wir diese Probleme diskutieren. Öffentlich machen ist besser, als nicht beachtet werden. Weil unser größtes Problem ist, dass wir nicht beachtet werden. Wir existieren nicht in vielen Gesetzen verschiedener zahlreicher Länder […] Deswegen versuchen wir, uns zu zeigen, indem wir etwas öffentlich machen.“ (Zeile 1074ff.)
Seine Kritik begründet er damit, dass die Homosexuellen zwar auf der Welt diskriminiert werden, aber sie zunächst auf sich fixiert sind und ihre Kampagne gegen Diskriminierungen übertreiben sowie die heterosexuellen Menschen, die aus verschiedenen Gründen auch diskriminiert werden, nicht beachten. Im Laufe seiner Begründung gibt er zwar zu, dass er als Homosexueller auf keine ernsten sozialen Probleme gestoßen ist, aber in seiner inneren Welt Einsamkeit oder ein Doppelleben aufgrund seiner sexuellen Orientierung ertragen musste. Trotz dieser persönlichen Probleme stellt er in erster Linie die allgemeinen Probleme der Menschen ins Zentrum seiner Ausführungen über Diskriminierung: „Ich habe (.) in meinem Leben wegen meiner Homosexualität nicht so ein großes Problem erlebt […] also, mit Problem meine ich, die Probleme die ich hatte, kann ich dir nicht erzählen, ich habe unzählige Probleme gehabt. Ich spreche von Einsamkeit […] oder den Zwang, immer etwas zu verstecken, zu verheimlichen, immer etwas zu schweigen, all das ermüdet den Menschen sehr […] Man verliert sehr viele Eigenschaften dadurch. Aber trotzdem gibt es auf dieser Erde nicht nur die Probleme der Homosexuellen.“ (Zeile 1086-1093)
Nach dieser Erklärung baut er seine Eigentheorie weiter aus und gründet sie auf die Geschichte der Menschheit. Demnach gibt es in der Geschichte der Menschen stets
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Probleme, die durch die Menschen geschaffen werden. Diese Behauptung belegt er, indem er verschiedene Beispiele über verschiedene Formen der Diskriminierung gibt, wie die Probleme der Frauen oder die Situation der Menschen mit Behinderung und die Diskriminierung der Schwarzen. Er ist der Meinung, dass die von ihm genannten Probleme als Instrument zum Nutzen einer bestimmten sozialen Schicht entstanden sind: „Wenn wir auf die Geschichte der Menschheit zurückblicken, sehen wir, dass zuerst die Frauen, die Schwarzen unter sehr vielen Problemen gelitten haben, indem man sie als Hexen oder Bürger der zweiten Klasse behandelt hat. Die Frauen, die immer noch denken, dass sie immer noch nicht frei seien, beschäftigen sich ständig damit. Ähm, du weißt ja, dass die Frauen in der Geschichte der Menschheit ein Problem darstellen. Und danach wurden die Schwarzen zum Problem gemacht. Und jetzt sind die Homosexuellen das Problem. Die Menschen sind ohnehin vom Kopf an problematisch. Ich möchte nicht, dass man mir wegen meiner Homosexualität Sonderrechte einräumt. Ich will das nicht. Weder in positiver noch in negativer Hinsicht.“ (Zeile 1097-1104)
Seiner Ansicht nach brauchen die Menschen, die einer hegemonialen Schicht angehören, immer wieder andere Menschen, die zu den Schwächeren zählen, um ihre Macht durchzusetzen. Aus dieser Aussage geht hervor, dass er weiß, wie Menschen klassifiziert werden. Hier spricht er möglicherweise von rassistischen, sexistischen Diskriminierungen, worunter Men and Women of Color leiden. Diese Art der Diskriminierungen bezeichnet er als ursprüngliche Probleme der Menschheit in der Geschichte. Er sieht das Problem der Homosexualität als einen Teil der hegemonialen heteronormativen Mehrheitsgesellschaften. Dieses Problem stellt für Ali einen Raum für die Ausübung der Macht dar. Indem diejenigen, die die Macht inne haben, den Homosexuellen Sonderrechte einräumen, machen sie die Homosexuellen von sich abhängig. Diese Situation, dass er nur als Homosexueller wahrgenommen wird, ist für ihn nicht akzeptabel. Diese Reduzierung auf die (Homo)Sexualität empfindet er diskriminierend. Im Laufe seiner Erzählung macht er deutlich, dass er diese Reduzierung ablehnt und versucht zu erläutern, dass er als Mensch mehr ist als lediglich ein Homosexueller. Denn es gibt zwischen Heterosexuellen und Homosexuellen keinen einzigen Unterschied. Nur aus diesem einzigen Grund sollten Menschen nicht voneinander unterschieden werden, so Ali: „Und wo ist nun der Unterschied, mich von den anderen zu differenzieren. Ich möchte die Homosexualität nicht als das einzige Problem wahrnehmen. Ich möchte nicht nur für die Homosexuellen kämpfen. Ich wünsche mir wirklich eine Welt, in der alle Menschen sich gegenseitig lieben. Ich wünsche mir eine Welt, in der keiner den anderen ausbeutet, und wo keiner Geheimnisse hat. Mein Problem ist das.“ (Zeile 1112ff.)
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Interessant ist, dass Ali in diesem Segment sowohl die heteronormative Gesellschaft als auch die homosexuelle Szene kritisiert. Die Kritik an der heteronormativen Gesellschaft basiert auf vorurteilsbehafteten Etikettierungen gegenüber den Homosexuellen. Zugleich übt er Kritik an der Einstellung einer bestimmten Gruppe Homosexueller, die sich auf ihre sexuelle Orientierung reduziert: auf diese Weise bedienen diese mehrheitsgesellschaftliche Klischees gegenüber Homosexuellen: „Denn du bist schließlich der Andere. Sie haben dich so etikettiert. Du bist der Andere. Auch wenn du dich zerreißen würdest, dass du doch nicht anders bist. Wenn du dich als Homosexueller zu verwirklichen versuchst, dann bist du der Andere, du hast keine andere Wahl. Denn das ist dein Etikett. Aber wenn du dich nicht als Homosexueller sondern als ein Individuum verwirklichen würdest, dann verlieren diese Etikettierungen an Bedeutung, ob du homosexuell oder heterosexuell bist, oder Frau, Behinderter bist, macht keinen Unterschied. Man muss zuerst lernen, ein Individuum zu sein, ehrlich zu sein.“ (Zeile 1144-1150)
Mit dieser Aussage ruft Ali andere homosexuelle Personen auf, sich nicht auf die Reduzierung durch die heteronormative Gesellschaft einzulassen und sich dagegen zu wehren. Homosexuelle Personen sollten keinesfalls die klischeehaften Kategorisierungen bedienen. Dieses Segment endet mit dem Aufruf an benachteiligte Menschen, die aufgrund des Geschlechts bzw. der sexuellen Orientierung sowie einer Behinderung diskriminiert werden. Auf diese Weise muss man nach Alis Auffassung die Marginalisierung durch die heteronormative Mehrheitsgesellschaft bekämpfen und zeigen, dass die Menschen im Grunde gleich sind. Segment 25: Weil wir anders sind, ist auch diese Ehe die andere Ehe. Das 25. Segment beginnt mit einer neuen externen Nachfrage über das LpartG. Der Interviewer fordert den Erzähler auf, seine Meinung zum LpartG, das am 1. August 2001 in Kraft trat, zu äußern. Ali leitet seine Erzählung mit seiner Einstellung zu der Institution der Ehe, die er eigentlich ablehnt, ein: Ich würde es so erklären, unter normalen Umständen bin ich gegen die Heirat. Ich kann, ähm, über die Heirat die ganze Nacht reden. Ich kann mehrere Argumente sagen, warum man nicht heiraten soll. (Zeile 1188-1191) Mit normalen Umständen meint er in erster Linie die Realisierung der heteronormativen Ehe bzw. Heirat. Damit verallgemeinert er die Bedingungen heterosexuell orientierter Ehen und bewertet sie eher negativ. Dass er mehrere Argumente gegen die Institution der Ehe nennen kann, ist möglicherweise ein Beweis dafür, dass er negative Erfahrungen mit der heteronormativen Ehe in seinem nächsten Umfeld gemacht bzw. beobachtet hat. Bevor er in seiner Erzählung auf die Argumente gegen die heteronormative Ehe eingeht, erwähnt er zusammenfassend, dass er das LpartG für die gleichgeschlechtlichen Pare befürwortet: Weil wir anders sind, ist auch diese Ehe die andere Ehe […] Deswegen bin
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ich für die homosexuelle Ehe, damit die Menschen bestimmte Dinge besser sehen und verstehen können. Ich glaube, ich unterstütze die Homo-Ehe […] Ich kann aber nicht sagen, dass ich die Institution der Heirat befürworte. (Zeile 1193-1198) Diese argumentative Aussage verdeutlicht Alis positive Haltung zur gleichgeschlechtlichen eingetragenen Lebenspartnerschaft. Die Identifikation mit den Homosexuellen kommt mit wir zum Ausdruck. Mit der kausalen Differenzierung anhand dieser Identifikation, also anders zu sein, begründet er seine Bejahung der Homo-Ehe. Weil wir anders sind, ist die Homo-Ehe eine andere Ehe. Damit erfolgt nicht nur die Differenzierung seiner selbst von der heteronormativen Gesellschaft, sondern auch die homosexueller Lebensweisen. Während er die heterosexuelle Ehe als problematisch empfindet bzw. wahrnimmt, versucht er, der Mehrheit zu vermitteln, dass homosexuelle Lebenspartnerschaften unerlässlich sind, so dass die Heterosexuellen sich im günstigsten Fall von den möglichen klischeehaften Vorurteilen befreien können. Danach kommt er auf die Argumente gegen die Institution der heteronormativen Ehe zurück. Er lehnt die Hetero-Ehe mit folgender Behauptung ab: Denn ich weiß, dass viele der heterosexuellen Ehen auf einer Lüge basieren. (Zeile 1200-1201) Diese starke evaluative Aussage belegt er in seiner weiteren Erzählung mit bestimmten Beispielen aus seiner Vergangenheit. Nach seinem 1,5 jährigen Aufenthalt in Deutschland und dem Wehrdienst in der Türkei trat er im Alter von ca. 25 Jahren ins zivile Leben ein. Diese Zeit ist für ihn von biographischer Relevanz, weil er damals anfangen konnte, homosexuelle Kontakte aufzunehmen. Die Männer, zu denen er sexuelle Kontakte hatte, waren meistens verheiratet und älter: „Als ich wieder nach Deutschland kam und 1,5 Jahre da blieb und wieder in die Türkei zurückkehrte, habe ich meinen Wehrdienst geleistet. Danach konnte ich langsam lernen, wo ich Sex finden kann. In meiner Heimat habe ich mit sehr vielen Männern zusammen geschlafen. […] Also die Männer, mit denen ich zusammen war, waren […] verheiratet. Also sie sollten alt [oder älter] sein. Also ich konnte nicht mit einem Mann zusammen sein, der unter 30 war. Weil ich mit den Männern von und über diesem Alter zusammen war, waren 98% dieser Männer verheiratet.“ (Zeile 1201-1208)
Mit und nach dieser Hintergrundkonstruktion versucht er zu begründen, worauf seine Behauptung über die heterosexuellen Ehen basiert. Hier kommt das Doppelleben der Mehrzahl der Zwangsheterosexuellen zur Sprache. Die damaligen verheirateten Männer bezeichneten sich einerseits als heterosexuell, andererseits traten sie in homosexuelle Kontakte mit Ali. Das Doppelleben dieser Männer bewertet er in moralischer Weise und spricht über seine damaligen Beobachtungen mit Blick auf die vergangenen Erlebnisse bzw. Erfahrungen mit diesen Männern. Im folgenden Zitat kommt die Wahrnehmung und Bewertung der Vergangenheit hinsichtlich seiner homosexuellen Erfahrungen aus heutiger Sicht zum Ausdruck:
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„Nun, ein Mann, der mit mir den ganzen Abend Sex hatte und in meinem Arm schlief, ging langsam um 10 Uhr 30, 11.00 Uhr nach Hause. Er achtete auf einige Sachen. Als er sich anzog zum Beispiel. Oder er benutzte gar kein Shampoo, wenn er duschen musste. Warum? Damit er nicht riecht. Also er nimmt einfach so eine trockene Dusche oder macht eine religiöse Waschung18. Warum? Weil er seiner Religion treu ist. OK, du bist deiner Religion treu, aber was ist denn mit deiner Frau, die zu Hause auf dich wartet. Und was bin ich, und was bist du hier, also bitte schön […] wie kannst du denn deine Frau betrügen, wenn du so religiös bist. Er muss unbedingt die religiöse Waschung machen, denn wir haben Sex gehabt. Das ist zu widersprüchlich, verstehst du […] Weißt du, die Heterosexuellen sind unglaublich widersprüchliche Menschen. Also sie artikulieren sich nicht so, wie sie sind, sondern so, wie sie sein wollen […] Sie haben Prototypen in ihren Köpfen, so, charmant, großzügig, ehrlich […] Auch wenn sie nicht so sind, versuchen sie, sich so darzustellen und ihr Leben geht einfach so weiter. Und das ist wie eine Lüge, also. Jetzt hast du vielleicht mit mir Sex, dann gehst du zu deiner Frau, und vielleicht hast du auch mit ihr Sex, und am nächsten Tag gehst du zur Arbeit. Alles, was du hast, ist Lüge […] Und ich habe leider mit solchen Typen Sex machen müssen. Aber ich war gezwungen.“ (Zeile 1210 ff.)
Diese deskriptive bewertende Erzählung fungiert einerseits als Darstellung der Situation verheirateter Zwangsheterosexueller und andererseits als moralische Kritik an ihnen. Somit versucht Ali sich zu differenzieren und zu zeigen, dass er trotz dieser gesellschaftlichen Zwänge zu seiner Homosexualität stand bzw. steht. Die Behauptung, dass heterosexuelle Ehen auf der Lüge basieren, wurde mit dem oben angeführten Zitat von ihm bewiesen. Im Anschluss an diese Aussage geht der Interviewpartner in sich und empfindet während seiner Erzählung Reue darüber, damals mit diesen Männern sexuelle Begegnungen gehabt zu haben. Diese ausgesprochene Reue leitet in diesem Segment ein Untersegment ein, in dem Ali versucht, sich bzw. seine frühere Lebenssituation als Schwuler zu rechtfertigen. Dass Ali mit diesen Männern in sexuellen Kontakt treten musste, hatte auch seine Gründe. Aber ich war gezwungen (Zeile 1228) bedeutet in erster Linie, dass seine Situation als ungefähr 25 jähriger aufgrund des gesellschaftlichen Gefüges bedrückend war. Wenn man die Zeitsituation in Betracht zieht, kann man davon ausgehen, dass die sexuelle Aufklärung damals unzureichend war und deshalb die Vielfalt von Sexualität noch nicht akzeptiert wurde. So musste ein Schwuler damals die Gelegenheiten ergreifen, bei denen es ihm möglich war, seine Homosexualität auszuleben:
18 Religiöse Waschung (Abdest oder Aptes): Abdest ist vorgeschrieben vor dem Gebet zur Herstellung des Zustands ritueller Reinheit. Die rituelle Reinheit kann auf folgende Weise zerstört werden: 1. Hautkontakt zwischen Mann und Frau. 2. Die Benutzung der Toilette. 3. Ohnmacht und Schlaf und 4. Das Berühren der Geschlechtsteile. (siehe: http:// www.unidue.de/imperia/md/content/elise/materialien_tak3.pdf 25)
228 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE „Ich habe es getan. Denn sie waren für mich einfach nur Körper. Ich habe mir sehr gewünscht, über diesen Körpern auch Köpfe zu finden, aber ich konnte gar keinen finden. Und ich kann sagen, dass ich bis zu meinem 43. Lebensjahr keine richtige langjährige Beziehung haben durfte.“ (Zeile 1230-1233)
Diese Aussage führt er als Beleg für die Lebenszwänge in seinem damaligen Lebensraum an. Die Sehnsucht nach einer zärtlichen langjährigen homosexuellen Beziehung wird hier sehr deutlich ausgedrückt. Dass er bis zum Alter von 43 Jahren keine homosexuelle Partnerschaft haben konnte, kann bedeuten, dass er nach seinem 43. Lebensjahr die Partnerschaft gefunden hat, nach der er sich lange Zeit sehnte. Hier bilanziert er die Zeit bis zu seinem 43. Lebensjahr. Bis dahin hatte er zwar Kontakte zu Männern, die er nur als Körper bezeichnet, um seine Sexualität auszuleben. Die fehlende Köpfe über diesen Körpern bedeutet jedoch, dass diese Männer nur dem sexuellen Zweck dienten und damit möglicherweise zufrieden waren. Zumal war es ihnen wohl wichtiger, dass diese Kontakte nur auf sexueller Ebene blieben und nicht auf eine partnerschaftliche oder freundschaftliche Ebene erweitert wurden. Erst im Alter von 43 Jahren hat Ali seinen gegenwärtigen Partner kennen gelernt und ist durch ihn nach Deutschland gekommen. Im Folgenden beginnt ein neues Untersegment mit einem Vergleich der Sitaution der Schwulen in der Türkei und in Deutschland: „Du kannst in der Türkei höchstens nur ein Verhältnis von einem Typen sein. Dieses Verhältnis kannst auch du nicht benennen. Der Typ kann verheiratet sein oder auch ledig, und er kann mit dir schlafen, aber das ist alles. Also du bist nur ein Verhältnis für ihn. Nichts anderes. Also, wenn du in der Türkei eine [uneheliche] heterosexuelle Beziehung betrachtest, man sagt ja auf Türkisch [Bett-]Freundin. Und du bist [als Schwuler] auch ein [Bett-]Freund, also nur ein Verhältnis. Du kannst weder Partner sein noch Geliebter. Du kannst nichts sein. Freund kannst du sowieso nicht sein. Aufgrund der fortgeschrittenen gesetzlichen Situation hast du hier mindestens die Chance, Partner von jemandem zu sein oder aufgrund toleranterer gesellschaftlicher Strukturen hast du auch die Chance, Geliebter von jemandem zu sein. Ich denke, das ist ein großer Unterschied. Und das ist einer der Gründe, warum mehrere Homosexuelle hierher kommen und das hier als Paradies wahrnehmen. Denn sie sind dort nur ein Nichts. Im Sinne einer Beziehung sind sie nur ein Nichts. Entschuldige mich, aber die sind nur diejenigen, die, ähm, gut zu ficken sind. Wir waren dort leider so. Also du bist dort nur jemand, der gefickt werden kann. Er kommt, fickt dich, und dann geht er wieder. Zu Hause gibt es bestimmt eine glückliche Familie. Kernfamilie.“ (Zeile 1236ff.)
Aus diesem Zitat wird ersichtlich, dass Ali sich über die Situation der Homosexuellen in der Türkei empört. Durch seine Empörung teilt er mit, dass die schwulen Männer dort in der Gesellschaft stigmatisiert und auf ihr Schwulsein reduziert werden. Die schwulen Männer werden dort abgewertet und als Sexobjekt von heterose-
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xuellen Männern ausgenutzt. Dass man sie weder als Freund noch als Partner akzeptiert, zeigt, wie sie nur als Instrument der sexuellen Befriedigung angesehen werden. So kristallisiert sich heraus, dass die soziale Existenz zahlreicher homosexueller Männer dort nicht anerkannt wird. Auch wenn Ali die Situation der Schwulen in der Türkei verallgemeinert, geht er sicherlich von seinen individuellen negativen Erfahrungen aus. An dieser Stelle des Interviews leitet er zu einem neuen Thema über, nämlich zur Situation der Homosexuellen in Deutschland. Ali spricht über die Lage der Homosexuellen in Deutschland ziemlich positiv, so dass er sich während seiner Erzählung beruhigen kann. Hier findet das Thema des LpartG eine besondere Erwähnung. Die soziale Existenz eines Homosexuellen ist per Gesetz gesichert, so Ali. Das Rechtssystem Deutschlands bezüglich der Homosexuellen schildert er als fortgeschritten. Die Gesellschaft in Deutschland betrachtete er als toleranter. Aus diesen Gründen zieht er den Schluss, dass viele ausländische Homosexuelle nach Deutschland kommen, weil sie hier aufgrund ihrer sexuellen Orientierung weniger diskriminiert würden. Nach seiner Darstellung über Deutschland geht er nochmal auf die Türkei ein und greift ironisch auf das Thema Lüge in heterosexuellen Ehen zurück. Die Ironie der glücklichen Kernfamilie bezieht sich wiederum auf seine Behauptung über Lüge. Weil der Ehemann mit Homosexuellen heimlich verkehrt und sich zu Hause als guten Ehemann darstellt, bezeichnet er die Ehe dieses Mannes als Lüge. Das Segment schließt Ali wieder mit einem Hinweis an Homosexuelle. So teilt er mit, dass es in der Türkei möglich ist, dass man offen mit seiner sexuellen Orientierung leben kann. Das ist nicht unmöglich. (Zeile 1258-1259) Auch wenn diese Aussage seiner Darstellung der Türkei in Bezug auf die Situation der Homosexuellen zu widersprechen scheint, ruft er Gleichgesinnte auf, zur eigenen Homosexualität zu stehen und sich nicht zu verleugnen: Man muss alles in Kauf nehmen können, dass man alles verlieren könnte, trotzdem muss man zu seiner eigenen Identität stehen können. (Zeile 1268-1269) Segment 26: Ich musste dieser Gesellschaft einfach sagen […] dass ich homosexuell bin. Dieses Segment handelt von der Erwerbstätigkeit des Interviewpartners. Im 14. Segment teilte der Interviewpartner mit, dass er in der Türkei von Beruf Photograph war. Der Interviewer greift auf diese Aussage über seine Tätigkeit zurück und erinnert ihn an seine berufliche Situation in der Türkei. Ali begreift die Nachfrage des Interviewers relativ schnell und beginnt zu berichten, welche Jobs er in seinem Leben ausgeübt hatte. Seine berufliche Lage bewertet er als etwas kompliziert (Zeile 1274). Die Erzählung wird mit einer weiteren Erinnerungshilfe des Interviewers an das VWL-Studium Alis aufrechterhalten. Mithilfe dieser Frage gelingt es ihm, wieder fließend über seine berufliche Biographie zu erzählen.
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Aufgrund des persönlichen Desinteresses für das Studienfach brach er im dritten Jahr sein Studium ab. Im Folgenden führt er eine rechtfertigende Hintergrundkonstruktion für den Abbruch des VWL-Studiums an: Ich bin von der Struktur her nicht so ein Typ, der mit Technik umgehen kann. Mein Verhältnis zu Geld ist leider nicht so erfolgreich. Ich habe in meinem Leben fast alles geschafft, aber vielleicht außer dem Geldverdienen habe ich fast alles geschafft […] Deswegen ist die VWL nichts für mich. (Zeile 1278-1280) Das Studium der Volkwirtschaftslehre ist für ihn Synonym für die Technik des Geldverdienens. Weil er ohnehin nicht mit der Technik und dem Geld umgehen könne, habe er kein Verhältnis zum Geld, so dass er keinen Sinn darin gefunden habe, sein Studium abzuschließen. Nach dem abgebrochenen Studium versucht Ali, sich in verschiedenen Bereichen des Arbeitsmarktes zu verwirklichen. Hier folgt eine deskriptive Erzählung, das heißt, er schildert die Geschichte seines Arbeitslebens, indem er in seiner Darstellung häufig zum Ausdruck bringt, dass er auch beruflich vielfältig sei: Aber wenn du mich fragen würdest, was für Jobs ich gemacht habe, dann gibt es einen breiten Fächer [Spektrum]. (Zeile 1283-1284) Nach dieser Aussage ergreift der Interviewer das Wort und formuliert seine Nachfrage erneut um: Hattest du beispielweise Jobs, wo du dich wohl gefühlt hast oder verwirklichen konntest? (Zeile 1285) Die Antwort auf diese Frage beginnt mit einer Erzählung, die deutlich macht, dass er die Grenzen seiner Erwerbstätigkeit durchaus realistisch beurteilen kann. So ist aus seiner Antwort ersichtlich, dass er zwar in verschiedenen Bereichen gearbeitet hat, jedoch fand er keinen Job, in dem er sich verwirklichen konnte. Obwohl er in verschiedenen Bereichen tätig war, fühlte er sich nicht einem Job zugehörig. Diese These belegt er wie folgt: „Ich denke, dass ich bis jetzt keine professionellen Jobs ausgeübt habe […] um eine professionelle Arbeit leisten zu können, muss man die ganzen Details, alles wissen. Und man muss das wirklich sehr gut machen können, wenn man das sehr gut macht, dann muss er auch sehr gutes Geld verdienen. Aber keins von diesen drei [Kriterien] hatte ich in meinem Leben miteinander gehabt. Ich habe meine Arbeit sehr gut gemacht, aber konnte kein gutes Geld verdienen oder ich habe gutes Geld verdient, aber keine richtige Arbeit geleistet und so weiter und sofort. Deswegen sage ich ja, dass ich nie professionell war. Und weil ich nicht professionell war, konnte ich mich nirgendwohin zugehörig fühlen, so eine Chance habe ich nicht gehabt.“ (Zeile 1288ff.)
Aus dieser Aussage ergibt sich als wichtigste Voraussetzung eines Berufes für Ali, dass man in seinem Arbeitsfeld professionell sein muss, um sich verwirklichen zu können. Dafür muss man über entsprechende umfassende und detaillierte Fachkenntnisse verfügen. Die professionelle Arbeit und ein guter Verdienst hängen miteinander zusammen. Ali berichtet, dass er nicht professionell arbeiten konnte. Dies führt er mittelbar auf die wirtschaftliche Situation seines Landes zurück. Obwohl er
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eine gute professionelle Arbeit geleistet hat, konnte er nicht viel verdienen. Oder er hat gutes Geld verdient, ohne viel gearbeitet zu haben. Diese Ironie richtet er vermutlich mittelbar an den türkischen Staat, weil er in der Türkei keine Möglichkeit für eine professionelle Arbeit gefunden hat. Nach dieser Hintergrundkonstruktionserzählung über seine damalige berufliche Lage fängt er an zu schildern, in welchen Bereichen er erwerbstätig war. In seiner Erzählung betont er, dass er verschiedene gegensätzliche Jobs ausgeübt habe. Ob der Grund dafür seine Vielseitigkeit oder die problematische wirtschaftliche Situation des Landes war, bleibt an dieser Stelle unklar. Wichtig ist zu erwähnen, dass Ali betont, in jeder seiner Erwerbstätigkeiten mit Lust und Genuss gearbeitet zu haben und stolz darauf zu sein scheint, ziemlich gegensätzliche Arbeiten ausgeübt zu haben: „Aber ich habe meine Jobs, egal welche, mit sehr viel Liebe gemacht. Mit einem Job, den ich nicht mochte, habe ich sowieso in kurzer Zeit aufgehört […] Also ich habe Jobs von Bürgermeisterkandidatur bis Basarverkäufer gemacht. Oder ich war regionaler stellvertretender Vorsitzender einer Firma. Also ich habe auf der Straße Muscheln verkauft, ich habe eine große Firma in einer ganzen Region vertreten, ich habe mich mit Politik beschäftigt […] Also ich habe so ein Arbeitsleben, welches ein sehr breites Panorama [Spektrum] hat. Ich glaube, das wird auch in der Zukunft so sein. Also ich habe sowohl in einer Bar gearbeitet, als auch auf der Straße, ähm, in bestimmten verschiedenen Städten habe ich gearbeitet, also in der Zeit meines Deutschlandaufenthaltes und auch noch davor habe ich auch Reinigung[sarbeit] gemacht. Also kurz und gut, ich hab die ganze Scheiße gemacht.“ (Zeile 1302-1310)
Nach dieser berichtartigen Erzählung über sein Arbeitsleben leitet der Interviewer durch eine Nachfrage ein neues Thema bezüglich der Erwerbstätigkeit Alis ein. Der Interviewer stellt die These auf, dass Ali die oben aufgezählten Tätigkeiten bewusst ausgewählt bzw. ausgeübt hat. Im gesamten Interview geht der Interviewer davon aus, dass der Erzähler meistens die Jobs gesucht hat, die menschliche bzw. soziale Kontakte voraussetzen. Der Interviewpartner bestätigt die These des Forschers: „Ich habe immer mit Menschen zu tun gehabt […] Ich bin ein Mensch, der sehr gerne redet. Und ich glaube, dass ich auch gut reden kann. Außerdem weiß ich auch, dass es bestätigt wird. Also von vielen Menschen […] in dieser Hinsicht ist das für mich ein großer Trumpf, also das Sprechen. Ähm, ich glaube, je mehr ich die Menschen durch das Sprechen überreden könnte, desto erfolgreicher wäre ich. Aber Verkauf zählt nicht dazu. Also Handel und Verkauf.“ (Zeile 1320-1328)
Mit dieser Aussage geht er auf einen seiner Charakterzüge ein. Daraus, dass er sehr gut reden kann und oft Komplimente über seine gute Sprachfähigkeit bekommt, entwickelt er sein Selbstbewusstsein. So sieht er seine Redekompetenz als großen Vorteil an, so dass er sich in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarktes mit Erfolg
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behaupten kann. Während er an dieser Stelle sich bzw. sein Sprechtalent positiv beschreibt, sieht er auf der anderen Seite, dass er nicht in jedem Bereich erfolgreich sein könnte, wie in den Handels- und Verkaufsbranchen. Wenn es sich um Verkauf bzw. Gewinn handelt, verliert Ali sein starkes Selbstbewusstsein und stockt beim Sprechen. Er erklärt dies damit, dass es zwischen gewinnorientiertem Verkauf und der Lüge einen Zusammenhang gäbe. Hier wird wieder deutlich, dass er sich mit dem Thema Lüge oft auseinandersetzt, so dass dieses Thema auch die Gestaltung seiner biographischen Narration beeinflusst. Nachdem er eine Definition der Lüge entworfen hat, begründet er, aus welchem Grund er nicht als Verkäufer arbeiten kann: Deshalb möchte ich ein Leben ohne Lüge haben (…) deswegen ist der Verkauf unmöglich […] ich kann es nicht. Nur für das Geld lügen, kann ich nicht, ich beiße mir dann auf die Zunge. Es geht nicht. (Zeile 1347-1350) Das folgende Untersegment bezieht sich auf diese letzte Aussage; das abschließende Thema behandelt das Coming-out und den letzten Job des Erzählers in der Türkei. Vor der Deutschlandreise war er bei einer türkeiweit tätigen großen Tourismus-Firma als Leiter im Kundenservice beschäftigt. In diesem Bereich konnte er mit den Kunden reden, war aber nicht für den Verkauf zuständig. Seine Stelle beschreibt er mit Stolz, weil ihm 750 Beschäftigte unterstanden und er eine leitende Position innehatte. In dieser Situation als Leiter war er damals mit seinem Doppelleben nicht zufrieden, denn er widersprach sich selbst. Dies empfand er als derart unangenehm, dass er sich in der Firma als Schwuler bekennen musste. Obwohl er sich früher in anderen Bereichen bereits geoutet hatte, bezeichnet er dieses Comingout in der Firma als wirkliches Coming-out. Um sein Doppelleben zu beenden, nicht mehr lügen zu müssen und wieder ein gutes Gewissen zu bekommen, trifft er die Entscheidung, seinen Job zu kündigen: „Aber ich konnte wirklich nichts machen. Und am Ende also nach meinem Coming-out, das war aber nicht das erste Coming-out, aber als ich mich dann wirklich geoutet hatte, war allererste Sache, dass ich meinen Job gekündigt habe. Während ich einerseits ein Gehalt von Mil19
liarden bekam, war ich auf ein Mal auf Null [Lira] gesunken.“ (Zeile 1365-1368)
Auffällig ist, dass Ali in diesem Segment über seine schlechten Erfahrungen aufgrund seiner Homosexualität offener redet als in den vorangegangenen Segmenten. Auch wenn er nicht unmittelbar von Diskriminierungen erzählt, spricht er hier von Ausgrenzungsmechanismen. Hier ist nicht ersichtlich, was für Folgen sein Comingout hatte, jedoch bringt er Argumentationen für sein Coming-out und schließt das Segment ab:
19 Nach türkischer Währung konnte man bis Anfang der 2000 er Jahre Milliarden Lira Lohn erhalten. 1 Milliarde Lira entsprechen heute circa 2500 €.
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„Wenn ich immer wieder lügen musste, dass ich nicht homosexuell bin. Ich musste dieser Gesellschaft einfach sagen können, dass ich homosexuell bin, und sie sollten mich in Ruhe lassen, damit ich meine Arbeit machen konnte. Und ich wollte, dass sie mir vertrauen. Aber es wäre nicht so gegangen. Ich hätte mit den ziemlich oberflächlichen Menschen zusammen arbeiten müssen (..) […] es war für mich viel besser und einfacher, diese Menschen aus meinem Leben zu nehmen, und das Leben weiter zu führen. Dann habe ich das so gemacht.“ (Zeile 1373-1379)
Segment 27: Biographisches In diesem Teil der Nachfragephase geht es um die biographisch relevanten objektiven Daten. Ali hat eine sechs Jahre ältere Schwester, und sein Vater ist zum Zeitpunkt des Interviews vor sieben bis acht Jahren verstorben. Zu seiner Mutter hat er keinen engen Kontakt. Nach dieser groben Beschreibung seiner Familie geht er auf die berufliche Tätigkeit seines Partners ein. Der Partner stammt aus der ehemaligen DDR. Nach dem Fall der Mauer kommt er nach Westberlin, um einen besseren Job zu finden. Dort hat er eine Weiterbildung im Bereich der Gastronomie absolviert und danach eine Stelle bei einer Catering-Firma gefunden. Zur Zeit des Interviews ist Ali arbeitslos und wird wahrscheinlich von seinem Partner unterstützt. Segment 28: Denn ich lebe 24 Stunden deutsch. Nachdem er im vorangegangenen Segment über seine Familie und seinen Partner berichtet hat, kommt er auf das Thema Kommunikation in der Partnerschaft zu sprechen. Die erstmalige Ankunft Alis in Deutschland ist zum Zeitpunkt des Interviews 23 Jahre her, und der damalige Aufenthalt in der BRD beschränkte sich auf nur 1,5 Jahre. Deshalb kann man annehmen, dass seine deutschen Sprachkenntnisse im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten sind. Es stellt sich daher die Frage, in welcher Sprache das Paar in der jetzigen Beziehung kommuniziert. Nach 23 Jahren kann er nicht mehr gut deutsch sprechen, so dass beide Partner eine gemeinsame Sprache finden mussten, um sich verständigen zu können. Zu Beginn der Partnerschaft sprachen sie englisch. Mit der Ankunft Alis in Deutschland hatten sie sich entschieden, zu Hause nur deutsch zu reden, damit Ali die Sprache besser lernt. Das Thema Sprache berührt Ali besonders, denn einerseits redet er sehr gerne, andererseits fühlt er sich in Deutschland in der Verständigung mit anderen aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse blockiert. Den Prozess des Erlernens der deutschen Sprache beschreibt er als anstrengend, weil er meint, dass es nicht leicht ist, ab einem bestimmten Alter eine neue Sprache zu erlernen: Jedoch werde ich nicht eine Sprache wie meine Muttersprache entwickeln können, […] Egal um welche Fremdsprache es geht, ist das so. Ich denke, es ist zu schwierig. Zum Beispiel spreche ich
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das Türkisch mit Gefühlen […] Aber Deutsch oder eine andere Fremdsprache spreche ich nur technisch. (Zeile 1452-1455) Aus diesem Vergleich ergibt sich, dass Ali innige emotionale Unterhaltungen vermisst, denn er ist der Auffassung, dass er gefühlsbetonte Unterhaltungen nur in seiner Muttersprache führen kann. Im Gegensatz dazu glaubt er nicht, sich in einer Fremdsprache gefühlsmäßig ausdrücken zu können. Ob diese sprachliche Barriere in der Paarbeziehung eine Kommunikationshürde darstellt, ist eine der zentralen Fragen dieses Segmentes. Aufgrund der fehlenden gemeinsamen Sprachkenntnisse fühlt er sich in der Partnerschaft möglicherweise einsam. So sieht er die Interviewsituation als eine Gelegenheit, seinen Durst nach Sprechen auf Türkisch zu stillen: Du siehst, wie ich hier rede, ich rede ziemlich viel, sag ich dir. Ich kann mit meinem Partner nicht soviel reden […] Denn ich kann nichts sagen. Denn wenn du etwas nicht vollständig sagst, dann kann es zu einem Missverständnis führen. (Zeile 14721478) Die Angst davor, falsch verstanden zu werden, stellt sich als Kommunikationsbarriere innerhalb der Partnerschaft dar. Anstatt auf diese Angst einzugehen, bevorzugt er das Schweigen. Ob sein Partner ihn beim Erlernen der Sprache unterstützt, findet im Interview keine Erwähnung; darüber hinaus erzählt er auch nicht davon, ob sein Partner Türkisch lernen will. Ali begründet diese Sprachschwierigkeiten mit dem höheren Alter. Er behauptet, dass er in seinem Alter nicht mehr die Ressourcen hat, eine andere Fremdsprache zu erlernen: „Ich glaube nicht, dass ich [die Fremdsprache] beherrschen werde. Ich bin jetzt sowieso 43 Jahre alt. Es ist ohnehin schwierig, nach 43 eine Fremdsprache zu lernen. Und wenn ich die Sprache so gut gelernt habe, dass ich mich umfassend ausdrücken kann, werde ich dann 50. Und nach 50 möchte ich also nicht über die deutsche Sprache sprechen.“ (Zeile 1465-1468)
Während diese Situationen eine Verlaufskurve in der partnerschaftlichen Kommunikation darstellen, wird im Interview nicht direkt thematisiert, wie das Paar mit dieser Situation umgeht. Im folgenden abschließenden Teil dieses Segments beschreibt er auf der einen Seite seine Freizeitgestaltung, auf der anderen Seite schildert er seine individuellen Bemühungen um das Erlernen der deutschen Sprache. In der folgenden Aussage versucht er darzustellen, wie er seine Sehnsucht nach muttersprachlichen Unterhaltungen mit türkischer Lektüre, mit imaginären langen Gesprächen sowie häufigen Telefonaten mit den in der Türkei lebenden Freund_innen stillt: „Besonders nachdem ich hierher gekommen bin, lese ich viel mehr […] Ich mache mir Sorgen, dass mein Türkisch langsam, langsam verloren geht. Weil ich es nicht verlieren will, lese ich jede Nacht ca. drei, vier Stunden. Das Lesen bekommt mir so gut, als würde ich sprechen […] Dadurch stumpfe ich meine Redseligkeit ab. Aber ich rede in meinem Kopf sehr oft […]
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Ähm, ich habe in der Türkei sehr viele Menschen, die ich lieb habe, mit denen ich tagelang ohne Pause rede. Ich rede mit ihnen in meinem Kopf.“ (Zeile 1481-1486)
Man kann den obigen und folgenden Zitaten entnehmen, dass Ali wegen des Kommunikationsmangels unter Einsamkeit in einem fremden Land leidet. Auch wenn er an einer Stelle behauptet Aber es ist mir nicht möglich, dass ich deutsch wirklich wie türkisch rede (Zeile 1489), versucht er, sich selbst zu trösten, dass ich mittlerweile so gut deutsch reden kann, wie jemand, der seit 10 Jahren hier lebt (Zeile 1491-1493). Im Anschluss an diese Aussage beschreibt er seine täglichen Bemühungen, die deutsche Sprache zu erlernen: Denn ich lebe 24 Stunden Deutsch […] als ich hierher kam, war der Fernseher das erste Ding, welches ich in mein Leben genommen habe. Denn ich denke, wenn man die Sprache lernen will, kann der Fernseher sehr gut helfen. (Zeile 1497-1509) Durch das Fernsehen befindet er sich in einer passiven Interaktion bzw. Kommunikation. Der Fernsehapparat erfüllt die Aufgabe eines Kommunikationspartners, der Ali beim Erlernen der deutschen Sprache unterstützt. Segment 29: Was in Deutschland fortgeschritten ist, ist nur seine Kasse und Technologie. Dieses Segment leitet er mit den Vorteilen des Fernsehens beim (Kennen-) Lernen der deutschen Sprache und der deutschen Gesellschaft ein. Nach der positiven Einschätzung des Fernsehens beginnt er, Kritik an den deutschen Fernsehprogrammen zu üben. Aus dieser kritischen Erzählung resultiert ein Vergleich zwischen Deutschland und der Türkei. Auffällig ist, dass er auch hier erneut emotional wird und sich ärgert. Der kritische Vergleich beider Länder fängt mit einer Hintergrundkonstruktion an: Ferngucken. Es gibt Talk Shows. Ich lache mich tot. Also, ich hatte mich damals über unsere Menschen sehr geärgert, nur deren Situationen haben mich extrem gelangweilt, deswegen habe ich den Fernseher gehasst oder so. Und dann bin ich hierher gekommen. Das Gleiche gibt es auch hier. (Zeile 1522-1524) Das lächerliche und langweilige Fernsehprogramm in der Türkei, das Ali vermutlich als Beweis für die Banalität betrachtet, hat ihn dazu gebracht, seinen Fernsehapparat in der Türkei abzuschaffen. Diese Haltung kann auch als Kritik an den Massenmedien gelten. Jedoch musste er sich nach der Ankunft in Deutschland wieder mit diesem Apparat anfreunden, in der Hoffnung, die deutsche Sprache und Gesellschaft mit den fortgeschrittenen Fernsehprogrammen besser kennen zu lernen. Das Gleiche gibt es auch hier bedeutet möglicherweise, dass lächerliche und langweilige Programme auch in Deutschland gezeigt werden, obwohl Deutschland sich als fortschrittlich präsentiert:
236 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE „Also, man sagt ja, dass Deutschland sehr fortgeschritten ist oder so, eigentlich gibt es nichts Anderes. Was in Deutschland fortgeschritten ist, ist nur seine Kasse und Technologie […] Also Deutschland hat mehr Geld und dieser Fortschritt liegt nur daran. Aber wenn ich mich jetzt umschaue. Die gleichen Probleme, die gleichen Dummheiten, die gleiche Oberflächlichkeit gibt es auch hier. Sie haben gar keinen Unterschied zu meinem Volk.“ (Zeile 1525-1531)
Mit dieser Aussage verdeutlicht er, dass es hinsichtlich des Fernsehprogramms vermutlich keine qualitativen Differenzen zwischen beiden Ländern gibt. Was Deutschland aber auszeichnet, ist das wirtschaftlich und technologisch hohe Niveau. Um diese These zu belegen, gibt er Beispiele aus beiden Ländern, darunter auch zwei konkrete Beispiele zur Sprache, die sich auf die Qualität der Mentalität in beiden Ländern beziehen: „Die Themen sind unterschiedlich. Meine Leute sind auf das heiß, was die Menschen zwischen den Beinen sexuell anzubieten haben und die Deutschen sind heiß auf das Geld. Also wenn ich noch ein Beispiel geben sollte. Aber es gibt keinen Unterschied. Dort werde ich von meinen Leuten wegen meiner Sexualität unterdrückt, hier ist es wegen der Verkehrsregeln […] Es gibt keinen Unterschied. Die Mentalität ist gleich […] Aber diejenigen, die hier sind, halten sich leider für fortgeschritten, und weil sie mehr Geld als wir haben, können sie sich bei uns durchsetzen.“ (Zeile 1531-1539)
Ab hier steigert er seine Kritik an der deutschen Gesellschaft und drückt sein Unbehagen wiederholt anhand von konkreten Beispielen aus. Er behandelt in seiner Erzählung über Deutschland die Einsamkeit der Menschen aufgrund des Arbeitslebens und der Machtgier. Zum anderen thematisiert er den Überwachungsstaat und das Einverständnis der Bürger_innen mit diesem System. In diesem Staat, in dem er sich einsam, machtlos und überwacht fühlt, möchte er nicht weiter leben und in der Zukunft diese Gesellschaft verlassen. In den folgenden Aussagen seiner Erzählung führt er Belege für sein Unbehagen in Deutschland und in der Türkei an, und er unterstreicht, dass der Fortschritt eines Landes nicht am wirtschaftlichen und technologischen Wachstum zu messen sei, sondern an der Denkweise bzw. Mentalität der gesamten Gesellschaft und des Regierungssystems. Auch in diesem abschließenden Segment betont er mindestens drei Mal, dass er nicht in Deutschland leben will, weil er sich einsam, überwacht und bedrängt fühlt. Hierzu folgendes Zitat: „OK, ich bin damit einverstanden […] sie haben mir das Recht gegeben, [einen Mann] zu heiraten. Das ist fortgeschrittener als ich, als mein Land. Aber hier führt mich diese Gesellschaft, die mir das Recht auf die Lebenspartnerschaft gegeben hat, zu einer so großen Einsamkeit. Hier hast du das Recht der Freiheit, die Tür nicht aufzumachen, wenn jemand um 21 Uhr bei dir klingelt. Jeder hat dieses Recht, aber keiner macht die Tür auf. Oder sie haben irgendwelche gefühlslosen Lebensweisen entwickelt, auch wenn sie […] die Tür aufmachen
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würden, sagen sie einfach, dass sie leider schlafen möchten und dich ablehnen müssen. Ja, man bedrängt mich hier, OK, man gibt mir das Recht auf Heirat, aber es bedrängt mich. Dort habe ich kein Recht auf Heirat, aber wenn ich um 2 Uhr Nachts irgendein Problem bekomme, dann habe ich aber dort jemanden in meinem Leben, bei dem ich klingeln und meinen Kopf an seine Schultern anlehnen kann. Jeder hat bestimmt solche Menschen in seinem Leben in der Türkei. Und das gibt mir so eine Freiheit.“ (Zeile 1553-1564)
Aus diesem Vergleich zwischen der Türkei und Deutschland ergibt sich, dass Ali sich trotz des liberalen LpartG und der staatlichen Anerkennung von eingetragenen homosexuellen Lebenspartnerschaften in Deutschland nicht wirklich frei fühlt, denn die gesellschaftlichen Lebensumstände erlauben ihm ein Freiheitsgefühl nicht. Er setzt sich mit dieser Eigenschaft der Aufnahmegesellschaft auseinander und fühlt sich schweren Bedrängnissen ausgesetzt. Diese Situation, in der er sich befindet, führt er nicht auf seine Homosexualität und den Migranten-Status zurück, sondern er betrachtet diese Bedrängnisse als globale Probleme der Gegenwart. Auch wenn er scharfe Kritik aus der Sicht eines Ausländers übt, beanstandet er in den folgenden Aussagen auch seine Heimat. Auch diese Situation stellt für den Interviewpartner eine Verlaufskurve dar, welche im gesamten Interview durch positive und negative Aussagen über das eigene und fremde Land gekennzeichnet wird. Im anschließenden Zitat steigern sich seine Gefühle zu folgender Aussage: „Ich weiß, dass ich auch in diesem System bin. Aber die Wahl gehört mir, nicht in diesem Kreis zu sein. Ich möchte außerhalb dieses Kreises bleiben. Und dafür habe ich alles, was ich konnte, gemacht. Und von nun an werde ich es noch radikaler machen und werde nie innerhalb dieses Kreises sein. Ich werde es nicht sein können, deswegen will ich nicht in Deutschland leben.“ (Zeile 1579-1583)
Bemerkenswert ist, dass er in diesem Anpassungsprozess, in dem er sich einsam und bedrängt fühlt, nichts von seinem Lebenspartner berichtet. Die folgenden Fragen bezüglich des Partners bleiben unbeantwortet: welche Rolle übernimmt er in diesem Prozess, wie unterstützt er seinen Partner moralisch, und was trägt er zum Erlernen der deutschen Sprache bei. Diese Situation bestätigt die Einsamkeit des Interviewpartners während seines Auslandsaufenthalts. In der folgenden Argumentation zu der Aussage, warum er nicht in Deutschland leben will, bezieht er sich außerdem auch auf das staatliche Reglement in Bezug auf Verwaltungs- und Behördenabläufe, die jeder Mensch über sich ergehen lassen muss. Während seines neunmonatigen Aufenthalts beobachtet er, wie die Strukturen der Aufnahmegesellschaft überhaupt funktionieren und welche Verhältnisse zwischen dem Staat und der Bevölkerung existieren. Er stellt fest, dass der deutsche Staat über ein starkes Überwachungssystem verfügt und die deutsche Bevölkerung damit einverstanden ist: In Deutschland, Entschuldigung aber, wenn du pupsen willst, muss der Bürger-
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meister informiert werden. Und ich sehe, dass die Bevölkerung das bedingungslos unterstützt. (Zeile 1583-1585) Des Weiteren wiederholt er, dass er sich nicht in diesem System befinden will. Besonders die Situation als Migrant in Deutschland beschreibt er kritisch. Dass die Migrant_innen öfter mit Behörden zu tun haben und stets ihren Reisepass bzw. ihre Aufenthaltsgenehmigung vorlegen müssen, betrachtet er vermutlich als Verstoß gegen die Würde des Menschen: „Ich möchte nicht in diesem System leben. Ich möchte nicht, dass ich jeden Tag Briefe bekomme. Ich möchte nicht, dass ich hin und her geschickt werde, irgendwelche Unterschriften von […] Ämtern geleistet zu bekommen […] Ich brauche das nicht. Alles, also ich möchte mich bei der Bibliothek anmelden, verlangen sie meinen Pass, Visum. Ich möchte VCD ausleihen, muss ich meinen Pass vorlegen, mein Visum zeigen […] Nie, ich habe keine Lust darauf. Ich mag solche Dinge nicht.“ (Zeile 1587-1592)
Die oben von ihm aufgezählten Probleme stellen möglicherweise eine Hürde in seinem Leben als Migrant dar. Im Verlauf seiner Erzählung kommen mehrere Argumente gegen Deutschland zum Ausdruck. Dieses Segment schließt er mit einer anderen Aussage gegen Deutschland ab und greift auf die Argumente gegen die Türkei zurück: Wir leben doch im Land dieser Menschen, in einer Gesellschaft, in der die Einsamkeit, ähm, sehr wichtig ist. Also diese Situation bedrängt mich. Darum will ich nicht hier leben. (Zeile 1619-1621) Nachdem Ali seine Argumente gegen Deutschland aufgezählt hat, kommt er auf den Vergleich zwischen Deutschland und der Türkei wieder zurück: Mag ich meine Heimatsleute, liebe ich sie? Nein, ich liebe sie auch nicht so sehr. (Zeile 16221623) Mit diesem einleitenden Satz beginnt er weiter zu erzählen bzw. zu argumentieren, warum er sich in seinem Herkunftsland unbehaglich fühlt. Dass er auch die in der Türkei lebenden Türk_innen nicht so sehr mag bzw. liebt, kann man sowohl auf seine Situation als Homosexueller als auch auf seine sozial-kritische Haltung beziehen. So wie er von der Einsamkeit bzw. latenter sozialer Isolation in der deutschen Gesellschaft spricht, redet er auch von dem gleichen Problem in der türkischen Gesellschaft. Er behauptet, dass die Menschen in der türkischen Gesellschaft genauso isoliert bzw. einsam sind wie in der deutschen Gesellschaft. Um diese These zu belegen, gibt er noch ein Beispiel: „Denn wenn man zu jemandem als Gast geht […] und wenn man sich beim Gastgeber unterhalten will, ist das kaum möglich. Dort sehen sowohl die Gäste als auch der Gastgeber zusammen fern […] Es gibt dann gar keinen Unterschied, ob du zu Hause allein fernguckst, oder zusammen beim Gastgeber. Und wenn man nicht zusammen fernguckt, dann unterhält man sich über Fernsehserien. Und wenn das auch nicht geht, dann sprechen die Männer über Fußball und die Frauen tratschen meistens […] Und als ich mit diesen Menschen zusammen war, habe ich großen Stress gehabt. Also, auch meine Familie gehört zu diesen Menschen.
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Also die Familie meiner Schwester, die Familien meiner Kindheitsfreunde gehören auch zu diesen Menschen und ich habe die Nase voll von allen diesen Menschen. Wir konnten nie zusammen kommen und uns über etwas Wesentliches unterhalten […] Ich habe zu deren Unterhaltung nur ein paar Sätze beigetragen, aber stell dir vor, obwohl ich mich so lange mit denen unterhalten habe, habe ich beispielsweise eine Schwester, die seit 43 Jahren immer noch nicht weiß, dass sie einen schwulen Bruder hat.“ (Zeile 1624-1640)
Er kritisiert die Menschen in der Türkei, dass ihnen inhaltliche qualitative Beziehungen fehlen. Auch wenn sie sich dort in der Türkei gegenseitig besuchen, merkt Ali oft, dass die Themen der Unterhaltungen inhaltlich nicht von Bedeutung sind. Diese Situation bezeichnet er als stressend und bezüglich der zwischenmenschlichen Beziehungen als schlecht. Dass die Menschen nicht mehr über essentielle Themen sprechen und lediglich bei den oberflächlichen Themen bleiben, interpretiert er als ein Zeichen des Qualitätsverlustes in den Gesprächen. Das Interview beendet er mit einer Kritik an der türkischen Gesellschaft am Beispiel der Beziehung zu seiner Schwester. Damit deutet er gleichzeitig die schwierige Situation der Homosexuellen in der Türkei an. 5.2.3 Biographische Gesamtformung Was ich im Grunde erlebe, ist diese Einsamkeit. Das ist das Problem, die Last meines Lebens, welche aus der Homosexualität hervorgeht.
Sexuelle Orientierung Die Zeit der Kindheit und der Pubertät, in der Ali sich seiner sexuellen Orientierung bewusst wurde, war von Einsamkeit geprägt. In der Zeit der Grund- und Mittelschule und des Gymnasiums erfuhr er zwar keine direkten homophoben Diskriminierungen, jedoch musste er dauerhaft ein Doppelleben führen. Dieses Doppelleben interpretiert er als schwierige Situation, in der er sich ständig verstecken musste. Das Versteckspiel wird im Laufe der Biographie zu einem Lebensstil, der seine Handlungen lebenslang beeinflussen wird. Auch wenn er die diskriminierenden Situationen nicht wahrnimmt, stellt sich das Doppelleben als andauernde Verlaufskurve dar. Von der Grundschulzeit an bis zum Militärdienst spielte die schwierige Situation des versteckten Schwulen eine relevante und beeinträchtigende Rolle für die gesamte Biographie des Befragten. Innerhalb dieses Zeitraums von der Kindheit bis zum Militärdienst konnte er Strategien für das Verstecken entwickeln, um nicht ausgegrenzt bzw. diskriminiert zu werden. Dank des Selbst-Versteckens erfuhr er zwar keine direkten diskriminierenden Handlungen seitens der heteronormativen Gesellschaft, aber er fühlte sich immer einsam. Diese Einsamkeit bezieht er auf seine Situation als versteckter Schwuler. Er muss immer etwas verheimlichen und darauf achten, was er sagt oder tut, immer wieder lügen, und all das macht ihn einsam.
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Diese Einsamkeit beschreibt er als Problem, als Last, die aus der Homosexualität hervorgeht. Man kann aber auch umgekehrt denken, dass dieses Problem und diese Last aus der Heteronormativität entstehen, was Ali nicht direkt zur Sprache bringt. Das biographische Handlungsmuster des Sich-Versteckens konnte er im Laufe seines Lebens so gut entwickeln, dass er auf sich stolz ist. Keiner konnte merken oder ahnen, dass er schwul ist. Er konnte sogar Männer anfassen oder auch küssen. Diese seine Kompetenzen interpretiert er als eine Art der Kunst. Er wusste schon längst, wie er sein homosexuelles Begehren teilweise erfüllen konnte, ohne dass die Anderen erfuhren, wie er sexuell ausgerichtet ist. Durch das Zeigen konnte er sich verstecken. Die zur Strategie entwickelte Methode, nämlich Verstecken durch Zeigen, ist in seinem Lebenslauf zu einer der wichtigsten Lebenstaktiken bzw. zu einem biographischen Handlungsmuster geworden, um sich vor möglichen homophoben Diskriminierungen zu schützen. Des Weiteren hatte er keine Probleme mit Selbst-Diskriminierung, obgleich er seine Homosexualität verheimlichen musste. Darüber hinaus fand Selbst-Akzeptanz ziemlich früh statt, und sie ist durch ein nicht konvertiert sein gekennzeichnet, d.h. er war und ist homosexuell und fühlte sich immer als homosexuell. Zudem bezeichnete er sich ohnehin als anders als die Anderen. Er entsprach in jedem Fall nicht dem heterosexistischen patriarchalen Standard. Das Wort Standard benutzt er als Synonym für (Hetero-) Normativität. In dieser Hinsicht ist er kontranormativ und zugleich mit sich bzw. seiner sexuellen Orientierung zufrieden. Das heißt, dass er sich selbst nicht hinterfragt, wie seine Homosexualität entstanden ist, sondern er nimmt hin, wie er ist. Die frühe Annahme seiner sexuellen Orientierung war der Ausbildung seiner Homosexualität dienlich. Interessant ist jedoch, dass von ihm keine Vorbilder im sozialen Umfeld erwähnt wurden. Der Prozess der Identifikation ist durch die engen Freundschaften mit Mädchen, Desinteresse am Fußball und dem Fernhalten von Jungen, die sich mit Beginn der Pubertät öfter über Frauen und Sex unterhalten, gekennzeichnet. „Der beste Weg des Versteckens ist, dass man etwas offen zeigt“
Im Hinblick auf seine Homosexualität ist Alis Biographie durch das Verstecken geprägt. Wie oben ausgeführt, nutzte er jede Gelegenheit, um sich vor homophoben Diskriminierungen zu schützen. Betrachtet man das Wohnviertel, in dem er seine Kindheit verbracht hat, kann man hervorheben, dass er aufgrund der großen Anzahl von Kiezkindern nicht auffiel. Dadurch, dass es dort 30 bis 50 Kinder gab, konnten die Kiezbewohner_innen nicht merken, dass Ali ein abweichendes Kind war. Als er allmählich in die Pubertät kam, schloss er meistens Freundschaften mit Mädchen, was die Kiezbewohner_innen in dieser Situation auf die Pubertätsphase bezogen. Dass er engere Freundschaften mit jungen Mädchen aufbaute, wurde als Zeichen für die Entwicklung sexueller Interessen angesehen. Diese Handlungsweise fungier-
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te für ihn als Tarnung seiner Homosexualität. Während diese Tarnung ihn vor Homophobie schützte, litt er unter Einsamkeit, denn er konnte sich auch seinen Freundinnen gegenüber nicht offenbaren (vgl. Segment 4). Dieses Argument, das aus der gegenwärtigen Perspektive geäußert wird, hat eine weitere prägende Bedeutung für seinen psychischen Zustand. Da er sich immer verbergen musste, war er vielleicht gezwungen, ständig zu lügen, um nicht verraten zu werden. Die damaligen Freundschaften interpretiert er so, dass sie auf Lügen basierten und daher nicht in die Tiefe gingen. Solche Freundschaften hält er nicht für echt. In seiner Camouflage fühlte er sich daher mit seinen Geheimnissen einsam. Als Ali mit der Zeit heranreifte und die Merkmale eines richtigen Mannes erlangte, entwickelte sich auch seine Denkweise. Zu diesem Zeitpunkt konnte er den Wissensstand der Gesellschaft beurteilen. Er wusste bereits, dass die Mehrheitsgesellschaft, in der er groß wurde, über keine oder nur geringe Informationen bezüglich der Homosexualität verfügte: Was die Homosexualität ist, was sie nicht ist, wie sie ist, wie man sie auslebt, ähm, darüber wissen sie gar nichts. Er konnte jedoch auch die Vorurteile bzw. Klischees der heteronormativen Gesellschaft Homosexuellen gegenüber unterscheiden: Was sie darüber wissen, ist nur, dass die femininen Männer, die wir, ähm, als Tunten bezeichnen, homosexuell sind. Das ist alles. Ali nutzte dieses Wissensdefizit bzw. vorurteilhafte Vorstellungen der Gesellschaft zu seinen Gunsten. Das heißt, dass er seine maskuline Erscheinung, die nicht der klischeehaften heteronormativen Vorstellung entspricht, wieder als Tarnung für seine Homosexualität benutzte. Da er behaart und gut gebaut ist und dazu noch gut reden kann, wie ein richtiger Mann, konnten seine nahestehenden Bezugspersonen und sein Umfeld nicht vermuten, dass er schwul ist. Im Laufe seiner Entwicklung, in der er als werdender Mann gesehen wurde, konfrontierte ihn dann seine Mutter mit Heiratsvermittlungsangeboten. Sie setzte ihn unter Druck, da er ihrer Meinung nach im Heiratsalter war. Diese Form der Unterdrückung bezeichnet er als eine Tragödie der türkischen Männer, die die meisten nach dem Militärdienst erleben müssen. Der Militärdienst spielt nicht nur für ihn eine signifikante Rolle, sondern auch für alle anderen türkischen Männer. Die meisten Männer werden nach ihrem Wehrdienst verheiratet. Als türkischer Mann, der seinen Wehrdienst bereits abgeleistet hatte, war Ali von der Verheiratung bedroht und zwar bedroht in dem Sinne, dass er sich nicht in der Situation der heterosexuellen Heirat wiederfinden wollte. Der Gefahr der Verheiratung konnte er dadurch entgehen, dass er seine Mutter mit wissenschaftlichen und komplizierten Sätzen, die sie schwer verstehen konnte, zum Schweigen brachte. Diesen Erfolg gegenüber der Familie hält er für die Eigenwilligkeit und Selbstständigkeit, die er aus seiner Einsamkeit gewann. Auch die gute Sprach- bzw. Ausdrucksfähigkeit förderte die Tarnung seiner Homosexualität. So konnte er seine Worte als Camouflage nutzen (vgl. Segment 7). In der Zeit seines Wehrdienstes sieht sich Ali verstärkt den Reizen von Männern ausgesetzt, und wie für sehr viele Homosexuelle ist es auch für ihn in der männer-
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dominierten Armee schwer, die sexuelle Orientierung zu verstecken. Für diese These kann man mehrere Gründe nennen. Hier kommt Alis Taktik Verstecken durch Zeigen zur Anwendung. Durch schwule Späße konnte er gewissenmaßen seine Genossen anfassen und sogar auch küssen. Während die Soldaten dieses Verhaltensmuster Alis als Witz wahrnahmen, genoss er es, seine Homosexualität im kleinsten Rahmen auszuleben. Diese Witze Alis dienten der Tarnung seiner Homosexualität. Aufgrund von möglichen homophoben Diskriminierungen bzw. auch Bestrafungen kann man behaupten, dass Ali in der Armee an der heteronormativen Homophobie partizipiert hat, um sich vor möglichen Bedrohungen zu schützen. Dennoch teilte er mit, in der Armee ohnehin keine Gefahr empfunden zu haben. So hatte er auch keine Angst, als Schwuler entdeckt zu werden, denn er begehrte die zumeist 20 jährigen Soldaten nicht. Darüber hinaus behauptet er, dass jeder in der Armee ein bestimmtes Medikament einnehmen musste, das das sexuelle Verlangen eines Mannes vermindert. Schließlich kann festgestellt werden, dass Ali in der Armee keine Diskriminierungen erfuhr. „Das war nur eine der allerschönsten Geschichten meines Lebens […] Und eine Geschichte, die mein Leben bereichert […] hat“
Nachdem Ali sein Studium im Alter von 21-22 Jahren abgebrochen hatte, fuhr er erstmalig für einen Monat nach Deutschland, um dort mit seinen Freunden Urlaub zu machen. Auf die Details seines Urlaubs geht er zwar nicht direkt ein, dennoch scheint dieser einmonatige Urlaub von biographischer Relevanz zu sein, so dass er sich nach seiner Rückkehr in die Türkei für die Auswanderung nach Deutschland entscheidet. In seiner Erzählung begründet er jedoch nicht genau, was ihn zu dieser biographisch relevanten Entscheidung geführt hat. Mithilfe seiner in Deutschland lebenden Freunde schaffte er es, ein Visum für Deutschland zu bekommen. Er hatte vor, sein Leben dort weiter zu führen. Dafür musste er aufgrund des damaligen Ausländerrechtes eine Frau heiraten. Dieser Lebensabschnitt bedeutet für ihn eine Wandlung, die für das Bleiberecht im Ankunftsland wichtig war und durch den Plan einer Heirat mit einer älteren deutschen Frau gekennzeichnet ist. Ali wollte sein Leben grundsätzlich ändern, nämlich dadurch, dass er sein Land verlässt und eine arrangierte Heirat mit einer Frau eingeht. Ob er diese mögliche Wandlung in seinem Leben hätte vollbringen können, war eine der schwierigsten Fragen in seinem bisherigen biographischen Verlauf. Parallel zur Verarbeitung seiner neuen existentiell wichtigen Entscheidung setzt er sich mit den möglichen Folgen einer Scheinheirat auseinander. In Folge dieser Auseinandersetzung kommt er zu einem neuen Entschluss: Er verzichtet darauf, die Frau zu heiraten und bleibt trotzdem ca. 1,5 Jahre in Deutschland, ohne eine Aufenthaltserlaubnis zu haben. Hier ist das intentionelle Handlungsmuster bemer-
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kenswert. Denn er hatte damals nach dem Auswanderungsgesetz nur zwei Optionen: entweder eine heterosexuelle Eheschließung mit einer deutschen Staatsbürgerin oder die obligatorische Rückkehr in die Türkei. Das biographische Handlungsmuster manifestierte sich in seiner Entscheidung für ein Weder-Noch. So verschaffte er sich eine andere Möglichkeit. Er hatte weder geheiratet, noch kehrte er rechtzeitig heim. Er blieb somit in Deutschland und zwar unverheiratet und ohne Papiere. Der Wandlungsprozess wechselte in dieser Phase in einer Verlaufskurve, die mit einer eventuellen Perspektivlosigkeit einhergeht. Sein einziges Zukunftsvorhaben lag damals nur darin, dass er nicht wieder in der Türkei leben wollte. Während seines eineinhalb jährigen Aufenthaltes ohne Papiere in der BRD begannen seine weiteren homosexuellen Erfahrungen nach der Entscheidung zum Verzicht auf die Scheinheirat. In dieser Zeit lernte er einen deutschen schwulen Mann kennen, mit dem er ca. zehn Monate zusammen war. Auch wenn er in seiner Jugendzeit einige homosexuelle Erlebnisse mit anderen Jugendlichen aus der Nachbarschaft hatte, prägte diese erste richtige Beziehung sein Leben grundsätzlich. Ali lebte in dieser Zeit erstmals in einer schwulen Partnerschaft. Im Zuge dieser Beziehung bekam er die Möglichkeit, sich in einer schwulen Szene in Deutschland offener zu bewegen. Diese Erfahrungen vor 20 Jahren (zurückgerechnet vom Zeitpunkt des Interviews) bezeichnet er als unvergesslich, denn er fühlte sich in der schwulen Szene sehr wohl, so dass er sich möglicherweise im Hinblick auf seine Homosexualität weiterentwickeln konnte. In dieser Situation, in der er seine Sexualität ohne heteronormativen Druck ausleben konnte, war es für ihn nicht vorstellbar, zurückzukehren (vgl. Segment 11). Die Konstellation dieser Partnerschaft war auch binational geprägt. Obwohl er in einer Paarbeziehung lebte, kann er diese aus der gegenwärtigen Sicht nicht als Beziehung bezeichnen. Mit seinem Partner erkundete er zum ersten Mal in seiner Lebensgeschichte eine homosexuelle Szene. Darüber hinaus befand er sich in dieser Zeit bezüglich seiner sexuellen Orientierung in einer positiven Verlaufskurve: Das war nur eine der allerschönsten Geschichten meines Lebens […] Und eine Geschichte, die mein Leben bereichert und mir sehr viele verschiedene Perspektiven gebracht hat. (Zeile 428f.) Mit und nach dieser Partnerschaft gewann Ali neue Perspektiven, die für ihn ein neues Leben mit Selbstbehauptung und Selbstakzeptanz bedeuten. Während dieser Partnerschaft kehrte er in die Türkei zurück. Über die Rückkehr entschied er selbst, denn er fand keinen anderen Weg, in Deutschland mit Papieren zu bleiben. Zu dieser Zeit existierte noch kein Lebenspartnerschaftsgesetz für homosexuelle Paare, und er wollte keine Frau heiraten, auch wenn dieses nur eine Scheinheirat gewesen wäre. Hier wandelt sich das intentionelle Handlungsmuster in das institutionelle Handlungsschema. Er konnte in Deutschland nicht länger ein illegalisiertes Leben führen, ging deshalb in die Türkei zurück und begann dort seinen Wehrdienst, so wie es die heteronormative Gesellschaft damals von ihm erwartete.
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Für viele schwule Männer in der Türkei bedeutet die Armee, dass sie dort unter Druck gesetzt, eventuell vergewaltigt oder ausgelacht werden (siehe Fall I). In dieser Hinsicht erfuhr Ali dort aber keine diskriminierenden Handlungen. Dies führt er auf seine Tarnungsstrategie zurück. Verstecken durch Zeigen funktionierte auch in der Kaserne. Dadurch, dass er homophobe/schwule Witze machte, konnte er die Soldaten in der Armee sogar anfassen und auch küssen. Diese Witze kamen bei den Armeeangehörigen gut an, so dass sie auf Ali nicht negativ reagierten. In der Zeit seines Wehrdienstes verliebte er sich zum ersten Mal in einen Soldaten. Er intensivierte sein freundschaftliches Verhältnis zu diesem Mann und nahm es als Liebesbeziehung wahr. Dennoch wusste er nicht, dass Ali in ihn verliebt war. 15 Monate verbrachten sie zusammen in der Armee. Diese Zeit erlebte Ali als eine schöne Zeit. Außerdem hatte er auch noch gelegentlich Kontakt zu seinem deutschen Partner. Im Laufe der Zeit brach er diesen Kontakt aber ab und konzentrierte sich auf seinen Kumpel, in den er verliebt war. Das Verhältnis zwischen beiden Freunden ähnelte der Beziehung eines Liebespaares. Die Wahrnehmung dieser (Liebes-) Beziehung war jedoch nur einseitig, denn der Freund war ein heterosexueller Mann und wusste zudem nicht, dass Ali schwul ist. Trotz dieser Situation ist auch diese Liebe für den Erzählenden von biographischer Bedeutung. Zur Zeit seines Militärdienstes konnte er sich seinem Freund gegenüber nicht offenbaren. Der Grund für die Verheimlichung seiner Homosexualität und seiner Liebe war möglicherweise die Angst davor, dass die Freundschaft zerstört werden könnte. Ferner wünsche er sich, dass das Verhältnis bzw. die Freundschaft auch nach dem Wehrdienst weiter existiert. Nach dem Militärdienst kam es zu einer zwangsläufigen Trennung von seinem Freund, die Ali schmerzhaft erlebt hat. Diesen Leidensprozess überwindet er nach dem Militärdienst im Laufe der Zeit. Die Liebe zu seinem Freund bezeichnet er als einen Meilenstein seines Lebens (vgl. Segment 12). Zuerst das Verhältnis mit dem deutschen schwulen Partner und danach die Liebe zu seinem Freund in der Armee verstärkten sein Selbstbewusstsein. Im Zeitraum von zwei bis drei Jahren, in dem er seine Homosexualität durch die Beziehungen zu Männern vermutlich intensiv ausgelebt hat, ist die Bildung seiner sexuellen Orientierung endgültig abgeschlossen. Hier kann behauptet werden, dass Alis Leben sich mithilfe dieser Beziehungen grundlegend verändert hat. So kann an dieser Stelle von einem weiteren Wandlungsprozess gesprochen werden. Nach dieser Zeit hörte er mit dem Spiel des Verstecken durch Zeigen auf und begann, seine Homosexualität offen zu leben. Wichtig zu erwähnen ist, dass er den Kontakt zu seinem Freund auch nach dem Militärdienst aufrecht erhalten konnte. Er traf sich gelegentlich mit ihm und konnte sich bei ihm offenbaren. Aus dem gesamten Interview geht nicht hervor, wann genau der Interviewte sich geoutet hat. Dennoch kann in der Chronologie seiner Erzählung davon ausgegangen werden, dass diese Offenbarung bei dem Freund als
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erstes Coming-out gelten kann (vgl. Segment 12). Mit diesem positiven Coming-out findet er zumindest Akzeptanz und Respekt durch seinen Freund. Des Weiteren kann angenommen werden, dass Ali sich nach dieser positiven Reaktion seines Freundes stärker fühlte und weiter zu seiner Homosexualität stehen konnte. Binationale Partnerschaft In seiner Erzählung geht Ali nicht auf die genauen Daten der Vergangenheit ein. Dies erschwert die biographische Analyse, so dass die Auswertung manchmal auf Annahmen bezogen werden muss. Trotz der ungenauen Zeitangaben der erzählten Lebensgeschichte versucht er, bei den Schilderungen seiner Erlebnisse bzw. Erfahrungen eine gewisse Chronologie einzuhalten. Mittlerweile ist Ali 43 Jahre alt. Er war zum zweiten Mal mit 22 Jahren in Deutschland und kehrte in die Türkei zurück. Genau nach 20 Jahren kam er im Alter von 43 Jahren wieder nach Deutschland, um mit seinem heutigen Partner eine Lebenspartnerschaft einzugehen. In seiner Erzählung über die vergangenen 20 Jahre thematisiert er nur einzelne wichtige Themen, wie den Militärdienst und die erste Liebe. Die für die Forschung relevanten Ereignisse, wie Erfahrungen mit Homophobie, Rassismus etc. werden hier ausgeblendet. Diese Erzählhaltung des Interviewten kann auf eine Intervention des Forschers zurückgeführt werden. Trotz des an dieser Stelle gescheiterten biographischen narrativen Interviews kann man der Erzählung wichtige Themen entnehmen und die Auswertung des Interviews fortsetzen: • • • • •
die erste Liebe während des Militärdienstes, die durch diese Liebe verstärkte homosexuelle Disposition, das Ausleben der Homosexualität ohne Ängste vor der heteronormativen Gesellschaft, gescheiterte Versuche, mit einem schwulen Freund ins Ausland zu gehen, Kennenlernen des gegenwärtigen Partners über das Internet.
Die oben erzählten Erlebnisse umfassen die letzten 20 Jahre der Lebensgeschichte des Interviewpartners, die er vor seiner gegenwärtigen Partnerschaft in der Türkei verbracht hat. Auffällig bei dieser Lebensgeschichte ist, dass Ali immer wieder bemüht war, die Türkei zu verlassen und sein Leben in einem anderen Land wieder aufzubauen. Diese Bemühungen kann man darauf zurückführen, dass er sich in einem eingeschränkten Lebensraum befand, so dass er immer wieder den Ausweg ins Ausland gesucht hat. Nach dem letzten gescheiterten Versuch mit seinem Mitbewohner, Hakan, musste er sein Leben in der Türkei als alleinstehender Mann weiterführen. In dieser Zeit lernte er seinen gegenwärtigen Partner kennen und verliebte sich völlig unerwartet in ihn. Mit dem Kennenlernen dieses Partners bzw. der Aufnahme der
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Partnerschaft durchlebt Ali einen Wandlungsprozess, der als grundlegende Veränderung seines Lebens bezeichnet werden kann. Mit dieser neuen Partnerschaft konnte er sich von seinem Land, seiner Wohnung, seinem sozialen Umfeld verabschieden und anschließend ein neues Leben in einem neuen Land beginnen. Bis zu dieser Beziehung war sein Leben durch bestimmte negative Umstände gekennzeichnet. Diese Umstände in der Türkei ermöglichten ihm keine Perspektiven, weshalb ihm die Entscheidung leichter fallen konnte, durch eine eingetragene Lebenspartnerschaft wieder nach Deutschland zu kommen. Des Weiteren fungierten die Arbeitssituation und mangelnde Türkischkenntnisse des Partners einerseits und andererseits gewisse Deutschkenntnisse und eine unsichere Arbeitssituation des Interviewpartners in der Türkei als Entscheidungshilfe. So kam Ali nach 20 Jahren wieder nach Deutschland und ging mit seinem deutschen Freund im Jahr 2007 die Eingetragene Lebenspartnerschaft ein. Kennenlernprozess des Paares Kennen gelernt haben sich Ali und sein Partner im Internet auf einer Homepage einer schwulen Szene, die sich als Bären verstehen. Aufgrund seines Interesses für die schwulen Bären war Ali häufig auf der Suche nach Schwulen, die sich als Bär sehen. Weil sein Partner sich auch als Bärentyp definiert, war auch er auf der gleichen Homepage der Bären. Durch die häufige Suche nach einem künftigen Partner begegneten sie sich in der virtuellen Welt. Der Prozess des Kennenlernens des Paares war durch eine Abmachung bestimmt: Aufgrund der Virtualität der Internetbekanntschaften hatte Ali Schwierigkeiten, seinen Kontaktpersonen, die er im Internet kennen lernte, zu vertrauen. Wichtig für ihn war, dass er diese Personen auch im realen Leben traf. So war es ihm möglich, sich auf den entsprechenden Menschen besser einlassen zu können. Daraufhin bekam er von seinem künftigen Partner, der damals auch in Deutschland lebte, eine Anfrage, ob es möglich sei, dass Ali ihn als Gast empfangen würde. Das ganze war aber an eine Bedingung geknüpft, die von beiden Seiten erfüllt werden sollte. So kam es in der virtuellen Kontaktaufnahme zu einer Aushandlung zwischen Ali und seinem gegenwärtigen Lebenspartner. Mit der Bedingung, dass eine körperliche Begegnung nicht gleich stattfinden, sondern erst nach beidseitigem Gefallen verwirklicht werden könnte, war der deutsche Partner einverstanden. Nach dieser Aushandlung flog der Partner für zehn Tage in die Türkei, um Ali kennen zu lernen und dort Urlaub zu machen. Aus diesem Urlaub, den der deutsche Partner in der Wohnung Alis verbrachte, entwickelte sich eine Liebesbeziehung, die in neun Monaten zu einer eingetragenen Lebenspartnerschaft führte. Nach diesem Urlaub kehrte der Partner nach Deutschland zurück und hielt den Kontakt zu Ali in erster Linie telefonisch aufrecht. Innerhalb dieser neun Monate kamen sie gelegentlich zusammen. Meistens aber war es der deutsche Partner, der
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durch seine Flüge in die Türkei die Initiative ergriff, Ali zu besuchen. Nach dieser Fernbeziehung waren sie in der Lage, die fundamentale Entscheidung zur offiziellen Begründung ihrer Lebenspartnerschaft zu treffen. Mit der eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft erfuhren beide Partner eine signifikante biographische Wandlung. Die erste Phase der Partnerschaft verbrachten sie in einer Einzimmerwohnung. Diese Phase erlebte Ali sehr intensiv, und er fühlte sich in dieser räumlichen Enge und der emotionalen Intensität sehr wohl. Das Lebenspartnerschaftsgesetz Im Folgenden handelt es sich um die Haltung Alis zum LpartG, das ihm eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland ermöglichte. Um seine Meinung zu erörtern, geht er auf einer kritischen Ebene von der heteronormativen Heirat aus. Seiner Ansicht nach basiert die heterosexuelle Ehe auf einer Lüge. Diese Behauptung bezieht er auf seine eigenen Erfahrungen mit verheirateten Männern, mit denen er regelmäßig sexuellen Kontakt hatte. Zunächst äußert er bezogen auf seine Behauptung, dass er unter normalen Umständen gegen Heirat ist. Hingegen befürwortet er eingetragene Lebenspartnerschaften für Homosexuelle. Aufgrund mehrerer sexueller Verhältnisse mit verheirateten heterosexuellen Männern und der Überzeugung dieser Männer, dass sie zu Hause eine glückliche Familie haben, behauptet Ali, dass sie in erster Linie sich und danach ihre Familie betrügen. In dieser Hinsicht richtet er eine deutliche Kritik besonders an die verheirateten Männer, die sich als Heterosexuelle bezeichnen, aber gleichzeitig mit anderen Männern homosexuelle Kontakte haben. Aufgrund der Lebensweise dieser Männer stellt er die Aufrichtigkeit der heterosexuellen Ehen in Frage. Aus seinen sexuellen Erfahrungen mit einigen verheirateten Männern verallgemeinert Ali, dass heterosexuelle Ehen auf einer Lüge basieren. Es ist wahrscheinlich, dass er sich in emotionaler Beziehung verletzt fühlt und sich möglicherweise gegen negative Erfahrungen in der Vergangenheit wehrt, indem er diese Art der Verallgemeinerung trifft. Seine sexuellen Verhältnisse mit verheirateten Männern bewertet er zunächst als Zwang, wobei er gleichzeitig auch tiefes Bedauern bzw. Reue empfindet (vgl. Segment 25). Diesen Zwang, mit verheirateten Männern sexuelle Verhältnisse eingehen zu müssen, bedauert er sehr. Er bedauert auch, dass er in der Türkei keine schwule Liebesbeziehung haben konnte. Denn weder die Gesellschaft noch der Staat würden schwule Beziehung akzeptieren. Aus dem Grund, dass er in seiner Heimat kein Recht auf eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft hat, befürwortet er homosexuelle Lebenspartnerschaften, damit heteronormative Menschen bestimmte Dinge besser sehen und verstehen können. Ali bringt in diesem Teil des Interviews seine Sehnsucht nach einer schwulen Liebesbeziehung in der Türkei zum Ausdruck. Aufgrund der fehlenden sozialen
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und staatlichen Akzeptanz gegenüber homosexuellen Lebensweisen konnte er in der Türkei keine Liebespartnerschaft genießen. Trotz der fehlenden Akzeptanz fand er zahlreiche Möglichkeiten, mit heterosexuellen verheirateten Männern Geschlechtsverkehr zu haben. In diesem Fall fühlte er sich sexuell ausgenutzt, denn er wurde von diesen nur als Sexobjekt wahrgenommen; sie wollten mit ihm weder eine Freundschaft noch eine Liebesbeziehung beginnen (vgl. Segment 25). Während er die Situation der Homosexuellen in der Türkei so pessimistisch schildert, vergleicht er diese mit der der in Deutschland lebenden Homosexuellen. Ali beschreibt hier die fortgeschrittene gesetzliche Situation in der BRD, die sich aus dem LPartG ergibt, wovon auch er mit seinem Mann profitiert hat. Binationale Partnerschaft Ali lebt in zwei Welten, zum einen in der Welt seines Denkens und zum anderen in der Welt des Materiellen. Im Interview pendelt er oft zwischen diesen zwei Bereichen, zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten. Innerhalb des etwa drei stündigen Interviews spricht er verschiedene Themen an, die von Wirtschaft, Technologie, Politik, Liebe, Medien etc. handeln. In Bezug auf die Partnerschaft respektive seinen Partner stellt er wieder neue Thesen auf und verbindet sie mit der Realität seiner Erfahrungen. Er ist der Meinung, dass innerhalb jeglicher Partnerschaften Differenzen erlebt werden. Demnach sind diese Differenzen unterschiedlicher Art, die auf den individuellen Eigenschaften und der kulturellen nationalen oder religiösen Zugehörigkeit der/des Partnerin/s basieren. Zum Anderen betont er, dass die partnerschaftlichen Probleme binationaler Paare durch Sozialwissenschaftler_innen auf die kulturelle und nationale Zugehörigkeit der Partner reduziert werden. Diese Reduzierung einiger Sozialwissenschaftler_innen betrachtet er kritisch und erklärt, worauf es in seiner Partnerschaft mit einem deutschen Mann ankommt. An dieser Stelle bringt er zum Ausdruck, dass die Liebe eine transzendentale Kraft hat, die über Nation, Kultur oder ähnliche Strukturen hinausgeht. In dieser Hinsicht spielen die kulturellen, nationalen oder religiösen Differenzen für das Bestehen der Partnerschaft keine wesentliche Rolle. Auch wenn die kulturellen Unterschiede im Alltag spürbar sind, manipuliert die Liebe sie mit ihrer transzendentalen Kraft. Ali legt in der Partnerschaft keinen Wert auf die nationale Zugehörigkeit seines Partners und fügt hinzu, dass er früher Möglichkeiten hatte, einen anderen Partner anderer Herkunft zu haben. Dennoch entschied er sich für seinen heutigen deutschen Partner, denn sie haben sich schnell geliebt (vgl. Segment 16). Seine gefühlsmäßige Einstellung zur Partnerschaft schildert er so, dass er bei einer Liebesbeziehung nicht auf die Herkunft seines Partners achtet. Er verlangt von seinem Partner jedoch auch die gleiche Einstellung, dass nämlich Türke zu sein in der binationalen Beziehung keine Beachtung finden soll. Im Falle einer herkunftsbedingten diskriminierenden Behandlung seitens seines Partners würde er ohnehin die Beziehung beenden. Dass er
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mit dieser Einstellung die Partnerschaft weiterführt, zeigt, wie er auch in der Partnerschaft selbstbestimmte Handlungsweisen bevorzugt. Sprachliche Barriere Als Ali zum dritten Mal zwecks Lebenspartnerschaft nach Deutschland kam, verfügte er über geringe Deutschkenntnisse. Auch wenn er zum Interviewzeitpunkt vor 23 Jahren schon zwei Mal in Deutschland war, hatte er die deutsche Sprache im Laufe der Zeit verlernt. Deshalb stellt der Interviewer die Frage, in welcher Sprache er mit seinem Partner kommuniziert. Am Anfang der Beziehung war Englisch die wichtigste Sprache des Paares. Trotz der vergangenen Jahre kannte Ali einige Worte auf Deutsch, mit denen er die Kommunikation mit seinem Partner ergänzen konnte, wenn das Englische nicht ausreichte. Mit der Ankunft Alis in Deutschland entschied das Paar, zu Hause nur Deutsch zu reden. Seine geringen Sprachkenntnisse nutzt Ali auf pragmatische Weise. Das heißt, dass er keinen Anspruch auf korrektes oder perfektes Deutsch hat. Worauf es ihm ankommt, ist, dass verstanden wird, was er mitteilen oder sagen möchte. Wenn dieser Zweck erfüllt wird, sieht er kein Problem in der partnerschaftlichen Kommunikation (vgl. Segment 28). Trotz einer relativ gelungenen Kommunikation empfindet der Interviewpartner die Situation als anstrengend, denn er kann seine Sprache nicht immer mit pantomimischen Handlungen unterstützen. In diesem Prozess manifestiert sich das sprachliche Problem als Komplikation in der Partnerschaft, die Ali während seines Aufenthaltes in Deutschland zu beheben versucht. Wichtig ist, daran zu erinnern, dass er im Interview nicht erzählt, inwieweit sein Partner ihm in diesem Prozess behilflich ist. Von dieser Situation ausgehend kann behauptet werden, dass Ali auch bezüglich des Erlernens der deutschen Sprache allein ist. Er bemüht sich von Beginn der Beziehung an um die deutsche Sprache. Zu diesem Zweck beschafft er sich einen Fernseherapparat und sieht öfter fern als zuvor. Ob er eine Sprachschule besucht oder nicht, lässt er im Interview aus. Er stellt es so dar, dass er keine anderen Hilfsmittel zum Erlernen der Sprache zur Verfügung hat. Trotz dieser Situation ist er der Hoffnung, dass er innerhalb kurzer Zeit gut Deutsch reden kann. An dieser Stelle wird er selbstkritisch und äußert die Vermutung, dass er die deutsche Sprache nie auf Muttersprachlerniveau wird erlernen können. Hinzu kommt der Prozess des Alterns, wonach seiner Meinung nach mit zunehmendem Lebensalter das Erlernen einer anderen Sprache schwieriger wird. (vgl. Segment 28). Wie Ali mit dieser Situation umgeht, welche Lösungsstrategien er entwickelt, erzählt er im Laufe des Interviews auf emotionale Art und Weise. Zum einen nutzt er die Interviewsituation als Gelegenheit, möglichst viel zu reden. Zum anderen liest er mehr Bücher als zuvor. Hinzu kommen auch die Gespräche in seinen Phan-
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tasien. In seiner einsamen Welt, während der Abwesenheit seiner Freund_innen, führt er einseitige Dialoge. All das zeigt, dass er Sehnsucht nach Unterhaltungen und Gesprächen hat. Weil er nur geringe Deutschkenntnisse hat, ist die Kommunikation mit seinem Partner eingeschränkt, er kann nicht viel sagen. Als jemand, der unter normalen Umständen relativ viel redet, macht er sich Sorgen, dass seine Beredsamkeit abstumpfen wird. Als Gegenmaßnahme, die ihm während des Interviews einfällt, verspricht er sich, die deutsche Sprache doch zu lernen und zwar so gut wie jemand, der seit 10 Jahren in Deutschland lebt. Zuletzt fügt er hinzu, dass er aufgrund seiner sprachlichen Probleme sogar seinen Lebensstil geändert hat. Während er vor seiner Partnerschaft keinen Fernseher besaß, hatte er sich mit Beginn der Partnerschaft einen Fernseher zugelegt. Er nutzt dieses Gerät als Ersatzgesprächspartner. Während er einen passiven Dialog mit dem Fernsehgerät führt, versucht er gleichzeitig, nur deutsche Programme anzuschauen, damit er schneller Deutsch lernen kann. Soziales Umfeld in Deutschland Ali versteht sich als Gefühlsmensch, der auf zwischenmenschliche Beziehungen großen Wert legt. Für ihn gilt und zählt die Kultur des Teilens, welche seiner Meinung nach aus dem mittleren Osten stammt, zu den primären Voraussetzungen für innige Freundschaften. Er würde sich einsam fühlen, wenn er mit seinen Freundinnen nichts teilen würde. So kann er mit Leuten, die nicht bereit sind, etwas zu teilen, keine Freundschaften schließen. Obwohl er die kulturellen Differenzen in seiner binationalen Partnerschaft nicht negativ erlebt, empfindet er diese in der Aufnahmegesellschaft als störend. Um dies erklärend zu beweisen, geht er auf die Unterschiede zwischen Osten und Westen ein und vertritt seine eigene These, dass die Qualität der sozialen Verhältnisse im Osten besser als im Westen ist. Aufgrund seiner Fremdheitserfahrungen stellt er in kurzer Zeit fest, dass er in Deutschland keine selbstlosen Freundschaften aufbauen kann, denn die Deutschen bzw. Westeuropäer_innen haben ein anderes Verständnis von Freundschaftsbeziehungen. Durch diese in Deutschland erlebten Differenzerfahrungen, die auf dem unterschiedlichen Ausleben von zwischenmenschlichen Beziehungen basieren, kann er sich nicht vorstellen, hier neue Freund_innen zu finden. Dieser Leidensprozess stellt eine Verlaufskurve dar, die durch Einsamkeit und soziale Isolation im Ankunftsland gekennzeichnet ist (vgl. Segment 19). In der Situation des einsamen Migranten entwickelt er eine Bewältigungsstrategie, die sich in einer emotionalen und sozialen Abhängigkeit von seinem Partner manifestiert. Er stellt seinen Partner als Ausnahme in der Mehrheitgesellschaft dar und konstatiert, dass der Partner kein typischer Westeuropäer sei. Seine Beziehung begründet er erstens mit der ostdeutschen Herkunft seines Freundes, und zweitens führt er an, dass es sich in seiner Partnerschaft nicht um eine Freundschaft handelt, sondern um eine
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Liebesbeziehung. Daher kann er nicht behaupten, dass sein Partner mit ihm nichts teilen würde (vgl. Segment 18). Mit seiner distanzierten Haltung zur Ankunftsgesellschaft zeigt er, dass er mit deren Mitgliedern innige Freundschaften vermeidet. Während er diese selbstbestimmte Einstellung zu den zwischenmenschlichen Beziehungen im fremden Land so ausdrückt, fügt er hinzu, dass er sich eigentlich nicht einsam fühlt, weil er hier zumindest seinen Partner hat, der für ihn auch als größter Freund gilt. Im Hinblick auf die Kontaktsituation mit den Freund_innen bzw. der Verwandtschaft seines Partners führt der Erzähler interessante Aussagen an. Wie aus der sequenziellen Analyse hervorgeht, hat Ali einige Kontakte zu dem sozialen Umfeld seines Lebenspartners. Diese Kontakte sind in verschiedene Beziehungsstatus gegliedert. Dazu zählen die Ex-Frau und Kinder des Partners, der Ex-Partner und alte Freund_innen aus verschiedenen Bereichen (wie Studium, Arbeitsplatz und Familie). Mit der Ankunft Alis in Deutschland stellt sein Partner ihn bei verschiedenen Bekannten, Freund_innen und Verwandten vor. Auch wenn Ali nichts von einer direkten Diskriminierung in diesem sozialen Umfeld des Partners erfährt, kann er sich auch hier nicht aufgehoben fühlen. Aus seiner Erzählung geht hervor, dass diese Bekannten und Freund_innen sich nach der Eintragung der Partnerschaft vom Paar distanziert haben. Diese Distanz kann er zwar nicht erläutern, jedoch verweist er auf die Erklärungen seines Partners. Demnach seien diese Bekannten und Freund_innen gegen die Partnerschaft mit Ali. Nicht aufgrund einer rassistischen oder homophoben Einstellung distanzieren sie sich von dem Paar, sondern deshalb, weil sie sich vor dem Auftauchen Alis eine mehr oder weniger intime Beziehung zu seinem Partner erhofft hatten. Mit der Partnerschaft zu Ali konnten diese Erwartungen nicht erfüllt werden, so dass die Kontakte allmählich abgebrochen wurden. Interessant und bedeutungsvoll für das Paar ist, dass der ehemalige Partner seinen Kontakt auch nach der Eintragung der Lebenspartnerschaft des Paares weiter beibehält und sein Verhältnis zu Ali intensiviert. Der ehemalige Freund des Partners stellt sich hier für Ali als Unterstützer dar, der ihm in der Anfangsphase in Deutschland und bei den partnerschaftlichen Problemen hilft. Auch wenn der ehemalige Freund des Partners anfänglich gegen Ali Hassgefühle entwickelt hatte und ihn sogar mit dem Tode drohte, änderte sich sein Verhalten, nachdem er Ali kennen gelernt hat. Zur leiblichen Mutter und zum leiblichen Bruder seines Mannes hat Ali keinen Kontakt, jedoch konnte er seine Ex-Frau und die Kinder kennenlernen. Von der ehemaligen Kernfamilie seines Partners erfährt er keine diskriminierenden Handlungen.
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Diskriminierung „Deswegen finde ich es furchtbar, in einem Land zu leben, wo das Leben der Menschen von der Arbeit bestimmt ist“
Diskriminierungs- und Fremdheitserfahrungen Bezüglich der Diskriminierungserfahrungen in der Aufnahmegesellschaft teilt Ali nichts Auffälliges mit. Auch durch die deutschen Behörden und anderen Institutionen erfährt er aufgrund seiner Homosexualität oder seines migrantischen Status keine direkten diskriminierenden Handlungen. Dies begründet er mit den eigenen persönlichen Charaktereigenschaften. Da er ein höflicher und positiver Mensch sei, wird er dementsprechend auch freundlich und positiv behandelt. Er fügt jedoch hinzu, dass er Deutschland trotzdem mit seinem Partner verlassen wolle. Die Gründe für dieses Vorhaben verbindet er mit den in der Aufnahmegesellschaft erlebten und empfundenen Fremdheitserfahrungen. Diese Fremdheitserlebnisse führt er auf das gesellschaftliche und staatliche System der BRD zurück. Ali kommt in den ersten neun Monaten nicht mit den Strukturen der deutschen Gesellschaft zurecht. Er ordnet seine Probleme in zwei Gebiete ein: Zum einen die deutsche Bürokratie, also institutionelle Probleme, und zum zweiten gesellschaftsstrukturelle Probleme. Er beschwert sich in erster Linie über den überwachenden Staat und das präskriptive Gesellschaftssystem. Durch die folgenden zwei Aussagen bringt er seine Probleme aus einer Doppelperspektive auf den Punkt: Ich mag es nicht, so eng mit dem Staat zu leben und deswegen finde ich es furchtbar, in einem Land zu leben, wo das Leben der Menschen von der Arbeit bestimmt ist. (Zeile 993f.) Als Beispiel für seine Fremdheitserlebnisse nennt er, dass er einen Antrag stellen musste, um auf seinem Balkon eine Satelliten-Antenne anbringen zu können. An der Betonung seiner Aussage hört man deutlich, wie er sich durch die deutsche Bürokratie gestört fühlt und welche Probleme er mit dem sozialen Leben in Deutschland hat. Seiner Ansicht nach ist es hier zu beengt und auch zu technisch und alles vorgeschrieben. Aus diesem Blickwinkel kann man die Fremdheitserlebnisse des Interviewpartners unter den folgenden Punkten analysieren: Zwischenmenschliche Beziehungen in Deutschland Die Beziehungen der Deutschen zueinander bezeichnet er als normativ. Diese Normativität bezieht er auf die westliche Kultur oder gesellschaftliche Formationen des Amkunftslandes. Da er aus dem Osten kommt und andere soziale Normen, die durch die Morgenländer geprägt sind, verinnerlicht hat, stößt er hier auf Anpassungsprobleme. Die Mechanismen bzw. Funktionen abendländischer zwischen-
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menschlicher Beziehungen kann er nicht begreifen. Dadurch fühlt er sich in einer Zwickmühle, zwischen Osten und Westen. Um aus dieser Zwickmühle heraus zu kommen, entscheidet er sich für die orientalischen Umgangsformen, denen er sich immer noch zugehörig fühlt. Somit lehnt er die Mechanismen der westlichen zwischenmenschlichen Beziehungen ab. Um seine Anpassungsschwierigkeiten besser ausdrücken zu können, bringt er ein Beispiel zur Sprache (vgl. Segment 18). Danach ist das Leben in den westlichen Ländern durch Arbeit, Vorschriften bestimmt, während es in den östlichen Ländern durch Freundschaften, aúk (Liebe) geprägt ist. Darüber hinaus empfindet er die Beziehungen in Deutschland auch als zu kalt, was nicht mit seiner Lebensphilosophie übereinstimmt. Aufgrund dieser Anpassungsschwierigkeiten bzw. Fremdheitserfahrungen fühlt sich Ali in Deutschland nicht wohl. Um aus dieser Situation heraus zu kommen, lehnt er das fremdbestimmte Leben ab und versucht, sich durch das biographisch intentionale Handlungsmuster der Selbstbestimmung zu befreien, demzufolge er Deutschland am liebsten aus eigener Initiative verlassen würde. In- und Ausländer_innen Das Thema Ausländer_innen wird unmittelbar von Ali angesprochen. Er findet die Beziehungen der Deutschen zu den Ausländer_innen zu kalt, so wie er auch die zwischenmenschlichen Beziehungen der Deutschen zueinander beurteilt. Damit meint er möglicherweise, dass die Deutschen zu distanziert oder zu differenziert sind. Er kann auch meinen, dass Ausländer_innen hier ausgegrenzt werden. Wichtig ist zu erwähnen, dass Ali, der sich als ein türkeistämmiger Migrant begreift, unter Ausländer_innen möglicherweise die Türk_innen versteht. Denn seine Vergleiche zwischen den Einheimischen und Ausländer_innen beziehen sich auf die Deutschen und Türk_innen. Die Begriffe Ausländer und Türken verwendet er immer in unregelmäßiger Abwechslung. Nach dieser Erklärung der Sprechweise des Interviewpartners kann auf konkrete Erfahrungen und Erlebnisse eingegangen werden: Aus seinen Aussagen kann man schließen, dass er sich durch die Freund_innen seines Partners ausgegrenzt fühlt, so dass er im Interview das Bedürfnis hatte, seine Situation in der Ankunftsgesellschaft zu erzählen. Zudem schildert er die Deutschen als langweilig und oberflächlich, denn sie können nicht über sich reden, sondern nur über alle anderen Dinge, wie Arbeit oder Geld. Es gibt niemanden, der über Gefühle oder über sich spricht. Die Art der Distanz und die fehlende emotionale Nähe innerhalb der Freundschaften in Deutschland kann er weder verstehen noch erklären. Während er in der Türkei eine starke gefühlsmäßige Verbindung zu seinen Freund_innen hatte, vermisst er in Deutschland diese Nähe in Freundschaftsbeziehungen. Aus diesem Grund lehnt er es für sich selbst ab, in Deutschland innige Freundschaften zu schließen.
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Auch an den Ausländer_innen, also an den Türk_innen, übt er Kritik. Dass sie sich in Deutschland so wie Deutsche verhalten, kann er nicht akzeptieren. Während er bei den Deutschen Erfahrungen mit Fremdheit machen muss, macht er mit den Türk_innen, die in Deutschland leben, Differenzerfahrungen. Er unterscheidet die in der Türkei lebenden Türk_innen von denen, die in Deutschland leben. So zählt er sich zu den in der Türkei lebenden und nach Deutschland gekommenen Türk_ innen. Diese Differenzierung führt er auf die unterschiedliche Sozialisation und die andersartigen Lebensräume zurück. Auffällig ist, dass Ali den türkischen Ausländer_innen Recht gibt (vgl. Segment 18). In welcher Hinsicht er ihnen Recht gibt, erklärt er nicht direkt. Dennoch kann man sagen, dass die obige Aussage auch kritische Punkte gegenüber den Migrant_innen beinhaltet. Einer dieser Kritikpunkte Alis an den Türk_innen lautet, dass sie bemüht seien, sich westlich zu verhalten, was aber aus der Sicht Alis nicht möglich ist bzw. immer scheitert: dass man sich emotional, seelisch und geistig verwestlicht. Man kann nur formal westlich sein. Denn unsere Wurzeln stecken im Osten. Während seines bisherigen Aufenthaltes hat Ali weder zu Deutschen noch zu Türk_innen kontinuierlich Kontakte, weshalb er sich in Deutschland nicht genau in einem sozialen Milieu verorten kann. Aufgrund seiner kritischen Haltung zur Mehrheitsgesellschaft bevorzugt er die Einsamkeit, anstatt neue Freundschaften/Bekanntschaften zu suchen oder zu schließen. Um die Gründe für seine Einsamkeit zu schildern, zieht er erneut einen Vergleich zwischen der deutschen und der türkischen Gesellschaft. Bezüglich des normativen gesellschaftlichen Lebens beanstandet er die deutsche Gesellschaft, die sich seiner Ansicht nach als fortschrittlicher bezeichnet. Aufgrund seiner Erfahrungen bezweifelt er den Fortschritt der deutschen bzw. der westlichen Gesellschaften und fragt danach, welche Kriterien eine Gesellschaft erfüllen soll, um als fortschrittlich bezeichnet werden zu können. Seiner Ansicht nach kann man den Fortschritt der Aufnahmegesellschaft nur an ihrer Technologie und Wirtschaft erkennen. Außer diesen beiden Indikatoren sei sie nicht fortschrittlicher als die türkische Gesellschaft. Um seine Behauptung zu belegen, benennt er das LpartG zum einen und zum anderen das präskriptive Gesellschaftsleben. Auch wenn er in Deutschland über das Recht auf eine eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft verfügt, leidet er unter dem gesellschaftsbedingten Mangel an Freiheit. Das heißt, dass die Bürger_innen zwar ihr Leben auf juristischer Ebene mit verschiedenen fortschrittlichen Rechten sichern, aber sie führen im Grunde genommen ein isoliertes Leben. Die Einsamkeit als Verlaufskurve spielt in diesem biographischen Abschnitt eine prägende Rolle. Da er sich bedrängt, überwacht und auch einsam fühlt, will er in der Zukunft mit seinem Partner in ein anderes Land gehen. Um die Fortschrittlichkeitsbehauptung der deutschen Gesellschaft in Frage zu stellen, stellt er eine Gegenhypothese auf, dass Fortschritt nämlich nicht nur mit den
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modernen Lebensbedingungen gemessen werden kann, sondern man muss darauf achten, wie zwischenmenschliche Beziehungen aufrechterhalten werden können. Die Entwicklung dieser Beziehungen ist für ihn ein wesentlicher Maßstab des gesellschaftlichen Fortschrittes: „Also du legst dich im Tiergarten pur, nackt hin, und hältst dich für modern, und auf der anderen Seite hast du keine Ahnung, wie du dein Herz, deine Gefühle öffnen kannst […] Deswegen möchte ich mich nicht mehr dafür interessieren, ob der Deutsche fortgeschrittener ist, oder die Türken rückständig sind […] Ich muss akzeptieren, dass man einfach so lebt. Ich weiß, dass ich auch in diesem System bin.“ (Zeile 1573f.)
Während er dieses Gesellschaftssystem akzeptiert, unterstreicht er nachdrücklich seine negative Befindlichkeit in Deutschland und sucht während des Interviews Lösungsstrategien, wie er sich von diesem Leidensprozess lösen kann. So beschließt er im Interview, dass er nicht mehr zu diesem System gehören und sein Leben selbst bestimmen will: Aber die Wahl gehört mir, nicht in diesem Kreis zu sein. (Zeile 1580 f.) Staat und Gesellschaft Zum einen sind Alis Fremdheits- und Differenzerfahrungen auf die westlichen Gesellschaftsstrukturen und die damit verbundenen Anpassungsschwierigkeiten zurückzuführen. Zum anderen fühlt er sich durch die Funktionsweise des deutschen Staates sehr gestört bzw. auch kontrolliert. Er bezeichnet den deutschen Staat als überwachend. Nicht nur den überwachenden Staat findet er problematisch, sondern auch die affirmative Haltung der deutschen Gesellschaft gegenüber diesem Staat (vgl. Segment 29). Und ich sehe, dass die Bevölkerung das bedingungslos unterstützt. Die bedingungslose Unterstützung des Staates durch die Bevölkerung begründet er möglicherweise mit der Naivität oder Ängstlichkeit der Menschen. Das Verhältnis zwischen dem Staat und der Bevölkerung des Ankunftslandes bezeichnet Ali als problematisch. Die migrationsbedingten Schwierigkeiten stellen sich für Ali als eine überaus negative Verlaufskurve dar. Ali kommt weder mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft noch mit dem deutschen Staat zurecht. In diesem Prozess seines anfänglichen Aufenthaltes in der BRD trifft er starke Aussagen über den Staat und die Bevölkerung. Diese Situation zeigt, dass er in erster Linie mit der Fremdheit konfrontiert ist. Ihm erscheinen fast alle staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen befremdlich, die er möglicherweise nicht akzeptieren will. Dass er die Strukturen der Ankunftsgesellschaft nicht annehmen will und sich vorstellt, in Zukunft wieder auszuwandern, zeigt seine starke Persönlichkeit, die von Selbstbestimmung charakterisiert ist. Ali fühlt sich in diesem Prozess einsam und ratlos, so dass er in Deutschland nicht
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mehr als Migrant leben will. Denn zu den gesellschaftlichen Hürden auf dem Weg der Akklimatisation kommen auch die Barrieren durch die bürokratischen Schwierigkeiten, die die Macht des überwachenden Staates repräsentieren. Die andauernde Situation des Kontrolliertwerdens beeinträchtigt sein Vertrauen in den deutschen Staat. Des Weiteren beschreibt er die Überwachungsfunktion des Staates auf ironische Weise. Er ist der Meinung, dass der Staat seine Bevölkerung, die dem Staat bedingungslos vertraut, betrügt, indem er einige Sicherheitsmaßnahmen auf verdrehte Weise zur Sprache bringt. Dazu gibt er folgendes Beispiel: „Beispielsweise in den U-Bahnhöfen. Dort gibt es Kameras und unter diesen Kameras steht folgendes geschrieben. Für ihre Sicherheit ist hier Videoüberwacht. Nun ist das, ähm, so etwas, wie die Frage, ob die Hälfte des Glases leer ist oder voll. Also du sagst, dass du das für meine Sicherheit tust und ich glaube dir, denn jeder glaubt dir […] im Grunde fühle ich genau das Gegenteil, wirklich. Denn wenn ich dort vorbei laufe, fühle ich mich überwacht.“ (Zeile 1596)
Die Konfrontation mit der Überwachung des Staates und den Situationen, in denen er immer wieder seinen legalen Aufenthaltsstatus nachweisen muss, überfordern ihn, so dass er sich von dem Ankunftsland gemaßregelt fühlt. Die Frustration Alis steigt aufgrund der Einsamkeit, der Isolation und der staatlichen Überwachung. Zum Schluss seiner Erzählung fasst er zusammen, weshalb er sich nicht anpassen und nicht in Deutschland leben will: „Sie wissen alles. Wir haben kein Privatleben, ähm, das ist ihre Philosophie, dieser Menschen von hier, sie haben Geld, die Macht, die Zeit. Sie müssen natürlich von der Arbeit sprechen von der Macht und natürlich nicht von der Liebe oder so. Denn die Liebe bedingt immer mehr als eins […] Wir leben doch im Land dieser Menschen, in einer Gesellschaft, in der die Einsamkeit [Alleinsein] sehr wichtig ist. Also diese Situation bedrängt mich. Darum will ich nicht hier leben […] Also schön, dass die Menschen hier nett und lieb sind, aber sie sind sehr distanziert.“ (Zeile 1616)
Fremdheits- und Differenzerfahrungen in der Türkei Als Homosexueller fühlte sich Ali auch in der Türkei nicht der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft zugehörig. Aus dieser Situation gehen die Erfahrungen mit dem Anderssein bzw. der Fremdheit hervor, die er im Laufe seiner Lebensgeschichte in der Türkei machen musste. Diese Erfahrungen lassen sich mit dem Kontrast zwischen den individuellen Eigenschaften des Interviewpartners und der patriarchalen Heteronormativität der Mehrheitsgesellschaft erklären. Individuelle Eigenschaften des Interviewpartners sind u.a. auch durch seine gleichgeschlechtliche Orientierung gekennzeichnet, während die Normativität der Mehrheitsgesellschaft von der
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Dominanz des Hetero-Patriarchats geprägt ist. Diese genannten Differenzen stellen sich in der Lebensgeschichte des Erzählers als biographische Hürden dar, so dass er sich meistens in einer Situation befindet, sich entweder zu verstecken und an dieser Normativität zu partizipieren, oder sich selbst auszugrenzen. Im narrativen biographischen Interview geht der Erzähler auf drei relevante Erlebnisse ein, die sein Leben grundsätzlich beeinflusst haben könnten: Erstens drückt er sein Unbehagen auch über die Türkei aus. In dieser Erzählung präsentiert er die Verhältnisse der Menschen unter besonderer Berücksichtigung des Gast-Gastgeber-Verhältnisses in der Türkei. Er bewertet diese eher negativ, denn es werden keine qualitativen Gespräche zwischen Gast und Gastgeber geführt. Die Themen, die während eines Besuches angesprochen werden, beziehen sich entweder auf Fernsehprogramme, Fußball oder Frauen. Weil er nicht an diesen Unterhaltungen teilnehmen konnte, zieht er sich im Laufe seines Lebens von der Gesellschaft zurück. Aus seiner Sicht hat auch die türkische Gesellschaft an Innigkeit und Aufrichtigkeit verloren. Anstatt sich an den oberflächlichen Unterhaltungen zu beteiligen, zieht er die Einsamkeit vor (vgl. Segment 29). Zweitens spricht er von dem Verhältnis zu seiner Familie bzw. seiner Schwester, die immer noch nichts von seiner Homosexualität wissen. Diese familiäre Konstellation stellt er in Frage und zweifelt an der Aufrichtigkeit seiner familiären Beziehungen (vgl. ebd.). Auch wenn Ali nicht direkt die Gründe dieser familiären Probleme benennt, kann man diese Situation zwischen ihm und seiner Schwester darauf zurückführen, dass er sich in erster Linie nicht bei seiner Familie als Homosexueller bekennen wollte, denn er hätte möglicherweise Angst vor Ausgrenzung seitens seiner Schwester haben können. Ali fühlt sich auch innerhalb der eigenen Herkunftsfamilie fremd. Drittens erzählt er von einem weiteren m.E. biographisch relevanten Ereignis, das sich als Wandlung darstellt. Als Ali bei einer Firma in einer leitenden Position arbeitete, outete er sich, wobei er daraufhin seinen Job kündigte. Die Kündigung begründet er mit seinem Coming-out, und danach geht er darauf ein, wie sein Coming-out bei der Firma zustande gekommen ist. In der Firma führte er weiterhin ein Doppelleben, um nicht als Homosexueller erkannt zu werden. Das Doppelleben empfand er wiederum als einen großen inneren Widerspruch, der seine Arbeitsleistung zwangsläufig beeinträchtigte. Auch hier fühlte er sich in einem Zwiespalt: einerseits hätte er weiterhin einen Job mit ziemlich hohem Gehalt haben können, andererseits hätte er auf dieses Gehalt verzichten müssen, wenn er sich in der Firma als Homosexueller offenbart hätte. Dieses Dazwischen definiert er als Lüge und verkehrt (vgl. Segment 27). Die Differenzerfahrungen spielen auch in seinem Arbeitsleben eine große biographische Rolle. Diese Verlaufskurve, die sich als Entscheidungsprozess in der Entweder-oder Form manifestierte, bewältigt Ali zunächst mit seinem Coming-out in der Firma. Er nutzt die selbst initiierte Kündigung seiner Arbeitsstelle als weitere Bewältigungsstrategie. Somit handelt er selbstbestimmt,
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was für sein biographisches Handlungsmuster charakteristisch ist. Insgesamt kann man schlussfolgern, dass Ali ein Leben bevorzugt, in das andere sich nicht einmischen bzw. es nicht bestimmen. In solchen Situationen, in denen die Anderen sein Leben beeinflussen wollen, reagiert er emotional, und als Lösung entwickelt er bestimmte Strategien wie zum Beispiel Kündigung, Auswanderung, Rückzug. Wenn man das gesamte Interview betrachtet, kann man feststellen, dass dieses intentionale biographische Handlungsmuster aus den Differenzerfahrungen Alis mit der Mehrheitsgesellschaft hervorgeht und selbstbestimmt ist.
5.3 F ALL III: C AN 5.3.1 Kurzbiographie von Can Geboren wurde Can in einem kleinen Dorf in Westdeutschland. Er ist das älteste Kind eines binationalen Ehepaars. Seine leibliche Mutter ist eine katholisch geprägte Deutsche, sein Vater hingegen ist muslimisch-türkischer Herkunft. Can hat noch vier Geschwister. Als er zwei Jahre alt war, wollten die Eltern ihn und seine ein Jahr jüngere Schwester, die 2006 mit 21 Jahren starb, zur Adoption freigeben. Angesichts dieser Entscheidung engagierte sich die leibliche Tante väterlicherseits und übernahm die Erziehung der Kinder. So wachsen Can und seine Schwester bei ihrer Tante auf, die damals noch neun leibliche Kinder hatte. Auch wenn Can sich nicht an diese Zeit erinnern kann, wird er später, nach zehn Jahren, über diese Situation informiert. Somit erfährt er mit 12 Jahren von der Existenz seiner eigenen Eltern und der weiteren drei Geschwister. Diese Information konnte er damals nicht verarbeiten, da er bis zu diesem Zeitpunkt seine Tante für seine leibliche Mutter hielt. Nach dieser Erkenntnis musste er mit seiner Schwester zu seinen Eltern zurück. Die Zeit bei den Eltern ist für ihn schwer zu ertragen, da er sich gegenüber seiner Familie fremd fühlt, und dieses Gefühl der Fremdheit verursacht schlechte Stimmung im elterlichen Haus. Vom 12. bis zum 16. Lebensjahr lebt er bei seinen Eltern. Gerade in dieser Zeit entdeckt er seine Homosexualität. Die ersten Gedanken über seine eigene sexuelle Orientierung bringen ihn durcheinander. 5.3.2 Strukturelle Textanalyse des dritten Interviews Segment 1: Coming-out Nach der Darstellung der vorliegenden Arbeit und Erörterung des Interviewablaufs signalisiert der Interviewpartner, Can, seine Bereitschaft, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Aufgrund der in der Darstellung der Arbeit vorgegebenen Themenschwer-
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punkte konnte er ins Interview relativ schnell einsteigen. Somit beginnt seine Erzählung mit dem Thema, zu welcher Zeit ihm seine Homosexualität bewusst wurde. Obwohl er mit 13 Jahren seine sexuelle Orientierung entdeckt hatte, konnte er erst mit 16 Jahren in die schwule Szene eintreten. Ein Untersegment dieser Sequenz handelt davon, dass er zuerst oft aus einem Dorf in eine große Stadt gefahren ist, um die schwule Szene näher kennen zu lernen. Hier geht es um die Erzählung, wie und wann er nach Berlin gekommen ist. Die erste Begegnung mit der schwulen Szene in der ersten großen Stadt förderte sein Selbstbewusstsein. Die Ausflüge in dieser Stadt mit einem Kumpel bezeichnet er als Highlight (Zeile 13). In dieser Zeit empfindet er einerseits seine schwule Orientierung immer stärker, andererseits verstärkt sich seine Angst vor der Familie, da er wusste, dass er seine Homosexualität vor der Familie verbergen musste (Zeile 15). Hier knüpft er an das Thema Berlin an. Im Jahre 2003 entschied er sich, sein Leben in vielerlei Hinsicht zu ändern. Zum einen wollte er in Berlin eine berufliche Ausbildung absolvieren, zum anderen seine Homosexualität offener ausleben. In Berlin partizipiert er am Leben der Schwulen und fängt an, seine schwule Disposition zu verstärken. In dieser Zeit taucht das Problem des Doppellebens auf, das ihn bis zu seinem Coming-out gestört hat: Nur ein einziges Problem bei mir war, ist, ich war damals ungeoutet gewesen und, ja das war immer dieses Versteckspiel, also tagsüber bin ich der Junge (s.z.v.) bin ich eigentlich der andere Typ, und diese zwei Seite zu sein hat mich eigentlich immer gestört gehabt. (Zeile 25-28) Mit dieser Aussage beendet Can das erste Segment bzw. kündigt das Thema des nächsten Segments an. Segment 2: Coming-out gegenüber der Familie Im zweiten Segment erzählt Can von seinem Coming-out vor seiner Familie. 2003 zog er nach Berlin und lebte sich in der schwulen Szene ein, so dass er 2005 bereit war, sich vor seiner Familie als Schwuler zu bekennen. Aufgrund eines Doppellebens erfuhr er zu diesem Zeitpunkt keine offensichtlichen homophoben Diskriminierungen. Erst nach seinem Coming-out begann er, auf diese Art der Diskriminierung zu stoßen: Das war für sie ganz großes Problem, ist immer noch so großes Problem. (Zeile 36) An dieser Stelle ist anzumerken, dass Can von seiner Tante erzogen wurde. Daher übernimmt die Tante die Rolle seiner Eltern (vgl. Segment 14). Die familiären Konflikte aufgrund seiner sexuellen Orientierung erlebt er als Katastrophe (Zeile 41). Mit seinem Coming-out fordert er möglicherweise seine Familie heraus, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und seine Homosexualität zu akzeptieren. In dieser Situation fühlt Can sich alleine, denn das hatte mich auch sehr mitgenommen, und dann haben wir uns gestritten gehabt mit meiner Tante und mit meinen Cousin, Cousine, die waren alle gegen mich, und das war für mich eine Katastrophe.(Zeile 40-41)
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In dieser Zeit, die für Can schlimm war, kommt ein guter Kumpel ihm moralisch zu Hilfe und unterstützt ihn in dieser schwierigen Situation. Während er die Auswirkungen dieser Konfrontation mit der heteronormativen Familie aufzählt, erwähnt er, dass er psychisch erschöpft war und seine Berufsausbildung abbrechen wollte. Im Anschluss an diese Erzählung kommt er auf seine Erlebnisse in der Berliner schwulen Szene zurück. Trotz des Konfliktes mit der Familie gibt er jedoch nicht auf und bewegt sich weiterhin in dieser Szene, wobei er sich meistens mit türkischen Jungs traf und nicht mit den Deutschen (Zeile 55). Damit beendet er dieses Segment und kündigt das nächste Thema des Interviews an. Segment 3: Uwe und ich sind ziemlich verschiedene Personen … Can beschreibt in diesem Segment die Phase, in der er seinen gegenwärtigen Partner, der in Ostberlin geboren und deutscher Herkunft ist, kennenlernt. Im vorangegangenen Segment teilt Can mit, dass er anfänglich mit deutschen Schwulen nicht so oft in Kontakt getreten ist. Eventuell fühlte er sich in den deutschen schwulen Szenen, so wie in der Mehrheitsgesellschaft, nicht gut aufgehoben, oder er hatte sich in der nicht-deutschen Community freier bewegen können. Drei Jahre nach seinem Coming-out lernt er 2006 seinen Partner Uwe kennen. Gleich zu Beginn seiner Erzählung weist er auf die Differenzen zwischen ihm und seinem Partner hin: Uwe und ich sind ziemlich verschiedene Personen, ich meine ich bin türkisch aufgewachsen, so richtig anders als Uwe, und Uwe ist halt so typisch Deutsch aufgewachsen. (Zeile 57-58) Diese Unterschiede haben am Anfang der Beziehung eine beeinträchtigende Rolle gespielt, so dass es innerhalb der Partnerschaft zu Konflikten gekommen ist. Als Beispiel nennt Can, dass er früher eifersüchtig war und seinem Partner vieles verboten hat (Zeile 62-70). An dieser Stelle scheint der Erzähler eine individuelle Eigenschaft, nämlich Eifersucht, mit kulturellen Eigenschaften zu verwechseln. Im Laufe der Beziehung merkt er, dass er nicht mehr eifersüchtig ist. Hier stockte der Interviewpartner acht Sekunden lang in seiner Erzählung. Aus diesem Grund ergreift der Interviewer das Wort und stellt eine erzählgenerierte Frage, um das Interview wieder in Gang zu setzen͗ Wie habt ihr euch kennen gelernt? (Zeile 82) Auf diese Frage hin begann Can zu beschreiben, wie er seinen Partner kennengelernt hat. Das Paar trat zum ersten Mal über eine schwule Internetplattform in Kontakt. Aus seiner Erzählung kristallisiert sich heraus, dass beide Partner sich innerhalb eines Abends sowohl im virtuellen als auch im realen Leben getroffen bzw. kennengelernt haben. Das erste Treffen geschieht in der Wohnung des deutschen Partners. An dieser Stelle leitet Can ein Untersegment ein, das von einem anderen Thema handelt und als eine Rechtfertigung betrachtet werden kann. Als Can sich mit seinem Partner treffen wollte, hatte er keine Absicht, eine neue Beziehung zu beginnen:
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„Ja, eigentlich von meiner Seite aus, ich hatte so von Beziehung eigentlich die Schnauze voll gehabt, weil ich davor mit einem anderen Typen zusammen war, der Türke, der nicht in Berlin gewohnt hat, und eigentlich wollte ich keine Beziehung oder so liebemäßig, wollte ich eigentlich alles verhindern.“ (Zeile 90-93)
Mit dieser Aussage begründet Can, dass er aufgrund einer eventuell schlechten Beziehungserfahrung keine neue Beziehung eingehen bzw. sich von Liebesbeziehungen bewusst distanzieren wollte. Nach dieser argumentativen Erklärung kommt er auf den Kennenlernprozess zurück: „Na ja, hab ތich mich mit Uwe getroffen, und es war sehr schön zwischen uns am Anfang, also er sieht sehr gut aus (lacht), hat guten Charakter aber kann auch sehr schlechten Charakter haben, das schwankt bei ihm zwischen gut und schlecht (...) Ja, dann hab ތich mich bei ihm nicht gemeldet, ich wollte auch nicht mich bei ihm melden, ja, aber er hat immer bei mir angerufen, SMS geschrieben, lass uns treffen, lass uns sehen, und, ja wir haben uns immer wieder getroffen und dann eines Tages waren wir zusammen, er war verliebt, ich war verliebt gewesen.“ (Zeile 94-100)
Mit dieser Aussage wird das Kennenlernen mit Argumenten des Erzählers paraphrasiert. Da der Partner vielleicht manchmal einen schlechten Charakter aufwies und Can früher eine schlechte Beziehungserfahrung hatte, wollte er keine neue Partnerschaft beginnen. Auf der anderen Seite signalisierte der zukünftige Partner mittels zahlreicher Kontaktversuche, eine Beziehung mit Can eingehen zu wollen. Nach mehreren Treffen entschlossen beide Partner sich, zusammen zu kommen. Segment 4: Der wird so ganz schnell aggressiv … Im Anschluss an das vorhergehende Segment, das vom Kennenlernprozess handelte, spricht Can die partnerschaftlichen Probleme an. Er leitet dieses Segment mit einer Aussage über den Zusammenhalt der Beziehung ein. Am Anfang zeichnete die Partnerschaft sich durch gegenseitige Unterstützung in schlechten Zeiten aus: „Ich und Uwe haben wir bis jetzt eigentlich sehr vieles erlebt (s.z.v.), und ich meine, sein Vater ist gestorben, ich war bei ihm gewesen […] war ich meistens auch so depressiv gewesen, weil meine Schwester auch gestorben ist, vor paar Jahren, da war er auch bei mir […] wir haben uns immer so gegenseitig unterstützt.“ (Zeile 103f.)
Trotz dieser gegenseitigen Unterstützung des Paares sind einige Probleme aufgetaucht, die die Partnerschaft grundsätzlich beeinträchtigen und den Erzähler mental beschäftigen. Can bezieht diese Probleme auf verschiedene Differenzen des Paares. Aus dem Segment lassen sich mindestens drei Gründe erkennen, die zu einer Ver-
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schlechterung der Beziehung führen. Es handelt sich um finanzielle Unterschiede, kulturelle Unterschiede und Sprachprobleme. Aufgrund unterschiedlicher Einkommensverhältnisse führen beide Partner einen unterschiedlichen Lebensstil. Während Can sein Leben seinem Verdienst entsprechend führt, hat sein Partner eine ganz unterschiedliche Lebensweise. Diese unterschiedliche und einkommensbedingte Lebensführung Uwes stellt für Can eine Anpassungsschwierigkeit in der Beziehung dar, so dass er nicht den Wünschen seines Partners nachkommen kann: „Jeden Tag will er woanders essen […] und das Problem ist bei mir, ich verdiene nicht so viel Geld, dass ich das alles mitmachen kann […] von ihm eingeladen zu werden, möchte ich auch nicht […] und halt diese […] also diese finanzielle Sorge von mir, das macht schon die Beziehung ziemlich bemerkbar, also (..) das stört uns eigentlich auch, und, ja, der wird so ganz schnell aggressiv und.“ (Zeile 107ff.)
Im Laufe des Interviews äußert Can, dass sein Partner sich über Situationen ärgert, in denen Can sich aus finanziellen Gründen nicht an ihn anpassen kann. Der Partner verlangt von ihm ständig, seine finanzielle Situation zu verbessern, was zum Zeitpunkt des Interviews schwierig ist. Aus dieser Erzählung resultiert, dass sein Partner ihn finanziell nicht unterstützen will. Aus der Sicht Cans scheint dieses finanzielle Problem die Beziehung gestört zu haben. Im Folgenden kommt Can zu einem neuen Thema, das er als Problem der kulturellen Differenzen betrachtet. Diese kulturellen Unterschiede sind durch engere familiäre Verhältnisse des Interviewpartners gekennzeichnet. Dafür, dass Can nicht immer seine Zeit mit seinem Partner verbringen kann und auch noch Zeit für seine Familie braucht, zeigt der Partner kein Verständnis: „Ich weiß nicht, also bei mir ist es so, oder so generell gesehen, nicht jeden Türken, also generell gesehen bei fast allen Türken ist es immer halt so diese familiäre Enge, […] das immer so zusammenhalten, und das hat er nicht immer verstanden, dass ich öfters mit meiner Familie zu tun hab ]…[ ތund für ihn ist es so, seine Mutter ist ihm total egal eigentlich […] und das hat mich auch am Anfang sehr schockiert, also ich bin voll Familie geengt, und er ist so außen Seite so von Familie so.“ (Zeile 135ff.)
Can reagiert entrüstet auf die Gleichgültigkeit seines Partners bezüglich seiner Mutter. Er führt dies auf die deutsche Kultur zurück. Zum anderen beklagt er die Intoleranz seines Partners gegenüber seiner familiären Bindung, die er generell als eine türkische Eigenschaft ansieht. So erweisen sich die genannten Probleme als destruktiv für die Partnerschaft. Dieses Segment beendet der Erzähler mit einem sprachlichen Problem, auf das der Partner keine Rücksicht nehmen will bzw. den Interviewpartner deshalb verach-
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tet. Can ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Er verfügt über türkische und deutsche Sprachkenntnisse. Aufgrund seiner zweisprachigen Erziehung kann es manchmal zur Verwechslung der Sprachen kommen oder zu grammatischen Fehlern: „Und, ja, oder wegen meiner Aussprache, da haben wir immer noch so‘n große Problem, er tut mich immer verbessern, wenn ich so spreche, gebe ich auch zu, dass ich jetzt, ähm, Dings Ausspracheprobleme hab mit dem oder den, ihren oder dessen und alles Mögliche, und er verbessert mich immer dauernd […] und er versteht eigentlich auch nicht, dass ich eigentlich pro Tag also oder bzw. jeden Tag innerhalb von Sekunde von Deutsch auf Türkisch vielleicht reden kann, und ich meine, das ist auch nicht leicht [...] und, ja, halt in dieser Hinsicht hat ist er schon ein bisschen intolerant, ja.“ (Zeile 150ff.)
An dieser Stelle unterbricht er seine Erzählung und macht eine Pause von sieben Sekunden. Segment 5: Alles war für mich ziemlich anstrengend … Das fünfte Segment beginnt mit einer Nachfrage. Aufgrund der für Can belastenden Themen kam es erneut im vorangegangenen Segment zu einer Erzählstockung. Um die im vorherigen Segment angesprochenen Probleme des Paares nach zu vollziehen, war interessant zu erfahren, mit welchen räumlichen und zeitlichen Abständen das Paar die Beziehung führt. Aus dieser Frage ergeben sich zwei Themen, einerseits das Thema am Anfang der Beziehung und andererseits die familiäre Situation heute. So beginnt Can wieder zu sprechen und erzählt vom Anfang der Beziehung. Im ersten Jahr der Beziehung verbringen beide Partner ihre Zeit oft zusammen, so dass Can häufiger bei seinem Partner übernachten musste. Hier spricht er nicht von einem zeitlichen oder räumlichen Abstand: Also, als wir zusammen waren bis 2007, also ganz zu knapp ein Jahr also, ein ganzes Jahr waren wir eigentlich jeden Tag zusammen. Man hätte gesagt, ich hab bei ihm gewohnt. (Zeile 170-172) Während er über diese Situation der Beziehung erzählt, kann man aus seiner Erzählweise schließen, dass er in diesem einen Jahr sehr zufrieden war. Dennoch führt er ein Untersegment an, das vom Kontakt zu seiner Familie handelt. Die zeitliche und räumliche Nähe des Paares wird im Laufe der Zeit weniger. Dass sie sich immer seltener treffen können, begründet er mit familiären Zwängen. Can fühlt sich gegenüber seiner Familie, insbesondere seiner Tante, die ihn wie eine leibliche Mutter erzogen hat, verpflichtet. Während er Zeit für seine Beziehung brauchte, musste er ebenfalls oft bei seiner Tante und Cousine sein, denen es gesundheitlich schlecht ging. Zum anderen spricht er auch von der Schwierigkeit, sowohl seiner schwulen Partnerschaft als auch seiner heteronormativen Familie zu genügen. So musste er seine
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Tante oft belügen, wenn er die Nacht bei seinem Partner verbringen wollte, was ihn wahrscheinlich demoralisierte. Zudem ist er auch in Vollzeit beschäftigt, so dass er sich an den Wochentagen körperlich erschöpft fühlt. Aus all diesen Gründen musste er sich entscheiden, wie er seine Zeit für sich, für seine Partnerschaft und seine Familie aufteilen sollte. So begann er, seinen Partner seltener zu besuchen und weniger bei ihm zu übernachten: „Aber jetzt mit der Zeit , wo ich auch arbeite, richtig Vollzeit und dann klappt das nicht, weil ich hab ތerstens keine Lust […] bei Uwe zu schlafen, weil in dieser Hinsicht, weil ich komme von Arbeit, ich bin total genervt und wenn ich zu Uwe gehen musste, dann muss meiner Tante wieder was erzählen.“(Zeile 185ff.)
Aus seiner Beschreibung geht hervor, dass er sich zerrissen fühlt. Zu dem Doppelleben kommt auch die Vollzeitarbeit hinzu. Diese Situation des Doppellebens, das auch von der Berufstätigkeit belastet wird, fasst er am Ende des Segments zusammen und schließt das Thema ab: „Alles war für mich ziemlich anstrengend, deswegen sehen wir uns eigentlich (..) also jetzt heute […] höchstens zwei Mal oder drei Mal in der Woche, oder zwei Mal in der Woche bei ihm schlafen […] das können wir momentan nicht ändern, weil, weil ja meine Tante ist krank, ich muss da sein für sie und (..) meine Cousinen und ihr geht es auch nicht so gut, und wegen meiner Arbeit bin auch total gestresst und will ich auch nicht ihn nerven, oder er ist von seiner Arbeit total gestresst (..) deswegen sehen wir uns meistens Wochenende.“ (Zeile 195ff.)
Segment 6: Er kann lieb sein, aber er kann auch sehr anstrengend sein. Auch dieses Segment wird mit einer internen Nachfrage des Interviewers eingeleitet. Der Interviewer kommt auf die Zeit zurück, in der das Paar fast ein Jahr zusammen gewohnt hat. Es geht dabei um den Beziehungsalltag und dessen Gestaltung durch beide Partner. Auf diese Frage gibt Can eine Antwort, die sich in erster Linie auf die persönlichen bzw. charakterlichen Eigenschaften seines Partners bezieht. In seiner ersten Aussage stellt er zwischen dem Beziehungsalltag und dem Charakter seines Partners einen Zusammenhang her: Also unserer Beziehungsalltag, Uwe ist so von Person her [sehr] anstrengend, also er kann lieb sein, aber er kann auch sehr anstrengend sein, auch total autoritär. (Zeile 211-213) Damit gibt er Informationen über die Struktur seiner Beziehung. Weil sein Partner anstrengend und autoritär ist, kann man vermuten, dass er in der Partnerschaft öfters bestimmen will. Obwohl Can hinzufügt, dass Uwe manchmal auch lieb sein kann, ändert das nichts in der Beziehung. Diese Eigenschaften des Partners führen zu ernsthaften Beziehungsroblemen. Als Beleg dafür nennt er: Also, das alles nach seiner Nase geht
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oder so […] es war Zeitlang auch schön, es war aber auch Zeitlang wo es Zeitlang so ziemlich gekracht hat (Zeile 216-220). Dennoch scheint Can diese Situation zu bewältigen, denn das ist normal, gehört zu der Beziehung, dass man sich streitet. (Zeile 220) Im Anschluss an diese Aussage erwähnt er ein Untersegment, das auch eine gute Zeit der Beziehung beschreibt. Diese angenehmen Momente zeigen sich mit der Unterstützung durch seinen Partner im Vorfeld seines angestrebten Abiturs: Damals habe ich auch Schule gemacht, Abitur oder so, oder versucht, Abitur zu machen, da hat er mir sehr gut, sehr geholfen (...) das war eigentlich, war gute Zeit, es war gut, es war aber auch schlecht, das Problem ist, dass Uwe ist so unordentlicher Mensch. (Zeile 228ff.) Der Erzähler geht hier auf negative Eigenschaften seines Freundes ein und beginnt, seine Erfahrungen mit seinem Partner detailliert zu schildern. Aus seiner Erzählung lassen sich folgende Eigenschaften von Uwe erkennen: Er ist anstrengend (Zeile 212), autoritär, dazu gehört auch die Dominanz (Zeile 213), unordentlich (Zeile 230-236) und fordernd (Zeile 240-251). All diese als negativ bewerteten Merkmale des Partners stellen für Can große Schwierigkeiten bei der Frage des Zusammenwohnens dar. Hier kommt auch hinzu, dass das Paar nicht auf den offensichtlich notwendigen zeitlichen und räumlichen Abstand geachtet hat, so dass es sich für beide Seiten kompliziert gestaltete, zusammen zu wohnen: Montag bis Sonntag haben wir uns jeden Tag gesehen und dann halt wird das zu viel, weil mit der Zeit haben wir uns gestritten, und sonst war es gut. (Zeile 265-266) Abgesehen vom Zusammenwohnen bewertet er ihr Verhältnis als gut. Die Beziehung scheint trotzdem gefährdet. An dieser Stelle berichtet er, wie er versucht, die Partnerschaft zu retten und mögliche Lösungen dafür zu finden. So entschieden sie sich einstimmig, die Beziehung aufrechtzuerhalten, aber getrennt zu wohnen. Damit bezweckt das Paar, die partnerschaftlichen Probleme durch einen gewissen Abstand zu reduzieren: „Aber er ist halt anstrengend, in einige Sachen, da passt es nicht, daher sag ich so, dass wir nie eigentlich zusammen wohnen könnten, weil das für mich zu viel, und ich glaube das wäre auch für ihn zu viel, weil er braucht sein Abstand, und ich brauche auch meine Abstand […] ich glaube, so ist gut momentan, OK, einige Freunde von mir sagen, ja, ihr seid doch zusammen, wieso lebt ihr nicht zusammen und ich meine, das ist nicht einfach, wenn man zusammenlebt.“ (Zeile 293ff.)
Der Interviewer stellt die These auf, dass die einjährige Wohngemeinschaft des Paares als Probezeit betrachtet werden kann, um zu sehen, ob beide Partner innerhalb einer Wohnung zusammenleben können oder nicht. Der Erzähler bestätigt diese These und argumentiert abschließend, wie es dazu kam, dass das Paar sich räumlich getrennt hat:
266 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE „Ja genau, kann man so sagen, dann habe ich so festgestellt, ich kann nicht mit Uwe in einer Wohnung leben, für immer […] es geht nicht, weil er ist, er ist anstrengend, ich bin auch bestimmt anstrengend, aber, das würde dann nicht klappen auf Dauer. Das ist jetzt eher besser für uns, wenn wir halt getrennte Haushalte haben. Also das ist auch gut für die Beziehung, und das hab ތich auch danach gemerkt.“ (Zeile 307ff.)
Segment 7: Uwe ist so eine Person, es muss alles nach seiner Nase gehen … Im siebten Segment handelt es sich um den Freundeskreis des Partners des Erzählers. Die Frage zielt darauf ab, ob Can bei den Freund_innen seines Partners integriert ist. Nach seiner Erzählung hat Uwe nur eine geringe Zahl von Freund_innen. Dies begründet Can wiederum mit den charakterlichen Eigenschaften seines Partners. Da Uwe anstrengend und dominant ist, halten die Freundschaften nicht lange; aus diesem Grund ist er auch depressiv geworden. Folgendes Zitat belegt die Aussage Cans: „Er hat eigentlich kaum Freunde oder ganz wenige Freunde, er ist auch manchmal auch so depressiv drauf […] und also, ich kenne alle seine Freunde, ja klar, aber sie sagen selbst die Freunde von Uwe sagen mir, er ist anstrengend Uwe, so mit der Zeit ist es anstrengend geworden […] Uwe ist so eine Person, es muss alles nach seiner Nase gehen, wenn er sagt, komm ތwir gehen jetzt zu XY-Bar, dann müssen wir auch zu XY-Bar, da gibtތs keine zweite Wahl […] das hat auch einige Freundschaften von ihm selbst kaputt gemacht.“ (Zeile 328ff.)
Des Weiteren fügt Can hinzu, dass sein Partner sich im Laufe der Beziehung geändert hat. Hier beginnt der Interviewte ein Untersegment, in dem es um die positiven Veränderungen Uwes geht. Can trägt dazu bei, dass der Partner entgegenkommender und toleranter wurde. Mit der folgenden Aussage versucht er, diese Veränderung seines Partners zu belegen: Ich muss aber sagen, der hat sich mit der Zeit aber verändert, Uwe, er ist eher freundlicher geworden und so locker […] auch durch mich, als ich ihn kennen gelernt habe, war er ja total kalt so. Und jetzt heute kann man sagen, er ist locker geworden, auch ungestresst. (Zeile 343-348) An dieser Stelle stellt der Erzähler eine These auf, die erklärt, aus welchem Grund sein Partner so anstrengend ist. Diesen Charakterzug seines Partners begründet Can mit Uwes Arbeitssituation. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet Uwe ununterbrochen seit etwa neun Jahren bei einer deutschen Behörde, was ihn aus der Sicht Cans nervlich stark belastet. Dieser arbeitsbedingte Stress wird oft auf die Partnerschaft, die Familie oder Freundschaften übertragen, was zur Folge hat, dass seine sozialen Beziehungen Schaden nehmen: „Bei Uwe liegt es darauf, ähm, er geht ja arbeiten, seit er 17 ist, ohne Pause zwischendurch zwei Monate oder so, und er hat halt die Schnauze voll von dieser Arbeit, er ist immer noch
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total genervt von seiner Arbeit […] und das macht sich total bemerkbar in der Beziehung, weil er ist schon immer genervt von seiner Arbeit oder so […] wenn du nicht arbeiten willst, musst du halt zu Hause bleiben, weißt du, und immer, das habe ich öfters gesagt , das wiederholt sich immer, ja aber so (fünf Sek.) ja von seiner Seite her hat er wenig Freunde.“ (Zeile 348ff.)
Wie aus diesem Zitat hervorgeht, bekommt der Partner aus beruflichen Gründen nervliche und psychische Probleme. Can versucht in dieser Situation, seinen Partner zu unterstützen und diese Schwierigkeiten zu beheben. Aufgrund dieser Tatsachen sind jegliche sozialen Kontakte und Verbindungen Uwes gestört. Im Gegensatz zu ihm hat Can einen umfangreichen Freundeskreis. Hier beginnt ein neues Untersegment. In diesem Abschnitt geht der Erzähler auf eigene gute Freunde ein. Can legt auf diese Freund_innen einen besonderen Wert, denn er kann mit ihnen über alles reden, was er nicht mit seinem Partner besprechen mag: Es gibt noch so einige Situationen, was ich nicht mit Uwe sprechen möchte, sondern Kumpeln reden möchte, weißt du […] und so Ҳne Effekt, so Ҳne Kumpelschaft hat er nicht […] und von meiner Seite her, ich meine, ich habҲ, jaa nicht sehr viele aber ich habҲ einige gute Freunde, und spreche mit denen sehr gut. (Zeile 368ff.) Dieses Segment wird mit einer Antwort auf eine interne Nachfrage des Interviewers abgeschlossen. Hierbei war relevant zu wissen, ob Can als türkischer Partner durch Uwes Freund_innen akzeptiert wird. Er bejaht diese Frage und erläutert, dass alle Freund_innen seines Partners ihre Partnerschaft und damit auch ihn akzeptieren: also ich bin schon doch bei jedem, bin gut angekommen, seitdem wir zusammen sind […] ich verstehe mich auch mit seinen Freunden gut. (Zeile 391ff.) Segment 8: Heute eigentlich habҲ ich ganz wenig mit der Familie von Uwe zu tun. In diesem Segment geht Can auf die familiären Verhältnisse seines Partners ein. Zunächst berichtet er, dass der Vater von Uwe verstorben ist; seine Mutter lebt mit einer älteren Frau zusammen, die Uwe als Oma betrachtet. Can teilt weiter mit, dass die Mutter von der Homosexualität von Uwe Kenntnis hat, die sie jedoch latent ablehnt: OK, die Mutter weiß Bescheid, dass Uwe schwul ist, so ist es nicht, auch die Oma weiß Bescheid, dass er schwul ist, aber das ist immer noch so bei denҲ auch bei Uwe ist so ein Tabuthema (Zeile 414-416). Nach diesem Bericht fährt er mit der Beschreibung seines Verhältnisses zur Mutter seines Partners fort. An dieser Stelle vermutet Can, dass die Mutter ihn aufgrund seines ausländischen Erscheinungsbildes diskriminiert. Um diese Vermutung zu belegen, erzählt er von einer Erfahrung mit der Mutter: „Die Mutter von Uwe hat mich Anfangs total, also sie war total kühl gewesen, weil ich ja Ausländer war, weil ich ja Türke bin oder so, und die war erste Mal total schockiert, als Uwe
268 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE mich bei ihr vorgestellt hat, und heute eigentlich hab ތich ganz wenig mit der Familie von Uwe zu tun […] die Mutter ist anders, und die mag mich auch nicht […] und ich weiß auch nicht, wieso sie mich nicht mag, ob es daran liegt, dass ich Ausländer bin oder ich weiß es nicht.“(Zeile 427ff.)
Anschließend gibt Can mehrere Beispiele, die für die mögliche rassistische Diskriminierung seitens der Mutter stehen könnten. So wird er von der Mutter nicht als Partner akzeptiert und damit auch nicht zu traditionellen Familientreffen eingeladen. Wenn in der Familie des Partners eine große Feier stattfindet, wird er oft ignoriert bzw. nicht eingeladen. Diese Situation bezieht er einerseits auf die rassistische und zum anderen auf die homophobe Haltung der Mutter. Da die Mutter von Uwe die schwule Partnerschaft ihres Sohnes nicht akzeptiert, muss Can immer damit rechnen, ausgeschlossen zu werden, wenn in der Familie ein großes Treffen organisiert wird: Ich weiß auch nicht, wieso sie mich nicht mag, ob es daran liegt, dass ich Ausländer bin oder ich weiß es nicht […] also ich denke mal, sie akzeptiert die Beziehung zwischen mir und Uwe nicht. (Zeile 435ff.) Am Anfang der Beziehung konnte Can diese Haltung der Mutter nicht akzeptieren, und das, was er mit ihr erleben musste, stellte für ihn ein Problem dar. Während er auf diese rassistische und homophobe Einstellung der Mutter eingeht, lässt er jedoch nicht aus, dass auch seine eigene Familie homophob eingestellt ist. In gleicher Weise, wie er nicht zur Familie seines Partners gehen darf, ist es ihm ebenfalls nicht möglich, mit seinem Partner seine eigene Familie zu besuchen. In diesem Fall würde er mit seiner Tante große Schwierigkeiten erleben. So stellt er beide Familien gegenüber: Was die familiäre Verhältnisse betrifft, auch von mir, auch von Uwe, also es ist immer noch so, schwul sein, die wissen alle, aber das ist so Tabuthema, sie wollen davon nichts hören. (Zeile 458-459) An dieser Stelle eröffnet er ein Subsegment, in dem es um die Homophobie in der türkischen und deutschen Gesellschaft geht. Dadurch, dass er mit der Familie seines Partners Erfahrungen mit rassistischen und homophoben Diskriminierungen machen musste, begreift er, dass Homophobie nicht auf die Kultur der verschiedenen Gesellschaften zurückgeführt werden kann: Und ich dachte immer, bei denen, also ich dachte immer so bei den Ausländern ist das so […]dass die Eltern nicht möchten, aber bei Uwe ist auch so. OK, Uwe hat sich auch geoutet damals, aber der hat halt nicht so große Probleme gehabt wie ich (..) aber ist immer noch Tabu für die Mutter. (Zeile 463ff.) Aus diesem Segment ist ersichtlich, dass beide Partner von den Familien aufgrund der Homosexualität ausgegrenzt werden und die binationale schwule Partnerschaft keine Akzeptanz findet. Auf die Frage nach dem Umgang mit dieser Ausgrenzung antwortet Can, dass es im Gegensatz zu den anfänglichen Schwierigkeiten bei ihm für seinen Partner kein relevantes Thema war. Can konnte sich im Laufe der Zeit an dieses familiäre Problem gewöhnen: Jeder geht einzeln zur Familie, das
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ist auch besser so, also das war anfangs Problem für mich, aber jetzt auch nicht mehr, wie gesagt, bei Uwe war es nie Problem gewesen. (Zeile 499-501) Segment 9: Seit Herbst 2008 gehen wir kaum noch zusammen … In diesem Segment geht es um die Kommunikation zwischen dem Partner und den Freund_innen Cans. Dieses Feld wird durch eine Frage des Interviewers thematisiert. Ob Uwe von den Freund_innen Cans, die überwiegend nicht-deutscher Herkunft sind, akzeptiert wird und ob gemeinsame Aktivitäten unternommen werden, sind Schwerpunkte dieses Segmentes. Diese Frage wird mit einem Vor- und Nachher beantwortet. Das heißt, dass Uwe bis zur räumlichen Trennung des Paares an den gemeinsamen sozialen Aktivitäten mit dem Freundeskreis Cans beteiligt war. Nach dem Entschluss, getrennt zu leben, bricht er auch den Kontakt zu diesen Bekannten und Unternehmungen mit ihnen ab. Can gibt keine direkte Antwort darauf, ob sein Partner von seinen Freund_innen wirklich akzeptiert wurde oder nicht. Jedoch kann man aus der Aussage und früher war das mal öfter so, dass ich ja öfters mit ihm unterwegs war, mit meinen Freunden zusammen […] war auch schön, ja fast jedes Wochenende waren wir immer zusammen aus gewesen. (Zeile 517-518) schlussfolgern, dass Uwe, als Deutscher, im Freundeskreis seines Partners in der Gruppe gut aufgehoben war. Durch das wiederholte Schildern dieser Entwicklung ist Can anzumerken, dass ihn das Getrenntleben von Uwe im Nachhinein unglücklich stimmt. So betont er öfters, dass die gemeinsamen Unternehmungen des Paares durch die Trennung stark abgenommen haben: „Also seit Herbst 2008 gehen wir kaum noch zusammen aus […] er macht sein Ding und ich mach mein Ding, und wenn ich sage, ja komm ތmal mit mir mit, hier ist ތne Party und dort ist dieser Kumpel von mir, er will dann nicht […] er hat keine Lust dazu, er geht dann irgendwie, keine Ahnung, alleine aus oder mit mir zusammen, also wir gehen eigentlich kaum noch zusammen aus.“ (Zeile 522ff.)
Aus dieser abschließenden Aussage lässt sich entnehmen, dass Uwe den Freundeskreis Cans meidet und eventuell kein Interesse mehr an gemeinsamen Aktivitäten zeigt. Damit kündigt er das Thema des nächsten Segmentes an, das sich mit den Gründen für die Verschlechterung der Beziehung auseinandersetzt. Segment 10: Liebe und Paarsein Anschließend an das vorhergehende Segment geht Can auf die Gründe für die Beziehungsprobleme ein. In diesem Segment greift er auf die Themen des vierten und sechsten Segments zurück. Es handelt sich in diesen Teilen seiner Erzählung um die
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Differenzen und diesbezüglichen Konflikte in der Partnerschaft. Das zehnte Segment fungiert dabei als ausführlichere Erläuterung der oben genannten Segmente. So beginnt er zu erzählen, dass er zum Zeitpunkt des Interviews nicht sagen kann, ob die Partnerschaft auf Dauer bestehen würde. Aufgrund der Beziehungskrise befindet er sich in einer Phase, in der er sich unsicher fühlt, ob er seinen Partner noch liebt oder nicht. Die in vorangegangenen Segmenten angesprochenen Themen über die Probleme seines Partners spielen bezüglich des Zusammenhalts der Beziehung eine negative Rolle: „Ja dazwischen das also die Beziehung zwischen mir und Uwe (..) ich weiß es nicht, ob das noch so zusammen lange hält, und da bin ich mir auch unsicher […] ob wir eigentlich noch so als Paar zusammen sein sollten oder nicht, weil diese Liebe diese, weißt du das, es gibt Zeiten, in denen ich ihn geliebt habe, ich weiß jetzt auch nicht, ob ich ihn liebe oder nicht liebe, (..) ich weiß nicht, also momentan ist alles mir so gleichgültig.“ (Zeile 532-540)
An dieser Stelle seiner Darstellung stockt die Erzählung. Er scheint hier nachzudenken, ob und wie er weiter erzählen soll. Um das narrative Interview fortzusetzen, ergreift der Interviewer das Wort und stellt dem Interviewpartner die Frage: Und wie seid ihr dazu gekommen, dass die Beziehung so, ähm, oder gemeinsame Aktivitäten weniger geworden sind, wie ist es dazu gekommen? Du hast gesagt, seit letztem Sommer, ähm, seht Ihr euch, ähm, seltener.(Zeile 545-547) Aus dieser Frage entwickelt sich eine ausführliche Erzählung, die auf den Beziehungsproblemen basiert. Hier erwähnt Can, was die Beziehung so beeinträchtigt hat. Aus seiner Darstellung ergeben sich folgende problematische Punkte: • • • • • •
bindende familiäre Verhältnisse, Stress mit der eigenen Arbeit und mit seinem Partner wegen dessen Beschäftigung, Einkommensunterschiede zwischen den Partnern, unterschiedliche individuelle Interessen, kulturelle Differenzen und Sprachprobleme.
Infolge der im Interview erwähnten traditionellen familiären Enge muss der Erzähler ein Doppelleben führen, was ihn psychisch belastet. Zudem ist er beruflich als Altenbetreuer tätig, und diese Arbeit verlangt gerade psychische und körperliche Belastbarkeit. Can ist aus beruflichen Gründen oft überfordert und will diese Probleme nicht in die Partnerschaft übertragen. Andererseits macht er deutlich, dass auch sein Partner, Uwe, durch seine Beschäftigung überlastet ist. Seiner Meinung nach tragen diese arbeitsbedingten Überlastungen dazu bei, dass die Partnerschaft im Laufe der Zeit unerträglich wurde. Während Can seine Probleme mit der Arbeit
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und der Familie nicht in der Beziehung zu reflektieren versucht, scheint Uwe seine beruflichen Überforderungen an Can auszulassen. Dazu kommen auch unterschiedliche individuelle Interessen des Paares, die für die Existenz der Partnerschaft als bedrohlich bezeichnet werden können. An dieser Stelle ist es wichtig anzuführen, dass diese persönlichen Ansprüche von der Einkommenssituation abhängig sind. Im Vergleich zu seinem Partner verfügt Can über ein geringes Einkommen, was manchmal zu Konflikten innerhalb der Partnerschaft führen kann: „Er ist immer meistens gestresst, und das möchte ich mir nicht anhören von ihm, weißt du, ich meine, ich bin selbst gestresst, aber er ist immer nur gestresst, er kann nicht so abschalten […] und das war große Akt für mich, dass ich gesagt habe, OK, ich meine, das muss ich mir zusätzlich nicht antun, ich meine, ich hab ތsowieso Stress genug, mit meiner Familie, meiner Arbeit, ich meine, was ich arbeite, als Altenbetreuer ist schon stressig genug, dann ich meine, ich habe mit mir auch selbst so Probleme, und dann immer Uwe, dass er immer so gestresst ist […] ja deswegen, auch diese (s.z.v.) haben uns so nicht verstanden, daher, unter der Woche, sehen wir uns ganz selten, so Wochenende sind wir mal öfters ausgehen, das geht auch momentan nicht, weil ich kein Geld habe, also nicht so, ich meine ich hab ތschon Geld, aber ich möchte halt nicht so für Party 15 Euro zahlen, das ist mir dann zu viel […] dann sag ich ja, lass uns was anders machen, das macht er dann nicht mit mir , ich kann ihn ja auch nicht zwingen, dass er, ja, mit der Zeit haben wir uns total verabschiedet, so was Wochenende betrifft, oder ich muss auch mal Zeitlang, ähm, zweiten Job annehmen, freitags nachts, so ich mach ތso kellnern.“ (Zeile 565ff.)
Dieser zitierten Passage ist zu entnehmen, dass das Paar sich in einer ernsthaften Beziehungskrise befindet. Aus finanziellen Gründen kann Can nicht den sozialen Bedürfnissen (wie Partys, Essen in den Lokalen usw.) nachkommen. Andererseits lehnt sein Partner seine Lösungsvorschläge ab, so dass die Beziehung in eine Sackgasse gerät bzw. sich qualitativ verschlechtert. Diese Ausweglosigkeit verursacht nicht nur die räumliche Trennung des Paares, sondern zerstört auch die emotionale Bindung beider Partner. Im Verlauf dieses Segmentes spricht Can von einem anderen Grund für den Verfall der Beziehung und beginnt damit ein neues Untersegment, in dem Can über seine Fehler in der Partnerschaft erzählt. Can gibt zu, dass auch er manchmal willkürlich handelt, wenn sein Partner ihm vorschlägt, auszugehen oder andere Aktivitäten zu unternehmen. So lehnt er es gegenüber seinem Partner ab, wenn dieser mit ihm beispielsweise gemeinsam Sport treiben will: „Ich muss auch zugeben […] wenn ich mal von Montag bis Freitag arbeite, dann bin ich eigentlich faul, will dann gar nichts machen, und daher ist es bei uns halt so, dass wir Wochenende halt meistens sehen […] und er geht immer samstags Sport, oder so, dann sag ތich, ich kann nicht, ich möchte nicht Sport gehen, weil ich am Freitag gearbeitet habe nachts, oder
272 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE die Woche war für mich so anstrengend, dass ich keine Lust habe, irgendetwas zu machen.“ (Zeile 607-614)
Obwohl er sich für die negative Entwicklung der Beziehung verantwortlich fühlt, versucht er auch, sich zu rechtfertigen. Weil er von seiner Arbeit oft überlastet ist, kann er nicht immer den Wünschen seines Partners nachkommen. Nach dieser Erläuterung fügt er jedoch hinzu, dass er und sein Partner sich gegenwärtig gut verstehen, was seinen vorherigen Aussagen widerspricht. Folgende Aussage erklärt den Widerspruch, dass Can zum Zeitpunkt des Interviews nicht in der Lage ist, seine Partnerschaft einzuordnen: Aber jetzt verstehen wir uns wieder gut, also das ist zwischen mir und Uwe, es geht hoch, es geht runter, ist so, mal ist es sehr gut, mal ist so schlecht, dass man sich nicht aushält, also es gibt nicht Mitte, wo man sagt, es geht so la la. (Zeile 593ff.) Dieses Untersegment beendet er mit einer Aussage, die eine während des Interviews gefundene Lösung der Beziehungsprobleme erkennen lässt: war ich nicht in der Lage, etwas zu machen, aber das lasse ich mit der Zeit ändern, dass ich jetzt öfters mit ihm so Sport mache. (Zeile 620-622) Nach einer Redepause von zehn Sekunden ergreift er das Wort selbst wieder und thematisiert erneut die finanziellen Unterschiede. Die Geldprobleme betrachtet er als Hauptauslöser des Beziehungskonfliktes. Weil sein finannzielles Einkommen geringer ist als das seines Partners, kann er den Forderungen seines Partners nicht nachkommen, wodurch meistens Auseinandersetzungen entstehen͗ ich verdiene wenig Geld, und für ihn ist das Geld egal […] er hat das und gibt aus, ich meine, er hat und verdient auch gutes Geld, also einziges Problem zwischen mir und Uwe ist Geldproblem.(Zeile 650ff.) Nachdem Can die finanzielle Ungleichheit als größtes Problem bezeichnet hat, geht er auf die weiteren Gründe ein, die die Beziehung vermutlich gleichfalls negativ beeinflusst haben. So kommt er auf das Thema der Sprache zurück. Wie er bereits im sechsten Segment geäußert hat, betont er hier erneut, dass sein Partner für die Sprachprobleme kein Verständnis habe: wie gesagt, es nervt ihn, sagt er, es nervt ihn, dass ich schlecht deutsch spreche, er sagt zu mir, dass ich sehr. sehr schlecht deutsch spreche, ich soll mal, ähm, deutsch Unterricht nehmen. (Zeile 674ff.) Diese Aussage kann als Beleg für die Intoleranz seines Partners gelten. Auf diese Haltung des Partners reagiert Can, der in Deutschland aufgewachsen ist und seine Schul- und Berufsausbildung absolviert hat, empört. Can ist sich zwar bewusst, dass er manchmal grammatische Fehler macht, jedoch versucht er, das mit seiner zweisprachigen Erziehung zu erklären: „Ich weiß selbst, dass meine Aussprache nicht so 100% ist, weißt du, aber das liegt auch daran, dass ich, ich hab ތihm eigentlich auch gesagt, ich hab ތihm gesagt, innerhalb von Sekunden kann ich mein Gehirn ändern, dann kann ich auch türkisch sein, ich meine, der kann das
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so schnell nicht, innerhalb einer Sekunde soll er alles aus dem deutschen auf einmal auf Englisch sagen […] OK, ich kann verstehen, ich bin in Deutschland geboren, hier aufgewachsen und so, aber es ist halt so.“(Zeilen 680ff.)
Zum Abschluss dieses Segmentes greift er auf das Thema kultureller Differenzen zurück und wiederholt, dass Uwe bspw. auch kein Verständnis für die traditionelle familiäre Bindung hat. Auch wenn Can sein besonderes Verhältnis zu seiner Familie mit der Kultur begründet, lässt er in diesem Punkt die individuellen Eigenschaften seines Partners vielleicht außer Acht. So zieht er einen Vergleich zwischen sich und seinem Partner: „Auch wenn wir, sag ich mal, Sex machen und klingelt das Telefon (lachend), ja, ich muss herkommen und dann muss ich dahin gehen, das versteht er zum Beispiel nicht […] weil sie ja so alt ist, muss ich dann dahin gehen, sie hat mich groß gezogen, weißt du, und als Dankbarkeit geh ތich dahin zu ihr, und das ist bei ihm eigentlich nicht so […] er besucht seine Mutter ein Mal die Woche.“ (Zeile 711ff.)
Segment 11: Wenn ich mit jemanden zusammen bin, dann bin ich mit dem verheiratet. Nach einer Erzählpause von sechs Sekunden ergreift der Interviewer die Initiative und stellt eine Frage nach dem LPartG, ob nämlich der Interviewpartner dieses Gesetz, das den gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit einer Lebenspartnerschaft offiziell anbietet, befürwortet bzw. ob er eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen würde. Can bewertet das LPartG positiv und spricht sich einerseits dafür aus, dass auch Schwule und Lesben eine eheähnliche Partnerschaft eingehen können. Andererseits würde er prinzipiell keine Lebenspartnerschaft schließen, denn also für mich spielt Heiraten kein Problem, ich meine, wenn ich mit jemanden zusammen bin, dann bin ich mit dem verheiratet, so gesehen […] ob das in Papier steht oder nicht in Papier steht (Zeile 743ff.). Wie aus dieser Aussage hervorgeht, spielt die emotionale Bindung zwischen den Partnern eine relevantere Rolle als die gesetzliche. Jedoch hebt er anschließend die Bedeutung der offiziellen Heirat hervor, indem er darauf hinweist, dass er im Falle einer schweren Krankheit seines Partners nicht die Erlaubnis hätte, ihn zu besuchen. Denn: „Fakt ist, wie ich dir erzählt habe, ich habe keinen guten Kontakt mit der Mutter von Uwe, sag ތich mal […] steht man ganz schlimm eines Tages , wenn zum Beispiel Uwe Autounfall hat oder so und er liegt jetzt im Krankenhaus in der Intensivstation, und dann können nur Familienmitglieder rein gehen, ich bin ja kein Familienmitglied, und das heißt halt für mich, ich kann ihn dann nicht besuchen.“ (Zeile 749-754)
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In diesem Punkt weist er auch auf eine möglicherweise diskriminierende Handlung der Mutter seines Partners hin. Ohne eine eingetragene Lebenspartnerschaft, und durch das schlechte Verhältnis zur Mutter seines Freundes könnte er ausgeschlossen bzw. ausgegrenzt werden. Aufgrund der Wahrscheinlichkeit einer solchen Diskriminierung erscheint ihm eine Verpartnerung plausibel, ansonsten würde er kein rechtlich verbindliches Verhältnis mit Uwe eingehen: Weil die Mutter könnte dann sagen, nee, den kennen wir nicht, das könnte sie sagen, und das ist dann halt so einziger Punkt, wo ich sage, OK, (..) aber sonst (...) ist die Beziehung für mich schon Heirat also […] ob das in Papier steht oder nicht in Papier steht, das ist mir eigentlich egal. (Zeile 757-764) Segment 12: Ich könnte eigentlich jeden lieben … Auf die Nachfrage des Interviewers, ob es einen besonderen Grund gibt, einen deutschen Partner zu haben, antwortet Can, dass es nicht an der Herkunft seines Partners liegt. Dies hat für Can keinen Einfluss auf die Zuneigung zu einer Person: Also ich bin so Ҳn Mensch, ich könnte eigentlich jeden lieben (lacht), aber, nee das war so, jaa ich kann, nee, das war einfach so, das liegt nicht daran, dass er Deutscher ist. (Zeile 773-775) Segment 13: Dann habҲ ich gesagt, so genieße ich das Leben … Nach dem letzten Segment macht der Interviewpartner 13 Sekunden Pause. Diese häufigen Erzählpausen lassen sich damit erklären, dass der Interviewpartner sich entweder auf die Fragen des Interviewers einlassen oder nicht mit den autobiographischen Themen befassen möchte, denn die Erinnerung an die Vergangenheit würde ihn psychisch belasten.20 Trotz dieser möglichen Belastung stellt der Interviewer die Frage, wie sich Can dazu entschlossen hat, nach Berlin zu kommen. Damit beginnt die Erzählung wieder und Can berichtet ausführlicher über seine Vergangenheit. Aufgewachsen ist er in einem Dorf in Westdeutschland. Nach der Zeit der Pubertät, vermutlich mit 16-17 Jahren, zog er in die nächste Großstadt. In dieser Zeit wechselte er zwei Mal seinen Wohnort. Das kann man darauf zurückführen, dass Can auf der Suche nach einem geeigneten Ort war, wo er seine Homosexualität offen leben konnte. Zum Schluss entschied er sich dafür, nach Berlin zu gehen, wo auch seine Tante, die ihn groß zog, lebt. Mit dieser Entscheidung beabsichtigte er, ein neues Leben zu beginnen͗
20 Aus dem Gedächtnisprotokoll: Der Interviewpartner hat im Vorgespräch darauf hingewiesen, dass er ungern über seine Vergangenheit redet. Denn er fühlt sich immer schlecht, wenn er an die Vergangenheit denken muss.
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„Von X-Stadt aus bin ich nach Berlin gekommen. Weil auch meine Tante hier war [...] Da unten in X-Stadt hatte ich auch Verwandtschaften, aber ich wollte nicht mehr in X-Stadt leben, und ich wollte so halt total neues Leben anfangen […] dann hab ތich gesagt, du ziehst nach Berlin, machst ތne Ausbildung und dann, ja, seitdem bin ich hier.“(Zeile 789ff.)
Anschließend gibt er an, dass er sein Coming-out vor dem Umzug nach Berlin abgeschlossen hatte. Er teilt weiter mit, dass er davor selten seine Homosexualität ausleben konnte. Berlin spielt in dieser Hinsicht für ihn eine große Rolle, um homosexuelle Kontakte knüpfen zu können: Also, bevor ich nach Berlin gekommen bin, habe ich mein Schwulsein zugegeben […] so selten. Ein Mal im halben Jahr hatte ich mal Sex. Dann bin ich nach Berlin gekommen, dann habҲ ich gesagt, so genieße ich das Leben. (Zeile 804ff.) Abschließend fügt er hinzu, dass auch das Internet einen großen Beitrag zu seiner homosexuellen Entwicklung geleistet hatte. Segment 14: Hin und her gezogen, ein Mal muslimisch sein, und ein Mal katholisch sein. Auch am Ende des vorangegangenen Segments setzt Can mit seiner Erzählung für fünf Sekunden aus. Aufgrund dieser Unterbrechung stellt der Interviewer eine weitere Nachfrage, die sich mit der Kindheit des Erzählers befasst. Daraufhin geht er im folgenden Segment auf die familiären Probleme in der Kindheit ein. So beginnt er zu berichten, dass sein leiblicher Vater türkischer Herkunft und seine Mutter Deutsche ist. Er ist das erste von fünf Kindern. Als Can zwei Jahre alt war, hatten seine leiblichen Eltern vor, ihn und seine ein Jahr jüngere Schwester zur Adoption freizugeben. Die Hintergründe dieser Absicht konnte er sich nicht erklären: Von insgesamt fünf Kindern bin ich der erste Kind […] und nach mir kam gleich meine Schwester, und ja, ich weiß nicht, was für Probleme meine Eltern hatten, sie wollten uns so freigeben, sie wollten mit uns nicht halt zu tun haben. (Zeile 831ff.) An dieser Stelle kommt er auf seine Tante väterlicherseits zu sprechen. Sie reagierte auf die Entscheidung der Eltern, die Kinder zur Adoption freizugeben, empört und verhinderte sie letztendlich. Anstatt die Kinder adoptieren zu lassen, übernimmt die Tante deren Erziehung und bricht den Kontakt zu deren leiblichen Eltern ab. Die Tante hatte damals neun eigene Kinder, zu denen dann noch Can und seine ein Jahr jüngere Schwester hinzu kamen. Damit musste sie insgesamt elf Kinder aufziehen. Dieser Handlung seiner Tante zollt Can Respekt: „Und ja, da war auch meine Tante, und die hat gesagt, nein, das könnten sie nicht machen, dann nehme ich die Kinder auf, und meine Tante an sich, die hat […] neun leibliche Kinder und hat sie mich und meine Schwester auch mit groß gezogen, wir waren elf Kinder zusammen […] also da war ich zwei Jahre alt.“(Zeile 837ff.)
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Damit beendet Can dieses Untersegment und greift ein neues Thema auf, das von seinen Eltern handelt. Als Can zwölf Jahre alt war, kehrte sein Vater zurück, um ihn und seine Schwester zurück zu holen. Bis zu diesem Zeitpunkt wussten weder er noch seine Schwester von der Existenz ihrer leiblichen Eltern, denn die Tante hatte davon nichts erzählt und die beiden wie ihre leiblichen Kinder erzogen. So hielt er seine Tante für seine tatsächliche Mutter und seinen Onkel für seinen Vater. Mit der folgenden Aussage belegt er die damalige Situation: da hat uns meine Tante gesagt, also damals wusste ich ja nicht, dass meine Tante, also damals dachte ich, dass meine Tante meine Mutter wäre. (Zeile 851-852) Can geht mit seiner Schwester zu seiner Familie zurück. Der Erzähler berichtet, dass, obwohl er dann insgesamt drei bis vier Jahre bei seinen Eltern gelebt hat, er sich nicht mit ihnen verstand, da er sich bei ihnen fremd fühlte. Zur Verdeutlichung führt er eine Belegerzählung an, die diese Situation veranschaulichen soll: „Ja, aber das Problem ist, ich kam mit meinem Vater und Mutter nicht klar, wir waren ziemlich fremde Personen […] ich hab mich auch nicht so eingelebt da […] war für mich schwierig und meine Schwester als wäre kein Problem, weil unser Vater hat uns Geschenke gekauft, (s.z.v) und (neun Sek.) ja, da haben wir uns ziemlich gestritten, eines Tages hab ތich mich mit meinem Vater sehr doll gestritten.“ (Zeile 859ff.)
Diese heftige Auseinandersetzung veranlasst den Interviewten, mit seiner Schwester zu ihrer Tante zurück zu kehren. Was die Lösung der familiären Probleme anbelangt, spielt die Tante eine bedeutende Rolle. Sie trägt dazu bei, Can aus seinen dramatischen Schwierigkeiten zu befreien. Seit seiner Rückkehr lebt er bei ihr. An dieser Stelle der Erzählung geht er wieder auf seine Eltern ein, indem er darstellt, dass sie zum Zeitpunkt des Interviews mit drei anderen Kindern, die Can noch nicht kennen gelernt hat, in X-Land leben. Dieses Untersegment schließt er mit einigen Anmerkungen, die sich auf die Zeit, in der er bei seinen Eltern gelebt hat, beziehen. Damals kam es oft zu Konflikten zwischen der muslimischen Tante und der deutschen katholischen Mutter. Can fühlt sich hier hin und her gezogen, ein Mal muslimisch sein, und ein Mal katholisch sein (Zeile 882) In diesem Problemfeld fühlt er sich zwischen zwei Fronten. Er beschreibt, dass er damals nicht wusste, wohin er gehörte. Dieses Problem meistert er aber durch die Rückkehr zu seiner Tante. Zu Beginn des nächsten Untersegmentes spezifiziert er die Kindheit bei seiner Tante. Er betont, dass sie ihn und seine Schwester nicht von ihren leiblichen Kindern unterschieden hat. Laut seiner Erzählung hätte dort eine friedliche familiäre Atmosphäre geherrscht. Auch wenn einige ältere Cousins über Cans familiäre Situation informiert waren, hätten auch sie kein Problem damit gehabt, dass er und seine Schwester mit erzogen wurden. Er betrachtet seine Cousinen und Cousins als Schwestern und Brüder: Wir sind sehr gut miteinander zusammen, also meine Cou-
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sinen und meine Cousins sind eigentlich meine Schwester und meine Brüder, so gesehen, nicht leiblich, aber wir sind alle groß geworden zusammen.(Zeile 901ff.) Ein weiteres Untersegment handelt von dem Verhältnis seiner Tante zu seinem leiblichen Vater. Dieses Unterkapitel gibt Informationen darüber, dass der Vater des Interviewpartners innerhalb der ganzen Familie nicht beliebt war. Als Grund nennt Can, dass sein Vater schon als Kind oder Jugendlicher in der Familie nicht akzeptiert wurde. Can kann dieses allerdings nicht weiter ausführen. Als nächsten Grund führt er an, dass sein Vater nicht beliebt war, weil er ihn und seine Schwester zur Adoption freigeben wollte. Daher bricht die Tante den Kontakt zu ihrem Bruder, den sie in den 70er Jahren nach Deutschland geholt hat, ab. Can sieht in der Adoptionsabsicht die Hauptursache für die Unbeliebtheit seines Vaters: „Als er uns zur Adaption geben wollte, dann war die ganze Familie gegen ihn. Wie kann es sein, dass du eigene Kinder zu Heim geben willst und […] man überlegt doch, wenn man Kind macht, ob man es überhaupt groß ziehen möchte […] und Kontakt zwischen meinem Vater und meiner Tante ist, gibt es nicht mehr.“ (Zeile 917ff.)
Diese als Beweis geltende Aussage eröffnet ein neues und letztes Untersegment, in dem auf die Frage der Erziehungsberechtigung eingegangen wird. Nach der Übernahme der Betreuung von Can und seiner Schwester bekam die Tante die gesetzliche Erziehungsberechtigung für die Kinder. Über das gesetzliche Verfahren zur Erlangung der Erziehungsberechtigung kann er jedoch keine weiteren Informationen geben. Damit beendet er das gesamte Segment und macht eine Redepause von neun Sekunden. Segment 15: Ich bin Halbdeutscher … Nach seiner Erzählpause spricht Can erstmalig von seiner deutschen Seite. Hier betont er, dass er wegen seiner deutschen Mutter ein Halbdeutscher (Zeile 949) sei. Dennoch fühle er sich nicht so und habe auch keine deutschen Eigenschaften. Des Weiteren führt er aus, dass er von der Existenz seiner deutschen Verwandtschaft weiß, aber zu ihr keinen Kontakt hat: Ich bin Halbdeutscher, obwohl ich von meiner deutschen Seite nichts habe, Verwandte habe ich auch sehr viele, so ist das nicht, aber ich habҲ keinen Kontakt, also keinen einzelnen. (Zeile 950-951) An dieser Stelle unterbricht er seine Ausführung zehn Sekunden lang. Segment 16: Mit 16 habҲ ich angefangen, mich umzuschauen. Nach der 10 sekündigen Erzählunterbrechung ergreift der Interviewer das Wort und versucht, den Befragten zum Reden zu ermuntern: Ich habҲ jetzt einige Fragen Can, wenn du Zeit hast, kannst du, du hast kaum über deine Kindheit […] erzählt […]
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zum Beispiel, wann hast du gemerkt, als du Kind warst, dass du ‚anders‘ bist? (Zeile 954ff.) Mit dieser Frage wird das biographisch narrative Interview wieder angeregt. Can beginnt mit der Zeit, in der er sich über seine Homosexualität sicher war. So stellt er mit 13 Jahren seine gleichgeschlechtliche Orientierung fest. Zu dieser Zeit war er allerdings nicht über Sexualität informiert. In dem Dorf, in dem er aufgewachsen ist, haben sich Schwule nicht offen gezeigt. Deshalb konnte er sich seine homosexuellen Gefühle nicht erklären͗ „Ich war fast sicher, als ich 13 war, OK, ich werde schwul, oder ich meine, als ich 13 Jahre alt war, ich wusste halt nicht, was schwul ist, ich meine ich komme aus dem Dorf, und so was gibt ތs ja nicht da, bestimmt gibt ތs dort, aber als versteckt, man sieht das ja nicht.“ (Zeile 959ff.)
Ferner schildert er seine anfänglichen Erlebnisse mit dem Schwulsein aus seiner Jugendzeit. Er geht vordergründig auf seinen Einstieg in die schwule Szene ein und überspringt die Zeit des Coming-outs. In der Schulzeit lernt er einen Freund kennen, der auch über eine schwule Orientierung verfügte. Die gemeinsamen Ausflüge nach X-Stadt, in der eine große schwule Szene existiert, verstärkten sein Selbstbewusstsein. Dort hatte er seine ersten Erfahrungen mit schwulen Männern: „Also ich war öfters mit ihm unterwegs gewesen, 14-15, dann sind wir immer von unserem Dorf nach [Y-Stadt]gefahren und so, (s.z.v) Stadtsbesuche, Jungs anmachen oder so, haben wir auch schon gemacht, also ich hab ތso paar, einige Erlebnisse gemacht, mit einigen Männern, (s.z.v) mein erster war 25 oder so, und ja, das war schon schöne Erlebnis gewesen, ja endlich, so freiwillig etwas machen.“ (Zeile 1004ff.)
Mit der Aussage endlich freiwillig etwas machen drückt er seine Befreiung von der offensichtlichen heteronormativen Unterdrückung aus. Ermuntert durch diese Erfahrungen, entschloss er sich, sein Dorf zu verlassen. Wie er in den ersten und zweiten Abschnitten des Interviews berichtete, lebte er seine Homosexualität in seinem neuen Wohnort aus: Ja, diese Zeit halt so, von 13 bis (...) also mit 16 habҲ ich angefangen, mich umzuschauen und habҲ ich auch schon einiges gemacht und auch in der Y-Stadt, wo ich gelebt habe. (Zeile 1012ff.) Diese Aussagen lassen darauf schließen, dass Can sein inneres Coming-out abgeschlossen und mit seiner sexuellen Orientierung kein Problem mehr hat. Er bewertet die Zeit zwischen 13 und 16 Jahren, als er noch in Westdeutschland lebte, für seine schwule Entwicklung positiv und deutet an, dass diese Erlebnisse ihn dazu befähigt haben, sein Leben in einer größeren Stadt selbstständig zu führen. So zieht er nach Berlin und entdeckt gleichzeitig die Möglichkeit, im Internet andere schwule Männer anonymer und rascher kennenzulernen:
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„Als ich nach Berlin gekommen bin, war es intensiver, weißt du […] da hab ތich gesagt, OK, dann hab ތich auch Internet entdeckt […] damals wusste ich ja nicht, dass es ja so was gibt, also klar, dass es Internet gibt, aber dass man im Internet schwule Leute kennen lernt, wusste ich nicht […] ich war also naiv (lacht) und ja genau, dann hab ތich mein Leben gelebt.“ (Zeile 1014ff.)
Die Koda dann habҲ ich mein Leben gelebt beendet dieses Segment. Segment 17: Dann habҲ ich mir selbst Vorwürfe gemacht… Das 17. Segment behandelt das Thema der Selbstakzeptanz des Erzählers. Dieser Punkt wird vom Interviewer selbst angesprochen, da Can nicht darauf eingegangen ist. Mit dieser Nachfrage wird darauf abgezielt, herauszufinden, wie er anfänglich mit seiner Homosexualität umgegangen ist und wie er die möglichen Diskrepanzen zur Heteronormativität bewältigen konnte. Can empfand seine ersten schwulen Gefühle als problematisch, denn er bewertete diese vor dem Hintergrund negativ sanktionierender heterosexistischer Normen. Er konnte in seiner Jugend seine wachsende schwule Identität nicht begründen und fühlte sich in seinem Dorf einsam: Im Dorf herrschten einerseits heteronormativ geprägte Lebensweisen, andererseits begegnete er dort keinen offen lebenden Schwulen. „Wie gesagt, ich hab ތdas ja mit so 13 gemerkt, und dann hab ތich mir selbst Vorwürfe gemacht, was ist los mit mir, wieso denke ich an Jungs […]statt an Mädchen, wieso ist das so, weißt du, dann hab ތich mir selbst Vorwürfe gemacht, bin ich bescheuert, bin verrückt geworden […] weil ich konnte, kannte halt, ich meine (..) du bist dann ja für dich alleine, du erzählst das keinem, weil du Angst hast.“ (Zeile 1032ff.)
Diese Aussage verdeutlicht, dass die Selbstvorwürfe und die Selbstverleugnung von Heteronormativität geprägt waren. Da er in seinem Dorf keine schwulen Menschen kannte, konnte er seine Gefühle niemandem beschreiben. So fühlte er sich einsam, ratlos und verzweifelt teilweise sogar als pervers. Durch diese Gefühle war er von Ängsten vor der Familie beherrscht und litt dadurch unter depressiven Stimmungen: „Ich meine, vor allem weil ich Angst hatte, meiner Tante zu erzählen oder so, und im Fernsehen hab ތich so was nicht gesehen, doch, hab ތich so was nicht gesehen, ich dachte, das ist halt so unnormal, und ich dachte, dass ich der einzigste Mensch in der ganzen Welt bin, (s.z.v) schwul, weißt du. Dann hab ތich mir selbst Vorwürfe gemacht, wieso es ist so, weshalb ist es so, ich war auch so gleich depressiv.“ (Zeile 1042ff.)
Anschließend reflektiert er erneut die Konflikte zwischen seiner Tante und seiner Mutter: auch wegen wegen meiner Eltern und meiner Tante, weil ich dazwischen
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war und dann noch, das dieses Schwulsein. (Zeile 1046). Hier deutet er die Hintergründe des Konfliktes zwischen beiden Bezugspersonen an; während die eine katholisch geprägt ist, ist die andere muslimisch ausgerichtet. Beide Bezugspersonen beanstanden die Homosexualität, verkörpern die Religiösität. In diesem religiösen Zwiespalt fühlte sich Can unterdrückt und er hat zu dieser Zeit Schwierigkeiten, diesem Konflikt zwischen seiner leiblichen Mutter und seiner Tante väterlicherseits auszuweichen. Während dieser Ausweglosigkeit blieben für ihn viele Fragen zum Thema Homosexualität unbeantwortet. Das Segment schließt er mit einem neuen Untersegment, das als Anschluss an seine Erzählung über die Probleme der Selbstakzeptanz fungiert. Während dieser konflikthaften Phase lernt er in seiner Schule einen anderen Typen kennen, der als Vorbild galt. Durch diese Begegnung habҲ ich gesagt, OK, du bist nicht der einzigste, weißt du, dann habҲ ich mich leichter gefühlt. (Zeile 1048-1049) In diesem Lebensabschnitt gewann Can an Selbstvertrauen und war damit auch in der Lage, sagen zu können: OK, es ist halt so, wie es ist, ich stehe für mich selbst dazu, dass ich schwul bin. (Zeile 1052-1053) Segment 18: Das sehe ich, dass sie dich bescheuert anschauen. In diesem Teil des Interviews geht es um die homophoben und rassistischen Diskriminierungen gegenüber dem Erzähler. Zu Beginn des Segmentes fällt ihm allerdings keine homophobe oder rassistische Diskriminierung ein. Dies liegt eventuell an der Art und Weise der Fragestellung des Interviewers. Denn Can hat die Frage nach Diskriminierung eventuell als Gewalt verstanden. So berichtet er am Ende dieses Segmentes, dass er auf keinerlei Gewalttaten gestoßen ist: Aber so handgreiflich oder Aggression, so was habҲ ich nicht. (Zeile 1099) Während Can nicht körperlich angegriffen wurde, musste er mehrmals sowohl im virtuellen Raum als auch in realen gesellschaftlichen Bereichen aufgrund seines Erscheinungsbildes Erfahrungen mit verbalen sowie schriftlichen Diskriminierungen machen. Dabei wurde er beleidigt: „Ja, wegen meiner Homosexualität als Türke hab ތich eigentlich kaum was erlebt so, vielleicht mal im Internet, jaa, oder so, du bist sowieso Türke, du passt eigentlich nicht zu Deutschland, so im Internet schon [...] aber so jetzt draußen nie, eigentlich nicht, überhaupt nicht, aber als generell gesehen als Ausländer habe ich schon einiges erlebt.“ (Zeile 1068-1073)
Schaut man vorangegangene Segmente genauer an, lässt sich vermuten, dass die rassistischen Diskriminierungen aus dem Internet nicht nur von der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft ausgingen, sondern auch von der deutschen schwulen Szene. Da Can das Internet für die schwulen Bekanntschaften benutzte, trat er meistens virtuell mit schwulen Männern in Kontakt, und in diesen virtuellen Kontakt-
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aufnahmen äußerten sich einige deutsche Schwule gegenüber Can rassistisch. Während er behauptet, dass er draußen, also im realen Leben, nicht diskriminiert wird, fügt er gleich hinzu, dass er im Grunde als Ausländer doch einige Diskriminierungen erfuhr. Insbesondere in Berlin begegnete er rassistischen Diskriminierungen. An dieser Stelle zieht er einen Vergleich zwischen Berlin und seinem Herkunftsdorf, der auch seine Erfahrungen mit Rassismus belegt: Vor allem in Berlin also, wo ich her komme, auch im Dorf waren sehr viele Ausländer und waren Menschen zu Menschen, aber in Berlin habҲ ich so, ja doch öfters erlebt, waren von Ostberlin, dass mich die Leute so anschauen und sagen, ja Kanack und alles mögliche. (Zeile 1076ff.) Im weiteren Verlauf dieses Segmentes kann er sich an mehrere diskriminierende Sprüche und nonverbale Beleidigungen der Deutschen erinnern. So führt er weitere Beispiele an, dass er auf der Straße und in den Läden oft gespürt hat, dass die Mehrheitsangehörigen sich ihm gegenüber diskriminierend verhalten: „Das schlimmste, was passiert ist, ist so, das war 2005, da hatte ich meine Ausbildungsprüfung in Berlin Ost, und da hatte ich so total alles Rot angezogen, mein T-Shirt rot, weiße Hose, es war schöner Tag im Sommer, und ich war ziemlich gut gelaunt gewesen, und ja, dann kamen so zwei Frauen und sie schauten, alles Rot, und dann haben sie gesagt, jaa, was suchst du denn hier, du bist Türke und so, weißt du denn überhaupt, wo du bist und so, also solche Diskriminierung hatt ތich schon.“ (Zeile 1082ff.)
Aus dieser Aussage geht hervor, dass seine Kleidung, die mit der türkischen Fahne assoziiert werden kann, zwei deutsche Frauen provoziert hat, so dass sie ihn verbal und offen beleidigt haben. Als in Deutschland geborener und aufgewachsener Ausländer deutet er an, dass man auch heutzutage von rassistischen Diskriminierungen sprechen kann: Und ich merke, dass es immer noch so, ich meine, wenn du irgendwo in ein Laden rein gehst und was einkaufen möchtest und das sehe ich, dass sie dich bescheuert anschauen […] kann der überhaupt deutsch, diese Vorurteile weißt du. (Zeile 1091ff.) Dieses Segment schließt er mit diesem Bericht, der veranschaulicht, dass er in Deutschland aufgrund seines Erscheinungsbildes verbal und parasprachlich diskriminiert wurde. Segment 19: Kurzbiographie Aufgrund einer relativ langen Erzählstockung (45 Sekunden) geht der Interviewer auf die biographischen Daten des Interviewten ein. Diese Technik der Nachfragen fungiert als Ergänzung der bisher erzählten Biographie. Auf diese Weise hat der Forscher die Möglichkeit, die in dem biographisch-narrativen Interview übersprungenen Lebensabschnitte zu überprüfen und neue biographisch relevante Fragen zu
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entwickeln. Durch diese Befragung dient dieses Segment als kurze biographische Darstellung des Erzählers. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Can 25 Jahre alt. Mit seiner ein Jahr jüngeren Schwester lebt er seit 23 Jahren bei seiner Tante, die neun weitere Kinder hat, sodass sie zu elft in einem Haus bei der Tante aufgewachsen sind. Daher sind für ihn die Kinder seiner Tante seine Brüder und Schwestern. Seine leibliche Mutter ist zum Zeitpunkt des Interviews knapp 50 Jahre, sein Vater 53 Jahre alt. Weil er von seiner Tante väterlicherseits erzogen wurde, war auch wichtig zu erfahren, wie er sich im Hause seiner Tante gefühlt hat: Die Tante ist zur Zeit des Interviews 68 Jahre alt und ihr Mann 73. Die Frage nach dem Verhältnis zu seinem Onkel, also dem Mann seiner Tante, eröffnet ein neues Segment, das von heteronormativer Diskriminierung handelt. Segment 20: Coming-out gegenüber der Familie II Durch die Fragen nach seinem biographischen Hintergrund ergibt sich ein Thema, das das Verhältnis zu seinen Cousins und seinem Onkel behandelt. So war es von großer Bedeutung, zu erfahren, wie sie mit seinem Coming-out umgegangen sind bzw. ob und inwieweit das Coming-out die familiären Verhältnisse beeinflusst hat. Besonders die Tante und der Onkel haben auf die Offenbarung seiner Homosexualität negativ reagiert. Can scheint in dieser Hinsicht von seiner Tante emotional unterdrückt zu werden: Da sie unter einer Herzkrankheit leidet, würde sie ihn möglichenfalls für einen Herzanfall verantwortlich machen: „Meine Tante ist total ausgerastet. Die hat auch Herzprobleme, dann hat sie Herzanfall bekommen. Und mein Onkel, der war auch ziemlich sauer gewesen, auch so sauer wie meine Tante, aber meine Cousine oder Cousins, also einige Cousins von mir, die waren ziemlich sehr sauer, aber die Cousine von mir haben es eher locker genommen.“ (Zeile 1153 ff.)
Aus dieser Aussage ist ersichtlich, dass die Familie der Tante überwiegend heteronormativ eingestellt ist und Can bzw. seine Homosexualität nicht akzeptieren will. Dennoch unterscheidet er innerhalb der Familie zwischen Cousinen und Cousins. Die Cousins reagierten auf sein Coming-out so negativ wie ihre Eltern. Im Gegensatz dazu gingen seine Cousinen mit seinem Schwulsein eher offener um. Im weiteren Verlauf des Segmentes vertieft er, wie die Familie mit der Homosexualität umgeht und erläutert, dass die Tante und ihr Mann die Homosexualität als Krankheit betrachten, die irgendwann mal verheilt (Zeile 1161). Zum Schluss des Segmentes berichtet er, dass das Thema derzeit noch ein Tabu ist, über das nicht gesprochen wird.
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Segment 21: Kurzbiographie Dieses Segment kann als Fortsetzung des 19. Segmentes gelten, denn es geht auch hier um die biographischen Daten des Erzählers. Er besucht eine Grundschule von 1992 bis 1998 in X-Dorf. Nach der Grundschulzeit wird er zu einem katholischen Internat geschickt. Da er sich dort den Regeln nicht fügen konnte, brach er die Schule freiwillig ab und besuchte ein allgemeinbildendes Gymnasium in der Nähe seines Dorfes. Danach wechselte er seinen Wohnort. 2003 entschied er sich, nach Berlin zu kommen, um dort eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann zu machen und sein Leben selbst zu gestalten. Segment 22: Katholisches Internat Im Anschluss an das vorangegangene Segment stellt der Interviewer die Frage nach seinem Leben im katholischen Internat. Can und seine Schwester wurden nach zehn Jahren bei ihrer Tante von ihren leiblichen Eltern zurückgeholt. Somit übernahmen diese die Erziehung der beiden und entschieden sich, vor allem auf Drängen der katholischen Mutter, Can in ein Internat zu schicken. Der Grund dafür lag darin, dass die leibliche Mutter der Meinung war, wenn er die katholische Schule abschließen würde, hätte er besonders in der katholischen Welt große Chancen, zu studieren bzw. vielleicht auch eine Arbeit zu finden. Durch diese Entscheidung entsteht ein Konflikt zwischen der muslimischen Tante und der katholischen Mutter. Im Endeffekt wird Can ins Internat geschickt, und damit beginnt für ihn eine schlimme Zeit (Zeile 1222). Anfänglich konnte er diese Situation nicht ändern, denn ich war Teenager, ich konnte nichts machen. (Zeile 1222) Er schildert, wie er sich dort überfordert gefühlt hat (Siehe Segment 22). Diese schwierige Zeit ist für ihn zum einen gekennzeichnet durch das Gefühl des Eingesperrtseins, zum anderen war er es aufgrund der islamischen Erziehung nicht gewohnt, katholische Rituale zu vollziehen. Aus all diesen Gründen versucht er, einen Ausweg zu finden: Meine einzigste Lösung war, damit ich rauskomme, ich bereue das immer noch, aber das war meine einzigste Lösung gewesen. Ich habҲ also eine Lehrerin von mir, da habҲ ich sie beleidigt. (Zeile 1231ff.) Diese Handlung Cans gegenüber der Lehrerin führt dazu, dass er durch die Schulleitung abgemeldet wird. Dieses Ereignis im Internat kann als Beleg dafür gelten, dass Can statt eines fremdbestimmten ein selbstbestimmtes Leben bevorzugt. Nach der Abmeldung von der katholischen Schule besucht er eine Realschule in seinem Dorf. Am Ende dieses Segmentes erklärt er erneut, dass diese Handlung seine Rettung war, da er sich im Internat nicht wohl fühlte.
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Segment 23: Uwe: Ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, der nicht arbeitet. Dieses abschließende Segment handelt von der Partnerschaft. Can erzählt hier von der Ex-Beziehung seines Partners und übt Kritik am Ex-Partner von Uwe. Er zieht an dieser Stelle eine Bilanz seiner vorherigen Erzählung über Uwe. Dieses Segment hat rechtfertigenden Charakter. Er erklärt, aus welchem Grund Uwe So total kalt gewesen [ist] (Zeile 1387). Bevor er Can kennen lernte, lebte er in einer unglücklichen Beziehung, die negativ auf seine Verhaltensweisen innerhalb von Partnerschaften wirkte. Uwe sei am Anfang der Beziehung abgehartet. Damit meint er, dass sein Partner damals möglicherweise unsensibel gewesen sein könnte. Diese Unsensibilität seines Partners führt Can auf dessen frühere Partnerschaft zurück. So beschreibt er den Ex-Partner von Uwe: „Uwes Ex-Freund hat nie gearbeitet, er wollte nie arbeiten, hat mal Hartz IV genommen und hat immer zuhause geschlafen, nichts geputzt nichts gemacht, gar nichts gemacht […] das hat die Beziehung ernst gemacht, und Uwe hat ihn damals sehr doll geliebt, und Uwe muss immer sechs Uhr morgens aufstehen, zur Arbeit gehen oder so, und der hat immer weiter geschlafen, und nicht aufgestanden, nicht tschüs gesagt, oder sowas, ich meine, da kann ich ihn schon verstehen, ich meine, wenn ich jeden Tag aufstehen muss und mein Freund schläft nur, und er macht nichts, man muss sich gegenseitig unterstützen, auch wenn ich nicht arbeite.“ (Zeile 1396ff.)
Nach dieser Hintergrunderzählung stellt Can fest, dass sein Partner wegen dieser Beziehung gefühlskalt geworden ist. Anschließend beschreibt er den Alltag seines Partners, nämlich dass er einen intensiven Lebensrhythmus hat und diesen auch von seinem Gegenüber erwartet. Can ist an dieser Stelle der Meinung, dass der Ex-Partner nicht den Aufforderungen von Uwe nachgekommen ist. Ob das der Grund für die Auflösung der alten Partnerschaft ist, bleibt in der Erzählung unberührt. Dieses Segment bzw. auch das Interview beendet Can mit einer Anmerkung seines Partners: Er verlangt, hat von mir verlangt und der hat gesagt, ich kann nur mit jemandem zusammen sein, der arbeitet […] ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, der nicht arbeitet. (Zeile 1418 f.) Mit dieser Aussage teilt Can indirekt mit, dass er den Wünschen seines Partners nachkommt, damit die Beziehung aufrechterhalten werden kann. 5.3.3 Biographische Gesamtformung Sozialisation Cans Leben ist von Trennungen geprägt. Mit zwei Jahren wurde er zum ersten Mal von seiner Familie getrennt. Die Auswirkungen dieses Ereignisses im frühen Kindheitsalter kann man in der vorliegenden Arbeit nicht analysieren. Zum einen ver-
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langt eine derartige Analyse eine spezifische psychologische oder psychoanalytische Methode, zum anderen würde eine derartige Auseinandersetzung den Rahmen der Arbeit sprengen. Es ist für diese Forschung wichtig zu erwähnen, dass diese erst wesentlich später realisierte Trennung dem Interviewpartner Leid zugefügt und den biographischen Verlauf negativ beeinflusst hat. Er stellt diese erzwungene Loslösung in seiner Erzählung als familiäres Drama dar. Er lebte damals bei seiner Tante mit seinen neun Cousins und Cousienen. Die dortige häusliche Atmosphäre empfand er positiv. Bis zum Alter von zwölf Jahren führte er ein glückliches Leben. Durch den Besuch der leiblichen Eltern und die neuen Informationen über die familiäre Vergangenheit fühlte er sich zutiefst erschüttert. Dies bedeutete für ihn wieder einen Abschied, denn sein Vater holte ihn zurück nach Hause. Diese Trennung von der Tante, seinen Cousins und Cousienen, die er bis dahin als Familie angesehen hatte, fiel ihm nicht leicht. Bei den leiblichen Eltern kam es oft zu Konflikten zwischen ihm und seinem Vater, denn Can konnte nicht verstehen und akzeptieren, dass seine neuen Eltern wirklich seine leiblichen Eltern waren. Er fühlte sich losgelöst von seiner Familie, da er nicht bei den fremden Leuten leben konnte. Nach vier Jahren entschied er sich, mit seiner Schwester zu seiner Tante zurück zu kehren, und diese nahm ihn wieder auf. Weil seine Eltern ihn nicht als eigenen Sohn akzeptierten, gab er zum Schluss auf, nach familiärer Zärtlichkeit zu suchen (Aus dem Gedächtnisprotokoll). Diese Trennung und die Zwischenzeit bei den Eltern beschreibt er auf sehr emotionale Weise. In seiner Erzählung ist seine Empörung gegenüber den Eltern deutlich zu spüren. Die als Verlaufskurve zu bezeichnende Zeit zwischen 12 und 16 Jahren dominierte sein Leben. Can befand sich damals in mehreren Prozessstrukturen: Die erste Zeit der Trennung von der Tante bzw. der Rückkehr zu den Eltern ist mit der Verlaufskurve des Fremdheitsgefühls zu bezeichnen. Die Fremdheit und die Anpassungsverlaufskurve stellen ein Geflecht dar, das durch Leid, Nicht-Zugehörigkeit und Konflikte innerhalb der Familie gekennzeichnet ist. Zu diesem Geflecht bzw. dieser Verworrenheit kam die Entdeckung der eigenen Homosexualität. Die Auseinandersetzung mit der neuen Familie und dadurch auch mit zwei Religionen und mit der Homosexualität ist Synonym dafür, dass er nicht weiß, wohin er gehört. Auch als er wieder bei seinen Eltern lebte, hatte die Tante den Kontakt zu ihm nicht abgebrochen. Weil sie die Rolle der Mutter von Can übernahm, entwickelte sie eine enge emotionale Bindung zu ihm. So fühlte sie sich weiterhin verantwortlich für die Erziehung Cans. Aufgrund der unterschiedlichen Religionszugehörigkeit der Tante und der Mutter befand sich Can in der Zeit seiner Pubertät in einer weiteren Verlaufskurve der Hin- und Hergerissenheit. Während die Mutter ihn katholisch erziehen wollte, war die muslimische Tante rigoros dagegen. Trotz der Bemühungen der Tante setzte sich die Mutter durch und schickte ihn in ein katholisches Internat. Damit folgte eine weitere Trennung in seiner Biographie, die er nicht ertragen konnte. Die Zeit im Internat bezeichnet er als schlimme Zeit. Er fühlte sich auch im Internat
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eingesperrt und von seiner Familie vertrieben. Den Anpassungsprozess an veränderte soziale und räumliche Gegebenheiten konnte er nicht meistern. Die strikten Regeln der katholischen Schule einerseits, andererseits heteronormative Strukturen waren für ihn schwer zu verarbeiten. Er befand sich in dieser Zeit in einer Konfliktsituation, die er nur innerlich erlebte und nicht nach außen tragen durfte. Aus diesen schwer zu ertragenden Bedingungen versuchte er sich selbst zu befreien. Er traf die Entscheidung, die katholische Schule und das Internat zu verlassen, jedoch musste er noch überlegen, wie und wann er sein Vorhaben hätte umsetzen können. Can realisierte seinen Plan, indem er die moralischen Regeln der Schule verletzte. So wurde er durch die Schulleiterin von der Schule entlassen. Mit einer Beleidigung gegenüber seiner Lehrerin erreichte er sein Ziel und bezeichnete die Entlassung als Befreiung. Das wurde wiederum von der Mutter negativ aufgefasst. Diese Verhaltensmuster des Interviewpartners werden im Laufe seiner Lebensgeschichte zu einer wiederkehrenden biographischen Handlung. Das heißt, dass er möglicherweise im Fall bestimmter übermächtiger Ereignisse gewisse intentionale Handlungsschemata entwickelt. Zur Zeit der Befreiung aus dem Internat war Can zwischen 13 und 14 Jahre alt. Diese Handlung kann auch als Handlung gegen die Entscheidung der Mutter aufgefasst werden. Mit diesem Ereignis löste er sich endgültig von seinen leiblichen Eltern und versuchte, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. So verließ er nach zwei Jahren seine leibliche Familie. Mit 16 Jahren kehrte er mit seiner Schwester zu seiner Tante zurück. In dieser Zeit wechselte er oft seinen Wohnort. Das Leben im Dorf war für ihn nicht mehr zu ertragen. Mit der zunehmenden Bewusstwerdung seiner eigenen homosexuellen Orientierung fühlte er sich im Dorf bedrängt. Die schwer erreichte Selbstakzeptanz, auf die im folgenden Kapitel eingegangen wird, erforderte ein Leben, das auf Selbstbestimmung basieren musste. So fand mit der Selbstakzeptanz bzw. dem Coming-out ein Wandlungsprozess statt, sodass er das Dorf verließ und sich ein neues Zuhause in den großen Städten Westdeutschlands suchte. Bis er im Jahr 2003 nach Berlin kam, lebte er in zwei anderen Großstädten, die aber vielleicht nicht mit seinen Vorstellungen übereinstimmten. Das Jahr 2003 charakterisiert er als Wendepunkt in seinem Leben. In dieser Zeit traf er die für ihn wichtige Entscheidung, nach Berlin zu gehen, um sein Leben dort aufzubauen. Anhand des Interviewtextes lassen sich die Gründe für Berlin ermitteln: Erstens war auch die Tante nach Berlin gezogen. Er hatte dort die Möglichkeit, in schweren Zeiten bei seiner Tante zu sein, die ihm gegenüber mütterlich ist. Zweitens konnte er in Berlin eine Berufsausbildung beginnen. Zuletzt existiert in Berlin eine große schwule Szene, in der er gleichzeitig die Möglichkeit der Anonymität, der Diskretion und einer gewissen gesellschaftlichen Akzeptanz genießen konnte. Aus den oben genannten Gründen kam er mit seiner Schwester zu seiner Tante. Die Tante hat ihm nach einiger Zeit eine kleine Einzimmerwohnung, die sich auf derselben Etage befindet und die ihr gehört, angeboten. Diese Zeit bedeutete für ihn
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einen neuen Anfang. Aber diese positive biographische Entwicklung war nicht von Dauer, denn Can verlor 2005 seine Schwester. Diese durch den Tod entstandene Trennung von der Schwester fiel ihm so schwer, dass er im Interview kaum darüber reden kann. Can war von ihrem Tod sehr betroffen, nicht nur, weil sie seine leibliche Schwester war, sondern weil sie ihm besonders wichtig war: Er nahm sie als Gleichgesinnte wahr, in dem Sinne, dass sie beide durch die Eltern verlassen wurden. Sexuelle Orientierung Mit Hilfe der strukturellen Textanalyse lassen sich vier Phasen feststellen, die Cans sexuelle Entwicklung darstellen: • • • •
Die erste Phase ist durch die Bewusstwerdung gekennzeichnet. Die zweite Phase schildert die Auseinandersetzung mit seinem eigenen Ich. Die dritte Phase stellt die Selbstakzeptanz bzw. das innere Coming-out dar. Die vierte Phase beginnt mit dem Einstieg in die schwule Szene.
Can wurde sich seiner Homosexualität mit ungefähr 13 Jahren bewusst. Als er festhielt, dass er schwul ist, begann er mit einer destruktiven Hinterfragung seiner sexuellen Disposition. Zu dieser Zeit stellte er sich selbst in Frage und konnte seine Andersartigkeit nicht akzeptieren, denn er wusste, dass seine Gefühle nicht mit den Gefühlen der anderen Jungen übereinstimmten. Das Begehren nach jungen Männern rief Selbstverleumdung hervor. Diese Phase trat als Verlaufskurve in Erscheinung. Über die Zeitspanne dieser Verlaufskurve gibt er zwar keine Informationen, jedoch beschreibt er den Grad der Selbstdiskriminierung auf dramatische Weise. Die Folgen der Verzweiflung stellten eine starke psychische Erschütterung während der Pubertät dar. In der Folge begann er, sich Vorwürfe zu machen, dass er etwa krank oder pervers wäre. In der Erzählung, die aus der gegenwärtigen Sicht des Erzählers konstruiert wird, stellt er fest, dass diese zerstörerische Hinterfragung daran lag, dass es in seinem Dorf keine sichtbaren Vorbilder gab und die Fernsehprogramme heteronormativ orientiert waren. Die vorherrschenden heteronormativen Strukturen führten ihn zu totaler Einsamkeit und Angst vor „Ausgrenzung“ seitens der Bezugspersonen. Bis zu seiner Pubertät befand er sich ohnehin in einer Situation des Dazwischenseins. Aufgrund seiner familiären Geschichte beherrscht ihn der Gedanke, ein nicht-gewolltes Kind zu sein. Im Falle eines Coming-outs hätte er auf Diskriminierung seitens der Eltern und der Tante stoßen können. So steuerte er auf eine Krise zu, die er alleine nicht meistern konnte. Die Fragen nach dem eigenen Ich waren übermächtig und oft deprimierend, denn er wusste nicht, was Homosexualität bedeutete und dachte, dass er eventuell eine Sünde begehen würde. Can war dadurch der heteronormativen Gesellschaft unterworfen und geriet in eine
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Ausweglosigkeit, die er jedoch mithilfe eines Mitschülers, der offensichtlich gleichfalls schwul war, bewältigen konnte. Das Kennenlernen und das Erkennen des schwulen Mitschülers präsentieren in seiner Biographie einen Wendepunkt. Von nun an konnte er glauben, dass er doch nicht der Einzige war, der schwul ist. Diese biographische Wende leistete einen Beitrag zur Verstärkung seiner schwulen Disposition. Die negative Verlaufskurve der Ausweglosigkeit verwandelte sich in eine positive Entwicklung. Die Erzählart verändert sich dementsprechend auch positiv, so dass er im Interview aus dem biographischen Trauma befreit zu sein scheint. Mit seinem schwulen Mitschüler, der den Erzähler in die schwule Szene eingeführt hat, fing Can an, aus seinem Dorf in die nächste große Stadt zu fahren, um seine Homosexualität auszuleben. Mit 14 Jahren machte er seine erste homosexuelle Erfahrung mit einem damals 25 jährigen schwulen Mann. Dieses Erlebnis stellt einen weiteren biographischen Wendepunkt dar. Damit konnte Can sich selbst gegenüber offenbaren, dass er schwul ist und dass es zugleich schön ist, etwas freiwillig machen zu können. Das von Can verwendete Wort Highlight benutzt er als Synonym für die neu gewonnene Freiheit. Mit dieser Selbstoffenbarung nach der ersten schwulen Begegnung und der empfundenen Freiheit durch dieses Highlight kam es zur Selbstakzeptanz. Trotz der früh gefundenen Selbstakzeptanz und der daraus entstandenen Freiheitsgefühle befand sich Can in einer zwiespältigen Lage, die von dem Kontrast zwischen der heteronormativen Unterdrückung und der Freiheit des Lebens als Homosexueller geprägt war. Aus dem Umgang mit diesem Zwiespalt entwickelte sich ein Doppelleben, das ihn wiederum in eine Krise führte. Er war sich im Klaren, dass seine Homosexualität nicht von den Familienangehörigen akzeptiert bzw. auch nicht unterstützt wird. Dafür waren die sozialen Umstände der Familie nicht geeignet. Denn es gab einerseits die katholische Mutter, die die Homosexualität definitiv ablehnte und andererseits die sunnitisch geprägte Tante, die aus ähnlichen Gründen keine homosexuelle Lebensweise anerkannte. Aus diesem Grund entschied sich Can zwangsläufig, seine Homosexualität vor der Familie zu verbergen und sein Leben als Schwuler im Geheimen zu führen. Durch diese Lebenszwänge unternahm er öfters Ausflüge in andere Städte, ging in die verschiedenen schwulen Szenen und fühlte sich hinsichtlich der sexuellen Orientierung immer stärker und sicherer. Das Problem des Doppellebens blieb jedoch bestehen. Auch wenn diese Situation ihn psychisch belastete, musste er die Wahl treffen: Er musste entweder ehrlich zu seiner Familie sein und weiter mit der heteronormativen Repression rechnen oder um der Freiheit Willen die Wahrheit verbergen, indem er das familiäre Haus öfters für längere Zeit verließ und sich nur gelegentlich blicken ließ. Die Strategie des Doppellebens nennt er Versteckspiel. Das Versteckspiel gab ihm Anlass, sein Leben eigenständig aufzubauen und dadurch die Freiheit zu genießen. In seiner Erzählung verliert er die Gegenwartsperspektive und erlebt wieder die Vergangenheit. Die er-
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lebte Geschichte kristallisiert sich dadurch heraus, dass er seine Erfahrungsaufschichtung sukzessiv und emotional darstellt. Aufgrund schwer zu ertragender Repressionen, wie oben ausgeführt, wechselte er seinen Wohnort. Er wohnte in verschiedenen Großstädten Deutschlands, lernte große schwule Szenen kennen, sammelte Erfahrungen, bis er 18 Jahre alt wurde. Diese Erfahrungen bewertet er für seine eigene Entwicklung positiv. Der Umzug aus dem Dorf in eine Großstadt stellte eine weitere Wandlung dar. Im Laufe der Zeit wurde er selbstständiger, so dass er die Entscheidung treffen konnte, Westdeutschland endgültig zu verlassen und nach Berlin zu kommen, da er dort mehr Möglichkeiten hatte, sich zu verwirklichen. Von nun an veränderte er sein Leben grundsätzlich: Er trat in die Berliner schwule Szene ein. In der Berliner schwulen Szene lebte er seine Homosexualität intensiver. Durch das Internet wurden die schwulen Bekanntschaften diskreter und zugänglicher. Can fühlte sich in dieser Zeit unbeschreiblich wohl, so dass er die Aussage treffen konnte, dann habҲ ich mein Leben gelebt, was die bis zur Zeit des Interviews letzte erlebte Wandlung bezüglich der schwulen Entwicklung zum Ausdruck bringt. Partnerschaft als Verlaufskurve der Differenzen Der Umzug nach Berlin ist für Can von biographischer Relevanz. Zuvor wohnte er in zwei deutschen Großstädten, in denen er probeweise gelebt hatte. Anscheinend stimmten diese beiden Städte nicht mit seinen Vorstellungen überein, so dass er die Suche nach einer passenden Stadt fortsetzte. Nach vorübergehenden Aufenthalten ging er 2003 endgültig nach Berlin und wohnt seither dort. In seiner Geschichte stößt man nicht auf Schwierigkeiten mit dem möglichen Anpassungsprozess in der neuen Stadt. Das heißt, dass er sich in Berlin mithilfe seiner Erfahrungen in den anderen Großstädten relativ schnell einleben konnte. Er begann zuerst mit seiner Berufsausbildung. Zu dieser Zeit besuchte er die schwulen Szenen Berlins. Zudem entdeckte er auch das Internet, das den anonymen und schnellen Zugang zu anderen Schwulen ermöglichte. Somit erfuhr er beim Einstieg in die schwule Szene keine Schwierigkeiten. In dieser Zeit verliebte sich Can in einen türkischen schwulen Mann und kam mit ihm zusammen. Diese Beziehung endete für ihn traurig und dramatisch. Nach dieser schlechten Erfahrung, Ende 2006, lernte Can seinen gegenwärtigen deutschen Partner, Uwe, kennen. Das Kennenlernen des Paares erstreckte sich nicht über einen langen Zeitraum. Die Beschreibung des ersten Treffens erfolgt sukzessiv. Das Paar begegnete sich am Abend der virtuellen Kontaktaufnahme in der Wohnung des künftigen Partners. Can führt seine Erzählung nachdenklich weiter. Er scheint nicht zu wissen, wie er zur Erzählung über Uwe übergehen soll. Zunächst gibt er Informationen über die in dieser Partnerschaft erlebten Differenzen bzw. auch Konflikte. Dann deutet er an, dass er zu Beginn nicht die Absicht hatte, einen neuen Partner zu finden, denn er
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musste davor eine schlechte Beziehungserfahrung machen und hatte davon die Schnauze voll. Da Uwe sich häufig bei Can meldete und auf eine Partnerschaft bestand, traf Can innerhalb von wenigen Tagen die Entscheidung, mit ihm zusammen zu kommen, denn er sah gut aus und hatte einen guten Charakter. Gleich nach dieser Beschreibung fügt er hinzu, dass Uwe auch einen sehr schlechten Charakter haben kann. Mit dieser evaluativen Beschreibung erzählt er über den Partner und über Beziehungsprobleme aufgrund verschiedener Differenzen. Zusammenwohnen Seitdem Can in Berlin lebt, hat er seine eigene Einzimmerwohnung, die er von seiner Tante bekam, der diese gehört und die auf derselben Etage ihm gegenüber wohnt. Trotz eigener Wohnung lebte er am Anfang der Beziehung fast ein Jahr tagtäglich bei seinem Partner. Im Laufe der Zeit wurde dies für das Paar schwierig. Can begründet dies damit, dass Uwe oft von der Arbeit überfordert nach Hause kam und er selbst auch arbeitete. Diese Zeit ist demnach durch eine Verlaufskurve des Sich-nicht-aufeinander-Einlassens gekennzeichnet. In diesem einen Jahr empfand Can seinen Partner als anstrengend. Er befand sich wieder in einer Beziehungskrise. Durch das Zusammenwohnen konnten sich die Partner näher kennenlernen. Der von der Arbeit überforderte und deshalb anstrengende Freund begann allmählich, Can schlecht zu behandeln. Während die Partnerschaft an Qualität verlor, musste er sein Doppelleben weiter führen, denn die Tante fragte ihn ständig danach, wo er die Nacht verbrachte. Durch diese Kontrollfragen der Tante fühlte Can sich gezwungen, sie zu belügen. Diese schwierigen Situationen haben ihn veranlasst, sich von seinem Partner räumlich zu trennen. Nicht nur Can war für diese Trennung ausschlaggebend, sondern auch sein Partner, der sich öfters mit ihm stritt. Diese Streitigkeiten lassen sich in der Erzählung daran erkennen, dass der Partner total genervt, total autoritär und total gestresst nach Hause kam, und Can ihn deswegen auch nicht nerven wollte. Zudem saß zu Hause eine kontrollierende und gesundheitlich angeschlagene Tante, für die Can sich verantwortlich fühlte. Somit war es erforderlich, dass das Paar wieder getrennt wohnen musste. Diese Entscheidung fiel jedoch nicht schnell, sondern allmählich: Je mehr Probleme das Paar hatte, desto mehr entstanden Streitigkeiten, so dass Can die Nächte bei seinem Partner reduzierte. Trotz der heftigen Beziehungskonflikte kam es jedoch nicht zu einer endgültigen Trennung. Diese Probleme stellten für jeden Partner eine Verlaufskurve der Beziehungskrise dar. So trafen sie die Entscheidung, eine so genannte Wochenendbeziehung zu führen, um die Partnerschaft zu retten. Um auf den Beziehungsalltag des Paares im ersten Jahr zurück zu kommen, ist es wichtig, einige konkrete Konfliktbeispiele zu erwähnen. Diese Konflikte sind nicht nur auf die Arbeitsbedingungen Uwes zurückzuführen, sondern auch auf seine Persönlichkeitsstruktur. Can schildert ihn, wie oben ausgeführt, als anstrengend,
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gestresst, genervt, autoritär und streitsüchtig. Im folgenden Teil der Analyse wird auf die Konflikte des Paares, die durch die kulturellen, individuellen und wirtschaftlichen Differenzen entstanden und für den Zusammenhalt des Paares bedrohlich waren, eingegangen. Differenzen/Konflikte In dem Interview mit Can erhält die Partnerschaft eine signifikante Beachtung. Das Thema der Partnerschaft wird in insgesamt 10 von 23 Segmenten (870 von 1440 Zeilen) ausführlich behandelt. Auffällig für dieses Interview ist, dass der Erzähler überwiegend auf die partnerschaftlichen Konflikte mit Begründungen, Rechtfertigungen, Bewertungen und beweisenden Schilderungen eingeht. Anhand der Segmentanalyse lassen sich die Probleme des Paares drei Bereichen zuordnen. Zum einen wird die Persönlichkeitsstruktur des Partners als Grund für die Konflikte genannt. Zum zweiten wird die unterschiedliche Einkommenssituation als bedeutender Faktor für die Dominanz Uwes angegeben. Schließlich kommen so genannte kulturelle Differenzen zur Sprache. Individuelle Differenzen Die Beziehung von Can ist von individuellen Differenzen, die meistens die Konflikte in der Partnerschaft auslösen, geprägt. Auch wenn Can an manchen Stellen seiner Erzählung relativierend erklärt, dass die Beziehung mit Uwe eigentlich schön ist, sind diese Beziehungsprobleme im gesamten Interview dominant. Interessant für dieses Interview ist, dass Can über die Beziehung in der Vergangenheitsform spricht, als wäre die Partnerschaft schon zu Ende. Im vorliegenden Interview wird Uwe meistens mit seinen negativen persönlichen Eigenschaften, die auf die Beziehung destruktiven Einfluss haben, beschrieben. In dieser Darstellung zieht Can selten einen Vergleich zwischen sich und seinem Partner. Das heißt aber nicht, dass eine Selbst-Präsentation in der Erzählung nicht stattfindet. Das Adjektiv anstrengend wird im Interview insgesamt elf Mal verwendet, und dies bezieht sich zum größten Teil auf den Partner. Mit anstrengend meint Can vermutlich auch streng, denn durch die totale Autorität, den totalen Stress und die totale Nervosität des Partners kommt dessen dominante Person deutlich zum Ausdruck (vgl. Segment 6). Zu diesen Eigenschaften des Partners kommt sein strenger Umgang mit Can hinzu, so dass er ihn durch seine Ansprüche überfordert. Aufgrund seiner Kompromissbereitschaft versucht Can, seinen Forderungen nachzukommen. In dieser Situation fühlt er sich jedoch in der Situation eines Herr-Sklave-Verhältnisses. Da der Partner ständig von ihm verlangt, seine Wohnung zu putzen und sich generell um sie zu kümmern, beschließt Can, nicht mehr mit ihm zusammen zu wohnen. Dass
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Uwe in der Beziehung die Rolle des Machthabers einnimmt und nicht einsieht, dass sein Gegenüber dadurch leidet bzw. sich auch überlastet fühlt, zeigt die Gründe für die Zerstörung der Partnerschaft. Während der Erzähler sich seinem Partner gegenüber verantwortlich fühlt und seine Aufgaben in der Beziehung zu erfüllen versucht, deutet er mehrmals an, dass Uwe seinen Pflichten in der Beziehung nicht nachkommt. Die Übermacht des Partners zeigt sich besonders daran, dass er sich nicht auf die Bedürfnisse des Erzählers einlassen will und immer daran arbeitet, seinen eigenen Willen durchzusetzen (vgl. Segment 6). Dass Uwe die Erwartungen Cans nicht berücksichtigt und seinen Pflichten ihm gegenüber nicht nachkommt, sind Gründe für eine zunehmende Distanz seitens des Interviewpartners. Die überwältigenden partnerschaftlichen Probleme aufgrund der autoritären Persönlichkeit manifestieren sich auch in ähnlicher Weise in Uwes Freundschaften. Can deutet in seiner Erzählung an, dass Uwe nicht nur in der Partnerschaft so autoritär und dominant ist, sondern auch versucht, in seinen Freundschaften seinen Willen durchzusetzen, was zur Zerstörung einiger Bekanntschaften von Uwe geführt hat (vgl. Segment 6). Im Gegensatz zu seinem Partner stellt sich Can eher positiv dar. Trotz seiner guten Eigenschaften gesteht er, dass auch er für den Verfall der Partnerschaft verantwortlich sein könnte. Aufgrund des unterschiedlichen Lebensrhythmus beider Partner kann er auch nicht immer den Wünschen von Uwe entsprechen. Während Uwe seine Freizeit mit sportlichen oder anderen gesellschaftlichen Aktivitäten gemeinsam mit seinem Partner zu gestalten versucht, ist Can oft von seiner Nachtarbeit übermüdet und kann ihn nicht immer begleiten. So ist der Erzähler der Meinung, dass er sich mehr Zeit für seinen Freund nehmen sollte, um die Beziehung aufrechterhalten zu können. Die häufigen Ablehnungen seitens des Interviewpartners haben zur Folge, dass Can gegenüber Uwe schlechtes Gewissen hat: „Ich muss auch den, ähm, den Schuld zu mir geben, weil Uwe ist so ތne gesunder, er ist immer so aktiv, der ist immer unterwegs […] Ja, Wochenende kann für mich ganz langsam anfangen […] also ich geb ތschon die Schuld an mir, weil, ich meine, er geht immer Sport, und […] sagt, komm ތmal mit, wir können zusammen gehen, und so, ja, ich hab ތkeine Ahnung, wieso es nicht klappt, weil ich freitags arbeite oder freitags war ich irgendwo trinken gewesen und betrunken, und ein Tag später war ich nicht in der Lage, etwas zu machen, aber das lasse ich mit der Zeit ändern, dass ich jetzt öfters mit ihm so Sport mache.“ (Zeile 260ff.)
In dieser Erzählung scheint Can sich mit den Beziehungsproblemen zu beschäftigen, und er hat Schwierigkeiten, sich gegenüber seinem Partner zu positionieren. Während er die oben angeführte Aussage in der 33. Minute des Interviews getroffen hat, hatte er bereits in der 28. Minute eine andere, gegensätzliche Aussage zur Sprache gebracht. In seiner Erzählung artikuliert er seine unsicheren Gefühle für Uwe. So ist er sich zur Zeit des Interviews nicht im Klaren, ob er ihn noch liebt. Auf-
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grund der heftigen Probleme mit Uwe kann er auch keine Aussage darüber treffen, ob die Beziehung weiter bestehen bleiben wird (vgl. Segment 10). Kulturelle Differenzen21 Zu den die Partnerschaft beeinträchtigenden Faktoren zählen auch die Differenzerfahrungen aufgrund der kulturellen Zugehörigkeit des Paares. Aus der Analyse geht hervor, dass Can deutsch-türkischer Herkunft ist. Aufgrund seiner Erziehung durch die sunnitische türkische Tante bezeichnet er sich überwiegend als Türke. Andererseits ist sein Partner mehrheitsdeutscher Herkunft. Obwohl beide in Deutschland aufgewachsen sind, sind sie durch die verschiedene familiäre, soziale und kulturelle Zugehörigkeit unterschiedlich beeinflusst. Als prägender kultureller Unterschied in der Partnerschaft wird die familiäre Enge genannt. Cans enge Bindung zu seiner Familie wird von Uwe problematisiert und ist für ihn nicht nachvollziehbar. Das ist in manchen Fällen ein Grund dafür, dass das Paar in Konflikt gerät. Diese Spannungen finden ihre Erklärungen in den konkreten Beispielen, die Can in seiner Erzählung nennt. In der Segmentanalyse hat sich herauskristallisiert, dass Can sich seiner Tante gegenüber verantwortlich fühlt: Weil sie ihn groß gezogen hat, will er ihr seine Dankbarkeit zeigen, indem er sich ihr jederzeit zur Verfügung stellt. Über diese emotionale Bindung regt sich Uwe manchmal auf, denn Can kann nicht immer bei ihm übernachten. Can beschuldigt seinen Partner, dass er in dieser Hinsicht intolerant sei und sich weigert, diese familiären Bindungen zu verstehen. Dieses Verhalten von Uwe führt er mittelbar auf dessen kulturelle Eigenschaften zurück. Can ist der Ansicht, dass in deutschen Familien enge Bindungen nicht so relevant sind wie in türkischen Familien (vgl. Segment 4). Während er von seinem Partner Verständnis erwartet, kann er manchmal auch die familiären Verhältnisse von Uwe nicht verstehen. Im Interview bestätigt der Erzähler, dass innerhalb der Beziehung in bestimmten Bereichen Uneinigkeit herrscht und dadurch das Paar mit einer Verlaufskurve der kulturellen Differenzen konfrontiert ist (vgl. Segment 4 und 5). Als eine weitere kulturbedingte Differenz bezeichnet Can sein Problem mit der deutschen Sprache. Dies stellt einen der wichtigsten Gründe für den Zerfall der Partnerschaft dar. Obwohl der Erzähler in Deutschland aufgewachsen ist und seine Berufsausbildung dort absolviert hat, ist Uwe mit seinen Sprachkenntnissen nicht 21 Der Begriff kulturelle Zugehörigkeit wird in dieser Arbeit mit Vorsicht angewandt. Da die Interviewpartner bestimmte Probleme, Eigenschaften, Ereignisse mit dem Begriff der Kultur erklären, wird hier Abstand von den Ausführungen der Interviewpartner genommen. Der Forscher vermeidet damit eine kulturalisierende Aussage über das Erzählte und Erlebte.
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zufrieden. Da Can öfters die Artikel einiger Wörter verwechselt und manchmal die Adjektive grammatisch nicht korrekt deklinieren kann, versucht Uwe, ihn immer wieder zu korrigieren, worauf er genervt reagiert. In diesem Fall erwartet Can von seinem Partner Verständnis für die Schwierigkeit der zweisprachigen Erziehung. Obwohl Can hinsichtlich der Sprache relativ selbstsicher auftritt, wird sein Selbstbewusstsein von Uwe zerstört (vgl. Segment 4). Can ist über die intolerante Haltung seines Partners empört und enttäuscht, dass der Partner sich nicht in seine Situation hineinversetzen kann. Ob die beiden so genannten kulturellen Differenzen auch den Zerfall der Partnerschaft verursachen, wird im Folgenden (Zukunftsaussicht des Paares) behandelt. An dieser Stelle ist wieder darauf hinzuweisen, dass Can von kulturalistischen und rassialisierenden Handlungen seitens seines Partners und dessen Mutter betroffen ist. Ökonomische Differenzen Can nennt in seiner Erzählung wirtschaftliche bzw. ökonomische Differenzen als weiteren Umstand, der der Partnerschaft ernsthafte Konflikte bereitet. Im Interview wiederholt er mindestens vier Mal, dass finanzielle Unterschiede in der Partnerschaft das größte Problem für das Paar darstellen. Somit teilt er dramatisierend mit, dass die Beziehung durch diese Schwierigkeiten beeinträchtigt wird, weshalb er sich ratlos fühlt. Can ist als Altenbetreuer erwerbstätig und verdient dementsprechend wenig. Im Gegensatz zu ihm ist Uwe als Beamter tätig. Während Can zur Zeit des Interviews über einen befristeten Arbeitsvertrag verfügt, hat sein Partner eine unbefristete Beschäftigung und ein deutlich höheres Arbeitsentgelt. Daher stellt sich die existenzielle Sicherheit beider Partner unterschiedlich dar. Aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnisse haben beide Partner auch eine unterschiedliche Lebensführung, die oft Konflikte in der Beziehung auslöst. In der Erzählung ist Can offen und bringt sein Unbehagen in der Partnerschaft zur Sprache. Er verweist darauf, dass er aufgrund seines geringen Verdienstes nicht immer mit seinem Partner etwas Gemeinsames unternehmen kann. Auf diese Situation reagiert Uwe empört, aber er bietet Can keine Lösungsmöglichkeit an, um diese Streitigkeiten zu beenden. Auch in finanzieller Hinsicht befindet sich Can in einer Verlaufskurve der Anpassungsschwierigkeit an seinen Partner. Diese Diskrepanz hängt einerseits mit seiner finanziellen Lage, andererseits mit der Anpassungsunwilligkeit seines Partners zusammen. Er fühlt sich durch die Aufforderungen und Erwartungen von Uwe überfordert. Die häufigen luxuriösen Aktivitäten von Uwe, die für Can nicht finanzierbar sind, führen zur Abnahme gemeinsamer Unternehmungen und dadurch auch zu Konflikten, die das Paar stets negativ beeinflussen.
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Die Erzählung über die ökonomischen Differenzen des Paares erfolgt im Präsens. Das kann bedeuten, dass diese Probleme auch zum Zeitpunkt des Erzählens stark erlebt werden und sie für Can eine Hürde in der Beziehung darstellen, denn er wird öfters von seinem Partner beleidigt, wenn er beispielsweise nicht ausreichend Geld fürs Ausgehen hat. Das andere Problem für Can ist, dass er unter keinen Umständen von seinem Partner eingeladen werden möchte. Im Falle einer Einladung könnte sich Can gegenüber seinem Partner, der ohnehin einen dominanten Charakter hat, finanziell unterlegen fühlen. Somit bleibt das größte Problem in der Partnerschaft ungelöst und offen. Folgende Aussage zeigt die gegenseitigen Anpassungsschwierigkeiten und die fehlende Empathie aufgrund der finanziellen Differenzen: „Und er ist ziemlich sauer auf mich […] ich möchte nicht von ihm eingeladen werden, oder ich muss manchmal ihn fragen, ob er mich einladen kann, dann ist er total genervt, weil er mich öfters einladen muss, und sag ތich, es geht nicht , dann musst du zu Hause bleiben, und das macht er nicht […] dann das ist halt zwischen uns das größte Problem eigentlich, dieses finanzielle Problem […] ich kann nicht so viel Geld draußen ausgeben […] und ich verdiene wenig Geld, und für ihn ist das Geld egal […] er hat das und gibt aus, ich meine, er hat und verdient auch gutes Geld.“ (Zeile 499ff.)
Zukunftsaussichten des Paares Aus den oben ausgeführten Problemen des Paares geht hervor, dass Can und sein Partner sich sowohl gemeinsam als auch einzeln in verschiedenen Verlaufskurven befinden. Die individuellen, kulturellen und finanziellen Differenzen sind für die Beeinträchtigung der Beziehung verantwortlich. Aus dem Interview geht hervor, dass der gegenwärtige Zusammenhalt des Paares von Trennung bedroht ist. Aufgrund der erzählten und erlebten Probleme des Paares verliert die Beziehung an Intensität, so dass die Partner sich nur noch am Wochenende treffen, und selbst wenn sie sich treffen, unternehmen sie kaum etwas Gemeinsames. Dieser Entwicklung begegnen sie mit Gleichgültigkeit. Selbst Can kann zur Zeit des Interviews nicht die Beziehung mit Uwe definieren bzw. einordnen. Die Liebe, die beide am Anfang der Partnerschaft stark spürten, verliert gegenwärtig an Stärke, so dass sie sich gegenseitig ignorieren. Ob sich Can der kulturalistischen oder rassistischen Diskriminierungen durch seinen Partner bewusst ist, kommt in seiner Erzählung nicht direkt zum Ausdruck. Aus seinen Aussagen über etliche Differenzen und daraus folgende Konflikte lässt sich erkennen, dass der Partner mit der kulturellen Zugehörigkeit (am Beispiel familiärer Enge) nicht einverstanden ist, und dann kommt noch hinzu, dass die Forderung nach perfekten Deutschkenntnissen eine ausgesprochen ignorante Haltung des deutschen Partners darstellt.
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Die individuellen und finanziellen Unterschiede tragen gleichfalls zur Verschlechterung der Partnerschaft bei, so dass Can sich zur gegenwärtigen Situation negativ äußert: er wisse nicht, ob die Beziehung in Zukunft noch existieren würde. Es folgen einige Zitate aus dem Interview, die die Verlaufskurvendynamik des Paares und Cans Aussicht auf die Zukunft des Paares schildern: „Aber er ist halt anstrengend, in einige Sachen, da passt es nicht, daher sag ތich so, dass wir nie eigentlich zusammen wohnen könnten, weil das für mich zu viel , und ich glaube, das wäre auch für ihn zu viel.“ (Zeile 230ff.) „Es geht nicht, weil er ist, er ist anstrengend, ich bin auch bestimmt anstrengend, aber, das würde dann nicht klappen auf Dauer. Das ist jetzt eher besser für uns, wenn wir halt getrennte Haushalte haben.“ (Zeile 244ff.) „Das also die Beziehung zwischen mir und Uwe, ich weiß es nicht, ob das noch so zusammen lange hält, und da bin ich mir auch unsicher […] ob wir eigentlich noch so als Paar zusammen sein sollten oder nicht, weil diese Liebe […] es gibt Zeiten, in denen ich ihn geliebt habe, ich weiß jetzt auch nicht, ob ich ihn liebe oder nicht liebe.“ (Zeile 416ff.)
Diskriminierung Als ausländisch angesehener Mensch ist Cans bisherigen Lebenslauf von etlichen Diskriminierungserfahrungen geprägt. Diese Diskriminierungen sind rassistisch, kulturalisierend und homophob verortet. Interessant für diesen Fall ist, dass Can nicht nur von unbekannten Personen diskriminiert wird, sondern auch von Personen aus seiner näheren Umgebung. Seine Erfahrungen sind im Allgemeinen in drei Kategorien zu gliedern: rassistische, homophobe und intersektionelle Diskriminierungen. Es gibt unterschiedliche Situationen, in denen Can entweder nur aufgrund seines Erscheiningsbildes diskriminiert wird oder nur wegen seiner Homosexualität, oder er stößt manchmal auf Mehrfachdiskriminierungen. Rassistische Diskriminierung Die Erfahrungen Cans mit ethnisierenden, kulturalisierenden oder rassistischen Diskriminierungen sind vielfältig, und deren Hintergründe lassen sich durch die Erzählung leicht erkennen. Wie oftmals zum Ausdruck gebracht wurde, versteht sich der Erzähler als Ausländer. Obwohl er in Deutschland geboren und aufgewachsen ist sowie über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügt, ist das Gefühl, ausländisch zu sein, bei ihm dominant. Dieses dominante Gefühl ist auch als Identitätsmuster zu verstehen. Aufgrund seines Erscheinungsbildes stößt er oft auf rassistische bzw. rassialisierende Reaktionen der Gesellschaft. Auch wenn er sich eigentlich in sei-
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nem Geburtsort bzw. seiner Heimat22 nicht fremd fühlt, wird er dennoch durch die Mehrheitsgesellschaft als fremd definiert. Durch diese diskriminierenden gesellschaftlichen Handlungen gerät er in unterschiedliche Prozessstrukturen, die sich als Verlaufskurve, Wandlung oder intentionale Handlungsmuster zeigen. Diskriminierung durch die Mutter des Partners Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Can seit etwa drei Jahren in einer bikulturellen23 schwulen Partnerschaft. Sowohl er als auch sein Partner verstehen sich als offen lebende Schwule, die überzeugt zu ihrer homosexuellen Disposition stehen. In der Erzählung neigt Can oft dazu, bezüglich der Homosexualität einen Vergleich zwischen seiner Tante und der Mutter des Partners zu ziehen. Bereits am Anfang seiner Ausführungen geht er auf sein Coming-out und auf diesbezügliche Reaktionen seiner Familie ein. So teilte er mit, dass beide Familien Probleme mit der Homosexualität haben und diese definitiv nicht akzeptieren. Den von ihm erlebten homophoben Diskriminierungen wird im folgenden Teil näher nachgegangen. Das Beispiel der Tante ist für die Veranschaulichung der Verlaufskurve der Diskriminierungen dienlich. So begegnet Can trotz seiner dreijährigen Beziehung einer rassistischen sowie homophoben Diskriminierung seitens der Mutter des Partners. In der Erzählung gerät Can in starke Erregung, da die Mutter ihn mehrfach in jüngster Zeit rassistisch diskriminiert hatte. Diese diskriminierenden Handlungen der Mutter sind durch Ignoranz, Schock und Ablehnung gekennzeichnet. Der Erzähler ist in erster Linie davon überzeugt, dass die Mutter seines Partners schockiert war, als er bei ihr vorgestellt wurde. Diese Entrüstung bezieht er auf sein türkisches Aussehen. Die erste Begegnung mit der Mutter des Partners bewertet er negativ. Im Laufe der Zeit wurde deutlich, dass sie ihn total ignoriert, so dass Can das bei seinem Partner problematisiert und thematisiert hat, in der Hoffnung, das Problem zu beheben. In dieser Situation kann der Partner ihm aber nicht behilflich sein, da die Mutter auch die Homosexualität ihres Sohnes nicht akzeptiert. Damit ist Can zwangsläufig mit rassistischer und homophober Diskriminierung konfrontiert. Die Verarbeitung dieser Ereignisse erforderte eine relativ lange Zeit, bis Can sich entschied, nicht mehr mit der Mutter des Partners in Kontakt zu treten. Der Kontaktabbruch dient zur Stabili22 Mit der Heimat gemeint ist nicht die Heimat eines seiner Elternteile oder seiner Erziehungsberechtigten, sondern der Ort, an dem er geboren und aufgewachsen ist und noch lebt. In dieser Analyse der Arbeit wird der Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“ strikt abgelehnt. Insbesondere ist dies für den Fall Can relevant, da er keine Erfahrung mit Migration gemacht hat, sondern nur sein Vater und seine Tante, die vor über 40 Jahren aus der Türkei nach Deutschland kamen. 23 Weil Can die deutsche Nationalität hat und sich „kulturell“ als „türkisch“ einordnet, wird das Adjektiv „bikulturell“ genutzt und nicht „binational“.
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tät seines psychischen Zustands. Auch wenn es ihm anfänglich zu schaffen machte, dass er aufgrund seines Erscheinungsbildes und seiner Homosexualität nicht beachtet wird, bewältigt er diese Probleme durch den Kontaktabbruch. Rassistische Diskriminierung in der Öffentlichkeit Can ist mit rassistischen Diskriminierungen nicht nur in seinem näheren Umfeld konfrontiert, sondern auch im öffentlichen Leben, wie z.B. auf der Straße. Er wird von deutschen Mehrheitsangehörigen verbal angegriffen. Im Interview unterstreicht er, dass er in der Öffentlichkeit nicht aufgrund seiner Homosexualität beleidigt wird, sondern wegen seines Erscheinungsbildes bzw. imaginierten Migrantenstatus. Auch solche Erlebnisse stellen ein Hindernis für ein zufriedenstellendes Leben als Ausländer in einer Gesellschaft dar. In seiner Erzählung erwähnt er jedoch nicht, was für Auswirkungen solche rassialisierenden Diskriminierungen haben. Dennoch kann man davon ausgehen, dass man als jemand, der in einer Mehrheitsgesellschaft als anders oder fremd konstruiert wird, verunsichert auftritt, wenn man sich z.B. für einen Job bewirbt. Obwohl so ein Ereignis im Jahr 2005 passiert ist, behauptet der Erzähler, dass die Situation der Ausländer_innen oder der ausländisch Angesehenen immer noch ähnlich ist. Das zeigt, dass Can sich auch zur Zeit des Interviews in einer Verlaufskurve rassistischer Diskriminierungen befindet und derzeit keine eigenen Lösungen für derartige Handlungen der Diskriminierenden finden kann (vgl. Segment 18). Homophobe Diskriminierung Zuletzt gehe ich auf die homophoben bzw. heteronormativen Mehrheitsgesellschaften ein. Im vorangegangenen Abschnitt war es von großer Relevanz aufzuzeigen, aus welchem Grund Can sich als Ausländer bezeichnet. So war festzustellen, dass die rassistischen Diskriminierungen gegenüber dem Erzähler eine identitätsstiftende Rolle haben. Dass er sich als Ausländer behauptet und dazu steht, zeigt seine individuelle Haltung in der Mehrheitsgesellschaft. In diesem Abschnitt geht es um eine andere Seite der Diskriminierung, nämlich die aufgrund seiner Homosexualität. Das größte Erlebnis, das auch als Wandlung bzw. biographischer Bruch aufgefasst werden kann, ist seine Offenbarung als Schwuler vor seiner Tante bzw. auch seiner Familie. Auch hier sieht er sich diskriminierenden Handlungen seitens der Familie ausgesetzt. Er erlebt die heteronormative Diskriminierung als übermächtig. Die Tante und die Mehrzahl seiner Cousins lehnen seine Homosexualität rigoros ab und setzen ihn unter Druck mit dem Ziel, dass er eines Tages heil wird. Die Auseinandersetzung mit der Familie einerseits und andererseits mit der Homophobie der Eltern bringt ihn in eine Situation der Handlungsunfähigkeit. Zu seinen negativen Erfahrungen mit den Eltern kommt die Angst vor der Ausgrenzung durch die Tante
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hinzu. Diese wieder als Verlaufskurve zu bezeichnenden Diskriminierungserlebnisse bilden zusätzlich eine Erschwernis bei der beruflichen Ausbildung. So fühlte er sich in der Zeit seines Coming-outs erschöpft, mitgenommen und handlungsunfähig und hätte seine Ausbildung fast abbrechen müssen (vgl. Segment 2). Ob diese homophobe Diskriminierung auf die kulturelle Zugehörigkeit der Diskriminierenden zurückzuführen ist, beantwortet Can in seiner Erzählung. Zum einen ist seine leibliche Mutter, die Homosexualität definitiv ablehnt, katholischer deutscher Herkunft. Ferner nennt Can die Mutter und Großmutter seines Partners, die gleichfalls nicht akzeptieren wollen, dass Uwe schwul ist und in einer Beziehung mit einem ausländischen schwulen Mann zusammenlebt. Damit erklärt Can, dass Homophobie und Heteronormativität keine Phänomene der islamischen Welt sind; sie existieren sowohl im Westen als auch im Osten: Homosexualität gilt in beiden Herkunftsfamilien des Paares als Tabuthema. Weder die Familie Cans noch die Familie Uwes akzeptieren die schwule Partnerschaft (vgl. Segment 8). Als Mittel gegen homofeindliche Diskriminierung befürwortet Can die eingetragene Lebenspartnerschaft. Sein Eintreten für das LpartG erklärt er mit folgender Begründung: Im Falle eines schweren Unfalls hätte er ohne Lebenspartnerschaftsgesetz seinen Partner im Krankenhaus nicht besuchen dürfen, denn er zählt zum einen nicht zu den Familienmitgliedern, und zum anderen hat er ein schlechtes Verhältnis zur Mutter seines Partners, die ihn sowohl rassistisch als auch homofeindlich diskriminiert. Sie könnte ihn – abgesehen von den gesetzlichen Hürden – daran hindern, seinen Partner zu besuchen (vgl. Segment 10).
5.4 F ALL IV: K AI 5.4.1 Kurzbiographie von Kai Geboren wurde Kai Anfang der 60er Jahre in einer kleinen bayerischen Stadt mit etwa 4.000 Einwohnern. Er ist der älteste von drei Söhnen eines Geschäftsmannes und einer Hausfrau. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sein Vater 81 und seine Mutter 71 Jahre alt. Mit seinen zwei jüngeren Brüdern wurde er katholisch erzogen, wobei er später aus der Kirche ausgetreten ist. Mit 16-17 Jahren entschied er sich, seine Herkunftsstadt zu verlassen. Zu dieser Zeit hatte er sich jedoch nicht gänzlich geoutet. Gleich nach seinem Abitur begann er ein Studium der Medizin. Aufgrund des zunehmenden Desinteresses für Medizin wechselte er sein Studienfach und begann, Erziehungswissenschaften zu studieren. Damals versuchte er, aus pazifistischen Gründen seinen Wehrdienst zu verweigern. Dies führte ihn zu einer anstrengenden Auseinandersetzung mit der Bundeswehr. Sein Antrag auf Wehrdienstverweigerung wurde drei Mal abgelehnt, und er wurde wegen seiner Verweigerung in einer Zelle der Kaserne festgehalten. Nach langen
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juristischen und politischen Auseinandersetzungen gelang es ihm, dass die Bundeswehr seinen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen annahm. 1986 kam er nach Berlin, zum einen, um seine Homosexualität freier auszuleben, zum anderen wegen besserer Berufsmöglichkeiten. Sofort mit der Ankunft in Berlin beteiligte er sich an der damaligen schwulen Bewegung. Im Zeitraum von 1996 bis 1997 schloss er sein Studium der Erziehungswissenschaften ab. Nach seinem Studium begann er, bei verschiedenen Bildungsträgern zu arbeiten. Im Frühjahr 2002 lernte er seinen gegenwärtigen Partner auf einer großen Party kennen. Mit ihm ging er Ende 2002 die eingetragene Lebenspartnerschaft ein. Zur Zeit des Interviews arbeitet er in einer Grundschule als Lehrer. 5.4.2 Strukturelle Textanalyse des vierten Interviews Segment 1: Schlechte Erfahrungen mit Interviews Anders als bei den vorhergehenden Interviews wird dieses mit einem deutschen Schwulen, Kai, der in einer binationalen Partnerschaft lebt, geführt. Der Interviewpartner, teilt mit, dass er gerne erzählen würde, aber er besteht auf der unbedingten Gewährleistung der Anonymität, denn er und sein Partner, Arda, haben eine schlechte Erfahrung mit der Veröffentlichung eines Interviews, das sie gegeben haben, gemacht. Mit der Ankündigung dieses schlechten Erlebnisses beginnt Kai seine Erzählung, denn für die Biographie des Paares ist es von großer Bedeutung. Als Kai mit seinem Partner in der Türkei in Urlaub war, wurde das Paar von einem Journalisten, den Arda relativ gut kannte, gefragt, ob sie bereit wären, einer türkischen Zeitschrift ein Interview zu geben. Kai und Arda gingen aufgrund der vertrauten Bekanntschaft davon aus, dass das Interview diskret behandelt wird. So kam es dann zum Interview, und der Reporter ließ es zu, dass dieses Gespräch dann ohne Abstimmung zwischen ihm und dem Paar in den überregionalen Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht wurde. Nicht nur der Interviewtext wurde publiziert, sondern auch private Bilder des Paares waren Teil der Veröffentlichung. Um seine negative Erfahrung mit diesem journalistischen Interview zu belegen, zeigt Kai während des Gespräches Zeitschriften und Zeitungen, in denen die Bilder und umformulierten Aussagen des Paares zu finden sind. In diesem Moment scheint Kai empört zu sein, denn dieser Vorfall hat das Paar in Angst auslösende Situationen versetzt. Dieses Ereignis geschah im Jahr 2002, in dem das Lebenspartnerschaftsgesetz in Deutschland noch relativ neu war. Die Tatsache, dass Arda und Kai sich entschieden hatten, eine eingetragene Lebenspartnerschaft einzugehen, war für türkische populäre Printmedien aus medialer Sicht ein wichtiges Ereignis, das unbedingt mit Bildern öffentlich gemacht werden musste. Der Vertrauensbruch des Journalisten entstand durch die Veröffentlichung privater Bilder und gefälschter Aussagen: wir haben so erzählt und erzählt und dann haben sie so das weitergege-
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ben und Geschichten daraus gemacht, kennst Du Aktuell die Zeitung, türkische. (Zeile 20-21) Während Kai von ihren Erfahrungen mit der türkischen Zeitschrift berichtet, zeigt er weitere Veröffentlichungen des Interviews in verschiedenen anderen türkischen Zeitungen. Die eingetragene Lebenspartnerschaft eines türkischen schwulen Mannes mit einem deutschen Schwulen hat das türkische Printmedium meistens als Schande (Zeile 48) bezeichnet und zum Skandalthema (Zeile 28) gemacht. Die geplante Lebenspartnerschaftsschließung von Kai und Arda wurde in der Türkei derart durch die Printmedien verbreitet, dass beide sogar in der Öffentlichkeit bekannt wurden, was zu einem Zwangsouting und anschließenden diversen Drohanrufen geführt hat. Als Arda sich in der Türkei wegen behördlicher Angelegenheiten in einer anderen Stadt aufhalten und von dort dann auf einem Inlandsflug zurück zu Kai fliegen musste, wurde er gleich von einer Angestellten des Flughafens erkannt und indirekt auf die Gründe seiner Reise angesprochen: „Im Flughafen war er auf der Warteliste, ähm, hat die Frau auf dem Flughafen gesagt, ja, also, ich versteh ތschon, sie müssen dringend weg, weil die hat uns gleich erkannt von den Zeitungen […] und es gab auch, ähm, ziemlich viele Drohanrufe dann, also die hatten ganz schnell die Handynummer von Arda raus und so Fernsehshows wollten uns halt irgendwie einladen, das war so ތn riesen Skandalthema.“ (Zeile 45-51)
Nach der Darstellung dieses Erlebnisses des Paares in der Türkei bittet Kai nachdrücklich darum, dass auf jeden Fall Anonymität und Diskretion gewährleistet werden. Nach dieser Bitte kündigt er an, mit der Erzählung seiner Geschichte zu beginnen. Segment 2: Biographie Zu Beginn dieses Segmentes nimmt sich Kai sieben Sekunden Zeit, um zu überlegen, wie er seine biographische Narration gestalten soll. Dann beginnt er, seine Lebensgeschichte chronologisch zu erzählen. Interessant ist, dass er in seiner Narration die wichtigsten biographischen Brüche in einer zeitlichen Reihenfolge darstellt, ohne auf die einzelnen Ereignisse ausführlich einzugehen. Zuerst beginnt er mit einer kurzen Beschreibung der familiären Verhältnisse in seinem Herkunftsort in Nordbayern. Kai ist der älteste Sohn seiner Eltern, die zwei weitere jüngere Söhne haben. Die Herkunftsfamilie des Interviewpartners stellt eine traditionelle Familie dar, in der die Mutter für den Haushalt verantwortlich ist und der Vater – er ist im Textilbereich tätig – für die Finanzierung des Lebensunterhaltes der Familie sorgt. Kai lebte bis zur gymnasialen Zeit in seiner kleinen Herkunftsstadt. Mit 16-17 Jahren wusste er bereits, dass er sein Leben dort nicht weiter führen konnte. Aus diesem
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Grund musste er die Anfrage seines Vaters bezüglich der Übernahme des kleinen Textilgeschäftes ablehnen. Er hatte sich zu dieser Zeit bereits für ein Studium der Medizin entschieden. Während seines Studiums interessierte er sich für die antimilitärische linke Bewegung. Im Laufe des Studiums hatte er versucht, den damals obligatorischen Wehrdienst zu verweigern. Durch sein Studium und die antimilitärischen linken Aktivitäten zog es ihn in eine mittelgroße deutsche Stadt. Während seines Antrags auf Wehrdienstverweigerung stieß er auf ernsthafte Probleme mit der Bundeswehr. Nach einer schwierigen Auseinandersetzung mit der Bundeswehr konnte er trotz der erlebten Probleme seinen Militärdienst verweigern und stattdessen Zivildienst machen. Während des Zivildienstes schloss er neue Freundschaften mit Menschen, denen er sich politisch nahe fühlte. Mit der Beendigung des Zivildienstes gründete er mit seinen neuen Freund_innen eine Wohngemeinschaft. In dieser Zeit der Wohngemeinschaft befand er sich in einer Phase, in der er sich neue Zukunftsperspektiven schaffen wollte. So plante er, weit weg von seinem damaligen Wohnort zu gehen: Nach dem Zivildienst, da hatte ich ein paar Leute kennen gelernt, da sind wir dann, ähm, aufތs Land gezogen in so ތne WG, Land-WG und erst mal ein Jahr lang gar nichts gemacht und hatte den Plan, also ich wollte dann auf jeden Fall nach irgendwo weit weg, und wir wollten damals nach Nicaragua. (Zeile 72-75)
An dieser Stelle des Interviews konstruiert er den Hintergrund seiner neuen Lebensperspektiven. Kai erzählt, aus welchen Gründen er nicht in einer kleinen oder mittelgroßen Stadt leben kann. Um seine Homosexualität ohne gesellschaftliche Repressionen ausleben und seine anderen Lebenswünsche realisieren zu können, entschied er sich 1986, nach Berlin zu kommen. Er brach sein Medizinstudium ab und ließ sich an einer Berliner Universität im Fachbereich Erziehungswissenschaften einschreiben. In diesem Lebensabschnitt durchlebte er mehrere biographische Wenden. Wechsel des Studienfaches und des Wohnortes verstärkten sein sozial-politisches Engagement. Die folgende Aussage gilt als Beleg für seine Wandlungsprozesse: „Ich habe aber gemerkt, Medizin ist, ich kann noch nicht mal Blut sehen, also wäre völlig falsch gewesen, und da bin ich dann nach Berlin gekommen, das war dann 1986, und vorher hatte ich schon, ähm, nicht so richtig mein Coming-out, aber, also ich wusste schon, dass ich schwul bin, und das war auch einer der Gründe, warum ich nach Berlin bin, so, hatte ich zwar einigen Leuten schon erzählt aber (s.z.v.) nicht, zum Beispiel meine Eltern und so, sie wussten es noch nicht, und dann bin nach Berlin, und da war ich relativ schnell in so ތner schwulen Gruppe aktiv dann, und dann ތn Schwulen Café gegründet, so ތn Kollektiv-Café und auch politisch ziemlich aktiv in diesen linken schwulen Gruppen, die es damals gab.“ (Zeile 81-85)
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In seiner Erzählung scheint er vorsichtig bemüht zu sein, die Chronologie seiner Lebensgeschichte einzuhalten. So geht er durchgehend weiter auf die folgenden Lebensabschnitte ein. Nach Abschluss seines Studiums der Erziehungswissenschaften 1996-1997 begann er in verschiedenen Bildungsstätten zu arbeiten. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er als Lehrer an einer Berliner Grundschule tätig, in der die Mehrzahl der Schüler_innen als Kinder mit Migrationshintergrund angesehen wird. Dieses Segment schließt Kai mit dem Wort ja, das als Erzählkoda bezeichnet werden kann. Segment 3: Kennenlernen des Partners Das dritte Segment beginnt mit dem Bindewort und sowie einem unbestimmten temporären Rahmenschaltelement irgendwann. Mit diesen beiden Wörtern und irgendwann knüpft er das neue Thema der Partnerschaft an seine bisher erzählte Lebensgeschichte an. 2002 lernte er seinen Partner, Arda, bei einer schwul-lesbischen Party, auf der der Eurovision Song Contest direkt übertragen wurde, kennen. Während die Kennenlernphase als Hauptthema dieses Segmentes repräsentiert wird, werden im Laufe der Erzählung weitere Subsegmente bzw. Subthemen zur Sprache gebracht. So deutet er an, dass das Paar sich anfänglich relativ schnell entscheiden musste, eine Lebenspartnerschaft zu begründen. Die aufenthaltsrechtlichen Probleme seines Partners spielten bei dieser biographisch relevanten Entscheidung des Paares eine große Rolle, weil sie den Prozess der Partnerschaftsschließung beschleunigen mussten. Das Aufenthaltsproblem des Partners hatte großen Einfluss auf die weitere biographische Laufbahn von Kai, denn er hatte sich bis zum Kennenlernen seines Partners nicht vorstellen können, in der Zukunft jemals zu heiraten. Für seine Lebensumstellung bezüglich der eingetragenen Lebenspartnerschaft führt er einen Beleg an: „Und dann haben wir uns gleich gut verstanden, dann hab ތich, ähm, natürlich mitgekriegt, wie seine Situation ist, er ist mit Touristenvisum hier, so ތne begrenzte Zeit und würde gerne jemanden heiraten, und, ähm, ja und da so ތne, ähm, eigentlich von Anfang an ތne relativ gute Beziehung, also ich meinތ, ich hätte ihn jetzt nicht geheiratet, wenn […].“ (Zeile 98-101)
Aus dieser als Beleg geltenden Aussage geht hervor, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft am Anfang einen konditionellen Charakter hatte. Eine der Voraussetzungen des Aufenthaltes war für einen ausländischen Menschen eine Heirat oder eingetragene Lebenspartnerschaft mit einem/r Einheimischen. Um seinen künftigen Partner aus der aufenthaltsrechtlichen Sackgasse zu retten, begann Kai, sich auf der einen Seite nach bürokratischen Möglichkeiten zu erkundigen; auf der anderen Seite hatte er probieren wollen, ob das Paar wirklich gut zusammenpasst. Zu diesem Zweck unternahmen sie einen Urlaub in der Türkei, um sicher zu stellen, ob und
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wie eine reale Partnerschaft miteinander verwirklicht werden konnte. Nach einer erfolgreichen Probelebenspartnerschaft während des Urlaubs folgte die biographische Entscheidung des Interviewpartners: aber dann, ähm, haben wir uns eben dann dazu [Eintragung der Lebenspartnerschaft] entschieden, sind dann noch zusammen in Urlaub gefahren, auch mal um ein bisschen zu gucken, ob das auch so klappt mit uns beiden. (Zeile 102-104) An dieser Stelle kündigt er ein neues Subsegment an, das von den bürokratischen Hürden auf dem Weg zur eingetragenen Partnerschaft handelt. Hier ist es für diese Arbeit wichtig, zu erwähnen, dass Kai und Arda in Deutschland seinerzeit eins der ersten eingetragenen binationalen schwulen Paare war. Aufgrund dieser Situation, dass das Paar damals der erste Fall für das X-Standesamt von Berlin war, kam es bei der Umsetzung des relativ neuen LpartG durch den Standesbeamten zu einer bürokratisch umständlichen Bearbeitungsweise. Kai führt im Folgenden die bürokratischen Komplikationen des deutschen Standesamtes und des türkischen Konsulats an. Das Paar stieß in dieser Zeit auf zweifache Hindernisse, zum einen durch das X-Standesamt und zum anderen durch das türkische Konsulat. Die Komplikationen durch den Standesbeamten führt Kai jedoch nicht auf eine homophobe und rassistische Einstellung zurück, sondern auf die Schwierigkeit bei der Umsetzung der einzutragenden Lebenspartnerschaft. Hiermit leitet er ein neues Untersegment ein, in dem es um die mangelnde Kooperationsbereitschaft des deutschen Standesbeamten geht. In seiner Erzählung hat Kai eine vorsichtige Haltung gegenüber dem Beamten, um ihm keine unfairen Vorwürfe zu machen. So will er in seiner Narration den Beamten nicht mit Homophobie und Rassismus be- oder verurteilen. Die bürokratischen Hindernisse durch den Standesbeamten versucht er in seiner Erzählung zu rechtfertigen: Also es war damals ja neu, eingetragene Lebenspartnerschaft mit, ähm, Mann aus der Türkei war für das XStandesamt der erste Fall, da war ein ganz umständlicher Standesbeamter. (Zeile 106-107) Zu den Umsetzungsschwierigkeiten des LpartG kam auch die Umständlichkeit des Beamten hinzu, so dass sich die geplante Partnerschaftsschließung verzögerte. So kommt Kai zu einem neuen Thema über die bürokratischen Schwierigkeiten aufgrund des Mangels an Kooperation des deutschen Standesamtes auf der einen und des türkischen Konsulats auf der anderen Seite. Denn sein Partner, Arda, hatte einige Unterlagen aus der Türkei beizubringen, was aber aufgrund der homophoben Haltung des türkischen Konsulats nicht möglich war. Damit Arda und Kai ihre Lebenspartnerschaft eintragen lassen konnten, mussten sie jeweils eine Ehefähigkeitsbescheinigung vorlegen, die für das Standesamt als Nachweis galt und gilt, dass beide Seiten rechtlich in der Lage sind, eine Lebenspartnerschaft einzugehen. Während Kai kein Problem mit der Vorlage dieser Bescheinigung hatte, war es für Arda schwierig, denn er hatte in der Türkei mit einer Frau eine Scheinehe geschloßen. Damit Arda in Deutschland eine Lebenspartnerschaft eingehen konnte, musste er
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sich zunächst in der Türkei von dieser Frau scheiden lassen. Diese als kompliziert geschilderte Situation des türkischen Partners, die Umstände beim deutschen Standesamt und die homophobe Haltung des türkischen Konsulats stellten insgesamt ein Hindernis für das Paar dar: „Da brauchte er natürlich alle möglichen Papiere, ähm, dass er jetzt geschieden ist, und man brauchte Papiere, wo ich vorher gar nicht wusste, dass es die gibt, also Ehefähigkeitsbescheinigung […] das war dann relativ kompliziert und normalerweise kann man die sich über ތs Konsulat besorgen, aber das türkische Konsulat war da nicht sehr kooperativ, also, die haben einfach gesagt, das gibt ތs nicht, das ތn Mann ތn Mann heiratet, und das ist nicht vorgesehen, und er konnte auch nicht weiterhelfen, also sie haben dann einfach nichts gemacht.“ (Zeile 111-119)
An dieser Stelle des Interviews teilt Kai mit, dass er und sein Partner in die Türkei fliegen mussten, denn das türkische Konsulat hatte die bürokratischen Angelegenheiten des Paares nicht erledigen wollen. Zudem wechselten sie auch das Standesamt. So schildert Kai ihre Auseinandersetzungen mit türkischen und deutschen Behörden. Während das neue Standesamt seine Bereitschaft zur Hilfe erklärte, stieß das Paar bei der deutschen Botschaft in der Türkei auf eine Blockade. Dadurch hatte das Paar dieses Mal mit der deutschen Botschaft in der Türkei zu kämpfen: Obwohl es seitens der Ausländerbehörde in Deutschland kein Problem gab und der Antrag auf die Eintragung der Lebenspartnerschaft durch das neue Standesamtes bewilligt wurde, verweigerte die deutsche Botschaft in der Türkei die Erteilung eines Visums, was Ardas Einreise nach Deutschland verkomplizierte. „Und wir hatten schon Hochzeittermin im November und, ähm, das war jetzt die Geschichte, die ich gerade schon erzählt hab ތmit der Zeitung, ich bin dann im Oktober in den Herbstferien runter geflogen, und, ähm, dann ist vorher nochތn Problem aufgetaucht, dass die, ähm, die deutsche Botschaft, ähm, wollte ihm keine, kein Visum geben […] dazu wären die zwar verpflichtet gewesen, aber sie haben das vorher schon abgeblockt, dass Arda gar nicht in die Botschaft gekommen ist, also es wurde immer abgewimmelt und gesagt, das geht nicht, und er war drei mal da, immer Nachts angestellt.“ (Zeile127-135)
Daraufhin wandte Kai sich an die zuständige deutsche Ausländerbehörde, um die Blockade seitens der deutschen Botschaft zu beheben. Durch die Anweisung des Ausländeramtes wurde Arda ein Visum für die Familienzusammenführung/Lebenspartnerschaft erteilt. Damit konnte das Paar im Jahr 2002 gemeinsam nach Deutschland kommen und die Lebenspartnerschaft schließen. Dieses Segment beendet Kai mit einer Zusammenfassung der komplizierten bürokratischen Auseinandersetzungen und dem gegenwärtigen Stand seiner binationalen schwulen Lebenspartnerschaft:
306 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE „Sie haben jedenfalls das ganze ziemlich kompliziert gestaltet, ja, wir waren eben in der Türkei noch zwei Wochen, haben so ތn bisschen Urlaub gemacht, in X-Stadt, da in der Nähe von Bodrum und Freund von ihm aus der Pension, er arbeitet heute in Istanbul. Im November haben wir dann geheiratet, hat dann alles geklappt. Ja, seitdem wohnen wir eben hier zusammen und sind eigentlich immer noch ganz glücklich oder ich bin (s.z.v.) und Arda, soweit ich weiß, auch […].“ (Zeile 137-141)
Segment 4: Anfang der Beziehung In diesem vierten Segment geht der Interviewpartner auf die Frage des Interviewers ein, wie die Beziehung eines eingetragenen binationalen schwulen Paares aussieht. Aus dieser Frage resultiert eine neue Erzählung über die anfängliche soziale und finanzielle Situation des ausländischen Partners. Kai leitet dieses Thema mit der Arbeitslosigkeit und den daraus entstanden sozialen Schwierigkeiten Ardas ein. Ausgangpunkt seiner Erzählung ist, dass Arda nicht von ihm wirtschaftlich abhängig sein wollte. Man kann als Faktum feststellen, dass der ausländische Partner von dem deutschen Partner aufenthaltsrechtlich abhängig war. Zudem war sein ausländischer Partner auch finanziell von ihm abhängig, was innerhalb einer Partnerschaft zu einem Machtverhältnis führen könnte. Aufgrund dieser doppelten Abhängigkeit musste Arda sich bemühen, sich zumindest finanziell unabhängiger zu machen und nahm deshalb unterbezahlte Jobs an. In dieser Phase der Beziehung arbeitete er beispielsweise in einem Imbiss, geringfügig entlohnt, als Koch. Kai teilt das Erlebte aus dieser Zeit der Beziehung so detailliert mit, um einerseits die damalige Situation seines Partners mitfühlend zu erzählen und andererseits Verständnis für die Bemühungen seines Partners um die wirtschaftliche Partizipation zu wecken: für ihn war es immer schwierig, ähm, ähm, ja entsprechend auch zu verdienen, ähm, weil er wollte nicht, dass ich alles bezahle […] oder dass es sich irgendwie so Ҳn bisschen ausgleicht. (Zeile 169-174) Kai schildert in diesem Segment die Verlaufskurve seines Partners in der Ankunftsgesellschaft. Die Verlaufskurve der Arbeitslosigkeit ist verflochten mit der Frage der Partizipation innerhalb der Beziehung. Die Partizipation des ausländischen Partners an der Hauswirtschaft scheint sowohl für Kai als auch für Arda von großer Bedeutung zu sein. Die Partizipation hatte jedoch auch ihren Preis: aber das waren alles eher so Jobs, würde ich so rückblickend sagen, die auch ziemlich, wo er ziemlich ausgenutzt wurde […] also so für 400 €, aber trotzdem irgendwie, ähm, fast 40 Stunden arbeiten. (Zeile 158-161) Bemerkenswert ist hier, dass der Interviewpartner nicht über sich und seine Haltung zu dieser Situation erzählt, sondern, dass er die Vergangenheit aus der Sicht einer dritten Person schildert. Zum Schluss dieses Segmentes kehrt Kai zurück in die Gegenwart und beschreibt die heutige verbesserte soziale Situation seines Partners: mittlerweile ist Ҳs so, dass es vom Job her, ähm, das er eigentlich so, ähm, ganz gut,
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ähm, über die Runden kommt (Zeile 177). Die vorherige Annahme, dass die wirtschaftliche Partizipation des Partners auch für den Interviewpartner von großer Bedeutung ist, wird von ihm in der letzten Aussage dieses Segmentes bestätigt. Vielleicht wollte der einheimische Partner eine mögliche Machtbeziehung innerhalb der Partnerschaft vermeiden, so dass er in dieser Hinsicht seinen Lebenspartner unterstützte: also, dass das jetzt nicht so ist, das ich immer alles bezahle, sondern das geht so ziemlich halb halb so, das war ihm auch wichtig, und auf die Dauer, denk ich mal, ist das auch gut so. (Zeile 178-179) Segment 5: Eintragung der Lebenspartnerschaft Im Anschluss an das vorangegangene Segment greift Kai auf den Prozess der Lebenspartnerschaftsschließung zurück. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit voneinander bzw. Emanzipation durch Partizipation wird zusätzlich durch einen notariellen Lebenspartnerschaftsvertrag, der nach einer eventuellen Scheidung des Paares die Gütertrennung und den Ausschluss des Versorgungsausgleichs vorsieht, gewährleistet. Dieser Lebenspartnerschaftsvertrag wird mit gegenseitigem Einverständnis geschlossen und zielt darauf ab, dass keiner von beiden Partnern nach einer Scheidung Anspruch auf beispielsweise Eigentum bzw. Güter des anderen erheben kann: ich war am Anfang, als wir geheiratet hatten, war so, ähm, also wir waren vorher auch beim Notar, haben soҲn, Vertrag gemacht, dass eigentlich, ähm, ich weiß nicht genau, wie das jetzt hieß, aber dass jeder praktisch bei seinen Sachen, jeder seine Sache behält (Zeile 182-184). An dieser Stelle des Segmentes kündigt Kai ein Untersegment an, in dem er auf die Unterschiede zwischen gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft und der klassischen Ehe eingeht. Bezüglich des Vertrages für den Ausschluss des Versorgungsausgleichs bzw. die Gütertrennung unterstreicht Kai eine für ihn relevante Differenz im Hinblick auf klassische Ehen. Während ein gleichgeschlechtliches Paar die Güter durch einen Vertrag trennen könnte, hätte man als Heterosexuelle nicht diese Möglichkeit, so Kai. Aus seiner Darstellung geht hervor, dass der Interviewpartner diesen Lebenspartnerschaftsvertrag für gleichgeschlechtliche Paare als Vorteil betrachtet, und er führt weitere Vergünstigungen der eingetragenen Lebenspartnerschaft an: „So, wie gesagt, dieses Heiraten war eher so, ähm, ތn Ding damit wir überhaupt zusammen wohnen können, und dass Arda damit hier bleiben kann, das war eher so, ähm, eigentlich ziemlich gut, dass das über die Lebenspartnerschaft möglich war […] weil ansonsten hatten wir ja nicht so viele Vorteile, also die Vorteile, die sonstige Ehepaare haben, hat man ja eher nicht.“ (Zeile 190-196)
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Auch hier ist eine kritische Äußerung über die gesetzliche Diskriminierung der gleichgeschlechtlichen Paare zu finden. Die wenigen aufenthaltsrechtlichen Vorteile der eingetragenen binationalen schwulen Paare scheinen aus Sicht des Erzählers nicht mit denen der heterosexuellen Ehepaare gleichgestellt zu sein. In der gleichen Aussage begründet Kai auch, aus welchen Gründen das Paar die eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen ist. Im Verlauf dieses Segments neigt der Erzähler zu Redepausen. In solchen Fällen ergreift der Interviewer die Initiative und fragt nach, wie beispielsweise das Paar über das LpartG informiert wurde. Im Folgenden beginnt der Interviewpartner zu erzählen, welche Erfahrungen er und sein Partner damals gemacht haben. Sowohl Kai als auch Arda waren bereits über die Möglichkeit, eine eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaft einzugehen, informiert, denn sie befanden sich in verschiedenen politischen Kreisen und waren mit dem Thema individuell beschäftigt. Als sie dann die Entscheidung trafen, ließen sie sich durch spezielle Beratungsstellen und Anwälte beraten. An dieser Stelle seiner Erzählung kündigt er ein Untersegment an, das von möglichen rassistischen Diskriminierungen der Ausländerbehörde gegenüber den Ausländer_innen handelt. Die Behandlungen durch die Ausländerbehörde beschreibt er evaluativ: „Wie diese ganzen Regularien bei der Ausländerbehörde, also ich fand das relativ erschreckend auch von der Ausländerbehörde, jetzt zum Beispiel, solang ތwir noch nicht verpartnert waren, ähm, wie Arda da behandelt wurde, also nicht speziell Arda, aber wie einfach alle dort behandelt werden, wo erstmal so ތne riesige Maschinerie in Gang gesetzt wird, um zu verhindern, dass man die entsprechenden Papiere bekommt […] als wir dann verpartnert waren, hat sich die Situation komplett geändert, also dann war plötzlich ein anderer Status da.“ (Zeile 215-225)
Aus dieser Aussage ergibt sich, dass die ausländischen Menschen durch die Ausländerbehörde diskriminiert werden. Besonders bewertet er die Situation seines Partners beim Statuswechsel. Er empfindet es als erschreckende Situation, dass die Ausländerbehörde mit der Partnerschaftsschließung einen Haltungswechsel offenbart. Die Arbeitsweise der Ausländerbehörde stellt Kai als bürokratische Hürde eine Maschinerie für die Ausländer_innen, die sich in Deutschland aufhalten wollen, dar. Kai deutet an, dass die Schwierigkeiten mit der Ausländerbehörde dafür verantwortlich waren, dass sich der Prozess der Lebenspartnerschaftsschließung verzögert hat: und das war Ҳne ziemlich harte Erfahrung, also sich durch diese ganzen Behörden da durchzukämpfen. (Zeile 237-238). Die Narration über diese harte Erfahrung gilt als Erzählkoda dieses Segmentes.
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Segment 6: Diskriminierung In diesem Segment schließt er das Thema der rassistischen und homophoben institutionalisierten Diskriminierung an. Während sein Partner, Arda, durch die Ausländerbehörde rassistisch diskriminiert wurde, stieß das Paar beim türkischen Konsulat auf homophobe Diskriminierung. Die institutionalisierte Diskriminierung des türkischen Konsulats zeigte sich darin, dass die türkischen Beamten aufgrund der Ablehnung bzw. Nicht-Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft nicht die bürokratischen Formalitäten erfüllen wollten. Aufgrund dieser ablehnenden Haltung des Konsulats musste Arda in die Türkei fliegen und die erforderlichen Unterlagen dort besorgen, um sie dann beim deutschen Standesamt vorzulegen: „Zum Beispiel bei der Ausländerbehörde, ähm, sind, es war fast unmöglich, überhaupt mal zu jemandem vorzudringen, mit jemandem zu sprechen, man wurde immer abgewimmelt, oder nur ތne Wartenummer hatte, irgendwann den Pass mit dieser Duldung rausgekriegt, obwohl wir das überhaupt nicht wollten, also das waren, glaube ich, weniger Vorurteile gegen Schwule, sondern das war einfach dieser normale Rassismus der Ausländerbehörde oder dieser, diese Mechanismen da […] und wie gesagt, beim türkischen Konsulat, da war ich jetzt nicht mit dabei bei dem Termin, die haben einfach sich geweigert, dass zur Kenntnis zu nehmen, also die haben einfach Arda nicht bedient, ähm, die haben gesagt, nein, dass gibt ތs nicht, dass ތn Mann ތn Mann heiratet, da machen wir nichts, fertig, da war ich jetzt gar nicht dabei.“ (Zeile 256-266)
Nach dieser Darstellung der doppelten Diskriminierung durch zwei staatliche Akteure geht er schließlich auf die in der Türkei bestehenden bürokratischen Umstände ein, die sein Partner allein überwinden musste. Während das türkische Konsulat in Deutschland die Bedienung Ardas verweigert hatte, musste er in der Türkei seine offiziellen Angelegenheiten entweder durch Beziehungen oder Bestechung erledigen. Auch diese Auseinandersetzung mit den türkischen Behörden, die ihre Macht ausspielen, wird als äußerst kompliziert wahrgenommen. An dieser Stelle beendet Kai das Segment und macht eine Erzählpause von acht Sekunden. Segment 7: Soziales Umfeld Aufgrund der Erzählstockung geht der Interviewer wieder auf die soziale Situation des Partners ein. Das Gespräch mit Kai handelt dort von der Anfangszeit der Partnerschaft. Mit der Eintragung der Lebenspartnerschaft und der daraus resultierenden Aufenthaltserlaubnis kam Arda nach Deutschland. Es ist zu vermuten, dass Arda am Anfang von seinem Partner, Kai, sozial abhängig war. Diese Annahme des Interviewers wird von Kai weder bejaht noch verneint. Kai teilt mit, dass Arda schon einige Freund_innen in Berlin hatte, die er aus der Türkei kannte. Zudem
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kommen auch die neuen Freund_innen aus der Sprachschule in Berlin hinzu, so dass er in dieser Hinsicht nicht von seinem Partner abhängig war. Interessant ist, dass der Erzähler über seinen Partner bzw. dessen Ankunft in Deutschland folgende Aussage trifft: Also er hatte, er kannte in Berlin, ähm, ungefähr sieben, acht Leute, die er auch aus der Türkei kannte, er war nicht zufällig neu […] deswegen war das von Anfang an eigentlich so, dass Arda auch seinen Bekanntenkreis hatte. (Zeile 290-295) Diese Aussage kann als Beleg für die schon vorhandenen sozialen Kontakte des Partners in Deutschland gelten. Die früheren relativ kurzfristigen Aufenthalte von Arda leisteten einen Beitrag dazu, dass er sich von der Türkei aus mit seinen Freund_innen, die in Deutschland lebten, vernetzen konnte, so dass er am Anfang keine Schwierigkeiten im Eingewöhnungsprozess erleben musste. Kai bewertet diese soziale Unabhängigkeit seines Partners positiv, denn so konnte auch er sich um seine eigenen Bekannten bzw. Freund_innen kümmern. Zusätzlich kann man seiner Aussage entnehmen, dass diese Situation auch der Stabilität der Beziehung diente. Zu der sozialen Vernetzung zählt Kai auch die Kontaktfreudigkeit seines Partners. Durch diese individuelle Eigenschaft kann sich Arda neue Zugänge zu anderen Menschen verschaffen. Diese Kontaktfreudigkeit belegt Kai am Beispiel des Verhältnisses zwischen der Herkunftsfamilie und dem Partner, mit dem Ergebnis, dass Arda relativ schnell in die Familie von Kai integriert wurde. Mit diesem Thema kündigt Kai ein Untersegment an, in dem es um die Reaktion seiner Mutter auf seine eingetragene Lebenspartnerschaft geht. Kai teilt mit, dass seine Mutter anfänglich Ängste vor möglichen negativen Reaktionen der anderen Bekannten hatte. In der Erzählung deutet Kai an, dass in kleinen Orten solche homophoben Denkweisen üblich sind: meine Mutter hat nur immer Angst, in der kleinen Stadt, ähm, was die anderen Leute denken […] also das ist aber, glaube ich, eher so Ҳn Standard von Müttern. (Zeile 312) Mit dieser schlussfolgernden Aussage beendet er das Segment und macht auch an dieser Stelle des Interviews eine Erzählpause von etwa zehn Sekunden. Segment 8: Kontakt zu Freund_innen des Partners In diesem Segment geht es um die Beziehungen des Interviewpartners zu Bekannten und Freund_innen seines Partners. Kai berichtet, dass er sich mit den Freundinnen seines Partners sehr schnell anfreunden konnte. Weil er sich früher in seiner schwulen Gruppe auch mit den anderen türkischen Schwulen beschäftigt hatte, war es für ihn nicht schwierig, einen Zugang zu den Türk_innen zu bekommen. „Ich kannte vorher schon auch schwule türkische Männer, ähm, über unser schwules Kollektiv, hat man manchmal was mit der Schwulen Internationale, gab es da in den 90er Jahren, was zusammen gemacht, ich hatte auch ތnen Türkischkurs beim schwulen Mann gemacht,
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also ich kannte schon auch Leute, die Arda dann wieder kennen gelernt hat, also das war jetzt nicht so völlig, ähm, völlig neu oder, aber natürlich die meisten hab ތich erst über Arda kennen gelernt, also ich hatte nicht so viel türkische Bekannte, ތn paar.“ (Zeile 329-334)
Segment 9: Kontakt zur Familie des Partners In diesem Segment spricht der Interviewer die Thematik des Verhältnisses des Interviewpartners zur Familie seines Partners an. Während Arda in der Familie des Interviewpartners gut aufgehoben ist, war es wichtig, die Frage zu stellen, ob auch Kai mit der Familie seines Partners derartigen Kontakt hat. In seiner Erzählung thematisiert er zuerst sein Verhältnis zur Schwiegermutter. In der Narration wird deutlich, dass Kai in seiner Erzählung über seine Schwiegermutter unsicher ist, so dass er in der Erzählung auf Schwierigkeiten stößt, passende Aussagen über sie zu treffen bzw. sie zu beschreiben. Er schildert sie bzw. ihre Haltung gegenüber homosexuellen Beziehungen als ambivalent. Aufgrund dieser Einstellung der Schwiegermutter ist es ihm nicht möglich, sie einzuschätzen bzw. einzuordnen: seine Mutter, ähm, die hat das dann irgendwie akzeptiert, aber auch wieder nicht akzeptiert. (Zeile 343) In der Erzählung über die Schwiegermutter vermeidet er einerseits Bewertungen, andererseits erklärt er, worauf sich die möglichen diskriminierenden Handlungen der Mutter seines Partners beziehen. Eine dieser Erklärungen wird mit ihrer individuellen religiösen Auslegung begründet. Die andere Erklärung ihrer ablehnenden Haltung besteht darin, dass auch sie Angst vor einem möglichen gesellschaftlichen Stigma bzw. Ausschluss hat: „Aber sie hat halt auch große Angst, ähm, dass andere Menschen das mitkriegen, also Ardas Stiefvater, oder sie war zum Beispiel einmal hier bei der Hochzeit in Berlin eingeladen, und dann, ähm, sind wir auch zu dieser Hochzeit hingegangen, da hatte sie total Panik, ähm, dass die bei der Hochzeit jetzt mitkriegen, dass wir als schwules Paar da kommen, also, das hat man richtig gemerkt, sie wollte, das wir wieder, schnell wieder rausgehen, bevor irgendwas Falsches ankommt.“ (Zeile 355-359)
Diese Aussage kann als Beleg für die Ängste und daraus entstandenen diskriminierenden Handlungen der Schwiegermutter gelten. Ergänzend zu seinen Argumenten erwähnt Kai die Sprachschwierigkeiten der Mutter, die sie daran hindern, mit dem Erzähler direkt zu kommunizieren, und diesbezüglich scheint Kai während seiner Erzählung skeptisch zu sein; einerseits bestätigt er, dass sie nicht so gut Deutsch kann, und andererseits berichtet er, dass sie sporadisch doch Deutsch redet: Und das ist immer so phasenweise hin und her und sie, manchmal am Telefon, sie spricht eigentlich kein Deutsch, aber manchmal dann doch, also wenn sie zum Beispiel Lust hat, zu telefonieren und Arda ist nicht da, dann spricht sie auch mit mir, so Ҳn bisschen […] (Zeile 352-354)
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Zum Schluss dieses Hauptsegmentes versucht Kai, die gegensätzlichen Handlungen seiner Schwiegermutter zu relativieren, indem er sie mit seiner eigenen Mutter, die in einem bayerischen Dorf lebt, vergleicht. Danach kann er mit der Schwiegermutter ohnehin keine tiefgreifenden Gespräche führen, weil sie ihn aufgrund ihrer Werte möglicherweise nicht akzeptieren würde, denn seine eigene Mutter lebt auch in einer anderen Welt. (Zeile 361) Kai legitimiert das inkonsequente Verhalten seiner Schwiegermutter ihm gegenüber. Auch wenn in dieser Aussage die muslimisch geprägte Mutter seines Partners gerechtfertigt wird, kann dieser Legitimationsversuch auch an andere muslimische Migrant_innen gerichtet sein, da es auch innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft Menschen gibt, die homophob sind und die Existenz der Abweichenden nicht anerkennen. Somit stellt Kai die Frage, wie weit kann man sich gegenseitig akzeptieren, und das ist eben bei Hatice immer mal so mal so. (Zeile 368f.) Mit dieser Aussage fasst der Erzähler das Verhältnis zur Mutter seines Partners zusammen: zwar akzeptiert er sie, sie jedoch zeigt keine Akzeptanz ihm gegenüber. Segment 10: Das Verhältnis zu anderen Familienmitgliedern des Partners Dieses Segment beginnt mit einer Nachfrage des Interviewers. Der Erzähler schildert daraufhin seine Verhältnisse zu anderen Familienmitgliedern seines Partners. Während Kai seine Schwiegermutter in Bezug auf Akzeptanz oder diskriminierende Handlungen als unentschlossen darstellt, erfährt er relative Akzeptanz durch den Stiefbruder seines Partners. Zur Zeit des Interviews lebt der Stiefbruder in einer anderen großen deutschen Stadt und ist mit einer türkischen Frau, die in der Türkei geboren und aufgewachsen ist, verheiratet. Er hat zwei kleine Kinder. Kai berichtet, dass der Stiefbruder und dessen Frau seine binationale schwule Partnerschaft zwar akzeptieren, aber sie bestimmte Befürchtungen haben, wenn ihr Sohn erfährt, dass der Onkel in einer schwulen Partnerschaft lebt und am Ende wird er noch selber schwul. (Zeile 382) Auch an dieser Stelle des Interviews relativiert Kai die homophoben Ängste des Stiefbruders seines Partners. So versucht Kai, in diesem Segment zu belegen, dass es innerhalb der Verwandtschaft ambivalente Positionen zur Homosexualität gibt. Er beendet dieses Segment und kündigt das nächste Thema über Homophobie bei den eigenen Verwandten an. Segment 11: Homophobie bei den eigenen Verwandten In den vorigen zwei Segmenten spricht Kai die Themen möglicher homophober Handlungsweisen und der Akzeptanz in der Herkunftsfamilie seines Partners an. Anschließend greift er auf das Thema Homophobie und Akzeptanz in der eigenen Verwandtschaft zurück. Kai berichtet, dass ein Teil seiner Verwandten homophobe Tendenzen hat. Um diese Aussage zu belegen, führt er eine Hintergrundkonstruk-
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tionserzählung aus, in der es sich um seinen Auftritt mit seinem Partner als schwules Paar vor etwa 40 Verwandten handelt. Auf der Feier des 80. Geburtstages seines Vaters, zu der er mit seinem türkischen Partner eingeladen war, begegnete Kai seinen Verwandten, die er eine Zeit lang nicht gesehen hatte. Als er mit Arda auf der Geburtstagsfeier erschien, erfuhr er einerseits ganz unterschiedliche Reaktionen, welche die, ähm, hoffnungslos damit überfordert waren aber auch nichts gesagt haben. (Zeile 389 f.) Andererseits betont er, dass nicht alle seine Verwandten zu diskriminierenden Handlungen neigen. Im Gegenteil, besonders in der Herkunftsfamilie gibt es Menschen, die sowohl seine Homosexualität als auch seinen türkischen Partner annehmen und ihn als Mitglied der Familie betrachten: „Aber insgesamt, ähm, ist das so, dass jetzt auch von meiner Familie her, dass es jetzt nicht so ist, dass, ähm, die das Gefühl haben, also gerade mein Vater ist, ähm, sehr tolerant, ähm, der würde nicht sagen, Arda soll jetzt nicht mitkommen, der sagt immer, nee, Arda gehört jetzt auch zur Familie.“ (Zeile 394-397)
Diese Aussage kann zum einen als Beleg für die Akzeptanz der Homosexualität innerhalb der Herkunftsfamilie gelten, zum anderen aber auch als Erzählkoda, denn Kai kündigt anschließend ein neues Thema an, das von den Gründen für seinen Weggang aus der Herkunftsstadt handelt. Segment 12: Ich bin jetzt über 25 Jahre da weg. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Kai seit über 25 Jahren außerhalb seiner kleinen Herkunftsstadt. Die Entscheidung für das Verlassen seiner Stadt ist von biographischer Bedeutung, denn „Ich könnte es mir auch nach wie vor nicht vorstellen, da zu leben […] die, die soziale Kontrolle ist enorm, also, es wird ständig getuschelt, jeder will wissen, wer mit wem und was ist jetzt mit der und warum […] ich bin jetzt über 25 Jahre da weg, und wenn ich da bin und da einkaufen gehe, dann, die Frau von der Metzgerei will sofort wissen, was los ist, also alle wollen irgendwie was wissen, obwohl ich mit den Leuten da gar nichts zu tun hab ]…[ ތaber ich denke, das ist generell bei einer kleinen Stadt so.“ (Zeile 405-410)
Diese biographische Entscheidung, nicht länger in seiner Herkunftsstadt zu leben, begründet er mit den starken sozialen Kontrollmechanismen. Da die soziale Kontrolle so deutlich spürbar ist, kann er in dieser Stadt nicht mit seinem ausländischen Partner als schwules Paar erscheinen. Er beendet dieses Segment mit einem Hinweis, dass es nämlich in jeder kleinen Stadt eine starke gesellschaftliche Kontrolle gibt.
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Segment 13: Auch der Islam-Lehrer zum Beispiel weiß, dass wir verheiratet sind. Zu Beginn dieses Segmentes denkt der Erzähler schnell nach, worüber er noch erzählen kann. Mit ach ja fällt ihm das Thema des Segmentes ein. Er beginnt mit der Narration seiner Erfahrungen in einer Grundschule, in der er als Lehrer tätig ist. So berichtet er zunächst, dass er sich ziemlich am Anfang seiner Berufstätigkeit in der Schule als Schwuler offenbart hat. Nach dieser Erzählung beschreibt er das soziale Gefüge der Schule, in der 80% der Schüler_innen Kinder türkischer Migrant_innen sind. Im Gegensatz zur Mehrheit der Migrantenkinder ist die Mehrzahl der Lehrer_innen deutscher Herkunft. Diese demographische Situation der Schüler_innen bewertet bzw. bezeichnet er als klassisch und meint damit, dass in den deutschen Grundschulen, in denen die Mehrheit der Schüler_innen einen ausländischen Hintergrund hat, meistens deutsche Lehrer_innen arbeiten und spielt damit auf indirekte Weise auf das demographische Ungleichgewicht zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen an. An dieser Stelle kommt er auf das Thema Coming-out zurück und bewertet die Reaktionen seiner Kolleg_innen auf seine Offenbarung positiv. Dieses gute Verhalten der anderen Lehrer_innen begründet Kai mit früheren Auseinandersetzungen verschiedener Lehrer_innen, die sich in der Schule als homosexuell bezeichnen und dort bereits Sensibilisierungsarbeit geleistet haben: „Im Kollegium war es auch, ähm, ganz nett, also dort habe ich auch mitgekriegt, da gibt ތs noch, ähm, es gibt mehrere lesbische Kolleginnen und so, die auch relativ offen da an der Schule sind […] also es gab manchmal ތne Situation, dass irgendeiner, ähm, irgend ތn Sechstklässler, dass er schwulenfeindliche Bemerkungen losgelassen hat, den ich selber nicht kannte, dann ist gleich die Direktorin mitgekommen und hat gesagt, stopp, so was läuft hier nicht.“ (Zeile 416-423)
Diese Aussage kann als Beleg dafür gelten, dass es in der Grundschule bereits Konflikte mit heteronormativen diskriminierenden Handlungen gegeben hat und dass sie durch die Unterstützung des Schulleiters bewältigt werden konnten. Nach diesem evaluativen Bericht spricht Kai über sein Wohlbefinden innerhalb des Kollegiums. An dieser Stelle führt er ein Untersegment an, welches vom Thema Comingout bei der Schülerschaft handelt. Obwohl er im Kollogium als offen schwuler Mitarbeiter auftritt, kann er sich nicht bei allen Schüler_innen als offen schwuler Lehrer präsentieren. Er fügt hinzu, dass er nicht immer das Bedürfnis hat, sich bei jedem/jeder zu offenbaren. Damit schildert er in der Erzählung, dass er als schwuler Lehrer einen geeigneten Umgang mit den Schüler_innen gefunden hat, beispielsweise nur in bestimmten Gruppen über die eigene Homosexualität reden zu können: Wobei ich mich nicht bei allen Schülern oute automatisch, das machҲ ich in bestimmten Gruppen, wo ich das Gefühl habҲ, da möchte ich jetzt drüber reden, aber
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ich habҲ nicht das Gefühl, ich muss das jetzt allen erzählen. (Zeile 424-427) Aus dieser Aussage geht hervor, dass mögliche Ängste des Interviewpartners vor einem etwaigen Stigma oder einer Diskriminierung seitens der Schülerschaft ausgeblendet werden. An dieser Stelle des Interviews stockt die Erzählung. Um das Gespräch weiter führen zu können, stellt der Interviewer die Frage, welches Fach der Interviewpartner als Lehrer unterrichtet. Daraufhin beginnt Kai eine deskriptive Erzählung über das Schulsystem, und es beginnt ein weiteres Untersegment, in dem er die Religionsunterrichte thematisiert und anschließend über die Konzipierung eines Unterrichtes bezüglich der Homosexualität und der Religion spricht. Da die Mehrheit der Schüler_innen aus muslimischen Migrant_innenfamilien stammt, wird der Islam in der Schule auch als Unterrichtsfach unterrichtet. Dagegen werden evangelische und katholische Religionsunterrichte nicht mehr angeboten. In seinem Fach, der Lebenskunde, ergreift er als Lehrer die Initiative, seinen Schüler_innen verschiedene Lebensformen zu erklären. Damit geht er in seiner Erzählung indirekt auf den Umgang mit den Schüler_innen ein: Also ich spreche erst über Schwule und Lesben und ganz allgemein und das Outen, selber oute ich mich in den Gruppen, wo ich das Gefühl habҲ, ähm, ich kann mit denen ganz gut da drüber reden. (Zeile 452-453) Nach dieser Aussage versucht der Erzähler, seine Achtsamkeit zu begründen: weil es gibt so, ähm, ist manchmal schwierig dann überhaupt noch ins Gespräch zu kommen, weil bei einigen, ähm, geht dann sofort die Klappe zu, oder auch bei einigen Eltern . (Zeile 455-456) Die Schwierigkeit, mit einigen Kindern über Homosexualität zu sprechen, und die mögliche Angst vor deren Eltern stellen die Beweggründe des Interviewpartners dar, weshalb er sich nur in bestimmten Schüler_innen-Gruppen offenbaren und über andere Lebensformen reden kann. Bei den letzten Aussagen kann man davon ausgehen, dass seine Homosexualität eine gewisse Akzeptanz bei seinen Kolleg_innen gefunden hat. Folgender Satz gilt als Beleg für die Akzeptanz im Kollegium im Allgemeinen und im Speziellen seitens des Islamlehrers: Arda ist jetzt auch in der Schule, macht Türkischunterricht und das ist also wie gesagt, vom Kollegium her, auch der Islam-Lehrer zum Beispiel weiß, dass wir verheiratet sind, er sagt jetzt nicht, dass er ein Problem damit hat. (Zeile 459-460) Segment 14: Das ist jetzt immer schwierig zu sagen, was ist jetzt die kulturelle Differenzierung oder was ist die individuelle … Die Nachfragephase des Interviews beginnt mit der Frage nach eventuellen kulturellen Differenzen innerhalb der Partnerschaft. Wie diese sogenannten kulturellen Differenzen wahrgenommen, verarbeitet und interpretiert werden, sind signifikante Fragen dieses Teiles des Interviews. An die Frage der kulturellen Unterschiede geht
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Kai kritisch heran. In seiner Erzählung bejaht er einerseits, dass das Paar manchmal kulturell bedingte Differenzen erlebt. Und andererseits stellt er das Adjektiv kulturell in Frage und deutet an, dass er Schwierigkeiten hat, die kulturellen und individuellen Besonderheiten voneinander zu trennen: das ist jetzt immer schwierig zu sagen, was ist jetzt die kulturelle Differenzierung oder was ist die individuelle. (Zeile 470) Um diese Schwierigkeit näher zu erläutern, führt er Beispiele an, die die wahrgenommenen Differenzen veranschaulichen. Während sein Partner Hemmungen hat, jemandem anderen nein zu sagen, ist das für Kai relativ unkompliziert. Diesen Unterschied am Beispiel des Nicht-Nein-Sagen-Könnens führt Kai sowohl auf die kulturellen als auch individuellen Merkmale seines Partners zurück: das hat auch was Individuelles mit Arda zu tun, mit Ardas Geschichte, aber trotzdem ist es auch was Kulturelles. (Zeile 486-487) Im Folgenden berichtet der Interviewte, dass er und sein Partner aufgrund individueller Bereitschaft zu Konzessionen nicht auf kulturell bedingte Meinungsverschiedenheiten stoßen. Hier begründet er evaluativ, wie die Beziehung zusammenhält: Wir sind beide auch vom Typ her, also wir streiten uns sehr selten, das ist, ähm, das ist nicht so, weil, denke ich, weil wir allen Konflikten aus dem Weg gehen, sondern einfach, weil wir beide schon irgendwie auch so Ҳnen ganz guten Weg finden, wie man wieder danach aufeinander zugeht so. (Zeile 501-504) Hinzu kommt auch das Thema Distanz und Nähe innerhalb der Partnerschaft, das den Zusammenhalt des Paares verstärkt und mögliche Konflikte verhindert. Segment 15: Gemeinsame Freunde Auf Nachfrage des Interviewers wird in dieser Sequenz der Freundeskreis des Paares geschildert. Kai berichtet in seiner Erzählung, dass sich beide Partner im Laufe der Beziehungszeit einen gemeinsamen Freundeskreis geschaffen haben. Trotz der gemeinsamen Freundschaften unterstreicht er die Schwierigkeit, neue Freundschaften zu schließen. Der Grund hierfür ist das gemeinsame Auftreten des Paares: Gemeinsam ist es auch schwierig, weil, wenn man als Paar irgendwo ist, dann, ähm, lernt man nicht so schnell jemanden kennen, ne, wie wenn man alleine irgendwo ist. (Zeile 523-524) Aus der Erzählung geht hervor, dass beide Partner sowohl einen gemeinsamen als auch eigene Freundeskreise haben. Segment 16: Wir [haben] ja auch mitgekriegt, wie kompliziert das ist, also, oder welche bürokratische Hürden aufgebaut sind. In diesem Segment handelt es sich um das LpartG für eingetragene gleichgeschlechtliche Paare. Die Nachfrage des Interviewers nach der Meinung des Interviewten über das LpartG gilt als Aufforderung zur Selbstreflexion des Erzählers. Kai bewertet das eingetragene LpartG im Allgemeinen positiv: ich finde das prinzi-
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piell gut, ich würde mir aber wünschen. (Zeile 532) Dennoch geht er auf die Umsetzungsart des Gesetzes kritisch ein. Im Verlauf seiner Narration spricht sich Kai für die Anerkennung aller Partnerschaftsformen aus, u.a., dass das LpartG allgemein für die dann eingetragenen Paare gelten soll, und er lehnt das heteronormative Partnerschaftsmodell, das als Muster für die anderen Paare gilt, ab: dass das Gesetz für alle Arten von Partnerschaften gilt, also dass, ähm, die Ehe eigentlich abgeschafft wird und dass, dass alle Paare, die egal, wie auch zusammen leben möchten, das können und das dann registrieren lassen können, ähm, ohne dass dann jetzt, ähm, soҲ ne Abstufung gibt. (Zeile 532-535) So deutet er an, dass es Unterschiede gibt, die sich auf verschiedene Privilegien verschiedener Partnerschaftsmodelle beziehen. Während eine heterosexuelle Ehe zum Beispiel einen privilegierten Status bezüglich der Steuerregeln hat, dürfen die homosexuellen Paare nicht von diesen Vorteilen profitieren. Seinen Aussagen kann man entnehmen, dass er gegen eine staatliche Abstufung der Partnerschaften ist. Eine andere Kritik des Erzählers lautet, dass nicht jede Art der Partnerschaft vom Staat anerkannt wird. Beispielsweise kann ein Paar, das sich gefühlsmäßig einander zugehörig fühlt, jedoch nicht zusammen wohnen kann, sich offiziell nicht als Paar eintragen lassen. Sie werden von den Vorteilen der offiziell eingetragenen Partnerschaft ausgeschlossen. „Es gibt dann das Lebenspartnerschaftsgesetz, bei dem man auch einige Vorteile wie jetzt beim Aufenthaltsrecht her hat, und dann gibt’s aber andere, ähm, die, die nicht zusammen leben können, ähm, und das, ich finde also, ich würde mir eine Situation wünschen, wo jeder jederzeit jede Form von Partnerschaft eintragen lassen kann.“ (Zeile 536-540)
Zum anderen macht er in seiner Darstellung deutlich, dass binationale schwule Paare zwar vom Bleiberecht für den ausländischen Partner profitieren können, jedoch stoßen sie auf bürokratische Hürden, wenn sie sich als Paar eintragen lassen möchten. Diese bürokratischen Hindernisse können als institutionelle, rassistische bzw. eventuell homophobe Diskriminierung gelten. So trifft er eine abschließende kritische evaluative Aussage über die eigenen Erfahrungen mit der institutionellen Diskriminierung: Also, das finde ich auch, diese ganzen Regeln, die da noch dran sind, was man alles machen muss, haben wir ja auch mitgekriegt, wie kompliziert das ist, also, oder welche bürokratische Hürden aufgebaut sind. (Zeile 562-564). An dieser Stelle des Segments macht Kai eine Erzählpause, die durch den Interviewer mit einer Nachfrage unterbrochen wird. Segment 17: Erste Gefühle, erste Liebe, erste Offenbarung… Der Interviewer greift auf die bisher erzählte Geschichte des Interviewpartners zurück und stellt eine externe Nachfrage, auf deren Inhalt Kai bisher nicht eingegan-
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gen war. Mit dieser externen Nachfrage bezüglich der Pubertät wird er wieder zur Erzählung ermuntert. Kai kommt auf die Zeit der Pubertät zurück und beschreibt, wie er seine Homosexualität entdeckt hatte: also, ich hatte relativ früh gemerkt, dass Jungs mich sehr interessieren. (Zeile 575) Am Anfang seiner Verliebtheit konnte er sich aber nicht als schwul einordnen: weil, es gab einfach keine Schwulen da, oder keine offen lebenden Schwulen, ähm, da, wo ich war in der Umgebung. (Zeile 578f.) Hier deutet Kai an, dass er damals keine sichtbaren Vorbilder hatte, die ihm dabei hätten helfen können, eine eigene sexuelle Identität zu definieren. Trotz der offenbar fehlenden schwulen Vorbilder hatte er unbewusst seine eigenen Vorstellungen von gleichgeschlechtlicher Liebe, die sich in speziellen Freundschaften (Zeile 579) manifestierten. Seinen Aussagen kann man entnehmen, dass er immer spezielle Freundschaften mit Jungen, in die er verliebt war, aufgebaut hat. Dementsprechend hatte Kai in der Zeit der Pubertät seinen besten Freund, mit dem er ewig zusammenleben wollte. Zum einen wird der beste Freund in der Erfahrungsaufschichtung als Motor der Bewusstwerdung der eigenen sexuellen Orientierung dargestellt. Zum anderen bezeichnet er seine Situation als Drama, in der er sich in einen heterosexuellen Freund einseitig verliebte. Auslöser dieser Dramen war, dass der beste Freund unglücklicherweise nie schwul war. Im Verlauf der Erzählung geht der Erzähler in die Tiefe und führt die vergangenen Erlebnisse und Erfahrungen seiner Jugendzeit, in der er sich verstärkt als schwul fühlte, an. Er berichtet von den gemeinsamen Plänen, mit dem besten Freund eine Weltreise oder Revolution zu machen. Anlehnend an seine Erzählung kann man behaupten, dass der beste Freund, der zur damaligen Zeit nach Italien ging und dort eine italienische Freundin fand, eine große Bedeutung für den künftigen Lebenslauf des Interviewpartners hatte. Mit der Trennung während der Italienreise und durch die Freundin seines besten Freundes begriff Kai, dass er keine gleichgeschlechtliche Liebe mit ihm ausleben durfte bzw. konnte, so dass er die biographische Entscheidung traf, seine Heimatstadt zu verlassen und alleine nach Berlin zu gehen: Kaum waren wir in Italien, Studienplätze angucken, hat er sich in Ҳne Italienerin verliebt, das war dann auch der Grund, wo ich dann irgendwann gesagt habҲ, OK, jetzt gehҲ ich nach Berlin und gehҲ jetzt mal alleine, ähm, da weg. (Zeile 597-599) Die Situation der aussichtslosen Liebe und der nicht ausgelebten Homosexualität zeichnete sich durch eine überwältigende Verlaufskurve aus, die Kai nur durch einen biographischen Bruch bewältigen konnte. Auf der einen Seite konnte er sich mit dem Umzug von dem Kummer einer einseitigen Liebe lösen, auf der anderen Seite fand er in einer großen Stadt mehr Möglichkeiten, seine Wünsche und Ideale zu verwirklichen. Mit der Ankündigung seines Umzugs nach Berlin berichtet Kai, dass er auch danach mit seinem besten Freund in Kontakt geblieben ist. Nach dieser selbst organisierten Wandlung führt Kai ein Untersegment an, das von den unterschiedlichen Einstellungen der Elternteile zu seiner Homosexualität handelt. Es
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geht hierbei um das Coming-out des Erzählers seinen Eltern gegenüber. Während sein Vater auf das Coming-out nicht so kompliziert reagierte, war die Haltung der Mutter entgegengesetzt zu der seines Vaters. Hier deutet Kai an, dass seine Mutter zwar keine verbalen und körperlichen Diskriminierungen begangen hat: Aber, ähm, trotzdem war sie, habҲ ich gemerkt, am Anfang warҲs ganz schwierig für sie da irgendwie mit klar zu kommen. (Zeile 607-608) Segment 18: Berlin, schwule Politik und das Engagement Mit dem Umzug nach Berlin baut Kai ein neues Leben auf, in dem er sich realisieren möchte. Zu dieser Zeit steht Kai hinter seiner Homosexualität und vertritt sie mit einer gesellschaftspolitischen Haltung innerhalb einer schwulen Organisation, die sich damals für eine Sensibilisierung für homophobe Diskriminierungen einsetzte. Im Rahmen seines sozialpolitischen Engagements nimmt Kai als Mitwirkender an einem Treffen von 30 verschiedenen Müttern, die schwule Söhne haben, teil. In seiner Erzählung beschreibt er die Mütter, die die Homosexualität ganz unterschiedlich wahrnehmen und bewerten. Zu diesem Müttertreffen wird auch seine eigene Mutter eingeladen, damit auch sie die Möglichkeit bekommen kann, sich mit der Situation ihres Sohnes auseinanderzusetzen. Nach einer Hintergrundkonstruktion des Müttertreffens in dieser Berliner schwulen Organisation schildert Kai den überraschenden Auftritt seiner Mutter, die sich bei diesem Treffen anders als zuvor verhalten und plötzlich als tolerante Mutter präsentiert hat: Und da war meine Mutter dann eben auch dabei, und, ähm, da war ich dann völlig verblüfft, weil sie hatte dann so getan, warum ich das nicht viel früher erzählt habҲ, und, ähm, sie war dann völlig die liberale weltoffene, das war aber nur solange sie in Berlin war. (Zeile 616-619) Diese unerwartete Haltungsänderung der Mutter stellt der Erzähler ironisch dar. Mit seiner Aussage deutet er an, dass sich seine Mutter in der Gruppe nicht als katholische konservative, sondern als völlig liberale und weltoffene Frau darstellen wollte, möglicherweise, um nicht auf negative Reaktionen in der Gruppe und seitens der Organisationsmitglieder zu stoßen. Segment 19: Heute ist es wahrscheinlich einfacher … Im Anschluss an das vorige Segment kehrt der Interviewpartner in seiner Erzählung in die Gegenwart zurück, und er macht im Hinblick auf die gesellschaftliche Wahrnehmung der Homosexualität einen Vergleich zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Demnach hat sich die Situation der Homosexuellen in Deutschland verbessert. Er ist der Meinung, dass die Zahl der offen lebenden Schwulen im Laufe der letzten 20 Jahre deutschlandweit zugenommen hat. Die zunehmende Sichtbarkeit der Homosexuellen im öffentlichen Leben zum einen und zum anderen die
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Fernsehserien zum Thema homosexuelle Lebensweisen tragen zur Normalität und Akzeptanz der schwulen Männer in der Gesellschaft bei, so Kai. Um diese Eigentheorie zu untermauern, gibt er ein Beispiel von seinen Nichten, die mit der Homosexualität ihres Onkels, kein Problem haben: Also zum Beispiel meine Nichten, für die ist es jetzt auch nicht so, ähm, was Schockierendes oder Verblüffendes, sondern, ähm, die kriegen das einfach mit, OK, ähm, mein Onkel ist schwul, und, ähm, dass es Schwule gibt, wissen sie von Fernsehserien (Zeile 624-626). Dieses Segment beendet Kai mit einem abschließenden Vergleich zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart: also […] es ist nicht mehr so, wie vor 20 Jahren, wo das so völlig tabuisiert ist, und, ähm, gleich Ҳn Skandal auslöst. (Zeile 627628) Segment 20: Leiblicher Bruder des Partners In den Segmenten neun und zehn ging es um das Verhältnis des Erzählers zur Herkunftsfamilie seines Partners. Da die Mutter und der Halbbruder des Partners, Arda, in Deutschland leben, konnte Kai sie in Deutschland persönlich kennen lernen bzw. mit ihnen in Kontakt treten. Da Arda ursprünglich aus der Türkei kommt, kann man annehmen, dass er auch in der Türkei andere Verwandte (leibliche Geschwister, leiblicher Vater) hat und mit ihnen in Kontakt steht. Kai geht auf die Frage dieses Segmentes, ob er auch die in der Türkei lebenden Familienmitglieder seines Partners kennen gelernt hat und ob sie ihn in diesem Falle als deutschen schwulen Schwiegersohn akzeptieren, ein. In seiner Erzählung erinnert er den Zuhörer an den Tod des Vaters seines Partners (vgl. Fall I). Kai berichtet von seinem Verhältnis zu dem leiblichen Bruder Ardas, der in der Türkei mit seiner eigenen Kleinfamilie lebt. Kennen gelernt hat Kai den Bruder Ardas und dessen Kleinfamilie am Anfang der Beziehung. Als er und Arda in die Türkei in den Urlaub geflogen sind, bestand auch die Möglichkeit, dass Arda nun seinen Partner, also Kai, bei seinem Bruder vorstellt. Das erste Treffen mit dem Bruder bewertet er als nicht so ganz unkompliziert (Zeile 651). Dies besagt, dass das Paar in der Türkei anfänglich auf Schwierigkeiten bezüglich der Akzeptanz durch den Bruder gestoßen ist. Um diese Schwierigkeiten erklären zu können, kommt Kai auf den beunruhigenden Vorfall mit der türkischen Boulevardzeitschrift zurück (vgl. Segment 1). Dadurch, dass er mit seinem Partner dieser Zeitschrift ein Interview gegeben und sich für die Zeitschrift fotografieren lassen, ohne auf die Anonymisierung persönlicher Daten zu achten, löste der Bericht über ihn und Arda einen Skandal in der Türkei aus. Auf dieses skandalöse Ereignis reagierte Ardas Bruder empört, denn er wurde auf seinem Arbeitsplatz aufgrund der schwulen Heirat seines Bruders diskriminiert.
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„Zum Beispiel, als wir in X-Stadt waren, wo das mit der Zeitung war, dann hat Hakan am nächsten Tag angerufen, war stinke sauer, wollte Arda, hätte große Lust, dich zu verprügeln, was macht ihr, ihr gebt diesen Zeitungen Interviews, und auf Arbeit, alle Kollegen kommen mit den Zeitungen an, und, ähm, sagen, hier ist dein Bruder drauf und Schande, und, ähm, also er hat sich ziemlich empört und wollte nie mehr was mit Arda zu tun haben nach dieser Zeitungsgeschichte.“ (Zeile 652-657)
Diese als Stigma erlebte Diskriminierung am Arbeitsplatz veranlasst den Bruder, Arda und seine eingetragene schwule Partnerschaft auf strengste Weise abzulehnen. Ob und wie Kai von diesem Konflikt zwischen den beiden Brüdern betroffen war, wird nicht geschildert. Aufgrund der Veröffentlichung der eingetragenen schwulen Partnerschaft brach der Bruder den Kontakt zu Arda ab. Bei diesem Bericht kann man davon ausgehen, dass das Paar zum einen durch den Bruder und zum anderen durch die Boulevardzeitung diskriminiert wurde. Kai spricht mit einem Zeitrahmenschaltelement aber dann ein Subthema an, das von der Versöhnung der Brüder handelt. Zwei Jahre vor dem Zeitpunkt des Interviews unternahm das Paar einen Urlaub in X-Stadt, aus der Arda stammt. Während des Urlaubs versuchte das Paar, den Bruder wieder zu kontaktieren. Der Versuch der Kontaktaufnahme gelang dem Paar, so dass Arda und Kai vom Bruder eingeladen wurden. Trotz der Versöhnung und der daraus entstandenen gemeinsamen Projekte mit der Frau des Bruders kann Kai nicht einschätzen, ob der Bruder das Paar so akzeptiert. Dafür nennt er zwei Gründe: Zum einen hat Ardas Bruder Angst signalisiert, dass der Neffe vielleicht schwul werden könnte, wenn er mit dem schwulen Onkel was macht. (Zeile 670671) Zum anderen hat Kai ihn lediglich insgesamt nur zwei Mal gesehen, so dass er ihn nicht genügend kennt, um über ihn eine Aussage treffen zu können: „Also, ich kenne die jetzt natürlich nicht besonders gut, also, ich hab ތdie jetzt, ähm, zweimal gesehen und […] ich kann jetzt schlecht beurteilen […] wie sie sich wirklich mir gegenüber längere Zeit verhalten hat, also dazu kenne ich sie zu wenig, also, bei dem Treffen warތs total nett, aber das kann auch sein, dass, ähm, was ich von Arda weiß, das es nicht so ganz unproblematisch, auch bei Murat, also dass er doch immer wieder, ähm, auch Bedenken hat, oder das nicht so richtig akzeptiert hat.“ (Zeile 674-680)
Segment 21: Als schwules Paar in der Türkei Als Kai mit Arda zwei Jahre vor dem Zeitpunkt des Interviews in der Türkei war, trafen sie sich dort mit anderen Schwulen, die sie von früher her kannten. Aus diesem Bericht geht hervor, dass es auch in der Türkei möglich ist, offen lebenden schwulen Männern zu begegnen und mit ihnen Kontakte zu knüpfen. Mit dieser Information leitet der Erzähler ein Untersegment ein, in dem es sich um den ersten Liebhaber Ardas handelt. Diesen türkischen Liebhaber hat Arda mit 16 Jahren während
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seiner Jugendzeit, die er in einer Religionsschule in einem Internat verbracht hat, kennengelernt. Zur Zeit des Interviews ist Arda 42 Jahre alt, und nach 26 Jahren besucht er seinen ehemaligen Liebhaber wieder, der mittlerweile in einer heterosexuellen Ehe lebt und als Bauer arbeitet. Der ehemalige Liebhaber reagiert auf den offenen Auftritt des schwulen Paares schockiert: Zum einen hat er damit nicht gerechnet, dass Arda seine Homosexualität offenbart, und zum anderen konnte er nicht glauben, dass Arda in Deutschland einen deutschen Mann geheiratet hat. In seiner Erzählung scheint Kai die Rolle eines fremden Beobachters übernommen zu haben, der in einem fremden Land die Verhaltensweisen der Einheimischen zur Homosexualität beobachtet, bewertet und anschließend darüber berichtet. So setzt er seine Erzählung fort, seine Eindrücke von dem Ex-Liebhaber zu schildern. Nach der Beschreibung der Lebenssituation des Bauern berichtet Kai, dass dieser sich für die Homosexualität Ardas verantwortlich fühlte, denn: Er hat sich schuldig gefühlt, er hat gedacht, ich bin schuld, dass Arda jetzt schwul geworden ist, weil sie damals was hatten miteinander. (Zeile 694-695) Mit dieser Aussage versucht Kai möglicherweise zu belegen, wie die Homosexualität durch den ehemaligen Liebhaber als Schuld wahrgenommen und dadurch moralisiert wird. Die folgende Aussage über die Schuldgefühle des sich gegenwärtig als heterosexuell definierenden Mannes begründet Kai mit dem Einfluss der Religiosität auf die sexuellen moralischen Vorstellungen: Er hat ein sehr schlechtes Gewissen gehabt, weil er auch noch streng religiös war (lacht) und, aber das, der hat am Anfang mich gar nicht angeguckt. (Zeile 709-710) Nach dieser Darstellung des ersten Partners Ardas schließt Kai ein Subsegment an, in dem er von weiteren Besuchen in der Türkei berichtet. Aus seiner Erzählung resultiert, dass das Paar während der Türkeireise verschiedenste Leute besucht hat und dass beide Männer nicht auf irgendwelche blöde(n) Reaktion(en) gestoßen sind. Anschließend versucht Kai zu erklären, dass Arda sich und ihn nicht bei allen Bekannten als schwules Paar vorgestellt hat: [weil] sie vielleicht damit Schwierigkeiten haben. (Zeile 720-728) Durch diese Schwierigkeiten deutet der Erzähler mögliche homophobe Reaktionen bei den Bekannten an. Dieses Segment beendet Kai mit einer Anmerkung, die auch als Schlussfolgerung des gesamten Segments im Hinblick auf das Auftreten eines Männerpaares in der Türkei gelten kann: Ansonsten in der Türkei, ähm, fällt man als Männerpaar da auch nicht so besonders auf, also im Südwesten. Im Südosten, als wir da unterwegs waren, das, also ich glaubҲ da käme niemand auf die Idee, dass wir schwul sind. (Zeile 733-735) Der Interviewpartner geht davon aus, dass der Interviewer sich mit den Freundschaftsmodellen in der Türkei auskennt und alles, was er sagt, ohne Hintergrunderzählung versteht. Von daher ist an dieser Stelle eine kurze Erklärung der Freundschaft in der Türkei erforderlich: Da allgemeine Freundschaftsbeziehungen in der Türkei auch körperliche Nähe mit sich bringen, werden Freundespaare nicht unbedingt als homosexuell betrachtet bzw. wahrgenommen. Das heißt, körperliche Be-
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rührungen unter Freund_innen werden nicht direkt mit sexuellem Begehren assoziiert. Segment 22: Wehrdienstverweigerung Aus Anlass einer Nachfrage geht Kai in diesem Segment auf die Gründe seiner Wehrdienstverweigerung ein. Obwohl sich die Zeit der Bewusstwerdung der eigenen sexuellen Orientierung und der Entscheidung zur Militärdienstverweigerung überschneiden, macht der Erzähler deutlich, dass sie nicht mit der neu entdeckten sexuellen Orientierung zusammenhängt. Er berichtet ausdrücklich, dass er von den damaligen antimilitärischen politischen Bewegungen, die ihn dazu führten, sich gegen die Wehrdienstpflicht zu entscheiden, beeinflusst war. Dieser antimilitärische Entschluss des Interviewpartners erforderte dennoch eine lange und anstrengende Auseinandersetzung mit dem deutschen Militär, die für ihn im Laufe des Verweigerungsprozesses psychisch belastend und kräftezehrend war, weil man [Anfang der 80er] nicht einfach Militärdienst verweigern konnte (Zeile 742). An dieser Stelle beginnt er ausführlicher zu berichten, wie die jungen Männer Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre verpflichtet wurden, ihren Wehrdienst zu leisten. Er spricht über die Musterung bzw. eine Prüfung, durch die man feststellen konnte, wer wehrdienstfähig ist. Diese Prüfung bestand insbesondere aus einer Gewissensbefragung, die den Wehrpflichtigen emotional stark unter Druck setzte und wodurch man versuchte, ihn für das Militär zu gewinnen. Kai erzählt darüber: „Der Typ, der mir gegenüber saß in der ersten Prüfung, der hatte nur ein Bein, ein Arm, war soތn Kriegsversehrter, ähm, von der Wehrmacht noch, in die Bundeswehr übernommen und hat damals so praktisch gesagt, er kann zwar nicht mehr aktiv kämpfen, aber er kann auch dafür kämpfen, dass alle Drückeberger zum Militär müssen.“ (Zeile 748-751)
Trotz dieser Person, die einen Arm und ein Bein während des Krieges verloren hat, gelingt es nicht, Kai für den Wehrdienst zu gewinnen. Aus seiner Erzählung wird jedoch deutlich, dass Kai bei dieser Musterung als wehrtauglich eingestuft worden ist. Er weist wiederholt darauf hin, dass eine Wehrdienstverweigerung zu der Zeit ganz kompliziert war. Dies erklärt er mit den damaligen politischen Machtverhältnissen – die CSU hatte eine Mehrheit von 80% – wo überhaupt nur wenige Anträge auf Wehrdienstverweigerung bewilligte wurden (vgl. Zeile 752f.). Dadurch, dass die erste Gewissensbefragung negativ für ihn verlief, musste er ein zweites Mal vorstellig werden, was für ihn wiederum ohne Erfolg endete. Nach diesem zweiten Versuch trifft der Erzähler eine Entscheidung: nach dem zweiten Fall, habҲ ich gesagt, nee, ich gehe nicht mehr hin, also ich gehe nicht mehr zu so Ҳnem dritten Mal, und, äh, bin dann deswegen untergetaucht, oder unbekannt verzogen. (Zeile 755757)
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Um seine Entscheidung umzusetzen, verlässt Kai seinen Wohnort und beginnt sein Studium in einer anderen Stadt. Trotz des Studiums gelingt ihm die Flucht vor der Wehrpflicht nicht, denn die Bundeswehrbehörde hatte ihn vermutlich aufgrund einer Kooperation mit der Universität wieder gefunden und rekrutiert. So muss Kai zum dritten Mal die Musterung über sich ergehen lassen. Die Prüfung erfolgte direkt in der Kaserne, und er wird zwangsweise zur Bundeswehr eingezogen. Hier wird ein Untersegment eingefügt, das von der Entlassung des Interviewpartners handelt: dann hatte ich nochmal ein drittes Verfahren bei der Bundeswehr, also da war ich schon in der Kaserne, und da bin ich dann rausgekommen (Zeile 758-760) Im Anschluss an diesen Bericht führt Kai die Begründung für seine Entlassung an. Diese Argumente beziehen sich in erster Linie auf seine Schlussfolgerungen aus den Auseinandersetzungen mit der Bundeswehr wegen seiner Wehrdienstverweigerung. So ist er der Meinung, dass die Bundeswehr ihn möglicherweise aufgrund seiner antimilitärischen politischen Haltung nicht mehr behalten wollte. In seiner Erzählung kristallisiert sich heraus, dass die Armee ihn als destruktiven, demoralisierenden und die Kampfmoral unterwandernden Soldaten wahrgenommen hat. Hier springt der Erzähler zu einem Untersegment über, in dem er auf die Zeit seines dreiwöchigen Aufenthaltes im Militärgefängnis eingeht. Zum einen hatte er in der Kaserne Redeverbot, er durfte mit keinem Soldaten sprechen. Zum anderen war er drei Wochen lang im Militärgefängnis eingesperrt, versuchte aber während dieser Zeit, sich über andere Wege zu befreien. An dieser Stelle führt er ein Beispiel seiner Versuche an: und ich habҲ auch über Ärzte versucht, mich ausmustern zu lassen, das hat auch nicht geklappt. (Zeile 774) In dieser Zeit im Militärgefängnis fühlt sich Kai machtlos und kann dieser schwierigen Situation trotz der Unterstützung seiner Besucher_innen von außen und durch seinen Rechtsanwalt kaum standhalten. Dieses Untersegment schließt Kai mit seinen Begründungen für seine Entlassung ab: „Ich hatte ތnen Rechtsanwalt noch, der dann öfter vorbeigeschaut hat, und die beim Militär hatten dann eher Angst, dass sie, ähm, irgendwas verkehrt machen, oder was machen, was sie nicht dürfen, wo sie dann in dem Prozess wieder selber Schwierigkeiten kriegen, und das war eigentlich dann so, ich war der Älteste in meiner Abteilung, und ich war der einzige mit Abitur, alle anderen waren, ähm, praktisch gerade frisch von der Schule gekommen, und viel jünger und, äh, deswegen hatte ich ja so ތne bestimmte Position in dieser Gruppe, und die wollten einfach nicht, dass so jemand, ähm, […] da, irgendwie dabei ist.“ (Zeile 790-798)
Segment 23: Institutionelle Hürden bei der Eintragung der Lebenspartnerschaft In diesem Abschnitt des Interviews beschreibt Kai seine Erfahrungen mit Standesämtern in Berlin. Als er und sein Partner sich für die eingetragene Lebenspartnerschaft entschlossen hatten, war das LpartG für Homosexuelle in der BRD erst relativ kurz in Kraft. Hinzu kommt, dass sie als binationales schwules Paar für die
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Standesämter ein Novum darstellten, so dass damals bei der Umsetzung des Gesetzes Komplikationen entstanden. So stößt das Paar beim ersten Versuch ihrer Anmeldung für die Eintragung ihrer Lebenspartnerschaft auf bürokratische Hürden, die durch den Standesbeamten verursacht werden. Kai erklärt diese Schwierigkeiten bei ihrer Anmeldung in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird der Standesbeamte als wirklich überkorrekt bezeichnet, und dieser Charakterzug beeinflusste die bürokratischen Formalitäten der Partnerschaftsschließung sehr negativ, so dass das Paar das Standesamt wechseln musste. Zum zweiten war das LpartG für gleichgeschlechtliche Paare recht neu. Aus diesem Grund hatte der Standesbeamte Schwierigkeiten, dieses Gesetz, insbesondere für das binationale schwule Paar, umzusetzen: „Dann hat er soތne Tabelle gemalt und hat dann, ähm, diese Papiere, und nachdem wir dann versucht hatten, die Papiere zu kriegen und gemerkt haben, das geht gar nicht, also zum Beispiel dieses Ehefähigkeitszeugnis, bekommt man nicht in der Türkei, weil das nicht geht, wenn Mann-Mann heiraten will, und dann waren wir wieder bei ihm da und haben versucht ihm zu erklären, dass man diese Papiere gar nicht bekommt als Lebenspartner, oder als schwules Paar, und dann hat der gesagt, ähm, das wär nicht sein Problem, ähm, wir müssen die Papiere vorbringen, er hat uns hier die Liste gegeben und diese Tabelle und hier muss angekreuzt werden, welche Papiere wir beizubringen haben. Also, er war völlig unflexibel, also an dem hätten wir uns, glaube ich, die Zähne ausgebissen.“ (Zeile 820-828)
Beim zweiten Standesamt schließlich gelang ihnen die Eintragung ihrer Partnerschaft. Kai erklärt, dass der zweite Standesbeamte sensibler und hilfsbereiter war. Das Segment beendet er mit der Artikulation der Hoffnung, dass das erste Standesamt hoffentlich entsprechende Umgangsformen für die binationalen gleichgeschlechtlichen Paare gefunden hat. Segment 24: Rassismus Hier greift der Erzähler die Nachfrage des Interviewers nach Diskriminierungserfahrungen des Paares auf. Kai berichtet, dass er zusammen mit seinem Partner als schwules Paar seltener diskriminiert wird. Im Gegensatz dazu begegnet der ausländische Partner häufig rassistischen Reaktionen in der Öffentlichkeit: „Es gibt dann so Erfahrungen, wo ganz klar Arda diskriminiert wird, also […] wenn wir zum Beispiel mit dem Zug in die Schweiz gefahren sind […] dann war so an der, an den, die Züge werden dann, wird nicht jeder kontrolliert, sondern es läuft einer durch und guckt dann, wer kontrolliert wird, es ist immer Arda, also, der kontrolliert wird, es ist immer Arda, der raus gegriffen wird und da gabތs dann auch Situationen wo, ähm, also er zeigt dann seinen Pass vor, und die geben dann die Daten ein, und einmal sagt dann dieser Polizeibeamter einfach
326 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE ‚aussteigen‘ zu ihm, und dann fragen wir, wieso aussteigen, was ist los und so, ja, die Person wäre nicht gemeldet, da hab ތich gesagt, das kann gar nicht sein, also, wir sind schon so oft gereist und außerdem sind wir verheiratet und wir, ‚nix, raus‘, also. Das Ergebnis war dann, äh, dass er sich vertippt hatte, also er hat den Namen falsch eingegeben und deswegen kam ‚Person nicht registriert‘, aber, er hat sich dann auch nicht entschuldigt.“ (Zeile 856-867)
Die Diskriminierung, die sein Partner durchleben muss, begründet Kai mit dessen ausländischen Erscheinung seines Mannes, der als nicht deutsch genug aussehend, für bestimmte Leute so [ist] (Zeile 868). Anschließend fügt er ein Untersegment ein, in dem er Orte in Deutschland erwähnt, an denen Schwule und Ausländer_innen diskriminiert werden. Hier werden schlechte Erfahrungen des Interviewpartners zur Sprache gebracht: „Also, einerseits nicht als schwules Paar und andererseits als Nicht-Deutscher würde ich auch nicht empfehlen, dahin zu fahren, das ist mir einfach zu, zu viel schlechte Erfahrungen, also ich habތne Zeit lang Seminare gemacht in Brandenburg, und, ähm, das fand ich schon ziemlich heftig, und die Einstellung, also jetzt nicht nur mit den, wegen diesen organisierten Neonazis, sondern wegen so ތner Grundhaltung, auch an den Schulen, von den Lehrern und so, die, war schwierig.“ (Zeile 880-884)
An dieser Stelle weist er sowohl auf institutionelle als auch auf strukturelle homophobe Diskriminierungen hin, die er in kleinstädtischen Bereichen Deutschlands erlebt hat. Zum Ende dieses Segments greift Kai erneut die Frage nach den gemeinsamen Diskriminierungserfahrungen auf und berichtet, dass er sich nicht erinnern kann, mit seinem Partner als Paar auf homophobe Weise diskriminiert worden zu sein. Daraufhin macht er eine Redepause von neun Sekunden, in der er an die Vergangenheit zurückdenkt. So gelingt es ihm, zu rekapitulieren, dass er und sein Lebenspartner als schwules Paar manchmal komisch wahrgenommen und möglicherweise ausgelacht wurden. Die folgende Aussage schließt dieses Segmentes ab: Manchmal ist es halt so, dass Leute dann, ähm, das komisch finden oder, oder sagen was, echt, und gibtҲs doch gar nicht, und sie lachen dann und so, aber, da merkt man auch, die haben eigentlich Schwierigkeiten damit. (Zeile 898-890) Segment 25: Konflikte in der Partnerschaft Dieses Segment gilt als Überblick über die partnerschaftlichen Konflikte, die sich aus den unterschiedlichen Gründen ergeben. Ausgelöst wird dieses Thema durch eine abschließende Frage des Interviewers. Diese Frage zielt in erster Linie auf die narrative Darstellung eventueller kultureller Konfliktbereiche des Paares ab. Zu Beginn seiner Erzählung weist Kai darauf hin, dass er mit seinem Partner ähnliche
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Auffassungen von Deutschland und der Türkei hat. Diesbezüglich berichtet er auch von einem gegenseitigen Austausch von Erfahrungen und Erlebnissen. Auch wenn er und Arda ähnliche Meinungen zum jeweiligen Herkunftsland haben, kommt es hin und wieder zu einem Konflikt, in dem jeder eine Verteidigungsposition einnimmt: Aber es gibt manchmal schon so bei Diskussionen Sachen, wo ich merke, wenn ich mich über Sachen aufrege, die jetzt in der Türkei passieren zum Beispiel, dass er unterschwellig Ҳn bisschen Verteidigungsposition einnimmt und umgekehrt genau so. (Zeile 909-911) Am Anfang des Segmentes versucht der Interviewte, allgemeine Aussagen über partnerschaftliche Probleme zu treffen. Aus den gewählten Worten wie äh, oder, so, also ist zu erkennen, dass er kein konkretes Thema hinsichtlich der Beziehungskonflikte benennt. So geht er danach allgemein auf die Befindlichkeiten der in Deutschland lebenden türkeistämmigen Menschen ein. Er thematisiert die Beschwerden seines Partners über Deutschland. An dieser Stelle benennt er einige Situationen, in denen sich Arda in der Mehrheitsgesellschaft unwohl gefühlt hat und daraus entstandene Diskussionen im Paarleben. Folgende Aussage gilt als Beleg für das Unbehagen seines Lebenspartners aufgrund seines migrantischen Status: wobei Arda schon manchmal sagt, also, manchmal hat er schon die Schnauze voll von Deutschsein, was weiß ich, ich gebҲ jetzt meinen Pass wieder zurück (Zeile 917). In diesem Fall versucht Kai, sich in die Situation Ardas hinein zu versetzen und zu verstehen, wie man sich beispielweise als Angehöriger einer Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft fühlt: „Also ich denkތ, dass wir beide, äh, relativ gut auch da drüber soތn bisschen reflektieren können oder so ތn bisschen, äh, oder von einander mitgekriegt haben auch so, ähm, was sind jetzt so Befindlichkeiten und, ähm, was ist so ތne bestimmten Situation, ähm, wo ich auch, äh, soތn bisschen drüber reflektieren kann, warum ist das jetzt so, oder warum verhalten die sich so“ (Zeile 913-917)
Im Anschluss an diese Erzählung leitet er ein Untersegment ein, welches von den ambivalenten Lebensweisen türkeistämmiger Migrant_innen handelt. Kai schildert seine Beobachtungen, dass Migrant_innen türkischer Herkunft eine Art kollektives Doppelleben führen. Während sie sich in der Aufnahmegesellschaft in schlechtesten wirtschaftlichen Verhältnissen befinden, stellen sie sich in der Türkei so dar, als würden sie in der BRD im Wohlstand leben, so Kai. Auf der anderen Seite zeigt er auch, dass diese Migrant_innen während ihres Aufenthaltes in Deutschland oft eine gemeinschaftliche Unzufriedenheit über die rassistischen Deutschen zum Ausdruck bringen. Diese schablonenhafte ambivalente Darstellung der deutschen Mehrheitsgesellschaft betrachtet der Interviewte als Störfaktor, der manchmal in der Beziehung Diskussionen auslöst. Im Folgenden erklärt Kai, wie er mit den partnerschaftlichen Auseinandersetzungen umgeht. Die Konflikte, die innerhalb der Beziehung
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entstehen, bezieht er einerseits auf kulturelle und andererseits auf individuelle Differenzen. Kai deutet an, dass sich diese zwiespältigen Unstimmigkeiten bei den Diskussionen oft vermischen. Mithilfe seiner früheren Erfahrungen mit türkeistämmigen Migrant_innen kann Kai mit bestimmten Verhaltensweisen seines Partners umgehen, so dass er mehr oder minder weiß, wie er solche Auseinandersetzungen bewältigen kann. Dies gilt auch für seinen Lebenspartner, der früher in Deutschland gelebt hat und dadurch über die Eigenschaften der Einheimischen informiert ist. Mit diesem Bericht drückt Kai aus, dass er und sein Freund erstens von Anfang an Bescheid wussten, was innerhalb einer binationalen Partnerschaft auf sie zu kommen kann. Zweitens sagt er, dass es sich in der Partnerschaft aufgrund der jeweiligen früheren Erkenntnisse nicht um die typischen Fremdheitserfahrungen handelt: „Also, ich kannte schon türkische Leute, das war nicht so das erste Mal, dass ich jemanden gekannt hab ތund gleich verliebt und das, sondern hatte schon viele Bekannte und wusste schon auch, äh, von, von anderen binationalen Partnerschaften, dass das nicht immer einfach ist, dass es manchmal auch Konflikte geben kann […] also, das war mir schon von vornherein eigentlich, äh, auch klar, dass so was passieren kann, oder irgendwann mal auftaucht so, und umgekehrt, war Arda nicht zum ersten Mal in Deutschland, sondern kannte das von seiner Kindheit, von seiner anderen Reise und, äh, hatte auch immer Kontakt mit Leuten aus Deutschland (s.z.v.) als er hier ankam“ (Zeile 972-981)
Hier schließt Kai das Thema der latenten Islamophobie an, auf die sein Partner in der Mehrheitsgesellschaft sporadisch stößt. Der Erzähler beschreibt an dieser Stelle Momente seines Partners, in denen er von einigen Einheimischen als Muslim betrachtet bzw. tituliert und anschließend gefragt wird, wie er als türkischer schwuler Mann mit dem Islam zurechtkomme. Die von Angehörigen der Einwanderungsgesellschaft gestellte Frage bezieht Kai auf verabsolutierende Vorurteile gegen türkeistämmige Migrant_innen. So wird Arda aufgrund seiner Erscheinung und Herkunft durch die Mehrheitsgesellschaft als gläubiger Muslim eingeordnet. Kai erzählt weiter über die Situation Ardas, dass er sich in solchen Momenten oft in einer Position befindet, in der er sich gegenüber den Mehrheitsdeutschen rechtfertigen und beweisen muss. All das, was Arda in der Mehrheitsgesellschaft erlebt, wird in der Partnerschaft reflektiert, so dass es manchmal zu bestimmten Diskussionen kommt: „Es gibt da bestimmte Bilder, die er, äh, als schwuler türkischer Mann auch immer für die Deutschen, sag ތich jetzt mal, für die Mehrheitsgesellschaft, zu bedienen hat so, also, also er wird zum Beispiel permanent gefragt, wie ist es bei euch im Islam und, äh, wird immer vorausgesetzt, er wäre jetzt der gläubige Muslim, der dann die Religion verteidigt oder, oder erklärt so, und das nützt überhaupt nichts, dem dann zu sagen, äh, wir sind da nicht alle gläubige Muslime und […] es gibt einfach bestimmte Bilder in die du, glaube ich, als türkischer Mann sehr schnell rein kommst, also nicht unbedingt immer mit Diskriminierung, aber mit
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soތner, einfach mit so ތm relativ engen Blick, äh, wie die Türken eben zu sein haben in ihren bestimmten Vorstellungen, und, und das nervt, glaube ich, ziemlich manchmal, oder, ich meinތ, das kennst du ja vielleicht auch so als, und da kommt er manchmal so und dann sagt er, ach, nee, gehen mir so aufތn Geist diese ganzen Deutschen und so, und dann, klar kannst du nicht sagen, nein, darf man nicht sagen, das sind nicht alle so, aber in der Situation ist das natürlich völlig klar.“ (Zeile 984-996)
Die Themen Rassismus, Islam, Türken, Klischees, Mehrheitsgesellschaft, Rechtfertigung etc. werden hier angesprochen. Kai versucht, diese Problembereiche durch die Bezeichnung enger Blick zu relativieren. So beendet er dieses Untersegment mit der Erklärung, dass die Reaktionen der Menschen auf den türkischen schwulen Mann nicht mit Diskriminierung, sondern mit einem relativ engen Blick zusammenhängen. Im Anschluss an dieses Untersegment führt Kai ein Gegenbeispiel aus seinen Erfahrungen mit einigen Migrant_innenfamilien an, mit denen er aus beruflichen Gründen als Grundschullehrer immer wieder Kontakte hat. Während sein Partner aufgrund des imanigierten Migrationshintergrundes gewissen Komplikationen ausgesetzt ist, begegnet Kai als deutscher Lehrer an der Schule bestimmten unberechtigten Vorwürfen seitens einiger Schüler_innen und deren türkeistämmigen Eltern. Hier veranschaulicht Kai, wie er von einem Schüler und dessen Vater als türkenfeindlich beschuldigt wird: „Also es gibt da auch immer wieder umgekehrt, es gibt in der Schule auch so Situationen wo, letzte Woche hat sich ein, ein Vater über mich beschwert, weil ich so türkenfeindlich wärތ. Der Punkt war, also das war in der dritten Klasse, und wir haben über, äh, Religionen und Beerdigung geredet, und ich hab ތda erzählt, wie es bei den Christen ist, wie es bei den Juden, und Cemal, der Junge hat halt immer gesagt, ‚ich hasse alle Juden, ich hasse alle Christen und, äh, da ist ein schwarzes Mädchen, und die, ich hasse alle Schwarzen sowieso‘ und so, und dann hab ތich ihm gesagt, und wenn jetzt zu dir jemand sagt, ich hasse alle Türken?, dann regst du dich auf, ja, das darf man überhaupt nicht sagen, also, da ist das bald explodiert, und dann ist er nach Hause gegangen und hat seinem Vater erzählt, der Lehrer hätte gesagt, er hasst alle Türken, also, nehme ich an, dass er das so erzählt hat […] dann kam eben der Vater wutentbrannt in die Schule.“ (Zeile 986-996)
Zum Schluss des gesamten Interviews berichtet der Erzähler, dass die Auseinandersetzungen in der Beziehung immer wieder situationsabhängig alternieren. Jeder Partner versucht, den anderen zu beruhigen, wenn es sich um negative Erlebnisse mit der Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft handelt. Schließlich lässt Kai erkennen, dass es ihm bewusst ist, dass auch die Migrant_innen aus der Türkei vielfältig sind und dass sie nicht einer Kategorie zuzuordnen sind. So zeigt er, wie er vorurteilsbehaftete Verallgemeinerungen vermeidet.
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5.4.3 Biographische Gesamtformung Sexuelle Orientierung Kai wurde sich seiner sexuellen Orientierung während der Pubertät bewusst. Damals konnte er sich jedoch nicht als schwul oder homosexuell definieren, da er in seiner kleinen Heimatstadt keine erkennbaren Schwulen gesehen bzw. kennen gelernt hatte. Trotz fehlender Vorbilder wusste er bereits, dass Jungen ihn interessieren. So entwickelte er spezielle Freundschaften mit einigen seiner gleichaltrigen Freunde, wenn er sich verliebt hatte. Diese speziellen Freundschaften fungierten als Tarnung für seine Homosexualität und Verliebtheit. Mit seinen speziellen Freunden baute er intensive emotionale Beziehungen auf, so dass er als schwuler junger Mann eine einseitige Liebe zu einem heterosexuellen Freund entwickeln konnte. So ist die sexuelle Orientierung Kaiތs von dieser Liebe zu seinem besten Freund geprägt. Diese jedoch nicht erwiderte Liebe bezeichnet er als unglücklich, weil sein bester Freund in eine Frau verliebt war und ihm keine gemeinsame Zukunft versprechen konnte. So bewertet und beschreibt er das Ende dieser speziellen Freundschaften als gewisse Dramen. Diese Dramen der Pubertäts- und Jugendzeit stellten für Kai eine negative Verlaufskurve dar, die zum einen durch die unglückliche Liebe und zum anderen durch die homosexuellen Gefühle gekennzeichnet ist und dadurch die Handlungsräume des Betroffenen einschränkt. In dieser Phase begann er, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, um mit sich ins Reine zu kommen und sich aus dieser Krise der Handlungs- und Entscheidungsschwierigkeiten zu befreien. Bezüglich seiner sexuellen Orientierung bringt er im Interview seine endgültige Selbstoffenbarung und deren Auswirkung zur Sprache. An dieser Stelle wechselt die Verlaufskurve in einen Wandlungsprozess, der einem Selbstouting entspricht. Die Selbstakzeptanz der eigenen Homosexualität erfolgt während und nach mehreren Ausflügen in andere größere Städte. Diese eröffneten ihm die Chance, sich als schwuler Mann zu erkennen. Nach dem Selbstouting überwand er mögliche Hinterfragungen und stellte fest: [Das Schwulsein] ist nicht so kompliziert, wie ich mir vorher gedacht habe. Wenn man das Coming-out als Wandlungsprozess betrachtet, kann man davon ausgehen, dass er neue Handlungsmöglichkeiten erlangen und danach in eine neue biographisch relevante Entwicklung eintreten würde. Des Weiteren ist zu erwarten, dass das innere Coming-out dazu beitragen würde, sich später auch gegenüber anderen zu offenbaren. Zu dieser Zeit öffnete er sich als Homosexueller bei seinen Eltern, die unterschiedlich darauf reagiert haben. Während sein Vater ihn ohne jegliche Einwände akzeptierte, hatte seine Mutter möglicherweise aufgrund ihrer religiösen Ansichten Schwierigkeiten, ihn als Schwulen anzuerkennen. Ein anderes biographisch wichtiges Merkmal dieser Zeit ist, dass Kai sich infolge seines Coming-outs für einen Umzug nach Berlin entschied. Diese als weiterer Wandlungsprozess zu bezeich-
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nende Entscheidung trug dazu bei, dass er sich von seiner konservativen und katholisch geprägten Umgebung ablösen und seine Homosexualität in einer Metropole offen ausleben konnte. Partnerschaft Wie sein Partner, Arda, im ersten Interview, so berichtete auch Kai von der Phase des Kennenlernens. Auf einer Party in einem LSBTT-Lokal begegnete sich das Paar zum ersten Mal. Damals stand eine auf Liebe basierende Partnerschaft nicht im Vordergrund, sondern eine neue Freundschaft bzw. Bekanntschaft. So bestand die anfängliche Freundschaft darin, dass Arda Kai über seine aufenthaltsrechtlichen Probleme in Kenntnis gesetzt hat, und daher wollte sich Kai mit seinem neuen Freund solidarisieren. Möglicherweise beeinflusste Kais politische Ansichten seine Bereitschaft, Arda zu helfen. Es ist zu vermuten, dass er jegliche Abschiebung eines Menschen nicht akzeptieren würde und sich somit gegen die deutsche Ausländerbehörde wendete. An dieser Stelle kann man von der Vermischung eines intentionellen mit einem institutionellen biographischen Handlungsmuster reden. Obwohl er vorher aufgrund der heteronormativ geprägten Partnerschaftsmodelle keine Verpartnerung eingehen wollte, fühlte er sich aus politischen Gründen gezwungen, mit Arda eine Lebenspartnerschaft zu schließen, damit er in Deutschland leben durfte. Das intentionelle Handlungsmuster wechselt in diesem Falle in ein institutionelles Handlungsschema. Dies ist in zweierlei Hinsicht zu interpretieren: Einerseits haben seine politischen Ansichten, die man als gesellschaftskritisch bezeichnen kann, ihn dazu veranlasst, sich für eine eingetragene Lebenspartnerschaft zu entscheiden. Andererseits hatte der Druck der Ausländerbehörde, die das vollziehende Organ des gegen Ausländerinnen strukturierten Ausländergesetzes ist, einen ebenso großen Einfluss auf die Entscheidung Kais, sich für eine Lebenspartnerschaft mit Arda auszusprechen. Eintragung der Lebenspartnerschaft Die Entscheidung für eine eingetragene Lebenspartnerschaft fällt Kai zwar nicht schwer, dennoch ist die Lebenspartnerschaftsschließung sowohl von strukturellen als auch institutionellen Komplikationen geprägt. Bevor Kai und Arda die Lebenspartnerschaft offiziell eingegangen sind, machten sie zunächst in der Türkei Urlaub, um zu sehen, ob aus ihrem Verhältnis auch eine reale Liebesbeziehung erwachsen könnte. Während des Urlaubes kündigte Arda seinen nahestehenden Freund_innen und Bekannten ihre Partnerschaft an. Durch diese Ankündigung erfuhr auch ein Journalist, den Arda persönlich kannte, dass ein türkischer Mann einen deutschen Mann heiratet. Auf eine Anfrage dieses Journalisten wurde die Beziehung von Kai und seinem Partner in einer türkischen überregionalen Zeitschrift in einem Bericht veröffentlicht. Das Paar nahm die Interviewanfrage unter der Bedingung strikter
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Diskretion bzw. Anonymität an, die im Nachhinein vom Reporter nicht eingehalten wurde. Auf Grundlage der glaubwürdigen Versprechungen des Journalisten ließen sie sich als Paar fotografieren. So wurden die aufgenommenen Bilder zusammen mit einem Bericht in der türkischen Zeitschrift publiziert und dadurch skandalisiert. Diese skandalöse Veröffentlichung rief in der Türkei homophobe Diskriminierungen hervor. Denn weder die offiziellen türkischen Institutionen noch die heteronormative Mehrheitsgesellschaft erkannten homosexuelle Partnerschaften an. In Folge dieses Skandalberichtes wurde das Paar mit heftiger homophober Diskriminierung konfrontiert. Dieses Ereignis vermittelte Kai, dass Arda in der Türkei wegen starker Homophobie nur einen eingeschränkten Lebensraum hatte. Somit veranlassten die damaligen Erlebnisse Kai, das gesetzliche Verfahren der eingetragenen Lebenspartnerschaft zu beschleunigen, was ihm aber nicht sofort gelang: Zum einen stieß Arda auf Schwierigkeiten mit den türkischen Behörden wegen der erforderlichen Unterlagen für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaftsschließung, und zum anderen weigerte sich die deutsche Botschaft, ihm ein Visum für die Einreise nach Deutschland zu erteilen. Während die türkischen Ämter Arda auf homophobe Weise entgegentraten, baute die deutsche Botschaft ihm gegenüber eine bürokratische Hürde auf. So steckte das Paar in einer Zwickmühle. Nach mehreren Versuchen bei der deutschen Botschaft gelang es Kai, seinen Partner für die eingetragene Lebenspartnerschaft nach Deutschland zu bringen. Damit konnte er die Komplikationen mit der deutschen Botschaft teilweise überwinden. Nach der Ankunft Ardas setzte er in Berlin die Anmeldung für die eingetragene Lebenspartnerschaft fort. Auch dieses Mal stieß er bei einem Berliner Standesamt auf bürokratische Hindernisse, denn die eingetragene Lebenspartnerschaft für die binationalen schwulen Paare war damals ein relativ neues Gesetz, weshalb man im Jahre 2002 mit dessen Umsetzung auf formelle und juristische Schwierigkeiten stieß Da der Mitarbeiter des Standesamtes mit der schwierigen Situation des Paares nicht sensibel umging und keine Lösungsmöglichkeiten anbot, musste Kai sich an ein zweites Standesamt wenden. Im Gegensatz zum ersten Beamten zeigte sich die andere Standesbeamtin flexibel und versuchte, gemeinsam mit dem Paar im Hinblick auf die homophoben türkischen Gesetze mögliche Lösungen zu finden. Aufgrund des in der Türkei gescheiterten Versuches, ein Ehefähigkeitszeugnis zu erlangen, strebte Arda an, sich dieses Mal in Deutschland bei dem türkischen Konsulat seine Unterlagen zu besorgen. Das türkische Konsulat reagierte ablehnend auf die Anfrage Ardas und weigerte sich, diese Bescheinigung auszustellen. Wie aus den Erzählungen Kais zu schließen ist, traf das Paar bei den Bemühungen um die Eintragung der Partnerschaft sowohl auf homophobe als auch institutionelle rassistische Diskriminierungen. Trotz der erlebten und geschilderten Mehrfachdiskriminierungen kann sich Kai mithilfe der zweiten Standesbeamtin offiziell verpartnern, denn sie befreite Arda
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von der Vorlage eines Ehefähigkeitszeugnisses, dessen Ausstellung die türkischen Behörden verweigerten. Die gemeinsam erfahrenen homophoben und rassistischen Diskriminierungen trugen dazu bei, dass Kai und Arda sich in diesem Prozess emotional näher gekommen sind, so dass aus der formell geplanten Verpartnerung eine reale Liebesbeziehung entstanden ist. Binationale schwule Lebenspartnerschaft Im Prozess der Lebenspartnerschaftsschließung unterzeichneten Kai und Arda einen notariellen Vertrag, der nach einer eventuellen offiziellen Scheidung die Gütertrennung und den Ausschluss des Versorgungsausgleiches regelt. Mit dieser Übereinkunft beabsichtigen sie, nach einer eventuellen offiziellen Trennung für ihre individuelle finanzielle Lage selbst verantwortlich zu sein. Auf dieser Grundlage ließen sie sich standesamtlich verpartnern. Von diesem Zeitpunkt an begann das Paar, in einer Wohnung gemeinsam zu leben. Die erste Phase der Beziehung ist durch die finanziellen Probleme des ausländischen Partners, der in seinem Herkunftsland ein Hochschulstudium abgeschlossen und sich in verschiedenen Bereichen qualifiziert hatte, gekennzeichnet. Trotz der in der Türkei erhaltenen Ausbildungen musste Arda anfangs in Imbissen und Restaurants Jobs annehmen, um zur Finanzierung des Haushaltes beitragen zu können. Kai vermittelt im Gespräch seine Eindrücke von den Arbeitsverhältnissen seines Partners. So ist er der Meinung, dass Arda sich in erster Linie unterfordert fühlte, denn die Jobs, die er ausgeübt hatte, stimmten nicht mit seinen Qualifikationen überein. Zum anderen wurde er von den Arbeitgeber_innen ausgenutzt und unterbezahlt, bzw. er musste häufig über die festgesetzte Zeit hinaus arbeiten, ohne dafür entlohnt zu werden. In dieser prekären Arbeitssituation versuchte er seine Chancen am Arbeitsmarkt zu erhöhen, indem er sich parallel zu seinen verschiedenen Jobs auch im Bereich des Theaters betätigte. Diese künstlerischen Arbeiten gewährleisteten ihm dennoch kein gutes Gehalt, weshalb Kai eine Zeit lang den größten Teil der Haushaltskasse alleine finanzieren musste. Im Gegensatz zu Arda hatte Kai einen festen, gut dotierten Job und dadurch ein gesichertes Einkommen. Auch wenn diese finanzielle Ungleichheit die Partnerschaft nicht negativ beeinflusste, fühlte sich sein Partner nicht wohl, was sich wiederum auf die Partnerschaft schlecht auswirkte. In dieser Situation versuchte Kai, seinen Partner zu unterstützen und zu ermutigen, dass er in der Zukunft bessere Chancen haben könnte. Im Laufe seines Deutschlandaufenthaltes strebte Arda bessere Arbeit und ein passendes Einkommen an. Zum Zeitpunkt des Interviews verfügt er über Jobs, die seinen Qualifikationen entsprechen, und er verdient wesentlich mehr als zuvor. Die verbesserte Lage Ardas ist sowohl für die Beziehung als auch für Kai von großer Relevanz, denn Kai trägt nun
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die Verantwortung für den Haushalt nicht mehr alleine, und sein Partner kann die Hälfte zu den gemeinsamen Ausgaben beisteuern. Unabhängig von der Verbesserung des Einkommens des ausländischen Partners ist die binationale Partnerschaft als positiv und harmonisch zu bezeichnen. In der Beziehung spielen individuelle Eigenschaften der Partner eine konstruktive Rolle. Beide Seiten haben während des Zusammenlebens eine Art des Umgangs mit möglichen Konflikten gefunden, so dass es bei einem Streit kaum zu einer Eskalation kommt. Sowohl Kai als auch Arda lassen sich nicht von kulturell bedingten Uneinigkeiten bzw. Differenzen beeinflussen. Die als kulturell angesehenen Probleme innerhalb der Beziehung verursachen keine Konflikte, sondern jede Seite beschäftigt sich damit, durch gemeinsame konstruktive Gespräche den anderen zu verstehen. Während Arda diese Unterschiede, die die Mehrheitgesellschaft auf die Kultur beziehen würde, als Bereicherung definiert, nimmt Kai diese ebenfalls nicht als grundlegenden Störfaktor in der Partnerschaft wahr. Er ist der Meinung, dass individuelle und kulturelle Differenzen sich innerhalb einer Partnerscharcht vermischen und schwer voneinander zu unterscheiden sind. Damit meint er nicht, dass die Kultur alleine das Individuum prägt, sondern es geht ihm darum, dass ein Mensch seine eigene Kultur individuell auslegen kann. Deshalb bezieht er die partnerschaftlichen Konflikte nicht auf unterschiedliche kulturelle Zugehörigkeiten, sondern auf individuelle Eigenschaften. Obwohl Kai im Interview immer wieder hervorhebt, dass seine Beziehung harmonisch verläuft, spricht er dennoch von bestimmten Konflikten, die er auf unterschiedliche biographische Hintergründe zurückführt. Diese sind nicht Folge des binationalen schwulen partnerschaftlichen Lebens, sondern resultieren aus den Erfahrungen beider Partner mit der heteronormativen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft. Während Arda in der Ankunftsgesellschaft aufgrund seines Erscheinungsbildes auf rassistische Diskriminierungen stößt, wurde Kai von einem Elternteil seiner Schüler_innen als türkenfeindlich beschuldigt. Zudem sind auch latente homophobe Haltungen der Mütter beider Partner erwähnenswerte Themen für die Partnerschaft. Diese Erfahrungen des Paares mit rassistischen und homophoben Diskriminierungen rufen innerhalb der Partnerschaft destruktive Diskussionen hervor, so dass Arda manchmal allen Deutschen vorwirft, dass sie möglicherweise rassistisch oder islamophob seien. Hier versucht Kai einerseits, derartige Reaktionen seines Partners auf dessen wiederholte Diskriminierungserlebnisse zurückzuführen. Andererseits zeigt er seinem Partner, dass auch er selbst von bestimmten homophoben Diskriminierungen betroffen ist. Die außerhalb der Partnerschaft erfahrenen Diskriminierungen spielen in der Beziehung zwar eine negative Rolle, dennoch sind beide Partner in der Lage, mit derartigen Ereignissen umzugehen und daraus entstehende Konflikte zu bewältigen.
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Diskriminierung In diesem Teil geht es um die gemeinsamen Diskriminierungserfahrungen des Paares. Es handelt sich um Homophobie und Rassismen, die sowohl auf institutionellen als auch sozialen Ausgrenzungsmechanismen basieren. Homophobie Obwohl Kai sich vorher nicht vorstellen konnte, sich standesamtlich zu verpartnern, entschied er, Arda auch offiziell als Partner anerkennen zu lassen, was sein künftiges Leben grundlegend veränderte. Denn Arda hatte aufgrund der in der Türkei erlebten starken Homophobie keine Möglichkeiten, sein Leben dort finanziell abzusichern (vgl. Fall I), so dass er als einzigen Ausweg die Möglichkeit sah, in ein Land auszuwandern, in dem für Homosexuelle eine bessere Gesetzeslage gewährleistet ist. Aus diesem Grund kam er 2002 mit einem Touristenvisum in die BRD, in dem das LpartG für Lesben und Schwule bereits verabschiedet worden war. Die in der Türkei erlebten homophoben Diskriminierungen erzählte er Kai gleich nach der ersten Begegnung, was dazu beitrug, dass das Paar über eine eingetragene Lebenspartnerschaft nachgedacht hat. So ist die Homophobie der unmittelbare Anlass für die Partnerschaftsschließung. Die Erwartungen des Paares an eine eingetragene Lebenspartnerschaft in Deutschland konnten aufgrund des heteronormativen Gesellschaftsstrukturen nicht erfüllt werden. Die gemeinsamen Diskriminierungserfahrungen begannen schon gleich zu Beginn der Beziehung. Wie im zweiten Segment dieses Interviews zu erkennen ist, begegnete das Paar in der Türkei erstmals gemeinsam homophober Ablehnung. Die von einem Journalisten veröffentlichten Bilder des Paares und der dazugehörige Boulevardartikel lösten einen Skandal aus. Vor allem wurde Arda zu diesem Zeitpunkt mit heftigen homophoben Ausgrenzungsmechanismen konfrontiert. Die Verpartnerung des Paares wurde in mehreren regionalen und überregionalen Zeitungen und Zeitschriften aus verschiedenen Blickwinkeln negativ kommentiert. Während sie beispielsweise von einer konservativen Zeitung als Sünder tituliert wurden, wurden sie in anderen Zeitschriften als belustigend dargestellt. Aufgrund dieser Art und Weise der Veröffentlichung über das Paar stießen sie auf ablehnende Reaktionen der nahe stehenden Verwandten Ardas. Die Darstellung des Paares durch die Printmedien wurde vom Bruder als Verletzung wahrgenommen, so dass er den Kontakt zu Arda definitiv abbrechen wollte. Kai reagierte schockiert auf diese Situation; einerseits die Konfrontation mit der heteronormativen Öffentlichkeit und andererseits die Auseinandersetzung mit dem sich für seinen schwulen Bruder schämenden älteren Bruder führten Kai dazu, die Eintragung der Lebenspartnerschaft zu beschleunigen. In diesem Moment des Verpartnerungsprozesses erfuhr das Paar institutionelle Diskriminierungen: Sowohl die türkischen Behörden verweigerten die Ausstellung
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einiger Bescheinigungen zur Vorlage bei einem Standesamt als auch die deutsche Botschaft lehnte den Antrag Ardas auf Einreise nach Deutschland ab. Die durch Behörden betriebenen Mehrfachdiskriminierungen hatten zur Folge, dass das Paar nicht zur geplanten Zeit seine Partnerschaft schließen konnte. Des Weiteren wurde die Partnerschaft von der Mutter Ardas weder anerkannt noch respektiert. Die Mutter hatte anfänglich Schwierigkeiten, einen offen homosexuell lebenden Sohn zu akzeptieren. Kai berichtete, dass sie sich in einer Ambivalenz befand: Diese Ambivalenz hinsichtlich der Homosexualität ihres Sohnes ist von der Angst vor möglichen Ausgrenzungen durch die Bekannten und Verwandten geprägt. Als Mutter eines schwulen Mannes fürchtet sie, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Diese Angst spiegelte sich darin wider, dass sie direkt oder indirekt Druck auf Arda ausübte. So sollte Arda mit seinem Partner nicht als schwules Paar in der Öffentlichkeit erscheinen. In diesem Fall war auch Kai von homophober Diskriminierung betroffen, und er wurde auch tatsächlich von einigen Familienmitgliedern seines Partners ausgegrenzt. Aus den Aussagen des Interviewpartners ergibt sich, dass die Mutter die Homosexualität Ardas im Grunde akzeptieren würde, wenn sie keine Angst vor der heteronormativen Gesellschaft und deren Ausgrenzungsmechanismen hätte. Als weitere homophobe Diskriminierungen gelten auch die Reaktionen der Verwandten von Kai. Während einige Angehörige, die in einer katholisch geprägten Welt leben, gar nicht erst versuchten, die Konstellation eines Männerpaares zu verstehen, fand das Paar in der Herkunftsfamilie Kais eine beachtliche Akzeptanz und auch Respekt. Auch die türkische Herkunft Ardas wurde von Kais Familie nicht als relevanter Unterschied wahrgenommen, so dass deren Verhältnis zu Arda als positiv zu bewerten ist. Zu den anderen homophoben Diskriminierungen des Paares gehören auch die Erfahrungen mit einzelnen Bekannten, mit dem leiblichen Bruder und dem Halbbruder Ardas sowie einem früheren Bekannten, mit dem er ein sexuelles Verhältnis hatte. Der leibliche Bruder lehnte anfänglich das Paar strikt ab. Der Halbbruder, der im Gegensatz zu dem leiblichen Bruder in Deutschland aufgewachsen ist, zeigte jedoch gegenüber Kai und Arda Akzeptanz. Dennoch sprach er über seine Befürchtung, dass das schwule Paar auf die sexuelle Entwicklung seines Sohnes einen schlechten Einfluss haben könnte, so dass Arda und Kai sich vorsichtig verhalten sollten, damit der Sohn nichts von deren Homosexualität erfährt bzw. keine schlechten Vorbilder sieht. Der frühere Freund Ardas, der zur Zeit des Interviews mit einer Frau verheiratet ist und Kinder hat, findet die schwule Partnerschaft unglaublich bzw. unmöglich. Da er mit Arda vor vielen Jahren ein homosexuelles Verhältnis hatte, fühlt er sich nun dafür verantwortlich, dass Arda schwul geworden ist.
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Die im Interview genannten Diskriminierungserfahrungen des Paares beziehen sich überwiegend auf die Menschen, die entweder in der Türkei leben, aber auch deutsche Behörden und Verwandte Kais trugen dazu bei. So teilte Kai im Interview mit, dass auch seine Mutter Schwierigkeiten hatte, ihn als schwulen Mann zu akzeptieren. Rassismus Da Kai Angehöriger der Aufnahmegesellschaft ist, lieferte er im Gegensatz zu Arda keine Informationen über eigene Erfahrungen mit Rassismus. Kais Partner als Nicht-deutscher wurde demgegenüber in der Aufnahmegesellschaft häufiger mit institutionellem und strukturellem Rassismus konfrontiert. Arda erfährt rassistische Diskriminierung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, wie beispielsweise durch die Ausländerbehörde und durch Sicherheitskräfte. Nach den Aussagen Kais gehören derartige Erfahrungen zum Alltag seines Partners. Hinzu kommt, dass Arda aufgrund seines Erscheinungsbildes häufiger nach seinem islamischen Hintergrund oder seiner religiösen Auffassung gefragt wurde und dadurch mit der Situation, dass er nicht Angehöriger der christlich geprägten deutschen Gesellschaft ist, konfrontiert wurde. Obwohl er den Islam nicht praktiziert, wird er als Moslem etikettiert. All diese Erfahrungen mit Islamophobie und Rassismus übertrug er auf die Partnerschaft, so dass manchmal destruktive Diskussionen mit seinem Partner entstanden. Institutionelle Diskriminierungen Trotz der allgemein positiven Bewertung des LpartG thematisiert Kai auch eine Ungleichheit in diesem Gesetz. Einerseits erwarb sein Partner durch das eingetragene LpartG eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und im Nachhinein den Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Andererseits wird das Paar bei den Steuerregelungen, von denen die heterosexuellen Ehen profitieren, nicht berücksichtigt bzw. beide Partner gelten im Steuergesetz als ledig, so dass sie mehr Steuern zahlen müssen als heterosexuelle Ehepaare. Diese ungleiche Behandlung kritisiert Kai und beansprucht Gleichheit für eingetragene Paare. In seiner Erzählung weist Kai auf die Klassifizierung der Paare nach ihrer sexuellen Orientierung hin.
5.5 F ALL V: H AMID Aus der Textanalyse dieses Interviews gehen folgende konkrete Themen, die für die Lebensgeschichte des Interviewpartners von Relevanz sind, hervor: Sozialisation, Familie, sexuelle Entwicklung, Partnerschaft und Diskriminierung (vgl. Tabelle 5 im Anhang).
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5.5.1 Kurzbiographie Zum Zeitpunkt des Interviews ist Hamid 24 Jahre alt. Er ist Einzelkind eines bikulturellen/binationalen und zur Zeit des Interviews geschiedenen Paares. Geboren ist er in Berlin. Er hat eine deutsche Mutter, die zum Islam konvertierte, und einen aus Pakistan stammenden muslimischen Vater. Gegenwärtig ist Hamid Student an einer Berliner Hochschule. Aus der strukturellen Textanalyse geht hervor, dass der Islam und die sozialen Verhältnisse während der Kindheit und Pubertät eine signifikante Rolle bei seiner Sozialisation gespielt haben. 5.5.2 Biographische Gesamtformung Sozialisation Hamids Sozialisation ist von einer strengen islamischen Erziehung seitens seines Vaters geprägt. Der Islam stellt sich für die bisherige Biographie des Interviewpartners als Bedrohung dar, vor der er sich immer wieder zu schützen versucht. Im Folgenden werden zunächst die negativen Erfahrungen des Erzählers mit der religiösen Erziehung und die diesbezügliche Auseinandersetzung behandelt, und in diesem Zusammenhang werden die Auswirkungen dieser Erlebnisse skizziert. Bis zur Pubertät manifestierte sich die Ausübung des Islams in einem institutionellen Handlungsmuster, das dem Interviewten durch den Vater vorgegeben wurde. In dieser Zeit musste Hamid beten und Arabisch lernen, um den Koran lesen zu können. Nicht nur sein Vater nahm einen prägenden Einfluss auf seine Sozialisation, sondern auch die Verwandten väterlicherseits setzten ihn unter Druck, den Vorschriften des Islams Folge zu leisten. Die Erwartungen seines näheren sozialen Umfeldes waren, dass er eine muslimische Identität entwickeln sollte: bin von Verwandten väterlicherseits auch immer sehr, ähm, ähm, ja motiviert worden, die Gebete zu lernen und […] mein Wissen über den Islam […]als Muslim zu erweitern und als, ähm, ein guter Moslem zu werden. (Zeile 4ff.) An einer recht späten Stelle des Interviews thematisiert er nochmals die kontrollierenden und repressiven Verwandten, die ihm vorschrieben, dass er bis zum zwölften Lebensjahr die Religion schon vollständig sollte praktizieren können. Aus dieser Interaktion zwischen ihm und seinen Verwandten entwickelte sich ein von wirklicher Überzeugung getragenes Handeln des Interviewpartners. Er wollte auch für sich selbst die Religion kennen lernen und ausleben: „Ich wollte da […] meine Identität für mich selbst spüren. Und hab ތdeswegen […] versucht, den Islam schon fanatischer aufzunehmen. Ich hab ]…[ ތauch sehr fanatische, äh, Cousins und Cousinen auch, die auch hier in Berlin, auch bei uns waren und […] mich sehr unter Druck gesetzt haben. Die haben mir gesagt, wenn ich zwölf Jahre alt bin, muss ich das und das können.“ (Zeile 389ff.)
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Der Beginn der Pubertät ist durch einen inneren Antrieb gekennzeichnet, der ein Pendeln zwischen institutionellen und intentionalen Handlungsschemata aufweist. Im Laufe des Interviews kristallisiert sich heraus, dass Hamid erst ab Mitte der Pubertät über die religiösen Normen kritisch reflektieren konnte. In dieser Zeit begannen die ersten Auseinandersetzungen mit der Religion seines Vaters. Diese beginnenden Konflikte mit der Moschee und darüber hinaus auch mit dem Vater signalisieren eine Verlaufskurve der geflochtenen Identitätsfindung, die sich rasch potenzierte und den Interviewpartner mental beschäftigte: hatte Verständnisschwierigkeiten, wollte die Sachen hinterfragen, um genau zu wissen, was damit gemeint ist. Ich bin mit den Anforderungen damals, der, der Geistlichen in der Moschee nicht zufrieden gewesen. (Zeile 30ff.) Diese kritische Reflektion über den religiösen Lebensstil dauerte bis zum Ende der Pubertät. Parallel zur Entwicklung seiner gleichgeschlechtlichen Orientierung, die Hamid an dieser Stelle nicht direkt anspricht, steigerte sich der innere Konflikt mit der Religion und dem Vater, der in diesem Lebensabschnitt des Interviewten als religiöses männliches Vorbild fungierte. Die Unstimmigkeiten zwischen Vater und Sohn tauchten dann mit den ersten Fragen nach der Sexualität und nach anderen abweichenden Auslegungsformen der Religiosität auf. In den Gesprächen mit seinem Vater stellte Hamid fest, dass er die Gedanken und die Lebenseinstellung seines Vaters nicht ändern konnte, denn dieser war dogmatisch und wollte die Normen des Islam nicht hinterfragen. Hamid bezeichnet die bedingungslose Akzeptanz bzw. den dogmatischen Glauben des Vaters als unlogisch. Für ihn ist die Religion ein unlogisches, unveränderbares Glaubenssystem, das man nicht hinterfragen darf. An dieser Stelle verkörpert sein Vater für ihn die islamische Religion. Das heißt, dass der Islam mit dem Vater gleichgesetzt wird: Ich habe auch danach angefangen, meinen Vater sehr in Frage zu stellen, da er genau dieselben Antworten lieferte, die ich schon in der Moschee bekommen habҲ. Und habҲ gemerkt, dass ich keine Kraft daraus schöpfen konnte, aus diesem ganzen religiösen Getue, wie mein Vater es zum Beispiel tat. (Zeile 39-42) Im Hinblick auf die sexuelle Orientierung und die Glaubensrichtung sind die geschilderten Konflikte für Hamid von biographischer Relevanz, denn die Infragestellung der Religion führte zu einer konfliktreichen Beziehung zwischen Vater und Sohn. In dieser Zeit stellte Hamid sich auch in Frage und dachte darüber nach, ob er in der Zukunft eine Familie mit einer Frau und Kindern haben möchte. Ihm wurde klar, dass er keine Familie im Sinne der Heteronormativität haben kann: Diese Erkenntnis über die eigene sexuelle Orientierung löste einen weiteren inneren Konflikt aus, wodurch Hamid zusätzlich mit Schuldgefühlen und sogar Selbstmordgedanken konfrontiert war und damit sehr zu kämpfen hatte. Das Auftauchen der Suizidgedanken und der damit verbundene Leidensprozess zeigen den höchsten Punkt der Verlaufskurve der Anpassungsschwierigkeiten an die heteronormativ religiöse Gesellschaft, die Hamid wie folgt schildert: Ich war auch sehr
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radikal mir selbst gegenüber. HabҲ mich immer nicht, habҲ immer sehr große Schuldgefühle, ähm, gehabt und mich, ähm, versucht, selbst zu bestrafen und hatte, ähm, große Suizidgedanken. Über mehrere Jahre. (Zeile 85-87) In dieser Phase, in der Hamid in einer krisenhaften Situation war, musste er handeln bzw. eine Entscheidung treffen, die ihn aus dieser psychischen Belastung befreien sollte. In dieser Zeit befand er sich wiederum in einer Situation des Pendelns zwischen Selbstakzeptanz und Selbstdiskriminierung. Entweder musste er sich als Homosexueller bekennen oder sich selbst bestrafen, indem er Selbstmord begehen würde. Den immer wiederkehrenden Selbsthass konnte er über mehrere Jahre hin nicht verarbeiten, so dass er sich entschließen musste, mit seiner Mutter über die psychischen Probleme wegen seiner Homosexualität zu sprechen. Während dieses Gespräches konnte er sich zum ersten Mal gegenüber einer Person, hier seiner Mutter, öffnen. Diese Entscheidung und die Selbstoffenbarung, die als Wandlungsprozess verstanden werden können, trugen zum ersten Mal zu einer psychischen Entlastung Hamids bei. Die emotionale Unterdrückung aufgrund der Homosexualität und die damit zusammenhängenden Leidensprozesse nutzte er als Ventil, um seiner Mutter das Problem seiner Andersartigkeit zu verdeutlichen und sie für sich zu gewinnen: „Über mehrere Jahre und habތ, die hab ތich, meiner, meiner Mutter mitgeteilt […] Und habތ das sozusagen als Ventil genutzt, um mein eigentliches Problem auszudrücken. Das, ja, im übertragenen Sinne, sozusagen für die […] versucht, damit meine, bei meinen allen Fragen, meine Ängste gegenüber der Homosexualität, ähm, diese Suizid eben auszudrücken.“ (Zeile 87-92)
Die Offenbarung gegenüber der Mutter erlebte er vollkommen positiv. Die Emotionalität seines Gesprächs zum einen und zum anderen die Offenheit und Einfühlsamkeit der Mutter verstärkten gegenseitige Akzeptanz und Zuwendung. Wie oben erwähnt, leistete das als Wandlung zu bezeichnende Coming-out einen Beitrag zur Abwendung von der Religion. Nach diesem positiven Erlebnis fühlte sich Hamid erleichtert, befreit und ermutigt: „Dann bin eines Abends zu ihr gegangen, hab ein bisschen erzählt, was es Problem ist und sie hatތs, […] locker genommen, aufgefasst […] mich inތn Arm genommen und mir Mut gemacht und mir versichert, dass es auch nicht schlimm sei […] ging sehr viel besser, also ich hab ތviel mehr zu meiner eigenen Identität gefunden, konnte […] dann den ganzen Druck, der ja aufgebaut war, ein bisschen ablassen.“ (Zeile 111-117)
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Schule Neben der strengen religiösen Erziehung hatte die Schulzeit des Interviewten eine signifikante Bedeutung für seinen bisherigen Lebenslauf. Zurzeit studiert er an einer Berliner Hochschule, wobei er im Interview auf dortige Diskriminierungserlebnisse weniger eingeht als auf die der Schulzeit. Aus der obigen Analyse ist zu erkennen, dass Hamid sich mit seiner Homosexualität bereits während der Pubertät beschäftigte. Diese Erkenntnis über den Interviewpartner erleichtert die weitere Analyse des Erzählten. So kann man seiner Erzählung entnehmen, dass die Schulzeit diverse Facetten in Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen hat. In den ersten Schuljahren fühlte er sich im Großen und Ganzen wohl. Hier folgt eine evaluative Narration, die über die kulturelle und soziale Verortung des Erzählers Informationen vermittelt: „Bin in der Schule damals sehr gut klar gekommen. Das war auch, ich bin auch in gemischtem Umfeld groß geworden, ich hab ތnie wirklich so den, nicht wirklich, nicht wirklich, ähm, als außenstehend gefühlt. Da waren viele ausländische […] Schüler an meiner Schule, hatten, auch in meiner Klasse, das war sehr gemischt, also teils Deutsche, teils […] ja Kinder, die Familien mit Migrationshintergrund zum Beispiel haben, und daher hab ތich mich sehr, ähm, auch ganz gut gefühlt.“ (Zeile 19-24)
Dass er sich anfänglich in der Schule wohl fühlte, führt er im Interview rückblickend auf den vielfältigen kulturellen Hintergrund der Schüler_innen zurück. In dieser Erzählung signalisiert Hamid indirekt eine subkulturelle Zugehörigkeit zu einer Mehrheitsgesellschaft. Die damals empfundene Andersartigkeit zeigt, dass der Interviewpartner in den frühen Lebensjahren Erfahrungen mit Differenz gemacht hat. So stellte er damals fest, dass die Kinder unterschiedlicher Herkunft waren; teils deutsch, teils Kinder mit Migrant_innenfamilien. Das Wissen über Fremdheit oder Differenzen ermöglichte ihm, sich mit Kindern gleicher Gesinnung zu identifizieren und darüber hinaus sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen. Die Gefühle der Verbundenheit dienten damals einem inneren und eventuell auch äußeren Wohlbefinden des Erzählers in der Schule. Die möglicherweise aufgrund der kulturellen Verortung gewonnene Sicherheit und das daraus resultierende Wohlbefinden hielten jedoch nicht auf Dauer. Denn trotz der beachtlichen Zahl der Migrant_innenkinder begann er im Laufe der Zeit auch in der Schule, sich nicht mehr wohl zu fühlen. In der gymnasialen Zeit fing Hamid an, Erfahrungen mit homophoben Diskriminierungen und Sozialneid aufgrund seiner überragenden schulischen Leistungen zu machen. Dies führt er nicht direkt auf seine sexuelle Orientierung zurück, jedoch deutet er an, dass er in der späteren Schul- und Abiturzeit auf erhebliche Probleme mit den Mitschüler_innen gestoßen ist:
342 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE „Ich habe auch schon damals […] sehr große Schwierigkeiten in der Schule gehabt […] Ich muss sagen, ich war, ähm, einerseits sehr guter Schüler damals, also, ich bin in X-Stadtteil aufތs Gymnasium gegangen […] einer der besten Schüler war ich eigentlich überhaupt, was, ähm, die Schüler, ähm, schon, glaube ich, sehr, nicht mochten oder was ihnen nicht gefallen hat. Ich hab ]…[ ތdamit nicht geprahlt oder sonst […] ich war mal sehr verschlossen, ich war mal sehr eigen. Hab meine Sachen gemacht, gute Noten geschrieben und hatte zwei, drei enge Freundinnen oder Freunde, aber kein geschlossener Kreis, das hat mir aber vollkommen ausgereicht. Aber die Leute hatten irgendwie […] den Drang […] mich irgendwie anzustacheln und, ähm, haben leider sehr, irgendwie Dinge einfach, ähm, auch gemacht […] sind sehr handgreiflich geworden, teilweise, also, das waren Spucken, ähm, mit schweren Stechen, ähm, mit Bällen schmeißen, und die Lehrer haben das auch gesehen, haben nichts gemacht, sie hatten selber Angst, und damals hat zu mir Lehrer gesagt, dass es meine Schuld ist […] dass die Leute so zu mir sind. Und ich hab ތdas auch so geglaubt und dachte, ich bin schuld, wirklich schuld da dran, dass die Menschen einfach soތn […] Hass gegen mich haben. Und das ging auch, ähm, also, was mitgespielt hat, war, oder was ich mir anhören musste, sind, waren Beleidigungen Schwulen gegenüber.“ (Zeile 669-684)
Aus der oben zitierten Erzählung geht hervor, dass Hamid in der fünften Klasse durch die Mitschüler_innen aufgrund seiner guten schulischen Leistungen ausgegrenzt wurde. Da er einer der besten Schüler der Klasse war und immer gute Noten bekam, löste das wohl den Neid der anderen Schüler_innen aus, so dass sie ihn ausgeschlossen haben. Im Laufe seiner Darstellung kristallisiert sich heraus, dass auch seine Lehrer_innen ihm nicht helfen konnten, denn sie betrachteten ihn für die diskriminierenden Handlungen der Schüler_innen als verantwortlich. Aus welchem Grund sie ihm Schuld gaben, lässt sich nicht der Erzählung entnehmen. Die Beschuldigungen der Lehrer_innen gegenüber Hamid wirkten sich so aus, dass er sich gezwungen fühlte, sich von den Mitschüler_innen zurück zu ziehen und die Diskriminierung zu erleiden. Nicht nur die guten Noten und Leistungen in der Schule waren in erster Linie Grund für den Ausschluss Hamids, sondern auch seine sexuelle Orientierung, die die Mitschüler_innen dazu bewegte, ihm mit jedweder Art von Diskriminierung entgegen zu treten. Spucken, Handgreiflichkeiten und Beleidigungen ihm gegenüber waren nur einige Handlungsweisen der Schüler_innen mit homophober Einstellung. Interessant ist hier, dass die Lehrer_innen, die zur sexuellen Aufklärung einen wichtigen Beitrag leisten sollten, nicht gehandelt haben, um die erlebten homophoben Diskriminierungen, denen Hamid ausgesetzt war, zu verhindern. Im Gegenteil bereiteten sie ihm damit große Schuldgefühle. So kann man davon ausgehen, dass sie mittelbar die Homophobie in der Schülerschaft verstärkt haben. Im Verlauf des narrativen Interviews berichtet der Erzähler, dass er sich in seiner Schulzeit noch nicht als Schwuler offenbart hatte. Er kann auch nicht erklären, wie seine Mitschüler_innen ihn damals als Schwulen erkannt haben. Was in seiner
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Erzählung als biographisch relevant erscheint, ist die Art und Weise der Homophobie durch die Gleichaltrigen und die Handlungsunfähigkeit seiner Lehrer_innen bei Schwulenfeindlichkeit: „Also ich war auch nicht geoutet irgendwie, aber so was hört man auch ständig, ich bin auch damit sehr konfrontiert worden, aber gelernt zum Beispiel sofort, dass, dass es fast sehr schlimm ist, und […] wenn es wirklich so wäre […] dass ich damit sehr schlimmes, sehr schreckliches Leben vor mir […] hätte, und, und das ist mir schon […] würde ich sagen, in der […] fünfte, fünfte Klasse schon eingeprägt worden. Also, als ich überhaupt das erste Mal mit Homosexualität konfrontiert war, nur schlechte Erfahrungen hab ތich gemacht.“ (Zeile 684690)
Die in frühem Jugendalter erfahrenen homophoben Diskriminierungen trugen zu einer langfristigen psychischen Belastung Hamids bei. Hier kommt die Selbstbezeichnung des Erzählers als Betroffener oder Opfer der heteronormativen Gesellschaft sehr stark zum Ausdruck. Auffällig ist hier, dass die Homophobie mit Ausländer_innen bzw. Menschen mit ausländischem Hintergrund assoziiert wird. Die Erfahrungen mit seinem muslimischen, pakistanstämmigen Vater und den Mitschüler_innen führt er als Beleg für die homophobe Einstellung der nicht-deutschen Gesellschaft an: „Ja, und das war hauptsächlich wirklich auch von, von ausländisch stammenden […] Kindern und Jugendlichen dann, die, ähm, ja, sehr beleidigend waren, und ja, also […] das hat sich, das hat, hat sich so verwurzelt, dass ich heute noch unglaublich gehemmt bin […] ja, und das wird man, trotz Therapie, ähm, das wird man sehr, sehr schwer los“ (Zeile 692-700)
Er verdeutlicht in seiner Erzählung, dass die Konfrontation mit schwulenfeindlichen Handlungen ihn so destabilisierte, dass er die Diskriminierungen nicht mehr verarbeiten bzw. allein bewältigen konnte. Um damit umgehen zu können, begann er eine psychotherapeutische Behandlung. All diese Erlebnisse stellten sich für Hamid als Leidensprozess dar, der durch zunehmende Einsamkeitsgefühle, die Selbstausgrenzung von den Freund_innen, die Suche nach Gleichgesinnten und die Therapie als Bewältigungsstrategie gekennzeichnet war: „Aus Angst hab ތich, ähm, Kontakt zu allen Leuten abgebrochen, bei den, ähm, ich mich nicht öffnen konnte oder mich nicht getraut habe, mich zu öffnen. Das ist sehr schade, weil ganz viele Freundschaften dadurch kaputt gegangen sind. Ich hatte sehr gute Freundschaften damals in der Schule noch. Aus den Abi-Zeiten, zu den hab ތich keinen Kontakt mehr, aus Angst. Weil eben dieses Thema kommen könnte […] deswegen habe ich eher Kontakt oft zu, zu Gleichgesinnten gesucht.“ (Zeile 649-654)
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Familie In seiner Erzählung findet das Thema Familie eine beachtliche Erwähnung. Da er in der nahen Vergangenheit aufgrund seiner Homosexualität ernsthafte familiäre Probleme erleben musste, befindet er sich auch zum Zeitpunkt des Interviews in der Verarbeitungsphase dieser Erfahrungen, die sich überwiegend auf seine Homosexualität beziehen und eine prägende Rolle für den weiteren Verlauf seiner Biographie spielen. Entsprechend des Interviewtextes gliedert sich seine Erzählung über die familiären Verhältnisse folgendermaßen: Verhältnis zum Vater, Verhältnis zur Mutter und Verhältnis zwischen Vater und Mutter. Verhältnis zum Vater Der Vater, der als signifikanter Anderer bei der Sozialisation des Erzählers eine große Rolle gespielt hat, steht im Mittelpunkt des Interviews. Das Verhältnis zu ihm wird in drei Kapiteln geschildert: 1. Das Vater-Sohn-Verhältnis vor dem Comingout, 2. das Coming-out gegenüber dem Vater als biographischer Bruch und 3. das Vater-Sohn-Verhältnis nach dem Coming-out. 1. Die VaterSohn-Beziehung vor dem Coming-out bestand aus gemeinsamen religiösen Betätigungen, wie Moscheebesuche, Gebete und religiöse Bildung auf Initiative des Vaters. Für Hamid stellte sich sein Vater als männliches religiöses Vorbild dar, dem der Erzähler von der Kindheit bis zur Mitte der Pubertät zu folgen versuchte. Zur damaligen Zeit übernahm er eine Brückenrolle zwischen Religion und Hamid; so fand der Interviewpartner durch seinen Vater einen direkten Zugang zur Religion. Die für die Religion notwendigen Handlungsmuster wurden ihm in erster Linie direkt durch seinen Vater vermittelt. Was richtig und was falsch war, wurde ihm sowohl in der Moschee als auch zu Hause beigebracht. In diesen frühen Lebensjahren lernte er die sozialen Kontrollmechanismen kennen, die seine Handlungsräume bzw. -freiheiten einschränkten. Aus dem Drang heraus, sich an das nahe soziale Umfeld anzupassen, war Hamid bemüht, seinem Vater und seinen Verwandten gerecht zu werden. Das hier dargestellte Handlungsmuster bzw. die Motivation für die Ausübung der Religion ist aus der Erzählung schwer zu erkennen. Anscheinend war Hamid selbst derjenige, der eine Annäherung zu seinem Vater gesucht hat, der für ihn als Vorbild fungierte und dem er nacheifern wollte. So übte er den Islam als die Religion seines Vaters aus, obwohl er sich niemals wirklich zugehörig fühlte. Die Ausdrucksformen des Erzählers, wie beispielsweise der Vater als Verkörperung der männlichen muslimischen Seite, Internalisierung dessen Religion, seine Unterstützung bei der eventuellen Identitätsfindung, fallen im Interview deutlich auf. Diese nachdrücklich angesprochenen Probleme bilden zudem einen Themen-
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komplex im gesamten Interview; auf diese Themen kommt der Erzähler immer wieder zurück und gibt auch verschiedene zusammenhängende Beispiele zu Erfahrungen mit Religion, Vater und Homosexualität: „Hab ތich damals sehr an meinem Vater geklammert. Der, ähm, für mich die männliche muslimische Seite verkörperte, die ich ja auch […] irgendwie, ähm, versucht habތ, wieder zu spiegeln oder die ich versucht habތ, in mir aufzunehmen und hab ތnach seiner Unterstützung eigentlich gefragt und bin mit ihm durch die Moschee gegangen.“ (Zeile 33-36)
Im Laufe dieser Zeit begann Hamid, sich auf mentaler Ebene mit der Religion zu befassen. Zunächst ließ er sich auf die religiösen Riten ein und versuchte dadurch, die Unterstützung seines Vaters zu gewinnen, was ihm aber nicht gelang. Diese Auseinandersetzung und Unstimmigkeiten mit dem Vater führten meistens zu Konflikten in der Vater-Sohn-Beziehung, die sich vermutlich aus einer Identitätskrise ergaben. Mit der Aussage über die männliche und muslimische Seite deutet Hamid seine damalige kulturelle und sexuelle Identitätssuche an, die sich in Fragen nach seiner Sexualität niederschlägt: „Da er sehr überzeugter Muslim ist, hab ތich dadurch […] Aufschluss bekommen über meine Fragen und, ähm, das […] Wissensdurst auch bisschen zu befriedigen. Das ist leider nicht so aufgegangen, wie ich mir gewünscht hätte. Ich habe auch danach angefangen, meinen Vater sehr in Frage zu stellen, da er genau dieselben Antworten lieferte, die ich schon in der Moschee bekommen habތ.“ (Zeile 37-41)
Seine Erwartungen konnte der Vater nicht erfüllen, denn bereits in der Pubertät entstanden Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden. Das Infragestellen und die damit verbundenen Diskussionen mit dem Vater verschärften die Konflikte, so dass Hamid sich von ihm distanzieren und seine Homosexualität verstecken musste. Auffällig war in der Vater-Sohn-Beziehung, dass nicht nur die Fragen des Interviewten Streitigkeiten auslösten, sondern auch die Antworten des Vaters, die im Interview als unlogisch bzw. auch radikal bezeichnet werden: „Hab ތich mit mir selbst ausgemacht und bin öfters mit meinem Vater in Streit gegangen. Ich hab ތversucht, ihn auszutesten, ihn zu fragen, wie das ist, mit, ähm, es gibt ja den in vielen Religionen, so was wie, ähm, Geschlechtsverkehr vor der Ehe, zum Beispiel […] Ich habތ dann versucht, ihn ein bisschen auf mein Problem kommen zu lassen, aber ohne dass mich wirklich dafür da (s.z.v.). Und […] mein Vater ist mir mit sehr radikalen, ähm, Ansichten entgegen getreten und hat […] mir sehr unlogische Antworten gegeben.“ (Zeile 69-74)
Die aus Angst erwachsene Distanz und das daraus entstandene Doppelleben stellten für Hamid ernsthafte Probleme dar, die ihm ein schlechtes Gewissen bereiteten und
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ihn zu Selbstmordgedanken trieben. In dieser schwierigen Situation bedurfte Hamid eines Menschen, demgegenüber er sich offenbaren konnte. Aufgrund der Diskussionen und Auseinandersetzungen mit seinem Vater war er davon überzeugt, dass er mit ihm nicht über seine sexuelle Orientierung sprechen konnte: „hab ތimmer sehr große Schuldgefühle, ähm, gehabt und mich, ähm, versucht, selbst zu bestrafen und hatte, ähm, große Suizidgedanken […] Meinem Vater konnte ich nicht mitteilen, ähm, mein Vater ist sehr […] leicht cholerisch und hysterisch und, ähm, hat sehr schwankende Nerven und von daher hab ތich mich […] nicht an ihn gewandt.“ (Zeile 86-90)
2. Das Coming-out gegenüber dem Vater als ein biographischer Bruch und Konsequenzen: Die Entscheidung, sich gegenüber seinem Vater als Homosexueller zu offenbaren, traf er nach langen Diskussionen mit seinem gegenwärtigen Partner. In den folgenden Abschnitten geht es ausführlicher um die partnerschaftliche Auseinandersetzung über sein Coming-out: Wie Hamid sich vor seinem Vater als Schwuler outen konnte und wie sein Vater auf diese Offenbarung reagierte, ist an dieser Stelle der Auswertung von großer Bedeutung. Aufgrund seiner Ängste vor seinem Vater bevorzugte Hamid ein Doppelleben, das sich als Konfliktpotenzial innerhalb seiner Partnerschaft darstellte. Durch die Furcht vor möglicher Gewalt, Ausgrenzung, Verachtung und totaler Ablehnung seitens des Vaters fühlte er sich gezwungen, vor seinem Vater seine Homosexualität zu verbergen. Die oben kurz erwähnten Auseinandersetzungen mit seinem Partner ließen ihn in eine konfliktreiche Situation geraten, in der er sich entweder für seine Beziehung und damit auch für das Coming-out gegenüber seinem Vater oder dagegen entscheiden musste. So beschloss er nach vielen inneren Konflikten, sich schließlich und endlich gegenüber seinem Vater zu öffnen, ohne über mögliche Konsequenzen nachzudenken. Das folgende Zitat veranschaulicht den Moment seiner Offenbarung bei seinem Vater: „Ich hab ތdann irgendwann meinem Vater, ich bin damals in die Wohnung meines Vaters gezogen, weil er eine Einzimmerwohnung hatte [...] die konnte ich übernehmen […] und habތ dann auch dort gewohnt, und seine Post kam zu mir. Dann hat er regelmäßig die Post bei mir abgeholt, und dann hat er eines Tages bei mir angerufen, meinte er, ich komme die Post abholen, und Frank war gerade bei mir zu Hause und ich bin dann runter gegangen zum Briefkasten, um den aufzuschließen. Und dann hab ތich meinen Vater zur Seite genommen und habe ihm gesagt, ähm, er soll sich jetzt, ähm, er soll sich jetzt nicht aufregen und hab ތihm gesagt, ja, ja, ich hab ތǥn Freund und Punkt. Also ich habތs ganz kurz und knapp formuliert.“ (Zeile 176-184)
Das kurz und knapp formulierte Coming-out beinhaltete im Gespräch mit seinem Vater keine Erklärungen bezüglich der Entwicklung seiner sexuellen Orientierung
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und der damit zusammenhängenden psychischen Auseinandersetzungen. Mit dieser spontanen Öffnung erreichte das konfliktreiche Vater-Sohn-Verhältnis seinen Höhepunkt, und dadurch entlud sich Hamids Hass und Angst gegenüber seinem Vater, weil dieser entrüstet reagierte. Während man dieses Coming-out als biographischen Bruch bezeichnen könnte, kann man wegen der geschilderten fundamentalen Einstellung des Vaters davon ausgehen, dass Hamid mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. So schildert er die Reaktion seines Vaters: „Dann hat er sofort, auf die Sekunde, angefangen zu weinen, ähm, sehr schnell, hat aber dann, ruck zuck, wieder aufgehört und ist, äh, aggressiv geworden, hysterisch und hat, ähm, rumgeschrien auf der ganzen Straße und, ähm, ich stand in meinen Hausklamotten auf der Straße, weil ich eigentlich wieder zurück gehen wollte vom Briefkasten, weg nach oben. Und er hat die Tür aufgerissen […] dann Telefonhörer aus einfach entwendet, sozusagen, mir den dann [in] die Hand [gegeben], ich soll sofort meine Mutter anrufen und ihr auch das sagen und, ähm, da hab ތich mir auch nicht getraut zu sagen, dass sie schon seit mehreren Jahren weiß, und ich wollte noch auch meine Mutter schützen, und hab ތdann versucht, meine Mutter anzurufen, die war aber […] nicht zu erreichen, und dann hat mein Vater mir gedroht, ähm, also er will mir was Schlimmes antun, wenn ich nicht mit ihm auf die Wohnung gehen würde, und ich hatte große Angst, weil Frank oben war, ich dachte, wenn wir oben sind, würde er ihm was antun. Da hab ތich mit ‘m Handy Frank angerufen und gesagt, er soll bitte auf die Straße kommen, das wäre sicherer. Und mein Vater […] hatte gesagt, dass er mich umbringen möchte, hattތs dreißig, vierzig Mal wiederholt, ähm, geschrien, ähm, das um, umher gerannt, ähm, wollte mich schlagen, hat mich aber nicht angefasst. Er ist dann wieder zurück gewichen.“ (Zeile 184-201)
Dass der Vater geweint, geschrien und danach Hamid bedroht hat, zeigt zum einen seine extreme Ablehnung der homosexuellen Lebensweise gegenüber. Zum anderen erklärt das den Beginn eines neuen Leidensprozesses des Interviewpartners, der den aus Homophobie entstandenen Drohungen und Diskriminierungen ausgesetzt war. Im Interview geht er nicht nur auf seine eigene schwierige Lage ein, sondern auch auf die bedrohte Situation seiner nahestehenden Menschen, wie die der Mutter und die des Partners. Zudem ist hier zu konstatieren, dass er sich aufgrund der extremen homophoben Diskriminierung in einer Verlaufskurve befand, die er im Nachhinein zu verarbeiten und zu bewältigen versuchte. Sein Vater brachte ihn durch Androhung von Gewalt und Tod dazu, dass er seinen Alltag nicht bewältigen konnte. Des Weiteren fühlte er sich in seiner eigenen Wohnung nicht mehr in Sicherheit, weswegen er schnellstens den Kontakt zu seinem Vater abbrach, aus der eigenen Wohnung floh und bei seinem Partner einen sicheren Ort fand. In dieser Zeit fühlte Hamid sich in einer schwierigen Situation, die durch Angst, Hoffnungslosigkeit und Kummer gekennzeichnet war und ihn zur Handlungsunfä-
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higkeit führte. Um diesen extremen psychischen Druck zu verarbeiten, besuchte er eine Beratungsstelle, die sich gegen Gewalt und Diskriminierung an Homosexuellen einsetzt und die ratsuchenden Betroffenen in ihrer schwierigen Situation unterstützt. Inwieweit diese Stelle ihm behilflich sein konnte, findet in seiner Darstellung keine detaillierte Erwähnung. Als möglicherweise letzte Bewältigungsstrategie begann er eine Psychotherapie, die zum Zeitpunkt des Interviews bereits abgeschlossen war. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Hamid hoffte, durch die Flucht von zu Hause, den Besuch einer Beratungsstelle und eine Psychotherapie, diese belastenden Erlebnisse zu meistern: „Ich hatte wirklich Angst […] ja dann, äh, irgendwann bin ich […] eine Stunde, ähm, wieder zurück zu der Wohnung, in Begleitung von Frank und habތ, so schnell zu Tür rein und Koffer gepackt und bin in Franks Wohnung geflüchtet und, ähm, habe mir psychologische Hilfe, da bei diesen am X-Platz […] bei dieser Beratungsstelle für Diskriminierung und, ähm, Überfälle gegen Homosexuelle und so hab ތich mir […] Beratung zu holen. Weil ich mit jemanden sprechen wollte, ich hatte Angst, auf die Straße zu gehen. Wenn ich sein Automodell gesehen habe, ich wusste nicht, ob er nachts vielleicht kommt und die Tür eintritt […] deswegen konnte ich auch nicht mehr zu Hause bleiben und bin dann […] zu Frank geflüchtet und […] hatte sehr große Angst, ich konnte […] nicht mehr essen, ich bin nur noch im Bett geblieben, ähm, ich hab ތnoch stärker abgenommen. Ich hatte noch ތne Klausur […] ich konnte mich erst mal nicht weiter damit beschäftigen, ich hab ތüberlegt, ob ich die Uni erst mal abbreche […] Jedenfalls habe ich gedacht, ähm, für meine eigene, zu meinem eigenen Schutz, ähm, sofort Therapie begonnen.“ (Zeile 216 ff. und 251ff.)
3. Das Verhältnis nach dem Coming-out und heute: Das Verhältnis Hamids zu seinem Vater ist zur Zeit des Interviews durch das Coming-out zerstört. Da sein Vater aggressiv reagierte und ihm mit dem Tod drohte, hat er das Vertrauen zu seinem Vater grundsätzlich verloren, so dass Hamid zum Zeitpunkt des Interviews nicht mehr mit seinem Vater in Kontakt treten will. Durch die Aufgabe seiner Wohnung und den Umzug zu seinem Partner gelang es ihm, eine deutliche Distanz zu seinem Vater zu gewinnen. Das als Bewältigungsstrategie zu bezeichnende Handlungsmuster manifestiert sich hier in zwei Formen: Zum einen die Flucht vor dem Vater und zum anderen die Zuflucht bei seinem Partner verschufen ihm eine gewisse Sicherheit und gewährleisteten den Weg zur Stabilisierung seiner psychischen Gesundheit, wobei er diese Erfahrungen auch noch zur Zeit des Interviews verarbeiten muss. Die Lebenssituation des Interviewpartners ist nach dem Coming-out durch die Angst vorm Vater dominiert und somit auch beeinträchtigt. Es kam zu Gedanken an eine Studienunterbrechung, zu Ess- und Schlafstörungen und tagtäglichen Auseinandersetzungen mit den Folgen des Coming-outs. Hier kann man von einer Zuspit-
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zung der Verlaufskurve reden, da Hamid damals durch die erfahrene gravierende Diskriminierung stark betroffen war: Ich hatte große Panikattacken, sehr groß, also durch Träume eben und auch Wachzustand habҲ ich, ähm, war ich völlig abwesend, dann Bilder im Kopf gehabt. (Zeile 760-762) Trotz dieser Schutzmaßnahmen befindet er sich immer wieder in einer Situation, in der er zu seinem Vater Kontakt aufnehmen muss, denn der Vater ist letztendlich gesetzlich verpflichtet, die Bafög-Anträge zu unterzeichnen. Damit Hamid weiter studieren kann und die Finanzierung seines Studiums gewährleistet wird, spricht er seinen Vater auf die Erfüllung bestimmter bürokratischer Pflichten an: Aus dem obigen Zitat wird der aktuelle Stand der Vater-Sohn-Beziehung deutlich. Es handelt sich um eine vage Vermutung seitens Hamids, dass sich die VaterSohn-Beziehung auf Initiative seines Vaters verändert hätte. Dass er seinen väterlichen Pflichten nachkommt und das Thema der Homosexualität seines Sohnes nicht wieder anspricht, bewertet er als genügend für die gegenwärtige Kontaktsituation. Die im obigen Zitat wieder erwähnten Ängste vor seinem Vater scheinen somit überwunden. Die Bewältigung dieser Ängste ermöglichten vielleicht die wiederholten Kontaktversuche des Vaters zu Hamid. Der Interviewpartner berichtet in seiner Erzählung, dass sein Vater immer wieder Anlässe oder Vorwände sucht, mit ihm erneut in Verbindung zu treten. Im Gegensatz zu seinem Vater ist Hamid bemüht, die gewonnene Distanz aufgrund der vergangenen Ereignisse weiter zu bewahren, denn er fühlt sich auch gegenwärtig verletzt und will sich seinem Vater nicht wieder nähern: „Aber mein Vater regt manchmal an, mit mir zu sprechen, irgendwie. Also er sieht das trotzdem noch als, also das ist meine Pflicht, mich immer noch bei ihm irgendwie zu melden […] Ich kann nicht genau, warum, ähm, was ich eigentlich mit ihm zu sprechen hätte, weil […] wir haben kein Gespräch wirklich, aber kürzlich, da habe ich BAföG-Antrag stellen müssen, und dann hat er, ähm, hab ތich ihm zugeschickt, und, ähm, er hat dann meine Mutter angerufen und dann gesagt, dass er BAföG-Antrag, ähm, er hätte den BAföG-Antrag weggeschmissen, irgendwie. Aber ich glaube, der hatތs absichtlich gemacht, damit ich ihn, ähm, nochmal anrufe und frage, was denn los ist, das habe ich dann gemacht, das fand ich, das hat mich sehr, sehr geärgert, dass er mich im Grunde zwingt, ihm nochmals zu kontaktieren.“ (Zeile 827-837)
Verhältnis zur Mutter Die Mutter stellt sich für den Interviewpartner als Gegenpol zum Vater dar. In seiner Erzählung werden die Elternteile explizit kontrastiert. Während der Vater negativ präsentiert wird, findet die Mutter in der Erzählung eine positive Darstellung. Aus der Analyse lässt sich erkennen, dass die Eltern die Erziehung Hamids je nach Aufgaben unter sich aufgeteilt hatten. Während sein Vater die religiöse Erzie-
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hung übernommen hatte, war seine Mutter für die Ernährung und Fürsorge verantwortlich. Die Beziehung zu seinem Vater beschränkte sich auf gemeinsame Moscheebesuche und religiöse Riten. Dagegen war die Mutter-Sohn-Beziehung stets intensiv, so dass Hamid auch derzeit eine starke emotionale Bindung zu seiner Mutter empfindet und dies auch artikuliert: Ich habҲ eigentlich sehr, sehr guten Draht zu meiner Mutter schon immer gehabt. Auch in ähnlichen Ansichten wie sie. Und mein Vater war von Anfang an, von, von klein, war ein bisschen schwierig. Also […] er hat die Einstellung, die Frau muss zu Hause bleiben mit dem Kind. (Zeile 472-475) Coming-out gegenüber der Mutter Hamid hatte während seiner Pubertät bezüglich seiner sexuellen Entwicklung mit starken inneren Konflikten zu kämpfen. Einerseits die religiös geprägte Sozialisation und andererseits die Homosexualität, die seiner patriarchalen heteronormativen Einordnung widersprachen, führten ihn in eine Krise, die als Identifikationsschwierigkeit bezeichnet werden kann. Die Frage nach seiner sexuellen Orientierung und die daraus entstandene Verdrängung der eigenen Homosexualität sowie die Konfrontation mit heteronormativen Zuschreibungen manifestierten sich in der Entwicklung des Interviewpartners als Ursachen für eine intensiv erlebte Krise. Auf diesem krisenhaften Höhepunkt befand er sich in einer ausweglosen Situation und entwickelte in Verbindung damit Suizidgedanken. Für ihn ging es um die Alternative, sich entweder für den Tod oder für das Weiterleben als Schwuler zu entscheiden. In dieser depressiven Phase ergriff er die Initiative, mit seiner Mutter über seine sexuelle Orientierung zu sprechen: „dass es an einem Abend zum Höhepunkt kam, der Gefühle, wo ich mir gesagt habe, also, ähm, ich muss mich entweder für das Leben entscheiden oder für den Tod. Weil so geht es nicht weiter. Das ist ތne schwierige Zeit für mich und da hab ތich wirklich, da meine Mutter sehr litt, und […] hab ތich gesagt, ich muss es, muss ich ihr sagen. Es gibt eine Möglichkeit, dass sie mich verstößt, aber ich könnte sie nicht ins Unglück stürzen, indem ich Selbstmord begehe oder so. Und dann bin eines Abends zu ihr gegangen, hab ތein bisschen erzählt, wasތs Problem ist.“ (Zeile 106-112)
Aus diesem Zitat geht hervor, dass Hamid möglicherweise eine Ablehnung seitens seiner Mutter hätte erhalten können. Dennoch deutet er an, dass seine Mutter statt eines toten Sohnes lieber einen schwulen Sohn hätte und ihn so akzeptieren würde, wie er ist. Die Offenbarung gegenüber seiner Mutter lag nicht nur an ihrer oben angedeuteten Einstellung als Mutter, sondern auch daran, dass Hamid in ihr eine schützende Vertrauensperson fand:
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„Und sie hatތs, äh, sie, locker genommen, aufgefasst und, ähm, mich inތn Arm genommen und mir Mut gemacht und mir versichert, dass es auch nicht schlimm sei, aber sie hat mir trotzdem gesagt, dass ichތs nicht meinem Vater erzählen sollte und das hab ތich auch einige Jahre da nicht, also wir wussten so beide und mir gingތs sehr viel besser.“ (Zeile 112-116)
Das gelungene Coming-out gegenüber seiner Mutter und ihre positive Reaktion wiesen einen biographischen Bruch auf, der zu einer psychischen Erleichterung Hamids beitrug. Von nun an konnte er den Identitätskonflikt abbauen und seine Schuldgefühle aufgrund der Homosexualität merklich reduzieren. Zudem lernte er, mit der heteronormativ bedingten sozialen Unterdrückung besser umzugehen. Dass die Mutter ihn zum einen umarmte und ermutigte und ihm zum anderen Sicherheit versprach, belegt das gegenseitige Vertrauen und eine innige Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Die Warnung der Mutter vor dem Vater verdeutlicht ihre schützende Rolle für Hamid. Damit partizipierte auch sie am Doppelleben ihres Sohnes, indem sie als Mitwisserin auftrat und die Homosexualität Hamids als Geheimnis für sich behielt. Sexuelle Entwicklung Die sexuelle Entwicklung des Erzählers wird parallel zur religiösen Erziehung dargestellt. Einerseits das Bemühen, dem islamisch geprägten Vater gerecht zu werden, und andererseits die auftauchenden Konflikte zwischen bewusst werdender Homosexualität und islamischer Prägung durch den Vater spielten eine destruktive Rolle für die Selbstakzeptanz. So stellt Hamid den Islam als Barriere für seine sexuelle Orientierung dar. In dieser Situation potenzierte sich eine Verlaufskurve, die durch die deprimierende Auseinandersetzung mit der Religion und der Sexualität gekennzeichnet ist. Um diesbezügliche Probleme lösen zu können, wandte sich Hamid mit indirekten Fragen an seinen Vater, der damals als männliches Vorbild für ihn galt. Aus den Diskussionen mit dem Vater über die Normierung der Sexualität konnte Hamid keine konstruktiven und logischen Schlussfolgerungen ziehen. Dennoch beschäftigte er sich weiterhin mit dem Thema Homosexualität und versuchte, seine sexuelle Orientierung festzustellen. In diesem Prozess befand er sich in einer unverkennbaren Zerrissenheit, die durch seine homosexuellen Gefühle und die heteronormative Sozialisation ausgelöst wurde. So begann er sich und seine Umgebung zu hinterfragen. Die Konfrontation mit den normativen Erwartungen durch seinen Vater und dessen Verwandte hatten zum inneren Konflikt geführt, der sich in Depressionen, Einsamkeitsgefühlen, schlechtem Gewissen und Selbstmordgedanken äußerte. Einerseits konnte er in diesem Prozess feststellen, dass er eindeutig homosexuell ist. Andererseits war er doch der Hoffnung, dass er sich vielleicht hätte verändern können. In dieser Situation war er aber allein, denn es gab in seinem sozialen Umfeld niemanden, der ihn über verschiedene sexuelle Orientierungen umfassend aufklären konnte:
352 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE „Als ich anfing, über mein Leben nachzudenken, was ich möchte […] das war auch ތn Konflikt für mich, der gegen meine muslimische Seite gearbeitet hat und auch gegen […] Beziehung zu meinem Vater und zu den Verwandten väterlicherseits. Und dann hab ތich festgestellt, dass ich […] keine Frau möchte und somit keine Kinder haben werde und hab ތgedacht, dass es aber alles noch, ähm, die wahrscheinlich viel religiös aufgewachsen sind, dass das, ähm, veränderbar ist, dass man das überwinden kann, ähm, dass man das, ähm, oder wie auch immer gesagt, austreiben kann […] Und hab ތselbst daran geglaubt und hab ތmich deshalb an niemanden gewandt.“ (Zeile 46-58)
Aufgrund der Konfrontation mit der religiösen Sozialisation entschied er, sich vom gesellschaftlichen Leben selbst auszugrenzen, um nicht auf ein gravierendes Problem zu stoßen. Die Selbstausgrenzung war dann auch ein Grund für einen langjährigen Leidensprozess, der auch noch zum Zeitpunkt des Interviews besteht: „Ich hab ތmich sehr unwohl gefühlt, sehr, sehr gelitten und (s.z.v.) leide heute noch da drunter, was ich aber denke, das, ähm, liegt an meiner tätigen Prägung, die, glaube ich, was sehr besonderes ist, was man, glaube ich, auch vielleicht ein lebenslang nie so wirklich rausgekommen, womit man immer zu kämpfen hat.“ (Zeile 60-62)
Coming-out Das Thema Coming-out wurde im Zusammenhang mit der Familie ausführlich behandelt. Daher geht es an dieser Stelle der Auswertung um eine Skizze des Comingouts Hamids. Wichtig ist hier, zu erwähnen, dass das Coming-out einen biographischen Bruch auslöste. In dieser Phase kommen zwei signifikante Personen, denen gegenüber er sich als Schwuler offenbarte, zum Ausdruck. Die Mutter und der Vater bilden hier zwei Gegenpole, die in der Erzählung als Pro und Kontra dargestellt werden. Die Reaktionen der Eltern auf das Coming-out waren dementsprechend einander entgegengesetzt. Während der Mutter eine vertrauensvolle, schützende Rolle zugeschrieben wird, wird der Vater dagegen als gefährlicher Mann dargestellt, dem Hamid nicht vertrauen kann. Aus der Textanalyse ergeben sich folgende Prozessstrukturen, die für Hamid von biographischer Bedeutung sind: •
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Das Coming-out gegenüber der Mutter kann als Wandlungsprozess bezeichnet werden, der zu einer Erleichterung und neuen Lebensperspektive für den Interviewpartner führte. Die Warnung der Mutter, dass er seine Homosexualität vor seinem Vater verschweigen sollte, bezieht sich nicht auf eine homophobe Haltung. Dies war nur für seine Sicherheit notwendig.
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Die Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Partner über das Doppelleben verursachte eine weitere Krise: Er musste sich entweder seinem Vater gegenüber öffnen oder seine Partnerschaft durch das Doppelleben gefährden. Die Entscheidung für das Coming-out gegenüber dem Vater erfolgte nach der Auseinandersetzung mit dem Partner. Hamid war einerseits bereit, mit seinem Vater offen zu reden. Andererseits hatte er nicht genau überlegt, wie er seinen Vater auf dieses Thema ansprechen sollte. Durch die Schwierigkeit des Coming-outs gegenüber dem Vater spitzte sich die Verlaufskurve zu: Der Vater als signifikant Anderer rief durch seine homofeindliche Einstellung eine psychische Belastung bei Hamid hervor. Dieses Comingout hatte einen anderen Wandlungsprozess zur Folge: Das durch die Unterstützung der Mutter gewonnene Selbstbewusstsein, die Lebensfreude und der Mut mussten neu gefunden werden. Hamid wurde nach seinem Coming-out gedemütigt, bedroht und traumatisiert. Die aus dem Coming-out resultierenden psychischen und sozialen Probleme versucht er durch eine Reihe von Strategien zu bewältigen. Der Kontaktabbruch zum Vater und sein Auszug waren erste Schritte für seine Emanzipation. Die darauffolgende Inanspruchnahme der Hilfe bei einer Beratungsstelle und die Psychotherapie sowie das Intensivieren der Beziehung zu der Familie des Partners, die er als Ersatzfamilie ansieht, sind weitere Bewältigungsstrategien gegen die homophobe Diskriminierung und die verbale Gewalt seines Vaters.
Partnerschaft Als Hamid sich aufgrund der Entwicklung seiner homosexuellen Orientierung in einer depressiven Phase befand, versuchte er, sich weiter über die homosexuellen Lebensweisen zu informieren und dabei auch weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Auf diesem Weg besuchte er gelegentlich eine Jugendgruppe, die aus jungen Schwulen bestand und ihnen eine Plattform zum Erfahrungsaustausch anbot. Die gelegentlichen Besuche dieser schwulen Jugendgruppe empfand Hamid als für seine homosexuelle Identität sehr förderlich, so dass er sich selbstsicherer fühlen und sich immer mehr als Schwuler behaupten konnte. Zu dieser Zeit war auch sein gegenwärtiger Partner Mitglied dieser Jugendgruppe. Nach mehreren sporadischen Treffen innerhalb der Gruppe lernte er seinen Partner kennen. Er blieb mit ihm in Kontakt, und im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus eine Beziehung: „Ich dann irgendwann den Frank kennen gelernt. Das war in ތner Jugendgruppe, das war eine Treffgruppe […] für junge Schwule und, ähm, hab ތda ab und zu meine Zeit verbracht. Ich wollte neue Leute kennenlernen, mit Leuten sprechen, Erfahrungen austauschen und hat diese Gruppe […] mir sehr geholfen bei diesen Spannungen, die ich innerlich hatte, weiter abzubauen. Durch mit Leuten sprechen, so zu sagen, es gibt Leute, die haben keinen Suizid begangen, die haben ތn tolles Leben, die haben ganz viele Freunde und den ތgeht es gut. Und das
354 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE hat mir ein Bild gezeigt, ähm, ja, da ich hab ތverstanden, dass es anders gehen kann, ja habތ dann irgendwann […] durch Zufall da noch Frank kennen gelernt und dann sind wir nach mehreren Monaten, ähm, Kontakt, sporadischen Treffen zusammen gekommen.“ (Zeile 129138)
Während der Beziehung potenzierte sich auch das Problem des Doppellebens des Interviewpartners, worauf im Folgenden näher eingegangen wird. Aufgrund der aggressiven und beängstigenden Reaktion des Vaters auf sein Coming-out fühlte er sich unwohl und gefährdet, weshalb er seine bisherige Einzimmerwohnung aufgeben und sich eine neue und sichere Wohnmöglichkeit weit weg von seinem Vater verschaffen musste. Infolge des negativ verlaufenen Coming-outs gegenüber Hamids Vater traf das Paar die Entscheidung, zusammen zu ziehen. Individuelle und soziale Differenzen Aufgrund seiner bikulturellen und binationalen Eltern wuchs Hamid gleichzeitig in einer interkulturellen Umgebung auf. Die bikulturelle Erziehung und Sozialisation hatten zur Folge, dass er sich bis zu seinem Coming-out gespalten fühlte. Die religiöse Prägung einerseits und andererseits der westliche und nicht-islamische Lebensraum stellten sich als Schwierigkeiten für Hamid dar, weshalb er jahrelang versuchte, sich sozio-kulturell zu verorten. Diese intensiven Auseinandersetzungen mit der kulturellen Zugehörigkeit und die Bemühung um die Internalisierung der von seinem Vater repräsentierten Religion hatten gleichfalls einen negativen Einfluss auf seine Sozialisation. Gerade in dieser Zeit der Konflikte ging er eine Beziehung mit seinem Partner, Frank, ein, der im Gegensatz zu ihm in einer mehrheitsdeutschen Familie aus ehemaliger DDR aufgewachsen ist. Das fehlende Wissen des Partners über Hamids Lebensumstände und Hamids Konfrontation mit den von ihm selbst genannten Schwierigkeiten bikultureller Sozialisation ergaben auch innerhalb der Partnerschaft Konflikte. Bezüglich der sexuellen Orientierung konnte Frank sowohl in seiner Familie als auch in seinem sozialen Umfeld eine gewisse Akzeptanz erfahren, obwohl die Familie anfänglich seine Homosexualität nicht akzeptieren konnte (siehe Fall 6). Während Hamid bezüglich seiner sexuellen Orientierung und kulturellen Zugehörigkeit divergierenden Reaktionen ausgesetzt war, konnte Frank ähnliche Probleme mit der Zeit überwinden. Die unterschiedliche Sozialisation und die damit übernommenen Verhaltensund Denkweisen der beiden Partner stellten sich am Anfang der Partnerschaft als Kommunikations- und Verständnishürden dar. Diese sozio-kulturell bedingten Differenzen waren zu Beginn der Beziehung oft Grund für Konflikte: Einige Zitate veranschaulichen die sozialen und individuellen Differenzen des Partners aus der Sicht des Erzählers:
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„Als ich Frank kennen gelernt habe, war er sehr unsensibel, hat paar, hat sehr böse Sachen mir gegenüber gesagt, die mich sehr verletzt haben. Das hab ތich ihm gesagt, dass er das nicht so ausdrücken kann […] Frank ist eigentlich sehr radikal, er [ist] in der sehr offenen und auch sehr linken Familie aufgewachsen. Also links sind sie eben, also sehr offen. Frank ist auch sehr radikal in manchen Ansichten. Also wenn er irgendwie ތތne Freiheitseinschränkung sieht, dann geht er irgendwie radikal vor“ (Zeile 539-545). „Er zum Beispiel […] hat in ތn Schulzeiten schon so ތn Freundeskreis gehabt, also […] die Mitschüler sozusagen aus seiner Klasse, zu denen hat er auch heutzutage Kontakt und bei den hat er sich damals geoutet und die haben das alle, ähm, sehr gut, locker, normal aufgefasst.“ (Zeile 642-645) „Aber ich bin froh, aus dieser Depression raus gekommen zu sein, das istތs Allerwichtigste […] Frank zum Beispiel hat eben ganz anderen Verlauf gehabt. Der hat mit so was nie zu tun gehabt, und irgendwann hatte er sich mal bei Freunden geoutet, und alle fanden das in Ordnung. Der […] kennt diese Vorprägung überhaupt nicht und deswegen ist er auch nicht so verschlossen wie ich.“ (Zeile 701-706)
Konflikte Im Hinblick auf die Beziehungskonflikte kann die Zeit vor und nach dem Comingout Hamids als Anhaltspunkte für eine positive Entwicklung genommen werden. Parallel zur Veränderung der Lebenssituation des Interviewpartners durch das Bekenntnis zur Homosexualität gegenüber seinem Vater durchlief auch das Paar grundsätzliche Wandlungen in der Beziehung. Angesichts der oben skizzinhaft geschilderten Differenzen befand sich das Paar anfangs oft in einem Konflikt. Als relativ offen lebender westlicher Schwuler konnte Frank für das Verbergen der Homosexualität bei Hamid kein Verständnis haben. Was für Frank selbstverständlich war, nämlich homosexuell zu sein und dies auszuleben, konnte Hamid seinem Vater nicht erklären. Da Hamid starke Ängste vor seinem Vater hatte, zog er ein Doppelleben vor, das in der Beziehung ernsthafte Probleme verursachte. In dieser Situation gerät Hamid zwischen die Stühle. Einerseits gibt es seinen Partner, der ihn aufforderte, zu seiner Homosexualität zu stehen und alles seinem Vater zu erzählen. Auf der anderen Seite stellte der Vater aufgrund seiner konservativen Einstellung gegen Homosexualität eine Gefahr für ihn dar. Die konfliktreichen Diskussionen mit seinem Partner und die innerlich erlebten Auseinandersetzungen brachten Hamid zu einer Entscheidung, sich entweder von seinem Partner zu trennen oder gegenüber seinem Vater zu öffnen. Um seinem Partner gerecht zu werden, ermunterte er sich selbst, schließlich mit seinem Vater über seine sexuelle Orientierung zu sprechen:
356 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE „Weil Frank da sehr unsensibel war in der Hinsicht und mich unter Druck gesetzt […] Auf jeden Fall habe ich, ähm, viele Diskussion geführt, und der hat mich als Heuchler beschimpft, was mir auch nochmal noch mehr Schuldgefühle aufgetan hat. Weil ich dachte, ich bin unehrlich meinem Vater gegenüber, aber ich kann auch wieder nicht ehrlich sein, weil das auch was Schlechtes ist. Also ich hatte, der Konflikt war riesig, und die Beziehung drohte eigentlich auseinander zu fallen. Weil mir wurde es zu viel, und ich wusste nicht, was ich machen sollte, dann hab ތich überlegt, dass ich Frank loswerden muss. Also ich kann diese Beziehung nicht fortführen […] Und, ja, ich muss weiter leben, und das Verstecken, wie vorher mit Frank, geht einfach nicht […] ja dann warތs eigentlich kurz davor […] und dann irgendwann kam so ތn Pünktchen in mich, wo ich mir dachte, dass der Punkt vielleicht gekommen ist […] wenn ich mein Leben leben werde, wer weiß, wie lange es noch ist, aber wenn es länger ist als mein bisheriges, dann möchte ich nicht diesen Leidensweg weiter gehen und ich muss ތn Bruch schaffen. Ich muss da irgendwie aufbrechen, hatte aber große Angst. Dann hab ތich Frank gesagt, das ist alles egal, ich werde es meinem Vater sagen, egal, was passiert.“ (Zeile 156-174)
Die aus den Streitigkeiten resultierenden Vorwürfe des Partners gegenüber Hamid bewertet er als verletzend, denn er hatte möglicherweise die Hoffnung, dass Frank sein Doppelleben versteht. Die Konsequenzen des Coming-outs hatten dann nicht nur alleine auf Hamids Leben einen großen negativen Einfluss, sondern auch Frank war davon betroffen. Nach diesem Ereignis war auch er ein Teil des Vater-Sohn-Konfliktes. Zum einen fühlte er sich für die Diskriminierungserlebnisse Hamids verantwortlich, zum anderen versuchte er, Hamid vor möglichen Angriffen und wieteren Diskriminierungen zu schützen, indem er Hamid bei sich zu Hause eine Zuflucht gab. Unterstützung Das Doppelleben von Hamid und die damit verbundenen Konflikte innerhalb der Partnerschaft führten zunächst dazu, dass der Interviewpartner sich gegenüber seinem Vater offenbaren musste. Die oben dargestellten Reaktionen des Vaters auf das Coming-out führten zu einer massiven psychischen Destabilisierung Hamids. Die Konsequenzen des Coming-outs, die Hamid tragen musste, waren so gravierend, dass Frank sich für diese Geschehnisse verantwortlich fühlte. Denn er hatte versucht, Hamid zum Coming-out zu ermuntern, ohne auf dessen familiären Hintergrund Rücksicht zu nehmen: Und er hat mich deswegen auch, auch dann beschuldigt, mit meiner, wegen meiner Unehrlichkeit. Aber mittlerweile, also er hat dann sehr schnell noch gemerkt, als ich auch sehr depressiv war […] dass es falsch ist. (Zeile 538-548) Anlässlich der depressiven Stimmung des Erzählers und dieser Ereignisse wurde sein Partner umsichtiger und unterstützte ihn von nun an sowohl moralisch als auch materiell.
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Durch die diskriminierende Haltung von Hamids Vater konnte sich Frank in die Situation Hamids hineinversetzen und sich mit seinen Problemen auseinandersetzen. In der Zeit, als Hamid aufgrund der Depressionen handlungsunfähig war und sich vom sozialen Leben ausschloss, setzte sich Frank mit den Bedürfnissen und Gefühlen Hamids intensiv auseinander. So konnte sich der Erzähler mithilfe seines Partners weiter stabilisieren und wieder an Stärke gewinnen: „Ich weiß, wie ich, auf welchen Stand ich jetzt wäre, wenn ich Frank nicht kennen gelernt hätte […] Ich glaube, ich wäre schlimmer, vielleicht fanatischer geworden, vielleicht auch noch depressiver, denke ich […] irgendwie, waren sehr interessante, ähm, Fügung für mich, Frank kennen zu lernen […] also das war genauso der richtige Zeitpunkt, der richtige Moment […] ich lag im Bett, ich war völlig fertig, ähm, konnte gar nichts mehr machen, konnte nicht mehr sprechen, hatte Schmerzen, Bauchschmerzen, und, ja, er hat mich sehr gut versorgt, und immer wenn ich Angst hatte, hab ތich mich ihm geöffnet und auch gesagt, ich habe Angst, auf die Straße zu gehen. Ich habe Angst, zu meiner Mutter zu gehen. Ich habe Angst, dass meiner Mutter was passiert. Und ich habތs ihm immer gesagt. Und, ähm, er hat nicht genervt reagiert oder er ist immer darauf eingegangen und hat mich immer beruhigt und gesagt, es wird nichts passieren.“ (Zeile 577ff. und 744ff.)
Nicht nur Frank war der Hilfebietende, sondern auch seine Familie, die Hamid im Nachhinein als Ersatzfamilie wahrnimmt. Die Unterstützung seines Partners bewertet Hamid auf eine sehr emotionale Art und betont im Interview seine Dankbarkeit für die Hilfe seines Partners. Zudem schildert er auch die Hilfsbereitschaft der Familie seines Partners, die ihn während der schwierigen Zeiten immer unterstützt und geschützt hat: „Also ich hab ތsozusagen […] wie ތne Familie noch dazu gewonnen. Also ich hab ތeine, eine Familie verloren, aber sofort eine [neue Familie] mit der ich ja, ähm, glücklicher bin […] da gibt’s die Leute, die bieten Schutz und nicht nur für diesen Moment, sondern auch, ähm, für die lange Zeit, das war, fand ich sehr, ähm, fand ich wirklich, wirklich, sehr gute Fügung.“ (Zeile 570-579)
Diskriminierung Die Diskriminierungserfahrungen des Interviewpartners beziehen sich überwiegend auf direkte und indirekte Homophobie in seinem mittelbaren und unmittelbaren Umfeld. In diesem Interview geht der Erzähler nicht auf rassistische Diskriminierungen ein. Die Intoleranz seines Partners bezüglich des Doppellebens Hamids kann dennoch im Zusammenhang mit hegemonialen Machtverhältnissen in einer Mehrheitsgesellschaft, die sich toleranter als andere Bevölkerungsgruppen sieht, verstanden werden.
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Homophobe Diskriminierung durch die Mitschüler_innen Parallel zu seiner sexuellen Entwicklung war Hamid schon in der Schul und Gymnasialzeit mit latenten homophoben Diskriminierungen konfrontiert. Er wurde durch die Mitschüler_innen als schwul beleidigt und von Klassenfreundschaften ausgeschlossen. Seiner Meinung nach waren alle gegen ihn. In der Schule und seiner Klasse spürte er Hass durch seine Mitschüler_innen. Diesen Hass seitens der Klasse kann er zwar nicht direkt auf deren homophobe Einstellung zurückführen, dennoch vermutet er, dass die Schüler_innen nicht mit der Anwesenheit eines Andersartigen zurecht gekommen wären. In dieser Situation waren auch die Lehrer_innen indirekt an der Homophobie beteiligt. Anstatt Hamid vor Ausschluss und Hass in der Schule zu schützen, waren sie diejenigen, die ihn beschuldigten und für die Diskriminierungen seitens der Schüler_innen verantwortlich machten. Die Erfahrungen in der Schule trugen dazu bei, dass Hamid einen Abwehrmechanismus entwickeln musste, indem er sich auch gegenwärtig von heteronormativ geprägten sozialen Strukturen ausgrenzt. So besteht heute sein Freundeskreis überwiegend aus schwulen Männern. Er begründet dies mit dem sozialen Ausschluss, den er erfahren hat, mit den Diskriminierungen und der verbalen und physischen Gewalt. So fühlt er sich in seinem schwulen Freundeskreis sicherer und glücklicher: „Aus Angst hab ތich Kontakt zu allen Leuten abgebrochen, bei den, ähm, ich mich nicht öffnen konnte oder mich nicht getraut habe, mich zu öffnen. Das ist sehr schade, weil ganz viele Freundschaften dadurch kaputt gegangen sind. Ich hatte sehr gute Freundschaften damals in der Schule noch, aus der Abi-Zeit, zu den hab ތich keinen Kontakt mehr, aus Angst. Weil eben dieses Thema kommen könnte […] deswegen habe ich eher Kontakt oft zu Gleichgesinnten gesucht […] ich hab ތtrotzdem heutzutage noch sehr viel Angst […] noch so was zu erleben.“ (Zeile 649-654)
Als Schutz vor weiteren Diskriminierungen bricht er den Kontakt zu einigen Freund_innen ab und ist sehr zurückhaltend beim Aufbau neuer Freundschaften. Die Suche nach Gleichgesinnten zielte darauf ab, sich neue Handlungs- bzw. Freiheitsräume zu schaffen, was ihm gelang. Er bewertet die ehemaligen Freundschaften zu Nicht-Homosexuellen negativ. Dennoch sehnt er sich möglicherweise auch zum Zeitpunkt des Interviews nach normalen Freundschaften, die nicht auf den einschränkenden sozialen Normen basieren. Die Erlebnisse in der Schule verhindern jedoch, dass er sich gegenüber anderen Menschen offen verhält und zu ihnen hemmungsfrei Kontakt aufbaut. Zum Schluss seiner Erzählung über erlebte homophobe Diskriminierungen drückt er deutlich aus, dass er recht früh auf heteronormative Gesellschaftsstrukturen und diesbezügliche Diskriminierungen gestoßen ist, die für ihn eine biographische Rolle spielen:
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„Also ich war auch nicht geoutet irgendwie, aber so was hört man auch ständig, ich bin auch damit sehr konfrontiert worden […] würde ich sagen, in der fünften, fünften Klasse schon eingeprägt worden. Als ich überhaupt das erste Mal mit Homosexualität konfrontiert war, nur schlechte Erfahrungen hab ތich gemacht.“ (Zeile 684-689)
Homophobe Diskriminierung durch den Vater (vgl. oben Coming-out) Des Weiteren erlebte er Homophobie in seiner Familie durch seinen Vater, der ihn mit diversen Drohungen einschüchtern bzw. ängstigen wollte. Die Zerrissenheit zwischen Heteronormativität und Homosexualität dominierte sein Leben, so dass er während seiner Pubertät unter starken depressiven Stimmungen leiden musste. Die Schuldgefühle, Suizidgedanken, das Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit bzw. Einsamkeit konnte er neben der Unterstützung seines Partners mit einer professionellen psychotherapeutischen Hilfe bisher einigermaßen bewältigen.
5.6 F ALL VI: F RANK 5.6.1 Kurzbiographie Ursprünglich kommt Frank aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Leipzig, die gegenwärtig ca. 13.000 Einwohner_innen hat. Frank beschreibt seinen Herkunftsort als dörflich geprägt. Aufgewachsen ist er in dieser Stadt. Von der Grundschule bis zum Gymnasium lebt er dort. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er ca. 25 Jahre alt. Er hat einen drei Jahre jüngeren Bruder. Seine Eltern leben bis jetzt gemeinsam dort. 2006 kam Frank zum Studium nach Berlin, wo er auch seinen gegenwärtigen Partner kennen gelernt hat. 5.6.2 Biographische Gesamtformung Dieses letzte Interview mit Frank, der in einer binationalen Partnerschaft mit Hamid (vgl. Fall 5, Kapitel 5.5) lebt, fungiert als Kontrastfolie. Das heißt, dieses Interview soll auf der einen Seite die Unterschiede des Umgangs mit Diskriminierung, Coming-out und dessen Folgen aufzeigen, und auf der anderen Seite gilt dieses Interview als Beleg dafür, dass auch in Deutschland die heteronormativen Strukturen noch nicht abgebaut sind und die einheimischen schwulen Männer mit diesen Strukturen konfrontiert sind. Sozialisation und sexuelle Entwicklung Frank wurde seine sexuelle Orientierung im Alter von zwölf, dreizehn Jahren bewusst. Zu der Zeit seiner Bewusstwerdung kannte er den Begriff der Homosexuali-
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tät nicht, denn dieser wurde und wird in einer dörflich geprägten kleinen Stadt durch das Schimpfwort schwul ersetzt. Aufgrund seiner Beobachtungen im damaligen Umfeld erfuhr er, Wie die Leute darüber reden, ähm, also ich meine, schwul ist ja ein Schimpfwort, und das ist alles schwul und guckҲ mal, der sieht schwul aus und, ähm, da habҲ ich schon gemerkt, also dass das auf jeden Fall nicht gut sein kann (Zeile15-17). Diese Beobachtungen führten dazu, dass Frank seine Homosexualität verbergen musste, indem er sie verdrängte bzw. ignorierte. Diese Verdrängungsstrategie des Interviewpartners entwickelte sich durch die Auseinandersetzung mit dem Thema der Homosexualität. Während dieses inneren Konfliktes war Frank der Hoffnung, dass seine sexuelle Orientierung sich eventuell hätte ändern können. Als er jedoch feststellen musste, dass seine sexuelle Orientierung sich nicht ändern lässt, entschied er sich, [es] zu überspielen, bzw. zu ignorieren (Zeile 30). Der Grund für die Ignoranz und Verdrängung seiner Homosexualität ist, dass in seinem sozialen Umfeld Wie oft halt, schwul als schreckliches und, ähm, bedrohlich aufgefasst wird, ähm, dann habҲ ich mich keinesfalls getraut, mit irgendjemandem drüber zu reden oder mir irgendwelche [Vorwürfe] zu machen. Ich dachte halt erst mal Verdrängung ist mal die beste Taktik. (Zeile 35-38) Aus seinen Aussagen ergibt sich, dass er bereits zu Beginn seiner homosexuellen Empfindungen mit heteronormativer sozialer Unterdrückung konfrontiert wurde, was zur Selbstausgrenzung geführt hat. Diese Selbstausgrenzung belegt er im Laufe des Gesprächs: hab aber auch gemerkt, ähm, weiterhin, das ist halt wirklich sehr schwierig, (s.z.v.) am besten, das darf niemand wissen, weil, ich möchte nicht, dass ich dann riesen Probleme kriege, und, und ich habҲ halt gedacht, zu wissen, dass alle anderen ganz schrecklich darauf reagieren würden. (Zeile 46-49) Aufgrund seines sozialen Umfeldes in der kleinen Stadt und der Registrierung homophober Einstellungen in diesem Umfeld entwickelte Frank pessimistische Gedanken, die von Angst vor lebenslanger Einsamkeit geprägt waren. Diese Situation zeigt, dass er sich damals in einer Verlaufskurve befand, die sich in Ausweglosigkeit bzw. in der Angst vor Stigmatisierung und daraus resultierender Einsamkeit manifestierte: „Weil mit ތnem Mann, wie gesagt, war verpönt, war unmöglich, hatte ich gedacht und, und mit Frauen wollte ich auch nichts, weil ich fandތs einfach, ja im Grunde genommen schon eklig (lacht), und na ja, hab ތich es halt dabei gelassen, also weder Freundin erfunden noch Freund […] ohne irgendwelche Liebe oder sexuellen Gefühle oder so, also ich hab ތsie unterdrückt bzw. nicht nach außen gezeigt.“ (Zeile 67-71)
So unterdrückte Frank seine Homosexualität bis zu seinem 18. Lebensjahr bis zur Entwicklung einer erneuten Lebenskrise. Bisher konnte er seine sexuellen und emotionalen Bedürfnisse kompensieren; dennoch stellte er sich die Fragen: wie soll es
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eigentlich weitergehen und […] lebenslang […] ohne irgendwelche Gefühle zu zeigen, ohne jemals irgend jemanden lieben zu dürfen. (Zeile 95f.) Diese Fragen, die sich als innere Konflikte offenbarten, ließen Frank beängstigende Gefühle sowie Angst vor Vereinsamung entwickeln, die er wahrscheinlich bis zum Ende seines Lebens hätte in Kauf nehmen müssen (vgl. Zeile 104). In seiner Erzählung scheint er sehr davon betroffen zu sein, dass er aufgrund seiner Homosexualität ausgegrenzt, verstoßen und als Ungeheuer angesehen worden wäre, weshalb er die Verdrängung als Lösungsstrategie entwickelt hatte. Es kam sogar zu Selbstmordgedanken aus Angst vor der Reaktion seines sozialen Umfeldes, falls er seine Homosexualität offenbart hätte (vgl. Zeile 114ff.). All diese Krisen zeigen eine für ihn ausweglose Lage, in der er sich im Grunde entscheiden musste, sich in der nahen Zukunft zu offenbaren. Coming-out Nach seinem Abitur leistete Frank in einer anderen kleinen Stadt in der Nähe von Leipzig seinen Zivildienst. Lange Zeit hatte er gehofft, dass sich seine sexuelle Orientierung ändert. Mit dem Ende seines Zivildienstes beschloss er dann, in der nächst größeren Stadt, Leipzig, eine Stadt mit über 500.000 Einwohner_innen, einen Mann kennen zu lernen. Frank war aber nach wie vor von seinen Ängsten beherrscht, und er hatte nur geringe Informationen zur Leipziger Schwulenszene, so dass er seinen Plan, einen Mann kennen zu lernen, nicht verwirklichen konnte. Ohne einen Versuch, seine Homosexualität auszuleben, begann Frank gleich nach dem Zivildienst an einer Berliner Hochschule zu studieren. Bis zum Beginn der Studienzeit hatte Frank keine Vorstellung von Berlin. Die guten Studienangebote der Berliner Hochschulen waren für ihn der alleinige Grund, sich für diese Stadt zu entscheiden. Ansonsten stellte sich Berlin für ihn als eine Metropole dar, in der man nicht wusste, ob man hier wirklich Kontakt zu Leuten findet und oder hier vereinsamt (Zeile 171). Mit Aufnahme seines Studiums wusste Frank auch nichts von der Existenz einer großen schwulen Szene in Berlin, weshalb er sich nicht vorstellen konnte, hier einen Mann kennen zu lernen: Ich hatte auch nicht daran gedacht, in Berlin, dass da Ҳne große Szene ist. Nichts davon gehört, wie gesagt, weder von Leipzig noch von Berlin und habҲ dann ganz normale Kontakte geknüpft in der Uni mit Kommilitonen. (Zeile 182-182) Erster Kontakt zu Schwulen in der Berliner Szene Mit den obigen Aussagen bringt Frank seine emotionale Lage zum Ausdruck. Demzufolge scheint er zu Beginn des Studiums die Hoffnung aufgegeben zu haben, seine Homosexualität ausleben zu können und knüpfte deshalb nur ganz normale Kontakte. Nach ein paar Monaten des Einlebens in Berlin kehrten alte innere Konflikte zurück, denn seine Bedürfnisse nach Zuwendung und Liebe sowie mann-männ-
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lichen sexuellen Beziehungen riefen weitere Lebenskrisen hervor. Aufgrund dieser belastenden emotionalen Lage, die er nicht mehr ertragen konnte, traf er die Entscheidung, sich auf die Suche nach Schwulen bzw. der schwulen Szene zu begeben (vgl. Zeile 185ff.). In diesem Moment verwandelt sich die Verlaufskurve der Einsamkeit in einen biographischen Wandlungsprozess, der einen Wendepunkt in der gesamten Biographie des Interviewpartners darstellt. Dieser ist durch eine endgültige Selbstoffenbarung, Überwindung der Angst vor Stigmatisierung und den daraus resultierenden Folgen gekennzeichnet. Frank informierte sich über einschlägige Jugendgruppen sowie Beratungsstellen für Schwule und versuchte herauszufinden, wo er in Berlin in schwule Diskotheken, Bars, Kneipen etc. gehen konnte. Trotz seiner erfolgreichen Selbstoffenbarung beschäftigte er sich immer wieder mit dem Thema der Eltern. Auch wenn sie in seinem Umfeld nicht mehr präsent waren, fühlte er sich ihnen, besonders aber seiner Mutter gegenüber schuldig und verpflichtet, eine Erklärung bezüglich seiner homosexuellen Disposition abzugeben, was sich für ihn als Blockade auf dem Weg zu einem offenen schwulen Leben darstellte. So geriet er wieder in einen inneren Konflikt bzw. fühlte sich gespalten. Einerseits wollte er sein starkes Bedürfnis nach gleichgeschlechtlicher Liebe und Begegnung, das er bisher unterdrücken musste, befriedigen, andererseits hatte er ein schlechtes Gewissen wegen der Verheimlichung seiner Homosexualität vor seinen Eltern (vgl. Zeile 189-223). Nach langer Überlegung, die mit Ängsten, Verzweiflung und Verunsicherung verbunden war, unternahm er den Versuch, in die schwule Szene zu gehen. Mit diesem ersten Schritt gelang es ihm, die bisher vorhandenen Befürchtungen zu überwinden. Dieser Schritt in die schwule Szene kann als ein weiterer Wandlungsprozess des Interviewpartners gelten. Dieser Wandlungsprozess, der sowohl ein intentionales Handlungsmuster als auch die Überwindung einer Verlaufskurve beinhaltet, eröffnete ihm ein offenes schwules Leben. Obwohl Frank in seinem ersten Schritt die Ängste aus seiner Vergangenheit überwinden konnte, hatte er zu Beginn seiner Ausflüge in die schwule Szene Bedenken, dorthin zu gehen. Einerseits hatte er immer noch Angst davor, auf dem Weg in die Szene von bekannten Heterosexuellen gesehen bzw. ertappt zu werden, und andererseits verstärkten seine fehlenden Erfahrungen und Informationen in und über die schwule Szene die innere Blockade, sich dorthin zu begeben. In seiner Erzählung berichtet Frank, dass er zwar bestimmte Klischees über Schwule durch die Massenmedien erfahren hatte, er sich aber nicht mit massenmedialen Darstellungen von Schwulen anfreunden konnte, so dass er während seines ersten Szenebesuches verunsichert und ängstlich war: „Ja, irgendwann […] hat vielleicht schon Monate gedauert oder so, hab ތdann doch den Entschluss gefasst, OK, ich gehe ein Mal hin [in die schwule Szene] kann, ähm, muss ja nur ein Mal sein, ich gehe ein Mal hin und, ähm, hatte irgendwie ganz große Angst […] hatt ތich schon Angst […] ich kannte auch ein paar Leute in Berlin, und ich dachte schon, ich bin auf dem Weg dahin oder so, ich könnte irgendjemanden sehen […] was sag ތich dann, oder, habe
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Angst, wenn gerade meine Mutter anruft, oder so, ich bin grad da, und ich mach ތdas Handy aus, vielleicht fragt sie nach, was ist denn los, oder, äh, dachte, OK, aber gut, dann lass ތich mir was einfallen, das ist nicht schlimm, für paar Stunden, und, ähm, aber generell hatte ich Angst, was erwartet mich da, weil ich hatt ތnie Homosexuelle kennen gelernt, jedenfalls nicht, dass ich es wüsste. Ich wusste nicht, dass man so viele auf der Strasse sehen könnte […] also gut, ich war auch nicht so lange in Berlin zu dem Zeitpunkt, ein halbes Jahr lang, vielleicht hätte ich ތn bisschen mit offenen Augen gehen müssen, aber ich wusste nicht, wie sehen sie aus oder was weiß ich (lacht) vielleicht war ich uninformiert in dieser Richtung. Fernsehen oder so, gut, ich meine, im Fernsehen hat man schon was erfahren, ähm, irgendwelche Schwule, hier über Schwule ein paar Klischees so, ähm, irgendwelche Männer, die irgendwie ganz groß (s.z.v.) rausgekommen sind, oder so, und da hab ތich mir sowieso gedacht, da hab ތich sowieso nicht so viel von diesen, ähm, von diesen […] sag ތich Mal, Regenbogenpresse, Regenbogenfernsehen, Boulevardpresse und, ähm, ja, bin ich dann doch hin gegangen. Mit viel Zittern […] ja, und hab ތmit den Leuten eigentlich gar nichts geredet, habތ eher drauf gewartet, dass sie mich ansprechen, da hab ތich mich dazu gesetzt und nur hallo gesagt oder so.“ (Zeile 217-239)
So kam Frank zum ersten Mal in seinem Leben in einer schwulen Organisation in Kontakt mit schwulen Männern, die sich hauptsächlich in der schwulen Szene bewegen und möglicherweise auch in der Metropole ein zumindest teilweise offenes Leben führen. Diese erste Erfahrung in der Szene ist für ihn von großer Bedeutung, denn er konnte sich zum ersten Mal erleichtert fühlen und seine bisherigen Ängste vollkommen bewältigen. Nach diesem Ereignis begann Frank, in bestimmten zeitlichen Abständen in diese Organisation zu gehen, um sich mit anderen Schwulen auszutauschen oder auch neue Menschen kennen zu lernen. Während seiner Szenebesuche beschäftigte er sich gedanklich wiederholt damit, wie er sich bei seiner Mutter und Familie als schwul offenbaren könnte, denn er kam sich verlogen vor und wollte sein Leben nicht auf diese Weise führen. So beschloss er, sich bei der nächsten Gelegenheit seiner Mutter gegenüber als schwul zu offenbaren. Coming-out Die Zeit vor dem Coming-out bezeichnet er wegen der Verheimlichung seiner Homosexualität als Leben im Untergrund. Ein dauerhaftes Doppelleben konnte er sich nicht vorstellen, denn so irgendwie fühle ich mich so verlogen (lacht) und, äh, so kann ich nicht leben, so im Untergrund […] und so, irgendwann wirdҲs halt schwierig gegenüber anderen Leuten, das anderen zu verheimlichen. (Zeile 258259) Das Doppelleben war Anfangs mit psychischen Belastungen verbunden, so dass Frank ein starkes Bedürfnis hatte,
364 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE „dass ich mich jemandem offenbaren würde, irgendwelches Gefühl, für mich persönlich, so geht es nicht, kann nicht so im Untergrund leben und […] ja, eigentlich, nach einem Monat ungefähr, ähm, war ich mal zu Hause, meine Eltern wieder zu besuchen, ich war zu dem Zeitpunkt oft bei meinen Eltern […] nicht nur bei meinen Eltern, auch bei Freunden, Bekannten […] und dann dachte ich, OK, ähm, ich hatte schon immer so ތn bisschen im Hinterkopf gehabt, ja, OK, ich müsste es meiner Mutter erzählen.“ (Zeile 262-269)
Diese Entscheidung, sich seiner Mutter zu offenbaren, ist durch ein intentionales biographisches Handlungsmuster gekennzeichnet. Dennoch konnte sich Frank die Konsequenzen seines Coming-outs nicht vorstellen sowie die Reaktionen seiner Mutter auf die Offenbarung seiner Homosexualität nicht einschätzen. Aufgrund dieser Unklarheiten bereitete er sich auf die negativsten Folgen vor. So rechnete er im schlimmsten Fall mit dem Kontaktabbruch zu seiner Familie. Dabei zeigt Frank ein biographisch relevantes Handlungsmuster, das möglicherweise zu einer grundlegenden Veränderung seines zukünftigen Lebens hätte führen können: „Und dachte ich wiederum, OK, dann musste ich halt die Wahl treffen, ich meine, wenn ich ތs erzähle, sie hasst mich, OK, dann (...) ist ja sie für mich gestorben, dann ist halt mein früheres Leben, was ich zu Hause hatte, wo ich geboren bin, dann ist alles gestorben, dann bleibe ich in Berlin, (lacht), und ich darf mit niemanden zu tun haben.“ (Zeile 272-275)
Franks mentale Auseinandersetzung mit dieser Frage der Offenbarung und mit deren möglichen Konsequenzen brachte ihn schließlich dazu, mit seiner Mutter offen über seine Homosexualität zu sprechen, um ein ehrliches Leben zu führen, auch wenn die Mutter-Sohn-Beziehung hätte zerstört werden können. So kam er mit seiner Mutter in einem Restaurant ins Gespräch, um sich als Schwuler zu outen. In der Unterhaltung mit seiner Mutter kündigte er ihr an, dass es um ein schlimmes Thema geht, das er selbst nicht ansprechen kann, und dass sie von alleine herausfinden müsste, was Frank ihr erzählen wollte. Durch diese Herausforderung gegenüber seiner Mutter gewann er während des Gespräches etwas Zeit, sein Eingeständnis zu formulieren, und zugleich hoffte er, dass seine Mutter von alleine seine Homosexualität vermuten würde. Trotz eines relativ langen Gesprächs kam sie nicht auf die Idee, dass er schwul ist. So offenbarte er sich im Endeffekt als Schwuler gegenüber seiner Mutter: „Ich muss jetzt ganz dringend was erzählen, was ganz schlimmes […] aber ich weiß es nicht, ich kannތs dir irgendwie nicht sagen. Also ich hab ތes dann nicht über die Lippen gebracht. Und dann hab ތich halt gemeint, ތOK! dann, vielleicht kannst du erst mal raten, was es sein konnte, vielleicht ahnst du es ja schon‘. Weil es würde sich einfacher machen, weil ich es einfach nicht aussprechen kann. Und ja, jetzt ist ja sie auf die Idee gekommen wie: Äh, ja, ich bin schlimm krank, ich hab ތKrebs oder irgendetwas (..), also es waren einige skurrile Dinge.
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So zwei, drei Dinge […] Hab ތmal, nein, gesagt, nein, das ist es auch nicht und das auch nicht. Und dann kommt irgendwann […] wie hat sie es gemeint, ich erwarte irgendein Kind mit jemandem […] Und dann meinte ich, Nee, auch nicht. ތAlso, hast du zu mindestens ތne Freundin‘, meinte sie dann. Ich meinte: Nee, auch nicht. Und ich dachte, OK, sie kommt nie drauf. Dann hab ތich gesagt: ja eigentlich ist es genau das Gegenteil.“ (Zeile 303-319)
Diskriminierung Die Offenbarung der Homosexualität löste bei Franks Mutter eine Schockreaktion aus, die mit Wut, Enttäuschung und Traurigkeit verbunden war. Frank schildert das wie folgt: Im ersten Moment war sie sehr fertig […] also sie hatte wirklich angefangen zu weinen. Und, ähm, hat eine Weile gar nichts mehr gesagt. Ähm, ja, sie hat mir nichts mehr gesagt. Sie war noch vollkommen so baff, hat angefangen zu weinen. Und, ähm, ja, ich war auch vollkommen fertig. Und […] ich glaube, wir haben uns einigermaßen eher angeschwiegen, und erst mal nichts mehr gesagt. Ja, und nach ein paar Minuten hat sie erst mal gemeint […] sie hatte schon mal soތn, so ތne Vermutung gehabt, früher […] Dann meinte sie, aber so, wer weiß schon, naja, also gut, ist ja nicht so schlimm. Ähm, aber ich hätte mir so gerne die Enkelkinder von dir gewünscht. Und, ja, ich hab ތauf jeden Fall gemerkt, in dem Moment war sie schon ziemlich fertig […] dann hat sie aber selber gemeint: Ähm, hast du es schon irgendjemandem erzählt? Hab ތich gesagt: Nee. Und dann hat sie gemeint: Und dann erzähle es auch nie jemandem. Soll niemand wissen. Und: Es ist am besten, du erzählst es niemandem. Und, dann hab ތich gemeint: Naja, meinem Vater müsste ichތs schon irgendwie sagen, oder könntest du das für mich dann machen? Hat sie gemeint: Ja, OK, sie sagt, sie sagtތs ihm.“ (Zeile 319-344)
Mit der oben geschilderten Reaktion der Mutter erfuhr Frank zum ersten Mal Diskriminierung aufgrund seiner sexuellen Orientierung. Aus den Handlungen der Mutter kristallisieren sich verschiedene Formen der Diskriminierung heraus: • •
• •
Mit ihrem Schweigen drückt sie möglicherweise aus, dass es sich für sie um ein Tabuthema handelt. Dieses Schweigen kann aber auch so gedeutet werden, dass sie so erschüttert ist, weil sie etwas tatsächlich Schlimmes erfahren hat. Sie kann keine Worte finden, nichts, was sie zur Homosexualität ihres Sohnes sagen kann. Die Offenbarung ihres Sohnes nimmt sie möglicherweise als Schicksalsschlag wahr. Ihre Enttäuschung über Frank bringt sie mit ihren Tränen zum Ausdruck. Sie ist so traurig, dass Frank schwul ist, dass sie ihre Tränen nicht zurückhalten kann. Ihre Aufforderung, dass Frank sich bei niemandem offenbaren darf, kann auf folgende Weise gedeutet werden: Zum einen kann sie, als Frau im öffentlichen Verwaltungsdienst, die Stigmatisierung ihrer Familie in der Kleinstadt befürch-
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ten. Zum anderen kann für sie die Homosexualität ihres Sohnes ein Grund für Scham sein. All diese geschilderten Reaktionen der Mutter können als Beleg für die Diskriminierungserfahrungen des Interviewpartners gelten. Wenn sie im Gespräch eine besondere Erwähnung finden, dann haben sie beim Interviewpartner einen Eindruck hinterlassen, denn er ist auch zum Zeitpunkt des Interviews noch davon beeinflusst. Trotz dieser als negativ zu bezeichnenden Interaktion zwischen Frank und seiner Mutter kann man dem gesamten Interview entnehmen, dass sein Coming-out gegenüber seiner Mutter und im Nachhinein gegenüber seinem Vater und Bruder erfolgreich war. Die im ersten Moment ablehnende Mutter konnte Frank im Laufe der Zeit unterstützen. So teilte sie ihrem Mann mit, dass Frank schwul ist. Weder der Bruder noch der Vater zeigten negative Reaktionen auf die Homosexualität Franks. Durch diese Erfahrungen fühlte sich Frank ermutigt, sich nach und nach bei seinen besten Freund_innen, mit denen er zusammen aufgewachsen und in die Schule gegangen war, als Schwuler zu offenbaren (vgl. Zeile 206-427). Aus dem gesamten Interview geht nicht hervor, ob Frank weitere Erfahrungen mit Diskriminierung aufgrund der Homosexualität gemacht hat. Dennoch sind seine Aussagen zu Beginn des Interviews sehr bezeichnend für die homophobe bzw. schwulenfeindliche Einstellung der Gesellschaft. Frank war mit diesen schwulenfeindlichen Einstellungen schon immer konfrontiert, weshalb er jahrelang gegen sich selbst kämpfen bzw. sich selbst verleugnen musste. Im Zusammenhang mit seinen Diskriminierungserfahrungen berichtet er auch von Diskriminierungserlebnissen seines Partners, für den sein Coming-out erhebliche Konsequenzen mit sich brachte (vgl. Fall 5: Hamid). Partnerschaft Frank hat seinen Partner, Hamid, in der Jugendgruppe einer Organisation kennen gelernt (vgl. Fall 5 – Hamid). Als er zu Beginn seiner Selbstoffenbarung gelegentlich diese Organisation, die auch für junge schwule Männer eine Austauschplattform ist, besuchte, begegnete er dort seinem gegenwärtigen Partner. Das Kennenlernen seines Partners datiert er auf den Juli 2007, also vier Monate nach seinem Coming-out gegenüber seiner Familie (vgl. Zeile 584). Die Phase des Kennenlernens mit seinem Partner findet im Interview eine ausführliche Darstellung. Aus dieser Erzählung Franks geht hervor, dass Frank und Hamid sich innerhalb kurzer Zeit für eine Liebesbeziehung entschieden haben. Die Gründe für diese schnelle gemeinsame Entscheidung zählt Frank ausführlich auf: • •
Für beide ist es Liebe auf den ersten Blick; Zunächst gemeinsam unternommene Spaziergänge und sporadische Szenebesuche förderten die Annäherung beider Partner;
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Ferner haben sie gemeinsame Interessen entdeckt, wie beispielsweise die Begeisterung für Frankreich und die französische Sprache (vgl. 584-654).
Vorstellung des Partners bei der Familie und bei Freund_innen Mit seiner gelungenen Offenbarung bei seiner Familie und seinen Freund_innen verstärkte sich das Selbstbewusstsein Franks. Sein Umgang mit der Homosexualität hatte sich grundlegend verbessert, und er musste sich innerhalb der Familie und seines Freundeskreises nicht mehr verstecken. So konnte er ihnen auch Hamid als seinen Partner vorstellen, ausgenommen seiner Großmutter (69 Jahre alt) und seiner Urgroßmutter (94 Jahre alt), denn er fürchtete, bei diesen beiden Familienangehörigen auf negative Reaktionen zu stoßen. Seine Großmutter und Urgroßmutter konnten die schwule Partnerschaft Franks nicht verstehen bzw. nicht akzeptieren. Dies führt er auf deren Generationszugehörigkeit zurück. Betrachtet man die Geschichte der homosexuellen Emanzipationsbewegung in Deutschland (vgl. Abschnitt 3), so kann man schlussfolgern, dass die Urgroßmutter aus einer Zeit stammt, in der Homosexualität unter schwere Strafe gestellt war. So ist anzunehmen, dass die Urgroßmutter aufgrund ihres Alters die neueren Entwicklungen nicht verfolgen konnte, so dass sie möglicherweise nicht in der Lage ist, einen offen lebenden Schwulen oder ein offen auftretendes schwules Paar zu verstehen bzw. zu akzeptieren: „Aber ich habތs meiner Oma noch nicht erzählt. Weil ich schon dachte, also gut, in der Generation, also in jüngeren Generationen magތs kein Problem sein, aber ich hatte das Gefühl, bei meiner Oma ist es auf jeden Fall, und ich hab ތauch noch ތne Uroma, die ist schon, also meine Oma ist halt, ähm, 69. Meine Uroma, die ist auch schon 94 Jahre alt. Und bei den ތdachte ich, naja, also da war ich mir nicht sicher, die können das bestimmt nicht so einfach hinnehmen. Die sind auch ganz anders eingestellt.“ (Zeile 659-664)
Auch wenn Frank sich zu Beginn seines Coming-outs gegenüber der Familie, jedoch nicht bei seiner Großmutter und Urgroßmutter, offenbaren konnte, entschloss er sich im Laufe der Zeit, sich zumindest bei der Großmutter als Schwuler zu outen. In Folge dieser Offenbarung musste er aber wieder mit einer negativen Reaktion seitens seiner Großmutter rechnen. So reagierte sie auf die Offenbarung Franks, als wäre die Homosexualität etwas Furchtbares und Inakzeptables: Bis dann, irgendwann mal nach dem halben Jahr habҲ ich es auch meiner Oma erzählt, die natürlich auch noch komplett fertig war und die dann doch wusste, was es bedeutet, aber die hat auch gemeint, das ist ja schrecklich. (Zeile 774-776)
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Zusammenwohnen und Komplikationen Auf die Frage nach einer gemeinsamen Wohnung antwortet Frank mit einer recht ausführlichen Hintergrundkonstruktion, die genau beschreibt, wie es dazu kam. Innerhalb der ersten vier Monate etablierte sich die Partnerschaft, und es entfaltete sich eine feste Beziehung. Mit der Verfestigung der Partnerschaft hatte sich das Paar fast täglich gegenseitig besucht. Dies bedeutete für Frank, dass er und sein Partner jeden Tag von der einen Wohnung zur anderen fuhren und dadurch viel Zeit verloren ging. Die zu erreichende Zeitersparnis war also ein Grund für die Ambitionen, zusammen zu ziehen. Zu dieser Zeit ergab es sich auch, dass Hamid ohnehin in eine neue Wohnung, die er von seinem Vater übernehmen sollte, hätte einziehen können. Um den Aufwand dieses Umzuges zu vermeiden, schlug Frank seinem Partner immer wieder vor, stattdessen in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Hamid lehnte diesen Vorschlag Franks ab und kam dem Wunsch seines Vaters, die Wohnung zu übernehmen, nach. Grundlage für diese Entscheidung Hamids waren damals große Ängste seinem Vater gegenüber. Er zog dann alleine in die Wohnung seines Vaters ein, nach dem dieser mit seiner neuen Frau in eine größere Wohnung gezogen war. Für dieses Vorgehen seines Partners hatte Frank Verständnis, und er nahm es hin. Dennoch konnte er das Vater-Sohn-Verhältnis seines Partners nicht begreifen. Hamid hatte große Ängste vor seinem Vater, der nach seiner Angabe schwulenfeindlich eingestellt ist (vgl. Abschnitt 5.5.). Aufgrund dieser Ängste bevorzugte Hamid ein Doppelleben, das aus der Sicht Franks nicht akzeptabel war. In diesem Punkt bestand Frank darauf, dass Hamid sich gegenüber seinem Vater als Schwuler offenbaren musste. Nach einer langen und krisenhaften Auseinandersetzung innerhalb der Partnerschaft fühlte sich Hamid möglicherweise gezwungen, mit seinem Vater endlich über seine Homosexualität zu reden. Hamid offenbarte sich dann seinem Vater gegenüber, was aber gravierende Konsequenzen nach sich zog und die psychische Lage Hamids grundsätzlich destabilisierte (vgl. Abschnitt 5.5). Nach diesem Vorfall fühlte sich Hamid von seinem Vater bedroht, und deshalb beschloss er, in die Wohnung Franks zu ziehen (vgl. Zeile 712-906). Komplikationen in der Partnerschaft Die schwulenfeindliche Einstellung von Hamids Vaters beeinträchtigte die partnerschaftliche Beziehung zu Frank. Denn Hamid musste aufgrund seiner Ängste ein Doppelleben führen. Von diesem Doppelleben war jedoch auch Frank stark betroffen. Wenn zum Beispiel Hamids Vater in der Wohnung anwesend war, durfte er seinen Partner nicht besuchen, oder wenn das Liebespaar zusammen war und Hamids Vater unangekündigt zu Besuch kam, musste Frank möglichst schnell verschwinden. So war er auch in das Doppelleben seines Partners involviert. In diesen Situationen fühlte sich Frank vor allem gestört und durch seinen Partner vernachläs-
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sigt, weswegen er Hamid dann aufforderte, sich zwischen Partnerschaft und VaterSohn-Beziehung zu entscheiden. So geriet die Partnerschaft wegen des Vaters in eine Krise, die schwer zu überwinden war und destruktive Folgen für die Beziehung mit sich brachte. Die Aufforderung, eine Wahl zu treffen, veranlasste Hamid, sich im Endeffekt als Schwuler zu outen. Infolge der Offenbarung Hamids erleidet das Paar die bedrohliche und aggressive Reaktion des Vaters. Auch wenn Hamid diese Reaktion seines Vaters auf dessen muslimische Zugehörigkeit bezieht, kann diese These in dieser Studie nicht belegt werden. Denn der Vater mag Moslem sein, dennoch kann man seine aggressiven Handlungen nicht auf den Islam zurückführen. Aus dem Gespräch mit Hamid ging hervor, dass sein Vater unter Alkoholismus und Spielsucht leidet, was die Vermutung nahe legt, dass er aufgrund individueller Probleme zur Aggressivität neigt und dadurch seine zwischenmenschlichen Beziehungen belastet. Nach diesem Hinweis auf die soziale und persönliche Situation des Vaters von Hamid ist an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass Frank sich für die Ereignisse innerhalb der Vater-SohnBeziehung seines Partners verantwortlich fühlt. So versucht er nach dem Vorfall, bei seinem Partner zu sein und ihn zu unterstützen.
6. Vergleiche minimaler und maximaler Kontraste
Angelehnt an die bisher durchgeführten Falldarstellungen und Auswertungen werden die ausgewählten Interviews nach dem Prinzip der minimalen und maximalen Kontrastierung miteinander verglichen. Aus der gesamten Auswertung ergaben sich drei unterschiedliche Typen bzw. Gruppen. Im ersten Schritt der weiteren Analyse werden ähnliche Fälle miteinander verglichen und Typen gebildet. Dieser Schritt der Analyse erfolgt nach dem Kriterium der minimalen Kontrastanalyse. Der zweite Schritt dieser Analyse, die maximale Kontrastanalyse, hat das Ziel, Unterschiede der bisher konstatierten Typen herauszuarbeiten. Somit werden verschiedene Antwortmöglichkeiten auf die Fragen der vorliegenden Studie gefunden. Die folgende Tabelle dient als Überblick über herausgefundene Typiken und Typen. Auf der horizontalen Ebene sind grundsätzliche Kontraste der Typiken dargestellt. Die vertikale Ebene behandelt die Ähnlichkeiten der Typen einer Typik. Nach dem Vergleich des minimalen Kontrastes gehe ich im Folgenden auf den nächsten abschließenden Analyseschritt, (horizontaler) Vergleich, des maximalen Kontrastes der Interviews ein.
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Tabelle 1: Typenbildung durch die minimale und maximale Kontrastanalyse Horizontal: MaxiTyp A: Arda und Ali maler Vergleich kommen aus der Vertikal: Minimaler Türkei Vergleich
Typ B: Can und Hamid stammen von binationaler Eltern
Typ C: Kai und Frank sind Deutscher Herkunft
Vergleichsebene I: soziale Herkunft Klassismen
Bedrohung sozialer Abstieg durch Nicht-Anerkennung der im Herkunftsland erworbenen Qualifikationen
Ungleiche Verteilung der materiellen und immateriellen Ressourcen
Bessere Aufstiegsmöglichkeiten im Vergleich zu Typ A und B
Vergleichsebene II: Ungleiche VerteiBiologistischer Ras- lung der materiellen sismus und immateriellen Ressourcen, rassistische Diskriminierung
Rassistischer Vorwurf der mangelnden Integrationsbereitschaft
Konfrontation mit Rassismuserfahrungen des Partners
Vergleichsebene III: Kulturalistischer Rassismus, Islamophobie
Vermischung des kulturalistischen und biologistischen Rassismus,
Orientalisierung, kulturalistische Zuschreibungen
Konfrontation mit Erfahrungen des Partners mit antimuslimischem Rassismus und Islamophobie
Vergleichsebene IV: Staatsangehörigkeit, Institutioneller Rassismus
Ungleiche Verteilung der materiellen und immateriellen Ressourcen, bürokratische Komplikationen durch institutionellen Rassismus. Nachteile der NichtEU Staatsangehörigkeit
Keine besonderen eigenen negativen Erfahrungen aufgrund deutscher Staatsangehörigkeit
Konfrontation mit institutionellem Rassismus des Partners aufgrund der Nicht-EUStaatsangehörigkeit
Vergleichsebene V: Sexuelle Orientierung Heteronormativismus
Erfahrungen mit institutioneller und struktureller Homophobie
Individuelle und partnerschaftliche Erfahrungen mit struktureller Homophobie
Individuelle und partnerschaftliche Erfahrungen mit struktureller Homophobie
Fazit: Intersektionelle/ Mehrfachdiskriminierung
Mehrfachdiskriminierung: Klassismus, Islamophobie Rassismus und Heternormativität
Mehrfachdiskriminierung: Klassismus, Islamophobie Rassismus und Heternormativität
Erfahrungen mit Homophobie und Merhfachdiskriminierungen des Partners.
V ERGLEICHE MINIMALER UND
MAXIMALER
K ONTRASTE
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6.1 M INIMALE K ONTRASTANALYSE Aus der minimalen Kontrastanalyse haben sich drei unterschiedliche Typen bzw. Gruppen gebildet. Zur ersten Gruppe gehören die schwulen Männer aus der Türkei, die dort aufgewachsen sind. Die zweite Gruppe besteht aus den schwulen Männern, die aus einer binationalen/bikulturellen Familie stammen. Die letzte Gruppe umfasst deutsche schwule Männer. Alle Interviewpartner leben in einer binationalen Partnerschaft. In diesem Schritt der Auswertung geht es darum, Ähnlichkeiten der Interviewpartner bezüglich ihrer Erfahrungen mit Diskriminierung, Fremdheit und Partnerschaft herauszuarbeiten. 6.1.1 Typ A: Türkeistämmig: Arda und Ali Verlaufskurvenpotentiale in der Türkei Heteronormative Gesellschaftsstrukturen und die darauf basierenden normativen sozialen Verhältnisse sind die Hauptgründe für eine Diskriminierung von Homosexuellen, die nicht mit den Normen der Mehrheitsgesellschaft übereinstimmen. So wie Arda befand sich auch Ali in einer Verlaufskurve der Selbstausgrenzung, aber auch des Ausschlusses durch dominante heteronormative Gruppen wie Peer-Gruppen, Mitschüler_innen und andere soziale Umgebungen. So wurde Arda stets von seinen Freund_innen verlassen, wenn sie merkten, dass er als ein junger Mann nicht ihren Wünschen nachkommen konnte (siehe Fall I, Segment 2). Alis Situation stellte in seiner Jugendzeit keinen Gegensatz zu Arda dar. Zu dieser Zeit fühlte er sich einsam und musste sich ständig tarnen, um nicht als Schwuler erkannt zu werden und sich so vor möglichen homophoben Diskriminierungen zu schützen. Beide Interviewpartner sind während ihres Aufenthaltes in der Türkei von etlichen homophoben Diskriminierungen betroffen gewesen, die für sie eine existenzielle Bedrohung darstellten. Das Beamtenrecht wurde Arda entzogen, denn ihm wurde aufgrund seiner Homosexualität eine psychosexuelle Störung attestiert. Diese Titulierung Ardas hatte auch negative Auswirkungen auf seine Bewerbungen auf dem privaten Arbeitsmarkt. So wurden seine Bewerbungen für Arbeitsstellen ständig abgelehnt, die Existenzgrundlage wurde ihm dadurch entzogen. Er befand sich damals in einer Verlaufskurve der Existenzbedrohung aufgrund seiner Homosexualität. So wie Arda existenziell bedroht war, lebte auch Ali in einer unsicheren Arbeitssituation. Das Coming-out und die daraus entstandene Kündigung Alis bewirkten, dass er unterqualifizierte und schlecht bezahlte Jobs annehmen musste. Ali geht zwar nicht auf die Details seiner Kündigung ein, nennt jedoch das Coming-out und damit auch seine Homosexualität als Grund für die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses.
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Wandlungsprozesse bzw. biographische Brüche Die Anerkennung und ein positiver Umgang mit der eigenen Homosexualität stellten für beide Interviewpartner einen Wandlungsprozess dar. Dieser Bruch leistete einen Beitrag zur psychischen Entlastung und zur Beendigung der möglichen Selbstdiskriminierung beider Interviewpartner. Trotz der sozialen Repressionen konnten beide Interviewpartner nach ihrem Coming-out einen Zugang zu homosexuellen Lebensweisen finden. So konnten sie beispielsweise homosexuelle Beziehungen aufbauen, auch wenn sie diese versteckt ausleben mussten. Infolge der steigenden und zunehmenden homophoben Repressionen in mehreren Lebensbereichen war ein normales Leben als Schwuler in der Türkei unerträglich, weshalb beide Interviewpartner darum bemüht waren, nach Europa auszuwandern. Nach mehreren gescheiterten Versuchen gelang es ihnen, durch das Gesetz der eingetragenen Lebenspartnerschaft einen Aufenthaltstitel in Deutschland zu bekommen. Diese Tatsache verweist auf die Aufenthaltszeit der Interviewpartner. Vor dem Gesetz der eingetragenen Lebenspartnerschaft, das am 1. August 2001 verabschiedet wurde, hatten Homosexuelle nicht das Recht, ihren ausländischen Partner nach Deutschland zu holen. Hier ist ein vielgestaltiger Wandlungsprozess aufzuzeigen, wie zum Beispiel das Verlassen des Herkunftsortes, die binationale Partnerschaft, das neue Land. Verlaufskurvenpotentiale in Deutschland Arda kam 2002 mit einem Visum zum Zweck eines Studiums nach Deutschland. Weil seine Aufenthaltserlaubnis abgelaufen und es ihm aus ausländerrechtlichen Gründen nicht möglich war, weiterhin in Deutschland zu leben, war er auf der Suche nach einem Partner, den er lieben, durch den er aber auch eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland erhalten könnte. Seinen gegenwärtigen Partner lernte er in diesem Prozess durch Freund_innen in einer Berliner Disco kennen. Die eingetragene Lebenspartnerschaft Ardas wurde zunächst gegründet, damit Arda nicht in die Türkei zurückkehren musste und ein Leben in Deutschland weiter führen konnte. Die Einwanderung Alis nach Deutschland basiert auf ähnlichen Umständen. Das Motiv für seine Migration entsteht durch das Unbehagen in der Gesellschaft. Der einzige Unterschied zu Arda besteht darin, dass Ali seinen Partner auf einer Homepage kennen gelernt hatte. Die erste Begegnung fand in der Türkei statt. Nach einer neunmonatigen Fernbeziehung schloss er mit seinem Partner eine eingetragene Lebenspartnerschaft, um mit ihm in Deutschland leben zu können. Anfang 2007 konnte er durch LPartG nach Deutschland kommen. Die mit der Einwanderung zusammenhängenden Hoffnungen und Erwartungen der beiden Interviewpartner waren hoch. Die anfängliche Sprachbarriere und Schwierigkeiten, einen Job zu finden, stellen ein beginnendes Verlaufskurvenpotenzial dar. Während Arda am Anfang unterqualifizierte und schlecht bezahlte Jobs annehmen musste, konnte Ali zu Beginn keine Arbeit finden. Aufgrund der schlechten
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Bezahlung bzw. der Arbeitslosigkeit waren beide Interviewpartner von ihren Partnern finanziell abhängig. Auch wenn die finanzielle Abhängigkeit und die damit verbundenen möglichen Probleme nicht direkt in den Interviews angesprochen wurden, kann man aus der Erzählung schlussfolgern, dass die anfängliche Zeit in Deutschland von mehreren Problembereichen dominiert war. Zur Sprachbarriere und der prekären finanziellen Situation kamen und kommen für beide Interviewpartner die Erfahrungen mit Fremdheit hinzu. Während Arda diese Erfahrungen kompensieren kann, scheint Ali davon sehr stark betroffen zu sein. Arda fühlt sich in Deutschland meistens gestört, wenn er aufgrund seiner Herkunft und seiner Homosexualität als exotisch wahrgenommen und darauf angesprochen wird. Die Fragen nach seiner Kultur, seiner Herkunft, seinen Traditionen und die auf diese Themen beschränkten Gespräche mit Einheimischen empfindet er als indirekte Diskriminierung. Auch wenn er sich selbst nicht als religiös bezeichnen würde, wird er meistens auf seine Herkunftsreligion, also den Islam, angesprochen. In solchen Situationen begegnet ihm manchmal positive Diskriminierung/positiver Rassismus, denn wenn er in der Öffentlichkeit als türkeistämmiger Schwuler auftritt, wird er aufgrund seiner Homosexualität privilegiert. Seine Homosexualität rechtfertigt seine türkische Herkunft. Solche Aussagen – Türke, aber schwul – offenbaren rassistische Tendenzen seiner sozialen Umgebung in Deutschland. Hier werden Schwule gegenüber Türken_innen bevorzugt, was Arda als problematisch empfindet. Auch Ali berichtet von intensiven Erfahrungen mit Fremdheit in der Ankunftsgesellschaft. Sein Umgang mit der Fremdheit unterscheidet sich jedoch von Ardas Strategien. Die Erfahrungen, die Ali machen musste, führten ihn zu sozialer Isolation und in die Einsamkeit. Die zwischenmenschlichen Beziehungen in Deutschland bewertet er negativ. Seiner Ansicht nach sind Freundschaften, Partnerschaften und ähnliche zwischenmenschliche Beziehungen formell aufgebaut; er hat Schwierigkeiten, sich daran anzupassen. Nicht nur lediglich formelle zwischenmenschliche Beziehungen stören ihn in Deutschland, sondern auch das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft betrachtet er tendenziell kritisch. Die bedingungslose Akzeptanz des ständig überwachenden Staates durch die Gesellschaft und das Einverständnis mit einem überwachenden Gesellschaftssystem sowie die extremen bürokratischen Regelungen, die den Alltag der Menschen dominieren, sind Ursachen seiner Partizipationsschwierigkeiten an der Mehrheitsgesellschaft. Diese Probleme stellen sich als Verlaufskurvenpotenzial dar, das durch Vereinsamung, Isolation und Fremdheit gekennzeichnet werden kann. Die Partnerschaft Arda bezeichnet seine Lebenspartnerschaft als harmonisch. Im Beziehungsalltag werden auftretende Probleme mit gegenseitigem Verständnis besprochen. Heftige Diskussionen oder Streitigkeiten werden in der Beziehung nicht zugelassen. So be-
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gründet Arda den Zusammenhalt seiner Partnerschaft. Die erlebten kulturell bedingten Differenzen nimmt er als Bereicherung wahr, so dass das Paar sich gegenseitig mit unterschiedlichen kulturellen Eigenschaften vervollkommnen und neue Erkenntnisse über die andere Kultur gewinnen kann. Auch wenn Arda im Interview nicht direkt detailliert auf die Beziehungsprobleme eingeht, zeigt das Interview mit seinem Lebenspartner Kai (siehe Fall IV Segment 14), dass es innerhalb der Partnerschaft aufgrund individueller und kultureller Differenzen manchmal Unstimmigkeiten zu geben scheint. Diese Differenzen führen jedoch nicht zu heftigen oder länger währenden Konflikten. Die Herkunft des jeweiligen Partners stellt keinen Grund für diskriminierende Handlungen in der Partnerschaft dar. Nur manchmal, wenn einer der Partner außerhalb der Beziehung negative Erfahrungen mit Menschen aus dem Kulturkreis des anderen Partners macht, können diese Erlebnisse zu Hause thematisiert werden, was gelegentlich kulturalisierende bzw. auch rassifizierende Aussagen hervorruft. In solchen Fällen gerät das Paar ab und an in Konfliktsituationen, in denen beide Partner ihre Kultur zu rechtfertigen versuchen (siehe Fall IV Segment 14). Ali bezeichnet seine Partnerschaft ebenfalls als unproblematisch und liebevoll. Demzufolge basiert die Beziehung mit seinem Mann auf gegenseitigem Respekt, Liebe und Verständnis. Was sich in der Beziehung als Verlaufskurvenpotenzial entwickelt, sind die geringen Deutschkenntnisse des Interviewpartners. Da er nicht ausreichend Deutsch spricht und Englisch als weitere Fremdsprache von keinem der Partner beherrscht wird, entsteht ein Kommunikationsproblem in der Partnerschaft. Um dieses Problem zu bewältigen, entschied sich das Paar, zu Hause nur Deutsch zu sprechen. Neben der Sprachbarriere bestätigt Ali auch die Existenz der kulturellen Differenzen in der Beziehung. Die Unterschiede aufgrund des kulturellen Hintergrundes sieht das Paar als Selbstverständlichkeit an, die in jeder binationalen Partnerschaft erlebt werden kann. Durch diese Einstellung des Paares gelingt es, eventuelle Probleme, die aus kulturellen Unterschieden entstehen, zu bewältigen. Die Wahrnehmung des Paares durch Andere Ardas binationale schwule Partnerschaft findet in seinem Freundeskreis, der sowohl aus Migrant_innen als auch aus Mehrheitsdeutschen besteht, beachtliche Akzeptanz. Von Ignoranz, Diskriminierung bzw. Ablehnung des Paares aufgrund der Herkunft oder der sexuellen Orientierung in diesem sozialen Umfeld ist nicht die Rede. Im Gegensatz zu seinem Freundeskreis nehmen die Mitglieder seiner Herkunftsfamilie unterschiedliche Haltungen ein. Während seine Mutter anfänglich die Partnerschaft nicht akzeptieren kann, hat sein Halbbruder, der in einer anderen deutschen Großstadt aufgewachsen ist, kein Problem mit der binationalen schwulen Partnerschaft Ardas. Er geht im Interview nicht direkt auf die Haltung seiner Mutter zu seiner homosexuellen Beziehung ein. Dennoch ist aus dem Interview mit seinem
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Lebenspartner Kai zu entnehmen, dass Ardas Mutter Angst hat, ihre Verwandten könnten sie ausgrenzen und möglicherweise stigmatisieren, wenn sie von der Homosexualität ihres Sohnes wüssten. Im Gegensatz zu seiner Herkunftsfamilie findet das Paar jedoch in der Schwiegerfamilie eine Anerkennung. Arda fühlt sich in der Familie seines Partners wohl und zugehörig. Im sozialen Umfeld seines Partners erfährt er weder rassistische noch homophobe Diskriminierungen. Die Neugier auf seine Kultur und Traditionen und die damit zusammenhängende privilegierende Behandlung des Freundeskreises seines Partners betrachtet er als positive Diskriminierung. Aufgrund seines relativ kurzen Aufenthaltes hat Ali in Deutschland erst wenige Freund_innen. Sein soziales Umfeld in Deutschland besteht nur aus seinem Lebenspartner und ein paar Freund_innen, die er früher in der Türkei kennen gelernt hatte. Aus diesem Grund bewegt sich das Paar meistens in der sozialen Umgebung des deutschen Partners und stößt hier auf Ignoranz durch seine Freund_innen. Diese führt Ali nicht auf seine Herkunft oder Homosexualität, sondern auf die persönlichen Probleme zwischen seinem Partner und dessen Bekannten und Freund_innen zurück. Auffällig ist jedoch, dass einige Freund_innen seines Partners das Paar homophob diskriminieren. Dennoch erkennt Ali diese Art der Diskriminierung nicht genau. Die Homophobie dieser Freund_innen zeigt sich in den Wünschen einiger Freundinnen, die die Homosexualität des deutschen Partners nicht wahrhaben möchten und sich um eine Liebesbeziehung mit ihm bemühen. Mit der Eintragung der Lebenspartnerschaft wurden diese Freundschaften seines Partners beendet, was als ein Indiz für homophobe Diskriminierung angenommen werden kann. Diese Freundinnen und möglicherweise Freunde hatten zu Beginn der Partnerschaft Alis auch rassistische oder rassifizierende Ansichten, da sie nicht akzeptieren konnten, dass der deutsche Partner einen türkischen Schwulen als Lebenspartner hat. Da Ali mit seiner Familie in keinem engen Kontakt steht und sich ihr gegenüber nicht als Schwuler offenbart hat, besteht kein Verhältnis zwischen seinem Partner und seiner Familie. Dies gilt jedoch auch für die Herkunftsfamilie seines Partners. Da der Partner früher mit einer deutschen Frau verheiratet war und aus dieser Ehe zwei Kinder hat, konnte er sich seiner Mutter und seinem Bruder gegenüber nicht zu seiner Homosexualität bekennen. Die Verheimlichung der Homosexualität seines deutschen Partners lässt sich auf die homophobe Haltung von dessen Herkunftsfamilie zurückführen. Somit wird die binationale schwule Partnerschaft nicht anerkannt. Im Gegensatz zu der Herkunftsfamilie und zu einigen Freundinnen wird das Paar jedoch von der ehemaligen Frau und dem früheren Partner des Partners akzeptiert.
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6.1.2 Typ B: Binationale/bikulturelle Sozialisation: Can und Hamid Binationale/Bikulturelle Sozialisation – Verlaufskurvenpotenziale In der Zeit seiner Sozialisation befindet sich Can in einem Konflikt zwischen seiner katholischen Mutter und seiner muslimisch geprägten Tante. Dieser Konflikt seit seinem frühen Kindesalter prägt ihn biographisch, so dass er immer wieder zwischen zwei Religionen pendeln musste, ohne sich zu einer bestimmten Glaubensrichtung exakt zugehörig zu fühlen. Diese Situation zeigt sich in seiner Biographie als ein Verlaufskurvenpotenzial, das sich gegen ihn entwickelte. Während er in seiner Pubertätszeit mit diesem Konflikt konfrontiert war, tauchte zusätzlich die Frage nach seiner Homosexualität auf, mit der er anfangs nicht zurecht kommen konnte. Aufgrund des mangelnden Wissens über sexuelle Vielfalt der Erziehenden kannte er den Begriff der Homosexualität nicht. Seine Gefühle für Männer konnte er sich nicht erklären; es gab in seinem nahen sozialen Umfeld niemanden, mit dem er sich darüber unterhalten konnte. Infolgedessen erlebte Can eine weitere Identitätskrise. Das Dreieck von Islam, Katholizismus und Homosexualität führte ihn zu diversen komplexen Gefühlen und Situationen: Die Verlaufskurve der mehrfachen Identitäten war so mächtig, dass er sich öfters selbst unterstellte, pervers, krank, abnorm zu sein. Von dieser Mehrfachidentitätskrise ist auch Hamid betroffen. Sein dominanter muslimischer Vater einerseits, die westliche Lebensweise außerhalb des elterlichen Hauses andererseits und zumal die Bemühung, beidem gerecht zu werden, lösten bei Hamid schwer zu überwindende Auseinandersetzungen aus. Die Erkenntnis seiner sexuellen Orientierung trug zu einer kontroversen sozialen Situation bei: so begann er das Verhältnis zwischen Sexualität und Religion zu hinterfragen. Die inneren Konflikte und die Gespräche mit seinem Vater waren bis zur Mitte seiner Pubertätszeit häufig die Gründe dafür, dass er sich von seiner sozialen Umwelt ausgrenzte. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die dichotomen heteronormativen Erziehungsweisen zum einen und die unterschiedlichen religiösen Prägungen zum anderen die Selbst- und Fremdakzeptanz der eigenen Homosexualität der beiden in Deutschland aufgewachsenen Interviewpartner beeinträchtigten. Ihnen wurde entweder die Heterosexualität oder die Zugehörigkeit zum Islam oder Katholizismus vorgeschrieben. Sowohl Hamid als auch Can lehnen es in ihrer Biographie ab, sich auf eine bestimmte Nationalität, Religion oder heteronormative Geschlechterzuschreibung einzulassen. Diskriminierungserfahrungen Beide Interviewpartner sind in erster Linie von homophoben und zudem von rassistischen/rassifizierenden Diskriminierungen betroffen. Wahrnehmung, Verarbeitung und Umgang mit den erlebten homophoben sowie rassistischen bzw. rassifizieren-
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den Diskriminierungen sind in beiden Fällen unterschiedlich. Während Can alltäglich der Homophobie und dem Rassismus ausgesetzt ist, ist Hamid überwiegend mit der in seiner Vergangenheit erlebten Homophobie konfrontiert. Can versucht, jegliche Art der Diskriminierung zu kompensieren. Zum einen wird die im familiären Umfeld erfahrene Homophobie aufgrund der Loyalität gegenüber der Familie unterdrückt: So vermeidet er potentielle Konflikte mit seiner Familie. Zum anderen gilt diese Verdrängung auch für erlebte rassistische Diskriminierungen, da er durch die Mutter seines Partners aufgrund der Homosexualität und des Erscheinungsbildes nicht akzeptiert, sondern diskriminiert wird. Diese doppelte Diskriminierung wird innerhalb der Partnerschaft ausgeblendet, denn Can möchte mit seinem Partner keinen Konflikt wegen dessen Mutter riskieren. Die Verdrängung dieser diskriminierenden Handlungen der Schwiegermutter gilt als Bemühung um den Zusammenhalt der von kulturell-individuell geprägten Differenzen bedrohten Partnerschaft. Im Gegensatz zu Can kommt es bei Hamid nicht zu einer direkten rassistischen/rassifizierenden Diskriminierung. Seine Lebensgeschichte ist durch die strenge Erziehung seines pakistanischen Vaters beeinflusst. Die infolge des Coming-outs erfahrene homophobe Diskriminierung seitens seines Vaters bewältigt Hamid mithilfe einer Psychotherapie, bestimmter Selbsthilfegruppen, einer Beratungsstelle und der Unterstützung seines Partners. Er führt die homophobe Haltung seines Vaters auf dessen religiöse Einstellung zurück, wobei andere Beispiele nicht diese Behauptung Hamids unterstützen, so etwa auch die katholische Mutter Cans, die Homosexualität nicht anerkennt. Im Gegensatz zu ihm ist Can der Meinung, dass auch sein Partner durch die eigene Mutter aufgrund seiner Homosexualität diskriminiert wird. Somit findet auch Can als Schwuler in der Familie seines Partners keine Akzeptanz. Hamids Erzählung über seine Diskriminierungserfahrungen konzentriert sich zwar auf seine negativen Erlebnisse mit seinem Vater, dennoch musste er auch in der Schule durch seine Mitschüler_innen Erfahrungen mit Schwulenfeindlichkeit machen. Die Reaktionen seiner Lehrer_innen sind zwar nicht als direkte Homophobie zu bezeichnen, jedoch trugen sie dazu bei, dass er in der Klasse weiterhin ausgegrenzt und stigmatisiert wurde, indem sie ihm keinen Schutz boten und ihn für die Handlungen anderer Schüler_innen verantwortlich machten. So wie diese Lehrer_innen, die überwiegend deutscher Herkunft sind, Hamid nicht vor Homophobie schützten, agierte Cans Partner auch nicht gegen die diskriminierende Mutter. Damit förderte er mittelbar die rassistische Diskriminierung von Can durch seine Mutter. Hamid berichtet in seiner Erzählung nicht direkt von einer selbst erlebten rassistischen Diskriminierung. Cans Erfahrungen mit strukturellem Rassismus sind dagegen bemerkenswert: So wird er manchmal auf der Straße oder in anderen öffentlichen Bereichen als Kanak, Türke oder Ausländer angesprochen bzw. beschimpft.
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Partnerschaft Cans Partnerschaft ist durch kulturelle, finanzielle und individuelle Differenzen bedroht. Wegen dieser Differenzen befindet sich das Paar in einer Verlaufskurve der Beziehungskonflikte. Sprachliche Probleme, finanzielle Engpässe, enge familiäre Verhältnisse sowie unterschiedliche Charaktereigenschaften werden von Cans Partner nicht akzeptiert. Dies sind häufig Ursachen für Beziehungskonflikte, die Can zum Zeitpunkt des Interviews zu bewältigen versucht, um die Beziehung zu retten. In dieser Hinsicht ist Hamids bikulturelle Beziehung zu Beginn gleichfalls von als kulturell zu bezeichnenden Unterschieden betroffen. So konnte sein Partner sein Doppelleben in der Familie nicht verstehen. Dies war anfangs oft der Auslöser für partnerschaftliche Konflikte. Das Moralisieren des Doppellebens durch den Partner, all das sei heuchlerisch oder unehrlich, verletzte Hamid einerseits, andererseits ermutigte es ihn, sich seinem Vater gegenüber zu outen. Während Cans schwule Partnerschaft weder von seiner Familie noch von der seines Partners akzeptiert wird, wird Hamids schwule Beziehung von verschiedenen Familienmitgliedern unterschiedlich angesehen. Im Gegensatz zu seiner Familie wird er von der Mehrheit der Familie seines Partners akzeptiert. Hingegen kann sein Vater seine schwule Partnerschaft noch nicht anerkennen und respektieren, während seine Mutter hierin kein Problem sieht und versucht, ihn vor dem bedrohlichen Vater zu schützen. Die bedrohlichen Vorfälle, die sich nach dem Coming-out vom Vater ausgehend ereigneten, riefen eine starke Unterstützung durch seinen Partner hervor. Sein Partner trat hier als schützende und verlässliche Person auf. Im Prozess des Coming-outs, eine Phase, in der Hamid zur Depression neigte, versuchte sein Partner, ihn zu stärken. Die Partnerschaft Cans unterscheidet sich von der Hamids, denn Can findet weder materielle noch emotionale Unterstützung durch seinen Partner. Im Prozess der rassistischen Diskriminierungen, der finanziellen Schwierigkeiten und problematisierter Bilingualität muss er oft alleine nach Lösungen suchen. Diese Situation erschwert den Zusammenhalt der Beziehung, weswegen Can sich zum Zeitpunkt des Interviews in einer Phase befindet, in der er über die Zukunft seiner Partnerschaft nachdenkt. 6.1.3 Typ C: Deutsche Herkunft: Kai und Frank Sozialisation Frank und Kai gehören verschiedenen Generationen an. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frank 25 Jahre alt, Kai hingegen ist etwa 45 Jahre alt. Trotz dieses Altersunterschieds zeigen ihre sozialisationsbedingten sexuellen Entwicklungen große Ähnlichkeiten. Beide durchlebten in unterschiedlichen Intensitäten Identitätskrisen, die sich als Hürde bei der Selbstakzeptanz darstellten bzw. zur Selbstdiskriminie-
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rung führten. Weil beide Interviewpartner aus kleinen Städten stammen, in denen das Individuum häufiger soziale Kontrolle und Repression erfährt als in Großstädten, sind sie mit patriarchalen heteronormativen Lebensformen und Rollenerwartungen konfrontiert. Während Kai durch seine katholische Mutter auf Homophobie stößt, ist Frank auf ähnliche Weise durch seine konfessionslose Mutter mit heteronormativen Erwartungen und Wünschen konfrontiert. Diskriminierungserfahrungen während des Coming-outs Die Phase der Selbstakzeptanz beider Interviewpartner ist durch Enttäuschung, Krisen und Verdrängung gekennzeichnet. Der Konflikt zwischen heteronormativen Zuschreibungen und Erwartungen und der sexuellen Orientierung spielt in der Entwicklungsphase der Homosexualität eine prägende Rolle, so dass beide Interviewten Schwierigkeiten hatten, sich selbst als Homosexuelle zu akzeptieren. Auffällig ist hier, dass sowohl Frank als auch Kai sich zunächst gegenüber ihren Müttern als schwul offenbart haben. Die Mütter sind für beide Interviewpartner die stärksten Bezugspersonen, zu denen sie ein inneres festes Vertrauen aufbauen konnten. Auf das Coming-out der Interviewpartner reagieren beide Mütter negativ. Die Mutter von Kai, die eine katholische Lebensweise praktiziert, lehnt seine Homosexualität ab. Kai führt das auf ihre religiöse Orientierung und ihre Angst vor Bekannten und Verwandten zurück. Franks Mutter, die in einer kleinen Stadt lebt, reagiert ebenfalls negativ. Trotz der anfänglichen ablehnenden Reaktionen akzeptiert sie schließlich die Homosexualität ihres Sohnes. Partnerschaft Beide Interviewte leben zum Zeitpunkt des Interviews in einer binationalen/bikulturellen Partnerschaft. Auch wenn ihre Partner einen islamischen Hintergrund haben, bezeichnen sie sich selbst als konfessionslos und betonen andererseits, ihre Sozialisation sei von islamischen Traditionen und Lebensweisen geprägt. Diese religiöse und traditionelle Prägung der ausländischen und/oder als ausländisch angesehenen Lebenspartner hat auch auf die Beziehungen einen großen Einfluss. So ist zum Beispiel Franks Partnerschaft anfangs konfliktreich gewesen. Durch sein westlich geprägtes individualistisches Ideal forderte er seinen Partner auf, sich gegenüber seinem pakistanischen Vater als Schwuler zu offenbaren. Während er das Doppelleben seines Partners moralisch abwertete, war sein Partner damit überfordert, sich zu outen. In der Partnerschaft von Kai ergeben sich ebenso kulturelle wie individuelle Auseinandersetzungen. Trotz der erlebten kulturellen und individuellen Differenzen können beide Paare einen übereinkommenden Umgang finden, so dass die Partnerschaft aufrechterhalten werden kann. Bezüglich der Mehrfachdiskriminierungserfahrungen des ausländischen/als ausländisch angesehenen Partners in der Einwanderungsgesellschaft zeigen Frank
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und Kai ihre Unterstützung und bieten ihren Partnern einen Schutzraum. Frank konnte seinen Partner, Hamid, der auf massive homophobe Diskriminierung stieß, unterstützen und ihm im Rahmen seiner Möglichkeiten Sicherheit gewährleisten. Dies gilt auch für die Partnerschaft von Kai, dessen Partner, Arda, aus der Türkei stammt. Kai bietet seinem Partner nicht nur moralische Unterstützung bei möglichen rassistischen, islamophoben und homophoben Diskriminierungen, sondern zu Beginn der Beziehung auch finanzielle Hilfe. Die so genannten kulturellen Differenzen werden von Kai und seinem Partner als individuelle Bereicherung und als Möglichkeit aufgefasst, den Partizipationsprozess des ausländischen Partners an der Mehrheitsgesellschaft zu beschleunigen. Die Wahrnehmung des Paares Die schwule binationale/bikulturelle Partnerschaft von beiden deutschen Interviewpartnern wird unterschiedlich wahrgenommen bzw. akzeptiert. Während die Herkunftsfamilien der deutschen Partner die ausländischen/als ausländisch angesehenen Partner akzeptieren (ausgenommen die Großmutter von Frank), können nicht alle Familienangehörigen der nicht-deutschen Partner sie als Paar anerkennen. Ardas Brüder und Schwägerinnen, die zum Zeitpunkt des Interviews in der Türkei leben und keine Erfahrung mit Migration haben, können trotz der anfänglichen familiären Konflikte Kai als Partner Ardas annehmen. Hingegen wird die schwule Partnerschaft und damit auch Kai durch die Mutter des ausländischen Partners ignoriert. Beide Partner finden jedoch im Freundeskreis eine beachtliche Akzeptanz. Dies ist bei der Partnerschaft Franks ähnlich. Frank wird von der zum Islam konvertierten deutschen Mutter seines Partners mit Akzeptanz und Rücksicht behandelt. Dennoch hat der pakistanstämmige Vater seines Partners große Schwierigkeiten, mit der Homosexualität und homosexuellen Partnerschaft seines Sohnes umzugehen.
6.2 V ERGLEICH NACH DEM P RINZIP DES MAXIMALEN K ONTRASTES : F ALL I (ARDA ) UND F ALL III (C AN ) Datengrundlage dieser Studie bildeten sechs narrative Interviews mit schwulen Männern, die in einer binationalen schwulen Partnerschaft in Berlin leben. Ausgangspunkt ihrer biographischen Erzählung ist die Frage, welche Erfahrungen sie mit Diskriminierungen in ihrer Biographie gemacht haben und wie sie diese wahrnehmen, verarbeiten und damit umgehen. Aus der Analyse der sechs Interviews ergab sich, dass sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, sozialen Herkunft, religiösen Zugehörigkeit, ihres Aussehens sowie ihres Herkunftsorts Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt sind.
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Alle sechs Interviews wurden zunächst einzelfallorientiert textanalytisch ausgewertet und in ihrer Eigenheit rekonstruiert. In diesem Abschnitt liegt der Fokus auf zwei Interviewten, die hinsichtlich der leitenden Fragestellung einen maximalen Kontrast darstellen. Ihre Biographien werden im Folgenden gegenübergestellt und miteinander verglichen. Ziel dieser abschließenden Analyse ist es, allgemeine kulturelle, soziale, juristische sowie politische Hintergründe der erlebten strukturellen und institutionellen rassistischen und homophoben Diskriminierungen herauszustellen. Tatsache ist, dass diese Diskriminierungen verschiedene Facetten haben. Auch wenn die Wahrnehmung, Verarbeitung, der Umgang und die Bewältigungsmöglichkeiten der Erfahrungen mit diskriminierenden heteronormativen und rassistischen Handlungen bei jedem Individuum unterschiedlich sind, lässt sich verallgemeinern, dass die vorhandenen gesetzlichen Antidiskriminierungsmaßnahmen die Diskriminierungen nicht beseitigen können. Im Folgenden handelt es sich um mögliche Hintergründe dieser Diskriminierungen in der Mehrheitsgesellschaft, die ich durch den Vergleich nach dem Prinzip des maximalen Kontrastes am Beispiel von Fall I (Arda) und Fall III (Can) veranschauliche. Überblick über die Biographien von Arda und Can Anhand von Tabelle 1 können die Situationen der beiden Interviewten als konträr gedeutet werden. Bevor ich auf diese konträren Situationen der Erzähler eingehe, möchte ich zunächst auf der Ebene des minimalen Kontrastes an deren Gemeinsamkeiten erinnern. Arda wird aufgrund seiner Herkunft, seiner Sozialisation sowie seiner gesamten Lebensgeschichte sowohl juristisch als auch sozial als Migrant oder Ausländer angesehen. Obwohl Can in Deutschland geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden ist und darüber hinaus die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, wird er als Ausländer, Migrant oder Mensch mit Migrationshintergrund bezeichnet. Diese Fremdbestimmungen haben einen so starken Einfluss auf das Leben beider Erzähler, dass sie in Deutschland mit bestimmten Diskriminierungen konfrontiert werden. Von dieser Konfrontation sind auch die jeweiligen Partnerschaften betroffen. 6.2.1 Vergleichsebene I: Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft – Klassismen Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes verbietet die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft und sieht die Gleichstellung aller Menschen vor. In der EU-Charta sind 13 Diskriminierungsgründe verboten; im Gegensatz dazu gibt es im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz nur sechs Diskriminierungsgründe sowie kein Verbot der schicht- und klassenspezifischen Diskriminierung (vgl. Kapitel 2.1. und EU-Charta 2010: 396). Zudem hierarchisiert das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz die Diskriminierungsgründe (vgl. Kapitel 2.1.). Aus den Analyseergebnissen
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dieser Studie hat sich herauskristallisiert, dass die von mir interviewten Personen auch aufgrund der sozialen Herkunft in unterschiedlichem Maße Diskriminierungen ausgesetzt sind und diese unterschiedlich wahrnehmen, verarbeiten und bewältigen. Arda wurde zu Beginn seines Aufenthaltes aufgrund seiner geographischen, nationalen und ethnisierten Herkunft mit klassenspezifischen Diskriminierungen konfrontiert. Unter dem Deckmantel mangelnder Sprachkenntnisse sowie vorgeblich niedriger Berufsqualifikationen musste er unterbezahlte Jobs ausüben. Die aus dem strukturellen und institutionellen Rassismus entstehenden Ungleichbehandlungen führten dazu, dass er soziale Ungleichheiten in einer Mehrheitsgesellschaft erleiden musste. In dieser Situation konnte ihm auch sein einheimischer Partner nicht behilflich sein. Arda wurde in vielen Arbeitsverhältnissen ausgenutzt und schlecht behandelt. Somit befand er sich in der Verlaufskurve einer gesetzlich sozial eingeschränkten Handlungsfähigkeit. Dieser Prozess hatte einen negativen Einfluss auf seine Partnerschaft. Durch sein geringes Einkommen und den unsicheren Aufenthaltsstatus entstand innerhalb seiner Beziehung ein Ungleichgewicht, das von Arda als belastend wahrgenommen wurde. Während er von seinem Partner sowohl aufenthaltsrechtlich als auch finanziell abhängig war, war sein Partner nicht mit derartigen rechtlichen und ökonomischen Komplikationen konfrontiert. Dieses fremdbestimmte Leben und dessen destruktive Rolle sowohl im partnerschaftlichen als auch im gesellschaftlichen Leben empfand Arda als inakzeptabel. So bemühte er sich fortgesetzt um einen besseren wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Status. Er versuchte, in der Partnerschaft ein Gleichgewicht herzustellen und in der Einwanderungsgesellschaft seine Zukunftsperspektive zu verwirklichen, indem er sich in verschiedenen kulturellen, politischen und sozialen Bereichen weiterbildete. Zur Zeit des Interviews ist er bei verschiedenen Bildungsträgern als Lehrer, Künstler und politischer Aktivist tätig. Sein intentionales biographisches Handlungsmuster der Selbstbestimmung ist dominant gegenüber den institutionellen und gesellschaftlichen Diskriminierungen, die auf die soziale Herkunft zurückzuführen sind. Im Gegensatz zu ihm erleidet Can Diskriminierungen aufgrund der sozialen Herkunft verstärkt insofern, als ihn seine Eltern wegen seiner Homosexualität ablehnen. Zur Zeit des Interviews ist er im Pflegebereich und in der Gastronomie tätig. Diesen Tätigkeiten geht er aus gesellschaftlichen Zwängen nach. Da er in seinem Berufsfeld bisher keine Anstellung finden konnte, muss er in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Anders als Arda ist sein Leben von Fremdbestimmung geprägt. Er befindet sich in einer Verlaufskurve der Ausweglosigkeit und findet keine Kraft, sich neue Alternativen zu schaffen. Dies ist nicht nur auf seine Hoffnungslosigkeit zurückzuführen, sondern auch auf die prekären sozialen Bedingungen in der Mehrheitsgesellschaft. Diese manifestieren sich in der ungleichen Verteilung von sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ressourcen. So ist beispielsweise sein Partner (im Gegensatz zu ihm) in einer deutschen Behörde als Beamter tätig und befindet sich dadurch in einer besseren wirtschaftlichen und sozia-
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len Lage. Obwohl beide Partner ähnliche Berufsausbildungen absolviert und einen ähnlichen Bildungshintergrund haben, verfügen sie in unterschiedlichem Maße über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Ressourcen. Der Unterschied in der wirtschaftlichen Lage der beiden Partner löst Konflikte innerhalb der Partnerschaft aus. So verweigert der deutsche Partner ökonomische und soziale Solidarität mit Can und fordert ihn auf, seine wirtschaftliche Situation zu verbessern. Dabei beabsichtigt er nicht direkt eine soziale Besserstellung Cans, sondern die Absicherung seiner eigenen finanziellen Lage. Der deutsche Partner fürchtet die finanziellen Differenzen zwischen den beiden Partnern, da er Can nicht dauerhaft finanzieren möchte. Can fühlt sich in dieser Situation von seinem Partner herausgefordert. Dennoch kann er ihn nicht davon überzeugen, dass er in der Gesellschaft aufgrund rassistischer und heteronormativer sozialer Konstruktionen nicht die gleichen Chancen hat. Während Arda die soziale, wirtschaftliche und politische Unterstützung seines deutschen Partners genießt, muss sich Can neben erlebten Diskriminierungen zusätzlich gegen seinen Partner behaupten, der derartige Unterstützungen verweigert und Can in seiner Situation alleine lässt. Schlussfolgerung aus Vergleichsebene I: Der Hinweis auf die Verwobenheit der Diskriminierungsgründe ist ein wichtiger Aspekt. Während die ausländischen und binational sozialisierten schwulen Männer oft entweder arbeitslos sind oder unterbezahlte Jobs ausüben, gehen ihre deutschen Partner sicheren Berufen nach, arbeiten beispielsweise als Beamte oder Angestellte im öffentlichen Dienst. Diese Unterschiede liegen zweifellos auch daran, dass Migrant_innen und als Ausländer_innen angesehene Menschen in der Mehrheitsgesellschaft wenig Chancengleichheit und Zugang zu wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen haben. Aufgrund der ungleichen Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen sind auch die Lebensbedingungen der Interviewten verschieden. Die möglichen wirtschaftlichen und sozialen Differenzen führen dazu, dass sich die ausländischen Partner in einer Situation der wirtschaftlichen, sozialen und juristischen Abhängigkeit vom deutschen Partner befinden, was innerhalb der Partnerschaft zu Ungleichheit und einem Machtgefälle führen kann, das in der Beziehung ein ernsthaftes Konfliktpotential darstellt. Davon sind besonders die Interviewpartner betroffen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, durch Lebenspartnerschaftsschließungen nach Deutschland einreisen konnten und deren Aufenthaltstitel von einer bestehenden Lebenspartnerschaft abhängt. 6.2.2 Vergleichsebene II: Biologistischer Rassismus Die ethnisierte Herkunft spielt bei den Diskriminierungserfahrungen der Interviewten eine weitere signifikante Rolle. Diese Art der Diskriminierung ist unter Rassismus einzuordnen. Nicht nur die ausländischen schwulen Männer, die in ihrem Herkunftsort sozialisiert sind, stoßen auf biologistischen Rassismus, sondern auch die-
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jenigen, die von binationalen Eltern in Deutschland abstammen und nicht deutsch genug aussehen, werden als Ausländer_innen oder Migrant_innen bezeichnet. Sie werden Deutsch-Türken oder Türken genannt, und ihnen werden weitere rassistische Merkmale zugeschrieben. Aufgrund ihrer nicht-deutschen Erscheinung werden sie rassistisch diskriminiert und von sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Ressourcen ausgeschlossen. Biologistischer Rassismus hat für die Betroffenen meist auch soziale Konsequenzen. Der Ausschluss vom Arbeitsmarkt und von sozialen Beziehungen, die Ausübung unterbezahlter Tätigkeiten, die nicht ihren Qualifikationen entsprechen, sind nur einige von vielen Nachteilen, denen sie ausgesetzt sind. Bezüglich der Forschungsfrage der vorliegenden Studie, wie die Interviewten die Diskriminierungen wahrnehmen, verarbeiten und welche Handlungs bzw. Bewältigungsstrategien sie entwickeln, zeigen Arda und Can gegensätzliche Handlungsmuster. Arda nahm unmittelbar nach seiner Ankunft in Deutschland rassistische Diskriminierungen wahr. Seine Ausdrucksweise hinsichtlich der rassistischen Diskriminierung im Gespräch entspricht offensichtlich nicht seinen Empfindungen. Das Gefühl der Heimatlosigkeit, der Status als Migrant und unzureichende Zugangsmöglichkeiten zu Ressourcen veranschaulichen seine Situation als Ausländer in der Ankunftsgesellschaft. Trotz der anfänglichen Zugangsbarrieren zu sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ressourcen stößt er wegen seiner Andersartigkeit als türkischer Schwuler auf positiven Rassismus. Während seine Homosexualität in der Ankunftsgesellschaft positive Resonanz erfährt, fühlt er sich im Gegensatz hierzu von biologistischem Rassismus betroffen: In Deutschland erfährt er als türkischer Schwuler Sympathie und Aufmerksamkeit, wird aber aufgrund seines türkischen Hintergrundes allein negativ bewertet sowie diskriminiert. Diese Art der Diskriminierung führt dazu, dass er sich in politischen, sozialen und kulturellen Bereichen engagiert, um Unterstützung von Organisationen für und von Migrant_innen zu gewinnen. Mit diesem gesellschaftspolitischen Engagement gelingt es ihm, die Verlaufskurve der aus der Diskriminierung resultierenden Komplikationen zu überwinden und gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen. Auch in diesem Zusammenhang dominiert ein intentionales biographisches Handlungsmuster: Er unterwirft sich nicht den rassistisch geprägten Integrationsanforderungen der Ankunftsgesellschaft und bestimmt sein Leben so weit wie möglich selbst. Anders als bei Arda ist Cans Biographie von Fremdzuschreibungen und bestimmungen geprägt. Trotz seiner Sozialisation in der deutschen Mehrheitsgesellschaft und seiner binationalen Erziehung wird er in Deutschland als Ausländer bzw. Deutsch-Türke angesehen und mit anderen Gesellschaften, die ihm nicht weiter vertraut sind, in Verbindung gebracht. Rassistische Diskriminierungen gehören zu seinem Alltag. Sowohl in seinem nahen sozialen Umfeld als auch in der Öffentlichkeit ist er mit Rassismus konfrontiert. Die rassistischen sozialen Konstruktionen kristal-
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lisieren sich in den Interaktionen mit dem Partner, dessen Familienangehörigen sowie mit ihm unbekannten Personen in der Öffentlichkeit heraus. Rassistische Beleidigungen, Vorwürfe und Zuschreibungen sowie die zahlreichen Formen der Ausgrenzung empfindet er als nicht zu überwindende soziale Probleme, die sein individuelles Leben in vielen Bereichen beeinträchtigen. So befindet sich Can in einer persönlich schwierigen Situation, in der er in seinem Geburtsort, Deutschland, mit Ungleichbehandlungen aufgrund seines Erscheinungsbildes konfrontiert wird. Da diese Konfrontationen biographisch verankert sind, sieht er keinen Ausweg, sie zu bewältigen. Im Gegensatz zu Arda fühlt er sich dem vorherrschenden Rassismus und dessen Folgen unterlegen und findet keine institutionelle Unterstützung zur Lösung des Problems. Zudem wundert er sich über den sich verstärkenden Rassismus und fühlt sich immer mehr unter Druck gesetzt, was zu Handlungsunfähigkeit bei der Bewältigung dieses sozialen Problems führt. Seine binationale Sozialisation und die hieraus gewonnenen Ressourcen, beispielsweise seine Bilingualität, finden in der Mehrheitsgesellschaft wenig Akzeptanz oder Respekt. Obwohl ein Elternteil deutscher Herkunft und Can in Deutschland aufgewachsen ist, wird er als ungewollter Ausländer behandelt und rassistisch diskriminiert. Zu den sozialen Konsequenzen gehören Arbeitslosigkeit oder unterbezahlte Tätigkeiten sowie Ausgrenzungen im gesellschaftlichen Leben. Während Arda auch in diesem Bereich die Unterstützung seines deutschen Partners erfährt, trägt der Partner Cans durch sein Verhalten gegenüber Can zusätzlich zur rassistischen Diskriminierung bei. Schlussfolgerungen aus Vergleichsebene II: Die Erfahrungen der Interviewten verweisen überwiegend auf ökonomische Aspekte des Rassismus. Darüber hinaus zeigen die Interviews und Fallanalysen der vorliegenden Studie jedoch, dass rassistische Handlungen nicht allein aus ökonomischen Gründen entstehen, sondern Teil eines Geflechtes von Machtverhältnissen und Ideologien sind. So ist Rassismus auch mit Nationalismus, Klassismus, kultureller Hegemonie und Heteronormativität verwoben (vgl. Hentges 2010). Beispielhaft für die Verwobenheit des Rassismus mit anderen Machtverhältnissen, die Diskriminierungen hervorrufen, sind die naturalisierende Differenzierung und negative Wertung bzw. Hierarchisierung der Betroffenen als Angehörige einer unterlegenen Gruppe. Auch wenn die binational sozialisierten Interviewpartner, wie z.B. Can, in Deutschland aufgewachsen sind, unterstellt man ihnen in der Mehrheitsgesellschaft mangelnde Deutschkenntnisse. Ferner werden sie mit dem Islam in Verbindung gebracht und, auch wenn sie nicht zwangsläufig einen Bezug zum Islam haben, behandelt wie Menschen mit islamischem Hintergrund, die in Deutschland von kulturalistischem Rassismus betroffen sind und dagegen zu kämpfen haben.
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6.2.3 Vergleichsebene III: Kulturalistischer Rassismus – Islamophobie Das Grundgesetz verbietet neben Diskriminierungen aufgrund der „Rasse“ und der sozialen Herkunft Diskriminierung, die auf der Glaubensrichtung sowie der Religionszugehörigkeit basiert, und fordert allgemeine Religions- und Glaubensfreiheit. Die ausländischen und binational sozialisierten schwulen Interviewpartner werden häufig und insbesondere aufgrund der gesellschaftlichen Annahme, sie gehörten dem Islam an, diskriminiert. Islamfeindliche Positionen in der Mehrheitsgesellschaft und damit verbundene Diskriminierungspraxen werden durch beide Fallanalysen ersichtlich. Sowohl die Art der islamophoben Diskriminierung als auch deren Wahrnehmung, Verarbeitung und strategische Bewältigung ist bei beiden Erzählern unterschiedlich. Wie im vorangegangenen Abschnitt bereits erwähnt, ist Arda meist mit positivem Rassismus konfrontiert. In Bezug auf Erfahrungen mit islamfeindlichen Positionen liefert er zwar keine konkreten Informationen, dennoch beschreibt er bestimmte Situationen als türkischer Schwuler in seinem Bekannten und Freundeskreis, die mit dem Islam in Verbindung gebracht werden können. Die Betrachtungsweise seiner Person durch Bekannte und Freund_innen als exotisch empfindet Arda als störend. Die Verbindung mit dem Orient und dem Islam, die ihm aufgrund seiner türkischen Herkunft zugeschrieben wird, und die daraus entstehende Konfrontation bereiten ihm Unbehagen. Obwohl er den Islam nicht praktiziert, wird er einerseits als Moslem betrachtet, andererseits werden ihm positive Merkmale zugeschrieben, da er als schwuler Moslem eine Besonderheit darstellt. Für die Akzeptanz seiner muslimischen Herkunft spielt seine Homosexualität eine wichtige Rolle. Auch wenn die direkte Konfrontation mit Islamfeindlichkeit und positivem Rassismus im Fall Ardas keine ausführliche Erwähnung findet, thematisiert sein Partner Kai (siehe Fall IV) die daraus resultierenden Auseinandersetzungen innerhalb der Partnerschaft. Die Erfahrungen mit rassistischen und islamophoben Diskriminierungen, die Arda in der Mehrheitsgesellschaft macht und im Interview nur skizzenhaft zur Sprache bringt, beeinflussen seine binationale Partnerschaft negativ. Ungeachtet der ambivalenten Erfahrungen Ardas mit Islamophobie zeigt die Studie, dass Can stärker von islamfeindlichen Handlungen betroffen ist. Er befindet sich in der Mehrheitsgesellschaft in einer spezifischen Position, in der er sich ständig gegen Vorurteile und Diskriminierungen wehren muss. Zu Beginn seiner Partnerschaft erfuhr Can latente islamfeindliche Diskriminierungen durch Familienangehörige des Partners. Islamophobie trat in Form eines kulturalistischen Rassismus auf und verursachte gravierende Probleme innerhalb der Partnerschaft. Da Can aufgrund seines Erscheinungsbildes und der vermeintlichen Islamzugehörigkeit ständig Konflikte mit seinem deutschen Partner und dessen Mutter hatte, wurde er bei fami-
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liären Zusammenkünften nicht akzeptiert, sondern ausgeschlossen. Auch hier zeigt sich die Verwobenheit mehrerer Diskriminierungsgründe. Nicht nur seine Erscheinung und der vermeintliche religiöse Hintergrund, sondern auch die Homosexualität führten zur Ablehnung seitens der Mutter seines Partners, die auch die Homosexualität des eigenen Sohnes nicht akzeptieren konnte. Zudem ist Can häufig von rassistischen Reaktionen in der Öffentlichkeit betroffen, wenn er zum Beispiel zurück in die Türkei verwiesen wird, obwohl er in keiner biographischen und institutionellen Verbindung zur Türkei steht. Da er als Türke angesehen wird, wird er zugleich auch mit dem Islam in Verbindung gebracht und ist somit kulturalistischem Rassismus ausgesetzt. Anders als Arda erfährt Can weder positiven Rassismus noch moralische Unterstützung durch seinen Partner. Schlussfolgerungen aus Vergleichsebene III: Obwohl Arda und Can nichts mit dem Islam zu tun haben, werden sie als praktizierende Muslime betrachtet, und ihnen werden negative bzw. exotische Merkmale zugeschrieben. Aufgrund islamfeindlicher Einstellungen in der Mehrheitsgesellschaft befinden sich einige Interviewpartner in einer Situation sozialer Verunsicherung. Wie der biologistische Rassismus bildet auch die Islamophobie als kulturalistischer Rassismus eine Barriere, die die Interviewpartner daran hindert, in der Mehrheitsgesellschaft soziale, kulturelle und wirtschaftliche Netzwerke aufzubauen. In dieser Hinsicht sind sie von Bildungs-, Arbeits- und von politischen Ressourcen ausgeschlossen. Eine derartige soziale Verunsicherung provoziert oft den Rückgriff auf bestimmte Identitätspolitiken: so vertreten Menschen, die über einen islamischen Hintergrund verfügen und in einer tendenziell islamfeindlichen Gesellschaft leben, häufig antimuslimische Positionen. (Als anderer Kontrast zu Fall I und Fall III siehe Fall V, Hamid.) Auf der Vergleichsebene des islamophoben bzw. kulturalistischen Rassismus lässt sich eine Verwobenheit des kulturalistischen und des biologistischen Rassismus erkennen. Menschen, die als Nicht-Deutsche angesehen werden, werden besonders dann diskriminiert, wenn man sie als Türk_innen oder Araber_innen einstuft. Die vorliegende Studie zeigt, dass die Diskriminierungserfahrungen der Interviewten sowohl auf ihre türkische als auch auf ihre angeblich islamische Herkunft zurückzuführen sind. Türkische Herkunft und Islamzugehörigkeit werden in der Mehrheitsgesellschaft miteinander assoziiert. 6.2.4 Vergleichsebene IV: Staatsangehörigkeit – Institutioneller Rassismus Auch die Staatsangehörigkeit spielt bei der Diskriminierung der von mir interviewten Schwulen eine signifikante Rolle. Die Akteur_innen dieser Form der Diskriminierung sind nicht nur Bürger_innen, sondern auch der Gesetzgeber sowie Beamt_innen und Angestellte, die die Gesetze korrekt oder willkürlich umsetzen.
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Besonders die ausländischen Interviewpartner, die durch das Lebenspartnerschaftsgesetz nach Deutschland kamen, sind von institutionellem Rassismus aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit betroffen. Während die EU-Bürger_innen als Bürger_innen Erster Klasse anerkannt werden1, kategorisiert man die Nicht-EU-Bürger_innen als Angehörige aus Drittländern. Aus dieser Hierarchisierung der in Deutschland lebenden Ausländer_innen resultiert auf der ersten Ebene eine institutionelle rassistische Diskriminierung und auf der zweiten Ebene soziale Ungleichheit innerhalb der gesamten Gesellschaft. Die im Herkunftsland erlangten Qualifikationen werden in Deutschland nicht anerkannt, und so droht ein sozialer Abstieg. Auf der Vergleichsebene der Staatsangehörigkeit als Basis für institutionelle rassistische Diskriminierung unterscheiden sich Arda und Can wesentlich voneinander. Arda wird schon während seiner Antragstellung für die Einreise nach Deutschland zum Zweck der Lebenspartnerschaftsschließung mit seinem Status als Angehöriger eines Drittlandes konfrontiert. Während die Bürger_innen der EU-Länder und anderer privilegierter Drittländer (Kanada, USA) ohne größere bürokratische Komplikationen nach Deutschland einreisen können, hatte Arda für sein Einreisevisum einen langen und schwierigen Weg zu gehen. Obwohl seine leibliche Mutter seit fast 40 Jahren in Deutschland lebt und arbeitet, konnte Arda von dieser Situation nicht profitieren. Arda und sein Partner mussten monatelang zwischen der deutschen Auslandsvertretung in der Türkei und der deutschen Ausländerbehörde pendeln, um das Visum zum Zweck der Lebenspartnerschaftsschließung zu erhalten. Nach einer langen und komplizierten Auseinandersetzung mit dem bürokratischen Verfahren konnte Arda zwar nach Deutschland einreisen, hatte jedoch mit künftigen Ungleichbehandlungen aufgrund seiner türkischen Staatsangehörigkeit zu rechnen. Seine Hochschulabschlüsse und beruflichen Qualifikationen wurden nicht anerkannt; zugleich musste er seine Existenz in Deutschland absichern. Aufgrund der Nachteile, die ihm aus seiner Staatsangehörigkeit entstanden, befand er sich in einer existenziellen und juristischen Abhängigkeit von seinem Partner. In dieser Situation musste er sich auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse einlassen, die seinen beruflichen Qualifikationen nicht entsprachen. Gleichzeitig hatte er gegen bürokratische Hürden zu kämpfen, um seine Situation verbessern zu können. Dieser Lebensabschnitt Ardas war demnach fremdbestimmt durch Gesetze und stark betroffen von institutionellem Rassismus aufgrund der Staatsangehörigkeit. Im Laufe seines weiteren Aufenthaltes in Deutschland konnte er mit der deutschen Staatsangehörigkeit einen privilegierten Status erlangen.
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An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass auch EU-Bürger_innen in unterschiedlicher Weise von Diskriminierungen betroffen sind. Die EU-Bürger_innen aus osteuropäischen Ländern, beispielsweise Roma und Sinti, werden trotz der EU-Gesetze benachteiligt.
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Da seine Mutter deutsche Staatsbürgerin ist, besitzt Can im Gegensatz zu Arda bereits seit seiner Geburt ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit. In Bezug auf institutionellen Rassismus erfährt Can daher in dieser Hinsicht keine direkten Diskriminierungen. Im Gegenteil genießt er als Deutscher einen privilegierten Status. So muss er keine Lebenspartnerschaft mit seinem Partner schließen, um sich weiterhin in seinem Geburtsland Deutschland aufhalten zu dürfen. Dieser Status ermöglicht ihm eine gewisse juristische Unabhängigkeit von seinem Partner. Schlussfolgerungen aus Vergleichsebene IV: Die Staatsangehörigkeit als Instrument des institutionellen Rassismus wurde am Beispiel der Lebenspartnerschaftsschließung binationaler Paare behandelt, da gerade an diesem Punkt viele schwule binationale Partnerschaften gegen Mehrfachdiskriminierungen und die damit zusammenhängenden bürokratischen Komplikationen kämpfen müssen. Der ausländische Partner, der nicht aus der EU kommt, wird oft verdächtigt, eine Scheinlebenspartnerschaft einzugehen. Obwohl die deutschen Behörden darüber informiert sind, dass homosexuelle Lebenspartnerschaften nicht in allen Ländern anerkannt sind, werden ausländische schwule Männer gezwungen, ein Ehefähigkeitszeugnis aus dem Herkunftsland vorzulegen, was zu einem Zwangsouting und zu homophoben Diskriminierungen führen kann. Nicht nur für die Gründung der Lebenspartnerschaft stellt die Nicht-EU-Staatsangehörigkeit eine Barriere dar, sondern auch während des Aufenthaltes in Deutschland kann der Status als Angehöriger eines Drittlandes institutionelle Diskriminierungen mit sich bringen. Beispiele hierfür sind die Verpflichtung zur regelmäßigen Vorlage von Nachweisen der eigenen Finanzsituation, die Verpflichtung zum dauerhaften Zusammenleben während der Partnerschaft etc. Diese Form der Diskriminierung ist mit einer anderen, mit der des Heteronormativismus, verflochten. Die binationalen schwulen Paare haben nicht nur in Deutschland Schwierigkeiten mit den Behörden, sondern auch in den Ländern, aus denen der ausländische Partner stammt. Da die eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft nicht weltweit anerkannt ist, sind sie auch außerhalb Deutschlands dem Heteronormativismus ausgesetzt. 6.2.5 Vergleichsebene V: Sexuelle Orientierung – Heteronormativismus Sowohl Arda als auch Can sind in unterschiedlicher Art und Weise mit Heteronormativität konfrontiert. Auf der Vergleichsebene der sexuellen Orientierung und der Diskriminierung durch Heteronormativismus werden die unterschiedlichen Situationen von Arda und Can aufgezeigt. Anders als auf den anderen Vergleichsebenen soll hierbei auf biographische Erfahrungen der Interviewpartner eingegangen werden: Arda wuchs in der Türkei bei seinem Vater auf, der als Schneider tätig war. Als alleinstehender Vater übernahm er die aus der heteronormativen Sicht traditionelle
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Rolle der Hausfrau (Kochen, Waschen, Nähen, Putzen etc.). Arda hat seinen Vater möglicherweise anders als andere Väter gesehen, was für die Sozialisation des Interviewpartners prägend gewesen sein musste. Er war in seiner Entwicklung nicht mit einer heteronormativen familiären Struktur konfrontiert. Zudem prägte ihn eine Transgeschlechtliche Person, die im Wohnviertel Ardas wohnte. Diese Vorbilder, der kochende, nähende, putzende Vater, sowie die Transgeschlechtliche Person aus der Nachbarschaft waren von signifikanter Bedeutung für Arda. Für seine Entwicklung waren jedoch nicht nur diese Bilder biographisch relevant, sondern auch der verständnisvolle Umgang seines Vaters mit Ardas Vorlieben. Ein Tänzer_innen Rock, den sein Vater für ihn genäht hatte, war ebenfalls von biographischer Relevanz. Mit diesem Rock trug sein Vater zur Dekonstruktion der heteronormativ geprägten Rollenverteilung von Mann und Frau bei und festigte Arda darin, eigenen Interessen unabhängig von sozialer Repression nachzugehen. In dieser Zeit seiner Entwicklung war Arda glücklich mit sich und konnte problemlos einen Rock tragen. Diese positive Entwicklung während seiner Kindheit ermöglichte es ihm, in der Zukunft zu seiner Homosexualität zu stehen und offen mit ihr umzugehen. Im Gegensatz zu Arda ist Cans Entwicklung von Schuldgefühlen, Ängsten und Gewissensproblemen geprägt. Dieser Umstand ist auf eine dominante heteronormative Gesellschaftsstruktur zurückzuführen. Anders als Arda stammt Can aus einem Dorf in Westdeutschland, wo eine starke soziale Kontrolle herrschte und offen lebende Schwule nicht anzutreffen waren. Can war sowohl in seinem häuslichen als auch in seinem sozialen Umfeld mit Heteronormativismus konfrontiert. So kam es während seiner Pubertät zu inneren Krisen, die er mit viel Mühe und nur unter großen Schwierigkeiten innerhalb von vier Jahren überwinden konnte. Die Konfrontation mit Homophobie und homophober Diskriminierung stellt sich bei beiden Interviewpartnern gegensätzlich dar: Während Ardas Vater und Bruder offen und verständnisvoll mit seiner Homosexualität umgegangen sind, haben die binationalen Eltern Cans ihn als Sohn abgelehnt und den Kontakt zu ihm abgebrochen. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass Arda nicht immer und überall auf homophile Reaktionen gestoßen ist. In diesem Punkt unterscheiden sich beide Interviewpartner voneinander. Während Can in seinem häuslichen Umfeld auf Ablehnung stieß, fand er in seinem Freundes- und Bekanntenkreis beachtliche Akzeptanz. Im Gegensatz zu ihm wird Arda von seiner Familie akzeptiert, begegnet jedoch in seinem sozialen Umfeld und im Laufe seines Lebens in der Türkei bestimmten homophoben Diskriminierungen, die aus heteronormativen patriarchalen Strukturen hervorgehen. In Anlehnung an die Fragestellung dieser Studie weise ich auch auf die Diskriminierungserfahrungen der deutschen Partner von Arda und Can hin. Uwe, Cans Partner, wurde bis zur Zeit des Interviews mit Can von dessen Mutter nicht als Schwuler akzeptiert, und Kai, Ardas Partner, war vor und während seines Coming-outs
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mit Heteronormativismus und Homophobie konfrontiert. Im Laufe seiner Lebensgeschichte konnte sich Kai durchsetzen und die Akzeptanz seiner Homosexualität und binationalen Partnerschaft durch die Familie erreichen, was für Can und Uwe nicht zutrifft. Ein weiterer Unterschied zwischen Arda und Can manifestiert sich in der Betroffenheit von institutioneller Homophobie. Arda ist sowohl in der Türkei als auch in Deutschland institutioneller Homophobie ausgesetzt. Im Rahmen seines Antrages auf Wehrdienstverweigerung aus gewissen Gründen musste er sich vor der türkischen Armee als schwul offenbaren. Nicht nur dieses Zwangsouting, sondern auch die Aufforderungen der türkischen Armee, Arda solle seine Homosexualität durch Fotos nachweisen, waren menschenverachtend. Er wurde etlichen medizinischen und psychiatrischen Untersuchungen unterzogen, bis man schließlich eine psychosexuelle Störung diagnostizierte. Diese Diagnose befreite ihn zwar von der Wehrpflicht, doch musste er im Nachhinein die Konsequenzen tragen: es wurden ihm das Beamtenrecht und das Recht auf eine Tätigkeit im Öffentlichen Dienst entzogen. Auch die in Deutschland erfahrene institutionelle Homophobie ist mit einem Zwangsouting verbunden. Im Rahmen seines Antrages auf Lebenspartnerschaftsschließung wurde er zur Vorlage eines türkischen Ehefähigkeitszeugnisses aufgefordert. Die Beibringung dieser Bescheinigung löste ein weiteres Zwangsouting vor den türkischen Behörden aus. Die institutionelle Homophobie des deutschen Standesamtes zeigt sich in der Insensibilität des Standesbeamten gegenüber ausländischen Homosexuellen, in deren Herkunftsländern homosexuelle Lebenspartnerschaften nicht anerkannt sind. Im Gegensatz zu Arda liefert Can keine Informationen über seine Erfahrungen mit institutioneller Homophobie. Da er nicht in einer eingetragenen Partnerschaft lebt, ist er diesbezüglich nicht mit den Behörden konfrontiert. Schlussfolgerungen aus Vergleichsebene V: Von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung sind sowohl deutsche als auch nicht-deutsche Interviewpartner in unterschiedlichem Maße betroffen. Dies liegt an der Selbstverständlichkeit der Heterosexualität in der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft. Da die in dieser Studie interviewten schwulen Männer sich nicht als heterosexuell definieren, sind sie generell seit ihrer Bewusstwerdung, also schon vor ihrer Entscheidung für ein homosexuelles Leben, mit Heteronormativismen konfrontiert. Ein wichtiges Ergebnis dieser Studie ist, dass auch die deutschen Interviewpartner innerhalb ihrer Familien sowie in ihrem Umfeld aufgrund ihrer Nicht-Heterosexualität wiederholt in Konflikte geraten sind, die sie teils immer noch auszutragen haben. Aus den Interviews ergibt sich, dass Heteronormativität und Homophobie nicht nur in sogenannten rückständigen islamischen Ländern existieren, sondern auch in fortschrittlichen westlichen Ländern – auch hier erfahren Homosexuelle Diskriminierungen. Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetztes sieht bis heute kein Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung vor, während andere Diskriminierungs-
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gründe – Geschlecht, Abstammung, „Rasse“, Sprache, Heimat und Herkunft, Glaube, religiöse und politische Anschauungen im Grundgesetz genannt werden. Auch hier ist nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass homophobe Diskriminierungen mit anderen Formen der Diskriminierung verwoben sind. Insbesondere die ausländischen und binationalen Interviewpartner erleben mehrfache bzw. intersektionelle Diskriminierungen nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch in ihren Herkunftsländern. Während es hier keinen oder nur unzureichenden gesetzlichen Schutz gegen Homophobie gibt, sind sie im Ankunftsland mit Homophobie und Rassismen konfrontiert. Auch die deutschen Partner erleben ähnliche Auseinandersetzungen mit Homophobie im Herkunftsort und am gegenwärtigen Wohnort Berlin. Diese Studie zeigt auf, dass auch die interviewten deutschen Partner in ihrem Herkunftsort Probleme mit homophoben Einstellungen hatten. So bezeichnen sie Berlin als Metropole, in der sexuelle Freiheit herrscht. Wenn Berlin in der Tat eine gewisse Freiheit für Homosexuelle bietet, so ist dieser Umstand u.a. darauf zurückzuführen, dass Metropolen andere Möglichkeiten der Diskretion und Anonymität bieten, als dies kleine Städte tun. Die türkischen Partner berichteten ebenfalls von der Möglichkeit, in türkischen Metropolen ihre mann-männlichen Beziehungen auszuleben (siehe Fall I (Arda) und Fall II (Ali). Diese Ergebnisse zeigen, dass Heteronormativität auch in Metropolen wie Berlin noch lange nicht beseitigt ist.
7. Fazit und Ausblick
In der vorliegenden Studie habe ich für die Analyse der biographischen narrativen Interviews zunächst die Auswertungsmethode von Fritz Schütze verwendet. Im Laufe der Analyse ausgewählter biographisch-narrativer Interviews hat sich herauskristallisiert, dass zusätzliche empirische Konzepte nötig sind, um die erlebten und erfahrenen Mehrfachdiskriminierungen in einem dekonstruktivistischen und gesellschaftskritischen Ansatz empirisch und theoretisch rekonstruieren und darstellen zu können. Zu diesem Zweck habe ich mich mit weiteren dekonstruktivistischen Analysekonzepten auseinandergesetzt und stieß so auf die Mehrebenenanalyse bzw. das Konzept der Intersektionalität von Nina Degele und Gabrielle Winker. Ihren intersektionalen Ansatz kombinierte ich mit der Auswertungsmethode für biographischnarrative Interviews nach Fritz Schütze, um so individuelle Diskriminierungserlebnisse in ihren soziopolitischen Zusammenhängen verstehen, erklären und begründen zu können. Diese Methodik ermöglichte es mir, die Verwobenheit, die Überschneidungen und das Zusammenwirken unterschiedlicher Diskriminierungsgründe anhand der ausgewerteten biographischen narrativen Interviews zu veranschaulichen. Die zentrale Frage meiner Studie lautete, welche Diskriminierungserfahrungen schwule Männer, die in Berlin in einer binationalen Partnerschaft leben, im Laufe ihrer Biographie machen, wie sie diese wahrnehmen, mit ihnen umgehen und sie verarbeiten. Sowohl für die Erzählungen der Interviewpartner als auch für die vorliegende qualitative Studie war diese Fragestellung der Ausgangpunkt. Die intersektionelle Analyse ausgewählter Interviews hat gezeigt, dass Mehrfachdiskriminierungen sowohl in der Aufnahmegesellschaft – aus Sicht der Migrant_innen – als auch in der Mehrheitsgesellschaft – aus Sicht der Nicht-Heterosexuellen, soziale Tatsachen sind, die in unterschiedlichen Ausformungen immer wieder das Leben der Interviewten durchdringen. Soziale und ethnisierte Herkunft, Glaubensausrichtung bzw. tatsächliche oder angebliche Religionszugehörigkeit, Staatsangehörigkeit, nicht deutsches Aussehen und sexuelle Orientierung verursachen Diskriminierungen in der Einwanderungsgesellschaft.
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Die vorliegende Studie konnte zeigen, dass Ausländer und als Ausländer angesehene Menschen in der Aufnahmegesellschaft wenig Chancengleichheit und Zugang zu wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen haben. Diese Chancenungleichheiten bestimmen in erster Linie die soziale Lage der Menschen und gelten als Hauptgrund für Diskriminierungen. Die ungleiche Verteilung der materiellen und immateriellen Ressourcen führt nicht nur innerhalb einer Bevölkerungsgruppe zu wirtschaftlichen und sozialen Differenzen, sondern auch in einer binationalen Partnerschaft. Da die ausländischen Partner situativ bedingt in wirtschaftlicher, sozialer und juristischer Hinsicht von ihrem deutschen Partner abhängig sind, entsteht innerhalb der Partnerschaft ein Machtgefälle, von dem besonders die Interviewpartner betroffen sind, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben und deren Aufenthaltstitel insofern von einer (fort)bestehenden Lebenspartnerschaft abhängt. Ferner ergibt sich aus der vorliegenden Untersuchung, dass die Diskriminierungserfahrungen der Interviewten überwiegend in Zusammenhang mit ökonomischen Aspekten des Rassismus stehen. Rassistische Handlungen entstehen nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern sie sind auch mit weiteren soziopolitischen Strukturen, wie z.B. Heteronormativität, Klassismus und kultureller Hegemonie eng verwoben. Beispielhaft für die Verwobenheit des Rassismus mit anderen Machtverhältnissen sind die naturalisierende Differenzierung und negative Wertung der Betroffenen als Angehörige einer unterlegenen Gruppe. Gegenwärtig werden Menschen, die kulturell anders sind und dem Islam angehören, als unterlegene Gruppe klassifiziert und negativ bewertet. An dieser Stelle nenne ich bewusst den Islam und nicht eine andere Religion, denn die tatsächlichen und angeblichen Angehörigen des Islams fungieren heute als Sündenböcke der westlichen Gesellschaften. Diese Studie zeigt, dass islamophober bzw. kulturalistischer Rassismus mit biologistischem Rassismus ineinander greift. So werden Menschen, die als Nicht-Deutsche angesehen werden, besonders diskriminiert, wenn man sie als Türken oder Araber einstuft. Es hat sich gezeigt, dass die Interviewten sowohl aufgrund ihrer türkischen als auch aufgrund ihrer tatsächlichen oder angeblichen islamischen Herkunft diskriminiert werden. Türkische Herkunft wird in der Mehrheitsgesellschaft mit der Islamzugehörigkeit assoziiert. Des Weiteren spielt die Staatsangehörigkeit als Mittel des institutionellen Rassismus eine signifikante Rolle: Am Beispiel der Lebenspartnerschaftsschließung binationaler Paare kann gezeigt werden, dass viele schwule binationale Partnerschaften gegen Mehrfachdiskriminierungen und die damit zusammenhängenden bürokratischen Komplikationen zu kämpfen haben. Wenn der ausländische Partner nicht aus der EU kommt, wird er meist verdächtigt, eine Scheinlebenspartnerschaft gründen zu wollen oder gegründet zu haben. Die obligatorische Beibringung eines Ehefähigkeitszeugnisses zwingt die ausländischen schwulen Männer zu einem ungewollten Outing, da sie verpflichtet sind, ihre zukünftige Ehefrau bei der zuständigen
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Behörde registrieren zu lassen. Nachdem sie dieser Aufforderung nicht nachkommen können, müssen sie sich als schwul offenbaren, was zur Folge hat, dass die Behörden die Erstellung der Unterlagen verweigern. Nicht nur für die Gründung der Lebenspartnerschaft stellt die Nicht-EU-Staatsangehörigkeit eine Barriere dar, sondern auch während des Aufenthaltes in Deutschland kann der Status als Angehöriger eines Drittlandes institutionelle Diskriminierungen mit sich bringen. Die Interviews machen deutlich, dass Homophobie und Heteronormativität nicht nur in rückständigen islamischen Ländern existieren, sondern auch in fortschrittlichen westlichen Ländern; sie legen Zeugnis darüber ab, dass Homosexuelle auch in der Einwanderungsgesellschaft, in der eine kapitalistische Gesellschaftsordnung vorherrscht, Diskriminierungen ausgesetzt sind. Die Erfahrungen der in dieser Studie interviewten schwulen Männer verdeutlichen, dass die Diskriminierungsgründe eng miteinander verflochten sind: Einer Person, die schwul und ausländisch ist, aus sozial schwachen Verhältnissen kommt und möglicherweise über einen islamischen Hintergrund verfügt, wird der Zugang zu wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Ressourcen verwehrt. Hier spielen klassistische, rassistische, kulturalistische und heteronormative Machtverhältnisse eine große Rolle. Diese Machverhältnisse überschneiden sich beispielsweise in dem Moment, in dem sich die Person für eine Anstellung bewirbt. Nicht immer wirken alle diese Machverhältnisse zusammen, mitunter wechseln sie sich ab. Einer der Interviewten konnte sich nicht erklären, aus welchem Grund er von der Mutter seines Partners abgelehnt wurde. Er brachte lediglich seine Vermutung zum Ausdruck, dass seine Homosexualität, sein kultureller Hintergrund oder sein Erscheinungsbild der Grund für die Diskriminierung sein könnten. Diese verschiedenen Diskriminierungsgründe können sich auch gegenseitig bedingen: Ein Schwuler kann diskriminiert werden, weil er aus der Türkei kommt. Ebenso kann ein deutscher Mann durch seine Familie oder Freund_innen diskriminiert werden, wenn er mit einem Mann, der einer türkisch islamischen Minderheit angehört, eine Lebenspartnerschaft eingehen will. Ein binationales schwules Paar kann institutionellen Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt sein. Die mehrdimensionalen Diskriminierungen gehen also von den Ein- und Ausschlussmechanismen bestimmter Machtinstanzen aus. Durch die kulturalistischen, rassistischen, heteronormativen und klassistischen Differenzierungen zwischen uns und ihnen werden die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Ressourcen nicht nur ungleich verteilt – bestimmte Menschen und Menschengruppen werden sogar gänzlich von dieser Verteilung ausgeschlossen. So wird in christlich geprägten kapitalistischen Ländern zwischen Gut und Böse, Eigenem und Fremdem, Westlichem und Nicht-westlichem, Fortschrittlichem und Rückständigem, zwischen Frau und Mann, dem Islam und dem Rest der Welt etc. unterschieden. Zur Aufrechterhaltung der vorhandenen Ressourcenverteilung werden immer neue Unterschiede hinzuerfunden, wie es Albert Memmi formuliert hat (siehe Abschnitt 2.2.2).
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An dieser Stelle meiner Dissertation werden politische und gesellschaftskritische Aspekte der Forschung relevant. Die Mehrfachdiskriminierungen sind Ergebnisse von Mehrfachzuschreibungen und sozialen Konstruktionen. Die soziale Konstruktion eines imaginären Wir bedingt die Konstruktion eines Anderen. Erfundene Differenzen bezüglich Sexualität, Staatsangehörigkeit, „Rasse“ und Kultur werden instrumentalisiert, um eigene Ressourcen vor Fremdem zu schützen. Umgesetzt wird dieses Streben durch den konsequenten Ausschluss der Fremden. Es ist dieser Studie gelungen, aufzuzeigen, dass Differenzierungen für wirtschaftliche und politische Zwecke instrumentalisiert werden. Alle von mir interviewten Personen sind täglich mit Differenzierungen konfrontiert und tragen die Konsequenzen einer Politik der Differenz zwischen Eigenem und Fremdem. Zudem hat die Studie belegt, auf welch unterschiedliche Weise Individuen von Diskriminierungen betroffen sind, wie verschieden sie sie wahrnehmen, mit ihnen umgehen, sie verarbeiten, bewältigen oder sich infolge sich wiederholender Diskriminierungen ohnmächtig fühlen. Die Untersuchung konnte ferner zeigen, dass die Interviewpartner über unterschiedliche soziale, politische und wirtschaftliche Ressourcen verfügen, die ihre Handlungsmöglichkeiten bestimmen. Da sich diese Studie soziologisch mit dem Thema der Diskriminierung und deren Folgen auseinandergesetzt hat, bleiben einige Fragen offen, die in anderen sozialwissenschaftlichen Arbeiten beantwortet werden können. Die Frage nach unterschiedlichen Bewältigungsstrategien, Handlungsmöglichkeiten bzw. Handlungsunfähigkeiten gegenüber Mehrfachdiskriminierungen beispielweise konnte nicht direkt beantwortet werden. Jedes Individuum hat unterschiedliche soziale, kulturelle und wirtschaftliche Lebensbedingungen, die seine Handlungen stark prägen. Während sich ein Individuum gegen Mehrfachdiskriminierungen erfolgreich wehren kann, ist ein anderes Individuum möglicherweise nicht in der Lage, soziale Benachteiligungen zu bekämpfen. An diesem Punkt sind sozialpsychologische und psychologische Auseinandersetzungen erforderlich, um die Gründe unterschiedlicher Handlungsmuster von Individuen zu analysieren und weitere Lösungsmöglichkeiten für die Folgen von Diskriminierung zu finden. Diese Studie kann vorhandene diskriminierende Machtinstanzen nicht abschaffen, doch kann sie das Phänomen der Diskriminierung und der Mehrfachdiskriminierung in den westlichen Gesellschaften deutlich machen und am Beispiel Berlin weitere wissenschaftliche, soziokulturelle und politische Projekte anregen, bzw. zur Aufklärung und Sensibilisierung beitragen.
Literatur
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L ITERATUR
| 409
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410 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE
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412 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE
ANHANG I: T ABELLEN Tabelle 1: Überblick über die Segmente des ersten Interviews mit Arda Segment
Thema
Themenkategorie
1
Kindheit
Sexuelle Orientie-
Zeile 15-29
rung 2
Partnerschaften
Sexuelle Orientie-
3
Transvestit des
Sexuelle Orientie-
Wohnviertels
rung
30-54
rung 55-74
4
Selbstakzeptanz
Coming-out
75-90
5
Coming-out im
Coming-out
91-119
Diskriminierung
120-141
Familie
142-171
Familie
175-181
Hörsaal 6
Diskriminierung nach dem Comingout im Hörsaal
7
Mutter–Sohn–
8
Stiefvater–
Beziehung Halbbruder 9
Leiblicher Bruder
Familie
182-196
10
Kulturelle Differen-
Familie-
197-219
zen
Partnerschaft
Erste Reise nach
Familie
220-241
Familie
241-273
Migration
274-292
Dritter Aufenthalt
Migration-
292–338
und Partnerschaft in
Partnerschaft
11
Deutschland 12
Gewalt durch den
13
Zweiter Aufenthalt
Stiefvater in Deutschland 14
Deutschland 15
Die Beziehung
Partnerschaft
338-348
16
Kontakt zu der
Partnerschaft
348-372
Partnerschaft
373-391
Politische Meinung
392-407
Schwiegerfamilie 17
Kulturelle Unter-
18
Lebenspartner-
schiede schaftsgesetz
A NHANG
19
Rückkehrgedanken
Diskriminierung
407-442
20
Diskriminierungs-
Diskriminierung
443-541
Politische Meinung
541-550
Partnerschaft
551-563
Berufsleben
564-594
Coming-out
595-601
erlebnisse in der Türkei 21
Befindlichkeit in Berlin
22
Binationale
23
Homosexualität und
Partnerschaft Job 24
Akzeptanz durch die Mutter
Tabelle 2: Überblick über Segmente des zweiten Interviews mit Ali Segment
Thema
Themenkategorie
Zeile
1
Kurzbiographie
Biographie
1-65
2
Schwulsein
Sexuelle Orientie-
66-86
rung 3
Schwulsein
Sexuelle Orientie-
87-116
4
Differenzen/
Sexuelle Orientie-
Einsamkeit
rung
5
Doppelleben
Heteronormativität
135-153
6
Tarnung der Homo-
Heteronormativität
153-198
Heteronormativität
199-216
Biographie
217-230
Heteronormativität
231-269
Migration
269-292
Homosexualität
292-367
rung 117 -134
sexualität in Jugendzeit 7
Familiäre Unterdrückung
8
Abbruch des Studiums
9
Heterosexuelle Partnerschaften
10
Versuch einer Scheinheirat in Deutschland
11
Erste schwule Beziehung in Deutschland
| 413
414 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE 12
Wehrdienst in der
Biographie
367-459
Eintragung der
Migration und
460-490
LPart in Deutsch-
LPart
Türkei 13
land 14
Kennenlernen des
Partnerschaft
491-620
Partnerschaft
621-639
Partnerschaft
640-690
Partnerschaft
691-734
Migration
734-826
Partners 15
Heterosexuelle Ehe des Partners
16
Auswahl des Partners
17
„Kulturelle“ Differenzen
18
Soziale Verhältnisse in Deutschland
19
Lebenspartnerschaft
Partnerschaft
827-866
20
Soziales Umfeld
Partnerschaft
867-931
21
Mutter-Sohn-
Familie
931-948
des Partners Beziehung 22
Diskriminierung
Diskriminierung
948-1019
23
Anpassung und
Migration
1020-1119
Homosexuelle
1120-1168
LPartG
1169-1271
Coming-out
1272-1379
Fremdheit 24
Kritik an Homosexuellen
25
LPartG vs. hetero-
26
Coming-out am
sexuelle Ehe Arbeitsplatz 27
Biographisches
Biographie
1380-1421
28
LPart. in Deutsch-
Migration
1422-1513
Migration
1514-1646
land 29
Vergleich zw. Deutschland und Türkei
A NHANG
Tabelle 3: Überblick über die Segmente des dritten Interviews mit Can Segment
Thema
Themenkategorie
Zeile
1
Schwulsein
Sexuelle Orientie-
7-29
rung 2
Coming-out
Sexuelle Orientie-
30-55
rung 3
Kennenlernen des
Partnerschaft
56-100
Partnerschaft
101-164
Partnerschaft
165-209
Differenzen
Partnerschaft
210-315
Freundeskreis des
Partnerschaft
316-400
Partners 4
Beziehungskonflikte
5
Konflikte wegen d. Partners u. d. Familie
6 7
Partners 8
Familie des Partners
Diskriminierung
401-501
9
Partner und eigener
Partnerschaft
502-532
Partnerschaft
533-725
Partnerschaft
725-765
Partnerschaft
766-775
Homosexualität
776-817
Freundeskreis 10
Verschlechterung der Beziehung
11
Meinung zum
12
Auswahl des Part-
LPartG ners 13
Schwule Szene in Großstädten
14
Familie
Familie
818-948
15
Deutschsein
„Herkunft“
948-952
16
Schwulsein
Sexuelle Orientie-
953-1026
rung 17
Selbstakzeptanz
Coming-out
1027-1059
18
Erfahrung mit Ras-
Diskriminierung
1060-1103
sismus 19
Externe Nachfragen
Biographie
1104-1148
20
Homophobie
Diskriminierung
1149-1171
| 415
416 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE 21
Externe Nachfragen
Biographie
1172-1208
22
Internat
Biographie
1209-1250
23
Bilanzierung
Partnerschaft
1251-1440
Tabelle 4: Überblick über die Segmente des vierten Interviews mit Kai Segment
Thema
Themenkategorie
Zeile
1
Schlechte Erfah-
Diskretion
1-60
rung mit Interviews 2
Biographie
Biographie
61-95
3
Kennenlernen des
Partnerschaft
96-145
Partnerschaft
146-178
Partnerschaft
179-241
Partners 4
Anfang der Beziehung
5
Eintragung der Partnerschaft
6
Diskriminierung
Diskriminierung
242–268
7
Soziales Umfeld
Integration
269-315
Kontakt zu Freun-
Akzeptanz-
316-359
dInnen des Part-
Diskriminierung
8
ners 9
Kontakt zur Fami-
Akzeptanz-
lie des Partners
Diskriminierung
10
Kontakt zur Fami-
Akzeptanz-
lie des Partners
Diskriminierung
11
Homophobie der
Akzeptanz-
Verwandten
Diskriminierung
Schwulsein in der
Diskriminierung
402-411
Coming-out
412-465
Partnerschaft
466-515
Partnerschaft
516-525
Heteronormativität
526-563
12
360-371 372-384 385-401
kleinen Stadt 13
Schwulsein auf dem Arbeitsplatz
14
„Kulturelle“ Differenzen
15
Gemeinsame
16
LPartG
Freunde
A NHANG
17
Sexuelle Orientie-
Sexuelle Orientie-
564-609
rung
rung
18
Mutter-Sohn-
Heteronormativität
610-620
Heteronormativität
621-633
Diskriminierung
634-680 681-729
Beziehung 19
Homosexualität heute
20
Herkunftsfamilie des Partners
21 22
Als schwules Paar
Akzeptanz -
in der Türkei
Diskriminierung
Wehrdienstver-
Biographie
730-807
Eintragung der
Institut. Diskrimi-
808-850
Lebenspartner-
nierung
weigerung 23
schaft 24
Rassismus und
Rassismus
851-892
Partnerschaft
893-1038
Homophobie 25
Konflikte in der Partnerschaft
Tabelle 5: Überblick über die Segmente des fünften Interviews mit Hamid Segment
Thema
Themenkategorie
1
Familie
Sozialisation
Zeile 1-4
2
Religiöse Erziehung
Sozialisation
4-13
Sozialisation
13-19
Sozialisation
19-26
Sozialisation
26-36
Familie
36-45
46-60
in der Kindheit 3
Pubertät und Religiosität
4
Soziales Umfeld in der Schulzeit
5
Pubertät und Reli-
6
Vater als männli-
giosität ches religiöses Vorbild 7 8
Sexuelle Entwick-
Sexuelle Entwick-
lung vs. Religion
lung
Auseinanderset-
Religion
zung mit der Religion
60-69
| 417
418 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE 9
Konflikt mit der
Religion
69-79
79-101
Religion des Vaters 10
Sexuelle Entwick-
Sexuelle Entwick-
lung und Eltern
lung
11
Konflikt mit Vater
Familie
102-106
Coming-out
106-121
Religion
121-128
Partnerschaft
128-139
Partnerschaft
139-151
Partnerschaft
151-169
Coming-out
169-175
Homophobie
176-215
Homophobie
216-236
Familie
236-248
Therapie
249-260
Familie
260-277
Therapie
277-281
Familie
281-299
Religion
299-347
und Religion 12
Coming-out gegenüber der Mutter
13
Umgang mit der Religion
14
Kennenlernen des Partners
15
Partnerschaft und Angst vor dem Vater
16
Doppelleben und Beziehungsprobleme
17
Coming-out gegenüber dem Vater
18
Coming-out, Religion und Vater
19
Umgang mit den Folgen des Coming-outs
20
Verhältnis zum Vater nach Coming-out
21
Therapie als Bewältigungsstrategie
22
Probleme einer binationalen Familie
23
Abschluss der Therapie
24
Verhältnis zum Vater
25
Einstellung zur Religion
A NHANG
26
Pakistanstämmige
27
Muslimische Mig-
Familie
348-380
Migrant_innen
380-388
Religion
388-395
Migrant_innen
396-436
Familie
436-446
Familie
447-462
Familie
462-484
Familie
485-508
Familie und Migra-
508-521
Frau des Vaters rant_innen 28
Religion und Verwandte väterlicherseits
29
Migrant_innen und deutsche Mehrheit
30
Vor und Nachteile binationaler Erziehung
31
Konversion der Mutter zum Islam
32
Erziehung durch die Mutter
33
Bilinguale Eltern und Sprachprobleme
34 35
Vorbehalte des Vaters gegen Mehrheit
tion
Bewertung der
Partnerschaft
521-557
Partnerschaft
557-579
Ansichten des Partners 36
Verhältnis zur Familie des Partners
37
Partner
Partnerschaft
580-598
38
Verhältnis zu
Familie
598-604
Therapie
605-630
eigener Mutter 39
Psychische Lage nach Streit mit dem Vater
40
Freundeskreis
Soziales Umfeld
631-640
41
Freundeskreis des
Soziales Umfeld
640-649
Soziales Umfeld
649-702
Partners 42
Kontakt mit früheren Mitschüler_innen
| 419
420 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE 43
Partner als Vorbild
Partner
702-721
44
Glaube
Religion
721-730
45
Unterstützung
Partnerschaft
731-768
Unterstützung
Familie des Part-
768-777
durch Familie des
ners
durch d. Partner 46
Partners 47
Angst vor dem
Homophobie
777-792
Homophobie
793-805
Partnerschaft
805-816
Familie
816-918
Biographie
919-969
Vater nach Coming-out 48
Kündigung der Wohnung
49
Die Haltung des Partners
50
Kontakt mit dem Vater
51
Externe Nachfragen
Tabelle 6: Überblick über die Segmente des sechsten Interviews mit Frank Segment
Thema
Themenkategorie
Zeile
1
Biographie
Biographie
2
Sexuelle Entwicklung
Sexuelle Entwicklung
3
Studium
Biographie
139-184
4
Kontakt zu Schwulen
Schwule Szene
185-205
5
Coming-out
Coming-out
206-356
6
Familie
Familie
357-427
7
Coming-out bei Freunden
Coming-out
427-520
8
Homosexualität
Homosexualität
520-565
9
Partnerschaft
Partnerschaft
566-712
10
Gemeinsame Wohnung
Partnerschaft
713-906
11
Partnerschaft
Partnerschaft
907-1018
12
Lebenspartnerschaftsgesetz
Politische Haltung
1019-1056
1-7 7-139
421 | HOMOPHOBIE UND I SLAMOPHOBIE
ANHANG II Abkürzungsverzeichnis AGG: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz AHA: Allgemeine Homosexuelle Arbeitsgemeinschaft AIDS: Acquired Immune Deficiency Syndrome BGB: Bürgerliches Gesetzbuch BRD: Bundesrepublik Deutschland CDU: Christlich-Demokratische Union CSU: Christlich-Soziale Union DDR: Deutsche Demokratische Republik EG: Europäische Gemeinschaft EU: Europäische Union EUMC: European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia FDP: Freie Demokratische Partei HAW: Homosexuelle Aktion Westberlin HIV: Humanes Immundefizienz-Virus IHWO: Internationale Homophile Welt-Organisation IJGD: Internationale Jugendgemeinschaftsdienste LPartG: Lebenspartnerschaftsgesetz LSBTT: Lesben, Schwulen, Bisexuelle, Transvestiten und Transsexuelle LSVD: Lesben und Schwulen Verband Deutschland NSDAP: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei RStGB: Reichsstrafgesetzbuch StGB: Strafgesetzbuch SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands SVD: Schwulen Verband Deutschland UNESCO: United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization VSG: Verein für sexuelle Gleichberechtigung, WHK: Wissenschaftlich-humanitäres Komitee Wichtige Transkriptionszeichen S.z.v.: Schwer zu verstehen […]: Auslassung (.): eine Sekunde Pause (..): zwei Sekunde Pause (…): drei sekunde Pause (4 Sek.): Vier Sekunde Pause etc. [Wort/Satz]: Ergänzung/Erklärung durch den Interviewer