Neurologie mit Repetitorium [unkorr. Nachdr. d. 1.Aufl. 1990. Reprint 2011] 9783110850291, 9783110107678


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German Pages 900 [904] Year 1990

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Table of contents :
1 Untersuchungsmethoden
2 Neurologische Syndrome
3 Neuropsychologische Syndrome
4 Fehlbildungen und frühkindliche Hirnschäden
5 Raumfordernde Prozesse
6 Sogenannte degenerative Krankheiten
7 Stammganglienerkrankungen
8 Entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems und seiner Hüllen
9 Erkrankungen des Nervensystems durch tierische Parasiten
10 Entmarkungskrankheiten
11 Syphilis des Nervensystems
12 Traumen
13 Gefäßkrankheiten
14 Epilepsien
15 Nichtepileptische Anfälle
16 Schlafstörungen
17 Neurologische Schmerzsyndrome
18 Krankheiten und Schäden des peripheren Nervensystems und der Hirnnerven
19 Stoffwechselstörungen des Nervensystems
20 Avitaminosen
21 Alkoholschäden am Nervensystem
22 Unerwünschte Arzneimittelwirkungen am Nervensystem
23 Muskelerkrankungen
24 Myasthenia gravis und andere Myastheniesyndrome
25 Beteiligung des Nervensystems bei extraneuralen Grundkrankheiten
26 Rehabilitation bei neurologischen Erkrankungen
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Neurologie mit Repetitorium [unkorr. Nachdr. d. 1.Aufl. 1990. Reprint 2011]
 9783110850291, 9783110107678

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Lehrbuch Neurologie

Mit Beiträgen von H.-H. von Albert, D. Bechinger, H. U. Benz, K. L. Birnberger, F. Broser, P. Brühl, H. J. Büdingen, P. Ciarenbach, V. Faust, W. Fröscher, W. Gehlen, F. L. Glötzner, F. Gullotta, G. Haferkamp, K. Harzer, R. Heitmann, R. Hohlfeld, Η. H. Janzik, E. Mehdorn, T. Mergner, J. Mewes, B. Müller-Oerlinghausen, K.-D. Neher, J. Peiffer, W. Poll, B. Preilowski, G. Ritter, Η. I. Schipper, L. G. Schmidt, V. Schuchardt, M. Stöhr, P. Stoeter, W. Tackmann, Κ. V. Toyka, E. Volles

Lehrbuch

Neurologie mit Repetitorium

Herausgegeben von W. Fröscher

w DE

G

Walter de Gruyter Berlin · New York 1991

Prof. Dr. med. Walter Fröscher Psychiatrisches Landeskrankenhaus Weissenau Abteilung Psychiatrie I der Universität Ulm Neurologische Abteilung D-7980 Ravensburg-Weissenau Dieses Buch enthält 223 Abbildungen und 38 Tabellen

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lehrbuch Neurologie : mit Repetitorium / hrsg. von W. Fröscher. Mit Beitr. von H.-H. von Albert ... - Berlin ; New York : de Gruyter, 1990 ISBN 3-11-010767-8 NE: Fröscher, Walter [Hrsg.]; Albert, Hans-Henning von [Mitverf.]; Neurologie © Copyright 1990 by Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen und dergleichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, daß solche Namen ohne weiteres von jedermann benutzt werden dürfen. Vielmehr handelt es sich häufig um gesetzlich geschützte, eingetragene Warenzeichen, auch wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind. Printed in Germany Didaktisches Konzept: Dr. U. Herzfeld, Gaiberg Typographie: D. Plake, Berlin Zeichnungen: H. R. Giering-Jänsch, Berlin Umschlagentwurf: Rudolf Hübler, Berlin Lichtsatz: INTERDRUCK Graphischer Großbetrieb Leipzig 111/18/87 Druck: Appl. Wemding Bindung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin

Vorwort

Wie in der Humanmedizin allgemein, ist auch in der Neurologie ein rascher Erkenntniszuwachs zu verzeichnen. Um so wichtiger wird die Auswahl des Stoffes und die Art und Weise seiner Darstellung für den Studierenden und den Arzt. Das Konzept fur dieses Lehrbuch ist ein duales - einerseits ein am Gegenstandskatalog ausgerichteter Leitfaden für das „nervenheilkundliche bzw. neurologische Stoffgebiet" und andererseits ein Lehrbuch im klassischen Sinne mit umfassender Information auch für den Fortgeschrittenen. Die Gliederung des Stoffes orientiert sich am Gegenstandskatalog; wo es der Bezug zur klinischen Praxis erforderte, wurden Krankheitsbilder in eigenen Kapiteln herausgestellt. Die Marginalie beinhaltet ein Repetitorium, um beim Lernen den roten Faden und die wichtigsten Fakten rasch wiederholen zu können. Zahlreiche Abbildungen und Tabellen tragen zum Verständnis Großer Wert wurde auf die ausführliche Darstellung der neurologischen Untersuchungstechniken sowie der neurologischen Syndrome gelegt. Diese Kapitel bilden das Fundament für das Verständnis der einzelnen KrankheitsbilUm den jeweils neuesten lehrbuchrelevanten Stand der Forschung wiedergeben zu können, wurde ein Team von Autoren mit Spezialkenntnissen gebildet. Als Herausgeber danke ich allen Mitautoren herzlich für die gute Zusammenarbeit. Besonders danken möchte ich dem de Gruyter-Verlag und seinen Mitarbeitern, insbesondere Herrn Dr. R. Radke, Verlagsdirektor Medizin, Herrn Dr. U. Herzfeld, Frau Helga Duksch und Frau Ingrid Ullrich. Herrn Prof. Dr. V. Faust, Abteilung Psychiatrie I der Universität Ulm, danke ich für viele wertvolle Ratschläge, meiner Sekretärin Frau Gudrun Poser für ihre unentbehrliche Mitarbeit. Ravensburg-Weissenau, im April 1990

Walter Fröscher

Anschriftenverzeichnis der Autoren

ALBERT, H.-H. von, Prof. Dr. med. Neurologische Abteilung des Bezirkskrankenhauses Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Str. 2, D-8870 Günzburg

GEHLEN, W., Prof. Dr. med. Neurologische Universitätsklinik des Knappschafts-Krankenhauses Bochum-Langendreer In der Schornau 23-25, D-4630 Bochum-Langendreer

BECHINGER, Doris, Prof. Dr. med. Neurologische Klinik der Universität Ulm Steinhövelstr. 9, D-7900 Ulm

GLÖTZNER, F. L., Prof. Dr. med. Neurologische Abteilung des Krankenhauses Rummelsberg Postfach 60, D-8501 Schwarzenbruck

BENZ, H. U., Dr. med. Kurklinik Wildbad Baetznerstr. 92, D-7547 Wildbad 1 BIRNBERGER, K. L„ Prof. Dr. med. Neurologische Klinik des Bezirkskrankenhauses D-8360 Deggendorf 5 BROSER, F., Prof. Dr. med. Tilsiter Str. 31, D-6703 Limburger Hof/Pfalz

GULLOTTA, F., Prof. Dr. med. Institut für Neuropathologie der Universität Münster Domagkstr. 17, D-4400 Münster HAFERKAMP, G., Prof. Dr. med. Neurologische Klinik der Henriettenstiftung Schwemannstr. 19, D-3000 Hannover 71

BRÜHL, P., Prof. Dr. med. Urologische Universitätsklinik Bonn Sigmund-Freud-Str. 25, D-5300 Bonn 1

HARZER, K , Prof. Dr. med. Institut für Hirnforschung der Universität Tübingen - Sektion Neurochemie Schwärzlocherstr. 79, D-7400 Tübingen

BÜDINGEN, H. J., Prof. Dr. med. Neurologische Abteilung des St. Elisabethen-Krankenhauses Elisabethenstr. 15, D-7980 Ravensburg

HEITMANN, R., Prof. Dr. med. Abteilung für Neurologie der Rheinischen Landesklinik Bonn Kaiser-Karl-Ring 20, D-5300 Bonn 1

CLARENBACH, P., Prof. Dr. med. Ev. Johannes-Krankenhaus Neurologische Abteilung Schildescher Str. 99, D-4800 Bielefeld

HOHLFELD, R., Prof. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität Klinikum Großhadern Neurologische Klinik Marchioninistr. 15, D-8000 München 70

FAUST, V., Prof. Dr. med. Psychiatrisches Landeskrankenhaus Weissenau Abteilung Psychiatrie I der Universität Ulm D-7980 Ravensburg-Weissenau FRÖSCHER, W., Prof. Dr. med. Psychiatrisches Landeskrankenhaus Weissenau Abteilung Psychiatrie I der Universität Ulm Neurologische Abteilung D-7980 Ravensburg-Weissenau

JANZIK, Η. H., Dr. med. Neurologisches Rehabilitationszentrum „Godeshöhe" Waldstr. 2, D-5300 Bonn 2 MEHDORN, E., Prof. Dr. med. Medizinische Universität Lübeck Klinik für Augenheilkunde Ratzeburger Allee 160, D-2400 Lübeck

VIII

Anschriftenverzeichnis der Autoren

MERGNER, Τ., Prof. Dr. med. Klinikum der Albert-Ludwigs-Universität Abt. Klinische Neurologie und Neurophysiologie Hansastr. 9, D-7800 Freiburg i. Br.

Schipper, Η. I., Priv.-Doz. Dr. med. Klinikum der Philipps-Universität Marburg Klinik für Neurologie Rudolf-Bultmann-Str. 8, D-3550 Marburg

MEWES, J , Dr. med. Abteilung für Neurologie der Rheinischen Landesklinik Bonn Kaiser-Karl-Ring 20, D-5300 Bonn 1

SCHMIDT, L. G., Dr. med. Psychiatr. Klinik der Freien Universität Berlin Eschenallee 3, D-1000 Berlin 19

MÜLLER-OERLINGHAUSEN, B , Prof. Dr. med. Psychiatr. Klinik der Freien Universität Berlin Bereich Klinische Psychopharmakologie Eschenallee 3, D-1000 Berlin 19 NEHER, K.-D., Dr. med. Psychiatrisches Landeskrankenhaus Weissenau Abteilung Psychiatrie I der Universität Ulm Neurologische Abteilung D-7980 Ravensburg-Weissenau PEIFFER, I., Prof. Dr. med. Institut für Himforschung der Universität Tübingen Calwerstr. 3, D-7400 Tübingen POLL, W., Dr. med. Neurochirurgische Abteilung des St. Elisabethen-Krankenhauses Elisabethenstr. 15, D-Ravensburg PREILOWSKI, B., Prof. Dr., M. Sc., Ph. D. Psychol. Institut der Universität Tübingen Rasthalde 3, D-7980 Ravensburg-Weissenau RITTER, G., Prof. Dr. med. Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40, D-3400 Göttingen

SCHUCHARDT, V., Priv.-Doz. Dr. med. Neurologische Univ.-Klinik Im Neuenheimer Feld 400, D-6900 Heidelberg STÖHR, M„ Prof. Dr. med. Krankenhauszweckverband Augsburg Neurologische Klinik Postfach 10 19 20, D-8900 Augsburg STOETER, P., Prof. Dr. med. Neuroradiologische Abteilung des St. Elisabethen-Krankenhauses Elisabethenstr. 15, D-7980 Ravensburg TACKMANN, W., Prof. Dr. med. Neurologische Abteilung der Weserbergland-Klinik Am Hang, D-3470 Höxter TOYKA, Κ. V., Prof. Dr. med. Neurologische Universitäts-Klinik und Poliklinik im Kopfzentrum Josef-Schneider-Str. 11, D-8700 Würzburg VOLLES, E., Prof. Dr. med. Abteilung für Neurologie und Neuropsychiatrie der Klinik Schildautal Karl-Herold-Str. 1, D-3370 Seesen

Kurzinhaltsverzeichnis

15 Nichtepileptische Anfälle

633

125

16 Schlafstörungen

647

3 Neuropsychologische Syndrome

241

17 Neurologische Schmerzsyndrome

659

4 Fehlbildungen und frühkindliche Hirnschäden

285

18 Krankheiten und Schäden des peripheren Nervensystems und der Hirnnerven

671

5 Raumfordernde Prozesse

305 19 Stoffwechselstörungen des Nervensystems

723

1 Untersuchungsmethoden

1

2 Neurologische Syndrome

6 Sogenannte degenerative Krankheiten

. . . .

.

.

.

347 20 Avitaminosen

749

21 Alkoholschäden am Nervensystem

757

22 Unerwünschte Arzneimittelwirkungen am Nervensystem

769

435

23 Muskelerkrankungen

779

10 Entmarkungskrankheiten

447

24 Myasthenia gravis und andere drome

11 Syphilis des Nervensystems

463

12 Traumen

477

25 Beteiligung des Nervensystems bei extraneuralen Grundkrankheiten

813

13 Gefäßkrankheiten

511

26 Rehabilitation bei neurologischen Erkrankungen .

839

14 Epilepsien

579

7 Stammganglienerkrankungen 8 Entzündliche Erkrankungen des systems und seiner Hüllen

369 Zentralnerven-

9 Erkrankungen des Nervensystems durch tierische Parasiten

393

Myastheniesyn803

Inhaltsverzeichnis

1

Untersuchungsmethoden . . . .

1

1.3.1.5

1.1

Anamnese (T. Mergner)

1

1.3.1.6

1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7 1.2.8 1.2.9

Klinisch-neurologische Untersuchung Inspektion Untersuchung des Kopfes Hirnnerven Reflexe Motorik Koordination Sensibilität Vegetative Funktionen Allgemeinkörperliche Untersuchung . Literatur Neuropsychologische Untersuchungsmethoden (B.Preilowski) Literatur Psychischer Befund (V. Faust) Allgemeine Hinweise Erhebung der Anamnese Erhebung des psychischen Befundes . Literatur Untersuchung von Bewußtlosen (T. Mergner) Literatur Untersuchung bei psychogenen Körperstörungen (V.Faust) Ursachen Inspektion, äußerer Eindruck Prüfung der Hirnnerven Prüfung der Reflexe Prüfung der Extremitäten und Motorik Sensibilitätsprüfung Anfallsartige Störungen Literatur

1.2.10

1.2.11 1.2.11.1 1.2.11.2 1.2.11.3 1.2.12

1.2.13 1.2.13.1 1.2.13.2 1.2.13.3 1.2.13.4 1.2.13.5 1.2.13.6 1.2.13.7 1.3 1.3.1 1.3.1.1

1.3.1.2 1.3.1.3 1.3.1.4

Technische Zusatzuntersuchungen Neurophysiologie Elektroenzephalographie (EEG) (W. Fröscher) Literatur Elektromyographie (EMG) (T.Mergner) Literatur Elektroneurographie (ENeuG) (T.Mergner) Literatur Konventionelle elektrische Untersuchung (T. Mergner)

.

.

2 4 4 6 22 27 31 35 40 41 42 42 47 47 47 47 48 56 57 59 59 59 60 60 60 61 63 64 64 65 65 65 73 74 76 11 78 79

1.3.7.1 1.3.7.2 1.3.7.3 1.3.7.4

Evozierte Potentiale (T.Mergner) . . . . Literatur Elektronystagmographie (ENyG) (T.Mergner) Literatur Liquoruntersuchung und Liquorsyndrome: siehe Kapitel 2.10 Bildgebende Verfahren (P. Stoeter) . . . Röntgenaufnahmen des Schädels und der Wirbelsäule Kraniale Computertomographie (CT) . . Spinale Computertomographie . . . . MR-Tomographie Kontrastuntersuchungen des Gehirns . . Kontrastuntersuchungen des Spinalkanals Szintigraphie Positronen-Emissions-Tomographie (PET) Single-Photon-Emission-ComputerTomographie (SPECT) Messung der regionalen Hirndurchblutung Literatur Ultraschallmethoden (Echoenzephalographie, Doppler-Sonographie, DuplexScan-Sonographie) (H.J.Büdingen) . . . Echoenzephalographie (A-Scan) . . . . Doppler-Sonographie und B-Scan-Sonographie Literatur Thermographic (W.Fröscher) Literatur Tensilon- und Ischämie-Test (F. Gullotta) . Tensilon-Test: siehe Kapitel 24 . . . . Ischämie-Test Biopsien in der neurologischen Diagnostik (F. Gullotta) Muskelbiopsie Nervenbiopsie Hirnbiopsie Rektumbiopsie

122 122 123 124 124

2

Neurologische Syndrome . . . .

125

2.1

Motorische, sensible und neurovegetative Syndrome des peripheren Nervensystems (K.-D.Neher)

125

1.3.2 1.3.3 1.3.3.1 1.3.3.2 1.3.3.3 1.3.3.4 1.3.3.5 1.3.3.6 1.3.3.7 1.3.3.8 1.3.3.9 1.3.3.10 1.3.4

1.3.4.1 1.3.4.2

1.3.5 1.3.6 1.3.6.1 1.3.6.2 1.3.7

79 84 84 88 88 88 88 93 96 98 102 105 107 110 111 112 113

113 114 114 121 121 121 122 122 122

XII 2.1.1 2.1.2 2.1.2.1 2.1.2.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6

2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.1.1 2.2.1.1.2 2.2.1.1.3 2.2.1.1.4 2.2.1.1.5 2.2.1.1.6 2.2.1.1.7 2.2.1.1.8 2.2.1.2 2.2.1.3 2.2.1.3.1 2.2.1.3.2 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.1.1 2.2.2.1.2 2.2.2.1.3 2.2.2.1.4 2.2.2.1.5 2.2.2.1.6 2.2.2.1.7 2.2.2.1.8 2.2.2.2 2.2.2.3 2.2.3 2.2.3.1 2.2.3.2 2.2.4 2.2.4.1 2.2.4.2 2.2.5 2.2.5.1 2.2.5.2 2.2.5.3 2.2.5.4 2.2.5.5 2.2.5.6

Inhaltsverzeichnis Läsionen peripherer Nerven Plexusläsionen Armplexusläsionen Schädigung des Plexus lumbosacralis . . Schädigung von Nervenwurzeln . . . . Systematische Schädigungen des peripheren Nervensystems . . . . Differentialdiagnose periphere versus zentrale Läsion des Nervensystems . . . Vegetative Syndrome Literatur Zerebrale Syndrome (F.Broser) . . . . Syndrome diffuser zerebraler Beeinträchtigung Akut-reversible psychoorganische Syndrome Syndrom der einfachen Wachheitsstörung (Vigilanzstörung) Syndrom des Delirs Syndrom der Halluzinose Syndrom der Amentia Syndrom des Dämmerzustandes . . . . Korsakow-Syndrom Hyperästhetisch-emotionelles Syndrom Amnestisches Syndrom Chronisch-irreversible hirnorganische Defektsyndrome Zerebrale Anfallssyndrome Hirnorganische bzw. epileptische Anfalle . Nichtepileptische oder vegetative Anfälle . Syndrome lokaler zerebraler Beeinträchtigung Hemisphärensyndrome Orbitalhirnsyndrom Frontales Konvexitätssyndrom . . . . Zerebrale Pyramidenbahnsyndrome . . Sensible Zerebralsyndrome Mantelkantensyndrom Syndrome des unteren Scheitellappens Okzipitalhirnsyndrome Temporalhirnsyndrome Balkensyndrom Thalamussyndrom Extrapyramidale Syndrome Hyperton-hypokinetisches Syndrom . . Hypoton-hyperkinetisches Syndrom . . Kleinhirnsyndrome Kleinhirnwurmsyndrom Kleinhirnhemisphärensyndrom . . . . Schädelbasissyndrome Syndrom der Olfaktoriusrinne . . . . Foster-Kennedy-Syndrom Keilbeinflügelsyndrome Chiasmasyndrom Klivuskantensyndrom Fissura-orbitalis-superior-Syndrom . . .

127 129 129 131 131 132 134 136 138 138 139 139 139 140 140 140 140 141 141 141 142 142 142 142 143 143 144 146 146 150 150 150 151 153 153 153 154 155 155 155 156 156 157 157 157 157 158 159 159

2.2.5.7 2.2.5.8 2.2.5.9 2.2.5.10 2.2.5.11 2.2.5.12 2.2.6 2.2.6.1 2.2.6.2 2.2.6.3 2.2.6.4 2.2.7 2.2.7.1 2.2.7.2 2.2.7.3 2.2.7.4 2.2.7.5 2.2.7.6

Gradenigosyndrom Sinus-cavernosus-Syndrom Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom . Foramen-jugulare-Syndrom Garcin-Syndrom Foramen-okzipitale-magnum-Syndrom Hirastammsyndrome Hemiplegia-alternans-Syndrome . Hemiplegia-cruciata-Syndrom . . . Syndrom der Bulbärparalyse Syndrom der Pseudobulbärparalyse . Dezerebrationssyndrome Akute Mittelhirnsyndrome Akutes Bulbärhirnsyndrom Einsetzender Hirntod Apallisches Syndrom Comavigile Locked-in-Syndrom Literatur

2.3 2.3.1 2.3.2

Rückenmarkssyndrome (M. Stöhr) . . . Einleitung Abhängigkeit des spinalen Syndroms von der Querschnittsausdehnung einer Rückenmarkserkrankung Abhängigkeit des spinalen Syndroms von der Höhe der Schädigung Akuität und Längsausdehnung einer Rückenmarkserkrankung

173

2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5

Myoklonisches Syndrom (F. L. Glötzner) Definition Ätiologie Pathogenese Diagnostische Maßnahmen Therapie Literatur

179 179 180 181 182 182 182

2.5

Neuroophthalmologische Syndrome (E.Mehdorn, P. Ciarenbach) Pupillenstörungen Untersuchung der Pupille Efferente Pupillenstörungen Afferente Pupillenstörungen Augenbewegungsstörungen Periphere Augenmuskellähmungen . . . Nukleäre Augenmuskellähmungen . . . Supranukleäre Augenbewegungsstörungen Nystagmus Sehstörungen Prächiasmale Läsionen Chiasmaläsionen Postchiasmale Läsionen Veränderungen der Sehnervenpapille . . Papillenschwellung Papillenblässe Literatur

183 183 183 184 184 185 185 187 187 189 190 190 190 191 192 192 192 193

2.3.3 2.3.4

2.5.1 2.5.1.1 2.5.1.2 2.5.1.3 2.5.2 2.5.2.1 2.5.2.2 2.5.2.3 2.5.2.4 2.5.3 2.5.3.1 2.5.3.2 2.5.3.3 2.5.4 2.5.4.1 2.5.4.2

.

.

. .

. .

.

.

159 160 161 161 162 162 162 166 167 167 168 169 169 170 170 171 171 172 172 173 173

175 178

XIII

Inhaltsverzeichnis 2.6 2.6.1 2.6.2 2.6.3 2.6.4

Neurootologische Syndrome (T. Mergner) . Systematischer Schwindel Unsystematischer Schwindel Nystagmus Hörstörungen Literatur

2.7

Meningeale Syndrome und Hirndrucksyndrome (F. Broser) . . . 203 Meningeale Syndrome 203 Klinische Symptomatik 203 Akutes meningeales Syndrom . . . . 204 Chronisches meningeales Syndrom . . . 204 Meningismus 204 Hirndrucksyndrome 204 Klinische Symptomatik 205 Syndrom der akuten und subakuten intrakraniellen Drucksteigerung . . . . 206 Syndrom der chronischen intrakraniellen Drucksteigerung 206 Literatur 206

2.7.1 2.7.1.1 2.7.1.2 2.7.1.3 2.7.1.4 2.7.2 2.7.2.1 2.7.2.2 2.7.2.3

193 194 196 196 201 202

2.8 2.8.1 2.8.2 2.8.3 2.8.4 2.8.5 2.8.6 2.8.7 2.8.8 2.8.9 2.8.10

Schmerzsyndrome (H. -H. v. AIbert) . . . Neuralgien Hyperästhesie Hyperpathie Parästhesien Dysästhesie Kausalgie Phantomschmerz Organschmerz Referred pain Zusammenfassung Literatur

207 207 208 208 208 209 209 209 209 210 210 210

2.9 2.9.1 2.9.1.1 2.9.1.2

Neurourologische Syndrome (P. Brühl) Miktionsstörungen Innervation Symptomatik bei neurogener Blasendysfunktion Untersuchungsablauf Klassifikation neurogener Blasenfunktionsstörungen Urodynamische Funktionsdiagnostik . . Therapie Potenzstörungen Neurogene Immissions- und Ejakulationsstörungen Therapeutische Aspekte Erektile Impotenz Literatur

210 210 211

2.9.1.3 2.9.1.4 2.9.1.5 2.9.1.6 2.9.2 2.9.2.1 2.9.2.2 2.9.2.3 2.10 2.10.1 2.10.2 2.10.3 2.10.4 2.10.5

Liquorsyndrome (H.I.Schipper) . . . . Punktion Makroskopische Beurteilung Liquordruck Zellen Erreger-und Antigennachweis . . . . Proteine

212 212 213 214 215 217 217 217 218 220 220 220 222 223 225 225

2.10.6

Glukose und Laktat Literatur

229 229

2.11 2.11.1 2.11.2 2.11.3

Vertebragene Syndrome (M. Stöhr) . . . 231 Ursachen vertebragener Syndrome . . . 231 Vertebragene Myelopathien 234 Vertebragene Radikulopathien . . . . 234

3

Neuropsychologische Syndrome (B. Preilowski)

241

3.1

Ursachen neuropsychologischer Ausfalle

241

3.2

Zur Lokalisation neuropsychologischer Störungen

241

3.3 3.3.1 3.3.2 3.4 3.5 3.5.1 3.5.1.1 3.5.1.2 3.5.2 3.5.2.1 3.5.2.2 3.5.2.3 3.5.3 3.5.4 3.5.5 3.5.5.1 3.5.5.2 3.5.5.3 3.5.5.4 3.5.5.5 3.5.5.6 3.5.6 3.5.6.1 3.5.6.2 3.5.6.3 3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.6.5 3.7 3.7.1

Laterale Zerebrale Asymmetrie . . . . Linkshemisphärische Dominanz für Sprache Funktionelle Asymmetrie, Lateralität . .

242 243

Allgemeine neuropsychologische Veränderungen nach Hirnschädigungen .

243

Spezifische funktionelle Syndrome . Sprech- und Sprachstörungen . . . . Sprechstörungen Sprachstörungen (Aphasien) Lese- und Schreibstörungen Legasthenie Lesestörungen (Alexien) Schreibstörungen (Agraphien) . . . . Rechenstörungen (Akalkulien) . . . . Apraxien Wahrnehmungsstörungen Visuelle Wahrnehmungsstörungen . . Visuell-räumliche Wahrnehmungsstörungen Störungen der auditiven Wahrnehmung Taktile Wahrnehmungsstörungen (Haptische Störungen) Störungen der Körperwahrnehmung . Hemineglekt Lern- und Gedächtnisstörungen . . . . Kurzzeitgedächtnisstörungen Störungen des Langzeitgedächtnisses . Amnestische Syndrome

.

.

242

244 244 244 246 257 257 257 258 258 259 261 262 265 266

.

.

Hirnlokale Syndrome (vgl. 2.2.2) . . . Frontalhirnsymptome (vgl. 2.2.2.1.1 und 2.2.2.1.2) Parietalhirnsymptome (vgl. 2.2.2.1.6) . . Temporallappensyndrome Okzipitalhirnsyndrome Thalamussyndrome Diskonnektionssyndrome Diskonnektionssyndrome nach kompletter neokortikaler Kommissurotomie . . .

267 267 270 271 271 272 273 278 278 279 280 281 281 282 282

XIV 3.7.2

Inhaltsverzeichnis Diskonnektionssyndrom nach partiellen neokortikalen Kommissurotomien . . Literatur

Fehlbildungen und frühkindliche Hirnschäden (D.Bechinger) . . . 4.1 4.1.1 4.1.1.1

283 283

285

4.1.1.7 4.1.2 4.1.2.1 4.1.2.2 4.1.3 4.1.4

Fehlbildungen Fehlbildungen des Gehirns Störungen der dorsalen und ventralen Induktion Störungen der ventrikulo-zisternalen Entwicklung Störungen der Proliferation Störungen der Migration Kongenitale Tumoren und vaskuläre Fehlbildungen Störungen der Organisation bzw. Differenzierung und Synapsenbildung . . Störungen der Myelinisierung . . . . Fehlbildungen des Rückenmarks . . . Spinale Dysrhaphien (Spina bifida) . . . Syringomyelie und Syringobulbie . . . Knöcherne Fehlbildungen Diagnostik und Therapie

294 294 294 294 296 297 298

4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3

Frühkindliche Hirnschäden Pränatale Hirnschäden Perinatale Hirnschäden Postnatale Himschäden

299 300 301 302

4.3

Minimal-Brain-Syndrom

302

4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3

Behandlung frühkindlicher Hirnschäden Primäre Prävention Sekundäre Prävention Tertiäre Prävention Literatur

303 303 303 304 304

4.1.1.2 4.1.1.3 4.1.1.4 4.1.1.5 4.1.1.6

285 286 286 289 291 293 294

Raumfordernde Prozesse 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.2.1 5.1.2.2 5.1.2.3 5.1.3 5.1.4 5.1.4.1 5.1.4.1.1 5.1.4.1.2 5.1.4.2

5.1.4.3 5.1.5 5.1.5.1 5.1.5.2 5.1.5.3 5.1.5.4 5.1.5.5 5.1.5.6 5.1.6 5.1.6.1 5.1.6.2 5.1.6.3 5.1.7 5.1.7.1 5.1.7.1.1 5.1.7.1.2 5.1.7.1.3 5.1.7.1.4 5.1.7.1.5 5.1.7.2 5.1.7.3 5.1.7.3.1 5.1.7.3.2 5.1.7.4 5.1.7.5 5.1.7.5.1 5.1.7.5.2 5.1.7.6 5.1.7.7 5.1.7.7.1 5.1.7.7.2 5.1.7.8 5.1.8 5.2

(G. Haferkamp)

305

Tumoren des Gehirns und seiner Hüllen Definition Epidemiologische Daten Häufigkeit Einteilung Alter Ätiologie Allgemeine Pathophysiologic und Symptomatik Hirndruck Pathophysiologie Klinische Hirndrucksymptomatik . . . Allgemeinsymptome bei zerebraler Raumforderung

305 305 305 305 305 306 307

5.2.1 5.2.2 5.2.2.1 5.2.2.2 5.2.2.3 5.2.3 5.2.3.1

307 307 307 309 310

5.2.3.2 5.2.3.3 5.2.4 5.2.4.1 5.2.4.2

Zerebrale Herdsymptome Weiterfuhrende Diagnostik Elektroenzephalogramm Nativ-Röntgenaufnahmen des Schädels, ggf. mit Spezialaufnahmen Kranielle Computertomographie (CT) . . Kernspintomographie Zerebrale Angiographie Liquordiagnostik Allgemeine Therapie Therapie der Schädelinnendrucksteigerung Operative Therapie Konservative Therapie Systematik der Tumoren des Gehirns und seiner Hüllen Neuroepitheliale Tumoren (Gliome) . . Glioblastom (Glioblastoma multiforme) . Astrozytom Oligodendrogliom Ependymom Medulloblastom Tumoren der Nervenscheiden (Neurinome, Neurofibrome) Mesodermale Tumoren Meningeome Sarkome Mißbildungstumoren (Epidermoide, Dermoide und Teratome) Raumfordernde Prozesse der Sellaregion Hypophysenadenom Kraniopharyngeom Tumoren der Pinealis- und Vierhügelregion Andere intrakranielle Raumforderungen . Primäres malignes Lymphom (früher auch Retikulosarkom) . . . . Hirnmetastasen Weitere seltene Hirntumoren Pseudotumor cerebri Raumfordernde Prozesse des Rückenmarks, der Kauda und der Rückenmarkshüllen Definition Epidemiologische Daten Häufigkeit Einteilung Alter Allgemeine Symptomatologie und Pathophysiologie Extramedulläre Tumoren (extra- und intradural) Intramedulläre Tumoren Regionale Syndrome Weiterführende Diagnostik Röntgen-Nativaufnahmen der Wirbelsäule Myelographie

311 313 313 313 314 315 315 315 316 316 316 316 317 317 317 318 319 320 320 321 322 322 323 323 324 324 325 325 325 325 326 326 326

327 327 327 327 328 328 328 328 329 329 331 331 331

XV

Inhaltsverzeichnis 5.2.4.3 5.2.4.4 5.2.4.5 5.2.4.6 5.2.4.7 5.2.5 5.2.6 5.2.7 5.2.7.1 5.2.7.2 5.2.7.3 5.2.7.4 5.2.8 5.2.8.1 5.2.8.2 5.2.8.3 5.2.8.4 5.2.9 5.2.9.1 5.2.9.2 5.2.9.3 5.3

Spinale Computertomographie . . . . Kernspintomographie Szintigraphie Neurophysiologische Untersuchungen . . Liquoruntersuchung Allgemeine Therapie Prognose Symptomatik der raumfordernden Prozesse Gliome Neurinom Meningeom Rückenmarkskompression durch Metastasen Nicht-neoplastische Rückenmarkskompression Epidurale Blutung Hämatomyelie Epi-oder subduraler Abszeß Andere seltene Ursachen Degenerative Wirbelsäulensyndrome . . Zervikale Myelopathie Syndrom des engen Spinalkanals . . . Degenerative bandscheibenbedingte Wurzelsyndrome Meningosis neoplastica Literatur

331 331 332 333 334 334 334 334 334 335 335 335 335 335 335 336 336 336 336 337 338 344 344

Sogenannte degenerative Krankheiten (E. Volles)

347

6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.3.1 6.1.3.2

Hirnatrophische Erkrankungen . . Morbus Alzheimer Morbus Pick Weitere Krankheiten mit Demenz . . Vaskuläre Demenzen Entzündliche Krankheiten mit Demenz

.

6.2

Erkrankungen des motorischen Systems . Atrophie des I. (zentralen) motorischen Neurons Atrophie des II. (sog. peripheren) motorischen Neurons Atrophie des I. und II. motorischen Neurons: Myatrophische (amyotrophische) Lateralsklerose

.

347 349 351 351 351 354

Stammganglienerkrankungen (W; Gehlen)

369

7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.1.5.1 7.1.5.2 7.1.5.3 7.1.5.4

Parkinson-Syndrom Ätiologie und Pathogenese Häufigkeit Symptomatik Diagnose und Differentialdiagnose . Therapie des Parkinson-Syndroms . Medikamentöse Therapie Stereotaktische Hirnoperationen . Krankengymnastische Behandlungen Psychosoziale Betreuung

369 370 373 373 376 378 378 381 382 382

7.2 7.2.1 7.2.1.1 7.2.1.2 7.2.1.3 7.2.1.4 7.2.2 7.2.3 7.2.4

Choreatische Syndrome Chorea Huntington Ätiopathogenese Symptomatologie und Diagnostik Therapie Prognose Chorea minor (Sydenham) Chorea gravidarum, Chorea unter Ovulationshemmern Andere Choreaformen

7.3

Athetosen

384

7.4

Hemiballismus

385

7.5 7.5.1 7.5.2

385 385

7.5.3 7.5.4 7.5.5 7.5.6

Dystone Syndrome Torticollis spasticus (spasmodicus) . . . Torsionsdystonie (Dystonia musculorum deformans) Blepharospasmus Meige-Syndrom Orofaziale Dyskinesien Schreib krampf

7.6

Morbus Wilson (Degeneratio hepatolenticularis)

6.2.1 6.2.2

6.2.3

6.3

6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5

Die spino-zerebellaren Heredoataxien und verwandte Erkrankungen des Kleinhirnsy stems Friedreich-Ataxie Zerebellare Heredoataxie (Nonne-MarieErkrankung) Olivo-ponto-zerebellare Atrophie . . . Späte systematische Kleinhirnrindenatrophie Weitere Kleinhirnatrophien Literatur

355

7.7

355 356

360

363 363 364 365 365 366 366

Symmetrische Stammganglienverkalkungen Fahr)

.

. .

. .

. .

. .

.

.

382 382 382 383 383 383 384 384 384

.

.

.

386 386 387 387 387

387

(Morbus 388

7.8

Hallervorden-Spatz-Krankheit

. . . .

389

7.9

Progressive Pallidumatrophie

. . . .

389

7.10

Essentieller Tremor

389

7.11

Andere extrapyramidale Erkrankungen (Myoklonien, Myorhythmien, Myokymien, Paramyoklonus multiplex) . . .

390

Extrapyramidale Störungen nach Neuroleptikagabe Frühdyskinesie Spätdyskinesie Malignes neuroleptisches Syndrom .

390 390 391 391

7.12 7.12.1 7.12.2 7.12.3 7.13

Tic-Krankheit Literatur

.

.

391 391

XVI

8

Inhaltsverzeichnis

Entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems und seiner Hüllen (R.Heitmann,

8.1 8.1.1 8.1.1.1

8.1.1.2 8.1.1.3 8.1.1.4 8.1.1.4.1 8.1.1.4.2 8.1.1.5 8.1.1.6

8.1.1.6.1 8.1.1.6.2

8.1.1.7 8.1.1.8 8.1.2 8.1.2.1 8.1.2.2

8.1.2.3 8.1.2.4 8.1.2.5 8.1.2.6

8.1.2.7 8.1.3 8.1.3.1 8.1.3.2 8.1.3.3 8.1.3.4 8.1.4 8.1.5 8.1.5.1 8.1.5.2 8.1.5.3 8.1.5.4 8.1.5.5 8.1.6

8.1.7 8.1.8

8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.2.1 8.2.2.2

8.2.2.3 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.5.1 8.2.5.2 8.2.5.2.1 8.2.5.2.2

V.Schuchardt)

393

Bakterielle Infektionen Bakterielle Meningitis Ätiologie Pathogenese Klinik Liquor Liquorzytologie Atypische Liquorbefunde Zusatzdiagnostik Therapie Antibiotische Therapie Allgemeine Therapie Komplikationen und ihre Therapie . . . Prognose Einzelne Erreger Meningokokken Pneumokokken Hämophilus influenzae Listeria monozytogenes Seltene Meningitiserreger Fehlender Erregernachweis Atypische bakterielle ZNS-Entzündungen Tuberkulose des ZNS Tuberkulöse Meningitis Diagnosestellung Therapie Prognose Lyme-Borreliose Meningopolyneuritis Bannwarth . . . . Embolisch-metastatische Herdenzephalitis Klassische Herdenzephalitis Akute Herdenzephalitis Liquor Diagnose Therapie Hirnabszeß Epiduraler spinaler Abszeß Tetanus

394 394 394 394 395 395 397 397 397 398 398 399 400 402 402 402 403 404 404 404 405 405 406 406 407 408 409

Virale Infektionen Abakterielle Meningitis Enzephalitis Klinischer Verlauf Zusatzdiagnostik Therapie Querschnittsmyelitis Pathologisch-anatomische Befunde . Einzelne virale Erreger Herpes-simplex-Virus-Enzephalitis . Andere Viren der Herpes-Gruppe . Epstein-Barr-Virus Varizella-Zoster-Virus (VZV)

415 415 416 416 417 418 418 419 420 420 422 422 423

.

.

. .

. .

409 410 410 411 411 411 411 412 413 414

8.2.5.3 8.2.5.4 8.2.5.5 8.2.5.6 8.2.5.7 8.2.5.8 8.2.5.9 8.2.5.10

Frühsommermeningoenzephalitis . . . Lymphozytäre Choriomeningitis . . . . Encephalitis lethargica Masern-Virus-Erkrankungen Postvakzinale Enzephalitis Lyssa Erworbenes Immundefektsyndrom (AIDS) Poliomyelitis acuta anterior

424 424 424 425 425 426 426 428

8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3

Pilzinfektionen Cryptococcus neoformans Candida albicans Antimykotische Therapie Literatur

429 429 430 431 431

Erkrankungen des Nervensystems durch tierische Parasiten 9.1 9.2 9.2.1 9.2.1.1 9.2.1.2 9.2.2 9.2.2.1 9.2.2.2 9.2.2.3 9.2.3 9.2.3.1 9.2.3.2 9.2.3.3 9.2.3.4 9.2.3.5 9.3 9.3.1 9.3.1.1 9.3.1.2 9.3.1.3 9.3.1.4 9.3.1.5 9.3.2 9.3.2.1 9.3.2.2 9.3.2.3 9.3.2.4 9.3.2.5 9.3.3 9.3.3.1 9.3.3.2 9.3.3.3 9.3.4 9.3.5

(W. Fröscher)

435

Definition und allgemeine Angaben zu Epidemiologie und Pathogenese

435

Protozoen Amöbiasis Epidemiologie, Ätiologie und Symptomatik Diagnostik und Therapie Malaria Epidemiologie Pathogenese und Symptomatik . . . . Diagnostik und Therapie Toxoplasmose Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese Pathologische Anatomie Symptomatik Diagnostik Therapie Helminthes (Vennes) Echinokokkose Definition und Epidemiologie . . . . Ätiologie und Pathogenese Symptomatik Diagnostik Therapie Zystizerkose Definition und Epidemiologie . . . . Ätiologie, Pathogenese und pathologische Anatomie Symptomatik Diagnostik Therapie Toxokariose Definition und Epidemiologie . . . . Ätiologie, Pathogenese und Symptomatik . Diagnostik und Therapie Askaridose Trichinose

436 436 436 436 436 436 436 437 437 437 437 437 438 439 439 439 439 439 439 440 440 440 440 441 441 441 442 442 442 442 442 442 443

XVII

Inhaltsverzeichnis 9.3.5.1 9.3.5.2 9.3.5.3

10

10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.1.5 10.1.6 10.1.7 10.1.8 10.1.9 10.1.10 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5 10.2.6 10.2.7 10.2.8

11

Epidemiologie, Ätiologie, Pathogenese und pathologische Anatomie Symptomatik Diagnostik und Therapie Literatur

12.1.1 443 443 444 444

12.1.2.1

Entmarkungskrankheiten (G.Ritter)

447

Multiple Sklerose Definition Epidemiologie Ätiologie und Pathogenese Pathologische Anatomie Symptomatik Verlauf und Prognose Diagnostik Differentialdiagnose Therapie und Prophylaxe Sozialmedizinische Probleme und Rehabilitation

447 447 447 447 449 449 451 451 455 455

Andere Entmarkungskrankheiten . . . Neuromyelitis optica Diffuse Sklerose Konzentrische Sklerose Leukodystrophien Neuroaxonale Dystrophie Meningomyeloradikulitis Subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) Creutzfeldt-Jakob-Krankheit Literatur

12.1.2

456 458 458 458 459 459 460 460 460 460 461

Syphilis des Nervensystems (G.Ritter)

463

11.1

Epidemiologie

463

11.2

Ätiologie und Pathogenese

463

11.3

Klinik

466

11.4 11.4.1 11.4.2 11.4.3 11.4.4 11.4.5

Diagnostische Hilfsuntersuchungen . . Serologische Diagnostik Liquordiagnostik Bildgebende Verfahren Neurophysiologische Diagnostik . . . . Augen-und HNO-ärztliche Diagnostik

470 470 471 473 473 474

11.5

Therapie

474

11.6

Meldepflicht Literatur

476 476

12

Traumen (W. Poll)

477

12.1

Traumen des Gehirns und seiner Hüllen

477

12.1.2.2 12.1.2.3 12.1.2.4 12.1.2.5 12.2 12.2.1 12.2.1.1 12.2.1.2 12.2.1.3 12.2.1.4

12.2.1.5 12.2.1.6 12.2.2 12.2.2.1 12.2.2.2 12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.2.1 12.3.2.2 12.3.3

Epidemiologie und allgemeine Angaben zu Pathogenese und Einteilung der Schädel-Hirn-Verletzungen . . . . Spezielle Einteilung der Schädel-HirnVerletzungen nach klinischen Gesichtspunkten Schädelprellung und Weichteilverletzungen des Kopfes . . . Schädelfrakturen Offene Schädel-Hirn-Verletzungen (SHV) Geschlossene Schädel-Him-Verletzungen Besondere Komplikationen und Folgezustände nach Schädel-Hirn-Traumen . .

495

Traumen des Rückenmarks, der Kauda und der Rückenmarkshüllen

497

Verletzungen der Wirbelsäule ohne Beteiligung des Nervensystems . . Reine Bänder- und/oder Bandscheibenverletzungen Reine Wirbelverrenkung (Luxation) . . Frakturen der Wirbelkörper Frakturen von Bogen- und Gelenkfortsätzen mit und ohne Luxation Frakturen der Quer-und Dornfortsätze Kombinationsverletzungen (Luxationsfrakturen) Wirbelsäulenverletzungen mit neurologischen Ausfallen Offene Rückenmarksverletzungen . . . Geschlossene Rückenmarksverletzungen . Schädigung des Nervensystems durch besondere physikalische Einwirkungen Elektrotrauma Strahlenschäden Schäden durch thermische Strahlung . Schäden durch ionisierende Strahlen . Dekompression Literatur

. .

477

479 479 480 482 485

498 498 498 499

499 499 499 500 500 501 504 504 506 506 506 508 509

13

Gefäßkrankheiten (H.J.Büdingen)

511

13.1. 13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.1.4 13.1.5 13.1.6

Zerebrale Durchblutungsstörungen . . Definition Ätiologie Pathogenese Epidemiologie Risikofaktoren Zerebrale Durchblutungsstörungen als Ursache epileptischer Anfälle . . . Anatomische Grundlagen Hirnarterien Kollateralsysteme der Hirnarterien . . . Hirnvenen

511 511 511 511 512 512

13.1.7 13.1.7.1 13.1.7.2 13.1.7.3

513 514 514 520 521

XVIII 13.1.8 13.1.8.1 13.1.8.2 13.1.9 13.1.9.1 13.1.9.2 13.1.9.3 13.1.9.4 13.1.10 13.1.11 13.1.11.1 13.1.11.2 13.1.11.3 13.1.11.4 13.1.12 13.1.12.1 13.1.12.2 13.1.13 13.1.13.1 13.1.13.2 13.1.13.3 13.1.13.4 13.1.13.5 13.1.13.6 13.1.13.7 13.1.13.8 13.1.13.9 13.1.13.10 13.1.13.11 13.1.13.12 13.1.13.13 13.1.14 13.1.14.1 13.1.14.2

13.1.14.3 13.1.14.4 13.1.14.5 13.1.15 13.1.15.1 13.1.15.2 13.1.15.3 13.1.15.4 13.1.15.5 13.1.15.6 13.1.15.7 13.1.15.8 13.1.16 13.1.16.1 13.1.16.2 13.1.16.3

Inhaltsverzeichnis Hämodynamische Grundlagen . . . . Hämodynamische Relevanz einer Stenose Hämodynamik in Kollateralen . . . . Physiologie und Pathophysiologie der Himdurchblutung Autoregulation Einfluß von C0 2 und 0 2 auf die Hirndurchblutung Einfluß des intrakraniellen Drucks . . . Pathophysiologie des ischämischen Insults Klinische Untersuchungsmethoden . . . Arterielle ischämische Durchblutungsstörungen des Gehirns Definition Ätiologie Pathogenese Kardiogene ischämische Durchblutungsstörungen des Gehirns Ischämischer Hirninsult Definition Verlaufsformen (Stadium I-IV) . . . . Klinik der Hirnarterienverschlüsse . . . Syndrom des Aortenbogens Syndrom des Truncus brachiocephalicus Syndrom der A. subclavia Syndrom der A. carotis communis . . . Syndrom der A. carotis externa . . . . Syndrom der A. carotis interna . . . . Syndrom der A. ophthalmica Syndrom der A. choroidea anterior . . . Syndrom der A. cerebri media . . . . Syndrom der A. cerebri anterior . . . . Syndrom der A. vertebralis und A. basilaris Syndrom der A. cerebri posterior . . . Mikroinfarktsyndrome Therapie der ischämischen Durchblutungsstörung des Gehirns Stadium I Stadium II, PRIND und Insulte ohne größeren klinischen oder morphologischen (CT) Defekt Stadium III Stadium IV Zerebrale Vaskulitiden Intrazerebrale Blutungen (Hirnblutungen) Definition Häufigkeit und Lokalisation Ätiologie Pathogenese Klinik Verlauf und Prognose Diagnostik Therapie Subarachnoidalblutung (SAB) . . . . Definition Risikofaktoren Ätiologie

521 522 522 524 524 525 525 526 527 529 529 529 533 534 535 536 536 541 541 541 541 543 543 544 545 545 545 546 546 548 548 551 551

551 552 552 556 556 556 556 556 558 558 559 559 560 560 560 561 561

13.1.16.4 13.1.17 13.1.17.1 13.1.17.2 13.1.17.3 13.1.17.4 13.1.17.5 13.1.17.6 13.1.17.7 13.1.18 13.1.18.1 13.1.18.2 13.1.18.3 13.1.18.4 13.1.18.5 13.1.18.6 13.1.18.7 13.1.18.8 13.1.19 13.1.20 13.1.20.1 13.1.20.2 13.1.20.3 13.1.20.4 13.1.20.5 13.1.20.6 13.1.20.7

Klinik Intrazerebrale arterielle Aneurysmen . . Definition Häufigkeit und Lokalisation Klinik Verlauf Diagnostik Differentialdiagnostik Therapie Arteriovenöse Angiome Definition Häufigkeit und Lokalisation Pathogenese Klinik Verlauf und Prognose Diagnostik Therapie Kavernöse Hämangiome (Kaveraome) . . Karotis-Kavernosus-Fistel Sinus- und Hirnvenenthrombosen . . . Häufigkeit und Einteilung Ätiologie Pathogenese Klinik Verlauf und Prognose Diagnostik Therapie

562 562 562 562 562 563 564 565 565 566 566 566 566 566 567 567 567 567 568 568 568 568 569 571 572 572 573

13.2 13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.2.4 13.2.5

Spinale Durchblutungsstörungen . Gefäßversorgung des Rückenmarks . Ätiologie Klinik Diagnostik Therapie Literatur

573 573 575 575 577 577 578

14

Epilepsien (W. Fröscher)

579

14.1

Definition

579

14.2

Epidemiologie

579

14.3 14.3.1

580

14.3.2 14.3.2.1 14.3.2.2 14.3.2.3 14.3.2.4 14.3.3

Ätiologie „Idiopathische" und „symptomatische" Epilepsien Genetische Disposition Familienuntersuchungen Zwillingsforschung EEG-Untersuchungen Erbgang Ursachen einer symptomatischen Epilepsie

580 581 581 581 581 581 582

14.4

Pathogenese

584

14.5

Pathologische Anatomie

585

14.6 14.6.1

Symptomatik Klassifikation

585 585

. .

. .

XIX

Inhaltsverzeichnis 14.6.2 14.6.2.1

14.6.2.2

14.6.2.3 14.6.2.4

14.6.3 14.6.4 14.6.4.1 14.6.4.2 14.6.4.3 14.6.4.4 14.6.4.5 14.6.5 14.6.5.1 14.6.5.2

14.6.6 14.6.6.1 14.6.6.2

14.6.7

14.6.8 14.6.8.1 14.6.8.2 14.6.8.3 14.6.9 14.6.9.1 14.6.9.2 14.6.9.3 14.6.9.4 14.6.10 14.7 14.8 14.8.1 14.8.2

Petit-mal-Anfälle (kleine generalisierte Anfälle) . . . . BNS-Krämpfe (Blitz-Nick-SalaamKrämpfe, West-Syndrom, infantile Spasmen, Propulsiv-Petit-mal) . . . . Myoklonisch-astatisches Petit mal (myoklonisch-astatische Anfälle, Petitmal-Variant) Absencen Impulsiv-Petit-mal (juvenile MyoklonusEpilepsie, Epilepsie mit benignen juvenilen myoklonischen Absencen) . . . . Grand-mal-Anfälle ohne fokalen Beginn (generalisierte tonisch-klonische Anfälle) . Fokale Epilepsien Einfach fokale Anfälle Komplex fokale Anfälle Grand-mal-Anfälle (tonisch-klonische Anfälle mit fokalem Beginn) Halbseitenkrämpfe (hemilaterale fokale Anfälle) Epilepsie mit fokal beginnenden Grandmal-Anfällen Idiopathische fokale Epilepsien mit altersabhängigem Beginn Benigne Epilepsie des Kindesalters mit zentro-temporalen Spikes Epilepsie des Kindesalters mit okzipitalen Spikes (syn.: fokale Epilepsie mit okzipitalen Spikes) Spezifische Syndrome bei generalisierten Epilepsien Epilepsien bei Mißbildungen Epilepsien bei nachgewiesenen oder vermuteten angeborenen Stoffwechseldefekten Epilepsien und epileptische Syndrome, die nicht als fokal oder generalisiert bestimmbar sind Spezielle Syndrome Gelegenheitsanfälle Epilepsien mit spezifischen Auslösern (Reflexepilepsien) Chronisch progrediente Epilepsia partialis continua des Kindesalters Status epilepticus Definition und allgemeine Angaben Grand-mal-Status

Verlauf und Prognose

.

.

.

Diagnostik Anamnese und klinischer Befund EEG

.

14.8.3 590 14.8.4 590

14.9

Neuroradiologische Diagnostik, bildgebende Verfahren Laboruntersuchungen zur Abklärung von Anfällen Differentialdiagnose

Therapie und Prophylaxe Allgemeine Angaben zur Therapie; 14.10.1 Antiepileptika Antiepileptikaverabreichung bei 14.10.2 Gelegenheitsanfällen Antiepileptikatherapie bei Fieberkrämpfen 14.10.3 des Kindes Oligoepilepsie und Therapie mit 14.10.4 Antiepileptika Auswahl der Antiepileptika 14.10.5 14.10.5.1 Allgemeine Angaben 14.10.5.2 Pharmakotherapie bei generalisierten Anfällen 14.10.5.3 Fokale Anfälle 14.10.5.4 Status epilepticus 14.10.6 Prophylaktische Antiepileptika-Gabe . . 14.10.7 Operative Behandlung der Epilepsien . . 14.10.8 Weitere Therapiemaßnahmen . . . . 14.10.9 Behandlung psychischer Störungen . . . 14.10.10 Nebenwirkungen (unerwünschte Wirkungen) der Antiepileptika . . . . . . 14.10.11 Allgemeine Behandlungsrichtlinien 14.10

590 591

592 592 594 594 595 598 598 598 599 599

599 599 599

14.11 14.11.1 14.11.2

Soziale Fragen Berufswahl und Invalidität Kraftfahrtauglichkeit Literatur

15

Nichtepileptische Anfälle

600

600 601 601 601 602 602 602 602 603 605 605

614 615 615 615 617 617 617 618 618 618 621 621 622 623 624 624 624 626 629 629 629 630

(P. Ciarenbach)

633

15.1

Definition

633

15.2

Sturzanfälle

633

15.3

Synkopen

634

15.4

Physiologie des Bewußtseins und der Stützmotorik

634

15.5 15.5.1 15.5.1.1 15.5.1.2 15.5.1.3 15.5.1.4 15.5.1.5

607 609 609 609

613

15.5.1.6 15.5.1.7 15.5.1.8

Krankheitsbilder Sturzanfälle Drop attack Symptomatische Kataplexie oder Chalastic Fits Kataplexie im Rahmen der Narkolepsie Parkinson-Syndrom Idiopathischer Sturzanfall der Frau (Maladie des genoux bleus) Asterixis Tonische Hirnstammanfälle Vestibulär-zerebrale Sturzanfälle bzw. Synkopen

635 635 635 635 635 636 636 637 637 637

XX

Inhaltsverzeichnis

15.5.1.9

Transitorisch-ischämische Attacke der Aa. cerebri anteriores 15.5.1.10 Mb. Niemann-Pick 15.5.2 Synkopen (syn. Synkopale Anfalle) . . . 15.5.2.1 Kardiogene Synkopen mit Minderung des Herzminutenvolumens 15.5.2.2 Extrakardiale Synkopen mit Minderung des Herzminutenvolumens 15.5.2.3 Synkopen durch gestörte orthostatische Kreislaufregulation 15.5.2.4 Synkopen durch extrakardiale organische Gefäßerkrankungen 15.5.3 Psychogene Anfälle: s. 14.9 15.5.4 Hypoglykämische Anfälle 15.5.5 Tetaniesyndrom 15.5.6 Meniere-Krankheit (syn. Mb. Meniere) Literatur

637 637 638

639 640 641 641 641 642 643 644

Schlafstörungen (P. Ciarenbach)

647

16.1

Phänomenologie des Schlafes

647

16.2

Ontogenese des Schlafes

16.3

Neuroendokrinologie des Schlafes .

16.4

Physiologie und Neurobiochemie des Schlafes

16.5 16.5.1 16.5.1.1 16.5.1.2 16.5.1.2.1 16.5.1.2.2 16.5.1.2.3 16.5.1.2.4 16.5.1.2.5 16.5.1.2.6 16.5.1.2.7 16.5.1.2.8 16.5.1.3 16.5.2 16.5.2.1 16.5.2.2 16.5.2.3 16.5.2 16.5.4 16.5.5 16.6

647 .

.

Klassifikation der Schlafstörungen . . Insomnie (Ein- und Durchschlafstörungen) Psychogene Insomnien Organische Insomnien Schlafhemmende Medikamente und Genußmittel Alkohol Innere Erkrankungen Erkrankungen des zentralen oder peripheren Nervensystems Schlafapnoe-Syndrom und alveoläre Hypoventilation Restless legs Nächtlicher Myoklonus Toxische und Umweltfaktoren . . . . Symptomatische Therapie der Insomnie durch Hypnotika Hypersomnien Narkolepsie Kleine-Levin-Syndrom Schlafapnoe und alveoläre Hypoventilation Rhythmusstörungen (Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus) Parasomnien Krippentod (Sudden infant death syndrome) Diagnostik der Schlafstörungen Literatur

.

.

.

Neurologische Schmerzsyndrome (H.-H.v. Albert)

659

Kopf- und Gesichtsschmerzen Einführung

659

17.2 17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5

Kopfschmerzen Schmerzempfindliche Strukturen . . . Diffuse vasomotorische Kopfschmerzen . Migräne Bing-Horton-Syndrom Symptomatische Kopfschmerzen . . .

660 660 660 660 662 663

17.3 17.3.1 17.3.2

Gesichtsneuralgien Trigeminusneuralgie Andere Gesichtsneuralgien

663 663 665

17.4

Nichtneuralgische Gesichtsschmerzen

665

17.5

Neurologisch wichtige Schmerzsyndrome im Nacken-Schulter-Arm-Bereich . . . Nackenschmerzen Schulterschmerzen Armschmerzen Schmerzen im Bereich der oberen Thoraxapertur

667

Vertebragen bzw. radikulär ausgelöste Schmerzsyndrome Herpes Zoster Lumbaler Bandscheibenvorfall . . . .

667 667 667

17.1

638

16

. . . .

17

17.5.1 17.5.2 17.5.3 17.5.4

648

17.6

648

17.6.1 17.6.2

649 649 650 650 650 650 650

17.7 17.7.1 17.7.2

Diffuse Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule und der Extremitäten . Diffuse Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule Diffuse Schmerzen im Bereich der Extremitäten Literatur

.

.

666 666 666 666

669 669 670 670

651

18 651 651 651 651 18.1 651 652 652 654 654 655 656 656 657 657

Krankheiten und Schäden des peripheren Nervensystems und der Hirnnerven (W. Tackmann)

18.1.1 18.1.2

Pathomorphologische und pathophysiologische Grundlagen der Erkrankungen des peripheren Nervensystems . Pathomorphologie Pathophysiologische Grundlagen

18.2 18.2.1 18.2.1.1 18.2.1.2 18.2.1.3 18.2.2 18.2.2.1

671

.

.

.

.

.

.

Erkrankungen der Hirnnerven . . . N.trigeminus Trigeminusneuralgie Trigeminusneuropathie Therapie der Trigeminusneuralgie . . N. facialis Idiopathische periphere Fazialisparese .

.

. .

671 671 673 674 674 674 674 675 675 675

Inhaltsverzeichnis

XXI

18.2.2.2 18.2.2.3 18.2.2.4 18.2.3 18.2.4 18.2.5

Erregerbedingte Fazialisparesen . . . . Andere Ursachen Unwillkürliche Bewegungen im Gesicht N.glossopharyngeus und N.vagus . . . N.accessorius N.hypoglossus

676 676 677 677 678 678

18.3 18.3.1 18.3.1.1 18.3.1.2 18.3.1.3 18.3.1.4 18.3.1.5

Erkrankungen der Spinalnerven . . Läsionen des Armplexus Anatomie Entzündlich bedingte Armplexusläsionen Traumatische Armplexusparesen . . Obere und untere Armplexusläsion . . Armplexusläsionen bei Kompressionen im Bereich der oberen Thoraxapertur . Armplexusläsionen nach Röntgenstrahlen Therapie und Prognose der Armplexusläsionen N.suprascapularis Anatomie Diagnose Therapie N. axillaris Anatomie Symptomatik Prognose und Therapie N. subscapularis Anatomie Symptomatik Ursachen Therapie N. thoracicus longus Anatomie Symptomatik Ursachen Therapie N. thoracodorsal Anatomie Symptomatik Ursachen Nn.pectorales mediales et laterales . . Anatomie Klinik Ursachen Differentialdiagnose Therapie N. musculocutaneus Anatomie Symptomatik Diagnostik Differentialdiagnose N. radialis Anatomie Symptomatik Ursachen Diagnose Differentialdiagnose

679 679 679 680 680 680

18.3.1.6 18.3.1.7 18.3.2 18.3.2.1 18.3.2.2 18.3.2.3 18.3.3 18.3.3.1 18.3.3.2 18.3.3.3 18.3.4 18.3.4.1 18.3.4.2 18.3.4.3 18.3.4.4 18.3.5 18.3.5.1 18.3.5.2 18.3.5.3 18.3.5.4 18.3.6 18.3.6.1 18.3.6.2 18.3.6.3 18.3.7 18.3.7.1 18.3.7.2 18.3.7.3 18.3.7.4 18.3.7.5 18.3.8 18.3.8.1 18.3.8.2 18.3.8.3 18.3.8.4 18.3.9 18.3.9.1 18.3.9.2 18.3.9.3 18.3.9.4 18.3.9.5

.

. . .

.

681 681 681 682 682 682 682 682 682 682 683 683 683 683 683 683 683 683 683 683 684 684 684 684 684 684 684 684 684 684 685 685 685 685 685 685 685 685 686 686 687 687

18.3.9.6 18.3.10 18.3.10.1 18.3.10.2 18.3.10.3 18.3.10.4 18.3.10.5 18.3.10.6 18.3.11 18.3.11.1 18.3.11.2 18.3.11.3 18.3.11.4 18.3.11.5 18.3.11.6 18.3.11.7 18.3.12 18.3.13 18.3.13.1 18.3.13.2 18.3.13.3 18.3.13.4 18.3.13.5 18.3.13.6 18.3.14 18.3.14.1 18.3.14.2 18.3.14.3 18.3.14.4 18.3.14.5 18.3.15 18.3.15.1 18.3.15.2 18.3.15.3 18.3.15.4 18.3.16 18.3.16.1 18.3.16.2 18.3.16.3 18.3.16.4 18.3.16.5

Therapie N. ulnaris Anatomie Symptomatik Ursachen Diagnostische Maßnahmen . . . . Differentialdiagnose Therapie N. medianus Anatomie Symptomatik Ursachen Symptomatik des Karpaltunnelsyndroms Diagnostik Differentialdiagnose Therapie Plexus lumbosacralis s.2.1.2.2 N. femoralis Anatomie Klinik Ursachen Diagnostik Differentialdiagnose Therapie N. cutaneus femoris lateralis . . . . Anatomie Symptomatik Ursachen Differentialdiagnose Therapie Nn. glutaei Anatomie Klinik Ursachen Differentialdiagnose N. ischiadicus Anatomie Klinik Ursachen N. peronaeus communis N. tibialis

687 687 687 688 689 690 690 690 691 691 691 692 693 693 693 693 694 694 694 694 694 694 694 694 695 695 695 695 695 695 695 695 695 696 696 696 696 696 696 696 698

18.4 18.4.1 18.4.2 18.4.2.1 18.4.2.2 18.4.3

699 699 700 701 702

18.4.3.1 18.4.3.2 18.4.3.3 18.4.4

Polyneuropathien Allgemeine Angaben Toxische Polyneuropathien Medikamente Umweltgifte Polyneuropathien bei endokrinen Störungen Diabetische Neuropathien Hypothyreose und Hyperthyreose Akromegalie Alkoholische Polyneuropathie .

18.4.5 18.4.6 18.4.7

Hepatische Polyneuropathie Urämie Polyneuropathien bei Karzinomen

.

.

.

.

.

.

.

.

.

703 703 708 708 708 709 709 709

XXII 18.4.8 18.4.9 18.4.9.1 18.4.9.2 18.4.9.3 18.4.9.4 18.4.10 18.4.11 18.4.11.1 18.4.11.2 18.4.11.3 18.4.11.4 18.4.12 18.4.13. 18.4.14 18.4.14.1 18.4.14.2 18.4.14.3 18.4.14.4 18.4.14.5

18.4.14.6 18.4.14.7 18.4.15 18.4.16

Inhaltsverzeichnis Polyneuropathien bei malignen Lymphomen und Leukämien Polyneuropathien bei Para- und Dysproteinämien Multiples Myelom (Plasmozytom) . . . Morbus Waldenstrom Benigne Gammopathien Nicht-hereditäre Amyloidosen . . . . Vitaminmangelneuropathien Erregerbedingte Polyneuropathien . . . Lepra Durch Zecken übertragene Meningopolyneuritis Herpes zoster HIV-Infektionen Polyradikuloneuritis Guillain-Barre . . Chronisch entzündliche demyelinisierende Polyneuritis Hereditäre Polyneuropathien HMSNI HMSN II HMSN III Polyneuropathie bei Porphyrie . . . . Hereditäre Neuropathien, bei denen Ausfalle im Bereich des Zentralnervensystems überwiegen . . Hereditäre Neuropathien mit Neigung zu Druckparesen Hereditäre Amyloidosen Diagnostische Möglichkeiten bei Polyneuropathien Therapie der Polyneuropathien . . . . Literatur

19.2.2.3 710 710 710 710 710 711 711 711 712 713 713 714 715 717 717 717 718 718 718

719 720 720 720 721 722

19.2.2.4 19.2.3 19.2.3.1 19.2.3.2 19.2.3.3 19.2.3.4 19.2.3.5 19.2.3.6 19.2.3.7 19.2.3.8 19.2.4 19.2.4.1 19.2.4.2 19.2.4.3 19.2.4.4 19.2.4.5 19.2.5 19.2.5.1 19.2.5.2

Adrenoleukodystrophie (ALD), Adrenomyeloneuropathie (AMN) und neonatale Adrenoleukodystrophie (NALD) Andere Leukodystrophien Aminosäuren-Stoffwechselstörungen und Organazidämien Phenylketonurie (PKU) Hypertyrosinämie Ahornsirup-Krankheit Propionyl-Coenzym-A-Karboxylase-Mangel Nicht-ketotische Hyperglyzinämie . . . Defekte des Harnstoffzyklus Hypervalinämie und Hyper-IsoleuzinLeuzinämie Verwertungsstörungen schwefelhaltiger Amminosäuren Kohlehydrat-Stoffwechselstörungen . . Galaktosämie Salla-Krankheit Mukolipidosen Glykogenosen Mukopolysaccharidosen Kupferstoffwechsel Morbus Wilson Menkes-Krankheit Literatur

735 736 737 737 739 739 739 739 739 739 740 740 741 742 742 743 744 745 745 746 746

20

Avitaminosen (H. U. Benz)

. . . 749

20.1

Definition

749

20.2

Vitamin-A-Mangel

749

20.3

Vitamin-E-Mangel

750

20.4

Vitamin-Bi-Mangel

751

20.5

Vitamin-B6-Mangel

751

20.6

Vitamin-B12-Mangel

752

Stoffwechselstörungen des Nervensystems (K. Harzer)

723

19.1

Allgemeine Angaben

723

20.7

Nikotinsäureamid-Mangel

754

19.2 19.2.1 19.2.1.1 19.2.1.2 19.2.1.3 19.2.1.4 19.2.1.5 19.2.1.6

Klinische Angaben Lipidstoffwechselstörungen Farber-Krankheit Gaucher-Rrankheit Niemann-Pick-Krankheit Gangliosidosen Fabry-Krankheit Refsum-Krankheit und Fettsäureabbaustörungen Zusammenfassung Lipidstoffwechselstörungen Leukodystrophien Metachromatische Leukodystrophie (MLD) Krabbe-Krankheit (Globoidzell-Leukodystrophie, GLD) . .

726 728 729 729 730 730 731

20.8

Biotin-Mangel

754

20.9

Folsäure-Mangel

755

21

Alkoholschäden am Nervensystem (J.Peiffer)

757

732

21.1

Häufigkeit und volkswirtschaftliche Bedeutung

757

21.2

Abhängigkeit

757

21.3

Formen des Alkoholismus

'758

21.4

Dosisabhängige Formen akuter Alkoholwirkung

758

19

19.2.1.7 19.2.2 19.2.2.1 19.2.2.2

732 733 734 735

XXIII

Inhaltsverzeichnis 21.5 21.6 21.6.1 21.6.2 21.6.3 21.6.4 21.6.5 21.6.6 21.7

22

Alkoholmetabolismus, Pathophysiologic und Pharmakawechselwirkungen . . . Neurologisch-psychiatrische Folgen des chronischen Alkoholmißbrauchs . . Wirkungen am Zentralnervensystem . Wirkungen auf das periphere Nervensystem Sekundäre Schädigungen des Zentralnervensystems Schädigungen an der Skelettmuskulatur Schädigungen von Embryo und Fetus . Schäden des nervösen Gewebes durch extrazerebrale Alkoholfolgeerkrankungen Todesursachen Literatur

22.2 22.2.1 22.2.2 22.2.3 22.3 22.3.1 22.3.2 22.3.3 22.3.4 22.3.5 22.3.6 22.3.7 22.3.8

23

23.2 23.2.1

. .

761 761 763

. .

764 764 765 765 766 766

769

Pathogenese unerwünschter Arzneimittelwirkungen Neurotoxizität Neuroimmunologische Erkrankungen . . Pseudoallergische Reaktionen . . . . Arzneimittelbedingte neurologische Syndrome Kopfschmerz Diffuse zerebrale Funktionsstörungen . . Zerebrale Krampfanfälle, Verwirrtheitszustände, Psychosen Zentrale Bewegungsstörungen . . . . Hirnnervenstörungen Polyneuropathien Neuromuskuläre Störungen Neurovegetative Störungen Literatur

23.2.8.1.5 23.2.8.2 23.2.8.3 23.2.8.4 23.3

Hinweise zur Diagnostik bei Myopathien

23.4

Differentialdiagnostische Aspekte bei Myopathien im Jugendund Erwachsenenalter Proximale oder proximal betonte Muskelschwäche Distale oder distal betonte Muskelschwäche Kranio-zervikal betonte Muskelschwäche . Schwäche der äußeren Augenmuskeln und Ptose Episodische Lähmungen Myalgien Kreatinkinase (CK)-Erhöhung . . . .

23.2.1.1.2 23.2.1.2 23.2.1.2.1 23.2.1.2.2 23.2.1.2.3 23.2.1.3

23.2.2 23.2.2.1 23.2.2.2 23.2.2.3 23.2.3

Müller-Oerling-

Art, Häufigkeit und Erkennung unerwünschter Arzneimittelwirkungen am Nervensystem

769 771 771 772 772 773 773 773 773 774 775 776 776 777 777

23.2.3.1 23.2.4 23.2.4.1 23.2.4.2 23.2.5 23.2.6 23.2.7 23.2.8 23.2.8.1 23.2.8.1.1 23.2.8.1.2 23.2.8.1.3 23.2.8.1.4

23.4.1

Muskelerkrankungen (J.Mewes,

23.1 23.1.1 23.1.2

B.

x-chromosomal-rezessiv erbliche Muskeldystrophien Muskeldystrophie vom Typ Duchenne (infantile aufsteigende maligne Beckengürtelform) Muskeldystrophie vom gutartigen Typ Becker-Kiener Autosomal erbliche Muskeldystrophien . Muskeldystrophie vom Gliedergürtel-Typ . Muskeldystrophie vom fazio-skapulohumeralen Typ Muskeldystrophie vom distalen Typ Welander Okuläre Muskeldystrophien (chronisch progrediente Ophthalmoplegien) Myotonische Myopathien Myotonia congenita Thomsen . . . . Paramyotonia congenita Eulenburg . . . Myotone Dystrophie Curschmann-Steinert Metabolische und ultrastrukturell-definierte Myopathien Glykogenose Typ V McArdle (Phosphorylase-Mangel) Myopathien bei Elektrolytstörungen . . Symptomatische dyskaliämische Lähmungen Familiäre periodische Lähmungen . . . Myopathien bei endokrinen Störungen . Rhabdomyolysen Toxische Myopathien Entzündliche Muskelerkrankungen . . . Idiopathische Polymyositiden . . . . Dermatomyositis Polymyositis Dermatomyositis im Kindesalter . . . Myositiden bei generalisierten Virusinfektionen Okuläre Myositis Interstitielle Herdmyositiden Parasitäre und bakterielle Myositiden . . Polymyalgia rheumatica

23.2.1.1.1

Unerwünschte ArzneimittelWirkungen am Nervensystem (L. G. Schmidt, hausen)

22.1

23.2.1.1 759

F.Gullotta)

779

Einführung Definition und Epidemiologie . . . . Pathogenese und Morphologie der häufigsten Muskelerkrankungen . .

779 779

Krankheitsbilder Progressive Muskeldystrophien

783 783

. . . .

779

23.4.2 23.4.3 23.4.4 23.4.5 23.4.6 23.4.7

783

783 785 785 785 786 786

786 787 788 788 788 789 790 790 790 791 793 793 794 795 795 795 796 796 796 797 797 797 797 798

799 799 799 800 800 800 801 801

XXIV 23.5

24

Inhaltsverzeichnis Therapie der Myopathien Literatur

802 802

25.4 25.4.1 25.4.2 25.4.3

Myasthenia gravis und andere Myastheniesyndrome (R. Hohlfeld, Κ. V. Toyka) . . . .

803

25.5

24.1

Definition und Epidemiologie

803

24.2

Ätiologie

803

25.5.1 25.5.2 25.5.3

24.3

Pathophysiologic

803

. . . .

24.4

Pathologische Anatomie

804

24.5

Symptomatik

805

24.6

Verlauf und Prognose

806

24.7 24.7.1

Diagnostische Maßnahmen Autoantikörper gegen Azetylcholinrezeptoren Tensilon-Test Elektromyographie Röntgendiagnostik und weitere diagnostische Maßnahmen

807

24.7.2 24.7.3 24.7.4 24.8 24.9 24.9.1 24.9.2

25

807 807 808 808

Differentialdiagnose; andere Myastheniesyndrome

809

Therapie Myasthenia gravis Lambert-Eaton-Syndrom Literatur

809 809 811 812

Beteiligung des Nervensystems bei extraneuralen Grundkrankheiten (K. L. Birnberger) . . .

25.5.4.1 25.5.4.2 25.5.4.3 25.6 25.6.1 25.6.2 25.6.3 25.6.4 25.6.5

Stoffwechsel- und hormonelle Störungen Diabetes mellitus Porphyrinstoffwechselstörungen . . . . Hypothyreose Hyperthyreose Störungen der Nebennierenrindenfunktion

830 830 831 831 832 833

25.7

Rheumatische und immunologische Erkrankungen Primär chronische Polyarthritis (PcP) Systemischer Lupus erythematodes . Panarteriitis nodosa Paraproteinämien

834 834 835 835 836

25.5.4

25.7.1 25.7.2 25.7.3 25.7.4 25.8 25.8.1 25.8.2

813

25.1.3 25.1.4 25.1.5 25.2 25.2.1 25.2.2 25.2.3 25.3 25.3.1 25.3.2 25.3.3 25.3.4

Herz-Kreislauf-Erkrankungen . . . . Angeborene Herzfehler Neurologische Probleme bei Herzoperationen Herzerkrankungen, die zur Emboliebildung prädisponieren Herzerkrankungen, die zu einer diffusen zerebralen Ischämie fuhren können . . . Hypertensive Enzephalopathie . . . .

813 814

Lungenerkrankungen Respiratorische Insuffizienz Respiratorische Alkalose (Hyperventilationssyndrom) Infektionskrankheiten der Lunge

819 819

Hämatologische Erkrankungen . Sichelzellanämie Polyzytämie Hämorrhagische Diathesen Leukämien, Erkrankungen des lymphoretikulären Systems

.

.

.

.

. .

25.8.4 25.8.5

815 815 817 819

820 821 822 822 822 823 824

. . . .

825 825 825 82b

Nierenerkrankungen, Elektrolytstörungen Urämische Enzephalopathie Urämische Polyneuropathie Neurologische Komplikationen der Dialysebehandlung Neurologische Manifestationen der Elektrolytstoffwechselstörungen . . . . Natriumstoffwechselstörungen . . . . Kaliumstoffwechselstörungen . . . . Kalziumstoffwechselstörungen . . . .

25.8.3 25.1 25.1.1 25.1.2

Leber- und gastrointestinale Erkrankungen Hepatische Enzephalopathie Malabsorptionssyndrome Pankreatische Enzephalopathie

. .

. .

Onkologische Erkrankungen . . . . Progressive multifokale Leukenzephalopathie Paraneoplastische Enzephalomyeloradikulitis Paraneoplastische Kleinhirnrindenatrophie Paraneoplastische Polyneuropathie . . . Lambert-Eaton-Syndrom Literatur

826 826 827 827 828 828 829 829

836 836 837 837 837 838 838

Rehabilitation bei neurologischen Erkrankungen (H.H.Janzik) . . .

839

26.1

Einführung

839

26.2

Krankengymnastik

840

26.3

Ergotherapie

842

26.4

Sprachtherapie

843

26.5

Psychologische Rehabilitationsmaßnahmen

844

Sozialmedizinische Aspekte Literatur

846 847

Sachwortverzeichnis

849

26

26.6

1 Untersuchungsmethoden

1 Untersuchungsmethoden

Bestandteile der neurologischen Untersuchung sind: - Anamnese, - neurologischer Grundstatus, - neurologische Detailuntersuchungen, - Allgemeinbefund, - apparative und Labordiagnostik. Ziel der Untersuchungen ist die Beschreibung der Krankheitszeichen (Symptome), die bei typischer Konstellation zu einem Syndrom zusammengefaßt werden können. Aus den Untersuchungsbefunden werden - Art (ζ. B. Blutung), - Ort (ζ. B. Innere Kapsel) und - Genese (ζ. B. Bluthochdruck) der Läsion(en) abgeleitet und zu einer Diagnose zusammengefaßt.

1.1 Anamnese T. Mergner

Anamnese:

Sie hat einen hohen Stellenwert, da sie den zeitlichen Verlauf der Erkrankung liefert, somit auch flüchtige Symptome erfaßt, ferner den Schmerz und das subjektive Krankheitserleben des Patienten einbezieht und wegweisend für den Gang der Diagnostik ist. Der Arzt läßt den Patienten zunächst spontan berichten, bevor er mit gezielten Fragen die Anamnese strukturiert und die sich dabei abzeichnenden Hypothesen über die Art der Erkrankung herausarbeitet. Die Fragen dürfen die Antworten nicht präjudizieren, und Fachausdrücke sind von beiden Seiten zu vermeiden. Der Arzt beobachtet Mimik und Gestik des Patienten, achtet bei der Beschwerdeschilderung auf Übereinstimmung zwischen Inhalt und Darstellung. Dabei verschafft er sich einen ersten Eindruck von dessen Persönlichkeit sowie von dessen körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit und schätzt die Verwertbarkeit der einzelnen Angaben ab.

Hoher Stellenwert! Sie erfaßt den bisherigen Krankheitsverlauf und das subjektive Krankheitserleben, erlaubt bereits häufig Rückschlüsse auf Art, Ort und Genese der Erkrankung.

A m Anfang steht die Anamnese der aktuellen Erkrankung. Erfaßt werden - Beginn der Erkrankung und eventuelle Auslöser (ζ. B. „Verheben" mit einschießenden Rückenschmerzen), - Art und Schweregrad der Symptome (ζ. B. „schwere Lähmung"), - Lokalisation und Verteilungsmuster (ζ. B. „Gefühlsstörung am Bein, streifenförmig an der Außenseite vom Gesäß bis zum Fuß"), - zeitlicher Verlauf (ζ. B. Beginn perakut, akut, subakut, allmählich; Verlauf langsam oder schnell progredient; schubförmige Verschlechterung; anhaltende Rückbildung nach akutem Beginn; rezidivierend etc.), - Prodromi (ζ. B. Aura vor zerebralem Krampfanfall) und Begleitsymptome, - Auslöser für Beschwerdeverschlechterung (ζ. B. Heben bei vertebragenen Beschwerden) und -Verbesserung (Einnahme einer bestimmten Körperhaltung),

Bestandteile: - aktuelle Erkrankung, - Eigenanamnese, - Familienanamnese, - Sozialanamnese, - Genußmittel/Medikamente, - Vegetativum, - Fremdanamnese.

Untersuchungsmethoden

2

- bisherige diagnostische Maßnahmen (ζ. B. Krankenhausaufenthalte) und Therapien mit Angaben über deren Erfolg oder Mißerfolg. Bei der gezielten Befragung werden bereits Hypothesen darüber entwickelt, welches Funktionssystem gestört ist, wo der Ort der Schädigung zu suchen ist und wie die Schädigung entstanden sein könnte. Aufgrund eines starken Kausalitätsbedürfnisses neigt der Patient gewöhnlich dazu, einen zeitlichen mit einem kausalen Zusammenhang gleichzusetzen (ζ. B. „Schub" einer Multiplen Sklerose nach Unfall). Das Bejahen oder Verneinen einer solchen Zusammenhangsfrage bedarf einer sorgfältigen Abwägung. Möglichst in zwangloser Anknüpfung an bisher Gesagtes folgen: - Eigenanamnese (eigene Geburt, Kinderkrankheiten, relevante Vorerkrankungen, Krankenhausaufenthalte, Operationen etc.; bei Frauen gynäkologische Anamnese), - Familienanamnese (Erkrankungen der Eltern, Geschwister und anderer Blutsverwandter, evtl. auch Todesursachen), - Sozialanamnese (schulischer und beruflicher Werdegang; evtl. Belastungen und Expositionen am Arbeitsplatz; familiäre bzw. partnerschaftliche Situation; Besonderheiten der Freizeitgestaltung; etc.), - Genußmittel (einschließlich Drogen) und Medikamente, - Angaben zum Vegetativum (Blasen- und Mastdarmfunktion; Gewichtsverlauf; Schlaf etc.). In Fällen von Bewußtseinsstörung, Amnesie oder eingeschränkter Verwertbarkeit der Angaben ist eine Fremdanamnese zu erheben. Bei Anfallsleiden zum Beispiel ist dies immer erforderlich, da der Patient die Anfälle ja nicht bewußt erlebt. Man fragt Angehörige, Arbeitskollegen etc. gezielt nach Bewußtseinsstörung, Initialschrei und Hinstürzen, tonischer Streckung und klonischen Zuckungen, Atemstörung und Schaum vor dem Mund („großer Anfall"), oder aber nach kurzen Phasen von „Geistesabwesenheit" mit Nesteln der Hände und unwillkürlichen Mundbewegungen (komplexe Absence)

Klinisch-neurologische Untersuchung: - neurologischer Grundstatus, - gezielte Detailuntersuchungen.

Neurologischer Grundstatus

1.2 Klinisch-neurologische Untersuchung Die Untersuchung kann nach Körperregionen oder nach Funktionssystemen erfolgen. Gewöhnlich wählt man eine Mischung aus beiden. Zum Beispiel beginnt man mit dem Kopf einschließlich der Hirnnerven und untersucht dann am übrigen Körper jeweils durchgehend Reflexe, Motorik, Koordination und Sensibilität. Es ist sinnvoll, die Untersuchung gedanklich in zwei Schritte aufzuteilen. Zunächst geht es darum, sich anhand eines neurologischen Grundstatus einen Überblick über alle Funktionssysteme zu verschaffen. Dazu prägt man sich den Untersuchungsgang fest ein und arbeitet ihn bei jedem Patienten vollständig ab, um nichts Wesentliches zu versäumen. Als Leitfaden mag der „Normalbefund" in folgender Zusammenstellung die-

Beispiel für neurologischen Grundstatus (Normalbefund) Inspektion: ohne Auffälligkeiten. Kopf: frei beweglich, kein Meningismus; kein Kalottenklopfschmerz; Nervenaustrittspunkte (NAP) frei; Karotiden gut pulsierend, kein Stenosegeräusch. Hirnnerven: I Seife („Parfüm") beidseits erkannt. II Visus subj. gut; Gesichtsfeld fingerperimetrisch intakt; Fundi nicht gestaut.

Klinisch-neurologische III, IV, VI

V VII VIII IX-XII

Untersuchung

Augenmotilität regelrecht; kein path. Nystagmus; Pupillen rund, mittelweit u. isokor, prompte Reaktion auf Licht u n d Konvergenz. Sensibilität intakt; Kornealreflex beidseits lebhaft; Masseter bds. kräftig. mimisch und willkürlich regelrecht. Gehör subjektiv gut; Fingerreiben beidseits erkannt; Weber-Versuch nicht lateralisiert. Zunge gerade herausgestreckt, Bewegung frei (XII); Gaumensegel symmetrisch, seitengleich angehoben; Schluckakt subjektiv ο. B., Würgereflex auslösbar (IX, X); M. stemocleidomastoideus symmetrisch und kräftig (XI).

Sprechen/ Sprache: Reflexe:

regelrecht Muskeleigenreflexe an Armen und Beinen lebhaft u. symm. ausgelöst; keine positiven Pyramidenbahnzeichen. Motorik: Tonus, Trophik und Motilität allseits regelrecht; Armvorhalteversuch, Einbeinhüpfen, Fußspitz- und Fersengang regelrecht. Koordination: Eudiadochokinese bds.; zielsichere Zeigeversuche; kein Tremor; Stand und Gang sicher, auch nach Augenschluß; gute Mitbewegungen. Sensibilität: allseits regelrechte Oberflächensensibilität (Berührungs-, Schmerz- und Temperaturempfindung) und Tiefensensibilität (Vibrations- und ,,Gelenklage"-Sinn). Psyche: voll orientiert; G r u n d s t i m m u n g , affektive Schwingungsfähigkeit u. Antrieb regelrecht; Neu- und Altgedächtnis gut, keine inhaltlichen und formalen Denkstörungen, keine W a h m e h m u n g s s t ö r u n g e n ; Intelligenz bei grober Abschätzung in der N o r m .

Ausgehend von diesen Befunden und von Hinweisen aus der A n a m n e s e werden neurologische Detailuntersuchungen (ζ. B. Geschmacksproben, Schweißteste etc.) eingeschoben oder angeschlossen. Aus dem Befund sollte möglichst hervorgehen, wie bzw. mit welcher Methode (ζ. B. Fingerperimetrie, s. u.) untersucht wurde. Mangelt es an der Mitarbeit des Patienten, ist dies ausdrücklich zu vermerken, da bestimmte Befunde dann nur eingeschränkt oder gar nicht verwertbar sein können. W e n n möglich, so sollte ein großer Teil der Untersuchung im Stehen oder Sitzen erfolgen, wobei Körperhaltung, Gleichgewicht, Gestik und Mimik, die Feinmotorik beim Aus- u n d Ankleiden etc. beobachtet werden. Untersuchungswerkzeuge: M a n benötigt regelmäßig Reflexhammer, Taschenlampe, Augenspiegel, Nadelrad, Stimmgabeln z u m Testen des Gehörs (ζ. B. 256 Hz) und des Vibrationssinns (64 Hz), einen Wattebausch, einen Mundspatel, ein Holzstäbchen, je ein Reagenzglas mit kaltem und warmem Wasser (Temperatursinn), ferner Stethoskop und Blutdruckmeßgerät. Zusätzlich können eine Nahvisustafel, eine Frenzel-Brille, Geschmacks- und Geruchsproben, Reagenzien für einen Schweißtest sowie eine Rot-GrünBrille notwendig werden.

Untersuchungsmethoden

4 lnspektion

1.2.1 Inspektion

Körperbau allgemein, Kopf und Wirbelsäule im Speziellen, Haut, Schleimhäute und Behaarung.

Bei der Untersuchung soll der Patient nahezu vollständig entkleidet sein. Beim Aus- und Ankleiden achtet man bereits darauf, ob parese- oder schmerzbedingte Bewegungsstörungen, „Ungeschicklichkeiten" (feinmotorische Störungen, Koordinationsstörungen oder Dyspraxien) sowie Gleichgewichtsstörungen vorliegen. Man inspiziert den ganzen Körper und palpiert gegebenenfalls auffällige Regionen. Besonderheiten werden vermerkt; sie können Teil oder Folge einer neurologischen Erkrankung und wegweisend für die weitere Diagnostik sein. Körperbau: Von besonderer Relevanz sind Akromegalie oder andere Wachstumsstörungen, Hypogenitalismus, Wirbelsäulenveränderungen, dysraphische Zeichen, Deformitäten der Extremitäten (ζ. B. „Friedreich-Fuß"), „Kurzhals", um einige Beispiele zu nennen. Haut: Zu beachten sind insbesondere Mißbildungen (Melanom, Gefäßnävi, Cafe-au-lait-Flecken, etc.), trophische Störungen (Glanzhaut, Hyperkeratosen, Nagelveränderungen, Wundheilungsstörungen, Myxödem, etc.), Verletzungs- oder Brandwunden sowie Behaarungsanomalien (ζ. B. lumbale Hypertrichose über Spina bifida oculta). Kopf: Er wird nochmals separat inspiziert. Man achtet auf Abnormitäten der Schädelform (Hydrozephalus, Mikrokranie, Schädelasymmetrie, Turm- oder Kahnschädel), Knochenlücken oder -stufen sowie sieht- oder tastbare Veränderungen der Kopfschwarte (Hämatom, Tumor). Im Gesicht können es Besonderheiten der Weichteile (Hemiatrophia facialis), der Augen (Hyperteleorismus, Ex- oder Enophthalmus), der Nase (Adenoma sebaceum, Naevus flammeus), des Mundes und der Kiefer (Lippen-Gaumen-Kieferspalte) sein. Eine spontane Schiefhaltung des Kopfes („Schiefhals") kann auf angeborene oder erworbene Veränderungen der Halsmuskeln oder der Halswirbelsäule hinweisen, aber auch kutan oder muskulär durch Narbenzug, okulär (zum Ausgleich einer Augenmuskelparese), durch Nerven- bzw. Wurzelreizung oder durch eine Erkrankung des extrapyramidalen Systems (Torticollis spasmodicus) bedingt sein.

Untersuchung des Kopfes

Nackensteife (Meningismus): Schmerzbedingtes Gegenspannen der Nakkenmuskulatur auf passives Beugen (bei Reizung der Hirnhaut).

1.2.2 Untersuchung des Kopfes Beweglichkeit Geprüft wird die maximale Auslenkung bei aktiver und passiver Streckung und Beugung sowie bei Drehung und Seitneigung. Ein passiver Widerstand ist, falls kein anderer Grund ersichtlich ist, zumeist durch einen bereits in Ausgangsstellung erhöhten Muskeltonus bedingt (ζ. B. „Nackenrigor" beim Parkinson-Syndrom). Ein frühzeitiger aktiver Widerstand, insbesondere wenn er gegen Drehung oder Kippung geleistet wird, entsteht meistens reflektorisch durch Schmerzen im Rahmen degenerativer Schäden der Halswirbelsäule (HWS) mit Affektion der Nervenwurzeln oder der Wirbelgelenke. In solchen Fällen kann der Kopf schmerzbedingt in einer bestimmten Stellung fixiert sein ("Blockierung"). Eine Sonderstellung nimmt die Beugung ein; dabei werden Hirnhäute, Gefäße und Nervenwurzeln stark gedehnt. Bei lokaler Reizung der Hirnhäute durch Entzündung, Blutung oder Raumforderung löst speziell die Beugung ein schmerzreflektorisches Gegenspannen aus, das als Nackensteife oder Meningismus bezeichnet wird. Bei mittelgradiger Ausprägung werden zusätzlich die Beine in Hüfte und Knie gebeugt (positives Brudzinski-Zeichen), und das passive Anheben der gestreckten Beine von der Unterlage (Hüftbeugen) durch den Arzt führt zu einer reflektorischen Beugung im Kniegelenk (Entdehnung des N. ischiadi-

Klinisch-neurologische Untersuchung cus; positives Kernig-Zeichen). Bei starker Ausprägung ist bereits die Normalhaltung schmerzhaft, und der Patient n i m m t spontan eine Schonhaltung ein, bei der der Nacken überstreckt (Opisthotonus) und die Lendenwirbelsäule hyperlordosiert sind und Arme u n d Beine gebeugt gehalten werden. Gelegentlich berichten Patienten über ein durch N a c k e n b e u g u n g ausgelöstes, einschießendes u n d flüchtiges Elektrisierungsgefühl entlang der Wirbelsäule, evtl. ausstrahlend bis in die Extremitäten (Nackenbeuge- oder Lhermitte-Zeichen). Es k o m m t vor bei Prozessen im zervikalen Wirbelkanal (Tumoren, Narbenstränge) oder im Myelon (Multiple Sklerose), die a n s c h e i n e n d direkt die Hinterstränge des R ü c k e n m a r k s reizen. Hierbei handelt es sich nicht u m S c h m e r z e n (anders als G e f ä ß e u n d M e n i n g e n enthalten G e h i r n u n d R ü c k e n m a r k keine Schmerzfasern), sondern u m Parästhesien („Fehlempfindungen").

Kalottenklopfschmerz Das Beklopfen der Kalotte mit den Fingerspitzen kann einen lokalen oder diffusen Erschütterungsschmerz auslösen (Zeichen für eine lokale oder diffuse Hirnhautreizung).

Nervenaustrittspunkte (NAP) Getestet werden durch Druck - die drei Trigeminusäste (N. supraorbitalis = ophthalmicus, Ν. infraorbitalis = maxillaris, N. mentalis = mandibularis). Eine Druckdolenz findet sich u. a. bei Trigeminusneuralgie, bei Sinusitis und gelegentlich bei supratentorieller Hirnhautreizung (Entzündung, Tumor). - N. occipitalis major (ca. 2 cm paramedian am Ansatz der Nackenmuskeln) und N. occipitalis minor (am Hinterrand des M. stemocleidomastoideus, medial vom Warzenhöcker). Eine umschriebene Druckdolenz findet sich bei Neuralgie sowie bei Hirnhautreizung in der hinteren Schädelgrube. Eine zusätzlich die angrenzenden Muskelregionen umfassende Druckdolenz liegt beim „Spannungskopfschmerz" vor.

Karotiden Die Untersuchung erfolgt durch - Palpation: Die Teilungsstelle der A. carotis liegt in etwa am Vorderrand des M. stemocleidomastoideus in H ö h e des Schildknorpels. Bei Verschlüssen in dieser Höhe oder darüber kann der Palpationsbefund regelrecht sein, evtl. erscheint die Pulsation sogar besonders stark. U n m i t t e l b a r vor d e m Ohr tastet m a n die A. temporalis u n d am Unterkieferrand die A. facialis, zwei Hauptäste der A. carotis externa. A m inneren, oberen Augenwinkel ist häufig die A. angularis tastbar. Sie erhält normalerweise ihren Z u s t r o m aus der A. carotis interna (Fluß von intra- n a c h extrakraniell über die A. ophthalmica) u n d vereinigt sich mit Ästen der A. facialis, evtl. auch der A. temporalis. Bei Internaverschluß k o m m t es zur U m k e h r der Flußrichtung. In solchen Fällen führt das zusätzliche A b d r ü c k e n der zumeist verstärkt pulsierenden A. facialis u n d temporalis zur Abschwächung bzw. z u m Sistieren des Angularispulses.

- Auskultation: Geräusche sind nur bei Stenosen zwischen 65 % und 90 % zu erfassen. Sie sind n u r dann verwertbar, wenn sie von Geräuschen anderer Genese (fortgeleitet vom Herzen, Schilddrüsenarterien bei Hyperthyreose) abgegrenzt werden können. Bei Seitendifferenzen von Puls u n d Blutdruck sowie a n a m n e s t i s c h e n A n g a b e n über D u r c h b l u t u n g s s t ö r u n g e n im vertebro-basilären Kreislauf u n d im Arm (flüchtige Ben o m m e n h e i t , Schwindel, Sehstörungen etc. bzw. reversibler Ischämieschmerz im A r m bei längerem H e b e n über die Horizontale oder b e i m Arbeiten mit der H a n d ) ist zusätzlich eine Auskultation der A. subclavia (medial über u n d lateral u n t e r d e m Schlüsselbein) u n d der A. brachialis (Innenseite des Oberarms) notwendig.

Weiterführende Diagnostik: Doppler-Sonogramm, Digitale Subtraktions- oder konventionelle Angiographie

Karotiden: Ein frühzeitiges Aufdecken von Stenosen kann Schlaganfälle verhindern.

Untersuchungsmethoden

6 Hirnnerven

1.2.3 Hirnnerven

I N. olfactorius: Geruchsproben wie Seife, Kaffee, Vanille etc.

I N. olfactorius

Erkennen psychogener Geruchsstörung mittels Trigeminus-Reizstoffen.

Prüfung: Die Darbietung der Geruchsproben erfolgt getrennt für jede Seite, wobei jeweils die gegenseitige Nasenöffnung zugedrückt wird u n d der Patient die Augen geschlossen hält. Als Proben kommen Seife („Parfüm"), Kaffee („Kaffee oderTabak"), Vanillin („Vanille oder Pudding") etc. in Frage, wobei die Gerüche allseits bekannt sein sollten. Bei wiederholt falschen Angaben empfiehlt sich eine Leerprobe (ζ. B. Wasser). Bei genereller Verneinung einer Geruchsempfindung kann man Stoffe mit Schleimhaut-(Trigeminus-)Reizwirkung wie Formalin oder Salmiak verwenden. Wird trotz freier Nasenatmung eine Empfindung verneint, so ist eine psychogene Störung wahrscheinlich.

Häufigste Ursache einer Anosmie: „Schnupfen".

Befunde: Möglich sind eine fehlende, eine zu geringe, eine falsche oder falsch-unang e n e h m e G e r u c h s e m p f i n d u n g (An-, Hyp-, Par-, und Kakosmie). Bei Hyp- u n d A n o s m i e liegt der Schädigungsort zumeist peripher im Bereich R i e c h s c h l e i m h a u t , Fila oder Bulbus. Die häufigsten Ursachen sind R h i n i t i d e n sowie F i l u m - oder Bulbusschäden bei S c h ä d e l h i r n t r a u m e n (reversibel oder irreversibel, evtl. erst Tage bis W o c h e n nach d e m T r a u m a d u r c h Narbenbildung). Ist die Geruchsstörung einseitig, so wird sie vom Patienten gewöhnlich nicht spontan bemerkt, sondern erst bei der P r ü f u n g aufgedeckt. Weitere Ursachen sind Diabetes mellitus, fronto-basale T u m o r e n (ζ. B. das ,,01faktorius"-Meningeom), basale M e n i n g i t i d e n u n d M. Paget. Parosmien oder die V e r b i n d u n g von A n o s m i e mit Ageusie (fehlende G e s c h m a c k s e m p f i n d u n g ) lassen eher einen zentralen Schädigungsort vermuten, insbesonders bei vorausgegangener schwerer H i r n k o n t u s i o n . Eine verminderte Geruchs- u n d G e s c h m a c k s e m p f i n d u n g k o m m t auch n a c h längerer E i n n a h m e b e s t i m m t e r M e d i k a m e n t e (Penizillamin, Phenytoin, LDopa etc.) sowie physiologischerweise im Alter vor. Spontane, anfallsartig auftretende G e r u c h s e m p f i n d u n g e n k ö n n e n Ausdruck einer epileptischen Aura bei tempero-basalen Prozessen sein („Unzinatus-Krisen").

Seltener: Schädel-Hirn-Trauma, „Olfaktorius-Meningeom".

Kurzbeschreibung: Regio oifactoria im oberen N a s e n g a n g - Fila olfactoria (via Lam i n a cibrosa) - Bulbus u n d Tractus olfactorius - Zwischenhirnkerne u. Paläocortex im Bereich des ventrolateralen Schläfenlappens (involviert sind u. a. Corpus amygdaloideum, S e p t u m pellucidum, P a r a h i p p o c a m p u s mit Uncus, Teile des limbischen Systems).

Allgemein ist zu berücksichtigen, daß der G e r u c h die „ F e i n a b s t i m m u n g " des Schmekkens m a c h t (letzteres unterscheidet n u r vier Qualitäten; s. Ν. VII). Deshalb wird häufig zwischen beiden nicht genau differenziert. Bezeichnenderweise wird im alemannischen S p r a c h r a u m beides als „ S c h m e c k e n " bezeichnet.

II N.opticus:

II N. opticus Kurzbeschreibung: R e t i n a (vorverlagerter Hirnteil) - „Nervus" opticus (via Canalis n. optici) - Chiasma (die Fasern der nasalen R e t i n a kreuzen) - Tractus opticus (1) Corpus g e n i c u l a t u m laterale - Sehstrahlung - primäre sowie sekundäre u. tertiäre Sehrinde (Areae 17, 18, 19) - a n g r e n z e n d e G e b i e t e im Parietallappen (Lokalisation von Blickzielen im d r e i d i m e n s i o n a l e n R a u m , evtl. a u c h Bewegungssehen) u n d im Temporallappen (Identifizierung) (2) Colliculi sup. u n d prätectale Kerne (visuell ausgelöste Sakkaden) sowie a n g r e n z e n d e Zellgruppen (optokinetischer Reflex).

Die neurologische Untersuchung dieses Hirnnerven ist nur grob orientierend und zielt primär auf die Feststellung retroorbitaler Läsionen der Sehbahn ab. Für eine genauere Diagnostik und Verlaufskontrolle ist eine ophthalmologische Untersuchung erforderlich. Visus (Sehschärfe): Prüfung mit Visustafel.

Visus Prüfung: Nach gezielter Befragung auf ausreichende Sehschärfe wird beiden Augen getrennt eine Leseprobe (ζ. B. Nahvisustafel) dargeboten. Dabei sollen Refraktionsanomalien durch die üblicherweise benutzte Brille ausgeglichen sein. Bei ausgeprägter Visusstörung behilft man sich provisorisch mit der Fingerzählprobe („wieviel Finger meiner Hand sehen Sie"), oder man be-

Klinisch-neurologische

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Untersuchung

wegt ein Licht vor d e n A u g e n des P a t i e n t e n u n d läßt sich die R i c h t u n g angeBefunde: Ein- oder beidseitige Visusminderungen, für die sich keine intraokuläre Erklärung findet, sind zumeist durch eine entzündliche, toxische oder raumfordernde Wirkung auf Nervus, Chiasma und Tractus oder durch eine Ischämie im hinteren Abschnitt der Sehbahn bedingt. Bei der Differentialdiagnose helfen häufig der Zeitgang der Störung (Ischämie oder Karotisaneurisma - akut, „Neuritis" - subakut, Hypophysentumor oder Kraniopharygeom - chronisch progredient), etwaige Begleitsymptome (ζ. B. pulsierender Exophthalmus und Einschränkung der Augenmotilität bei Sinuscavernus-Fistel), sowie der Gesichtfeld- und Papillenbefund. Eine Sonderstellung nimmt die flüchtige, einseitige Blindheit (Amaurosis fugax) ein. Mittels Doppler-Sonographie sollte geklärt werden, ob hinter der Retina-Ischämie ein Verschluß oder eine hochgradige Stenose der gleichseitigen A. carotis steht. Vertebro-basiläre Durchblutungsstörungen fuhren dagegen zumeist zu Sehstörungen im binokularen Sehfeld. Eine nur monokular imponierende Lesestörung kann durch ein Zentralskotom (ζ. B. bei Neuritis nervi optici mit bevorzugtem Befall des makulopapillären Sehnervenbündels) bedingt sein und ist von der eigentlichen Lesestörung (Alexie, gewöhnlich verbunden mit Aphasie) zu unterscheiden. Bei einem Teil der toxisch bedingten Sehstörungen imponieren initial Farbsinnstörungen (Rot-Grün-Blindheit bei Alkohol-TabakAmblyopie, Gelbsehen bei Digitalisüberdosierung), nicht dagegen bei der Methylalkoholintoxikation mit Visusverlust.

Visusminderung: akut - ζ. B. Amaurosis fugax, subakut - ζ. B. Neuritis nervi optici, langsam progredient z. B. Hypophysentumor.

Gesichtsfeld Prüfung: M i t der „ F i n g e r p e r i m e t r i e " verschafft m a n sich e i n e n groben Überblick. Arzt u n d P a t i e n t sitzen oder stehen sich in e i n e m A b s t a n d von etwa e i n e m M e t e r g e g e n ü b e r u n d blicken e i n a n d e r in die A u g e n . Der P a t i e n t deckt n a c h e i n a n d e r das eine u n d das a n d e r e Auge ab. Der Arzt hält seine A r m e seitlich ausgestreckt u n d f ü h r t die H ä n d e l a n g s a m von der Peripherie h e r in das G e s i c h t s f e l d , getrennt f ü r d e n o b e r e n u n d u n t e r e n Q u a d r a n t e n b e i d e r Seiten, wobei er abwechselnd auf der e i n e n oder a n d e r e n Seite sowie auf b e i d e n Seiten die F i n g e r bewegt. Sein eigenes Gesichtsfeld d i e n t i h m dabei als Kontrolle. Der P a t i e n t gibt an oder zeigt, auf welcher Seite er die Fingerbewegung sieht.

Gesichtsfeld: Orientierende Prüfung mit „Fingerperimetrie".

Bei n i c h t kooperativen P a t i e n t e n ist m a n auf die B e o b a c h t u n g angewiesen. M a n prüft, ob der P a t i e n t die plötzlich von einer Seite her auf das A u g e zuk o m m e n d e H a n d des U n t e r s u c h e r s b e m e r k t (visuell ausgelöster Blinzelreflex; cave: sensible R e i z u n g d u r c h Luftzug). Befunde: Die bei Läsion verschiedener Sehbahnabschnitte resultierenden Gesichtsfeldausfälle sind schematisch in Abbildung 1-1 gezeigt: (1) Blindheit (Amaurosis) eines Auges bei Läsion des gleichseitigen Sehnerven (verbunden mit amaurotischer Pupillenstarre; s. unten). Ursachen sind u. a. Neuritis nervi optici, orbitale oder retroorbitale Tumoren (Röntgen-Spezialaufnahme des Canalis n. o. nach Rhese, CT) und Schädelhirntraumen. (2) Bitemporale Hemianopsie bei Zerstörung der kreuzenden, von der nasalen Retina stammenden Fasern im Chiasma (ζ. B. durch Hypophysentumor, Kraniopharyngeom), zumeist oben beginnend. Selten ist eine rein nasale Hemianopsie eines Auges durch Läsion der ungekreuzten Fasern von der temporalen Retina (z.B. durch Karotisaneurisma; nicht dargestellt). (3) Homonyme Hemianopsie nach links (homonym = korrespondierende Sehfeldabschnitte beider Augen betreffend) durch Läsion des Tractus opticus. (4) Obere Quadrantenanopsie durch Läsion der Sehstrahlung im Temporallappen (die Fasern umlaufen das Temporalhorn der Seitenventrikel). (5) Untere Quadrantenanopsie durch Läsion medialer Sehstrahlfasern. (6) Homonyme Hemianopsie nach links bei Läsion des Okzipitallappens, wobei die Kongruenz der Ausfälle zumeist sehr exakt ist. In einigen Fällen bleibt das zentrale Sehfeld ausgespart (mögliche Ursachen: Versorgung des Okzipital-Pols durch einen Ast der A. cer. media, inkomplette Läsion der Sehstrahlung, inkomplette Kreuzung der von der Makula stammenden Sehnervenfasern). Eine Differenzierung zwischen 4 - 6 ist anhand des perimetrischen Befundes allein oft nicht möglich (weitere Einzelheiten s. 2.5.). Bemerkenswert ist, daß bei Läsionen im Bereich Sehstrahlung und Okzipitalhirn der Sehfelddefekt vom Patienten zumeist nicht direkt bemerkt wird, sondern ihm eher dadurch auffällt, daß er auf der betreffenden Seite immer wieder mit Hindernissen kolli-

Retroorbital bedingte Gesichtsfeldausfälle: - bitemporal (ζ. B. Hypophysenadenom), - nasal (ζ. B. Karotisaneurismen), - homonyme Hemianopsie (ζ. B. Insult im Bereich der A. cerebri posterior), - homonyme Quadrantenanopsie (ζ. B. Tumor im Bereich der Sehstrahlung).

Untersuchungsmethoden

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Homonyme Hemianopsie nach I

® 4m Obere Quadrantenanopsie I

Homonyme Hemianopsie (evtl.„Makula Aussparung") Abb. 1-1

Gesichtsfelddefekte bei Läsionen der Sehbahn (s. Text)

diert, sich dabei evtl. sogar verletzt. Läsionen im okzipito-temporalen und -parietalen Übergang können zu kognitiven Störungen im Zusammenhang mit dem Sehen führen (Nichterkennen vertrauter Gesichter - Prosopagnosie; Nichterkennen von räumlichen Beziehungen - Raumagnosie; visuelle Benennungsstörungen). Wird bei der Fingerperimetrie nur unter simultaner Reizung konstant die eine Seite nicht gesehen, so handelt es sich um eine hemianopische Aufmerksamkeitsschwäche. Ein entsprechender Befund findet sich dann zumeist auch bei der simultanen Sensibilitätsprüfung (s. Neglekt; fast immer ist die linke Seite betroffen). Buchstabenzeilen oder horizontale Linien werden nur zur Hälfte gesehen. Verleugnet ein Patient seine Hemianopsie, so spricht man von Anosognosie für die Hemianopsie. Dieses eigenartige Phänomen findet sich gelegentlich auch bei kortikaler Blindheit. Augenhintergrund: (mit Weitstellung der Pupille durch Dunkeladaption, nicht durch Mydriatika).

Augenhintergrund ( F u n d u s oculi) Prüfung: Die A u g e n s p i e g e l u n g erfolgt g e w ö h n l i c h m i t d e m S t a b o p h t h a l m o skop, bei d e m eine etwaige R e f r a k t i o n s a n o m a l i e des P a t i e n t e n ausgeglichen werden m u ß . Das Bild ist a u f r e c h t u n d vergrößert, der Bildausschnitt ist klein. A u f das Bild wird n i c h t a k k o m o d i e r t (Fernblick). Die Sehnervenpapille, der das H a u p t a u g e n m e r k gilt, k a n n z u m e i s t o h n e V e r w e n d u n g eines M y d r i a t i k u m s bei A b d u n k e l u n g des R a u m e s a u s r e i c h e n d g u t beurteilt werd e n (die Pupillenweite stellt ein wichtiges diagnostisches K r i t e r i u m dar, dessen m a n sich nicht b e r a u b e n will; s. N. III).

Beurteilung der Sehnervenpapille anhand der Randschärfe, Prominenz, Farbe, Gefäße; etwaige Blutungen.

M a n beurteilt die Randschärfe, die Prominenz u n d die Färbung der Papille sowie die Fundusgefäße. F e r n e r achtet m a n auf B l u t u n g e n oder G e f ä ß m i ß b i l d u n g e n in der U m g e b u n g der Papille. E i n e P r o m i n e n z k a n n in D i o p t r i e n angegeben werden; d a z u stellt m a n n a c h e i n a n d e r F u n d u s b o d e n u n d Papille scharf ein u n d liest d e n U n t e r s c h i e d a m O p h t h a l m o s k o p ab.

„Stauungspapille": Rand unscharf, prominent, Venenstau, peripapilläre Blutungen.

Befunde: Normalerweise ist die Papille scharf begrenzt, nicht wesentlich prominent und gelbrötlich gefärbt. Eine leichte Randunschärfe oder temporale Blässe sowie weiße Streifen (= markhaltige Nervenfasern, Papille scheinbar verbreitert) sind aber durchaus noch physiologisch. Auch eine deutliche Prominenz, zumeist kombiniert mit gelblicher Färbung und hyalinen „Kristallen" (Drusenpapille) oder mit starker Hyperopie, kann eine Normvariante darstellen. Eine Randunschärfe, verbunden mit Prominenz und Venenstauung, evtl. auch mit peripapillären Blutungen, kennzeichnet die Stauungspapille (Abb. 2-28; Beitrag 2.5). Davon kaum zu unterscheiden ist die Papillitis. Eine

Neuritis nervi optici: intraokulär: sichtbare Papillitis, zumeist retroorbital: nicht sichtbar. (—» visuell evozierte Potentiale)

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Klinisch-neurologische Untersuchung Unterscheidung gelingt häufig anamnestisch, da der Visus bei der Papillitis frühzeitig zerfällt, bei der Stauungspapille dagegen nur langsam erfolgt, ferner die Bulbusbewegung bei ausgeprägter Papillitis zumeist schmerzhaft ist. Die Papillitis ist der sichtbare Teil einer Neuritis nervi optici. Bleibt die Papille dabei verschont („Patient und Arzt sehen nichts"), so spricht m a n von einer Retrobulbärneuritis. Bei der Zentralvenenthrombose steht bei sonst ähnlichem Bild wie bei der Stauungspapille die Venenstauung im Vordergrund. Eine abgeblaßte oder „Porzellan"-Papille (Papillenatrophie) findet sich nach starker Papillitis, Stauungspapille, Gefäßverschluß, G l a u k o m sowie als Erbkrankheit (LeberAtrophie). Eine temporale Abblassung der Papille sieht m a n nicht selten bei Multipler Sklerose und ist Folge einer Neuritis, die bevorzugt die makulopapillären Bündel betroffen hat. Als Foster-Kennedy-Syndrom bezeichnet m a n die Kombination einer Papillenatrophie auf einer Seite (lokaler chronischer Druck) mit einer Stauungspapille auf der anderen (akute Druckerhöhung durch z u n e h m e n d e s Hirnödem) bei Tumoren im Bereich der mittleren Schädelgrube. Der Fundus hypertonicus ist durch Silberdrahtarterien, Kreuzungsphänomene, Kaliberschwankungen, „cotton-wool"-Herde etc. gekennzeichnet, erlaubt aber keine sicheren Rückschlüsse auf den intrazerebralen Gefäßstatus. Bei extensiver Hypertonie kann es zur Stauungspapille kommen. Eine Angiomatose der Retina kann kombiniert mit Kleinhimangiomen auftreten (von Hippel-Lindau-Erkrankung). Abnorme Sehempfindungen: Mouches volantes „Mückensehen" - harmlos, stammt von Glaskörpereinschlüssen, ist besonders deutlich vor hellem Hintergrund. Flimmerskotome - zackig begrenzte Seherscheinungen, die langsam in die Gesichtsfeldperipherie wandern und ein flüchtiges Skotom hinterlassen, bei ophthalmischer Migräne. Optische Halluzinationen - elementar bei Blindheit, gegenständlich oder szenisch bei deliranten Syndromen. Metamorphopsien - Objekte werden verzerrt, verkleinert oder vergrößert gesehen (Dysmorphopsie, Mikropsie, Makropsie), ζ. B. okulär bedingt durch Störungen der brechenden Medien oder der Retina sowie zentralnervös bedingt bei Temporallappenepilepsie.

Weiterführende Diagnostik: Visuell evozierte Potentiale (VEP); augenärztliches Konsil. III N. oculomotorius IV N. trochlearis VI N. abducens

III N. oculomotorius IV N. trochlearis VI N.abducens

Funktion der äußeren Augenmuskeln Kurzbeschreibung A. „Supranukleäre Organisation" der Augenbewegungen: I. Sakkadisches System (willkürliche Blickneuorientierung) Die Auswahl des visuellen Ziels, auf die ein Blicksprung ausgeführt wird (Winkelgeschwindigkeiten bis 600 °/s), erfolgt im parietalen Kortex, im frontalen Augenfeld (FAF; Area 8) und im Colliculus superior. Bei Ausfall einer dieser Strukturen können die anderen die Sakkadenfunktion aufrechterhalten bzw. übernehmen. Beim Ausfall des F A F (ζ. B. ischämischer Insult im Versorgungsgebiet der A. cerebri media) kommt es zu einer Tonusdifferenz mit unwillkürlicher Blickwendung zur Herdseite (Deviation conjugee; „Patient schaut die Bescherung an") und einer vorübergehenden Aufhebung der Willkürsakkaden zur Gegenseite, während die Augen mittels der Folgebewegung (s. u.) noch auf diese Seite gebracht werden können. Das Kleinhirn (Wurm und Hemisphären) leistet einen Beitrag zur Metrik der Sakkaden; bei seiner Schädigung resultiert eine Sakkadendysmetrie (Hypo- oder Hypermetrie) zur Herdseite. Das neuronale Signal für das Generieren einer Sakkade besteht aus einer Entladungsz u n a h m e in Form eines Pulses, gefolgt von einem Plateau (Stufe). Der Puls überwindet Massenträgheit und elastisch-visköse Widerstände und bringt das Auge ans Ziel. Die Stufe hält es in der Zielposition. Diese Haltefunktion kann unabhängig von der Sakkadengenerierung gestört sein; beim Fixieren eines exzentrischen Blickziels driftet das Auge gegen die Mittellinie zurück und korrigiert den Fehler durch wiederholte Blicksprünge auf das Ziel (sog. Blickrichtungsnystagmus; als Nystagmus bezeichnet m a n alle rhythmischen unwillkürlichen Augenbewegungen). An der Haltefunktion sind das Kleinhirn sowie mehrere Hirnstammzentren (Blickzentrum, s. u., Vestibulariskerne und Ncl. präpositus hypogiossi) beteiligt.

Die Motorik der extraoculären Muskeln bildet ein eigenes System. Einteilung in: - Willkürsakkaden Blicksprung (Parietalhirn, „frontales Augenfeld" = FAF, Kleinhirn) und Haltefunktion (Hirnstamm u. Kleinhirn).

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Untersuchungsmethoden

- Blickfolgebewegungen: Nur möglich, wenn durch Blickziel geführt (Parietalhirn, Archicerebellum)

II. System für langsame Blickfolgebewegungen Das Auge kann, anders als die Skelettmuskulatur, langsame Bewegungen nicht willkürlich durchführen, sondern nur als Reflex bei bewegtem Blickziel (Geschwindigkeiten bis 100 °/s). An der Generierung dieser Bewegung sind Zentren im Parietalkortex sowie der Flocculus beteiligt. Bei Läsionen in diesen Gebieten ist die Geschwindigkeit des Auges relativ zum Ziel zu langsam, und der Fehler wird durch sog. Aufholsakkaden korrigiert (sakkadierte Blickfolgebewegung; vgl. auch 1.3.1.6). Dieses System spielt auch für die Unterdrückung des vestibulo-okulomotorischen Reflexes (s.u.; Kopfbewegungen und mitgeführtes Blickziel) sowie bei der visuellen Fixation eine Rolle. Störungen im afferenten (visuellen) oder efferenten Teil des Fixationsmechanismus kann zur Instabilität der Fixation in Form eines Ruck- oder Pendelnystagmus führen („Fixationsnystagmus").

- Reflexhafte Blickstabilisierung durch: Vestibulo-okulären Reflex (VOR),

III. Systeme der Blickstabilisierung Der Sehvorgang ist relativ langsam, so daß ein Blickziel bei schneller Bewegung auf der Retina nur unscharf gesehen wird. Dieser Nachteil wird durch den vestibulo-okulären Reflex (VOR) ausgeglichen. Bei Eigenbewegungen löst der vestibuläre Reiz eine kompensatorische (entgegengesetzte) Augenbewegung aus, die das Auge auf dem Blickziel hält. Dieses System ist jedoch anfällig für Störungen. Das Gleichgewichtsorgan kodiert zum Beispiel die horizontale Drehung in eine Richtung mit einer Erregungszunahme und in die entgegengesetzte Richtung mit einer Abnahme. Ein Ausfall des Organs wird folglich als eine starke Eigenbewegung (Bewegung in Richtung der Erregungsabnahme) interpretiert. Eine reziproke Verknüpfung der Vestibularissysteme beider Seiten gewährleistet jedoch, daß dieser Fehler innerhalb von Tagen bis Wochen kompensiert werden kann. Eine Imbalance zwischen den Systemen beider Hirnstammseiten findet sich auch bei Läsionen im Bereich der Vestibulariskerne und angrenzender Hirnstammgebiete sowie des Archi( = Vestibulo)-Cerebellums. Bei peripheren und zentralen Vestibularisstörungen resultieren in rhythmischer Abfolge auftretende, langsame, reflexhafte Augenbewegungen, die jeweils durch eine Sakkade zurückgesetzt werden. Dies ergibt ein Sägezahnmuster der Augenbewegungen (vgl. 1.3.1.6), das m a n als Rucknystagmus bezeichnet. Der Konvention entsprechend definiert m a n die Richtung des Nystagmus nach der schnellen (und leichter zu erkennenden) Komponente.

Optokinetischen Reflex (OKR).

Visuelle Mechanismen tragen ebenfalls zur Blickstabilisierung bei. Es handelt sich zum einen um die Blickfolgebewegung, z u m anderen u m den phylogenetisch alten optokinetischen Reflex (OKR). Er bewirkt, daß das Auge an großflächigen und strukturierten Sehzielen quasi haften bleibt (s. 1.3.1.6). Bei Eigenbewegungen in einer visuell stationären Umwelt ergänzen sich VOR und OKR. IV.

Die Zentren für die konjugierte Blickwendung liegen im Hirnstamm.

Blickwendezentren

Die Befehle für Sakkaden und Blickfolgebewegungen m ü n d e n in Hirnstammzentren, die ein Zusammenspiel der Augen (konjungierte Augenbewegungen) gewährleisten. Z u m Teil erfolgt dies für die horizontale und die vertikale Ebene in verschiedenen Strukturen: - Horizontales Blickwendezentrum, ipsilateral in der paramedianen pontinen Retikulärformation (PPRF). Projektion zum Abduzenskern, dort auch Umschaltung auf Interneurone, die via Fase, longitudinalis med. den Okulomotoriuskern (Rectus-med.Anteil) der Gegenseite erreichen. - Vertikales Blickwendezentrum, bilateral in der mesenzephalen Retikulärformation. Bei Ausfall dieser Zentren ist der VOR zumeist noch auslösbar, da die Vestibulariskernneurone direkte Projektionen auf die Augenmuskelkerne besitzen. B. Nukleäre und periphere Organisation: • N. III: motorischer Kernkomplex paramedian im Mittelhirn, unterteilbar in Abschnitte für den ipsilateralen M. rectus med., M. rectus inf. und Μ. obliquus inf., für den kontralateralen Μ. rectus sup. und unpaar-median für den Μ. levator palpebrae - gemeinsamer Faseraustritt ventral. • Ν. IV: mot. Kern für den kontralateralen M. obliquus sup. in der oberen Brücke - Faseraustritt dorsal unterhalb der Vierhügelplatte mit Kreuzung im Velum medulläre sup., Verlauf u m den Hirnstamm nach ventral. • Ν. VI: mot. Kern für den ipsilateralen M. rectus lat. dorsal in der unteren Brücke Faseraustritt ventral a m ponto-medullären Ubergang - gemeinsamer Übertritt von III, IV und VI via Sinus cavernosus und Fissura orbitalis sup. in die Orbita.

Klinisch-neurologische Untersuchung Prüfung auf Augenmuskelparesen und Strabismus Z u n ä c h s t blickt der P a t i e n t geradeaus in die F e r n e , u n d m a n b e o b a c h t e t , ob die S e h a c h s e n b e i d e r A u g e n parallel stehen. Ist dies n i c h t der Fall, so liegt ein Schielen (Strabismus) vor, entweder als Einwärts- oder als Auswärtsschielen (Str. convergens bzw. divergens). D a n n folgt der P a t i e n t m i t d e n A u g e n e i n e m S t ä b c h e n , das der Arzt in ca. 40 c m A b s t a n d h o r i z o n t a l u n d vertikal l a n g s a m bis zu d e n E x t r e m s t e l l u n g e n der A u g e n bewegt u n d dort eine zeitlang beläßt. Beim a n g e b o r e n e n Begleitschielen n i m m t die F e h l s t e l l u n g k a u m zu, u n d es werden z u m e i s t k e i n e D o p p e l b i l d e r gesehen; ferner hat jedes Auge f ü r sich bei m o n o k u l ä r e r P r ü f u n g k e i n e wesentliche Bewegungseins c h r ä n k u n g . B e i m „paralytischen" Schielen sieht der Patient, w e n n die A u g e n m u s k e l p a r e s e frisch ist, Doppelbilder, u n d die F e h l s t e l l u n g wird b e i m Blick in Z u g r i c h t u n g des paretischen Muskels stärker. U m im Fall von leichten Paresen a u c h geringe D o p p e l b i l d e r zu erfassen, wird bei der H o r i z o n t a l b e w e g u n g das S t ä b c h e n vertikal u n d bei d e n Vertikalb e w e g u n g e n h o r i z o n t a l gehalten. Der P a t i e n t soll d a n n a n g e b e n , bei welcher E x t r e m s t e l l u n g die D o p p e l b i l d e r m a x i m a l a u s e i n a n d e r w e i c h e n . Diese Stellung e n t s p r i c h t der Z u g r i c h t u n g des paretischen Muskels, der d a n n z u m e i s t a n h a n d der Fehlstellung des Bulbus identifiziert werden k a n n . Ist die Fehlstellung n i c h t direkt e r k e n n b a r , so ist sie evtl. indirekt m i t Hilfe der K o r n e a spiegelbildchen bei F i x a t i o n einer möglichst f e r n e n p u n k t f ö r m i g e n Lichtquelle feststellbar. Zwei weitere M e t h o d e n k ö n n e n bei der I d e n t i f i z i e r u n g des paretischen M u s kels n o c h hilfreich sein: (1) B e i m Betrachten einer Lichtquelle d u r c h eine R o t - G r ü n - B r i l l e sieht der Patient bei a u s r e i c h e n d e r F u s i o n ein gelbes u n d bei unvollständiger F u s i o n getrennt ein rotes u n d g r ü n e s Licht. Bei Parese des M. rectus m e d i a l i s sind die Bilder, bezogen auf die Brille, gekreuzt, u n d bei einer Parese des M . r e c -

Abb. 1-2 Prinzip des Doppelbildersehens. A) Parese des M. rectus medialis. Beim Blick durch die Rot-Grün-Brille wird das grüne Bild auf der Fovea des rechten Auges abgebildet, während das rote Bild neben die Fovea des linken Auges fällt (Aa). Beim Verschmelzen der beiden Seheindrücke im „fiktiven Mittelauge" (Ab) durch Übereinanderlegen der Sehachsen ergeben sich zwei Bilder, wobei das rote weiter außen gesehen wird, b) Parese des M. rectus lateralis. Beachte, daß das weiter außen stehende Doppelbild (grün; Bb) vom paretischen Auge stammt (Ba)

11 Prüfung von Stellung und Bewegung der Augen: Führen der Augen mittels Blickziel. Begleitschielen: Keine Doppelbilder, keine wesentliche Abhängigkeit von der Blickrichtung. „Paralytisches Schielen": Doppelbilder und Schielen nehmen beim Blick in Richtung des gelähmten Muskels zu.

Untersuchungsmethoden

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tus lateralis u n g e k r e u z t (vgl. A b b . 1-2). Bei Paresen in der Vertikalen weist das weiter a u ß e n (oben b e i m H o c h b l i c k u n d u n t e n bei g e s e n k t e m Blick) steh e n d e Bild das paretische A u g e aus. (2) Ist k e i n e R o t - G r ü n - B r i l l e verfügbar, so deckt m a n n a c h e i n a n d e r das eine u n d d a n n das a n d e r e A u g e ab. W e n n der P a t i e n t das V e r s c h w i n d e n des weiter a u ß e n s t e h e n d e n D o p p e l b i l d e s m e l d e t , hat m a n das paretische A u g e abgedeckt (vgl. Abb. 1-2). Rectus sup.

Rectus lat.

Rectus inf.

Obliquus inf.

Rectus med.

Obliquus sup.

Abb. 1-3 Hauptzugrichtungen der Muskeln am rechten Auge. Die bei Parese der Muskeln resultierenden Doppelbilder sind als Balken dargestellt. Bei Abdeckung des rechten Auges würde jeweils das äußere Bild (dunkler) verschwinden. Differenzierung zwischen den beiden Hebern und Senkern: nasales Heben - M. obi. inf., temporales Heben - M. rect. sup., nasales Senken - M. obi. sup., temporales Senken - M. rect. inf. Eine Kopfschiefhaltung kann auf eine Augenmuskelparese hinweisen.

E i n e D i f f e r e n z i e r u n g zwischen d e n b e i d e n H e b e r n bzw. S e n k e r n des Auges ist d a d u r c h möglich, d a ß m a n die V e r t i k a l b e w e g u n g e n bei ab- u n d a d d u z i e r ten A u g e d u r c h f ü h r e n läßt, wie dies s c h e m a t i s c h in A b b i l d u n g 1-3 dargestellt ist. D a m i t u m g e h t m a n die äußerst k o m p l e x e Rolle dieser M u s k e l n für die A u g e n r o l l u n g u n d ihre H i l f s f u n k t i o n e n f ü r die Ab- u n d A d d u k t i o n . Bei l ä n g e r e m B e s t e h e n einer Parese treten eine R e i h e von K o m p e n s a t i o n s vorgängen i m Bereich der i n t a k t e n A u g e n m u s k e l n ein, d i e die D i a g n o s e erschweren k ö n n e n . Die d a n n ebenfalls h ä u f i g a n z u t r e f f e n d e kompensatorische Kopfschiefhaltung k a n n dagegen sogar wegweisend f ü r die D i a g n o s e sein (ζ. B. D r e h u n g , K i p p u n g u n d S e n k u n g des K o p f e s n a c h links bei Trochlearisparese rechts, m i t d e m Effekt, d a ß der paretische M u s k e l e n t s p a n n t ist u n d D o p p e l b i l d e r fehlen).

„Äußere" Okulomotoriusparese: Ptose und starke Fehlstellung nach unten außen.

Okulomotoriusparese: Eine vollständige Lähmung betrifft die Recti superior, medians et inferior und den Obliquus inf. (Abweichen des Bulbus nach unten außen) sowie den M. levator palpebrae (Ptose), ferner die inneren Augenmuskeln (absolute Pupillenstarre, s. u.). Die Ursachen sind zumeist Läsionen des Nerven durch entzündliche oder raumfordernde Prozesse im Bereich seines Verlaufes (s. o.). Eine Mitbeteiligung des Abduzens und/oder des Trochlearis spricht für eine Läsion im Bereich Sinus cavernosus (Thrombose oder arteriovenöse Fistel), Fissura orbitalis sup. oder Orbitaspitze. Dabei können der erste oder die beiden ersten (Sinus cav.) Trigeminusäste mitbetroffen sein (orbitaler oder Gesichtsschmerz, Sensibilitätsstörung) und zusätzlich ein Exophthalmus bestehen.

„Innere" Okulomotoriusparese: Absolute Pupillenstarre.

Die häufigste Ursache einer Okulomotoriusparese ist, ähnlich wie bei der Abduzensparese, eine diabetische Polyneuropathie. Sie kann schmerzhaft sein und sollte differentialdiagnostisch von einem Zoster ophthalmicus abgegrenzt werden. Ein akuter Beginn ohne Kopfschmerz mit Verschlechterung in Intervallen spricht für eine Ischämie des Nervenstamms, die Kombination mit einem einschießenden Kopfschmerz für ein Aneurisma der A. carotis int. oder A. communicans post. Bei progredienter Schädigung des Nerven am Duraeintritt beginnt die Parese häufig mit einer Ptose („der Vorhang fällt zuerst"). Bei nukleärer Läsion kommt die Ptose zumeist spät („der Vorhang fällt zuletzt"), und es ist der M. rectus sup. der Gegenseite mitbetroffen (s. o.). Eine Affektion im Rahmen einer Polyneuropathie und Hirnstamm/Kleinhirnenzephalitis wird als Fisher-Syndrom bezeichnet. Trochlearisparese: Leichte Fehlstellung nach oben.

Trochlearisparese: Die häufigste Ursache einer Funktionsstörung sind Traumen. Diese spezielle Vulnerabilität ergibt sich zum einen aus dem langen Verlauf des Ner-

Klinisch-neurologische Untersuchung

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ven (s.o.)· Z u m a n d e r e n findet m a n , d u r c h die U m l e n k u n g der Sehne an der Trochlea bedingt, m e c h a n i s c h e Störungen, die eine Parese vortäuschen k ö n n e n . Dabei k a n n das zunächst z u r ü c k b l e i b e n d e Auge plötzlich in die regelrechte Stellung springen (BrownSehnenscheidenphänomen). Abduzensparese: Der Nerv ist wegen seines langen Verlaufes häufig betroffen. Ein beidseitiger Befall spricht für Zug oder Druck im Bereich des H i r n s t a m m s . Bei einseitigem Befall k o m m e n u. a. ein Großteil der bereits erwähnten Prozesse infrage. Eine Besonderheit stellt der g e m e i n s a m e Befall z u s a m m e n m i t Ν. VII u n d Ν. V, bei entz ü n d l i c h e n Prozessen im Bereich der Pyramide dar (Syndrom der Pyramidenspitze oder Gradenigo-Syndrom), oft n a c h Otitiden.

Abduzensparese: Fehlstellung nach innen, gestörte Abduktion.

Kongenitale Innervationsstörungen (z.B. kongenitale Ptose; D u a n e - S y n d r o m mit Abduzensparese sowie Bulbusretraktion u n d Lidsenkung bei A d d u k t i o n ) sind selten. Einschränkungen der Bulbusbewegung k ö n n e n auch m e c h a n i s c h d u r c h Muskeleinklemm u n g e n bei Orbitadach- oder - b o d e n f r a k t u r sowie d u r c h R a u m f o r d e r u n g e n in der Orbita bedingt sein, ferner durch Augenmuskelmyositis, -myopathie oder -myasthe-

Prüfung auf supranukleäre Störungen Bei der o. g. Prüfung der Augenmotilität achtet m a n zusätzlich auf die Funktionen bzw. auf Funktionsstörungen der konjugierten Augenbewegungen: - Unwillkürliche Augenbewegungen bei Prüfung in Primärposition. In Frage k o m m e n eine Vielzahl von spontanen oder durch Fixation ausgelöste Nystagmen (Ruck- oder Pendelform), unwillkürliche Sakkaden u n d langsames Augenpendeln (zur Differenzierung dieser Störungen siehe 2.5 und 2.6.3). - Unwillkürliche Blickdeviation (Deviation conjugee). Bei Ausfall des Blickwendezentrums einer Seite überwiegt der Tonus der Gegenseite. Diese Störung, die zumeist auch den Kopf betrifft, wird wenige Tage nach der Läsion kompensiert. Ist das horizontale Blickwendezentrum im Hirnstamm betroffen, so ist die Blickwendung zur Gegenseite gerichtet, und es besteht eine Blickparese (s. u.) zur Herdseite. Bei Ausfall des frontalen Augenfeldes ist, entsprechend der Kreuzung der absteigenden Bahnen, die Deviation zur Herdseite, u n d es besteht eine flüchtige Störung der Willkürsakkaden zur Gegenseite. Abzugrenzen sind „Blickkrämpfe" extrapyramidaler Genese (s. 2.2.5) - Glatte Blickfolgebewegung. Von sakkadierter Blickfolgebewegung spricht man, wenn das Auge dem Ziel nicht glatt folgt, sondern über den gesamten Bewegungsbereich von Aufholsakkaden unterbrochen ist (Korrekturen einer zu langsamen Folgebewegung durch Sakkaden in Richtung der Zielbewegung). Von einer solchen Störung des Blickfolgesystems abzugrenzen sind die verschiedenen F o r m e n des Nystagmus, die die Folgebewegung überlagern können, deren Intensität aber zumeist von der Blickposition abhängt. - Exzentrisches Halten des Blicks. Bei Störung der Haltefunktion driftet das Auge in Richtung der Mittellinie zurück, wird aber immer wieder durch schnelle Sakkaden auf das Blickziel gebracht (Blickrichtungsnystagmus). - Sakkaden. Man benutzt die beiden eigenen Zeigefinger als Blickziele u n d fordert den Patienten auf, zwischen ihnen hin und her zu schauen. Dysmetrien der Sakkaden sind an der Abfolge von Korrektursakkaden erkennbar, die der Patient benötigt, bis sein Auge schließlich auf dem Blickziel zur R u h e kommt. - Blickparese. Bei vollständiger Blickparese kann der Patient weder Sakkaden noch eine langsame Blickfolgebewegung in Richtung der Störung ausführen, während vestibulär ausgelöste Augenbewegung in diese Richtung erhalten sind (ζ. B. VOR durch passive Kopfbewegungen, als Puppenaugenp h ä n o m e n bezeichnet). Bei einer inkompletten Blickparese sind die Sakkaden verlangsamt u n d hypometrisch, die Blickfolgebewegung ist ver-

Unwillkürliche rhythmische Augenbewegungen: Nystagmus.

Deviation conjugee: Zur Seite der Läsion, wenn sie kortikal ist (FAF); bei Hirnstammprozeß zur Gegenseite.

Störung der glatten Folgebewegung: „Aufholsakkaden".

Haltestörung bei exzentrischem Blick: Blickrichtungsnystagmus.

Horizontale Blickparese: Zur Seite der Läsion (Blickwendezentrum in der Brücke). Vertikale Blickparese: Nach oben oder nach unten (paramedian im Mittelhirn).

Untersuchungsmethoden

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langsamt u n d bleibt unvollständig, ferner besteht ein grober t u n g s n y s t a g m u s . D i e U r s a c h e ist e i n e S c h ä d i g u n g d e s

Blickrich-

entsprechenden

B l i c k w e n d e z e n t r u m s (s. o.). D i e d i s k o n j u g i e r t e Konvergenzbewegung

der A u g e n wird d u r c h A n n ä h e r u n g

e i n e s B l i c k z i e l s e r r e i c h t , w o b e i z u s ä t z l i c h a u f d i e P u p i l l e n r e a k t i o n (s. u.) z u a c h t e n ist. D i e B e w e g u n g k a n n k o n g e n i t a l s c h w a c h s e i n , o d e r i m A l t e r s o w i e im R a h m e n zerebraler Systemerkrankungen a b n e h m e n . Die

Kombination

einer Konvergenzparese mit einer vertikalen Blickparese u n d / o d e r einer nukleären O k u l o m o t o r i u s p a r e s e weist auf e i n e n P r o z e ß i m Bereich des M e s e n zephalons hin. Weitere mögliche Störungen sind der

Konvergenzspasmus,

der Konvergenznystagmus u n d der durch Konvergenz ausgelöste N y s t a g m u s (s. 2.5.2). Eine diskonjugierte Augenbewegung als Ausdruck einer zentralnervösen Störung ist die Internukleäre Ophthalmoplegie (INOP). In Primärposition ist die Augenstellung regelrecht, die Adduktion bei Konvergenz erhalten. Bei Sakkaden zur Seite der Störung ist die Bewegung des adduzierenden Auges verlangsamt, und es erreicht das Blickziel zumeist nicht. Dagegen überschießt das abduzierende Auge das Ziel und zeigt evtl. eine Art Blickrichtungsnystagmus (der sog. dissoziierte Nystagmus). Ursache ist folgende anatomische Besonderheit: Das horizontale Blickwendezentrum projeziert auf den Abduzenskern, wo die Erregung einerseits auf Abduzensmotoneurone umgeschaltet wird, andererseits auf Interneurone, die im kontraleralen medialen Längsbündel zu den Motoneuronen des Rectus medialis der Gegenseile ziehen (N.III). Eine Läsion dieser aufsteigenden Fasern führt zu einer Adduktionsparese beim Versuch einer konjugierten Blickwendung zur Gegenseite. Wird das benachbarte Blickwendezentrum ebenfalls geschädigt, so resultiert eine Blickparese zur Herdseite mit I N O P zur Gegenseite. Bei jüngeren Patienten lassen derartige Störungen immer an das Vorliegen einer Encephalomyelitis disseminata denken. Weiterführende

Untersuchung:

Elektronystagmographie

(ENyG;

1.3.1.6)

u n d n e u r o o p h t h a l m o l o g i s c h e D e t a i l u n t e r s u c h u n g e n (vgl. 2.5)

F u n k t i o n der i n n e r e n A u g e n m u s k e l n Kurzbeschreibung: Pardsympathische Fasern des N. III innervieren via Ganglion ciliare (a) den M. eiliaris, dessen zirkuläre Kontraktion zur Erschlaffung und passiven Abrundung der Linse führt (Akkomodation), (b) den M. sphincter pupillae, der die Pupille eng stellt (Miosis). Sympathische Fasern via Grenzstrang und Carotis interna innervieren den M. dilatator pupillae, der die Pupille weit stellt (Mydriasis). Pupille: Beurteilung auf - Weite, - Seitengleichheit, - Form, - Reaktion auf Licht und Konvergenz.

P r ü f u n g : Z u n ä c h s t w i r d b e i d s e i t s d i e Weite d e r P u p i l l e b e u r t e i l t ( m i t t e l w e i t , weit, m a x i m a l weit, e n g , m a x i m a l e n g ) u n d d i e Seitengleichheit (Isokorie) bzw. -Verschiedenheit ( A n i s o k o r i e ) k o n s t a t i e r t . F e r n e r w i r d d i e Form b e u r t e i l t (rund, entrundet). D u r c h Beleuchten mit einer Taschenlampe oder durch A b - u n d A u f d e c k e n w i r d , g e t r e n n t f ü r j e d e s A u g e , d i e Lichtreaktion geprüft. D a b e i b e t r a c h t e t m a n s o w o h l d i e direkte Reaktion a m b e l e u c h t e t e n A u g e als a u c h d i e konsensuelle Reaktion a m Gegenauge. Schließlich prüft m a n die Mitbewegung der Pupille (Verengung) bei Konvergenz. Befunde: Die Pupillenweite hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab (emotionaler Zustand, Helligkeit des Raums, Refraktionsanomalien, Alter, Medikamente bzw. Drogen). Entsprechend finden sich erhebliche interindividuelle Unterschiede. Bezüglich diagnostischer Aussagen verläßt man sich daher lieber auf den Seitenvergleich und die Reaktionen. Die lokale Applikation von Parasympathikolytika zur Weitstellung für eine augenärztliche Untersuchung kann zu falschen Diagnosen Anlaß geben, insbesondere dann, wenn das Abklingen der Wirkung in den Augen verschieden schnell erfolgt und vorübergehend Anisokorie und asymmetrische Reaktionen resultieren. Eine sympathisch ausgelöste Pupillendilatation auf Schmerzreize kann bei der Untersuchung von Bewußtlosen hilfreich sein (Spinoziliarreflex; s. 1.2.12). A b b i l d u n g 1-4 g i b t e i n e n Ü b e r b l i c k ü b e r d i e h ä u f i g s t e n B e f u n d e b e i d e r P u p i l l e n p r ü f u n g ( a u s f ü h r l i c h e B e s c h r e i b u n g u n t e r 2.5.1)

Klinisch-neurologische Untersuchung

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Belichtung

Konvergenz • ·

Normalbefund Amaurotische Pupillenstarre rechts

1

Absolute Pupillenstarre rechts

w

V V

• ·

r V*

Reflektorische Pupillenstarre beidseits Pupillotonie rechts

• ·

V

Abb. 1-4 Die wichtigsten Störungen der Pupillenreaktion. Blindheit eines A u g e s (Läsion des afferenten Reflexbogens): Amaurotische Pupillenstarre. Ausfall der parasympathischen Fasern z u m A u g e (Läsion des efferenten Reflexbogens): Absolute Pupillenstarre. Enge, entrundete Pupille mit stark eingeschränkter Lichtreaktion: Reflektorische Pupillenstarre Argyll-Robertson (Tabes dorsales). Stark verlangsamte Pupillenreaktion, zumeist einseitig: Pupillotonie (zusammen mit Areflexie der Beine beim A d i e - S y n d r o m ; ohne Krankheitswert). Lidspalten Sie s o l l t e n n o c h g e s o n d e r t a u f e i n e a b n o r m e E n g - o d e r W e i t s t e l l u n g b z w . a u f e i n e S e i t e n d i f f e r e n z b e t r a c h t e t w e r d e n . E i n e s t a r k e P t o s e ist i m m e r d u r c h e i n e P a r e s e d e s q u e r g e s t r e i f t e n M . l e v a t o r p a l p e b r a e (N. III) b e d i n g t . E i n e leichte Enge kann durch Parese der glatten M m . t a r s a l e s bei Läsion des Symp a t h i k u s i m R a h m e n e i n e s Horner-Syndroms

(enge Lidspalte, enge Pupille,

E n o p h t h a l m u s ) bedingt sein. Weite Lidspalten findet m a n b e i m Exophthalm u s . Ein starkes R u n z e l n der Stirn b e i m Hochblick k a n n auf eine latente L i d h e b e r s c h w ä c h e h i n w e i s e n (ζ. B. b e i M y a s t h e n i e ) . D e r A u g e n s c h l u ß ist eine Funktion

des vom

N. facialis innervierten

M. orbicularis

oculi

Ptose: stark - Lähmung des M. levator palp. (Ν. Ill), s c h w a c h - Lähmung der Mm. tarsales. Horner-Syndrom: (Läsion der sympathischen Afferenzen zum Auge) - e n g e Pupille, - e n g e Lidspalte, - Enophthalmus.

(s.

Ν . VII). V N. trigeminus Kurzbeschreibung: N. ophthalmicus (V,). Hautsensibilität von Vorhaupt, Stirn, Augenregion und Nasenrücken sowie Konjunktiva und Kornea - (Orbita via Foramen supraOrbitale) - Übernahme sekretorischer Fasern für die Tränendrüsen vom N. intermedins, ferner Abgabe sympathischer Fasern für die Mm.tarsales (2. Lidheber) und den M. orbitalis (Parese: Enophthalmus; beim Horner-Syndrom), die er via Ganglion ciliare erhält - (mittlere Schädelgrube via Fissura orbitalis sup.) - (via Sinus cavernosus) - Übernahme sensibler Fasern vom Tentorium. Ν. maxillaris (V2). Hautsensibilität im Bereich Oberkiefer und vordere Schläfe (Sinus maxillaris via Foramen infraorbitale) - Sensibilität der Oberkieferzähne und der Schleimhäute von G a u m e n , seitlicher M u n d h ö h l e und Nasennebenhöhlen (mittlere Schädelgrube via Foramen rotundum) - (via Sinus cavernosus) - Übernahme sensibler Fasern von der Dura der vorderen Schädelgrube. N. mandibulare

Typische Traumafolgen im Röntgenbild der Wirbelsäule sind: - Fraktur, - Fragmentverschiebung, - Luxation. Achtung: Wirbelsäulenverletzte so schonend wie möglich umlagern! Bei instabiler Fraktur Gefahr der Querschnittslähmung. Besonders gefährlich sind Atlas- und Densfrakturen. Im Zweifelsfall die Untersuchung durch Tomographie (Dens) oder CT (Atlas) erweitern!

Untersuchungsmethoden

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Typische degenerative Veränderungen sind: - Osteochondrose, - Spondylose, - Spondylarthrose. Röntgenzeichen der Spondylo-Diszitis sind: - Erniedrigung des Zwischenwirbelraumes, - Osteolysen der Randplatten, - Später abgrenzbare Sklerosierungszone.

Gefährlich ist dabei die Einengung des Wirbelkanales durch verlagerte Knochenfragmente und verschobene Wirbel bei luxierten und frakturierten Zwischenwirbelgelenken, zu deren genauer Beurteilung häufig Tomographien (und CT, s. dort) erforderlich sind. Z u m Nachweis von segmentalen Bänder- und Bandscheibenschäden (Gefugelockerung) müssen Funktionsaufnahmen und Verlaufskontrollen durchgeführt werden. Bei Rückenschmerzen in der Zervikal- und Lumbalregion und vor allem bei radikulären Syndromen zeigen die Wirbelsäulenaufnahmen häufig degenerative Veränderungen der Bandscheiben und Zwischenwirbelgelenke. Sie manifestieren sich als Verschmälerung eines Zwischenwirbelraumes mit Sklerosierung der Randplatten (Osteochondrose), als Knochenspornbildungen (Spondylose) und Verdichtungen sowie Verbreiterungen der Gelenkfortsätze (Spondylarthrose) (Abb. 1-41). Auch Spondylo-Diszitiden führen im subakuten Stadium zur Verschmälerung von Zwischenwirbelräumen, jedoch zusätzlich zu osteolytischen Randplattendefekten. Bei Kompressionsfrakturen durch Osteoporose oder Osteolysen durch Malignome bleiben die Zwischenwirbelräume dagegen erhalten. Selten verursachen Tumoren wie Neurinome und Metastasen, die in die Zwischenwirbellöcher hineinwachsen, radikuläre Beschwerden und können durch entsprechende Defekte der Bogenwurzeln und erweiterte Foramina im Röntgenbild nachgewiesen werden.

Abb. 1-41 Degenerative Veränderungen, Spondylolisthesis, Spondylodiszitis 1 Degenerative Veränderungen bei Bandscheibenschaden mit Spondylose (a), Osteochondrose (Zwischenwirbelraumverschmälerung und Randplattensklerosierung) (b) und Spondylarthrose (c) 2 Spondylolisthesis mit Ventralverschiebung (a) des 4. Lendenwirbelkörpers und der vorderen Bogenanteile mit oberem Gelenkfortsatz bei interartikulärer Bogenfuge (b) 3 Spondylodiszitis mit Zwischenwirbelraumverschmälerung und osteolytischem Defekt der Randplatte und der angrenzenden Spongiosa Spinale Tumoren verursachen: - osteolytische Defekte der Wirbelkörper und -bögen bei intraossärem Wachstum (z.B. Metastasen, Sarkome), - Arrodierungen durch Druck von außen (z.B. Neurinome, Meningeome). Fehlhaltungen wie - Skoliose, - Gibbus, - Wirbelverschiebung werden verursacht durch: - Dysplasie (z.B. Halswirbel, Blockwirbel), - Spondylolyse = Spaltbildung im Bogen, - Fraktur, - Wirbeldestruktion.

Querschnittsyndrome erfordern stets den Ausschluß einer spinalen Raumforderung. Während von den Wirbeln ausgehende Neoplasmen häufig Osteolyseherde aufweisen, führen Meningeome und im Rückenmark wachsende Tumoren oft nur zu lokalen Druckzeichen wie sklerosierten Eindellungen der Wirbelkörperrückflächen oder Erweiterungen der Bogenwurzelabstände. Gelegentlich ist die extravertebrale Tumor- oder auch Abszeßausdehnung als Weichteilschatten im Röntgenbild abgrenzbar. Gravierenden Fehlhaltungen liegen, sofern sie nicht durch eine Fraktur oder Wirbeldestruktion, wie ζ. B. beim tuberkulösen Gibbus, erworben sind, eine Wachstumsstörung oder eine Wirbeldysplasie, ζ. B. Halb- oder Blockwirbel, zugrunde. Bei der Spondylolisthesis kommt es durch Verlängerung u n d Bruch ( = Spondylolyse) der Interartikularportion der Bögen, die sich besonders gut auf Schrägaufnahmen darstellt, zur Ventralverschiebung ( = Wirbel-

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Technische Zusatzuntersuchungen gleiten) der jeweils kranialen Wirbelkörper einschließlich der oberen Gelenkfortsätze, während der hintere Bogenanteil mit den unteren Gelenkfortsätzen dorsal liegenbleibt (Abb. 1-41). Weitere überwiegend anlagebedingte Veränderungen mit Einengung des Wirbelkanales sind die basiläre Impression, bei der die Densspitze das Foramen magnum einengt (s.Abb. 1-39), sowie die Spinalkanalstenose, die vor allem im Tomogramm und CT nachgewiesen wird. Weitere Indikationen für Wirbelsäulenaufnahmen sind allgemeine Skeletterkrankungen wie die Osteoporose und rheumatische Leiden wie die primär chronische Polyarthritis und der Morbus Bechterew mit entsprechenden Defekten bzw. Sklerosierungen der Randplatten, Gelenke und Bänder.

Spinale Engen wie die - basiläre Impression und die - Spinalkanalstenose sind überwiegend anlagebedingt und können zu Rückenmarkskompressionen führen.

1.3.3.2 Kraniale Computertomographie (CT)

Kraniale Computertomographie

Dieses Verfahren hat sich in den letzten 15 Jahren zur im Augenblick wichtigsten neuroradiologischen Untersuchungsmethode des Hirnes entwickelt. Es ist - zumindest als Nativ-CT - nicht invasiv und somit praktisch risikolos anwendbar bei hoher diagnostischer Aussagekraft. Nicht zuletzt auch wegen der hohen Kosten muß aber dringend vor einer kritiklosen Anwendung im Sinne eines „Screenings" ohne vorherige klinisch-neurologische Untersuchung gewarnt werden.

Kein C T ohne vorherige klinischneurologische Untersuchung!

Technik: Im Unterschied zur konventionellen Tomographie arbeiten die m o d e r n e n CT-Geräte mit einem eng, d. h. auf wenige Millimeter Schichtbreite eingeblendeten Strahlenfächer, der das zu u n t e r s u c h e n d e Objekt „scheibchenweise" durchstrahlt. Die vom Objekt absorbierte Strahlenmenge wird nicht auf e i n e m R ö n t g e n f d m d o k u m e n tiert, sondern von Detektoren ähnlich wie bei der Szintigraphie (s. dort) gemessen. Das Auflösungsvermögen von Konturen u n d Dichte reicht bei den neuesten Geräten bis zu e i n e m Punktabstand von 1 m m u n d e i n e m Dichteunterschied von 0,3 %. Dabei darf die Strahlenbelastung des Patienten, die bei e i n e m Nativ-CT o h n e Spezialeinstellungen etwa der einer Schädelröntgenuntersuchung in zwei Ebenen entspricht, wegen der G e f a h r der Linsenschädigung nicht beliebig erhöht werden. Durch intravenöse Kontrastmittelgabe kann die R ö n t g e n d i c h t e m a n c h e r Strukturen erhöht werden. Das gilt sowohl für gefäßreiche Prozesse, wie ζ. B. arteriovenöse Angiome, als auch für Läsionen mit gestörter Blut-Hirn-Schranke wie N e o p l a s m e n , Entz ü n d u n g e n u n d m a n c h e Infarkte, bei denen das Kontrastmittel aus den G e f ä ß e n in die U m g e b u n g austreten kann. Durch rasch aufeinanderfolgende S e r i e n a u f n a h m e n derselben Schicht läßt sich die A n f l u t u n g des Kontrastmittels (und damit die Arterien) von der späteren gleichmäßigen Verteilung im Gefäßsystem abgrenzen (Angio-CT). Nach intrathekaler Injektion (Myelo-CT) gelangt das Kontrastmittel mit d e m Liquorstrom nach einigen S t u n d e n in die Zisternen und steigt schließlich bis zur Konvexität. N e b e n der Zisternenmorphologie läßt sich auf diese Weise ähnlich \ ie bei der RihsaZisternographie (s. dort) die L i q u o r d y n a m i k beurteilen.

Normalbefunde Üblicherweise werden orientierende Schichten in einer Ebene parallel zur Augen-Ohr-Linie (Abb. 1-42) angefertigt mit einer Schichtdicke von 2 - 4 m m in der hinteren Schädelgrube und 8 m m supratentoriell.

Indikationen: - Trauma - chronischer Kopfschmerz und Himdruck - epileptische Anfälle - Apoplex, - Verdacht auf Tumor oder Abszeß,

Prinzip: CT-Bild gibt die Strahlenabsorption (= Röntgendichte) eines Volumen-Elementes in Hounsfield-Einheiten oder einer GrautonSkala wieder. Kalk: hohe Dichte = weiß; Wasser, Gewebe: mittlere Dichte = grau; Luft: geringere Dichte = schwarz.

Methoden: - Nativ-CT und Rekonstruktion, - C T nach iv-Kontrastmitteleingabe, - Angio-CT, - CT-Zisternographie.

Standard-Schicht-Einstellung: parallel zur Augen-Ohr-Linie

Indikationen: - Verdacht auf Subarachnoidalblutung, - hirnorganischer Abbau, - Entwicklungsstörung, - Therapiekontrollen, - HNO- und augenärztliche Erkrankungen.

94

Untersuchungsmethoden

Abb. 1-42 Computertomogramm des Schädels Normalbefund mit basalen (Ii. oben), mittleren und oberen (re. unten) Schichten 1 Kalotte 2 Basis mit Orbitadach (a), Pyramiden (b), Sella (c), Stirnhöhle (d) 3 Mittlere Schädelgrube mit Temporallappen 4 Hintere Schädelgrube mit Pons (a), Kleinhirn (b), Mittelhirn im Tentoriumschlitz

(c) 5 Stammganglien mit Thalamus (a), Putamen und Pallidum ( = Linsenkern) (b), Caput nuclei caudati (c) und dazwischen die Capsula int. (...) 6 Frontallappen mit Rinde (a) und Mark (b) 7 Parietallappen mit Rinde (a) und Mark (b) 8 Okzipitallappen mit Rinde (a) und Mark (b) 9 Temporallappen 10 Insel 11 Ventrikel: 4. Ventrikel (IV), 3. Ventrikel (III), Seitenventrikel mit Vorderhorn (la) und Trigonum mit Plexusverkalkung (Ib) 12 Äußere Liquorräume mit Basalzisternen im Kleinhirnbrückenwinkel (a) und über der Lamina quadrigemina (b), Cisterna fissurae Sylvii (c), Sulci über der Konvexität (d) und im Interhemisphärenspalt neben der Falx (e). Als Traumafolgen sind im Computertomo gramm darstellbar: - Hämatom, - Kontusion, - Ödem, - Impressionsfraktur.

Während ein banales Kopftrauma ohne Bewußtseinsstörung noch keine ausreichende Indikation für eine CT-Untersuchung darstellt - es sei denn, im Röntgenbild sind komplizierte Frakturen oder eine Impression nachweisoar - ist bei einer längeren und vor allem mit Verzögerung sekundär aufgetretenen Eintrübung unbedingt ein intra- oder extrazerebrales Hämatom oder ein Kontusionsödem auszuschließen (Abb. 1-43). Frisch geronnenes Blut ist weniger strahlendurchlässig (hyperdens) als normales Hirngewebe und ohne Schwierigkeiten nachweisbar. Im Laufe des Abbauprozesses nimmt die Dichte über ein isodenses, schwer erfaßbares Stadium auf deutlich hypodense Werte ab. Beim Ödem ist infolge des Wasseraustrittes in das Gewebe die Dichte von Anfang an erniedrigt. Bei chronischem Kopfschmerz und klinischen Hirndruckzeichen werden im CT vor allem folgende drei Befunde nachgewiesen: das chronische Subduralhämatom als extrazerebrale, etwas mehr als liquordichte Flüssigkeitsan-

Technische Zusatzuntersuchungen

Abb. 1-43 Subdurales Hämatom Axiales CT. 1,5 cm breite Zone erhöhter Dichte über der re. Hemisphäre mit deutlicher Kompression und Verlagerung der Ventrikel.

Sammlung zwischen Hirn und Kalotte, der Hydrozephalus mit Ventrikelerweiterung und - als Druckzeichen - periventrikulärem Ödemsaum sowie ein in einem „stummen" Hirnareal wachsender Tumor, ζ. B. ein frontales Meningeom. Zerebrale Krampfanfälle stellen ebenfalls eine häufige Indikation zur CT-Untersuchung des Schädels dar, wobei sich Mißbildungen wie umschriebene oder allgemeine Ventrikelerweiterungen, Zysten, Narben nach Traumen oder Infarkt, aber auch Blutungen und Tumoren nachweisen lassen. Bei negativem CT-Befund sollte vor allem bei Herdveränderungen im EEG die Untersuchung nach Kontrastmittelgabe wiederholt und ggf. ein Magnetresonanztomogramm angefertigt werden, das kleine Angiome oder Gliome mit größerer Sicherheit darstellt (s. dort). Beim Apoplex mit plötzlich einsetzender Parese, Aphasie u.ä. ist immer eine spontane Hirnblutung, ζ. B. durch ein Angiom, auszuschließen. Meistens handelt es sich jedoch u m einen ischämischen Infarkt (Abb. 1-44), der sich von einer dichtegeminderten Ödemzone im Laufe von Wochen zu einer scharf begrenzten Narbe demarkiert. Aus der Verteilung des betroffenen Gebietes kann häufig auf die Lokalisation der Durchblutungsstörung (z.B. Mediaastinfarkt) geschlossen werden. Bei einer allgemeinen Arteriosklerose der kleinen Arterien finden sich multiple kleine Stammganglien- und Marklagerinfarkte. Relativ selten läßt sich eine Sinusthrombose am hyperdensen (geronnenes Blut) Sinusdreieck nachweisen.

Bei chronischem Kopfschmerz mit Hirndruck lassen sich im Computertomogramm erkennen: - chronisches Subduralhämatom, - Hydrozephalus, - Tumor im „stummen" Areal. Patienten mit epileptischen Anfällen können im Computertomogramm folgende Veränderungen zeigen: - Dysplasie, - Defekte, - Verkalkungen, - Tumor, - Angiom. Beim Apoplex unterscheidet man nach dem CT-Befund: - ischämischer Infarkt, - Blutung. Infarkte lassen sich nach dem Computertomogramm differenzieren in: - Ast- oder Territorialinfarkte der größeren leptomeningealen Arterien, - lakunäre Infarkte von Marklager und Stammganglien der intrazerebralen kleinen Arterien, - Infarkte von Hirnstamm und Kleinhirn, - venöse (oft hämorrhagische) Infarkte, z.B. bei Sinusthrombose.

Abb. 1-44 Media-Infarkt Axiales CT. Dichteminderung im Versorgungsbereich der re. A. cerebri med. mit leichter raumfordernder Wirkung (Ventrikelkompression).

Viele Hirntumoren sind wegen ihrer erhöhten (manche Meningeome, Dermoide) oder erniedrigten (Lipom, manche Astrozytome) oder inhomogenen (z.B. Glioblastome) Dichte sowie den darin enthaltenen Verkalkungen (Oligodendrogliome, Meningeome) oder Zysten (Ependymome) nachweisbar.

Bei Hirntumoren beurteilt man nach dein Computertomogramm - Größe und Lokalisation des Tumors, - Artdiagnose und Malignität, - raumfordernde Wirkung (mit Begleitödem).

Untersuchungsmethoden

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Z u s ä t z l i c h k o m m t es d u r c h die raumfordernde Wirkung z u r Verlagerung von H i r n t e i l e n u n d K o m p r e s s i o n der Ventrikel u n d Z i s t e r n e n (Abb. 1-45). Bei a n d e r e n T u m o r e n wie k l e i n e n M e t a s t a s e n , i s o d e n s e n M e n i n g e o m e n u n d G l i o m e n zeigt erst die intravenöse K o n t r a s t m i t t e l i n j e k t i o n die g e n a u e T u m o r a u s d e h n u n g , leider aber n i c h t in allen Fällen. A u c h ein- oder m e h r k a m merige Abszesse sind m a n c h m a l n u r a n ihrer Kapsel-„Anfärbung" e r k e n n bar. Bei basalen T u m o r e n , ζ. B. im Sellabereich u n d im K l e i n h i m b r ü c k e n winkel, gelingt die Darstellung a m b e s t e n m i t e n g e n 2 - m m - S c h i c h t e n u n d a n s c h l i e ß e n d e r R e k o n s t r u k t i o n . A u c h die T u m o r e n der Kalotte u n d des G e sichtsschädels lassen sich c o m p u t e r t o m o g r a p h i s c h gut n a c h w e i s e n .

Abb. 1-45 Intrazerebrale Metastase Axiales CT nach i. v. Kontrastgabe. Rundherd mit deutlicher Kontrastmittelaufnahme (*) und Begleitödem (dunkel) im Ii. Temporallappen. Die Lokalisation der Blutung ist beim - Aneurysma vorwiegend subarachnoidal, - Angiom vorwiegend intrazerebral.

Subarachnoidalblutungen zeigen sich im CT als D i c h t e e r h ö h u n g e n in d e n basalen Z i s t e r n e n . N a c h intravenöser K o n t r a s t m i t t e l g a b e k a n n a u c h das A n e u rysma selbst in vielen Fällen dargestellt werden. Ein negativer C T - B e f u n d reicht z u m A u s s c h l u ß einer B l u t u n g j e d o c h n i c h t aus, da leichte Blutbeim e n g u n g e n d e m c o m p u t e r t o m o g r a p h i s c h e n N a c h w e i s e n t g e h e n . In diesen Fällen e n t s c h e i d e t der L i q u o r b e f u n d .

Eine Atrophie - kann allgemein oder lokal auftreten; - Mark oder Rinde können vorwiegend betroffen sein. Man unterscheidet folgende Formen des Hydrozephalus: - Verschlußhydrozephalus - kommunizierender Hydrozephalus, - Hydrozephalus bei Atrophie = „e vacuo".

Ein hirnorganischer A b b a u k a n n d u r c h eine Rindenatrophie, d u r c h e i n e Marklagerschädigung oder a u c h p r i m ä r d u r c h eine Ventrikelerweiterung wie b e i m k o m m u n i z i e r e n d e n Niederdruck-Hydrozephalus verursacht sein, die sich im CT d i f f e r e n z i e r e n lassen. Bei Entwicklungsstörungen i m Kindesalter finden sich ebenfalls L i q u o r a b f l u ß s t ö r u n g e n , allerdings m e i s t als Verschlußhydrozephalus.

Spinale Computertomographie

1.3.3.3 Spinale Computertomographie

Das spinale Computertomogramm ist vor al lern indiziert bei umschriebenen Läsionen mit bekannter Höhe (Bandscheibenvorfall, Tumor, Fraktur), während bei nicht näher lo· kalisierbaren oder ausgedehnten Rückenmarks- oder Kauda-Prozessen die Myelographie oder die MR-Tomographie die Untersu chungsmethode der Wahl darstellen.

Spinale C T - U n t e r s u c h u n g e n sind, da sie im G e g e n s a t z z u r Myelographiekeine L u m b a l p u n k t i o n erfordern, e i n f a c h u n d risikolos d u r c h f ü h r b a r . Besonders gut lassen sich umschriebene Prozesse des knöchernen Wirbelkanales und der Bandscheibe erfassen, während bei ausgedehnten oder nicht näher lokalisierbaren Schädigungen des Rückenmarkes die Myelographie weiterhin im Vordergrund steht. Die S t r a h l e n b e l a s t u n g der G o n a d e n überschreitet bei einer ü b l i c h e n S e q u e n z von 15 bis 20 S c h i c h t e n n i c h t die Dosis einer L W S - A u f n a h m e in 2 Ebenen.

Methoden des spinalen CT: - Nativ-CTund Rekonstruktion, - CT nach iv-Kontrastmittelgabe, - Myelo-CT.

Technik: Zu Beginn der Untersuchung wird der gewünschte Bereich mit Hilfe eines Topogrammes (im lateralen Strahlengang aufgenommenes Übersichtsbild) aufgesucht und die Aufnahmeeinheit (Gantry) senkrecht zur Achse des Wirbelkanales im interessierenden Abschnitt eingestellt. Anschließend fertigt man axiale Einzelschichten von

T e c h n i s c h e Zusatzuntersuchungen

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2 - 4 mm Dicke an, aus denen sich dann sagittale, koronare oder schräge Sekundärschnitte senkrecht zur axialen Ebene berechnen lassen. Nach intrathekaler Kontrastmittelinjektion, evtl. auch im Anschluß an eine Myelographie, kann ein sog. Myelo-CT zur besseren Abgrenzung des Rückenmarkes durchgeführt werden.

N o r m a l b e f u n d e : Die Wirbelkörper u n d -bögen mit ihren F o r t s ä t z e n u n d vor allem die Zwischenwirbelgelenke lassen sich im CT sehr gut darstellen, ebenso die B a n d s c h e i b e n , Ligamente, die Zwischenwirbellöcher u n d Paravertebralregion mit M u s k u l a t u r u n d Bindegewebe. Das R ü c k e n m a r k selbst ist im Nativ-CT leider n u r im oberen u n d allenfalls n o c h mittleren Zervikalbereich gut abgrenzbar.

Indikationen: - Bandscheibenvorfälle, - spinale Enge,

Indikationen:

Trauma, Q u e r s c h n i t t mit T u m o r v e r d a c h t .

Lumbale

Bandscheibenvorfälle u n d spinale Engen d u r c h h y p e r t r o p h i e r t e G e lenkfortsätze oder L i g a m e n t e sind c o m p u t e r t o m o g r a p h i s c h gut darstellbar (Abb. 1-46). W e i t lateral im Zwischenwirbelloch gelegene B a n d s c h e i b e n s e quester lassen sich im spinalen CT sogar sicherer n a c h w e i s e n als im Myelog r a m m , da sie m a n c h m a l n o c h jenseits der myelographisch darstellbaren W u r z e l t a s c h e n f ü l l u n g liegen. W e g e n der axialen S c h i c h t a n o r d n u n g sind mediale Vorfälle dagegen oft n u r im R e k o n s t r u k t i o n s b i l d sichtbar. Bei der zervikalen B a n d s c h e i b e n d i a g n o s t i k ist das A u f l ö s u n g s v e r m ö g e n der C o m p u t e r t o m o g r a p h i e häufig n o c h zu begrenzt, u m Vorfälle m i t einer Sicherheit darzustellen, die f ü r eine O p e r a t i o n erforderlich ist.

CT-Befunde bei Bandscheibenvorfällen sind: - zuverlässig bei lumbalen Vorfällen (besonders bei lateralen Sequestern im Zwischenwirbelloch), - bedingt verwertbar bei zervikalen Vorfällen (Kontrolle durch Myelographie bei OPIndikation). CT-Befunde bei spinalen Engen sind im gesamten Spinalbereich zuverlässig, sofern alle engen Segmente im Schichtbereich liegen.

Abb. 1-46 Bandscheibenvorfall Axiales CT in Höhe L4/5 (unten) und sagittale Rekonstruktion (oben). Vorwölbung der Bandscheibe L4/5 nach dorsal in den Wirbelkanal hinein (*). Die Verdichtungen im Kanal hinter dem 1. Sakralwirbelkörper S 1 entsprechen partiell angeschnittenen Osteophyten.

F ü r polytraumatisierte Patienten stellt das C o m p u t e r t o m o g r a m m eine sehr s c h o n e n d e U n t e r s u c h u n g s m e t h o d e dar, da U m l a g e r u n g e n mit der G e f a h r der V e r s c h i e b u n g bei instabilen F r a k t u r e n v e r m i e d e n werden. W e g e n der axialen S c h i c h t e b e n e lassen sich vor allem Brüche der Wirbelbögen und G e l e n k e (Abb. 1-47) u n d i n s b e s o n d e r e die Fraktur des Atlasbogens (nicht aber die der Densbasis!) besser darstellen als auf Übersichts- u n d Schichtauf-

Das spinale Computertomogramm ist die schonendste Untersuchungsmethode der Wirbelsäule bei polytraumatisierten Patienten. Man findet als Traumafolgen: - Frakturen der Wirbelkörper, - Frakturen der Bögen und Gelenke (speziell: Atlasbogen!),

98 - Luxationen (speziell im Rekonstruktionsbild), - Einengungen des Wirbelkanales durch Stufen, Knochenfragmente. Bei im CT nicht klärbaren, vor allem sekundär auftretenden Rückenmarksschäden wird zum Ausschluß eines traumatischen Bandscheibenvorfalles oder einer spinalen Blutung (selten I) myelographiert oder das CT als Myelo-CT wiederholt.

Untersuchungsmethoden n a h m e n . A u c h im Wirbelkanal liegende Knochenfragmente können u.a. mit Hilfe des Rekonstruktionsbildes sicher erfaßt werden. Z u m Ausschluß eines traumatischen Bandscheibenvorfalles oder einer intraspinalen Epiduralblutung (selten) ist jedoch eine Myelographie, zumindest ein Myelo-Computertomogramm erforderlich.

L 3

Abb. 1-47 Wirbelfraktur Axiales CT (oben) und sagittale Rekonstruktion (unten) in Höhe L3. Die obere Hinterkante des Wirbelkörpers ist abgebrochen und weit in den Kanal hinein verlagert (*) mit Kompression der Cauda equina; außerdem Fraktur der vorderen oberen Randkante und Bogenfrakturen. Im spinalen Computertomogramm finden sich folgende Tumorzeichen: - Knochendestruktionen (seltener: -Verdichtung), - Knochenarrodierung, vom Kanal oder Zwischenwirbelloch ausgehend, - direkte Tumordarstellung als Verdichtung (Neurinom, Meningeom) oder Dichteminderung (Lipom), - Paravertebraler Tumoranteil.

Bei spinalen Kompressionssyndromen durch einen Tumor lassen sich mit der Computertomographie vor allem Prozesse m i t Knochenbeteiligung nachweisen und die T u m o r a u s d e h n u n g im Wirbel u n d den paravertebralen Weichteilen darstellen wie bei Metastasen oder einem N e u r i n o m . Rein intraspinal wachsende Tumoren, ζ. B. Gliome, Meningeome und Ependymome, können m a n c h m a l aber auch nach intravenöser Kontrastmittelgabe nicht mit ausreichender Sicherheit vom normalen R ü c k e n m a r k abgegrenzt werden. Da außerdem die H ö h e der Rückenmarkskompression nicht ohne weiteres aus der Querschnittsgrenze erkennbar ist, sondern einige Segmente höher liegen kann, empfiehlt es sich, bei fehlender Knochenbeteiligung zuerst zu myelographieren und einen verdächtigen Befund, falls erforderlich, im anschließenden Myelo-Computertomogramm darzustellen. Als Alternative steht in diesen Fällen jetzt auch die spinale Magnetresonanz-Tomographie (s. dort) zur Verfügung.

MR-Tomographie

1.3.3.4 MR-Tomographie

MR liefert qualitativ hochwertige Abbildungen und arbeitet ohne Röntgenstrahlen, aber: Patienten mit Metallimplantaten und Schrittmachern können nicht untersucht w e r d e n !

Die magnetische Resonanz-Tomographie (MR) arbeitet allein mit Magnetfeldern und Induktionsvorgängen. Es besteht daher kein Risiko einer Röntgenstrahlenschädigung, und auch sonst sind bei den bisher angewandten magnetischen Feldstärken keine gravierenden Nebenwirkungen bekannt geworden. Lediglich Patienten mit magnetisierbaren Metallimplantaten und Schrittmachern dürfen nicht untersucht werden. Inzwischen übertrifft die Abbildungsqualität von Weichteilgewebe deutlich die Leistung der CT. Allein die bislang noch relativ langen Untersuchungszeiten u n d die hohen Investitions- und Unterhaltungskosten der Geräte haben eine weite Verbreitung verzögern kön-

Technische Zusatzuntersuchungen

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Technik: Die Methode beruht auf dem Prinzip der Kern-Spin-Resonanz. Alle Atomkerne mit ungerader Nukleonenzahl wie die Wasserstoffatomkerne (Protonen) besitzen magnetische Eigenschaften und lassen sich als winzige Stabmagneten in einem äußeren Magnetfeld ausrichten. Durch Einstrahlung einer bestimmten, „gequantelten" Energiemenge, die in Resonanz zu den möglichen Energieniveaus der ausgerichteten Protonen steht, können sie aus ihrer Ruhelage gekippt werden. Wegen ihres Eigendrehimpulses (Spin), den die Protonen gleichzeitig besitzen, verharren sie dabei nicht in der ursprünglichen Auslenkungsrichtung, sondern beschreiben wie ein aus der Senkrechten gekippter rotierender Kreisel eine Präzessionsbewegung auf einem Kegelmantel u m die Achse des jeweils vorherrschenden Magnetfeldes. Durch die Rotation dieses Magnetfeldes wird in einem dazu feststehenden Leiter eine elektromagnetische Welle induziert, die als Signal aufgefangen und für die Bildgebung benutzt wird. Die Stärke (Amplitude) der induzierten Welle hängt von der Anzahl der im Gewebe vorhandenen Protonen und der Abklinggeschwindigkeit der Magnetfeldrotation ab. Durch Einflüsse der umgebenden Atome kommt es nach Energieverlust nämlich zum allmählichen Zurückklappen der ausgelenkten Protonen in die Richtung des Grundfeldes (Spin-Gitter-Relaxationszeit T l ) . Außerdem beeinflussen sich die rotierenden Protonen gegenseitig, so daß schließlich bei einer gleichmäßigen Verteilung der unterschiedlich schnell rotierenden Protonen keine bevorzugte Ausrichtung des rotierenden Magnetfeldes in der Auslenkungsebene mehr zu erkennen ist (Spin-Spin-Relaxationszeit T2). Durch verschiedene Anregungs- und Aufnahmeverfahren können Bilder erzeugt werden, in denen das Signal vorwiegend durch die Protonendichte oder die Relaxationszeit T l oder Τ2 bestimmt wird. Zur Erzeugung des äußeren Grundmagnetfeldes ist eine große Spule erforderlich, in die der Patient hineingeschoben wird. Durch iv-Injektion paramagnetischer Substanzen wie Gadolinium-DPTA kann die Signalintensität verstärkt werden.

Prinzip: Protonen = Stabmagnete werden durch einen Hochfrequenzimpuls aus der Ruhelage gekippt und induzieren ein elektromagnetisches Antwortsignal in Abhängigkeit von der - Protonendichte, - Spin-Gitter-Relaxation Τ1, - Spin-Spin-Relaxation T2.

Normalbefunde: Mit dem z. Zt. meist benutzten Anregungs- und Aufnahmeprogramm der Spin-Echo-Sequenz erhält man wahlweise Bilder, in denen der Einfluß der T l - bzw. T2-Relaxationszeiten überwiegt (Abb. 1-48, 1-49). Im ersten Fall stellen sich die anatomischen Details besser als im CT dar mit unterschiedlichen Grautönen von Mark und Rinde und schwarzer Zeichnung des Liquors, während Τ 2-gewichtete Bilder wasserhaltige Strukturen wie den Liquor und viele pathologische Veränderungen signalintensiver (= hell) abbilden. Die Blutgefäße erscheinen bei normalem Blutfluß signalarm (= dunkel), da die angeregten Protonen beim Signalempfang das untersuchte Volumenelement bereits verlassen haben. Auf diese Weise können die großen Gefäße und annäherungsweise auch der Blutfluß beurteilt werden. Im Knochen wird nur das Fettgewebe der Spongiosa, ζ. B. in der Diploe und im Clivus sowie im Wirbelkörper, signalintensiv dargestellt. Die Kortikalis ist dagegen wegen der geringen Resonanzdichte immer Signalarm. Störende Knochenartefakte wie in basisnahen CT-Schichten gibt es nicht.

Entsprechend der Anregungs- und Aufnahme-Programme erhält man von den Gewebestrukturen unterschiedliche Signalintensitäten. Dabei lassen sich besonders gut beurteilen auf - protonendicht- und T1-betonten Bildern: Anatomische Details, - T2-betonten Bildern: pathologische Befunde. Gegenüber dem Computertomogramm hat das MR-Verfahren folgende Vorteile: - keine Röntgenstrahlung; - anatomisch exakte Darstellung in 3 Ebenen, - hohe Sensibilität, - keine Knochenartefakte, und folgende Nachteile: - hohe Kosten, - lange Untersuchungszeit, - relativ geringe Spezifität.

Indikationen: Wie beim Schädel-Computertomogramm mit Ausnahme des akuten Traumas. Bei folgenden Indikationen dem Computertomogramm deutlich überlegen: - basisnahe Prozesse der mitt- - kleine Angiome, Kavernome, leren und hinteren Schädel- multiple Sklerose (falls grube, nicht anders zu sichern), - epileptische Anfälle mit - Herpes - Enzephalitis negativem CT-Befund, (Frühdiagnose), - präoperative Lokalisierung - intraspinale Prozesse. von hirneigenen Tumoren, ζ. B. Gliomen, Allgemein übertrifft die MR-Darstellung das CT an Außösungs- und Darstellungsqualität und ist empfindlicher (Sensitivität) für pathologische Veränderungen, ohne sie (bislang) besser differenzieren zu können (Spezifität). Bei basisnahen Prozes-

Indikationen

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Untersuchungsmethoden

Abb. 1-48 Medio-sagittales MR-Tomogramm (Normalbefund) T1-betonte SpinEcho-Aufnahme (links) und T2-berechnetes Bild (rechts) [Prof. Voigt, Tübingen] 1 Zunge 2 Nasenhöhle 3 Clivus (Spongiosa) 4 Keilbeinhöhle 5 Rachen (Luft) 6 Dens axis 7 vorderer (a) und hinterer (b) Atlasbogen 8 Kalotte 9 Rückenmark 10 Medulla 11 Pons 12 Kleinhirn 13 Mittelhirn mit Vierhügelplatte 14 Thalamus (paramedianer Anteil) 15 Balken mit Knie (a) und Splenium (b) 16 Fornix 17 Chiasma optici, dahinter Hypophysenstiel 18 Fronto-basale Gyri 19 Gyrus cingulus 20 Lobulus paracentralis 21 Praecuneus 22 Cuneus 23 Paramedullärer Subarachnoidalraum 24 Cisterna magna 25 Präpontine Zisterne 26 Cisterna laminae quadrigeminae 27 Cavum septi pellucidi 28 Subarachnoidalraum bzw. Sulci III 3. Ventrikel (vorderer Anteil) IV 4.Ventrikel Α Aquädukt Bei den im MR-Tomogramm besonders gut darstellbaren basisnahen Prozessen handelt es sich um: - Hirnstammtumoren, - Akustikusneurinome, - temporale Gliome. Bei Krampfanfällen lassen sich bisweilen nur im MR-Tomogramm erfassen: - Gliome, - Mikro- und kavernöse Angiome, - Narben.

sen im Temporallappen, Kleinhirn, Hirnstamm und Rückenmark ist die MR der CT vor allem wegen fehlender Knochenartefakte und der Möglichkeit zur sagittalen und koronaren Schichtung deutlich überlegen. So sind Hirnstammgliome (Abb. 1-50) und intrakanalikuläre Akustikusneurinome, aber auch differenzierte Gliome des Temporallappens im Computertomogramm manchmal kaum abgrenzbar. Allerdings ist die Differenzierung des Tumorgewebes gegenüber dem begleitenden Ödem auch im MR-Tomogramm nicht immer möglich. Beim Meningeom und bei malignen Hirntumoren sowie Abszessen reicht die CT-Darstellung im allgemeinen aus, und Verkalkungen und begleitende Knochenveränderungen lassen sich im Computertomogramm sogar besser erkennen. Dagegen ist der Nachweis der (oft multiplen) Mikroangiome und Kavernome, die auch angiographisch schwer zu fassen sind, oft nur mit dem MR-Verfahren möglich. Bei Hypophysentumoren kann auf diese Weise auch ohne Angiographie ein Karotisaneurysma ausgeschlossen werden. Die Abgrenzung der Mikroadenome von normalem Hypophy-

Technische Zusatzuntersuchungen

101

Abb. 1-49 Koronares MR-Tomogramm (Normalbefund) T1-betonte Spin-Echo-Aufnahme mit Schichtung in Höhe der Sella (links) und der Felsenbeine (rechts) [Prof. Sartor, St. Louis, U S A ] 1 Clivus und Sella 2 Temporallappen mit Temporalhorn (a) und Hippokampus (b) 3 Insel 4 Operculum 5 Centrum semiovale 6 Balken 7 Stammganglien mit Kaudatumkopf (a), Linsenkern (b), innerer Kapsel (c), Thalamus (d) 8 Crus cerebri 9 Pons mit Brachium pontis 10 Medulla 11 Rückenmark I Seitenventrikel III 3.Ventrikel Α Aquädukt

Abb. 1-50 Ponsgliom T1-betontes medio-sagittales MR-Tomogramm. Auftreibung des Pons durch den Tumor (*) als Bezirk geringerer Signalintensität [Prof. Sartor, St. Louis, USA]

sengewebe ist allerdings noch schwierig. Blutungen sind im Computertomogramm und MR etwa gleich gut nachweisbar, wobei vor allem die lange Untersuchungszeit die MR-Diagnostik frisch verunfallter Patienten behindert. Wegen der höheren Empfindlichkeit für Ödemzonen sind frühe Infarktstadien und Entmarkungsherde im MR besser darstellbar. Vor allem differentialdiagnostisch schwierig abgrenzbare Entmarkungsherde, wie ζ. B. eine rein spinale Verlaufsform der Multiplen Sklerose und der überlebenswichtige Frühnachweis der Herpes-simplex-Eniephalitis sind im CT nicht möglich. Bei

Besonders aussagekräftige MR-Befunde sind Entzündungen und Entmarkungen: " ^Echwe^defH^r'SlnzitXs m naC We S er H e r p e s Enze ' P a itis

bei

102 Spinale MR-Tomographie ist speziell indiziert bei: - intramedullären Tumoren, - intramedullären Höhlen (Syringomyelie), - Diastematomyelie.

Untersuchungsmethoden Rückenmarkserkrankungen lassen sich vor allem im Mark selbst gelegene Prozesse wie Höhlen (Syringomyelie), Spalten (Diastematomyelie, Abb. 1-51) und Tumoren (Ependymome, Stiftgliome) besser darstellen, während Erkrankungen der Knochen und Bandscheiben im CT und Myelogramm wenigstens ebenso gut erfaßbar sind.

Abb. 1-51 Diastematomyelie Τ1-betontes koronares MR-Tomogramm. Spaltbildung im unteren Rückenmark (») [Prof. Voigt, Tübingen]

1.3.3.5 Kontrastuntersuchungen des Gehirns Zerebrale Angiographie Strenge Indikation zur zerebralen Angiographie wegen Komplikationsrisiko von 0,5-1%!

Zerebrale Angiographie Durch die Verbesserung der Angiographietechniken und vor allem der Kontrastmittel konnte das Untersuchungsrisiko dieser invasiven Methode erheblich reduziert werden. Die Zwischenfallsrate beträgt allerdings immer noch 0,5-1% an zumeist reversiblen neurologischen Ausfällen und sehr selten kann es durch einen Hirnstamminfarkt sogar zum Exitus kommen. Daher muß die Indikation zur zerebralen Angiographie weiterhin streng gestellt werden.

Methoden der Hirngefäßdarstellung: - Katheter - Angiographie über Aortenbogen, - Brachialis-Gegenstrom-Angiographie, - Direktpunktion der A. carotis, - Subtraktions-Angiographie (arteriell oder venös), - direkte Phlebographie.

Technik: Neben der Direktpunktion der A. carotis und der Gegenstromangiographie über die A.brachialis (die links allerdings nur die Vertebralarterie darstellt) ist die Katheteruntersuchung über den Aortenbogen die heutzutage am häufigsten praktizierte Untersuchungsmethode. Durch Verwendung des elektronischen Subtraktionsverfahrens bei der Bilderstellung (DSA) kann die intraarteriell injizierte Kontrastmittelmenge auf wenige ml beschränkt werden. Die beim intravenösen Vorgehen übliche Bolusinjektion in die Vena cava sup. ist zwar besonders risikoarm, reicht aber wegen der Verdünnung des Kontrastmittels bei der Passage des Lungenkreislaufes allenfalls zur Beurteilung der Halsabschnitte der großen supraaortalen Gefäße aus. Die großen abführenden Sinus transversus et sigmoideus sowie die Sinus petrosi lassen sich auch durch die direkte Phlebographie über einen in den Bulbus der V.jugularis eingeführten Katheter darstellen. Mit dieser Technik können auch Blutproben direkt aus dem basalen Sinus petrosus zur Bestimmung der abgegebenen Hypophysenhormone e n t n o m m e n werden.

Normalbefunde: In den verschiedenen Füllungsphasen lassen sich in den ersten 2 - 3 s die Arterien, dann eine relativ diffuse kapilläre Anfärbung von 1 s Dauer und anschließend die Venen beurteilen.

Technische Zusatzuntersuchungen

103

Indikationen: - intrakranielle Raumforderung (Blutung, Tumor, Abszeß), - Gefäßstenose und Verschlüsse, - Gefäßmißbildungen, - interventionelle Verfahren.

Bei Hirntumoren und Abszessen wird die Angiographie präoperativ zur Beurteilung des Gefäßreichtums und der Lage des Tumors zu den Arterien und Venen der Umgebung durchgeführt (Abb. 1-52). Während gutartige Gliome oft nur zu einer Verlagerung der umgebenden Gefäße führen, zeigen die Meningeome eine scharf begrenzte, relativ homogene Anfärbung. Dabei wird die Ausgangsstelle des Tumors von einer meningealen Arterie, zumeist einem Ast der A. meningea media, versorgt, während die Peripherie Anschluß an die leptomeningealen Hirngefäße gefunden hat.

Angiographische Zeichen beim malignen Tumor: - unscharfe Grenze, - unregelmäßiges Gefäßbild, - vorzeitige Venenfüllung (Shunt), beim benignen Tumor: - scharfe Grenze, - regelmäßiges Gefäßbild, - keine art.-venösen Shunts.

Abb. 1-52 Angiogramm bei Tumoren und arteriovenösem Angiom 1 Glioblastom mit Gefäßverlagerung, unscharfer Randbegrenzung, „besenreiserartig" ausgespannten Gefäßen, Blutseen und kleinen arterio-venösen Shunts und vorzeitiger Venenfüllung 2 Meningeom mit Gefäßverlagerung, scharfer Randbegrenzung, homogener Anfärbung, Versorgung des Meningeom-„Nabels" durch die A. meningea med. 3 Arterio-venöses Angiom mit erweiterten afferenten Ästen der A. cerebri media, Konvolut aus undifferenzierten erweiterten Kapillaren (Shunt), sehr frühe Füllung der erweiterten drainierenden Venen. Maligne Tumoren wie Glioblastome und Metastasen zeigen oft eine kräftige Injektion ungeordneter oder „besenreiserartig" ausgespannter Gefäße mit Kalibersprüngen, kleinen Blutseen und infolge der arteriovenösen Kurzschlüsse einer vorzeitigen Venenfüllung in der späten arteriellen oder kapillären Phase. Bei Gefäßprozessen mit Stenosen oder Verschlüssen richtet sich das angiographische Vorgehen nach dem Befund der Doppler-Sonographie (s. dort). Die Angiographie erfolgt hauptsächlich zur Beurteilung von multilokulären Gefäßveränderungen und ihrer Umgehungskreisläufe, zum Nachweis langstreckiger Engpässe und zur Differenzierung von hochgradigen Stenosen mit winzigem Restlumen von vollständigen Verschlüssen. Auch lassen sich nicht degenerativ bedingte Gefäßwanderkrankungen, wie ζ. B. Entzündungen oder die fibromuskuläre Dysplasie, nur angiographisch abgrenzen. Eine relativ seltene Untersuchungsindikation stellt vor allem beim hämorrhagischen In-

Angiographisch nachweisbare Umgehungskreisläufe bei Stenosen und Verschlüssen: - basaler Gefäßkranz, - Ophthalmika-Kollaterale, - leptomeningeale Anastomosen.

104

Untersuchungsmethoden

Abb. 1-53 Basaler Gefäßkranz (Circulus arteriosus Willisii) mit typischen Aneurysmen 1 A. carotis interna (Siphon) mit Aneurysma (1a) am Abgang der A. communicans post. 2 Intrakranielle Karotisgabel 3 A. cerebri ant. 4 Α. communicans ant. mit Aneurysma (a) 5 Media-Hauptstamm mit Aneurysma (a) an der Trifurkation 6 A. communicans post. 7 A. cerebri post. 8 A. basilaris mit Aneurysma (a) am Basilarisknopf 9 A. cerebelli sup.

Typischer Angiographiebefund beim Aneurysma: - Gefäßwandaussackung am basalen Gefäßkranz, beim arterio-venösen Angiom: - erweiterte afferente Arterien, - undifferenzierte Shunt-Kapillaren, - erweiterte, früh gefüllte drainierende Venen.

Interventionelle Verfahren: - Ballon-Dilatation von Stenosen, - Fibrinolyse, - Embolisation von Fisteln, Angiomen, gefäßreichen Tumoren.

farkt der Nachweis einer Sinusthrombose dar wegen der Einleitung einer gerinnungshemmenden Therapie. Bei subarachnoidalen und auch spontanen intrazerebralen Blutungen, die sich nicht befriedigend durch eine Hypertonie erklären lassen, wird zum Nachweis einer Gefäßmißbildung ebenfalls angiographiert. Vor allem nach Subarachnoidalblutungen muß die Gefäßdarstellung (und evtl. die anschließende Aneurysmaoperation) wegen der Gefahr des Blutungsrezidives und der 4 Tage später durch die Blutabbauprodukte auftretenden Spasmen sobald wie möglich erfolgen. Außerdem ist stets eine Vier-Gefäßangiographie erforderlich, da Aneurysmen in 10-20% der Fälle multipel auftreten. Beim arteriovenösen Angiom (Abb. 1-52) muß man ebenfalls alle zuführenden Äste, auch die aus der A. carotis externa, erfassen. Venöse Angiome sind als sternförmig erweiterte Venen darstellbar, während Mikroangiome und Kavernome oft nur im Kernspintomogramm nachgewiesen werden können. Als „interventionelle Neuroradiologie" bezeichnet man Kathetertechniken, die therapeutische Eingriffe an Kopf- und Halsgefäßen ermöglichen. Das Komplikationsrisiko ist dabei größer als bei der rein diagnostischen Angiographie. Zu den rekanalisierenden Verfahren gehört die Baiiondilatation von Stenosen der proximalen A. subclavia und (selten) der Vertebralarterien und Karotiden sowie die lokale Fibrinolyse bei der lebensbedrohlichen Thrombose der A. basilaris. Bei der Gefäßembolisation werden über dünne Katheter besonders im Bereich der A. carotis externa verschiedene Materialien wie kleine Partikel von Gelantineschwämmen, lyophilisierter Dura oder aus nicht resorbierbarem Kunststoff oder auch flüssige Kunststoffe, die beim Kontakt mit Blut aushärten, injiziert. Dadurch können die zuführenden Arterien bei gefäßreichen Gesichts- und Schädelbasistumoren und Gefäßmißbildungen sowie auch durale Fisteln zwischen Externaästen und den Sinus verschlossen werden. Pneumenzephalographie Diese Untersuchungsmethode der Liquorräume beruht auf der geringen

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Technische Zusatzuntersuchungen Strahlenabsorption von Gasen. Durch die zerebrale Computertomographie wurde das Verfahren nicht zuletzt wegen seiner unangenehmen Begleitreaktionen wie Kopfschmerzen, Erbrechen und Krampfanfälle als Folge der Luftinjektion weitgehend verdrängt. Technik: Die Injektion von Luft oder d e m besser verträglichen Sauerstoff erfolgt über eine P u n k t i o n s n a d e l in d e n l u m b a l e n oder subokzipitalen S u b a r a c h n o i d a l r a u m . Das G a s steigt von dort beim sitzenden Patienten in die intrakraniellen Zisternen u n d gelangt über die F o r a m i n a Luschkae u n d M a g e n d i in den 4. Ventrikel, den A q u ä d u k t , den 3. Ventrikel u n d über die F o r a m i n a M o n r o i in die Seitenventrikel. A u ß e r d e m füllt sich der S u b a r a c h n o i d a l r a u m über der Konvexität.

Normalbefunde: Beurteilt werden Form und Weite der Ventrikel und Zisternen sowie die subarachnoidale Rindenzeichnung. Indikation: Früher: - Tumoren, - Hydrozephalus, - Atrophie.

Heute: - intrakanalikuläres Akustikusneurinom (als CT-Gas-Zisternographie) - Durchgängigkeitsprüfung der Liquorwege

Ventrikulographie Auch die Ventrikulographie wird heute nur noch selten angewandt. Vor allem dann, wenn bei einer mit Drucksteigerung verbundenen Liquorabflußstörung eine Ventrikeldrainage oder ein Shunt gelegt wird, kann eine Kontrastmittelinjektion in die Ventrikel bei der Lokalisation der Passagestörung hilfreich sein. Auch läßt sich - ggf. mit einer CT-Nachuntersuchung - die Kommunikation einer intraventrikulären oder subarachnoidalen Zyste mit dem Liquorraum auf diese Weise sehr gut nachweisen.

Heutige „Rest"-lndikation zur Pneumenzephalographie: - Durchgängigkeitsprüfung der Liquorwege, - Gas-CT-Zisternographie beim intrakanalikulären Akustikus-Neurinom. Achtung: Einklemmungsgefahr bei erhöhtem Hirndruck!

Indikation zur Ventrikulographie: - Verlegung der inneren Liquorwege, - intraventrikuläre und subarachnoidale Zysten, - Kommunikation einer Zyste mit dem Liquorraum.

1.3.3.6 Kontrastuntersuchungen des Spinalkanals Myelographie Mit der Myelographie werden der Wirbelkanal und sein Inhalt, also das Rükkenmark und die daraus entspringenden bzw. eintretenden Nervenwurzeln dargestellt.

Myelographie Die Myelographie ist besonders indiziert bei ausgedehnter oder nicht näher lokalisierbarer Läsion des Rückenmarkes oder der Cauda equina.

Technik: Als Kontrastmittel verwendet m a n fast ausschließlich ein nicht ionisches, wasserlösliches Präparat wie Metrizamid oder Jopamidol. Es ist wegen seiner geringen Neurotoxizität im gesamten Spinalkanal einsetzbar u n d fuhrt auch b e i m Kontakt mit der Hirnoberfläche n u r ganz selten zu Anfällen, gelegentlich aber zu leichten Durchgangssyndromen. Das Kontrastmittel wird n a c h lumbaler oder subokzipitaler Punktion in den S u b a r a c h n o i d a l r a u m injiziert. Anschließend wird der Patient mit Hilfe eines Kipptisches in leichte Kopftief- bzw. -hochlage gebracht u n d dadurch das Kontrastmittel über einen größeren Abschnitt verteilt. W e n n wie ζ. B. bei e i n e m vermuteten Bandscheibenvorfall ausschließlich die Zervikalregion untersucht werden soll, kann m a n auch den sog. lateralen Zugang zwischen den Wirbelbögen von Atlas zu Axis hindurch in den dorsal vom R ü c k e n m a r k gelegenen S u b a r a c h n o i d a l r a u m wählen.

Normalbefunde: Da das Rückenmark bereits am thorakolumbalen Übergang mit dem Conus medullaris endet, erscheinen im lumbalen „Radikulogramm" ausschließlich die nach kaudal ziehenden Nervenwurzeln als fadenförmige Kontrastmittelaussparungen. Sie verlassen den Duralsack zusammen mit ihren Wurzeltaschen etwa ein Segment oberhalb ihres Kennwirbels und treten im Zwischenwirbelraum unter dem dazugehörigen Bogen aus, also ζ. B. die Wurzel L4 in Höhe L4/5. Das Rückenmark stellt sich als Kontrastmittelaussparung („Markschatten") dar und ist auf beiden Seiten vom schmalen Kontrastmittelband des paramedullären Subarachnoidalraumes umgeben. Die physiologischen Verbreite-

In der Myelographie erscheinen - die Cauda equina als fadenförmige Kontrastmittelaussparungen im Duralsack, - das Rückenmark als breitere Aussparung, umgeben vom schmalen Subarachnoidal-

Untersuchungsmethoden

106

rungen der Intumescentiae cervicalis et lumbalis dürfen dabei nicht mit pathologischen Markauftreibungen verwechselt werden. Indikationen

Φ

Indikationen: - Bandscheibenvorfälle und Enge-Syndrome, - Tumoren und Entzündungen, - Dysplasien, - Traumen.

L IV

L V

Abb. 1-54 Lumbales Myelogramm bei Bandscheibenvorfall und spinaler Enge L I V - S 1 : Untere Lumbalwirbel, Sakrum 1 Großer lateraler Bandscheibenvorfall L5/S1 komprimiert durch Druck nach oben die im Zwischenwirbelloch L5/S1 austretende Nervenwurzel L5 (Wurzelabbruch) und durch Druck nach medial und dorsal die an der Bandscheibe vorbei nach unten ziehende Wurzel S 1 2 Spinale Enge: Kompression des Duralsackes von dorsolateral her durch hypertrophierte und eng stehende Gelenkfortsätze L5/S1 Myelographie-Befunde bei Bandscheibenvorfall und spinaler Enge: - Kompression und/oder Verlagerung von Nervenwurzeln (zervikal und lumbal); - Kompression des Subarachnoidalraumes und Rückenmarkes (zervikal, sehr selten thorakal). Folgende Differenzierung des Tumorsitzes ist nach dem Myelogramm möglich: - extradural, - intradural-extramedullar, - intramedullär.

Myelographisches Zeichen eines spinalen Angioms: wurmförmige Gefäßaussparung. Myelographiebefunde bei Traumafolgen (falls im CT nicht darstellbar): - Passagebehinderung (akut) bei Knochenfragmenten im Kanal, Luxation, traumatischem Bandscheibenvorfall, Blutung (selten) - Taschenbildung bei Wurzelausriß (nach 1-3 Monaten).

Bandscheibenvorfälle führen je nach Lage zu einer von vorn kommenden Eindellung des Kontrastmittelstreifens bei medianem Sitz oder zu einer mehr lateral gelegenen Wurzeltaschenkompression (Abb. 1-54). Tumoren und raumfordernd wirkende Entzündungen wie epidurale Abszesse verursachen zumeist progrediente Querschnittsbilder, sofern sie zervikal oder thorakal lokalisiert sind. Im lumbalen Wirbelkanal stehen dagegen ebenso wie bei den lateral in den Zwischenwirbellöchern wachsenden Neurinomen Wurzelsymptome im Vordergrund. Je nach Tumorsitz unterscheidet man nach der Konfiguration extradurale (wie ζ. B. Wirbeltumoren und Metastasen, Abszesse, epidurale Lymphome), intradural-extramedulläre (Meningeome, Neurinome) und intramedulläre (Gliome, Ependymome) Raumforderungen (Abb. 1-55). Zu den auch myelographisch, besser aber im MR-Tomogramm nachweisbaren Dysplasien gehören Anomalien am kraniozervikalen Übergang wie der Tonsillentiefstand beim Arnold-Chiari-Syndrom, Höhlenbildungen im zervikalen und thorakalen Mark (Syringomyelic) und Meningozelen. Wurmförmig geschlängelte Kontrastmittelaussparungen weisen auf arteriovenöse Angiome oder Fisteln hin und müssen angiographisch weiter geklärt werden. Bei frisch traumatisierten Patienten mit Wirbelbrüchen und Querschnittsyndrom muß man die Indikation zur Myelographie sehr zurückhaltend stellen, um nicht durch die Manipulation der Untersuchung bei einer instabilen Wirbelsäule die Schädigung des Markes zu vergrößern. Eine weitere Myelographieindikation stellen zervikale Wurzelausrisse dar, die in den ersten Monaten nach dem Unfall von Plexusläsionen differenziert

107

Technische Zusatzuntersuchungen

1 Intramedullärer Tumor: Verbreiterter Markschatten mit beidseitiger Kompression des Subarachnoidalraumes (SAR). 2 Intradural-extramedullärer Tumor: Aufspreizung des SAR über und unter dem Tumor und Kompression und Verlagerung des Markschattens 3 Extraduraler Tumor: Kompression des SAR und Kompression und Verlagerung des Markschattens. Zusätzlich Destruktion der Bogenwurzel („einäugiger" Wirbel) = Osteolyse, ζ. B. bei Metastasen.

werden müssen und sich zumeist als kontrastmittelgefüllte Taschen im Zwischenwirbelloch manifestieren. Diskographie Diskographien werden nur noch selten durchgeführt, da sich Bandscheibenvorfalle myelographisch und computertomographisch fast immer ausreichend darstellen und beurteilen lassen. Bei der Diskographie wird der Kern der Bandscheibe, der Nucleus pulposus, direkt punktiert. Während bei einem gesunden Faserring (Anulus fibrosus) höchstens 1/2 ml Kontrastmittel injiziert werden kann, tritt es bei einem rupturierten Ring nach vorn oder hinten in den Epiduralraum aus. Dabei wird die durch den Bandscheibenvorfall bereits komprimierte Nervenwurzel zusätzlich gereizt (Provokationsschmerz).

Diskographl·

1.3.3.7 Szintigraphie Szintigraphie

Hirnszintigraphie Während das klassische Verfahren der stationären Szintigraphie nach Einführung der CT- und MR-Verfahren erheblich an Bedeutung verloren hat, kann mit der Sequenz-Szintigraphie bei Gefäßprozessen eine Funktionsdiagnostik betrieben werden. Technik: Die Bilderzeugung beruht auf der Gammastrahlung des in der Neuroradiologie hauptsächlich verwandten Isotopes 99-Tc, das als Diäthylentriaminpentaessigsäure-Verbindung (DTPA) mit einer Halbwertzeit von 6 Stunden intravenös injiziert wird ( 3 7 0 - 5 6 0 MBq). Mit der G a m m a k a m e r a werden in den ersten Minuten nach der Isotopeninjektion bis zu 40 frontale Szintigramme mit einer Expositionszeit von wenigen Sekunden aufgenommen (Sequenz-Szintigramm) und nach 1 Stunde die abschließenden Standardaufnahmen in frontaler, okzipitaler und beidseits lateraler Projektion (statische Szintigraphie).

Schwerpunkt der szintigraphischen Untersuchungsmethoden ist die Funktionsdiagnost'k-

108

Untersuchungsmethoden N o r m a l b e f u n d e : 8 - 1 2 s n a c h der I n j e k t i o n u n d n a c h Passage des L u n g e n kreislaufes erreicht die Aktivität als b a n d f ö r m i g e r Streifen die b e i d e n Karotid e n u n d a n s c h l i e ß e n d die Aa. cerebri m e d i a e et anteriores. N a c h 20 s tritt sie in die großen V e n e n u n d Sinus über. Dort ist sie a u c h in d e n später angefertigten S t a n d a r d a u f n a h m e n e r k e n n b a r . D a s H i r n g e w e b e selbst erscheint bei intakten G e f ä ß e n leer u n d wird von d e n A k t i v i t ä t s z o n e n der Kopfschwarte u n d Kalotte sowie der Schädelbasis ( S c h l e i m h ä u t e der N e b e n h ö h l e n , Orbitae, N a c k e n m u s k e l n ) u m g e b e n .

Indikationen: - F u n k t i o n s d i a g n o s t i k zerebraler D u r c h b l u t u n g s s t ö r u n g e n , - D i f f e r e n t i a l d i a g n o s e Infarkt - N e o p l a s m a , - gefäßreiche T u m o r e n .

Szintigraphische Befunde bei Durchblutungsstörungen : - Perfusionsstörung (Sequenz-Szintigramm), - Infarktzone mit 3phasigem Verlauf (statisches Szintigramm).

Die H a u p t i n d i k a t i o n liegt h e u t z u t a g e zweifellos in der F u n k t i o n s d i a g n o s t i k zerebraler Durchblutungsstörungen. H i e r b e i soll weniger die Lokalisation eines Gefäßverschlusses oder einer Stenose b e s t i m m t werden, s o n d e r n v i e l m e h r die Verzögerung bei der A k t i v i t ä t s a n f l u t u n g im S e q u e n z s z i n t i g r a m m , die sich a u c h als Aktivitätsverlaufskurve darstellen läßt u n d d e n G r a d der Gewebsperfusion anzeigt. Infarkte e r s c h e i n e n im F r ü h s t a d i u m als aktivitätsa r m e Z o n e n , während sie sich später, vor allem in der 2. u n d 3. W o c h e n a c h d e m Insult, als A n r e i c h e r u n g s b e z i r k e u n d d a n a c h wieder aktivitätsarm (im D e f e k t s t a d i u m ) präsentieren.

Tumorzeichen im Szintigramm: Aktivitätsanreicherungen vor allem bei gefäßreichen und kalottennahen Tumoren.

Gefäßreiche Tumoren (Abb. 1-56) wie M e n i n g e o m e u n d G l i o b l a s t o m e sowie größere M e t a s t a s e n sind ebenfalls im S z i n t i g r a m m recht gut nachweisbar, während sich b a s i s n a h e oder kleine T u m o r e n u n t e r 1 cm A u s d e h n u n g k a u m darstellen lassen.

Abb. 1-56 Szintigramm eines gefäßreichen Tumors (Metastase). Kräftige Aktivitätsanreicherung in der sonst fast aktivitätsfreien rechten Hemisphäre. Isotop: 99 T c - D P T A [Prof. Holan, Ravensburg] Szintigraphische U n t e r s u c h u n g der Liquorräume Mit diesem V e r f a h r e n , a u c h I s o t o p e n - Z i s t e r n o g r a p h i e g e n a n n t , wird die Liquorströmung untersucht. Technik: Die Isotopen werden intrathekal injiziert, und zwar vorwiegend 131-J (Halbwertzeit 8 Tage) gekoppelt an Humanserumalbumin (RIHSA) oder 111-In-DTPA (Halbwertzeit 3 Tage). Die Aktivitätsmessung erfolgt nach 1 - 2 , 6 und 24 Stunden und ggf. 48 Stunden mit der Gammakamera.

Technische Zusatzuntersuchungen Normalbefunde: Der von den Plexus choroidei der Seitenventrikel und des 3. und 4. Ventrikels gebildete Liquor fließt in die basalen Zisternen und von dort, teilweise nach einem Umweg durch den Wirbelkanal, in den Subarachnoidalraum über der Hirnkonvexität. Dort wird er von den Pacchioni-Granulationen resorbiert. Normalerweise kann das in den spinalen Subarachnoidalraum oder die Cisterna magna injizierte Isotop nur vorübergehend, und zwar infolge einer (vorwiegend aber nach auswärts gerichteten) Pendelströmung des Liquors in die Ventrikel eindringen.

Indikationen: - kommunizierender (Normaldruck-) Hydrozephalus, - Liquorfistel. Beim kommunizierenden Hydrozephalus liegt die Liquorzirkulationsstörung extraventrikulär als Passageblock auf verschiedenen Höhen im Subarachnoidalraum, ζ. B. infolge posttraumatischer oder entzündlicher Adhäsionen der Arachnoidea. Nach Subarachnoidalblutungen kann auch die Resorption in den Granulationen selbst gestört sein. In beiden Fällen kommt es zu einem Liquorreflux in die Ventrikel, der sich szintigraphisch als entsprechende Aktivitätsanreicherung manifestiert. Liquorfisteln entstehen durch Durazerreißungen bei Frakturen der Frontobasis oder des Felsenbeines. Der Liquor fließt über die Nebenhöhlen in die Nase ab, wo die ansteigende Aktivität durch eingelegte Watteträger (TupferScan) gemessen wird. Die Verletzungsstelle muß anschließend im CT oder tomographisch lokalisiert werden.

109 Liquordynamik: - Bildung in den Plexus choroidei, - Abfluß in die Zisternen, - Resorption in den Pacchioni-Granulationen über der Konvexität.

Indikationen

Isotopen-Zisternogramm beim kommunizie-

renden Hydrozephalus:

Liquorfluß (und Aktivitätsanreicherung) zurück in die Ventrikel.

Der szintigraphische N a c h w e i s einer Liquorfistel erfolgt d u r c h den T u p f e r - S c a n .

Knochenszintigramm Im Knochenszintigramm werden Zonen vermehrten Knochenan- und -umbaues früher nachgewiesen als mit anderen bildgebenden Verfahren. Technik: Man verwendet intravenös injizierte 99 Tc-markierte Phosphorverbindungen in ähnlicher Dosierung wie beim Hirnszintigramm, die sich in stoffwechselaktiven Anoder Umbaubezirken des Knochens anreichern.

Aud. 1-57 K n o c h e n s z i n t i g r a m m bei Spondylodiszitis Zielaufnahme der Lendenwirbelsäule und des Beckens. Kräftige Aktivitätsanreicherung im Z w i s c h e n w i r b e l r a u m L 2 / 3 und den a n g r e n z e n d e n Randplatten. Isotop: 99-Tc-Methylendiphosphonat (MDP) [Prof. Holan, Ravensburg]

Das K n o c h e n s z i n t i g r a m m erfaßt mit der - Frühaufnahme: Weichteilprozesse, - Spätaufnahme: Aktivität des Knochenstoffwechsels.

110

Untersuchungsmethoden Indikationen: - Frühstadium und Verbreitung von Knochentumoren und Metastasen, - Entzündungen mit Knochenbeteiligung, - gesteigerter Knochenumbau bei Morbus Paget, Hyperparathyreoidismus etc.

Das Knochenszintigramm ist besonders geeignet zum Frühnachweis von: - Metastasen, - Entzündungen (Spondylodiszitis, Sakrolleitis), - generalisierten Knochenerkrankungen mit Umbau.

P o s i t r o n e n - E m i s s i o n s - T o m o g r a p h i e (PET)

Wegen des frühzeitigen Nachweises ist das Knochenszintigramm besonders zur Suche ossärer Metastasen oder anderer Knochentumoren geeignet, die im Wirbelkörper auch tomographisch erst ab einem Defektdurchmesser von 5 mm nachweisbar sind. Auf diese Weise lassen sich auch Osteomyelitiden der Kalotte und Wirbel und Abszesse sicher darstellen. Auch bei der Lumboischialgie-Diagnostik wird die Knochenszintigraphie zum Nachweis einer Sakro-Ileitis, die das frühe Stadium einer Bechterew-Erkrankung darstellen kann, eingesetzt. 1.3.3.8 Positronen-Emissions-Tomographie (PET) In den letzten 10 Jahren hat sich die Positronen-Emissions-Tomographie zu einem Verfahren entwickelt, das mit szintigraphischen Mitteln wesentliche Aussagen über die Hirndurchblutung und verschiedene Stoffwechselprozesse erlaubt.

Prinzip: Isotop mit Positronenfreisetzung; bei Vernichtungsreaktion mit Elektronen werden Gamma-Strahlen frei und mit Detektoren registriert. Methodisch kompliziert, da zur Isotopenherstellung ein Zyklotron und schwierige chemische „Reinigungsreaktionen" erforderlich sind.

Technik: Die PET beruht auf der A u s s e n d u n g von Positronen (positiv geladene Elektronen-Äquivalente), die beim Zerfall eines Isotopes entstehen u n d b e i m A u f t r e f f e n auf ein Elektron der u m g e b e n d e n gewöhnlichen Materie in einer Vernichtungsreaktion zwei entgegengesetzt gerichtete G a m m a s t r a h l e n von je 511 keV aussenden. Die G a m m a s t r a h l e n werden in einem Ringsystem aus Einzeldetektoren, die das zu unters u c h e n d e Objekt u m g e b e n , registriert. Als R a d i o n u k l i d e werden 11-C, 13-N, 15-0, 18-F u n d 77-Kr verwendet, die wegen ihrer kurzen Halbwertzeiten an Ort und Stelle in einem Zyklotron erzeugt werden müssen.

Abb. 1-58 PET des Glukosestoffwechsels in Ruhe und beim Sprechen Zunahme der Stoffwechselrate beim Sprechen in der frontotemporalen Broca-Region links (Pfeil). [Prof. Heiss, Köln]

Technische Zusatzuntersuchungen Normalbefunde: Je nach verwendetem Isotop werden vorwiegend die Hirndurchblutung oder die Verteilung der Blutmenge, die Sauerstoffentnahme aus dem Blut, der Sauerstoffverbrauch, der Glukose- oder Eiweißstoffwechsel oder die Dichte verschiedener Rezeptoren dargestellt. Auch die funktionell gesteigerte Aktivität bestimmter Hirnregionen, ζ. B. von Temporallappenanteilen beim Sprechen oder der Okzipitalregion bei optischen Reizen, läßt sich sehr schön demonstrieren.

Indikationen: Bislang vorwiegend für Forschungszwecke. Klinisch: Herdlokalisation in der präoperativen Epilepsie-Diagnostik.

111 P E T - U n t e r s u c h u n g e n von: - regionaler Hirndurchblutung, - Sauerstoff-, Glukose-, Eiweiß-Stoffwechsel, - Rezeptor-Markierung, - funktioneller Aktivierung und Inaktivierung.

Stoffwechselaktivität erniedrigt bei: - Inaktivierung und Schlaf, - Defekt und Atrophie, - Blutung, - Tumor.

Bei allgemeinen organischen Hirnschäden wie auch der Demenz besteht ebenso wie bei den meisten psychiatrischen Erkrankungen (hier wahrscheinlich aber reaktiv) eine Stoffwechselverminderung, die auch im Schlaf, mit Ausnahme der Traumphasen, nachweisbar ist. Bei umschriebenen Prozessen (Blutungen, Narben, langsam wachsenden Tumoren) sind die Meßwerte herdförmig erniedrigt, während im akuten epileptischen Anfall eine deutliche Aktivierung auftritt. Auf diese Weise lassen sich auch solche Anfallsherde darstellen, die im CT und MR nicht faßbar sind. Studien des Sauerstoff- und Glukosestoffwechsels erlauben auch wesentliche Einblicke in den Ablauf ischämischer Infarkte. In den ersten Stunden ist die regionale Durchblutung vermindert und die Sauerstoff- und Glukose-Extraktion des noch aktiven Gewebes hoch bei allerdings bereits vermindertem Sauerstoffverbrauch. Nach einigen Tagen nimmt die Perfusion deutlich zu bei jetzt verminderter Sauerstoffextraktion (Luxusperfusion) und später, im Defektstadium, wieder ab.

Stoffwechselaktivität erhöht bei: - Funktioneller Aktivierung; - Krampfherd im Anfall.

Schließlich lassen sich auch Rezeptoren, wie ζ. B. die Dopaminrezeptoren der Basalganglien, durch markierte Schlüsselsubstanzen darstellen, durch markiertes Dopa ζ. B. eine Aktivitätsminderung bei Parkinson-Patienten.

M o r b u s Parkinson: verminderte Aktivität bei Dopamin-Rezeptoren-Markierung.

1.3.3.9 Single-Photon-Emission-Computer-Tomographie (SPECT) Es handelt sich dabei ebenfalls um ein szintigraphisches Tomographieverfahren, das vor allem wegen des geringeren Aufwandes bei der Isotopenherstellung im klinischen Bereich einsetzbar ist, jedoch eine deutlich geringere Meßgenauigkeit als die PET besitzt.

S P E C T ist methodisch einfacher als PET, aber nur semiquantitativ und besitzt geringeres A u f l ö s u n g s v e r m ö g e n .

Technik: Die Bilderzeugung beruht auf der Messung von freiwerdenden Photonen mit einer u m das Objekt rotierenden G a m m a k a m e r a und einer Bilderzeugung durch Rückprojektion entsprechend dem Prinzip der Computertomographie. Als Isotopen werden vorwiegend 123-J-markierte Amphetamine und lipophile Verbindungen wie 99-Tc-HexamethyIpropylenaminoxim (HMPAO) eingesetzt.

Prinzip: Registrierung freigesetzter Photonen.

Indikationen: - Himinfarkt, - Epilepsie, - Demenz. Beim Hirninfarkt ist die SPECT der CT vor allem bei der Darstellung frischer Infarkte vor dem Eintritt morphologischer Veränderungen überlegen und kann auch die (wahrscheinlich funktionelle) Inaktivierung größerer Hirnareale in der Infarktperipherie aufzeigen. Epilepsiepatienten zeigen gelegentlich auch bei negativem CT einen Herd

Klinische A n w e n d u n g von S P E C T : - Infarkt (Frühnachweis), - Krampfherd, - Demenz.

112

Untersuchungsmethoden

Abb. 1-59 S P E C T beim Mediahauptstamm-Verschluß Ausgedehnter Bezirk verminderter Aktivität im Versorgungsbereich der A. cerebri media Ii. [Doz. Dr. Bekier, St. Gallen] erhöhter Aktivität im A n f a l l bzw. v e r m i n d e r t e r Aktivität im anfallfreien Intervall. Schließlich ist a u c h die A b g r e n z u n g einer lokalen oder a l l g e m e i n e n Hirnatrophie wie bei der A l z h e i m e r - u n d P i c k - E r k r a n k u n g im S P E C T sicherer als im CT, das oft n u r eine d i f f u s e Ventrikelerweiterung u n d R i n d e n v e r g r ö b e rung nachweist. Messung der regionalen Hirndurchblutung

1.3.3.10 Messung der regionalen Hirndurchblutung

Messung des rCBF mit - Einzelsonden: quantitativ - PET: quantitativ - S P E C T : semiquantitativ

Die M e s s u n g des regionalen zerebralen Blutflusses (rCBF = regional cere5 r a l blood flow) k a n n m i t v e r s c h i e d e n e n M e t h o d e n d u r c h g e f ü h r t werden. Technik: Neben dem semiquantitativen SPECT-Verfahren (s. dort) steht als z. Zt. genaueste Methode die PET zur Verfügung. Als Isotop wird mit 15-0 markiertes Wasser verwendet und die von der Durchblutung abhängige Gewebskonzentration im Verteilungsgleichgewicht bestimmt. Eine recht genaue Aktivitätsmessung ist auch mit Einzelsonden möglich, die den Einstrom und die Gewebsverteilung des inhalierten Edelgases 133-XE als Aktivitätskurve an bis zu 16 Meßpunkten über dem Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm registrieren. In Abhängigkeit vom regionalen Blutfluß reichert sich das fettlösliche Gas bei der ersten Passage im Hirngewebe an und wird vom nachfließenden gasfreien Blut ausgewaschen. N o r m a l b e f u n d : Mit 15-0 wurde eine D u r c h b l u t u n g von 5 0 - 9 0 m l / 100 g - m i n für die graue u n d 20 m l / 1 0 0 g · m i n f ü r die weiße S u b s t a n z bes t i m m t , die im Alter im G e g e n s a t z z u m S a u e r s t o f f v e r b r a u c h a b n i m m t .

Indikation: - f u n k t i o n e l l e Aktivierung, - zerebrale D u r c h b l u t u n g s s t ö r u n g .

Mit der 133-XE-Inhalation u n d E i n z e l m e ß s o n d e n w u r d e n bereits vor E n t wicklung von P E T u n d S P E C T wesentliche E r k e n n t n i s s e ü b e r die „funktionelle Aktivierung" u n d die A b h ä n g i g k e i t der regionalen H i r n d u r c h b l u t u n g vom arteriellen Druck, der Sauerstoff- u n d K o h l e n d i o x i d k o n z e n t r a t i o n des Blutes sowie der m e d i k a m e n t ö s e n B e e i n f l u s s u n g g e w o n n e n . A u c h die Möglichkeit, D u r c h b l u t u n g s s t ö r u n g e n d u r c h eine lokale G e f ä ß d i l a t a t i o n bis zu e i n e m gewissen G r a d e k o m p e n s i e r e n zu k ö n n e n , ist mit dieser M e t h o d e nachweisbar. Exakte S t o f f w e c h s e l u n t e r s u c h u n g e n sind j e d o c h n u r m i t der P E T möglich.

Technische Zusatzuntersuchungen Literatur

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1.3.4 Ultraschallmethoden (Echoenzephalographie, Doppler-Sonographie, Duplex-Scan-Sonographie) H. J.

Ultraschallmethoden - Bildhafte Darstellung, - Benutzung des Doppler-Effekts.

Büdingen

Ultraschall (Frequenzbereich über 16000 Hz bzw. 16 kHz) kann diagnostisch - zur bildhaften Darstellung von Geweben und Gefäßen, auch in ihrer Bewegung, und - unter Benutzung des Doppler-Effekts zur akustischen und graphischen Darstellung der Blutströmung in Arterien und Venen angewandt werden. Der Untersucher kann somit visuelle oder akustische Information bzw. deren Kombination aus dem Körperinneren erhalten.

Information der Ultraschallverfahren - visuell, - akustisch Der Schallkopf dient als Sender und Empfän ger. —* Bestimmung der Tiefe von schallreflektierenden Gewebeflächen.

114

Untersuchungsmethoden

Doppler-Verfahren —» Messung der Frequenzverschiebung durch strömende Blutpartikel, die proportional der Geschwindigkeit ist.

Die reflektierte Schallenergie kann nach dem Echoimpulsschall- oder dem Doppler-Verfahren analysiert werden. Bei ersterem wird die Laufzeit kurzer Schallimpulse im Gewebe gemessen, die für den Weg zwischen Schallkopf und reflektierender Grenzfläche benötigt wird. Der Schallkopf dient hierbei gleichzeitig als Sender und Empfänger. Bei bekannter Ultraschallgeschwindigkeit im Gewebe läßt sich damit die Tiefe der Reflektoren bzw. Gewebegrenzflächen bestimmen. Bei den Doppler-Verfahren wird mit kontinuierlich oder gepulst ausgesandtem Ultraschall die Frequenzverschiebung gemessen, die sich aus der Strömung der reflektierenden Blutkorpuskel ergibt. Diese Frequenzverschiebung ist der Blutströmungsgeschwindigkeit proportional und liegt im hörbaren Bereich.

Voraussetzung der erfolgreichen Anwendung ist Kenntnis der anatomischen und hämodynamischen Grundlagen.

Die erfolgreiche Anwendung der Ultraschallmethoden setzt eingehende Kenntnisse der physikalisch-technischen, anatomischen und hämodynamischen Grundlagen voraus. Die Qualität der Untersuchungsbefunde ist sehr stark von der Erfahrung des Untersuchers abhängig, zudem sind die Untersuchungen schwierig, da viele Fehlermöglichkeiten gegeben sind, und zeitaufwendig.

Echoenzephalographie (A-Scan) weitgehend verlassen und von Computertomographie ersetzt.

1.3.4.1 Echoenzephalographie (A-Scan)

Heutige Anwendung: bei Notfällen zur schnellen Orientierung. Zweidimensionale Echoenzephalographie nur bei Säuglingen.

Doppler-Sonographie und B-Scan-Sonographie

Sie wurde 1954 als erste Ultraschallmethode in die neurochirurgische und neurologische Diagnostik eingeführt. Unter Verwendung des Echoimpulsschallverfahrens können durch transtemporale Beschallung intrakranielle Echoreflexionen empfangen und eindimensional als vertikale Auslenkungen eines Kathodenstrahls sichtbar gemacht werden. Die Position der vertikalen Ablenkung auf der Abszisse wird durch die Pulslaufzeit und somit durch die Distanz z u m Reflektor bestimmt, die Amplitude durch die Amplitude des reflektierten Signals. Da die Echoenzephalographie nach Einführung der Computer- und Kernspintomographie weitgehend verdrängt wurde, soll sie nur kurz besprochen werden. Sie war die erste nichtinvasive Untersuchungsmethode zur Erkennung supratentoriell gelegener Massenverlagerungen durch extra- oder intrazerebral gelegene Blutungen und Tumoren, die zu einer Verlagerung des sog. Mittelechos führen. Eine exakte Lokalisierung und Artdiagnose ist nicht möglich. Erkannt werden kann auch ein Hydrocephalus internus, wenn es gelingt, Reflexionen von den äußeren und inneren Ventrikelwänden zu empfangen. Die heutige Anwendung sollte sich auf Notfallsituationen beschränken, in denen eine Computertomographie nicht sofort durchgeführt werden kann und eine rasche Orientierung erforderlich ist. Die zweidimensionale Echoenzephalographie (B-Scan) des Schädelinneren mit Darstellung von Ultraschallschnittbildern des Gehirns, kann bisher diagnostisch zuverlässig nur beim Säugling durch die offene Fontanelle angewandt werden, da beim Erwachsenen die Abbildungsqualität durch die „Knochenbarriere" unbefriedigend ist. Beim Säugling können Ventrikelweiten, Mißbildungen und Raumforderungen in sehr guter Abbildungsqualität dargestellt werden.

1.3.4.2 Doppler-Sonographie und B-Scan-Sonographie Die Untersuchung hirnversorgender Arterien mit Ultraschall kann transkutan im Halsbereich, durch Öffnungen des Schädels (Fontanelle, Orbita, Foramen magnum), durch dünne Stellen des Schädelknochens („Knochenfenster") und bei eröffnetem Schädel im Rahmen neurochirurgischer Eingriffe durchgeführt werden.

Technische Zusatzuntersuchungen

115

Drei Methoden stehen zur Verfügung: 1. Die am weitesten verbreitete Doppler-Sonographie der extrakraniellen Hirnarterien, 2. die Doppler-Sonographie der intrakraniellen Hirnarterien („transkranielle Doppler-Sonographie"), 3. die B-Scan-Sonographie (Ultraschallschnittbild-Untersuchung) begrenzter Abschnitt der extrakraniellen Hirnarterien, auch in Kombination mit der Doppler-Sonographie (Duplex-Scan-Sonographie). Bei den Doppler-Sonographischen Untersuchungen ist die akustische Information entscheidend, bei der B-Scan-Sonographie die visuelle Information. Abb. 1-60 zeigt halbschematisch die Abschnitte der extra- und intrakraniellen Hirnarterien, welche mit ausreichender Regelmäßig- und Zuverlässigkeit durch die einzelnen Methoden beurteilbar sind. „Grauzonen" sind die Abgänge der Stammarterien aus dem Aortenbogen, die A. vertebralis in ihrem Verlauf durch die Querfortsätze der Halswirbel, die A. carotis interna in ihrem Verlauf durch das Felsenbein, der mittlere Abschnitt der A. basilaris und die Aa. cerebri anteriores. Die Gründe hierfür liegen in der Schwierigkeit, mit Ultraschall Knochen zu penetrieren oder in einem tiefen und winkelungünstigen Gefäßverlauf.

Drei Methoden: 1. Doppler-Sonographie — extrakraniell, - transkraniell; 2. B-Scan-Sonographie —»akustische Information; 3. Duplex-Scan-Sonographie —* visuelle Information.

TCD

ECD

Duplex

Abb. 1-60 Abschnitte der extra- und intrakraniellen Hirnarterien, die mit der extrakraniellen Doppler-Sonographie (ECD), Duplex-Scan-Sonographie (Duplex) und transkraniellen Doppler-Sonographie (TCD) untersucht werden können. Zur Bezeichnung der Arterien und Kollateralen s. Abb. 13.18 in Kap. 13.1.8.2. „Grauzonen" sind die Endäste der intrakraniellen Hirnarterien, der Α 2-Abschnitt der A. cerebri anterior, der mittlere Bereich der A. basilaris und im extrakraniellen Bereich der Abschnitt der A. carotis interna zwischen Schädelbasis und Karotissiphon, die A. vertebralis im Verlauf durch die Querfortsätze der Halswirbel und der Aortenbogen.

Methodik: Die Sendefrequenz der Schallköpfe liegt zwischen 2 und 10 MHz. Hier gilt die Regel: Je tiefer das zu untersuchende Gefäß, desto kleiner die Sendefrequenz. Zur Untersuchung oberflächlich gelegener Arterien (ζ. B. Endäste der A. ophthalmica, intraoperativ) werden 8 - 1 0 MHz Sendefrequenz angewandt, zur Untersuchung der Halsarterien 4 - 7 MHz und zur Beurteilung der Strömung in intrakraniellen Arterien 2 MHz. Die Schallemission kann kontinuierlich als Ultraschallstrahl oder gepulst als „Ultraschallpaket" erfolgen. Bei der gepulsten Methode kann die Distanz des Ultraschallmeßvolumens zur Schallsonde verändert und damit auch Information über die Meßtiefe er-

Methodik der B-Scan-Sonographie Sendefrequenz umso kleiner, je tiefer das Gefäß liegt. Schallemission: - kontinuierlich, - gepulst. —»Information über Meßtiefe.

Untersuchungsmethoden

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Methodik der Doppler-Sonographie Akustische Methode, die typische Geräusche ergibt. Benutzung des Doppler-Effekts —» ergibt Frequenzverschiebungen, die in Strömungsgeschwindigkeiten umgesetzt werden. Spektrumanalyse der Doppler-Frequenzen Bei B-Scan: bildhafte Darstellung der Reflexionen an Gewebeflächen —» Messung von Durchflußvolumina.

halten werden. Dies ist besonders bei Untersuchungen der intrakraniellen Hirnarterien wichtig. Die Doppler-Sonographie ist eine akustische Methode. Die Identifizierung und Differenzierung der Gefäße wird in erster Linie anhand typischer Geräusche vorgenommen, in zweiter Linie werden Doppler-Strompulskurven zur weiteren Beurteilung und Dokumentation aufgezeichnet. Unter Benutzung des Doppler-Effekts (Frequenzänderung bei Annäherung oder Entfernung des Empfängers vom Sender) werden bei Beschallung eines Gefäßes Frequenzverschiebungen (Doppler-Shift) gemessen, die bei Kenntnis des Beschallungswinkels in Strömungsgeschwindigkeiten umgerechnet werden können. Da die Strömungsgeschwindigkeit nicht in allen Abschnitten des Gefäßquerschnitts gleich ist, wird herzphasenabhängig eine Vielzahl von Frequenzen unterschiedlicher Häufigkeit gemessen, die als DopplerSpektrumpulskurve (Abb. 1-61) dargestellt und analysiert wird (Spektrumanalyse). Weit verbreitet ist die Darstellung der mittleren Strömungsgeschwindigkeit über den Gefäßquerschnitt als Doppler-Strompulskurve (Abb. 1-62). Α

50 mm

0,5 s Abb. 1-61 Spektrum-Pulskurven der A. cerebri media im Normalfall (A), abgeleitet in 50 mm Untersuchungstiefe und bei angiographisch nachgewiesener Abgangsstenose (B), abgeleitet in 65 mm Untersuchungstiefe. Ordinate: Strömungsgeschwindigkeit (100 cm/s entsprechend 2,6 kHz). Bei laminarer Strömung (A) ist die größte Häufigkeit der Doppler-Frequenzen (erhöhte Dichte der Punkte) dicht unterhalb der Hüllkurve zu finden, bei turbulenter Strömung im Bereich einer Stenose (B) ist neben den erhöhten Doppler-Frequenzen bzw. Strömungsgeschwindigkeiten eine Anhäufung niederer Doppler-Frequenzen systolisch im Bereich der Grundlinie zu finden als Ausdruck der Verwirblung des Blutes mit Strömungsverlangsamung und inversen Strömungsanteilen (Unterschreitung der Grundlinie 0 nach unten). Beim B-Scan-Verfahren werden die Reflektionen des Ultraschalls an Gewebegrenzen und in Geweben bildhaft dargestellt. Bei Beschallung einer Arterie kann bei gleichzeitiger Anwendung der Doppler-Sonographie (Duplex-Scan) eine winkelkontrollierte und damit exaktere Messung der Strömungsgeschwindigkeit vorgenommen werden. Bei bekanntem Gefäßdurchmesser sind somit Messungen von Durchflußvolumina möglich. Diagnostische Kriterien der Doppler-Sonographie

Diagnostische Kriterien der Doppler-Sonographie - der Nachweis einer Strömung, - die Strömungsrichtung, - die Form der Doppler-Strompulskurve bzw. die Analyse der DopplerSpektrumpulskurve.

117

Technische Zusatzuntersuchungen Α. carotis communis

A. carotis interna

A. carotis externa

500 msec

5 sec

Abb. 1-62 Position der Schallsonde zur Registrierung von Strompulskurven der Aa. carotis externa (a), interna (b) und communis (c). Registriergeschwindigkeit: 50 m m / s (links), 5 m m / s (rechts). Die durchgezogene Linie unter den Pulskurven entspricht der Strömungsgeschwindigkeit 0. Ordinatenkalibrierung: Standardeichsignal des Doppler-Gerätes entsprechend einer Strömungsgeschwindigkeit von 30 cm/s, Dauer der Kompression (s. Handhaltung) der Aa. temporalis superficialis und facialis zur Identifizierung der A. carotis externa (Abnahme der Strömungsgeschwindigkeit unter Kompression) durch Balken über den Pulskurven markiert. Ein deutlicher Kompressionseffekt ist nur bei Beschallung der A. carotis externa (a) zu registrieren. Die Strompulskurven der Aa. carotis externa und interna unterscheiden sich durch die Amplitudenmodulation in der Systole und die Größe der enddiastolischen Strömungsgeschwindigkeit (Abstand der Fußpunkte zur Nullinie), was auch akustisch erfaßbar ist.

Doppler-Sonographie der extrakraniellen Hirnarterien Üblicherweise wird kontinuierliche Schallemission mit 4 MHz Sendefrequenz angewandt. Die Analyse erfolgt überwiegend akustisch, da die Doppler-Frequenzverschiebungen im hörbaren Bereich liegen. Der große Vorteil dieser Methode liegt in der Möglichkeit, alle extrakraniellen Hirnarterien untersuchen zu können, zudem die wesentlichen KollateralKreisläufe (Ophthalmika-Kollaterale, Vertebralis-Okzipitalis-Anastomose, Subclavian-Steal-Effekt). Zu unterscheiden sind direkte und indirekte Befunde. Direkte werden durch Beschallung der Gefäßläsion (z.B. Stenose am Abgang der A.carotis interna, Abb. 1-63) erhoben, indirekte durch Beschallung von Gefäßabschnitten, die einer Läsion vor- oder nachgeschaltet sind (ζ. B. retrograde Durchströmung der A. ophthalmica bei Verschluß der A. carotis interna an der extrakraniellen Karotisbifurkation, veränderte Doppler-Strompulskurve der A. carotis communis bei Verschluß der A. carotis interna, erhöhte Strömungsgeschwindigkeit in der A. carotis interna bei großem arteriovenösem Angiom im Versorgungsbereich der A. cerebri media). Diagnostische Domäne der extrakraniellen Doppler-Sonographie ist die Erkennung der häufigen Stenosen und Verschlüsse extrakranieller Hirnarte-

Doppler-Sonographie der extrakraniellen Hirnarterien Etablierte Methode zur Beurteilung der Strömungsgeschwindigkeit und -richtung in extrakraniellen Hirnarterien. Vorteil: Untersuchung aller extrakraniellen Hirngefäße mit Kollateral-Kreisläufen.

Untersuchung der Karotiden: Indirekte Hinweise auf eine hochgradige Stenose oder Verschluß der A. carotis interna sind reduzierte orthograde, nicht nachweisbare oder retrograde Durchströmung von Endästen der A. ophthalmica. Sie anastomosieren mit Endästen der A. carotis externa im Periorbital-

Untersuchung der: - Karotiden indirekte Kriterien: orthograde oder retrograde Durchströmung von Endästen der A. ophthalmica;

Direkte

Befunde:

durch Beschallung der Gefäßläsion. Indirekte

Befunde:

durch Beschallung der vor- oder nachgeschalteten Gefäßabschnitte. Vorteil: Erkennung von häufigen Stenosen und Verschlüssen.

118

Untersuchungsmethoden

Abb. 1-63 D o p p l e r - B e f u n d e bei k o n t i n u i e r l i c h e r V e r s c h i e b u n g d e r S c h a l l s o n d e v o n d e r A . carotis c o m m u n i s ü b e r d i e stenosierte A . carotis interna (oben) u n d die frei d u r c h g ä n g i g e A . carotis e x t e r n a (unten). D e r a n g i o g r a p h i s c h e B e f u n d ist halbs c h e m a t i s c h dargestellt. D i e z u n e h m e n d e E i n e n g u n g d e s L u m e n s d e r A . carotis interna b e d i n g t eine z u n e h m e n d e S t r ö m u n g s g e s c h w i n d i g k e i t , p o s t s t e n o t i s c h f i n d e n s i c h V e r w i r b e l u n g e n , die s i c h d u r c h U n r e g e l m ä ß i g k e i t e n der D o p p l e r - S t r o m p u l s k u r v e n u n d a u c h a k u s t i s c h a u s d r ü c k e n (aus B ü d i n g e n , v . R e u t e r n , F r e u n d 1982).

direkte Kriterien: Erhöhung der Strömungsgeschwindigkeit, V e r m i n d e r u n g der S t r ö m u n g s g e s c h w i n d i g keit, verwirbelte Strömung.

- Vertebralarterien Stenose und Verschlußzeichen, Subclavian-steal-Effekte.

bereich. Normalerweise wird die A. ophthalmica als erster Ast der A. carotis interna stirnwärts durchblutet. Bei hochgradiger Obstruktion der Interna k o m m t es postobstruktiv z u m Druckabfall, der Druck im Externastromgebiet überwiegt dann und kann schlußendlich zu retrograder Durchströmung der A. ophthalmica f ü h r e n (Ophthalmika-Kollaterale). Wesentlich aufschlußreicher ist die direkte Untersuchung der Karotiden im Halsbereich. Diagnostisch verwertbar ist eine umschriebene Erhöhung der Strömungsgeschwindigkeit (Stenosesignal), poststenotisch gestörte (verwirbelte) Strömung und verminderte Strömungsgeschwindigkeit. Abb. 1-63 gibt typische Befunde bei einer hochgradigen Abgangsstenose der linken A. carotis interna wieder. • Stenosen, deren L u m e n e i n e n g u n g mehr als 50 % beträgt und Verschlüsse werden von erfahrenen Untersuchern in 98 % erfaßt. • Nichtstenosierende Plaques u n d leichte Stenosen können nicht oder nicht mit ausreichender Sicherheit erkannt werden. Da bei perkutaner Untersuchung der Beschallungswinkel nicht exakt bestimmt werden kann, handelt es sich u m eine qualitative Beurteilung der Strömungsgeschwindigkeit. Untersuchung der Vertebralarterien: Sie kann, z u s a m m e n mit d e m vorund nachgeschalteten Abschnitt der A. subclavia, an ihrem Abgang (vgl. Abb. 1-60) und im Bereich ihrer Atlasschlinge untersucht werden. Diagnostisch verwertbar sind ebenfalls Stenosesignale, gestörte Strömung, verminderte Strömungsgeschwindigkeit u n d inkomplette oder komplette Steal-Effekte bei Stenose oder Verschluß der proximalen A. subclavia oder des Truncus brachiocephalicus. Sie bestehen in systolischer Strömungsentschleunigung, Pendelfluß (systolisch arm-, diastolisch hirnwärts gerichtet) oder retrograder Strömung in der A. vertebralis während des ganzen Herzzyklus (s. Abb. 13-9). Letztere erfolgt meist über die kontralaterale A. vertebralis, bei deren Verschluß über die Vertebralis-Okzipitalis-Anastomose und andere Halskollateralen (s. Abschn. 13.1.7.1).

Technische Zusatzuntersuchungen

119

Transkranielle Doppler-Sonographie: Angewandt wird gepulster Ultraschall mit einer Sendefrequenz von 2 MHz. Durch dünne Stellen der temporalen Kalotte über dem Jochbein können in variabler Distanz des Ultraschallmeßvolumens einzelne Abschnitte intrakranieller Hirnarterien (Aa. cerebri media, anterior, posterior und carotis interna), durch subokzipitale Beschallung durch das Foramen magnum die Endabschnitte der Aa. vertebrales und die A. basilaris beurteilt werden. • Neben der Diagnostik arteriosklerotischer Stenosen und Verschlüsse ist die Methode hilfreich in der Beurteilung von Auswirkungen extrakranieller Verschlußprozesse auf die Strömungsgeschwindigkeit in den genannten Arterien und die Beurteilung der Kollateralversorgung über den Circulus arteriosus cerebri (Abb. 1-64). Daneben sind Verlaufsuntersuchungen bei Vaso-

mm m

Abb. 1-64 intra- und extrakranielle Doppler-Sonographie: Doppler-Spektrumpulskurven von extra- und intrakraniellen Hirnarterien einer 48jährigen Patientin mit multiplen Stenosen und Verschlüssen (proximaler Verschluß der linken proximalen Aa. subclavia und vertebralis, hochgradige Abgangsstenose der linken A. carotis interna, mittelgradige Abgangsstenose der rechten A. vertebralis, höhergradige Stenose der intrakraniellen A. carotis interna zwischen der Aa. ophthalmica und communicans posterior und hochgradige Abgangsstenose des Hauptstamms der rechten A. cerebri media, s. halbschematische Darstellung der extra- und intrakraniellen Hirnarterien). Die Aa. cerebri media, anterior und posterior wurde transtemporal beschallt, die rechte und die linke A. vertebralis, die links retrograd durchströmt wird (s. Pfeile) und der Übergang von den Vertebralarterien auf die A. basilaris von subokzipital. Die Ziffern unter den Pulskurven bezeichnen die jeweilige Untersuchungstiefe in mm. Die waagrechten Pfeile bezeichnen die Strömungsrichtung, bezogen auf die Schallsonde. Ordinate: Strömungsgeschwindigkeit v, standardisiert für alle Kurvenabschnitte auf 100cm/s. Im Hauptstamm der rechten A. cerebri media fand sich deutlich erhöhte Strömungsgeschwindigkeit mit Turbulenzen (vgl. Abb. 1-61), in der linken A. cerebri media eine reduzierte Strömungsgeschwindigkeit mit nur geringer pulsatiler Schwankung. Die Kollateralversorgung der linken A. cerebri media erfolgte über das rechte Karotisstromgebiet via Α 1-Abschnitt der rechten A. cerebri anterior, A. communicans anterior und den retrograd mit hoher Geschwindigkeit durchströmten Α 1-Abschnitt der linken A. cerebri anterior. Durch Sondenkippung bei subokzipitaler Beschallung der Vertebralarterien konnte die Strömung in der rechten, orthograd durchströmten und linken, retrograd durchströmten A. vertebralis erfaßt werden. Orthograde Durchströmung der A. basilaris, die zur Kollateralversorgung des linken Mediastromgebietes über die A. communicans posterior beitrug. Die Aa. cerebri posteriores wurden durch Kompression (Balken über den Pulskurven) der Atlasschlinge der rechten A. vertebralis identifiziert, die zu einer deutlichen Abnahme der Strömungsgeschwindigkeit führt. Der Abgang der stenosierten rechten A. vertebralis wurde durch oszillierende Kompression (nach unten gerichtete Pfeile) der Atlasschlinge der rechten A. vertebralis identifiziert (aus Büdingen, Staudacher, Stoeter 1987).

Transkranielle Doppler-Sonographie Neue Methode zur Beurteilung der Strömungsgeschwindigkeit und -richtung in intrakraniell gelegenen Arterien.

Diagnostik: - von arteriosklerotischen Stenosen und Verschlüssen, - von extrakraniellen Verschlußprozessen, - Beurteilung der Kollateralversorgung, - Verlaufsuntersuchungen bei Vasospasmen nach Subarachnoidalblutungen.

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Untersuchungsmethoden spasmen nach Subarachnoidalblutungen und während Karotisoperationen und Eingriffen am offenen Herzen möglich. In Kombination mit der extrakraniellen Doppler-Sonographie gelingt es bei ausreichender Erfahrung häufig, die Strömungsgeschwindigkeit und -richtung in allen hirnversorgenden Arterien zu bestimmen. Auch hier sind Verlaufsuntersuchungen von besonderer Bedeutung.

Doppler-Frequenzanalyse Quantitative Analyse der Doppler Frequenzen. —» Erhöhung der diagnostischen Treffsicherheit bei Lumeneinengung < 5 0 % .

Doppler-Frequenz-Analyse: Durch die quantitative Analyse der mit kontinuierlichem oder gepulstem Ultraschall erhaltenen Doppler-Frequenzen kann die diagnostische Treffsicherheit im kritischen Stenosebereich von unter 50% Lumeneinengung verbessert werden. Die Doppler-Spektrumpulskurve ist aus technischen Gründen weniger artefaktgefährdet als die Doppler-Strompulskurve und damit auch für die Dokumentation besser geeignet.

B-Scan-Sonographie Bildhafte Darstellung der Gefäßwände von extrakraniellen Karotiden und A. vertebralis.

B-Scan-Sonographie: Sie ist im Gegensatz zur Doppler-Sonographie ein bildgebendes Verfahren und aus technischen Gründen auf die Beurteilung der extrakraniellen Karotiden und des Abgangsbereichs der A. vertebralis beschränkt. Erhalten werden zweidimensionale Ultraschallschnittbilder in Echtzeit, welche morphologische Veränderungen der Gefäßwand wiedergeben. • Der besondere Vorteil liegt in der Erkennung arteriosklerotischer Plaques und niedergradiger Stenosen im Gefäßlängs- und -querschnitt (Abb. 1-65), die von der extrakraniellen Doppler-Sonographie nicht erfaßt werden. Unsicher wird die Diagnostik bei hochgradigen Stenosen und Verschlüssen, hier ist die extrakranielle Doppler-Sonographie überlegen.

Vorteil: Erkennung von Plaques und niedergradigen Stenosen.

Abb. 1-65 B-Scan der extrakraniellen Karotisbifurkation rechts bei einem 63jährigen Patienten mit hochgradiger Abgangsstenose der A. carotis interna (ICA). Die Stenose (Pfeil) ist gut zu erkennen, unterhalb findet sich der typische „Schallschatten" durch Absorption der Ultraschallenergie durch die ζ. T. kalzifizierte Ste nose. Duplex-Scan-Sonographie erfaßt syndron: - morphologische und - Strömungsparameter.

Vorteil: - Erkennen von - nichtstenosierenden Gefäßläsionen, - niedergradigen Stenosen.

Duplex-Scan-Sonographie: Mit diesem Verfahren werden morphologische und Strömungsparameter synchron erfaßt. Da der Gefäßverlauf im Längsschnitt sichtbar wird, kann der ideale Beschallungswinkel (unter 30 Grad) eingestellt und damit quantitativ aus der Doppler-Frequenzverschiebung die Strömungsgeschwindigkeit gemessen, zudem das Flußvolumina abgeschätzt werden. • Die Domäne der Duplex-Systeme sind nichtstenosierende Gefäßläsionen und niedergradige Stenosen, die mit hoher Treffsicherheit erkannt werden. Damit ist dieMöglichkeit zur Früherkennung arteriosklerotischer Läsionen

Technische Zusatzuntersuchungen

121

gegeben, auch zu Verlaufsuntersuchungen, u m deren Entwicklung beurteilen zu können.

Literatur Aaslid, R. (Hrsg.): Transcranial Doppler sonography. Springer, W i e n - N e w York 1986 Büdingen, H. J., G.-M. von Reutern, H.-J. Freund: Doppler-Sonographie extrakraniellen Hirnarterien. Grundlagen, Methodik, Fehlermöglichkeiten, Ergebnisse. Thieme, Stuttgart - New York 1982 Büdingen, H.J., Th. Staudacher, P. Stoeter: Subclavian Steal: Transkranielle Doppler-Sonographie der Arteria basilaris. Ultraschall 8 (1987) 2 0 5 - 2 1 2 Gilsbach, J. M.: Intraoperative Doppler sonography in neurosurgery. Springer, W i e n - N e w York 1983 Härders, Α.: Neurosurgical applications of transcranial Doppler sonography. Springer, W i e n - N e w York 1986 Reutern, G.-M. von, H. J. Büdingen: Ultraschalldiagnostik der hirnversorgenden Arterien. Doppler-Sonographie der extra- u n d intrakraniellen Hirnarterien, Duplex-Sonographie. Thieme, S t u t t g a r t - N e w York 1989 Spencer, M. P.: Ultrasonic diagnosis of cerebrovascular disease. Martinus Nijhoff, Dordrecht - Boston - Lancaster 1987 Widder, Β. (Hrsg.): Transkranielle Dopplersonographie bei zerebrovaskulären Erkrankungen. Springer, Berlin - Heidelberg 1987

1.3.5. Thermographie

Thermographie

W. Fröscher Mit der kutanen Thermographie läßt sich die Hauttemperatur sichtbar m a c h e n ; sie ist von der Durchblutung des entsprechenden Areals abhängig. In der Neurologie wurde die Thermographie vor allem zur Erkennung von Stenosen der A. carotis interna eingesetzt. Durch die wesentlich exakteren Befunde mit der Doppler-Sonographie hat die Thermographie als Vorfelddiagnostik zur Erfassung von Karotisstenosen ihre Bedeutung verloren. - Aussichtsreicher ist der Einsatz der Infrarot-Telethermographie bei Lumboischialgien. Bei der Mehrzahl der Patienten findet sich eine Hypothermie am betroffenen Bein (Siebert et al. 1986).

Literatur Ortega-Suhrkamp, E., G.-M. v. Reutern: Z u m Wert der Plattenthermographie als Suchtest von Stenosen oder Verschlüssen der Karotiden. Nervenarzt 51 (1980) 4 6 2 - 4 6 6 Siebert, B., W. Siebert, N.Seichert et al. Einsatzmöglichkeiten der Infrarottelethermographie bei Patienten mit Lumboischialgie u n d Kreuzschmerzen. Z. Phys. Med. Baln. Med. Klim. 15 (1986) 4 1 9 - 4 2 3

Mit der kutanen Thermographie läßt sich die Hauttemperatur sichtbar machen; sie ist von der Durchblutung des entsprechenden Areals abhängig.

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Untersuchungsmethoden

1.3.6 Tensilon- und Ischämie-Test F. Gullotta 1.3.6.1 Tensilon-Test: siehe Kapitel 23. Ischämie-Test

1.3.6.2 Ischämie-Test

Zur Überprüfung des Laktatanstiegs bei belastungsabhängigen Myopathien (s. 22. Muskelerkrankungen).

Bei Myopathien mit belastungsabhängigen Beschwerden soll ein IschämieTest zur Überprüfung des Laktatanstieges im Blut durchgeführt werden. Einzelheiten dazu im Abschnitt 22.2-3.1 (Glykogenose Typ V, Mc-Ardle-Syndrom).

1.3.7 Biopsien in der neurologischen Diagnostik F. Gullotta Muskelbiopsie

1.3.7.1 Muskelbiopsie

Voraussetzungen: - korrekte Indikation, - Auswahl eines geeigneten Muskels, - enzymhistochemische Bearbeitung der Biopsie.

Bei vielen neuromuskulären Erkrankungen des Säuglings-, Kindes- und Erwachsenenalters kann eine Muskelbiopsie sehr hilfreich für die klinische Diagnose bzw. für die nosologische Einordnung der Erkrankung sein. Wichtige Voraussetzungen für die erfolgreiche Durchführung dieser Untersuchung sind: - Eine korrekte klinische Indikation, - die exakte Wahl des zu biopsierenden Muskels und - die Bearbeitung der Biopsie mittels enzymhistochemischer Methoden. (Die Elektronenmikroskopie spielt heute in der Diagnostik eine untergeordnete Rolle.)

Klinische Indikation

Exzisionsstelle: Muskelgruppen vom Oberarm, Oberschenkel oder Unterschenkel. Zur Biopsie ungeeignete Muskeln: - völlig atrophische und vernarbte Muskeln, - Muskeln, die in den Tagen vor der Biopsie elektromyographisch untersucht wurden.

Technische Bearbeitung: Sofortige Bearbeitung des frisch entnommenen, unfixierten, tiefgefrorenen Gewebsexzidates mittels enzymhistochemischer Methoden.

Indikation. Eine Muskelbiopsie ist indiziert bei Verdacht auf eine sog. degenerative neuromuskuläre Erkrankung (z.B. aus der Gruppe der spinalen Atrophien - ALS; Kugelberg-Welander; Werdnig-Hoffmann bzw. bei Polyneuropathien), bei Muskeldystrophien, bei chronisch-rezidivierenden myopathischen Syndromen unklarer Genese, bei Verdacht auf primäre oder sekundäre Entzündungen der Skelettmuskulatur (Polymyositis, Herd-Myositis - s. 22.2.8), bei Verdacht auf Stoffwechselstörungen mit Befall der Skelettmuskulatur. Besonders wichtig ist dabei die Wahl der Exzisionsstelle. Grundsätzlich kommen nur die Muskelgruppen vom Oberarm oder Ober- resp. Unterschenkel in Frage. Die Gewebsprobe soll (schonend!) entnommen werden aus einem nicht allzu stark atrophischen Areal bzw. aus einem Gebiet, wo subjektiv oder objektiv (klinisch, elektromyographisch) der pathologische Prozeß voraussichtlich noch abläuft und nicht bereits zum Stillstand gekommen ist. Zu vermeiden sind völlig atrophische und vernarbte Muskeln sowie jene Areale, wo unmittelbar (oder wenige Tage) vor der Muskelbiopsie eine elektromyographische Untersuchung stattgefunden hat (durch den Einstich der Nadel kommt es immer zu einer winzigen reaktiven fokalen Entzündung); empfehlenswert ist daher in diesen Fällen eine Hautmarkierung der Einstichstellen. Technische Bearbeitung. Wichtig ist die sofortige Bearbeitung des frisch entnommenen, unfixierten, tief(schock-)gefrorenen Gewebsexzidates mittels enzymhistochemischer Methoden. Bekanntlich besteht die Skelettmuskulatur aus einer Mischung von roten und weißen Fasern. Die roten Fasern sind mitochondrien- und lipidreich, sie kontrahieren sich langsam und werden

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Technische Zusatzuntersuchungen auch Typ-I-Fasem genannt. Die weißen Fasern sind myosin- und glykogenreich, relativ mitochondrienarm, sie kontrahieren sich rasch und werden als Typ-II-Fasern bezeichnet: Sie können weiter in II Α und II Β unterteilt werden. Bestimmte enzymhistochemische Reaktionen (für die mitochondrialen Enzyme, die myofibrilläre ATPase, die Phosphorylase, die saure Phosphatase etc.) können beide Fasertypen optimal darstellen. Es kommt dann ein elegantes Schachbrett- oder Mosaikmuster zur Darstellung (helle und dunkle Fasern liegen mosaikartig nebeneinander). Diese Methoden gestatten auch, quantitative Schwankungen der jeweiligen intrazellulären Enzyme nahezu selektiv zu erfassen. Bei pathologischen Zuständen (Denervation, Stoffwechselstörungen etc.) kommt es zu Änderungen des Mosaikmusters bzw. der intrazellulären Enzyme schon in den Frühphasen der Erkrankung, d. h. zu einem Zeitpunkt, wo die histologische Untersuchung nach der alten Methode (Formalinfixation und Paraffineinbettung) noch keinerlei Auffälligkeiten aufdecken würde:'Die Anwendung dieser enzymhistochemischen Methoden hat das nosologische Spektrum der Muskelkrankheiten in den letzten Jahren stark erweitert, dies insbesondere auf dem Gebiet der kindlichen und der stoffwechselbedingten Myopathien. Durch den Nachweis von enzymhistochemischen Anomalien werden außerdem die Weichen für eine weitere gezielte elektronenoptische Untersuchung der Biopsie gestellt (es empfiehlt sich, ein kleines Gewebsstück von vornherein für die Elektronenmikroskopie zu asservieren, dies insbesondere bei kindlichen Myopathien). Einige krankheitsspezifische Bilder von Muskelerkrankungen sind im Kapitel 22.1.1 dargestellt worden.

Typ-I-Fasern und Typ-II-Fasern können auf diese Weise getrennt dargestellt werden.

Merke. Eine Muskelbiopsie ist eine invasive Zusatzuntersuchung, die Indikation dafür muß also genau überlegt werden. Dies u m so mehr, wenn man bedenkt, daß bei vielen Erkrankungen aus dem Formenkreis der Kollagenosen oder bei unspezifischen Myalgien und Myogelosen der mikroskopische Befund völlig normal sein kann (Herd-Myositiden bestehen aus winzigen, unregelmäßig verteilten Entzündungsherden, die im entnommenen Exzisum fehlen können - s. 22.2-8.2). Von wenigen Ausnahmen abgesehen (sog. strukturierte Myopathien des Kindesalters oder einigen metabolischen Myopathien), kann die nosologische Interpretation des bioptischen Befundes grundsätzlich nur unter Berücksichtigung der klinischen Angaben, der serologischen (CK, Aldolase, etc.) und elektromyographischen Ergebnisse erfolgen. Eine sehr enge Kooperation zwischen Kliniker und Neuropathologe ist daher angebracht.

Wichtig!

1.3.7.2 Nervenbiopsie

Nervenbiopsie

In seltenen Fällen, bei Verdacht auf eine genetisch- oder stoffwechselbedingte Polyneuropathie oder auf eine generalisierte Stoffwechselstörung (z.B. aus der Gruppe der Neurolipidosen) kann die Untersuchung einer Nervenbiopsie hilfreich sein. Die Gewebsentnahme erfolgt in der Regel am Nervus suralis lateralis, ein sensibler, funktionell unwichtiger Nerv, und zwar am Fußknöchel (Malleolus fibulae).

Die Indikation ist sehr streng zu stellen; sie kommt erst nach Abschluß sämtlicher klinischer und elektrophysiologischer Untersuchungen in Betracht. Die Durchtrennung des Nerven hinterläßt erwartungsgemäß eine Anästhesie am lateralen Fußrand. Im übrigen lassen sich heute viele Stoffwechselerkrankungen (ζ. B. Leukodystrophien) durch biochemische Untersuchungen der Leukozyten, von Fibroblastenkulturen oder durch eine Rektumbiopsie (s.

Bei pathologischen Zuständen (Denervation, Stoffwechselstörungen etc.) kommt es zu Änderungen des Mosaikmusters bzw. der intrazellulären Enzyme schon in der Frühphase der Erkrankung. Durch den Nachweis von enzymhistochemischen Anomalien werden die Weichen für eine weitere gezielte elektronenoptische Untersuchung der Biopsie gestellt.

Indikation und Ort der Gewebsentnahme

Indikation erst nach Abschluß sämtlicher klinischer und elektrophysiologischer Untersuchungen.

124

Untersuchungsmethoden unten) erfassen: Sie sollten daher bei entsprechendem klinischem Verdacht immer als erste durchgeführt werden (vgl. 19.).

Technische Bearbeitung Das exzidierte Nervenstück wird auf Filterpapier gelegt und in Glutaraldehyd (5%) fixiert. Lichtmikroskopische und evtl. auch elektronenmikroskopische Untersuchung.

Technische Bearbeitung. Der zu biopsierende Nervenast soll vom Operateur sehr sorgfältig behandelt werden; Traktionen, Quetschungen durch Pinzetten etc. sind zu vermeiden, da mechanisch bedingte Artefakte sehr leicht auftreten und das histologische Bild verwischen. Das exzidierte Nervenstück (etwa 2 - 3 cm lang) wird auf Filterpapier gelegt und in Glutaraldehyd (5 %) fixiert. Diese Fixation schafft die Voraussetzung für eine optimale weitere Bearbeitung des im Kunststoff eingebetteten Materials, dessen lichtmikroskopische Beurteilung an Semidünnschnitten erfolgt. Falls notwendig, lassen sich durch diese Einbettung auch Ultradünnschnitte für eine eventuell erforderliche elektronenmikroskopische Untersuchung herstellen. Vor der Durchführung einer Nervenbiopsie ist eine Rücksprache mit dem zuständigen Neuropathologen unbedingt erforderlich.

Hirnbiopsie

1.3.7.3 Hirnbiopsie

Indikation: Seltene Fälle von unklaren degenerativen resp. stoffwechselbedingten ZNSErkrankungen oder zur diagnostischen Sicherung einer intrazerebralen Raumforderung.

In sehr seltenen Fällen von unklaren degenerativen resp. stoffwechselbedingten ZNS-Erkrankungen oder zur diagnostischen Sicherung einer intrazerebralen Raumforderung (Tumor? Abszeß? Infarkt? etc.) kann eine Hirnbiopsie durchgeführt werden (dies ist Aufgabe eines Neurochirurgen). Die „kortikale" Biopsie soll auch Marklageranteile enthalten; sie wird meistens als „offene" Biopsie durchgeführt. Bei tiefliegenden Raumforderungen (Stammganglien, Thalamus, Hirnstamm) verwendet man dagegen eine spezielle Apparatur (CT-kontrollierte „stereotaktische" Biopsie). Dies gestattet in entsprechenden Fällen auch die intratumorale Implantation von radioaktiven Substanzen (sog. interstitielle Strahlentherapie).

Rektumbiopsie

1.3.7.4 Rektumbiopsie

Wird zur Diagnostik von Neurolipidosen eingesetzt.

Einige Neurolipidosen können auch mittels einer tiefen Rektumschleimhautbiopsie diagnostiziert werden, durch die licht- und elektronenmikroskopisch nachweisbaren Speicherungsvorgänge in den Ganglienzellen der Plexus submucosus und insbesondere myentericus.

2. Neurologische Syndrome

2.1 Motorische, sensible und neurovegetative Syndrome des peripheren Nervensystems

Neurologische Syndrome

Motorische, sensible und neurovegetative Syndrome des peripheren Nervensystems

K. -D. Neher Im folgenden Abschnitt sollen die Läsionen des peripheren, also außerhalb des Rückenmarks gelegenen Teils des animalen Nervensystems besprochen werden. Anatomisch gliedert sich dieses in drei Abschnitte (vgl. Abb. 2-1): - in die spinalen Wurzeln, wobei sich eine motorische Vorder- und eine sensible Hinterwurzel zu einem gemeinsamen gemischten Spinalnerven vereinigen (vgl. Abb. 2-2). - in die Plexus (cervicobrachiales und lumbosacrales), in die ein Teil der gemischten Spinalnerven eingeht und sich durch Verflechtung neu formiert. Daraus entstehen die - peripheren Nerven, in denen Fasern aus verschiedenen Wurzelsegmenten verlaufen. Diese in der Regel gemischt motorische und sensible Anteile enthaltenden Nervenstämme verzweigen sich in Endäste, die schließlich rein motorisch bzw. rein sensibel sind. Nervenwurzel

Abb. 2-1

Plexus

Anatomische Abschnitte des peripheren Nervensystems: - spinale Wurzeln, - Plexus, - periphere Nerven, - Bahnen des vegetativen Nervensystems.

peripherer Nerv

Gliederung des peripheren Nervensystems (modif. nach Duus 1980)

Mit zu berücksichtigen sind Teile des vegetativen Nervensystems, und zwar die über die beiden Grenzstränge verlaufenden Anteile des Sympathikus. Die präganglionären sympathischen Fasern verlassen das Rückenmark zwischen den Segmenten C 8 und L 2 über die Vorderwurzeln und erreichen über die markreichen Rami communicantes albi die Grenzstrangganglien, wo sie auf das postganglionäre Neuron umgeschaltet werden und als markarme Rami communicantes grisei zurück zum segmental zugehörigen Spinalnerven laufen (vgl. Abb. 2-2). Von dort aus erreichen sie zusammen mit den motorischen und sensiblen Fasern die Peripherie. Eine Schädigung des peripheren Nervensystems führt zu einer gestörten neurologischen Funktion im motorischen, sensorischen und vegetativ-trophischen Bereich. Motorische Störungen äußern sich als schlaffe Lähmungen.

Schädigung des peripheren Nervensystems: Motorische, sensible und vegetativ-trophische Störungen.

Neurologische Syndrome

126

Abb. 2-2 Segmentale Organisation 1 Vorderwurzel 2 Hinterwurzel 3 Spinalganglion 4 Spinalnerv 5 Grenzstrangganglion sensible Afferenz -•· motorische Efferenz präganglionäre vegetative Fasern postganglionäre vegetative Fasern

Für die differentialdiagnostische Zuordnung zu einem bestimmten Abschnitt des peripheren Nervensystems (Wurzel, Plexus, peripherer Nerv) ist in erster Linie das Verteilungsmuster der neurologischen Ausfälle entscheidend.

Wichtige Punkte zur Unterscheidung zwischen Wurzel-, Plexus- und Nervenläsionen:

Eine sensible Beteiligung führt zum mehr oder weniger ausgeprägten Verlust verschiedener Empfindungsqualitäten (Hyp- oder Analgesie, Hyp- bzw. Anästhesie). Eine inkomplette Schädigung sensibler Anteile kann Schmerzen, Parästhesien (= „Fehlempfindungen" im Sinne von Kribbeln, Ameisenlaufen etc.) oder Dysästhesien (= unangenehme Fehlempfindungen) hervorrufen. Trophische Störungen treten auf, wenn vegetative Anteile lädiert sind. Es kommt dadurch zur Störung metabolischer Abläufe in Geweben, die teilweise unter neurogener Kontrolle stehen. Am deutlichsten zeigt sich dies an der Haut, ζ. B. als Trockenheit, Zyanose, Verlust der Behaarung, Ulzeration und verlangsamte Wundheilung. Zur Abklärung einer peripheren Nervenläsion ist eine genaue Erhebung der Vorgeschichte wichtig. Sie gibt uns Aufschluß über den Schädigungsmechanismus und den Ort der Läsion. Außerdem ist die Schmerzprojektion zur lokalisatorischen Zuordnung von Bedeutung. Im geschädigten Bereich müssen alle Muskeln einzeln funktionell untersucht werden. Muskelatrophien sind sorgfältig zu registrieren, ebenso die Abschwächung oder der Ausfall von Muskeleigenreflexen. Sensibilitätsstörungen müssen genau abgegrenzt und dokumentiert werden, eventuell auch Störungen der Schweißsekretion. Aus dem Verteilungsmuster der neurologischen Ausfallserscheinungen lassen sich dann Rückschlüsse ziehen auf den Ort der Läsion innerhalb des peripheren Nervensystems (Zuordnung zu bestimmten peripheren Nerven, dem Plexus oder bestimmten Nervenwurzeln). Eventuell müssen apparative Zusatzuntersuchungen wie die Elektromyographie (siehe 1.3.1.2) oder die Elektroneurographie (siehe 1.3.1.3) mit zur Diagnostik herangezogen werden. Grundsätzlich sind bei der differentialdiagnostischen Abgrenzung zwischen Wurzel-, Plexus- und Nervenläsionen folgende Gesichtspunkte wichtig: - Wurzelsyndrome gehen häufiger als Läsionen peripherer Nerven mit Schmerzen einher. - Sensible Ausfälle bei peripheren Nervenläsionen sind klarer begrenzt als dies bei Wurzelschädigungen der Fall ist.

Syndrome des peripheren Nervensystems

127

Bei Schädigungen der Nervenwurzeln stehen Störungen des Schmerzempfindens im Vordergrund und sind sicherer zu erfassen als Störungen des Berührungsempfindens. Dies liegt daran, daß sich die radikulären Dermatome der Berührungsempfindung mehr überlappen als jene der Schmerzempfindung, so daß sich bei einer Schädigung einer oder zweier Wurzeln eine Beeinträchtigung des Berührungsempfindens nur schwer abgrenzen läßt. - Bei Schädigungen des Plexus stehen die motorischen Ausfallserscheinungen ganz im Vordergrund. Außerdem kommt es bei Verletzungen des Plexus und der peripheren Nerven zu vegetativen Störungen, bei Wurzelsyndromen hingegen nicht. - Bei Läsionen des Grenzstranges finden sich isolierte vegetative Ausfälle ohne motorische oder sensible Störungen.

Im folgenden sollen die besonderen Charakteristika von Läsionen der verschiedenen Abschnitte (peripherer Nerv, Plexus, Nervenwurzel) besprochen werden. Ein eigener Absatz ist den systematischen Schädigungen (Polyneuropathie, Polyradikulopathie) gewidmet. Danach sollen wichtige differentialdiagnostische Kriterien gegenüber zentralen Läsionen des Nervensystems genannt sein und abschließend auf Läsionen der vegetativ-sympathischen Versorgung eingegangen werden.

2.1.1 Läsionen peripherer Nerven Ursachen lokaler Nervenschädigungen: Traumata Dazu gehören direkte Läsionen durch Schnittverletzung und Zerreißung oder indirekte Läsionen durch Zug und Druck. Zur direkten Verletzung durch Schnitte kommt es häufiger im Bereich des Handgelenks durch Manipulationen in suizidaler Absicht; betroffen sind der N. medianus oder der N. ulnaris. Zu Zerreißungen kommt es beispielsweise im Rahmen einer Fraktur bei entsprechend enger topographischer Beziehung (z.B. Radialisparese bei Humerusfraktur). Zur akuten Druckschädigung kommt es u. a. bei ungünstiger Lagerung ζ. B. in Narkose oder schlechter Anpassung orthopädischer Hilfsmittel. Beispiele sind die Verletzung des N. radialis in der Axilla durch Krücken, Radialisdruckparesen am Oberarm über Nacht bei tiefem Schlaf, eine Schädigung des N. peronaeus am Fibulaköpfchen bei schlecht gepolstertem Unterschenkelgips. Chronische mechanische Schädigung Hierzu gehört die Sekundärschädigung nach Traumen durch Kallusbildung oder Narbenzug, außerdem chronische Einwirkungen bei bestimmten Tätigkeiten, wie z.B. Schädigungen des N.ulnaris im Sulcus durch ständiges Beugen und Strecken beispielsweise bei Arbeiten an einer Bohr- oder Stanzmaschine. Hierher gehören auch chronische Kompressionssyndrome, die durch anatomische Engen hervorgerufen sind. Als häufigste Beispiele seien hier aufgeführt: Karpaltunnelsyndrom: Dabei handelt es sich u m eine Läsion des N. medianus im Bereich des Handgelenks durch Kompression unter dem Retinaculum flexorum. Tarsaltunnelsyndrom: Ursächlich ist eine chronische Läsion des N. tibialis im Bereich des Malleolus medialis unter dem Retinaculum Mm. flexorum.

Lokale Schädigung eines peripheren Nerven Ursachen: - Traumata, - chronische mechanische Einwirkungen, - seltener ischämische und entzündliche Prozesse, - Tumoren.

Wichtige Beispiele einer chronischen mechanischen Schädigung peripherer Nerven: Engpaßsyndrome wie - Karpaltunnelsyndrom, - Tarsaltunnelsyndrom, - Meralgia paraesthetica.

128

Neurologische Syndrome Meralgia paraesthetica: Dieses sensible Syndrom beruht auf einer mechanischen Irritation des N. cutaneus femoris lateralis beim Durchtritt durch das Leistenband. Ischämische Prozesse Meist handelt es sich dabei u m eine „Mononeuritis" als Beginn einer Polyneuropathie (z.B. bei Diabetes mellitus, Periarteriitis nodosa). Entzündliche Prozesse Dabei handelt es sich meist u m das Übergreifen von Entzündungen in der Nachbarschaft oder u m den Beginn einer Mononeuritis multiplex auf entzündlicher Grundlage (ζ. B. bei Lepra). Tumoren des Nervs oder seiner Umgebung Hierzu gehören die sogenannten „Ganglien", die im Epineuralgewebe liegen (beispielsweise am N. peronaeus im Bereich des Fibulaköpfchens und am N. medianus am Handgelenk). Neurinome sind abgegrenzte Tumoren der Nervenscheiden, während Neurofibrome den peripheren Nerven diffus infiltrieren. Primäre Tumoren im Bereich des peripheren Nervensystems sind ausgesprochen selten. Gelegentlich kommt es sekundär zur Absiedlung von Metastasen oder zur diffusen Infiltration peripherer Nerven bei malignen Lymphomen und Leukämien, seltener bei Karzinomen.

Allgemeine Symptome bei Schädigung eines peripheren Nerven: Schlaffe Parese, evtl. mit Atrophien, Sensible Ausfälle (alle Qualitäten betreffend), Herabsetzung der Schweißsekretion (bei peripheren Nerven mit vegetativen Fasern).

Allgemeine Symptome bei der Schädigung eines peripheren Nerven: schlaffe Paresen - eventuell mit Atrophien - und sensible Ausfälle entsprechend der anatomischen Charakteristika des jeweils beteiligten Nerven. Unter Umständen kann es sich auch u m rein motorische oder rein sensible Defizite handeln (Beispiel: rein motorische Radialisparese bei einer Schädigung im Bereich des M. supinator). Ausfall der Schweißsekretion im sensiblen Ausbreitungsgebiet. elektromyographisch Denervierungszeichen in der involvierten Muskulatur, bei der elektroneurographischen Untersuchung verzögerte Erregungsleitung im geschädigten Bereich. Lokalbefunde: Klopfempfindlichkeit der Verletzungsstelle bzw. bei Reinnervation auch weiter distal („Hoffmann-Tinel-Klopfzeichen"). Man geht davon aus, daß die auswachsenden und noch nicht ausreichend myelinisierten Fasern auf mechanische Reize besonders empfindlich reagieren.

Schweregrade einer peripheren Nervenlä-

Einteilung peripherer Nervenläsionen nach ihrem Schweregrad Das bekannteste Schema stammt von Seddon (1943), der drei Schweregrade unterscheidet:

Neurapraxie: Flüchtige Funktionsstörung, die sich im Verlauf von Stunden bis Wochen zurückbildet. Nervenfasern gehen dabei nicht zugrunde.

Neurapraxie Darunter ist eine flüchtige Funktionsstörung zu verstehen, die sich im Verlauf von Stunden bis Wochen zurückbildet. Nervenfasern gehen dabei nicht zugrunde, so daß neurogene Muskelatrophien ausbleiben und elektromyographisch keine Denervierungsaktivität nachweisbar ist. Unterhalb der Läsionsstelle bleibt die elektrische Erregbarkeit erhalten; die Nervenleitgeschwindigkeit ist distal der Läsionsstelle nicht beeinträchtigt. Bei Reizung des Nervs oberhalb der Läsionsstelle ist hingegen die distale Reizantwort gestört. Typisches Beispiel sind Druckschäden im Schlaf.

Axonotmesis: Kontinuitätsunterbrechung der Axone bei erhaltenen Hüllstrukturen.

Axonotmesis Dabei kommt es zu einer Kontinuitätsunterbrechung der Axone bei erhaltenen Hüllstrukturen. Die distalen Nervenfaserabschnitte gehen zugrunde (Waller-Degeneration). Für die Regeneration bestehen wegen der Erhaltung

129

Syndrome des peripheren Nervensystems endoneuraler Strukturen optimale Voraussetzungen. Eine weitgehende Restitution ist ohne operatives Eingreifen zu erwarten. Neurotmesis Es handelt sich u m die komplette Durchtrennung des Nervs einschließlich der Nervenhüllen, - beispielsweise bei Schnittverletzungen oder Zerreißungen. Dabei kommt es häufig zur Dehiszenz zwischen den Nervenstümpfen. Auch bei optimaler Versorgung durch Nervennaht ist mit einer vollständigen Wiederherstellung der Funktionen nicht zu rechnen. Klinisch ist die Unterscheidung zwischen einer Axonotmesis und einer Neurotmesis zunächst nur schwer möglich. Der Nachweis geringer Funktionsreste spricht gegen eine vollständige Unterbrechung der Kontinuität mit entsprechend günstigem Heilungsverlauf. Regelmäßige klinische und elektrophysiologische Kontrolluntersuchungen dienen der Beobachtung der Reinnervation. Bei der Beurteilung ist zu berücksichtigen, daß die Axone mit einer Geschwindigkeit von 1 - 2 m m pro Tag aussprossen.

2.1.2

Plexusläsionen

Neurotmesis: Komplette Durchtrennung des Nervs,

Wachstumsgeschwindigkeit beim Wiederaussprossen von Nervenfasern: 1 - 2 mm/ c e " '

Plexusläsionen

Im Plexus cervicobrachialis und lumbosacralis verflechten sich Nervenfasern, die über die Wurzeln C 4 bis Th 1 bzw. L 1 bis S 4 aus dem Rückenmark austreten. Es findet eine Umgruppierung der Fasern statt, die in die peripheren Nervenstämme der oberen bzw. unteren Extremitäten umverteilt werden (vgl. Abb.2-3). Die komplexe Anatomie bewirkt, daß je nach Lokalisation der Schädigung unterschiedlich verteilte motorische und sensible Ausfälle an den Extremitäten resultieren. Insgesamt sind beide Nervengeflechte infolge ihrer geschützten Lage selten Schädigungen ausgesetzt.

N.med N. N.ulnaris Abb. 2-3 Stark vereinfachtes Schema des Plexus brachialis Umgruppierung der Fasern aus den Wurzelsegmenten in die drei großen Armner ven.

2.1.2.1 Armplexusläsionen

Armplexusläsionen

Die häufigsten Ursachen einer Läsion der Armplexus sind:

Ursachen: - Traumata, - chronische Druckeinwirkung, - anatomische Engen im Bereich der oberen Thoraxapertur, - selten nach Röntgenbestrahlungen oder entzündlich.

Traumata Dabei kann es sich u m eine direkte Verletzung der Schulterregion oder aber u m eine indirekte Verletzung des Plexus durch Zug handeln. Vergleichsweise häufig kommen solche Verletzungen bei Motorradunfällen vor.

Neurologische Syndrome

130

Chronische Druckeinwirkung Z u m Beispiel beim Tragen schwerer Lasten auf den Schultern oder bei gynäkologischen Operationen in Trendelenburg-Lage.

Typische Kompressionssyndrome des Plexus brachialis: Skalenussyndrom

kostoklavikuläres Syndrom

Hyperabduktionssyndrom

Zusammenfassender Begriff: Thoracic-outlet-Syndrom.

Kompression in anatomischen Engen Als solche kommen in Frage: a) die hintere Skalenuslücke („Skalenusdreieck" zwischen M. scalenus anterior, M. scalenus medius u n d erster Rippe). Als zusätzliche pathogenetische Faktoren können dabei eine Halsrippe (evtl. mit fibröser Verbindung zur ersten Rippe) oder ein abnorm breiter Ansatz des M. scalenus medius vorkommen. Die neurologischen Ausfälle entsprechen dabei dem Syndrom der unteren Armplexusschädigung. Das Krankheitsbild wird als Skalenussyndrom bezeichnet. b) der R a u m zwischen erster Rippe und Clavicula („Kostoklavikularraum"), durch den hindurch der Plexus in die Axilla eintritt. Diese Form der Plexuskompression bezeichnet man als kostoklavikuläres Syndrom. Auch hier entsprechen die neurologischen Ausfälle einer unteren Armplexusparese. c) der R a u m unter dem M.pectoralis minor und seinem Ansatz am Korakoid („Korakopektoralraum"). Hier kann der Plexus zusammen mit der Arteria und Vena subclavia bei extremer Elevation des gestreckten Arms nach hinten komprimiert werden. Dieses Hyperabduktionssyndrom kommt sehr selten vor. Zu neurologischen Störungen kommt es lediglich in Form flüchtiger Parästhesien im Versorgungsgebiet des unteren Armplexus. Zusammenfassend wird vor allem von den Chirurgen der Begriff des „Thoracic-outlet-Syndroms" benutzt. Darunter werden alle Schäden am neurovaskulären Bündel subsumiert, die durch die besondere Anatomie der oberen Thoraxapertur bedingt sind. Tumoren: Dabei handelt es sich vorwiegend u m Metastasen (beispielsweise beim Mammakarzinom) oder u m einen Pancoast-Tumor (Bronchialkarzinom, das von der Lungenspitze aus auf das angrenzende Gewebe übergreift). Strahlenschädigung (nach Röntgen-Therapie). Entzündlich: „Neuralgische Schulteramyotrophie".

Zwei Prädilektionstypen der Armplexusläsion sind zu unterscheiden: Die obere Plexuslähmung ist meist Folge eines Geburtstraumas. —» Paresen im Schulter- und Ellenbogengelenk. Bei der oberen Plexuslähmung sind vor allem Anteile der 5. und 6. zervikalen Wurzel betroffen —» Parese der Abduktoren und Außenrotatoren des Schultergelenkes, der Ellenbogenbeuger und des M.supinator.

Bei der unteren Plexuslähmung sind vor allem Anteile der 8. zervikalen und der 1. thorakalen Wurzel betroffen. Ursachen der unteren Plexuslähmung sind anatomische Engen und Neoplasmen im Bereich der Thoraxapertur. —* Parese der kleinen Handmuskeln und langen Fingerbeuger (Krallenstellung).

Zwei Prädilektionstypen können bei der Armplexusschädigung abgegrenzt werden: Die obere Plexuslähmung (Erb-Lähmung) tritt gelegentlich als Folge eines Geburtstraumas auf. Dabei kommt es zur Schädigung kranialer Plexusanteile, die vor allem Anteile der 5. u n d 6. zervikalen Wurzel beinhalten. Dementsprechend kommt es vorzugsweise zu einer Parese der Abduktoren und Außenrotatoren des Schultergelenks, der Ellenbogenbeuger u n d des M. supinator. Der Arm hängt schlaff herunter und wird nach innen rotiert gehalten. Manchmal findet sich eine Sensibilitätsstörung über dem M. deltoideus sowie an der Radialseite von Unterarm und Hand. Ist auch die 7. zervikale Wurzel mit einbezogen, spricht man von einer „erweiterten oberen Armplexusparese". Hinzu käme dann eine Parese der Strecker von Ellenbogen, Handgelenk und Fingergelenken. Die Sensibilitätsstörungen umfassen in diesem Fall auch die gesamte radiale Hälfte der Hand. Bei der unteren Plexuslähmung (Klumpke-Lähmung) sind Nervenfasern geschädigt, die in den Wurzeln C8 u n d T h l ihren Ursprung haben. Es kommt zur Parese der kleinen Handmuskeln und der langen Fingerbeuger mit typischer Krallenstellung der Finger (Hyperextension im Grundgelenk und Flexion in den Interphalangealgelenken). Sensibel sind die ulnare Handpartie und die ulnare Vorderarmkante betroffen. Oft kommt es gleichzeitig zu einem Horner-Syndrom als Ausdruck einer Mitbeteiligung des Halssympathikus (s. 1.2.3 und 2.5.1.2). Das Syndrom der unteren Plexusläh-

131

Syndrome des peripheren Nervensystems mung ist selten traumatisch bedingt. Ursächlich sind vor allem die obengenannten Kompressionssyndrome und Neoplasmen in Betracht zu ziehen. 2.1.2.2 Schädigung des Plexus lumbosacralis

Plexus-lumbosacralis-Läsionen

Als häufigste Ursachen kommen in Frage: Tumoren: Infiltration durch benachbarte Tumoren des weiblichen Genitale (häufig Kollumkarzinom), osteogene Tumoren, Neoplasmen des Retroperitonealraums (vor allem maligne Lymphome), Rektumkarzinom, Prostatakarzinom.

Ursachen: - Raumfordernde Prozesse im Retroperitonealraum (Tumoren, Hämatome), - seltener Druckschäden, Traumata, Entzündungen, Ischämie und Bestrahlung.

Retroperitoneale Hämatome: besonders bei antikoagulierten Patienten. Druckschädigung: vor allem gegen Ende der Schwangerschaft und während der Austreibungsphase. Langes Arbeiten in der Hocke („Rübenziehemeuritis") oder nach langem Sitzen auf harter Unterlage. Traumata: Bei stumpfem Bauchtrauma, Beckenfrakturen u.a. Wegen der geschützten Lage des Plexus insgesamt äußerst selten. Entzündung: Infektiöse Prozesse im Retroperitonealraum (z.B. paranephritischer Abszeß, tuberkulöser Senkungsabszeß). Ischämie: Diabetische Arteriopathie. Selten bei schwerer Arteriosklerose der Beckenarterien. Röntgenbestrahlung. Zur klinischen Symptomatik: Theoretisch kann die Läsion des Plexus lumbalis von der Läsion des Plexus sacralis abgegrenzt werden. Eine solche Unterscheidung ist aus Gründen der Übersicht gerechtfertigt, entspringt jedoch nicht einer klinischen Notwendigkeit. Bei Läsionen des Plexus lumbalis, der sich aus den Wurzeln L I bis L4 formiert, kommt es zu einer Parese der Hüftbeuger, der Kniestrecker sowie der Außenrotatoren und Adduktoren des Oberschenkels. Die Sensibilität kann im Bereich des Beckengürtels und des Oberschenkels beeinträchtigt sein. Bei der Läsion des Plexus sacralis (Wurzeln L4 bis S4) sind die Hüftstrecker, Kniebeuger und sämtliche Muskeln des Unterschenkels und des Fußes paretisch. Die Sensibilität kann an der Oberschenkelrückseite, am ganzen Unterschenkel und am Fuß beeinträchtigt sein.

2.1.3 Schädigung von Nervenwurzeln Insgesamt gibt es acht zervikale, zwölf thorakale, fünf lumbale und fünf sakrale Wurzelpaare. Vorder- und Hinterwurzel vereinigen sich jeweils zu einem gemischten Spinalnerven, der sich aus sensiblen, motorischen und vegetativen Fasern zusammensetzt. Die efferenten motorischen Axone haben ihren Ursprung in den motorischen Vorderhornzellen und verlassen das Rükkenmark über die Vorderwurzel. Die sensiblen Nervenfasern erreichen das Rückenmärk über die Hinterwurzel; die zugehörigen Zellkörper bilden im Bereich der Hinterwurzel das Spinalganglion. Die vegetativen Fasern verlassen das Rückenmark zusammen mit den motorischen Fasern über die Vorderwurzel (vgl. Abb. 2-2). Die isolierte Läsion einer Vorder- bzw. Hinterwurzel kommt selten vor. In der Regel sind sensible und motorische Anteile geschädigt.

Klinische Symptomatik der BeinplexusSchädigung:

Plexus-Iumbalis-Läsion: Es sind die Wurzeln L1 bis L4 betroffen.

Plexus-sacralis-Läsion: Es sind die Wurzeln L4 bis S4 betroffen.

132 Wurzelläsionen Ursachen: - vor allem degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, - seltener Traumata, entzündliche Prozesse und Tumoren.

Neurologische Syndrome Die häufigsten Ursachen monoradikulärer Wurzelsyndrome sind: degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und des Bandscheibenapparates (bei weitem wichtigste Ursache radikulärer Störungen). Traumata, und zwar direkte Läsionen durch Wirbelfrakturen und Wirbelluxationen, traumatische Bandscheibenrupturen und indirekt durch Zug verursachte Wurzelausrisse. Entzündliche Prozesse, z.B. Herpes-zoster-Infektion oder Zeckenradikulitis. Tumoren, besonders primäre Tumoren wie Neurinome oder sekundäre Läsionen bei tumoröser Wirbeldestruktion (Metastasen, Sarkome).

Symptome radikulärer Läsionen: - meist ausstrahlende Schmerzen entsprechend dem Dermatom, - segmentale Sensibilitätsstörungen vor allem des Schmerzempfindens, - Paresen und Atrophien der Kennmuskulatur, - Abschwächung bzw. Ausfall von Muskeleigenreflexen, - Fehlen von vegetativen Ausfallserscheinungen (Schweißtest).

Allgemeine Charakteristika radikulärer Läsionen sind: - eine dem Dermatom entsprechende Schmerzausstrahlung. Nur sehr selten gehen radikuläre Prozesse ohne Schmerzen einher. - Die Sensibilitätsstörung betrifft ausschließlich - oder bei mehrwurzligen Syndromen am ausgeprägtesten - die Algesie. - Umschriebene Paresen der Kennmuskulatur, bei stärkerer Schädigung auch Atrophie. Das Befallsmuster paßt zu keinem peripheren Nerven. - Abschwächung oder Ausfall von Muskeleigenreflexen entsprechend der Wurzelhöhe (s. 1.2.4 und 2.11). - Fehlen von vegetativen Ausfallserscheinungen (Schweißsekretion, Piloarrektion und Vasomotorik). Grund: Die Läsion liegt proximal vom Grenzstrang, d.h., das periphere vegetative Neuron bleibt erhalten. Eine Beschreibung der wichtigsten Wurzelkompressionssyndrome (C5 bis C8 und L4 bis S l ) erfolgt im Kapitel 2.11 (vertebragene Syndrome).

2.1.4 Systematische S c h ä d i g u n g e n des peripheren Nervensystems Polyneuropathie Erkrankungen mehrerer peripherer Nerven durch eine gemeinsame Ursache, wobei von der Schädigung im allgemeinen ausgedehntere Körperareale in symmetrischer oder asymmetrischer Form betroffen sind.

Unter Polyneuropathie versteht man eine Erkrankung der peripheren Neurone und ihrer Hüllsysteme im ganzen, wobei sich die Störungen im allgemeinen nicht dem Verteilungsgebiet einzelner oder mehrerer Wurzeln, Plexus oder Nerven zuordnen lassen. Vielmehr betreffen die Symptome ausgedehntere Körperareale entweder in symmetrischer oder asymmetrischer Form.

Typische Symptome: - schlaffe Paresen, - sensible Reizerscheinungen oder sensible Ausfälle, - vegetative Störungen (Schweißsekretion herabgesetzt, trophische Störungen der Haut, Störung der Funktion innerer Organe).

Typische Symptome sind: schlaffe Paresen, die nicht auf das Versorgungsgebiet einzelner Nerven oder Nervenwurzeln zu beziehen sind. Oft sind gar nicht alle Muskeln gelähmt, die von einem erkrankten Nerven versorgt werden. Die Muskeleigenreflexe sind abgeschwächt; in der Regel ist zunächst vor allem der Achillessehnenreflex betroffen. Sensible Reizerscheinungen in Form von Parästhesien (Kribbeln, „Ameisenlaufen") und umschriebene neuralgische, seltener lanzinierende Schmerzen. Es kann zu Temperaturmißempfindungen kommen (Kälte- und Hitzegefühl, „burning feet"). Die Beschwerden sind im allgemeinen in Ruhe am stärksten ausgeprägt. Gelegentlich sind die befallenen Nerven dehnungs- oder druckempfindlich. Oft ist die versorgte Muskulatur druckschmerzhaft. Die sensiblen Ausfälle können das Berührungs-, Schmerz- und Temperaturempfinden in unterschiedlichem Ausmaß betreffen. Beeinträchtigt kann auch vorwiegend die Lagewahrnehmung oder - am häufigsten - das Vibrationsempfinden (Pallhypästhesie) sein. Unter Umständen kann es zur sensiblen Ataxie kommen. Die Störung der vegetativen Innervation führt besonders in den distalen Extre-

Syndrome des peripheren Nervensystems

133

Abb. 2-4 Distal-symmetrische Verteilung von Sensibilitätsstörungen bei Polyneuropathien m i t ä t e n a b s c h n i t t e n zu S c h w e i ß s e k r e t i o n s s t ö r u n g e n u n d zu t r o p h i s c h e n Stör u n g e n der H a u t u n d der Nägel. Bei schweren V e r l ä u f e n k ö n n e n a u c h Art h r o p a t h i e n a u f t r e t e n . Besonders h ä u f i g treten vegetative S t ö r u n g e n bei der d i a b e t i s c h e n P o l y n e u r o p a t h i e auf, wobei es zu gravierenden F u n k t i o n s s t ö r u n g e n der vegetativ innervierten i n n e r e n O r g a n e k o m m e n k a n n (Herz, Blase, D a r m , Potenz). Die n e u r o l o g i s c h e n S y m p t o m e sind m e i s t symmetrisch und distal betont an d e n E x t r e m i t ä t e n lokalisiert, u n d zwar sind in der Regel die Beine m e h r betroffen als die A r m e (vgl. A b b . 2-4). Das liegt d a r a n , daß vor allem die langen N e r v e n f a s e r n geschädigt werden. Die sensiblen S t ö r u n g e n sind dabei strumpf- oder h a n d s c h u h f o r m i g a n g e o r d n e t , ein klares sensibles N i v e a u ist nicht auszumachen.

Verteilung der neurologischen Symptome: - häufig symmetrisch und distal betont, - seltener asymmetrisch und proximal betont.

Seltener f i n d e t m a n proximal b e t o n t e u n d a s y m m e t r i s c h verteilte Ausfälle, - als Rarität a u c h e i n m a l ein fleckförmiges oder m a n s c h e t t e n a r t i g e s Verteilungsmuster. Meist sind motorische, sensible u n d vegetative S t ö r u n g e n gleich stark ausgeprägt. Seltener entsteht das Bild einer vorwiegend oder rein m o t o r i s c h e n oder sensiblen P o l y n e u r o p a t h i e . Der Befall e i n z e l n e r peripherer N e r v e n wird als „Mononeuropathia multiplex" b e z e i c h n e t . Es gibt sehr u n t e r s c h i e d l i c h e Verläufe:

Multiplex-Typ (Mononeuropathia multiplex): Befall einzelner peripherer Nerven.

Alle Ü b e r g ä n g e zwischen a k u t e n , rasch p r o g r e d i e n t e n u n d c h r o n i s c h e n , l a n g s a m f o r t s c h r e i t e n d e n P o l y n e u r o p a t h i e n werden b e o b a c h t e t . Z u m Begriff der Polyradikulopathie: M a n versteht d a r u n t e r e i n e S c h ä d i g u n g zahlreicher S p i n a l n e r v e n w u r z e l n , wobei davon a u s z u g e h e n ist, d a ß a u c h die zugehörigen N e r v e n a b s c h n i t t e mitgeschädigt sind. Korrekter wäre es deshalb, von einer P o l y r a d i k u l o n e u r o p a t h i e zu sprechen. Die P o l y r a d i k u l o p a t h i e läßt sich in f o l g e n d e n P u n k t e n von der P o l y n e u r o p a thie a b g r e n z e n : - Es h a n d e l t sich fast stets u m a k u t e Verläufe. - Die m o t o r i s c h e S c h ä d i g u n g d o m i n i e r t . Sensible A u s f ä l l e treten d e m g e g e n über in d e n H i n t e r g r u n d . - Der Befall p r o x i m a l e r M u s k e l n k a n n sehr ausgeprägt sein, e b e n s o der Befall der o b e r e n E x t r e m i t ä t e n . - H i r n n e r v e n sind gelegentlich mitbeteiligt (vor allem der N. facialis). - E l e k t r o m y o g r a p h i s c h wird die Erregungsleitung lange nicht oder n u r wenig b e e i n f l u ß t , w ä h r e n d bei der P o l y n e u r o p a t h i e die sensible u n d die m o torische Nervenleitgeschwindigkeit rasch deutlich verzögert sind.

Polyradikulopathie: Schädigung zahlreicher Spinalnervenwurzeln, in der Regel mit Beteiligung der zugehörigen Nervenabschnitte (Polyradikuloneuropathie)

Bei der Polyradikulopathie handelt es sich fast stets um akute Verläufe. Die motorische Schädigung dominiert. Der Befall proximaler Muskeln kann sehr ausgeprägt sein. Im Liquor zytoalbuminäre Dissoziation.

Neurologische Syndrome

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- In Liquor findet m a n eine Eiweißerhöhung bei normaler Zellzahl (zytoalb u m i n ä r e Dissoziation; s. 2.10).

Zur Pathogenese: Zwei pathogenetische Muster der Polyneuropathie: - segmentale Entmarkung, - axonale Degeneration.

Polyneuropathieursachen - entzündliche, - vaskulär bedingte, - exotoxische, - metabolische und endotoxische, - genetisch bedingte Formen.

Zwei pathogenetische Muster lassen sich unterscheiden: 1. die segmentale Entmarkung: Dabei handelt es sich u m eine Schädigung der Schwann-Zellen durch metabolische oder vaskuläre Einflüsse. Wird eine Schwann-Zelle lädiert, degeneriert das von ihr gebildete Markscheidensegment. 2. Die primär axonale Degeneration: Hier betrifft die ursächliche Störung die Axone.

Die entzündlichen Polyneuropathien ( = Polyneuritiden) gehen stets mit einer segmentalen E n t m a r k u n g einher; das Axon ist allenfalls sekundär geschädigt. Bei den nichtentzündlichen Polyneuropathien herrschen dagegen F o r m e n mit primärer axonaler Degeneration vor. Dazu gehören die meisten toxischen u n d viele metabolische Polyneuropathien. Im späteren Verlauf finden sich regelmäßig beide Schädigungsmuster nebeneinander, so daß ätiologische Rückschlüsse aus dem Schädigungsmuster n u r zu Beginn der Erkrankung möglich sind. Bei der segmentalen E n t m a r k u n g findet m a n eine Verzögerung der motorischen oder sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit. Dies ist bei der primär axonalen Schädigung nicht der Fall; hier findet m a n j e d o c h früh elektromyographische Veränderungen (Denervierungsaktivität). Hinsichtlich ihrer Ursache lassen sich fünf große Krankheitsgruppen unterscheiden: 1. Entzündliche Polyneuropathien (Polyneuritiden). Hierzu gehören Krankheitsprozesse unbekannter Ätiologie, wie die idiopathische Polyradikuloneuritis Guillain-Barre, a u ß e r d e m viral bedingte Schädigungen (oft Begleitsymptome neurotroper Virusinfektionen), bakterielle Infekte, wie Diphtherie, Lepra u. a. und allergische Reaktionen (serogenetische Polyneuritis).

2. Vaskulär bedingte Polyneuropathien. Dazu zählen ζ. B. obliterierende Gefäßerkrankungen und Kollagenosen.

3. Exotoxische Polyneuropathien, beispielsweise durch M e d i k a m e n t e (z.B. Nitrofurantoin) oder andere toxische Stoffe (Alkohol, Blei).

4. Metabolische und endotoxische Polyneuropathien. Dazu zählen Stoffwechselerkrankungen (Diabetes mellitus, Hypothyreose, Urämie, Porphyrie etc.), Folgen einer Mangelernährung.

5. Genetisch bedingte Polyneuropathien sind hereditäre motorische u n d sensible Neuropathien.

2.1.5 Differentialdiagnose periphere versus zentrale Läsion des Nervensystems Die komplette Schädigung einer spinalen Wurzel oder eines peripheren Nerven wird kaum je differentialdiagnostische Probleme gegenüber einer zentralen Läsion a u f k o m m e n lassen. Art und Verteilung der motorischen und sensiblen Ausfälle sind in der Regel charakteristisch genug. Schwieriger ist die Situation bei einzelnen Funktionsstörungen, wie ζ. B. einer umschriebenen Parese, wo sich dann differentialdiagnostische Probleme ergeben können. Oft läßt einen bei solchen Symptomen die apparative Zusatzdiagnostik im Stich. Die zentrale Läsion ist unter U m s t ä n d e n zu klein oder noch nicht aus-

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Syndrome des peripheren Nervensystems reichend demarkiert, u m computertomographisch nachweisbar zu sein. Denervierungsaktivität ist bei der elektromyographischen Untersuchung erst nach einer gewissen Latenz (zehn bis vierzehn Tage nach Eintritt der Schädigung) nachweisbar, so daß auch die elektrophysiologische Untersuchung unter Umständen anfänglich nicht weiterhilft. U m so mehr ist dann die subtile klinische Untersuchung gefragt. Art und Verteilung motorischer und sensibler Ausfälle ist dabei sorgfältig zu berücksichtigen. Unterschiede zwischen der zentralen und der peripheren Lähmung Bei einer zentralen Läsion, die zu einer Lähmung führt, liegt eine Schädigung der kortikospinalen Bahnen vor. Dadurch bedingt kommt es zu einer vermehrten Aktivität der Gamma-Motoneurone, weil h e m m e n d e Impulse von zentral her wegfallen. Es entsteht das Bild der spastischen Parese mit Steigerung der Muskeleigenreflexe und typischer Vermehrung des Muskeltonus. Die spastische Komponente fehlt bei akuter Pyramidenbahnunterbrechung (Schockstadium) oder - selten - bei umschriebenen Läsionen im primären motorischen Cortex. Oft sind pathologische Reflexe auszulösen (Babinskioder Rossolimo-Reflex). Das Auftreten von Reflexsynergien oder ein deutlich auszulösender gekreuzter Adduktorenreflex können Hinweis auf den zentralen Ursprung der Parese sein. Die Bauchhautreflexe sind in der Regel abgeschwächt oder erloschen. Bei leichten zentralen Störungen ist weniger die Kraftleistung einzelner Muskeln als vielmehr das Zusammenspiel ihrer Bewegungen (Feinmotorik, Diadochokinese) gestört. Zu Muskelatrophien kommt es allenfalls nach längerer Zeit durch Inaktivität. Elektromyographisch sind in der Regel weder Denervierungsaktivität noch neurogene Veränderungen der Willkürpotentiale nachzuweisen. Die motorische und sensible Nervenleitgeschwindigkeit ist nicht verzögert.

Differentialdiagnostische Aspekte bei der Abgrenzung zentraler/peripherer Läsionen: - Verteilungsmuster, - Muskeltonus (schlaff/spastisch), - Zusammenspiel der Bewegungen; - Muskeleigenreflexe (abgeschwächt/gesteigert), pathologische Reflexe, - elektromyographischer und elektroneurographischer Befund.

Das typische Verteilungsmuster zentraler Lähmungen ist die Hemi-, Paraoder Tetraparese. Diese bereiten dann auch keine differentialdiagnostischen Probleme. Vielmehr sind es die spastischen Monoparesen, die eine differentialdiagnostische Abgrenzung von einer peripheren Nervenschädigung erforderlich machen. Sind zudem noch der Muskeltonus herabgesetzt und die Eigenreflexe erloschen, weisen unter Umständen nur noch pathologische Reflexe auf den zentralen Ursprung der Störung hin. Periphere Lähmungen zeichnen sich durch ein typisches Verteilungsmuster entsprechend dem Innervationsgebiet der geschädigten Struktur, einem herabgesetzten bis aufgehobenen Muskeltonus, dem Auftreten von Atrophien nach einem relativ kurzen Intervall (zwei bis drei Wochen) und abgeschwächten oder erloschenen Muskeleigenreflexen aus. Das Zusammenspiel der Bewegungen ist allenfalls durch die Muskelschwäche beeinträchtigt. Pathologische Reflexe fehlen. Elektromyographisch lassen sich am Ende der zweiten Woche typische Schädigungszeichen nachweisen. Die motorische bzw. sensible Nervenleitgeschwindigkeit kann herabgesetzt sein. Bei Sensibilitätsstörungen ist vor allem das Verteilungsmuster von differentialdiagnostischer Bedeutung. Bei der Schädigung peripherer Strukturen kommt es zu umschriebenen, typisch verteilten sensiblen Ausfällen, wobei bei fortschreitender Kompression zuerst die Zwei-Punkt-Diskrimination, das Erkennen von auf die Haut geschriebenen Zahlen, der Lagesinn und das Vibrationsempfinden beeinträchtigt sind. Später kommt es zu einer Beeinträchtigung des Berührungs- und Temperaturempfindens, dann zu einer Analgesie. Auf die zentrale Genese einer Sensibilitätsstörung weist eine ausgedehnte Verteilung mit Einbeziehung mehrerer Extremitäten und halbseitiger oder querschnittsförmiger Begrenzung hin. Ein solch ausgedehntes Verteilungsmuster findet man auch im Rahmen eines Polyneuropathiesyndroms, - dort allerdings meist mit typischer gliedabschnittsweiser Verteilung (meist distal

Typisches Verteilungsmuster zentraler Lähmungen: - Hemiparese; - Paraparese; - Tetraparese.

Typisches Verteilungsmuster peripherer Lähmungen: Verteilungsmuster entsprechend dem Innervatiönsgebiet der geschädigten Struktur (Nerv, Wurzel).

Bei der Schädigung peripherer Strukturen kommt es zu umschriebenen, typisch verteilten sensiblen Ausfällen.

Auf die zentrale Genese einer Sensibilitätsstörung weist eine ausgedehnte Verteilung mit Einbeziehung mehrerer Extremitäten und halbseitiger oder querschnittsförmiger Begrenzung hin.

Neurologische Syndrome

136 Dissoziierte Sensibilitätsstörungen weisen ebenfalls auf zentral (spinal, zerebral) gelegene Prozesse hin.

betont). Hinweisend auf eine zentrale Genese ist im übrigen der Verlust bestimmter Teilfunktionen des sensiblen Systems. Hierzu gehören dissoziierte Sensibilitätsstörungen bei zentral gelegenen spinalen Prozessen ebenso wie der isolierte Ausfall differenzierter Leistungen der Oberflächensensibilität bei Läsionen im Bereich der Hinterstränge oder umschriebenen zerebralen Prozessen (s. 2.3 und 2.5).

2.1.6 Vegetative Syndrome Vegetative Beteiligung bei Plexus- und peripherer Nervenschädigung: Es resultieren Störungen der Schweißsekretion, der Piloarrektion und der Gefäßkontraktion im entsprechenden sensiblen Versorgungsareal: Inkomplette Läsion —» vermehrte Aktivität der vegetativen Funktionen, komplette Schädigung —» Ausfall der vegetativen Funktion.

Bei Erkrankungen des peripheren Nervensystems können die zugeordneten vegetativen Fasern mitgeschädigt werden. Die Ausbreitung der vegetativen Ausfallserscheinungen entspricht dem jeweiligen sensiblen Versorgungsareal. Betroffen sind die Zielorgane der efferenten sympathischen Fasern, also die ekkrinen Schweißdrüsen, die Mm. arrectores pilorum sowie die vasokonstriktorische Gefäßmuskulatur. Eine inkomplette Läsion mit Irritation der sympathischen Fasern führt deshalb zu vermehrter Schweißsekretion, einer Piloarrektion und einer Gefäßkontraktion, eine Zerstörung der vegetativen Fasern zu einer Anhidrose, einem Ausbleiben der Piloarrektion und einer Gefäßdilatation. Trophische Veränderungen der Haut und unter Umständen der Nägel bis hin zur Ulzeration können die weitere Folge sein. Auch Störungen der Trophik von Gelenken und Knochen kommen vor - beispielsweise mit der Folge einer Sudeck-Dystrophie. Eine weitere Auswirkung vegetativer Faserläsionen sind unangenehme schmerzhafte Reizerscheinungen (Kausalgie); man nimmt an, daß dabei Erregungen aus sympathischen Fasern durch abnorme Synapsenbildung an der Verletzungsstelle auf schmerzleitende C-Fasern überspringen.

Praktisch wichtig für die Diagnostik peripherer Nervenläsionen ist die Prüfung der Schweißsekretion; bei reinen Wurzelläsionen ist sie nicht gestört.

Diagnostisch wichtig ist die Prüfung der Schweißsekretion (vergl. Kapitel 1.2.8) zur Objektivierung von Schäden der Plexus oder der peripheren Nerven. Bei reinen isolierten Wurzelläsionen ist die vegetative Innervation nicht gestört (Kompensation durch Kollateralen innerhalb des Grenzstranges). Reine vegetative Syndrome entstehen bei isolierten Grenzstrangverletzungen. Diese sollen im folgenden besprochen werden. Zu ihrem Verständnis sind zunächst die anatomischen Voraussetzungen zu rekapitulieren: Die sympathische Ganglienkette des Grenzstrangs erstreckt sich beidseits paravertebral von der Schädelbasis bis zum Steißbein. Im thorakolumbalen Bereich sind die Ganglien streng metamer angeordnet. Im Halsteil sind sie zu drei größeren Ganglien verschmolzen, dem Ganglion cervicale superius, medium und inferius, wobei das Ganglion cervicale inferius in der Regel mit dem ersten Thorakalganglion zum Ganglion stellatum vereinigt ist. Im unteren Abschnitt findet man meist vier lumbale und vier sakrale Ganglienpaare und am Steißbein als Abschluß beider Grenzstränge das einzelne Ganglion impar. Die präganglionären Fasern verlassen das Rückenmark über die Vorderwurzeln C8 bis L2. Sie ziehen dann über die Rami communicantes albi zu den Grenzstrangganglien, wo sie sich in mehrere Faserbündel aufspalten, die entweder auf- oder absteigend benachbarte Grenzstrangganglien erreichen, um dann dort umgeschaltet zu werden. Diese Art von Kollateralenbildung führt dazu, daß eine präganglionäre Unterbrechung folgenlos bleibt. Die sympathischen Fasern für das Auge entspringen den Segmenten C8 bis Th2, während die sudorisekretorischen Fasern für den Kopfbereich das Rükkenmark durch die Wurzeln Th3 und tiefer verlassen (vgl. Abb.2.5). Sie ziehen den Halsgrenzstrang hinauf und werden in den entsprechenden Zervikalganglien umgeschaltet, um Kopf, Hals und Arme zu erreichen. Entsprechend verlassen die vegetativen Fasern für das Bein das Rückenmark

Rein vegetative Störungen entstehen im Versorgungsbereich des peripheren Nervensystems dann, wenn isoliert der Grenzstrang geschädigt ist.

Die sympathischen Fasern für das Auge entspringen den Segmenten C8 bis T h 2

Syndrome des peripheren Nervensystems

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Ε Ganglion cervicale superius Ganglion cervicale medius

Ganglion stellatum • Ce-Th2

Auge

Th3-Th4 Kopf, Hals

> Th5-Th7 Schulter, Arm, Hand

Abb. 2-5 Schema des oberen Grenzstrangs (modif. nach Schiffter 1985) Läsionsort A Ausfall vegetativer Funktionen im Schulter- Arm-Bereich Läsionsort Β Ausfall vegetativer Funktionen im gesamten Quadranten (Arm, Schulter, Hals, Gesicht), Pupillomotorik erhalten. Läsionsort C Ausfall vegetativer Funktionen im gesamten Quadranten (bzw. Zerstörung + Horner-Syndrom des Ganglion stellatum) Läsionsort D Ausfall vegetativer Funktionen im Gesicht-Hals-Bereich so(bzw. Zerstörung wie an der Schulter (bis C5) + Horner-Syndrom. des Ganglion cervicale medius) Läsionsort Ε Ausfall vegetativer Funktionen an Gesicht und Hals + Hor(bzw. Zerstörung ner-Syndrom des Ganglion cervicale superius)

über die Wurzeln ThlO bis L2 und laufen dann im Grenzstrang abwärts, um in den lumbalen und sakralen Ganglien umgeschaltet zu werden. Findet eine Schädigung des Halsgrenzstranges statt, so kommt es zu einer quadrantenformigen Störung der vegetativen Funktionen, insbesondere der Schweißsekretion („Oberes Quadrantensyndrom"). Je nach Höhe der Läsion sind neben Hals und Gesicht auch der Arm miteinbezogen. Dabei entsteht ein peripheres Horner-Syndrom als Folge einer Zerstörung der sympathischen Efferenzen für das Auge (s. 1.2.3 und 2.5.1.2). Wirkt die Läsion direkt unterhalb des Ganglions stellatum ein, so kommt es zu einem Oberen Quadrantensyndrom ohne Horner-Syndrom (vgl. Abb. 2-5). Als Ursache für ein Oberes Quadrantensyndrom kommen in Frage maligne Tumoren (Lymphknotenmetastasen, Neurinome, Pancoast-Tumoren) oder eine Mitverletzung bei operativen Eingriffen am Hals (ζ. B. Operationen an der A. carotis). Außerdem wurden Obere Quadrantensyndrome durch einen Zosterbefall der Wurzeln Th3 und 4 beobachtet. Läsionen des Grenzstrangs im Thorakalbereich - beispielsweise durch paravertebral Tumoren - werden selten beobachtet. Häufiger sind Läsionen

Oberes Quadrantensyndrom Quadrantenförmige Störung vegetativer Funktionen an Arm, Hals und Gesicht durch eine Schädigung des Halsgrenzstranges. Eine Läsion der sympathischen Efferenzen für das Auge führt zu einem peripheren Horner-Syndrom.

Wichtige Ursache des Oberen Quadrantensyndroms: Maligne Tumoren, operative Eingriffe am Hals

Neurologische Syndrome

138 Läsionen lumbaler Grenzstranganteile sind fast ausschließlich durch maligne Tumoren bedingt. Je nach Lokalisation ist der untere Quadrant mehr oder weniger vollständig befallen (Unteres Quadrantensyndrom).

lumbaler Grenzstranganteile, - fast ausschließlich durch maligne Tumoren. Je nach Lokalisation ist der untere Quadrant mehr oder weniger vollständig befallen („Unteres Quadrantensyndrom"). Die Prüfung der Schweißsekretion erlaubt eine genaue diagnostische Erfassung. Untersuchungen haben gezeigt, daß eine Unterbrechung des Grenzstrangs in Höhe von BWK 12 zu einer Anhidrose des gesamten Beins bis zur Leistenbeuge führt. Eine Unterbrechung in Höhe von L W K 2 führt zu einer Anhidrose distal des Knies.

Literatur Duus, P.: Neurologisch-topische Diagnostik, 4. Aufl. Thieme, Stuttgart-New York 1987 Hopf, H.Ch., K.Poeck, H.Schliack (Hrsg.): Neurologie in Praxis und Klinik, Band III. Thieme, Stuttgart-New York 1986 Ludin, H.-P., W.Tackmann: Polyneuropathien. Thieme, Stuttgart-New York 1984 Mumenthaler, M., H.Schliack: Läsionen peripherer Nerven, 5.Aufl. Thieme, Stuttgart-New York 1987 Schiffter, R.: Neurologie des vegetativen Systems. Springer, Berlin-Heidelb e r g - N e w York-Tokyo 1985 Seddon, H. J.: Three types of nerve injury. Brain 66 (1943) 237

Zerebrale Syndrome beruhen auf reversiblen oder irreversiblen, diffusen oder lokalisierten Hirnfunktionsstörungen. Je nach Überwiegen psychischer oder neurologischer Störungsbilder sprechen wir von psycho-organischen oder organ-neurologischen zerebralen Syndromen. Psycho-organische Syndrome: - akut-reversible Syndrome, Funktionspsychosen; - chronisch-irreversible Defektsyndrome, organische Psychosen.

Akut-reversible Syndrome: Das Gehirn reagiert auf exogene Einwirkungen grundsätzlich unspezifisch und nur mit einer beschränkten Zahl von Reaktionsfor-

2.2 Zerebrale Syndrome F. Broser Zu einem Syndrom werden regelhaft oder gesetzmäßig auftretende Kombinationen von Symptomen, also von körperlichen u n d psychischen Funktionsänderungen zusammengefaßt. Sofern sie auf Funktionsstörungen des Gehirns zurückzuführen sind, sprechen wir von zerebralen Syndromen. Dabei sind theoretisch solche Syndrome, die auf diffuse, mehr oder weniger das gesamte Gehirn einbeziehende Funktionsstörungen zurückgehen, von anderen zu unterscheiden, denen überwiegend lokalisierte Hirnfunktionsänderungen zugrundeliegen, wobei beide sowohl als passager-reversible, als auch als permanent-irreversible Störungsformen in Erscheinung treten können. Da das Gehirn gleichermaßen Träger geistig-seelischer und körperlicher Funktionen ist, können sich Beeinträchtigungen des Gehirns das eine Mal überwiegend in psychischen Veränderungen, das andere Mal überwiegend in körperlichen Leistungsstörungen äußern. So ist es erlaubt und zweckmäßig „psycho-organische" von „organ-neurologischen zerebralen Syndromen" zu unterscheiden. Bei den ersteren Störungen wiederum haben wir mehr akut verlaufende, reversible psycho-organische Syndrome, auch „Funktionspsychosen" genannt, von chronischen, teilweise progressiv verlaufenden und irreversiblen psycho-organischen Defektsyndromen abzugrenzen, die auch als „organische Psychosen" bezeichnet werden und in eine bleibende „Wesensänderung" oder sogar Demenz einmünden können.

Bei den Funktionspsychosen ist die Erkenntnis K. Bonhoeffers von Bedeutung, nämlich, daß das Gehirn auf äußere Schädlichkeiten nicht spezifisch, sondern grundsätzlich unspezifisch und nur mit einer beschränkten Zahl von Reaktionsformen, von ihm als „akute exogene Reaktionstypen" bezeichnet, antwortet.

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Zerebrale Syndrome Es gilt also festzuhalten, daß sich am Erscheinungsbild einer Funktionspsychose oder einer organischen Psychose die Art der exogenen Schädlichkeit nicht erkennen läßt; so können z.B. eine traumatische Schädigung und eine entzündliche Erkrankung des Gehirns identische psychische Störungsbilder nach sich ziehen. Eher schon sind konstitutionelle und erworbene Faktoren für die Wahl des exogenen Reaktionstyps von prägender Bedeutung.

2.2.1 Syndrome diffuser zerebraler Beeinträchtigung

Syndrome diffuser zerebraler Beeinträchtigung

2.2.1.1 Akut-reversible psychoorganische Syndrome

Akut-reversible psychoorganische Syndrome

Diese auch als Funktionspsychosen zu bezeichnenden Störungen können reaktionstypisch in folgenden Ausprägungsformen in Erscheinung treten: - Syndrome der einfachen Wachheitsstörung in 3 Schweregraden (Somnolenz, Sopor, Koma) - Delirantes Syndrom (Delir) - Halluzinosesyndrom (Halluzinose) - Amentielles Syndrom (Amentia oder Verwirrtheit) - Syndrom des Dämmerzustandes - Korsakow-Syndrom - Hyperästhetisch-emotionelles Syndrom - Amnestisches Syndrom

Allen diesen Funktionspsychosen ist eine Störung des Bewußtseins gemeinsam. Diese ist jedoch bei den verschiedenen Funktionspsychosen von unterschiedlicher Qualität, was ihnen jeweils ihr besonderes charakteristisches Gepräge verleiht. Das schließt aber die gelegentliche Entstehung von Mischbildern nicht aus, auch nicht die Möglichkeit, daß im Verlauf der Erkrankung ein Wandel eintritt und daß ein Psychosebild in ein anderes übergeht.

Allen Funktionspsychosen liegt eine Störung des Bewußtseins zugrunde, jeweils jedoch von unterschiedlicher Qualität.

2.2.1.1.1 Syndrom der einfachen Wachheitsstörung (Vigilanzstörung)

Syndrom der einfachen Wachheitsstörung

Bei diesem Psychosetyp ist diejenige Qualität des Bewußtseins beeinträchtigt, die als Wachheit (Vigilanz) zu charakterisieren ist und die die Helligkeit und Klarheit des Wahrnehmens, Vorstellens, Empfindens, Denkens und Wollens im Auge hat. Im Zustand leichter Benommenheit, auch als Somnolenz bezeichnet, kommen all diese Leistungen erschwert in Gang, laufen verlangsamt ab, verlieren an Intensität und Prägnanz. Die Kranken verhalten sich „apathisch", wirken müde und schläfrig. Im Sopor erlischt die körperliche und geistige Spontaneität. Es wird nur noch auf starke Reize wie Schmerzen reagiert; anfangs noch mit gezielten Abwehrbewegungen, bei Vertiefung der Somnolenz nur noch ungezielt mit Räkeln, Stöhnen und dergleichen. Im Koma, dem stärksten Grad der Wachheitsstörung, erlischt schließlich jede Reagibilität und es läßt sich nur noch an Reflexphänomenen die zunehmende Tiefe der Bewußtlosigkeit ablesen; so schwinden Schritt für Schritt erst die Muskelreflexe an den Beinen, dann auch an den Armen, als nächstes die Bauchhautreflexe, danach die Lichtreflexe der Pupillen und zuletzt auch die Kornealreflexe und die anfangs weiten Pupillen werden vorübergehend eng und zuletzt ganz weit und lichtstarr, womit sich der Ausfall aller Mittelhirnfunktionen ankündigt.

Je nach der Tiefe der Wachheitsstörung unterscheidet man: Somnolenz, Sopor und Koma. Die Somnolenz hat Ähnlichkeit mit der physiologischen Müdigkeit und Schläfrigkeit.

Im Sopor ist die geistige und körperliche Spontaneität erloschen, und es wird nur noch auf starke äußere Reize reagiert. Im Koma wird auch auf starke Schmerzreize nicht mehr reagiert, und es schwinden allmählich Schritt für Schritt die verschiedenen Reflexphänomene.

140 Syndrom des Delirs ist, bei nur gering reduzierter Wachheit, charakterisiert durch Übererregbarkeits- und Reizerscheinungen; gesteigerte Psychomotorik, Emotionalität, Gedankenflut, Phantasie und Sinnestätigkeit, besonders in Form optischer Halluzinationen.

Syndrom der Halluzinose ist ausgezeichnet durch ein gesteigertes Wachbewußtsein, eine Überwachheit und durch das Auftreten von überwiegend akustischen Halluzinationen mit Realitätscharakter.

Syndrom der Amentia Bei normalem Wachbewußtsein und Fehlen von Sinnestäuschungen kommt es zu einer Auflockerung, ja einem Zerfall des Denkens, Empfindens und Handelns.

Neurologische Syndrome 2.2.1.1.2 Syndrom des Delirs Im Delir wird das Verhalten weniger durch die gleichfalls herabgesetzte Qualität der Wachheit als vielmehr durch pathologische Übererregbarkeitsund Reizerscheinungen bestimmt, durch eine krankhaft gesteigerte Psychomotorik, Emotionalität, Gedankenflut und Sinnestätigkeit bis hin zu überwiegend optischen Halluzinationen. Da in diesem Zustand kein folgerichtiges Denken und Urteilen und keine Selbstvergegenwärtigung mehr gelingt, insbesondere diese integrative Bewußtseinsfunktion fehlt, unterliegen die Deliranten z u m einen leicht suggestiven Einflüssen und z u m anderen, sich selbst überlassen, der Fülle und Intensität ihrer Sinnestäuschungen, die dann ihr gesamtes Erleben und Tun beherrschen.

2.2.1.1.3 Syndrom der Halluzinose Die Halluzinosen werden, wie der N a m e sagt, vor allem von Halluzinationen geprägt, aber nicht wie im Delir von optischen, sondern von akustischen Sinnestäuschungen. Dabei besteht im Gegensatz zum Delir kein reduziertes, sondern vielmehr ein pathologisch gesteigertes Wachbewußtsein, eine sog. „Überwachheit" (Zutt 1943, 1962).

2.2.1.1.4 Syndrom der Amentia In der Amentia oder „Verwirrtheit" geht die Fähigkeit verloren, aus der Fülle des Wahrgenommenen, Empfundenen, Vorgestellten und Gedachten unter dem Gesichtspunkt der Zusammengehörigkeit, Wichtigkeit, Wertigkeit und Sinnhaftigkeit eine Auswahl zu treffen und diese Teilaspekte zu einer übergreifenden Konzeption zusammenzufügen. Daraus resultiert dann eine Auflockerung, ja ein Zerfall des Denkens, die sog. „Inkohärenz", die für die Amentia spezifisch ist und die sich durch ein von oberflächlichen klanglichen Assoziationen bestimmtes Denken, amorphes bruchstückhaftes Handeln und zusammenhangloses, verwirrtes Reden auszeichnet.

Syndrom des Dämmerzustandes

2.2.1.1.5 Syndrom des Dämmerzustandes

Kontinuität des Bewußtseins geht verloren. Wenn Dämmerzustand beendet, oft kein Erinnerungsvermögen an diese Zeitspanne.

Entscheidendes Kriterium des Dämmerzustandes ist der Verlust der Kontinuität des Bewußtseins. Während der Erlebnisstrom normalerweise niemals abbricht, sondern kontinuierlich weiterläuft - selbst im Schlaf nur ruht und mit dem Erwachen sofort wieder in Gang kommt - und jedes neue Erlebnis dem aktuellen Erinnerungsbestand lückenlos hinzugefügt und der eigenen Biographie einverleibt wird, stellt sich mit dem Einsetzen eines Dämmerzustandes ein davon abgespaltenes Bewußtsein ein. Erleben und Handeln sind dann nicht mehr von den individuellen Charakteranlagen, von der Erziehung, den Lebenserfahrungen, und den sonst obwaltenden moralischen und ethischen Grundsätzen bestimmt, sondern von davon losgelösten, aktuell aufkommenden affektiven und triebhaften Kräften. Daraus resultieren nicht selten ganz persönlichkeitsfremde Verhaltensund Handlungsweisen, ängstliche und zornmütige Erregungen, ja ungezügelte Triebtaten. Nach Stunden bis Tagen, selten Wochen, endet der Dämmerzustand ebenso plötzlich wie er eingesetzt hat, wobei dann diese Zeitspanne regelmäßig einer kompletten oder zumindest partiellen Amnesie anheimfällt, offenbar weil in diesem Zustand „alternierenden Bewußtseins" schon die primäre Finverleibung der Erlebnisse ausgeblieben ist.

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Zerebrale Syndrome 2.2.1.1.6 Korsakow-Syndrom

Korsakow-Syndrom

Das Korsakow-Syndrom ist nicht, wie z u m Teil i m m e r noch a n g e n o m m e n wird, einfach die Folge einer schweren Merk- u n d Gedächtnisstörung, sondern einer eigenständigen Störung des Selbstbewußtseins. Sie macht die Korsakow-Kranken unfähig, „sich ihr eigenes Gewordensein zu vergegenwärtigen u n d auf den aktuellen Ort innerhalb ihrer Lebensgeschichte zu reflektieren" (H. Scheller). Mit dem Fehlen dieser biographischen Bezugspunkte wird Gegenwärtiges u n d Vergangenes in seiner Aufeinanderfolge und Bedeutung labil und wandelbar; daraus resultiert dann eine „Falschorientiertheit". In diesem Zustand bleibt das Erinnerungsvermögen, dessen der Amnestische verlustig gegangen ist, weitestgehend erhalten; die Erinnerungen haben n u r ebenso wie die aktuelle Orientierung ihre Bezugspunkte z u m eigenen Gewordensein verloren, u n d so k o m m t es laufend zu Falschbeurteilungen der eigenen Situation und der Rolle, die der Korsakow-Kranke darin spielt. In ihrer Unfähigkeit zur kritischen Selbstreflektion unterliegen die Kranken d e m Anschein der suggestiven Kraft physiognomischer Gegebenheiten und verbaler Einflüsse; halten den Doktor im weißen Mantel, wenn er eine Schere in der H a n d hält, für einen „Frisör", auf Kriegsereignisse angesprochen für den „Herrn Stabsarzt" und, wenn schließlich Rechenaufgaben gestellt werden, für den ehemaligen „Studienassessor Müller". Hier wird also nicht konfabuliert, wird nicht versucht Gedächtnislücken zu kaschieren sie werden ja gar nicht wahrgenommen - , sondern es wird die Gegenwart durch die in Gang gesetzte Rückblendung im Sinne der Rückerinnerung u m gestaltet.

Bei ungemindert klarem Bewußtsein fehlt den Korsakow-Kranken die Fähigkeit, sich ihr eigenes Gewordensein zu vergegenwärtigen und auf den Ort innerhalb ihrer Lebensgeschichte zu reflektieren. Daraus resultiert eine „Falschorientiertheit".

Korsakow-Psychosen verlaufen nicht selten protrahiert und subchronisch und m ü n d e n schließlich, nicht ganz selten, in ein amnestisches Defektsyndrom ein.

2.2.1.1.7 Hyperästhetisch-emotionelles Syndrom

Hyperästhetisch-emotionelles Syndrom

In diesen Zuständen von hyperästhetisch-emotioneller Schwäche (K. Bonhoeffer) bleibt das Bewußtsein unbeeinträchtigt, mangelt es aber an Spontaneität, Initiative, Spannkraft und Durchhaltevermögen, besteht eine abnorme körperliche und geistige Erschöpfbarkeit, verbunden mit erhöhter Stimmungslabilität, Empfindlichkeit, Reizbarkeit und Erregbarkeit. Wesensänderungen dieser Art können z u m einen dem Ausbruch von Funktionspsychosen vorausgehen oder ihnen nachfolgen, z u m anderen können sie aber auch Vorläufer in Gang k o m m e n d e r psychoorganischer Abbauvorgänge sein, woraus sich wiederum deren Zwischenstellung ergibt.

Dabei verbinden sich reduzierte Spontaneität, Spannkraft und Durchhaltevermögen mit körperlicher und geistiger Erschöpfbarkeit und emotioneller Labilität.

2.2.1.1.8 Amnestisches Syndrom

Amnestisches Syndrom ist geprägt von Merk· und Gedächtnisstörungen, die so erheblich werden können, daß die Betreffenden sich nicht mehr zu orientieren vermögen, in einen Zustand der „Desorientiertheit" geraten.

Das amnestische Syndrom ist durch Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörungen charakterisiert. I m m e r lassen Merkfähigkeit und Frischgedächtnis eher und stärker nach als das Altgedächtnis; vor allem läßt das Namensgedächtnis und das Gedächtnis für alltägliche, weniger wichtige und beeindruckende Ereignisse nach, bis schließlich alles so rasch wieder vergessen wird, daß die Kranken die Orientierung verlieren; zuerst nur f ü r die Zeit in der sie sich befinden, dann auch für den Ort an dem sie sich aufhalten und schließlich auch noch für die eigene Person, für die Rolle, welche ihnen in der jeweiligen Situation z u k o m m t . Das E m p f i n d e n für den Verlust der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses bleibt dabei über weite Strecken erhalten, so daß die Kranken an ihrem Versagen und ihrer Desorientiertheit lange leiden. Nicht ganz selten kombinieren sich hyperästhetisch-emotionelle Schwäche mit Merk- und Gedächtnisstörungen in Zuständen von sog. „Hirnleistungs-

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Neurologische Syndrome schwäche", wie sie passager und persistierend nach verschiedenartigen diffusen u n d multilokularen Hirnschädigungen beobachtet werden.

Chronisch-irreversible hirnorganische Defektsyndrome führen, soweit sie auf einer leichten diffusen Hirnschädigung beruhen, zu einer Wesensänderung, die man als „Zuspitzung individueller Charaktereigentümlichkeiten" beschreiben kann.

2.2.1.2 Chronisch-irreversible hirnorganische Defektsyndrome Aus irreparablen Hirnsubstanzschädigungen resultieren unter U m s t ä n d e n bleibende Wesensänderungen, die, wenn der zugrundeliegende Hirnprozeß fortschreitet, am Ende in eine D e m e n z e i n m ü n d e n . Letztere Bezeichnung ist nicht etwa schon bei partiellen Minderungen geistiger Fähigkeiten, sondern erst dann angebracht, wenn die Betroffenen nicht m e h r in der Lage sind, ihre Defekte zu erkennen und gemäß dieser Erkenntnis Entschlüsse zu fassen und zu handeln. Tritt eine diffuse Schädigung des Gehirns allmählich ein, dann wird die einsetzende Wesensänderung zumindest in der Anfangsphase vornehmlich von der jeweiligen individuellen Persönlichkeitsartung bestimmt. Daraus ergibt sich eine Zuspitzung individueller Charaktereigentümlichkeiten, ζ. B. derart, daß ordnungsliebende M e n s c h e n pedantisch, E m p f i n d s a m e streitsüchtig, Kontaktschwache zu autistischen Eigenbrötlern, auf G e s u n d h e i t bedachte Hypochonder werden.

Bei schwereren lokalen Hirnschädigungen wird die Art der psychoorganischen und körperlich-neurologischen Veränderungen zunehmend von Lokalfaktoren bestimmt.

Solche Vergröberungen von Wesenseigentümlichkeiten gehen in der Regel mit einer Einengung der Interessen, mit einem Verlust der geistigen Lebendigkeit, Differenziertheit u n d Wendigkeit sowie mit einer emotionellen Labilisierung im Sinne einer Rührseligkeit oder Reizbarkeit einher, während die formale Intelligenz vielfach über lange Lebensstrecken noch erhalten bleibt. Findet nicht nur eine leichte diffuse, sondern schwere lokale oder lokal betonte Hirnschädigung statt, dann wird die Richtung der Wesensänderung vorwiegend durch ortsbestimmte Faktoren determiniert. Unter diesem Aspekt lassen sich eine größere Zahl hirnlokal bestimmter psychoorganischer Syndrome herausstellen (vgl. 2.2.2).

Zerebrale Anfallssyndrome kommen sowohl als Antwort des Gehirns auf diffuse als auch lokale Funktionsstörungen vor. Dabei ist zu unterscheiden zwischen - epileptischen Anfallssyndromen und - nichtepileptischen bzw. vegetativen Anfallssyndromen.

2.2.1.3 Zerebrale Anfallssyndrome

Hirnorganische bzw. epileptische Anfälle

Auf Funktionsstörungen diffuser und lokaler Art kann das Gehirn auch mit Anfallsreaktionen antworten. Dabei sind hirnorganische bzw. epileptische Anfallssyndrome (s. Kap. 14) von Anfallsreaktionen nichtepileptischer bzw. vegetativer N a t u r (s. Kap. 15) zu unterscheiden.

2.2.1.3.1 Hirnorganische bzw. epileptische Anfälle Hier soll nur auf das F a k t u m hingewiesen sein, daß epileptische Anfälle besondere zerebrale Reaktionssyndrome darstellen (alles weitere s. Kap. 14).

Nichtepileptische bzw. vegetative Anfälle sind Folgeerscheinungen krisenhafter vegetativer Entgleisungen: - der Herz-Kreislaufregulation, - des Wasser-, Elektrolythaushalts und des Säure-Basen-Gleichgewichts, - des Kohlehydrathaushalts und - der Schlaf-Wachregulation.

2.2.1.3.2 Nichtepileptische oder vegetative Anfälle Zerebrale Anfallssyndrome können auch auf indirektem Wege zustande k o m m e n und zwar auf dem Boden krisenhafter vegetativer Entgleisungen der Herz-Kreislaufregulation, des Säure-Basen- u n d Elektrolythaushalts, des Kohlenhydratstoffwechsels und der Schlaf-Wach-Regulation und -Koordination (Broser 1981). Krisenhafte Herz-Kreislaufstörungen können allgemeine oder partielle zerebrale Ischämien und damit „Synkopen" u n d „Erstickungskrämpfe" zur Folge haben. Es handelt sich dabei u m kurzdauernde, sich wiederholende Streckkrämpfe, die von tonisch-klonischen epileptischen Anfällen n u r schwer zu unterscheiden sind. Auf d e m Boden krisenhafter Entgleisungen in der Säure-Basen-Relation und im Mineralhaushalt entstehen „tetanische Syndrome und Anfälle". Sinkt der Blutzuckerspiegel auf dysregulatorischer Basis kritisch auf hypoglykämische Werte ab, dann führt dies zumeist zu

143

Zerebrale Syndrome „hypoglykämischen Syndromen und Anfällen" (s. Kap. 15). Schließlich kommen Anfallssyndrome aufgrund von Dysregulationen der vegetativen SchlafWach-Steuerung, einmal der Rhythmik und zum anderen der Koordination der Schlaf-Wach-Einstellung vor (s. Kap. 16).

2.2.2 S y n d r o m e l o k a l e r z e r e b r a l e r B e e i n t r ä c h t i g u n g

syndrome lokaler zerebraler

2.2.2.1 Hemisphärensyndrome

Hemisphärensyndrome

An jeder der beiden Hirnhälften oder Hemisphären sind vier Hirnlappen zu unterscheiden, die jeweils drei Hirnwindungen (Gyri) aufweisen und durch Hirnfurchen (Sulci) voneinander abzugrenzen sind und zwar ein Stirn- oder Frontallappen, ein Schläfen- oder Temporallappen, ein Hinterhaupts- oder Okzipitallappen und ein Scheitel- oder Parietallappen ( A b b . 2 - 6 , 2 - 7 a , b). Diese Hirnregionen sind jeweils in ganz besonderer Weise ausdifferenziert und erfüllen spezielle Aufgaben wie die Ausführung von Bewegungen, Vermittlung von Empfindungen, von Schmecken, Hören, Sehen und dergleichen. In Bezug auf die höchsten, spezifisch menschlichen Leistungen, wie Handeln und Erkennen sowie Umgehen mit der Sprache in Form des sprachlichen Denkens, des Sprechens, des Verstehens von Gesprochenem, des

Je nach Ausdifferenzierung der verschiedenen Hirnregionen für bestimmte Funktionen, kommen bei lokalen Hirnschädigungen charakteristische psychische und körperliche Störungsbilder zustande.

Sulcus praecentralis Lobus frontalis

Sulcus centralis Sulcus postcentralis -Lobus parietalis Sulcus parieto-occipitalis Sulcus occipitalis transversus Lobus occipitalis

Fissura cerebri lateralis (Sylvii) Impressio petrosa

Lobus temporalis Lobus frontalis,

Sulcus cinguli

Sulcus centralis Lobus parietalis Sulcus parieto-occipitalis Sulcus subparietalis Lobus occipitalis Fissura calcarina

Lobus temporalis

Impressio petrosa Fissura collateralis

Sulcus rhinicus

Fissura hippocampi

Abb. 2-6 Die 4 Hirnlappen in ihrer Ausdehnung gesehen, a) von der Konvexitätsseite, b) von der medialen Hemisphärenseite. Stirnlappen: Hellrosa; Scheitellappen: Dunkelrosa; Hinterhauptslappen: gepunktet; Schläfenlappen: schräg gestreift.

Beeinträchtigung

144

Neurologische Syndrome Syndrome der Zentralreglon

Frontales KonvexJtätssyndrom

ΙΓ

Sulcus frontalis superior

occipitalis Okzipital himSyndrome transversus occipitalis lateralis

Impressio petrosa Rssuara lateralis (Sytvii) Orbita Ihim - Syndrom

II

superior

Temporalh I m- Syndrome

Frontales Konvexltatssyndrom

Orbitalhirnsyndrom

temporalis medius

Parletalhirnsyndrom

Temporalhlrnsyndrom

Abb. 2-7a Hirnwindungsrelief und Hirnfurchen in ihren Beziehungen zu den unterschiedlich lokalisierten Hemisphärensyndromen a) an der konvexen b) an der medialen Hemisphärenfläche Schreibens und Lesens kommt beim Rechtshänder der linken und beim Linkshänder der rechten Hemisphäre jeweils die führende Rolle zu. Die oben angeführten Fähigkeiten werden dabei nicht in eigener Regie von umschriebenen Rindenarealen der dominanten Hirnhälfte ausgeführt, sondern vom menschlichen Gehirn in seiner Gesamtheit; bestimmten Hirnregionen kommt bei der Bewältigung spezieller Aufgaben aber als unumgängliche Durchgangsstation mit Filter-, Assoziations- und Koordinationsfunktionen eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Orbitalhirnsyndrom 2.2.2.1.1 Abstumpfung aller Gemütsempfindungen, ethisch-moralische Wertungen verlieren ihre Verbindlichkeit und ein „Verfall der Gesittung" tritt ein.

Orbitalhirnsyndrom

Als Orbitalhirn werden die der Orbita aufliegenden basalen Anteile des Stirn- und benachbarten Schläfenhirns zusammengefaßt (s. Abb. 2 - 7 a ) . Es bestimmt entscheidend die Affektivität, die Gemütsansprechbarkeit des Individuums. Doppelseitige Schädigungen dieser Orbitalen Rindenareale führen deshalb zu einer Abstumpfung aller Gemütsempfindungen, zu einer

Zerebrale Syndrome

A b b . 2 - 7 b Zytoarchitektonische Felderung der menschlichen Hirnrinde nach Brodman mit den von Vogt und Foerster vorgenommenen Ergänzungen (a) an der konvexen, (b) an der medialen Hemisphärenfläche

mangelhaften affektiven Schwingungsfähigkeit, während die rein intellektuellen Fähigkeiten üblicherweise weitgehend erhalten bleiben. Mit dem Verk ü m m e r n des gesamten Gefühlslebens verlieren für diese Kranken alle ethischen und moralischen Wertungen ihre Bedeutung u n d ihre Verbindlichkeit. Es tritt ein „Verfall der Gesittung" auf; ihr Leben erschöpft sich in Extremfällen n u r noch in der Befriedigung primitiver Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Rauchen, Schlafen und Sexualbetätigung. In diesen Fällen spricht m a n auch von einer sogenannten affektiven Wesensänderung und affektiven Demenz. - Verbindet sich diese Persönlichkeitsveränderung mit einem frontalen Antriebsmangel (s. 2.2.2.1.2), dann leben diese Kranken völlig indifferent und untätig in den Tag hinein. - Kombiniert sich diese Charakterveränderung mit einer frontalen Antriebs-

145

146

Neurologische Syndrome Steigerung, was oft mit einer Euphorie einhergeht, dann zeigen sich die Kranken umtriebig, neigen zu albernen Witzeleien (Witzelsucht = Moria), lügen und stehlen und benehmen sich taktlos, frivol-anstößig, ja sexuell enthemmt und aggressiv.

Frontales Konvexitätssyndrom

2.2.2.1.2 Frontales Konvexitätssyndrom

Nachlassen der geistigen und körperlichen Regsamkeit, in Extremfällen Verlust jeglichen Eigenantriebs.

An den Orbitalen Bereich des Stirnhirns schließt sich nach hinten der Konvexitätsteil des Stirnhirns, auch Präfrontalregion genannt, an. Diese bestimmt maßgeblich das allgemeine Antriebsniveau bzw. die Spontaneität. Beeinträchtigungen dieser Stirnhirnanteile äußern sich dementsprechend in einem Nachlassen der geistigen und körperlichen Regsamkeit. Anfangs nehmen nur die Phantasie und die Interessen, mit der Zeit aber auch die Initiativen schlechthin ab, bis schließlich jeglicher Eigenantrieb versandet und die Kranken ohne Aufforderung das Bett nicht mehr verlassen, oder tagsüber irgendwo untätig herumsitzen, auf Ansprache nur noch einsilbig antworten und schließlich gänzlich verstummen.

Im gleichen Maß nimmt die Fremdanregbarkeit zu, stellen sich besondere Reflexphänomene ein wie: - orales Sperren oder Schnappen, optisch und/oder taktil; - Hakein, Greifen; - Haltungsverharren; - gelegentlich auch Echopraxie und Echolalie; - Zwangslachen und Zwangsweinen.

In dem Maße, wie die Eigenaktivität nachläßt, unterliegen die Kranken zunehmend Fremdeinflüssen und entwickeln sich allmählich zu Reflexwesen; - sperren wie Vögel den Mund auf, wenn Objekte in ihre N ä h e gebracht werden, schnappen danach oder halten sie mit Zähnen und Lippen fest (Sperren und Schnappen); - greifen nach jedem Gegenstand, der ins Blickfeld geführt wird und umklammern und halten alles fest, was ihnen in die Hand gelegt wird (Greifen und Hakein); - erweisen sich als abnorm nachgiebig, lassen sich wie Marionetten bewegen und verharren in den ihnen gegebenen Haltungen (Haltungsverharren). - Manchmal imitieren sie auch Handlungen und wiederholen vorgesprochene Laute und Wörter (Echopraxie und Echolalie); - reagieren auf unterschiedliche Zuwendungen mit affektleerem Lachen oder Weinen (Zwangslachen und Zwangsweinen). Solche Fälle fortgeschrittenen Abbaus charakterisiert treffend auch der Begriff der affektiven Wesensänderung und affektiven Demenz.

Zerebrale Pyramidenbahnsyndrome

2.2.2.1.3 Zerebrale Pyramidenbahnsyndrome

Die von den Pyramidenzellen des ausgedehnten motorischen Rindenfeldes ausgehenden Neuriten konvergieren im Stäbkranz und durchziehen auf engstem Raum die innere Kapsel. Dies erklärt, warum gleichgroße Herde in der Rinde, im Stabkranz und in der inneren Kapsel unterschiedlich ausgedehnte Lähmungen nach sich ziehen.

Rückwärts bzw. kaudalwärts geht die Präfrontalregion in die Präzentralregion über. Sie bildet mit ihren Pyramidenzellen das sog. motorische Rindenfeld. Dieses ist ausgedehnt und erstreckt sich streifenförmig von der Sylvii-Furche über die Scheitelhöhe (Mantelkante) bis z u m Sulcus cinguli an der medialen Hemisphärenfläche (s. Abb. 2 - 7 ) . Es ist in seiner ganzen Ausdehnung streng somatotopisch gegliedert und zwar in der Weise, daß Mastdarm-, Blasen-, Fuß- und Beininnervation vom Mantelkantenbereich und Kehlkopf-, Schlund-, Zungen- und Lippeninnervation vom unteren Teil der vorderen Zentralwindung in Gang zu setzen sind (Abb. 2 - 8 ) . Die von den in dieser Weise angeordneten großen Pyramidenzellen ausgehenden Fortsätze (Neuriten) konvergieren im Stabkranz (Corona radiata) und durchziehen dann auf engem Raum zusammengedrängt die innere Kapsel (Capsula interna, Abb. 2 - 9 ) . Daraus resultiert, daß gleich große Herde unterschiedlich ausgedehnte Lähmungen hervorrufen, je nachdem, ob sie sich in der Rinde bzw. in Rindennähe befinden oder aber in der Tiefe des Marks bzw. in der inneren Kapsel selbst. Davon ausgehend lassen sich ein kortikales und subkortikales Pyramidensyndrom und ein Capsula-interna-Syndrom abgrenzen.

Wir unterscheiden: - kortikales Pyramidensyndrom, - subkortikales Pyramidensyndrom, - Capsula-interna-Syndrom.

Kortikale Pyramidenbahnsyndrome manifestieren sich üblicherweise in umschriebenen, nur Gesicht, Arm oder Bein be-

Kortikales Pyramidenbahnsyndrom Die erhebliche Ausdehnung des motorischen Rindenfeldes hat zur Folge, daß Schädigungen hier immer nur Teile des Rindengebiets zerstören und

Zerebrale Syndrome

147

Abb. 2-8 Somatotopische Gliederung der motorischen Rinde, dargestellt in Form eines Homunkulus (nach Penfield u. Rasmussen)

dementsprechend auch nur zu umschriebenen Lähmungen an der kontralateralen Körperseite führen; meistens nur zu isolierten Lähmungen des Beins (Monoplegia cruralis) oder des Arms (Monoplegia brachialis) oder auch nur der Gesichtsmuskulatur der kontralateralen Seite (Monoplegia facialis) bzw., wenn der Herd doch ausgedehnter ist, zu kombinierten Lähmungen der Bein-, Schulter- und Oberarmmuskulatur (Hemiplegia scapulo-cruralis) oder der Gesichts- und Handmuskulatur (Hemiplegia facio-brachialis). Bei besonders kleinen Rindenherden kann sich die Lähmung sogar auf Teile der Bein- oder Armmuskulatur beschränken. Die Lähmungsverteilung ähnelt dann oft Peronaeuslähmungen am Fuß und Ulnarislähmungen an der Hand. Diese Ähnlichkeit wird dadurch noch verstärkt, daß Rindenlähmungen zudem noch vielfach von Areflexie bzw. Hyporeflexie und Atonie bzw. Hypotonie begleitet sind. Dies ist besonders dann der Fall, wenn sich die Schädigung auf die motorische Rinde im engeren Sinn (Area 4 des Gyrus centralis) beschränkt und das vorgelagerte Rindenareal (6aoc) verschont bleibt. Man spricht dann im Unterschied zu „peripheren schlaffen Lähmungen" von „zentralen atonischen Lähmungen". Entwickeln sich unter Reizeinwirkungen im geschädigten Rindenareal synchrone Entladungen, dann führt dies zu fokalen tonisch-klonischen Anfällen, die sich sekundär generalisieren können. Subkortikales Pyramidenbahnsyndrom Erstrecken sich die Herde bis ins tiefe Mark, dann unterbrechen sie zunehmend umfangreicher die absteigenden Pyramidenbahnen für die kontralaterale Körperhälfte. Sie verursachen dann dementsprechend ausgedehntere Lähmungen bis hin zu unvollständigen Halbseitenlähmungen insofern, als sie brachio-facial oder scapulo-crural betont in Erscheinung treten.

treffenden Lähmungen an der kontralateralen Körperseite. U.U. beschränken sie sich sogar auf Teile der Arm- oder Beinmuskulatur, und gehen gelegentlich zudem mit Areflexie und Hypotonie einher, weshalb dabei von „zentral-atonischen Lähmungen" gesprochen wird.

Unter Reizeinwirkungen von Rindennarben können fokale, tonisch-klonische Krämpfe entstehen und, wenn der Krampfherd sich ausweitet, auch von sekundär generalisierten zerebralen Anfällen. Subkortikale Pyramidenbahnsyndrome sind charakterisiert durch ausgedehnte, aber meist unvollständig bleibende spastische Halbseitenlähmungen.

148

Neurologische Syndrome

Abb. 2-9 Pyramidenbahn a) im Frontalschnitt, b) im Horizontalschnitt in Höhe der inneren Kapsel A Arm, Β Bein, Ba Balken, C Nucleus caudatus, F Facialis (Gesicht), Η Hypoglossus (Zunge und Sprechmuskeln), Pa Pallidum, Pu Putamen, R Rumpf, S sensible und sensorische Bahnen, wB willkürliche Blickbewegungen, 1 fronto-thalamische und fronto-pontine Bahnen, 2 Hörstrahlung, 3 Gratiolet-Sehstrahlung

Zerebrale Syndrome

149

Capsula-interna-Syndrom Da die gesamten Pyramidenbahnen im hinteren Schenkel der inneren Kapsel dicht nebeneinander absteigen und auch die sensiblen Bahnen für die kontralaterale Körperhälfte unmittelbar dahinter zusammengedrängt aufsteigen (s. Abb. 2 - 9 ) , reichen in diesem Bezirk bereits kleine Krankheitsherde aus, u m alle motorischen und sensiblen Bahnen gemeinsam zu unterbrechen. Daraus ergibt sich, daß Kapselherde in der Regel durchgehende komplette Hemiplegien nach sich ziehen, die zumeist auch von durchgehenden halbseitigen Empfindungsstörungen (Hemian- bzw. Hemihypästhesie) begleitet sind. Wenn man berücksichtigt, daß dorsomedial des hinteren Kapselschenkels die Gratiolet-Sehstrahlung okzipitalwärts zur Sehrinde und dorsolateral davon die zentrale Hörbahn zur Hörrinde (Heschl-Querwindung) des Temporallappens ziehen (s. Abb. 2 - 9 ) , dann wird es verständlich, daß nach dorsal reichende Krankheitsherde nicht selten auch mit kontralateraler Hemianopsie und Hemianakusis einhergehen.

Capsula-interna-Syndrome Halbseitenlähmungen, zumeist in Verbindung mit sensiblen Halbseitenstörungen an der kontralateralen Körperhälfte und oft auch mit einer homonymen Hemianopsie.

Charakteristiken zentraler Lähmungen Zentrale Lähmungen sind - wenn man von dem oben angeführten Sonderfall einer kortikal bedingten Schädigungsfolge absieht - ausgezeichnet durch eine besondere Verteilung (Prädilektion), eine spezifische Ausformung (Entdifferenzierung), eine eigentümliche Form der Muskeltonuserhöhung (Spastik) und durch ein charakteristisches Reflexverhalten (spastische Steigerung von Muskeldehnungsreflexen, Abschwächung von Fremdreflexen und Auftreten pathologischer Reflexe).

Charakteristika zentraler Lähmungen: - besondere Lähmungsverteilung (Prädilektion); - spezielle Ausformung der Lähmungen (Entdifferenzierung); - federnde Muskeltonuserhöhung (Spastik); - Steigerung von Eigen- bzw. Muskeldehnungsreflexen); - Abschwächung von Fremdreflexen (Mayer-GGR, Bauchhautreflexe); - pathologische Reflexe (Babinski-, Oppenheim- u. Gordon-Reflexe).

Die Prädilektion zentraler Lähmungs- und Tonusverteilung besagt, daß - die distalen Gliedmaßenmuskeln immer stärker gelähmt sind als die proximalen, daß die Paresen an den Händen und Füßen immer ausgeprägter sind als am übrigen Arm und Bein; - vor allem die Ausführung differenzierter, feinmotorischer Einzelbewegungen beeinträchtigt ist, während die primitiveren, synergistischen Massenbewegungen oft noch recht gut und mit Kraft gelingen; - an den oberen Gliedmaßen die Adduktoren, die Pronatoren und die Flexoren und an den unteren Gliedmaßen die Abduktoren, die Supinatoren und die das Bein verlängernden Muskelgruppen besser und länger erhalten bleiben und besser restituieren als deren Antagonisten; - die stärker gelähmten Muskeln auch einen höheren Muskeltonus aufweisen.

Diese Tonussteigerung (Spastik) ist an den oberen Gliedmaßen in den Adduktoren, den Pronatoren und den Flexoren und an den unteren Gliedmaßen in den Abduktoren, den Supinatoren und den das Bein verlängernden Muskelgruppen ausgeprägter als in der dazu antagonistischen Muskulatur. Dadurch ergibt sich die für spastische Halbseitenlähmungen als pathognomonisch anzusprechende sog. „Wernicke-Mann-Prädilektionshaltung": eine Adduktions-, Pronations- und Beugehaltung des zentral gelähmten Arms und eine Abduktions-, Supinations- und Streckhaltung des zentralparetischen Beins mit der Tendenz zur Spitzfuß- und Klumpfußstellung. Diese unterschiedlich verteilte Tonuserhöhung führt auch dazu, daß bei passiver Bewegung gegen die Prädilektion der Dehnungswiderstand sich verstärkt, ein sog. „federnder Widerstand" fühlbar wird und die Gliedmaße, wenn sie losgelassen wird, in die Prädilektionsstellung zurückschnellt.

Prädilektion zentraler Lähmungs- und Tonusverteilung

Wernicke-Mann-Prädilektionshaltung: Adduktions-, Pronations- und Beugehaltung des zentral gelähmten Armes und Abduktions-, Supinations- und Streckhaltung des zentral paretischen Beines mit der Tendenz zur Spitzfuß- und Klumpfußstellung.

Neurologische Syndrome

150 Sensible Zerebralsyndrome

2.2.2.1.4 Sensible Zerebralsyndrome

Die auf engstem Raum den hinteren Schenkel der inneren Kapsel durchziehenden sensiblen Bahnen fächern sich auf dem Weg zur Rinde weit auf. So führen - Kapselherde immerzu kompletten sensiblen Halbseitenstörungen, - Markläsionen dagegen zu in ihrer Ausdehnung und Intensität umso geringeren Störungen, je rindennäher sie lokalisiert sind.

Die sich an die vordere Zentralwindung anschließende hintere Zentralwindung (Gyrus postcentralis, s. Abb. 2 - 7 ) ist etwa gleich ausgedehnt und auch in gleicher Weise somatotopisch gegliedert. Die aufsteigenden sensiblen Bahnen durchziehen gleichfalls auf engstem Raum den hinteren Schenkel der Capsula interna und fächern sich auf ihrem Weg zur Rinde weit auf. Das hat gleichermaßen zur Folge, daß Herde in der inneren Kapsel praktisch immer alle Bahnen unterbrechen und komplette halbseitige Sensibilitätsstörungen (Hemianästhesien) hervorrufen, während Läsionen im Mark nach Ausdehnung und Intensität umso geringere Störungen verursachen, je rindennäher sie etabliert sind. Die im Bereich der Capsula interna benachbarte Lage der Seh- und Hörstrahlung hat zur Folge, daß kapselabhängige kontralaterale Hemianästhesien zumeist mit kontralateraler Hemianopsie und relativer Hemihypakusis einhergehen (s. Abb. 2 - 9 ) . Wird die Rinde des sensiblen Handareals im mittleren Teil der Postzentralwindung zerstört, was zu einer Aufhebung der Tiefensensibilität führt, dann resultiert daraus eine Unfähigkeit, Gegenstände abtastend an ihrer Form zu erkennen, eine sog. „taktile Anästhesie". Im Sonderfall, bei Zerstörung der unmittelbar dahinter liegenden Rindenpartie im Übergang zum Gyrus circumflexus (s. Abb. 2 - 7 a ) , können unter Umständen alle elementaren sensiblen Empfindungen, Oberflächen- und Tiefensensibilität erhalten sein, in die Hand gelegte Gegenstände nach Form, Konsistenz und Oberflächenbeschaffenheit exakt beschrieben, trotzdem aber nicht erkannt werden. In diesen Fällen einer Erkennensstörung sprechen wir in Abgrenzung zur taktilen Anästhesie von einer Astereognosie oder Stereoagnosie. Reizerscheinungen in Formen synchroner Entladungen im Bereich der hinteren Zentralwindung äußern sich in sensiblen fokalen Anfällen, durch anfallsweises Auftreten von Parästhesien und Pelzigkeit an einer umschriebenen Körperpartie. Darauf kann die flüchtige Störung beschränkt bleiben, sich aber, wenn die Eingrenzung der Krampfentladung nicht gelingt, auf benachbarte Körperregionen, ja die gesamte Körperseite (sensibler Jackson-Anfall) ausbreiten und bis zum Grand-mal-Anfall generalisieren.

Eine taktile Anästhesie entsteht, wenn die Rinde des sensiblen Handareals zerstört wird. Eine Astereognosie kann eintreten, wenn die dahinter liegende Rinde im Übergang zum Gyrus circumflexus Schaden nimmt.

Sensible fokale Anfälle gehen von der hinteren Zentralwindung aus.

Mantelkantensyndrom

2.2.2.1.5 Mantelkantensyndrom

ist anfangs durch einseitige, später meist doppelseitige zentrale Lähmungen an den Füßen und Beinen charakterisiert, die mit der Zeit auf die Rumpf- und rumpfnahe Schultermuskulatur übergreifen und sich mit einer Störung der willkürlichen Blasenentleerung vergesellschaften können.

Krankheitsprozesse, die sich hochzentral und hochparietal an der sog. „Mantelkante" etablieren - es ist ein Lieblingssitz für Meningeome und die Region, die bei Sinus-sagittalis-superior-Thrombosen Schaden nimmt - führen, da sich hier die motorische und sensible Rinde für den Fuß und das Bein befindet, initial zu einseitigen, später meist doppelseitigen zentralen Lähmungen und sensiblen Störungen an den Füßen und bald auch an den Beinen. Wenn das kaudalwärts anschließende obere Scheitelläppchen einbezogen wird, treten Störungen der willkürlichen Blasenentleerung hinzu und mit der Zeit durch Übergreifen auf die Nachbarschaft auch spastische Erscheinungen am Rumpf, an der Schulter und an den Oberarmen. Die rindenbedingte atonische Form und die Doppelseitigkeit der sensomotorischen Beinlähmungen hat zur Folge, daß beim Mantelkantensyndrom nicht selten fälschlicherweise nach einem Rückenmarksprozeß gefahndet wird.

Unteres Scheitellappensyndrom

2.2.2.1.6 Syndrome des unteren Scheitellappens

Der untere Scheitellappen, gelegen zwischen den Feldern der Körperfühlsphäre und den optischen und akustischen Rindenfeldern ist für viele hochdifferenzierte und komplexe menschliche Fähigkeiten zuständig, wie zum

Der untere Scheitellappen zwischen dem Sulcus interparietalis und der Fissura cerebri lateralis Sylvii (s. Abb. 2 - 7 ) umfaßt das untere Scheitelläppchen selbst und die Gyri circumflexus (sive supramarginalis) und angularis. Diese Rindenregion, gelegen zwischen den Feldern der Körperfühlsphäre und den optischen und akustischen Rindenfeldern, mit denen innige Verbindungen be-

151

Zerebrale Syndrome stehen, ermöglichen dem Menschen eine Reihe komplexer, nur ihm zukommender Fähigkeiten: - Es sind dies zu Handlungen zusammengefaßte Bewegungsabläufe, in Sonderheit abstraktes und konstruktives Handeln, eingeschlossen das Schreiben, sowie das Erkennen von Raumanordnungen und Raumgestalten, eingeschlossen das Lesen. Während für erstere Leistungen vor allem das zentralwärts gelegene Areal des Gyrus circumflexus maßgeblich ist, ist für letzteres vornehmlich der okzipitalwärts gelegene Gyrus angularis verantwortlich. - Eine Schreibstörung (Agraphie) in Verbindung mit einer Sprachstörung (Aphasie) erlaubt den Rückschluß auf eine Schädigung in der dominanten Hemisphäre. - Liegt eine isolierte Schreibstörung (Agraphie) vor, dann kann die Läsion auch im Gyrus circumflexus der nicht dominanten Hemisphäre lokalisiert sein, weil diese bei allen räumlich-konstruktiven Darstellungen, wozu auch das Schreiben zählt, mitwirkt. - Treten bei intakter innerer Sprache Schreib- und Lesestörungen kombiniert in Erscheinung, dann weist dies auf eine Schädigung des Gyrus angularis hin. Man spricht deshalb bei dieser Symptomenkombination auch von einem „Angularis-Syndrom". - Der untere Scheitellappen und die okzipitalwärts angrenzenden Areale in ihrer Bedeutung für die Konstituierung des Phänomens Raum als dreidimensionales Gebilde, das wahrgenommen und vorgestellt werden kann und in dem sich der Mensch zu bewegen und zu handeln vermag, setzen fixe Bezugspunkte und Richtungsmaßstäbe für ein RECHTS, ein LINKS, ein VORN und ein HINTEN, ein OBEN und ein U N T E N voraus, sowohl am eigenen Körper als auch im Außenraum. Wird dieser Hirnbereich geschädigt, dann ergibt sich eine ganz spezifische Störungskombination, die nach dem Erstbeschreiber die Bezeichnung Gerstmann-Syndrom erhalten hat. Es wird durch folgende 4 Kardinalsymptome konstituiert: 1. Eine Störung der Rechts-Links-Differenzierung. 2. Eine Fingerdifferenzierungstörung oder Fingeragnosie. 3. Eine Schreibstörung (Agraphie) im Rahmen einer konstruktiven Apraxie und 4. eine Rechenstörung (Akalkulie). Diese Störungen treten jedoch keineswegs immer gemeinsam auf, und nicht selten auch zusammen mit weiteren wesensverwandten Störungen wie: 5. einer Orientierungsstörung am eigenen Körper (Autotopagnosie), 6. einer optisch-räumlichen Erkennensstörung (optisch-räumliche Agnosie) und 7. einer Farberkennensstörung (Farbagnosie). Beim Betroffensein der dominanten Hemisphäre und bei Ausbreitung weniger in okzipitaler als temporaler Richtung kommt es darüberhinaus zur Syndromerweiterung mit 8. Farbnamenamnesie, 9. Lesestörung (Dyslexie bzw. Alexie) und 10. Aphasie.

- abstrakten und konstruktiven Handeln, - Erkennen von Raumanordnungen und Raumgestalten, - Schreiben, - Lesen.

Angularis-Syndrom: Schreib- und Lesestörungen bei intakter innerer Sprache.

Gerstmann-Syndrom: Unter diesem Begriff wird folgende Kombination von Scheitellappenstörungen zusammengefaßt: - Rechts-links-Differenzierungsstörung, - Fingerdifferenzierungsstörung (Fingeragnosie), - Schreibstörung (Agraphie), - Rechenstörung (Akalkulie).

2.2.2.1.7 Okzipitalhirnsyndrome

Okzipitalhirnsyndrome

Da die okzipitale Rinde alleine im Dienste des Gesichtssinns steht, äußern sich Okzipitalhirnschädigungen ausschließlich in Gesichtsfeldausfällen, in Störungen der Optomotorik und in Störungen des Erkennens.

Okzipitalhirnschädigungen äußern sich in: - Gesichtsfeldausfällen, - Störungen der Optomotorik, - Störungen des Erkennens.

152 Formen zerebraler Gesichtsfeldausfälle - Einseitige, komplette Okzipitalhirnschädigungen —» homonyme Hemianopsie unter Aussparung des zentralen Sehens (negatives Skotom), -einseitige, partielle Okzipitalhirnschädigungen —» homonyme Quadrantenhemianopsien, -doppelseitige, komplette Okzipitalhirnschädigungen —» eine Rindenblindheit, -doppelseitige, inkomplette Okzipitalhirnschädigungen —» konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung („röhrenförmiges Gesichtsfeld").

Neurologische Syndrome Formen zerebraler Gesichtsfeldausfälle Das Okzipitalhirn einer Seite mit der zugehörigen Gratiolet-Sehstrahlung bildet jeweils die kontralaterale Gesichtsfeldhälfte ab. Daher führt: - die einseitige ausgedehnte Sehrindenschädigung ebenso wie die komplette Unterbrechung der Sehstrahlung einer Seite zum Ausfall der gesamten gegenseitigen Gesichtsfeldhälfte, zu einer kontralateralen homonymen Hemianopsie. - die Schädigung nur unterer Anteile der Sehrinde (Gyrus lingualis) lediglich zu einer kontralateralen Quadrantenhemianopsie nach oben bzw. die Schädigung, die auf obere Anteile, auf den Cuneus, beschränkt ist, zu einer kontralateralen Quadrantenhemianopsie nach unten. Dabei bleibt das zentrale Sehen insgesamt erhalten, weil die Macula auf die Sehrinde beider Okzipitallappen projiziert. Das hat zur Folge, daß der Gesichtsfeldausfall nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar wahrgenommen wird, z.B. erst durch Anstoßen an übersehenen Gegenständen, die sich im ausgefallenen Gesichtsfeldbezirk befinden (sog. negatives Skotom). Demgegenüber ist die Traktushemianopsie bei Schädigung des Tractus opticus daran zu erkennen, daß der Gesichtsfeldausfall auch das zentrale Sehen einschließt, daß das gesamte Gesichtsfeld sich halbiert darstellt und daß die ausgefallene Gesichtsfeldseite gleichsam durch einen grauen oder schwarzen Vorhang verdeckt erscheint (sog. positives Skotom). - die Zerstörung der Sehrinden beiderseits zu einer sog. Rindenblindheit. Dabei stellt sich die Umwelt nur noch nebel- und silhouettenhaft dar, besteht also praktisch Blindheit. Dessen ungeachtet ist aber keine Einbuße an optischem Vorstellungsvermögen vorhanden, ebensowenig wie bei peripherer Blindheit. Ist die doppelseitige Sehrindenschädigung inkomplett, ergibt sich nicht alleine eine entsprechende Sehminderung, sondern vielfach auch noch eine konzentrische, auf den zentralen Sehbereich beschränkte Gesichtsfeldeinengung, ein sog. „röhrenförmiges Gesichtsfeld".

Optomotorikstörungen Mögliche Folgen von Schädigungen parastriärer Sehrindenanteile: - Blickabweichung nach der Herdseite, - Blicklähmung für Führungsbewegungen nach der Herdgegenseite, - Aufhebung des optokinetischen Nystagmus in Richtung der Herdgegenseite; - optische Suchstörung, - Erkennensstörung für nicht mit einem Blick erfaßbarer, großer, kompliziert aufgebauter Gestalten, - Lesestörung (Dyslexie).

Erkennensstörungen treten auf, wenn die Sehrinde selbst erhalten, die benachbarten, das Gesehene auswertenden Bezirke im Okzipitalhirn Schaden nehmen. Bei Seelenblindheit (optischer Agnosie) kann die Störung des Erkennens generell oder auch nur partiell sein, sich auf das Erkennen bestimmter Qualitäten, Gegebenheiten, Symbole u. dgl. beschränken.

Optomotorikstörungen Die primäre Sehrinde (Area striata) u m r a h m e n streifenförmig die sekundären Sehrindenfelder (Area para- und peristriata). Diese stehen vermittels absteigender Bahnen in Verbindung mit den mesenzephalen und pontinen Blickzentren, über die durch Blickfixation Augenführungsbewegungen gesteuert werden. Schädigungen dieser Strukturen haben deshalb zur Folge: - eine Blickabweichung nach der Herdseite - eine Blicklähmung für Führungsbewegungen nach der Gegenseite, - eine Aufhebung des optokinetischen Nystagmus in der gleichen Richtung. Erschwert werden weiterhin - das optische Suchen und damit das Sich-Zurechtfinden im Außenraum, - das Erkennen großer und kompliziert aufgebauter Gestalten, die nicht mit einem Blick erfaßt werden können, sowie - das flüssige Lesen, da Zeilenanfänge nicht ohne weiteres gefunden werden und ein abgestuftes, reflektorisches, von der variierenden Länge der Wörter bestimmtes Weiterwandern des Blickes, nicht mehr möglich ist (Dyslexie). Erkennensstörungen Beim Erhaltensein der Sehrinde im engeren Sinn, jedoch der Zerstörung benachbarter okzipitaler Rindenteile und ihrer im Mark verlaufender Faserverbindungen kann zwar die Wahrnehmung einfacher optischer Gegebenheiten (z.B. Licht- und Farbempfindungen) erhalten sein, der Bedeutungsgehalt des Gesehenen aber nicht mehr erfaßt werden. Eine solche Störung des optischen Erkennens nennen wir Seelenblindheit oder optische Agnosie.

153

Zerebrale Syndrome 2.2.2.1.8 Temporalhirnsyndrome

Temporalhirnsyndrome

Da in der Heschl-Querwindung des Gyrus temporalis superior (s. A b b . 2 - 7 a ) die zentrale Hörbahn endigt, führen Reizzustände mit Krampffokusbildungen zu elementaren Gehörshalluzinationen und Läsionen dieser Gegend zu passageren kontralateraler Hörminderung. Weil unmittelbar dahinter sich die sensorische Sprachregion befindet äußern sich hier lokalisierte Schädigungen in sensorischer oder auch amnestischer Aphasie (s. S.000). Aufgrund der Tatsache, daß die mediobasale Rinde des Temporallappens (Area olfactoria, Gyrus subcallosus und Hippocampus, s. Abb. 2 - 7 b ) das Riechhim bildet, resultieren aus Reizzuständen mit Krampfentladungen Geruchshalluzinationen, sog. Unzinatusanfälle. Einseitige Läsionen dieser Areale verursachen dagegen keine Riechstörungen, weil die zentralen Riechbahnen auf die Riechzentren beider Seiten projizieren. Nachdem die hintere basale Temporallappenregion auch von der GratioletSehstrahlung durchzogen wird, und zwar lateral des Ventrikelunterhorns und medial des Ventrikelhinterhoms, können im Zusammenhang mit Reizzuständen auch optische Halluzinationen und mit Läsionen des tiefen Temporalmarks auch kontralaterale homonyme Hemianopsien auftreten. Der mediobasale Anteil des Temporallappens mit seinen über den Fornix zu den Corpora mamillaria ziehenden Verbindungen hat auch noch eine zentrale Bedeutung für mnestische Funktionen sowie für die Gestaltung von Stimmungen, Affekten und Trieben. So kommen bei Temporallappenschädigungen auch mnestische Störungen und depressiv-dysphorische und hypochondrische Verstimmungen zur Beobachtung.

Da das Temporalhirn die Hörbahn und die Hörrinde, die sensorische Sprachregion, die Riechbahn und das Riechhirn beherbergt, von der Sehstrahlung durchzogen wird und für mnestische Funktionen, Stimmungs-, Affekt- und Triebgestaltung maßgeblich ist, können in der Folge von Reizungen und Läsionen dieses Hirnteils folgende Symptome auftreten: - Gehörs-, Geruchs- und Gesichtshalluzinationen, - sensorisch und amnestisch aphasische Störungen, - kontralaterale homonyme Hemianopsien; - mnestische, affektive und Triebstörungen.

2.2.2.2 Balkensyndrom

Balkensyndrom

Über den Balken verlaufen die Mehrzahl aller komissuralen Bahnen. Auf diesen Wegen können Krampfentladungen in einer Hemisphäre auf die gegenseitige überspringen. Durch vordere und mittlere Balkenanteile ziehen auch die Bahnen, über welche das Praxiezentrum (Gyrus circumflexus, s. A b b . 2 - 7 a ) der dominanten Hemisphäre seine Direktiven an das untergeordnete Praxiezentrum der nichtdominanten Hemisphäre weitergibt. Infolge einer vom Gesunden abweichenden Hirnorganisation bleibt trotzdem ein angeborener isolierter Balkenmangel zumeist symptomatologisch stumm. Prozesse oder operative Eingriffe, durch die vordere und mittlere Balkenanteile zerstört werden, ziehen dagegen erwartungsgemäß eine isolierte Störung des Handelns mit der linken Hand, eine sog. Dyspraxie der linken Hand nach sich (s. 3.7).

Der Balken wird von komissuralen Bahnen gebildet. Vermittels dieser Bahnen - können Krampferregungen von einer auf die andere Hemisphäre überspringen, sich fokale Anfälle generalisieren, - sendet das Praxiezentrum der dominanten Hemisphäre seine Direktiven an das Praxiezentrum der nicht-dominanten Hemisphäre, so daß sich aus deren Unterbrechung eine isolierte Dyspraxie der linken Hand ergeben kann

2.2.2.3 Thalamussyndrom

Thalamussyndrom

Im Zwischenhirn (Dienzephalon) stellt der Thalamus die größte Kernmasse dar. Sie dient nicht nur als Umschaltstelle für alle aufsteigenden und absteigenden sensiblen, sensorischen, vestibulären, zerebellären und extrapyramidalen Bahnsysteme, sondern vor allem auch als Koordinations- und Integrationszentrum für die Verarbeitung entero- und exterozeptiver Reize; er fundiert diese vegetativ und gibt ihnen ihre affektive Färbung sowie der gesamten Motorik ihre individuelle Note.

Der Thalamus fungiert als Umschaltstelle aller auf- und absteigenden Bahnen des Kortex. Vom Thalamus werden alle entero- und exterozeptiven Reize verarbeitet, - koordiniert und integriert, - vegetativ und affektiv fundiert und - das gesamte motorische Gehabe mitgeprägt.

Im Rahmen des Thalamussyndroms können daher folgende Symptome an der kontralateralen Körperseite in wechselnder Häufigkeit und wechselnder Kombination auftreten:

Neurologische Syndrome

154 Obligate Symptome des Thalamussyndroms - Besonders quälende ich-nahe Schmerzen, - erhebliche Störungen der Tiefensensibilität, - anfangs massive, später eher geringe Störungen der Oberflächensensibilität verbunden mit Dysästhesien und Hyperpathie. Fakultative Symptome - Geschmackstörung, - kontralaterale Halbseitenstörung, - kontralaterale homonyme Hemianopsie, - homolaterales Horner-Syndrom, - homolaterale Gliedmaßenataxie, - kontralateraler Tremor oder Hyperkinese, - Ausbildung einer „Thalamushand".

1. Besonders quälende, ich-nahe Dauerschmerzen, die durch sensible und sensorische Reize und psychische Einflüsse intensiviert und durch Schmerzmittel nicht gemindert werden können. 2. Erhebliche Störung der Tiefensensibilität mit taktiler Anästhesie an der Hand, jedoch mit meist nur geringer lokomotorischer Ataxie. 3. Störung der Oberflächensensibilität, anfangs von massiver, später eher geringer Intensität, jedoch verbunden mit unangenehmen Dysästhesien und quälender Hyperpathie. 4. Hinzukommen gelegentlich Geschmacksstörungen (bei Schädigung des thalamisch-gustatorischen Zentrums im Nucleus ventralis caudalis internus). 5. Hemiparetische Störungen, meist nur leicht und passager (durch Mitschädigung der angrenzend vorbeilaufenden Pyramidenbahnen). 6. Kontralaterale homonyme Hemianopsie (bei Schädigung des Pulvinar und des Corpus geniculatum laterale). 7. Homolaterales Horner-Syndrom (durch Mitschädigung des Hypothalamus). 8. Passagere Schwerhörigkeit (durch Mitschädigung des Corpus geniculatum mediale). 9. Ausgeprägte homolaterale zerebelläre Gliedataxie (bei Mitschädigung der Bindearme). 10. Tremor (bei Mitschädigung rubro-thalamischer Bahnen). 11. Choreo-athetotische Hyperkinesen (bei Läsion strio-thalamischer Bahnen). 12. Ausbildung einer Thalamushand, charakterisiert durch Pronationsstellung des Unterarms, Beugung im Handgelenk und in den Fingergrundgelenken und Streckung der Finger in den Mittel- und Endgelenken. Dafür wird gleichfalls eine Schädigung thalamostriärer Verbindungsbahnen verantwortlich gemacht.

Extrapyramidale Syndrome

2.2.3 Extrapyramidale Syndrome

Das extrapyramidale System steuert: - den Tonus der quergestreiften Muskulatur, - alle unwillkürlichen Bewegungsabläufe (Ausdrucks-, Reaktiv- und Mitbewegungen), - alle erlernten, automatisiert ablaufenden Handlungen (wie Radfahren, Schwimmen, Schreiben). Im polar strukturierten extrapyramidalen System stehen sich gegenüber: - ein alter „paläostriärer" Systemanteil und - ein jüngerer „neostriärer" Systemanteil.

Die Abtrennung eines pyramidalen, vornehmlich der Willkürmotorik dienenden Systems, von einem extrapyramidalen System, das alle unwillkürlichen Bewegungsabläufe wie Ausdrucks-, Reaktiv- und Mitbewegungen sowie alle erlernten und danach automatisiert ablaufenden Handlungen und dazu auch noch den Tonus der quergestreiften Muskulatur steuert, ist nur mit Einschränkung erlaubt, da beide Systemanteile vielfältig durch Regelkreise miteinander verbunden sind und Einfluß aufeinander nehmen. Der extrapyramidale Systemanteil seinerseits ist polarstrukturiert; hier stehen einer alten „paläostriären" Kerngruppe, zu der das äußere und innere Pallidumglied, die Substantia nigra und der Nucleus subthalamicus gehören, eine phylogenetisch jüngere „neostriäre" Kerngruppe gegenüber, die aus dem Putamen und dem Nucleus caudatus besteht. Alle diese Kerne sind durch mehrere über- und nebeneinander geschaltete Rückkoppelungskreise miteinander verbunden. Auf diesen Wegen üben sie teils hemmende, teils fördernde Einflüsse aufeinander aus und korrigieren sich wechselseitig. Das paläostriäre System übt dabei:

Das Paläostriatum (Äußeres und inneres Pallidumglied, Substantia nigra und Nucleus subthalamicus) - hemmt (mindert) den Muskeltonus und - fördert (steigert) die gesamte motorische Produktivität. Das Neostriatum (Putamen und Nucleus caudatus) - fördert (steigert) den Muskeltonus und - hemmt (reduziert) die gesamte motorische Produktivität Wir unterscheiden: - hyperton-hypokinetisches Syndrom und - hypoton-hyperkinetisches Syndrom.

- auf den Tonus einen hemmenden, - auf die Spontanmotorik und Ausdrucks-, Reaktiv- und Mitbewegungen eine fördernde Wirkung aus. Dem gegenüber haben das Neostriatum - auf den Tonus einen fördernden und - auf die Spontanmotorik einen h e m m e n d e n Einfluß. So kommt es, daß einem hyperton-hypokinetischen Syndrom bei Schädi-

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Zerebrale Syndrome gung des Paläostriatums ein hypoton-hyperkinetisches Syndrom bei Schädigung des Neostriatums gegenübergestellt werden kann.

2.2.3.1 Hyperton-hypokinetisches Syndrom Das hyperton-hypokinetische Syndrom, auch Parkinson-Syndrom genannt, ist charakterisiert durch: - einen erhöhten Spannungszustand der Muskulatur (Rigor), der, da er Agonisten und Antagonisten gleichmäßig betrifft, bei passiven Bewegungen auch als „wachsender Widerstand" imponiert, vielfach verbunden mit der Eigentümlichkeit eines „Sakkadierens" oder „Zahnradphänomens", - eine Hypo- bzw. Akinese, eine Einbuße an motorischer Produktivität, an Mitbewegungen, Ausdrucksbewegungen und Reaktivbewegungen, eine verzögerte Start- und Bremsfähigkeit (Pro-, Retro- und Anteropulsion), eine Verlangsamung aller Bewegungsabläufe (Bradykinese), einer Verringerung aller Bewegungsausschläge, woraus kleinschrittiger trippelnder Gang, Mikrographie und leise monotone Sprache resultieren. Nicht obligat aber häufig sind weiterhin: - ein Ruhe- und Haltetremor einer Frequenz von 4-7-Schlägen/min, der durch psychische Spannung und Erregung verstärkt und durch Willkürinnervation gemindert wird und sich am Kopf (Ja- oder Nein-Tremor), am Unterkiefer (Kinntremor), an der Zunge (Zungentremor) und besonders oft an den Extremitäten, vornehmlich an den Fingern und Händen (Pillendrehtremor) etabliert. - Vegetative Störungen im Sinne einer parasympathikotonen Abweichung, vermehrter Speichelfluß (Hypersalivation), verstärkte Schweißbildung (Hyperhidrose) und Talgsekretion besonders im Gesicht (Salbengesicht), Hypermotilität im Magen-Darm-Trakt und was die Herz- und Kreislaufeinstellung betrifft, Bradykardie und Hypotonie. - Auf psychischem Gebiet ebenfalls eine Aspontaneität, geminderte Regsamkeit, Entschlußkraft und Reaktionsfähigkeit und eine allgemeine Verlangsamung (Bradyphrenie) und geminderte affektive Ansprechbarkeit.

Hyperton-hypokinetisches bzw. ParkinsonSyndrom - Erhöhter Muskeltonus (Rigor), - geminderte Spontan-, Ausdrucks-, Reaktiv- und Mitbewegungen, - Verlangsamung aller Bewegungsabläufe (Bradykinese), - Verkleinerung aller Bewegungsausschläge, - Ruhe- und Haltetremor an Kopf, Kinn, Zunge und Extremitäten, - vegetative Störungen (Überwiegen cholinerger Wirkkräfte), - psychische Veränderungen (Aspontanietät, Bradyphrenie, geminderte affektive Ansprechbarkeit).

2.2.3.2 Hypoton-hyperkinetisches Syndrom

Hypoton-hyperkinetisches Syndrom

Im Gegensatz zum Parkinson-Syndrom besteht hierbei: 1. ein geminderter Muskeltonus, eine Muskelhypotonie und 2. ein Bewegungsüberschuß bzw. eine Bewegungsunruhe recht unterschiedlichen Aussehens und zwar von choreatischer, athetotischer, torsionsdystonischer, ballistischer oder auch myoklonischer Prägung (s. Kap. 7)

Charakteristika: - Herabgesetzter Muskeltonus; - Überschuß an Bewegungen unterschiedlicher Ausprägung (choreatische, athetotische, torsionsdystonische, ballistische und myoklonische Hyperkinesien).

2.2.4 Kleinhirnsyndrome

Kleinhirnsyndrome

Das Kleinhirnsystem setzt sich aus 3 Partialsystemen zusammen, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Der phylogenetisch älteste Systemanteil, das Archicerebellum bzw. der Lobus flocculo-nodularis des Kleinhirnwurms verarbeitet alle Meldungen aus dem Vestibularapparat im Dienste der Gleichgewichtserhaltung. Das Paläocerebellum bzw. der Lobus anterior des Kleinhirnwurms erhält seine Meldungen aus dem Bewegungsapparat, womit er alle Bewegungsaufgaben, an denen beide Körperhälften beteiligt sind, erfüllt. Außerdem hat er stimulierende Einflüsse auf den gesamten Muskeltonus. Das Neocerebellum bzw. die beiden Kleinhirnhemisphären haben koordinative Aufgaben bei allen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen jeweils der gleichseitigen Gliedmaßen, fördern deren Muskeltonus und stellen außerdem Richtungszentren dar, d. h. jede der Kleinhirnhemisphären sorgt

Der Lobus flocculo-nodularis dient der Gleichgewichtserhaltung. Der Lobus anterior - koordiniert alle Bewegungsabläufe, an denen beide Körperseiten beteiligt sind (wie beim Sitzen, Stehen, Gehen), und - stimuliert den gesamten Muskeltonus. Die beiden Kleinhirnhemisphären - koordinieren jeweils die Bewegungsabläufe der gleichseitigen Gliedmaßen, - fördern jeweils den Tonus der gleichseitigen Glied maßenmuskeln.

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Neurologische Syndrome für eine Schubwirkung zur Gegenseite, die sich normalerweise die Waage halten. Damit garantieren sie die Fähigkeit, auch bei geschlossenen Augen, die Richtung geradeaus einzuhalten.

Kleinhirnwurmsyndrome - Rumpf-, Stand- und Gangataxie mit Dysmetrie und Falltendenz, dabei keine Gliedataxie; - allgemeine Muskelhypotonie; - inkonstant Nystagmus (grobschlägig, unbeeinflußt von Kopfhaltung, begleitendes Schwindelgefühl lädt bei Augenschluß nach).

Kleinhirnhemisphärensyndrome - Herdseitige Gliedataxie, Dysmetrie und Asynergie, oft verbunden mit Intentionstremor oder Intentionswackeln; - Muskelhypotonie an den herdseitigen Gliedmaßen; - Richtungsabweichen und Falltendenz nach der Herdseite; - Vorbeizeigen mit herdseitiger Hand nach der Herdseite beim Barany-Zeigeversuch; - reduzierte Bremsfunktion an herdseitigen Gliedmaßen; - Störung des Gewichtschätzens an der herdseitigen Hand.

2.2.4.1 Kleinhirnwurmsyndrom Erfährt der Kleinhirnwurm eine Schädigung, dann steht eine „Rumpfataxie" im Vordergrund, eine Unsicherheit beim Stehen (Standataxie) und Gehen (Gangataxie), was sich in einem torkeligen, breitbeinigen Gang und in einer wechselhaften Schrittfolge und Schrittlänge (Dysmetrie), manchmal kombiniert mit einer „Falltendenz" nach hinten oder nach vorn kundtut. Gliedmaßenzielbewegungen und die Ausführung von Bewegungsfolgen sind dabei meist noch gut möglich. - Mehr oder weniger herabgesetzt ist aber der Tonus der Muskulatur beider Körperseiten (generelle Hypotonie), weil die tonusstimulierenden Effekte des Kleinhirns ausgefallen sind. - Schließlich und endlich kann bei Wurmschädigungen bzw. Schädigungen der zugehörigen Bahnen auch Nystagmus auftreten. Die Abgrenzung von peripherem und hirnstammbedingtem vestibulärem Nystagmus ist im allgemeinen nur unter Hinzuziehung von Provokationsmaßnahmen möglich. Als Regel kann gelten, daß - der Kleinhirnnystagmus grobschlägig ist, - durch Änderung der Kopfhaltung unbeeinflußt bleibt und - das subjektiv dabei vorhandene Schwindelgefühl bei Augenschluß nachläßt.

2.2.4.2 Kleinhirnhemisphärensyndrom Bei Kleinhirnhemisphärenschädigungen stehen im Vordergrund - eine Gliedataxie und Gliedasynergie an den ipsilateralen Gliedmaßen. Besonders Zielbewegungen werden ataktisch ausgeführt (Intentionstremor bzw. Intentionswackeln). Die Bewegungsausschläge werden dabei entweder zu weit (Hypermetrie) oder zu kurz (Hypometrie) bemessen. Bewegungsfolgen werden ungeschickt und verlangsamt ausgeführt (Adiadochokinese), es wird ungleichmäßig, mit wechselndem Federdruck, meist übergroß und ausfahrend geschrieben und abgehackt, mit wechselndem Tempo und ungleichmäßiger Lautstärke „skandierend gesprochen"; - eine Muskelhypotonie an den ipsilateralen Gliedmaßen; - im Zusammenhang mit einer Schädigung des Richtungszentrums einer Seite und damit dem Überwiegen des anderen kommt es zu einem Richtungsabweichen nach der Herdseite, einer Falltendenz beim Stehen, einer Drehtendenz beim Treten (Unterberger-Tretversuch), einem Gangabweichen, besonders bei geschlossenen Augen, nach der Herdseite und zum Vorbeizeigen beim Barany-Zeigeversuch bei vertikaler Handbewegung mit der herdseitigen Hand nach der Seite des Herdes; - außerdem läßt sich an den herdseitigen Gliedmaßen eine reduzierte Bremsfunktion und eine Störung beim Gewichtabschätzen nachweisen.

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Zerebrale Syndrome

2.2.5 Schädelbasissyndrome

Schädelbasissyndrome

Die Hirnnerven nehmen auf ihrem Weg entlang der Hirnbasis und durch deren verschiedene Foramina ihren Weg zu den jeweiligen Sinnes- und Erfolgsorganen. Sie stehen dabei in regelhafter lokaler Beziehung zueinander und zu bestimmten Hirn- und Schädelbasisstrukturen mit dem Ergebnis, daß bei einer ganzen Reihe von Prozeßlokalisationen recht charakteristische Symptomkombinationen zustande kommen.

Aus der regelhaften Beziehung der Hirnnerven zueinander und dieser zu bestimmten Hirn- und Schädelbasisstrukturen ergibt sich eine Reihe charakteristischer Schädelbasissyndrome.

2.2.5.1 Syndrom der Olfaktoriusrinne

Syndrom der Olfaktoriusrinne

Im Bereich der Olfaktoriusrinne (Abb. 2 - 1 0 ) entwickeln sich mit Vorliebe Meningeome, aber auch entzündliche Prozesse und Abszesse besonders im Zusammenhang mit offenen Frakturen der vorderen Schädelgrube können zu Olfaktorius-Syndromen Anlaß geben. Sie beginnen in der Regel mit Stirnkopfschmerzen, dazu treten bald Riechstörungen durch die Beeinträchtigung der Bulbi olfactorii (Hypo- bzw. Anosmien). Wenn zusätzlich die Nn. optici in Mitleidenschaft gezogen werden, kommt es zur Visusreduktion bzw. Amaurose durch Optikusatrophie sowie manchmal, wenn sich ein erhöhter Hirndruck entwickelt auch noch zu einer Stauungspapille an der Gegenseite, zu einem sog. Foster-Kennedy-Syndrom (s. unten). Nimmt der Prozeß mit der Zeit an Umfang zu, dann bildet sich durch zunehmende Verdrängung, Verlagerung und Druckschädigung der Orbitalen Stirnhirnanteile ein Orbitalhirnsyndrom (s. S. 144) heraus. Weitet sich der Prozeß in Richtung der Sellagrube aus, dann können daraus auch bitemporale und homonyme Hemianopsien und hypophysäre Insuffizienzerscheinungen wie Adipositas, Anorexie, Amenorrhoe, Impotenz und Diabetes mellitus resultieren.

Häufigste Ursachen: - Meningeome der Olfaktoriusrinne, - vom Nasen-Rachenraum aufgestiegene Entzündungen mit Abszeßbildung bei offenen frontalen Schädelbasisfrakturen. Klinische Symptomatik: - Stirnkopfschmerzen, - Riechstörungen, in fortgeschrittenen Stadien evtl. - Visusstörungen durch Optikusschädigung, - Hirndruck mit kontralateraler StP (FosterKennedy-Syndrom), - homonyme oder auch bitemporale Hemianopsien, - Ausbildung eines Orbitalhirnsyndroms - Ausbildung hypophysär-dienzephaler Insuffizienzerscheinungen.

2.2.5.2 Foster-Kennedy-Syndrom

Foster-Kennedy-Syndrom

Prozesse unterschiedlicher Art am Übergang der vorderen zur mittleren Schädelgrube und in der Nachbarschaft des Canalis opticus (s. Abb. 2 - 1 0 ) schädigen als erstes den gleichsinnigen Sehnerv, d. h. bewirken eine fortschreitende Optikusatrophie mit dementsprechender Visusminderung, ja Amaurose. Schreitet der Prozeß nun fort und vergrößert er sich derart, daß eine Hirndrucksteigerung herbeigeführt wird, dann entwickelt sich zusätzlich auf dem zum Prozeß gegenseitigen Auge eine Stauungspapille. Das erstmals von Foster-Kennedy beschriebene und nach diesem Autor benannte Syndrom bedeutet also, daß eine Kombination einer Optikusatrophie auf der einen mit einer Stauungspapille auf der anderen Seite vorhanden ist.

Häufigste Ursache: Raumfordernde Prozesse in der Nachbarschaft des Canalis opticus.

2.2.5.3 Keilbeinflügelsyndrome

Keilbeinflügelsyndrome Häufigste Ursache: Keilbeinflügelmeningeome. Nach der Lokalisation unterscheidet man: - ein mediales Keilbeinflügelsyndrom und - ein laterales Keilbeinflügelsyndrom.

Meningeome entwickeln sich häufig auch an den Keilbeinflügeln (s. Abb. 2-10). Da sich die Symptomatik bei medialer und lateraler Lokalisation unterscheidet und da sie den Operateur vor unterschiedliche Probleme stellt, ist es berechtigt, ein sog. mediales von einem lateralen Keilbeinflügelsyndrom abzugrenzen. Mediales Keilbeinflügelsyndrom Häufigstes Frühsymptom bei medialer Lokalisation stellt neben anhaltenden Kopfschmerzen eine Sehstörung auf Grund einer Stauungspapille oder einer Optikusatrophie dar. Dazu gesellt sich mit der Zeit durch Vordrängen des gleichseitigen Bulbus ein nicht-pulsierender Exophthalmus und manchmal durch Druckschädigung des Tractus opticus auch noch eine homonyme Tractushemianopsie für das kontralaterale Gesichtsfeld.

Klinische Symptomatik: - initial Visusminderung am homolateralen Auge durch Optikusatrophie, - später Visusminderung auch am kontralateralen Auge durch Stauungspapille.

Klinische Symptomatik bei medialer Lokalisation : - Kopfschmerzen, - Visusminderung am ipsilateralen Auge infolge einer Stauungspapille oder Optikusatrophie, - Ausbildung eines nicht-pulsierenden Exophthalmus am ipsilateralen Auge, - Entwicklung einer homonymen TraktusHemianopsie für das kontralaterale Gesichtsfeld.

158

Neurologische Syndrome Siebbeinpilatte: Nn olfactorii (Nn.I) u. Bulbus olfactorius Canalis opticus: N.opticus (Ν.Π) u A. ophthalmica Fissura orbitalis superior Nn.ΠΙ,IV,V/1,VI u. V. ophthalmica und Verbindungsast. von A. meningea zur A. lacrimalis Kleiner Keilbeinflügel lateral medial Großer Keilbeinflügel

vordere Tractus opticus Chiasma

Foramen rotundum: N.maxillarisY/2 Foramen ovale: N.mandibularisV/3

Clivus

mittlere

Foramen Spinae: — R. meningicus n. mandibulars Canalis caroticus: A. carotis interna mit ihrem sympath. Geflecht Meatus acusticus internus Nn.Vn ,VHI u. A. u.V. labyrinthi Foramen jugulare Nn.JX.X.XIu. Sinus sigmoideus

hintere Schädelgrube

Canalis n. hypoglossi: N.XII Foramen occipitale magnum: Medulla spinalis, Radix spinalis η. accessorius u. Aa.vertebrales, spinalis anteriores et posteriores Klinische Symptomatik bei lateraler Lokalisa tion: - Kopfschmerzen, - Visusminderung am ipsilateralen Auge infolge einer Stauungspapille oder Optikusatrophie, - Ausbildung eines nichtpulsierenden Exophthalmus am ipsilateralen Auge, - zusätzliche knöcherne Verdickung und Vorwölbung der ipsilateralen Schläfenpartie, - Druckschädigungszeichen an den Nervi oculomotorius, trochlearis, opthalmicus und abducens.

Laterales Keilbeinflügelsyndrom Auch die laterale Lokalisation leitet Kopfschmerzen und gleichseitige Sehstörungen infolge Stauungspapille oder Optikusatrophie ein. Neben dem gleichfalls gleichseitigen, nicht-pulsierenden Exophthalmus läßt sich zumeist noch eine verdickte, vorgewölbte Schläfenpartie erkennen und nicht selten erleiden mit der Zeit auch die lateral durch die Fissura-orbitalis-superior hindurchziehenden Hirnnerven III, IV, V/1 und VI, also die Nn. oculomotorius, trochlearis, ophthalmicus und abducens eine Druckschädigung.

Chiasmasyndrom

2.2.5.4 Chiasmasyndrom

Häufigste Ursachen sind: - Hypophysentumoren, - Kraniopharyngeome, - Tuberculum-sellae-Meningeome.

Häufigste Ursache von Chiasmasyndromen (s. Abb. 2 - 1 0 ) sind intra-, paraund supraselläre Tumoren, besonders Hypophysenadenome, Kraniopharyngeome und Tuberculum-sellae-Meningeome. Im Vordergrund der klinischen Symptomatik steht dabei die heteronyme bitemporale Hemianopsie, auch Scheuklappenhemianopsie genannt. Dazu treten früher oder später noch Symptome der hypophysären Insuffizienz wie Adipositas oder Anorexie, Zwergwuchs oder Dystrophia adiposogenitalis, Pubertas praecox, Feminismus oder Virilismus, Amenorrhoe, Libidoverlust und Impotenz und manchmal auch Akromegalie oder Diabetes insipidus. Röntgenologisch lassen sich unterschiedliche Erweiterungen der Sella, Entkalkungen oder Zerstörungen an den Klinoidfortsätzen und am Clivus und bei Kraniopharyngeomen oft schalenartige Verkalkungsfiguren nachweisen.

Klinische Symptomatik: - einleitend heteronyme bitemporale Hemianopsie, - nachfolgend Symptome der hypophysärdienzephalen Insuffizienz, - röntgenologische Veränderungen: - Erweiterung der Sellagrube, - Entkalkung und Zerstörung von Klinoidfortsätzen und am Clivus, - schalenartige Verkalkungsfiguren bei Kraniopheryngeomen.

Abb. 2-10 Hirnnerven in ihrer Lagebeziehung zur Schädelbasis und zu den Foramina der vorderen, mittleren und hinteren Schädelgrube

Zerebrale Syndrome

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2.2.5.5 Klivuskantensyndrom

Klivuskantensyndrom

Die Nachbarschaftsbeziehung des N. oculomotorius zum Clivus (s. Abb. 2 - 1 0 ) zur A. cerebri posterior und zum Ramus communicans posterior bringt es mit sich, daß der 3 . H i m n e r v bei Schwellungszuständen, Tumoren oder Blutungen in supratentoriellen, besonders temporalen Hirnteilen sowie bei supraklinoidal gelegenen Aneurysmen durch Druck gegen den Clivus oder durch Dehnung in diesem Verlaufsabschnitt lädiert wird. Auf diesem Wege kommt es zu flüchtigen oder bleibenden partiellen oder kompletten Okulomotoriuslähmungen, also zu Ptosis, Mydriasis und absoluter Pupillenstarre oder auch zur Lähmung aller übrigen vom Nervus oculomotorius versorgten äußeren Augenmuskeln und auch zu einer Störung im gleichseitigen Ophthalmikusversorgungsbereich. Die benachbart vorbeiziehenden Nervi trochlearis und abducens nehmen in diesem Zusammenhang keinen Schaden (im Unterschied zum Sinus-cavernosus-Syndrom; s. S. 000), weil diese beiden Hirnnerven durch das Tentorium von jeder Druck- und Zerrungsschädigung bewahrt werden. Größere vom Klivus und seiner Umgebung ausgehende raumfordernde Prozesse können mit der Zeit nicht nur den gleichseitigen Tractus opticus und den gleichseitigen Hirnschenkel erreichen und tangieren und damit eine Traktushemianopsie für das kontralaterale Gesichtsfeld und eine kontralaterale Hemiparese herbeiführen, sondern durch Massenverschiebung und Druck des Tentoriumrandes auf den kontralateralen Hirnschenkel auch noch eine ipsilaterale Hemiparese einschließlich einer supranukleären Hypoglossusparese; dies deshalb, weil sich die pyramidalen Hypoglossusfasern ganz an der Oberfläche des Hirnschenkels befinden (s. Abb. 2-12).

Häufigste Ursachen: - Tumoren und Blutungen im Temporallappen, - supraklinoidale Aneurysmen, besonders am Ramus communicans posterior und an der Arteria cerebri posterior.

2.2.5.6 Fissura-orbitalis-superior-Syndrom

Fissura-orbitalis-superior-Syndrom

Durch die vom kleinen und großen Keilbeinflügel gebildete Fissura orbitalis superior (s. Abb. 2-10 u. 2-11) ziehen die Himnerven III, IV, V/1 und VI. Unmittelbar benachbart, nur von einer dünnen Knochenlamelle getrennt, befindet sich der Canalis opticus, durch den der Nervus opticus in die Orbita eintritt. Häufigste Ursache für ein Fissura-orbitalis-superior-Syndrom sind Geschwülste, die vom kleinen oder großen Keilbeinknochen und deren Meningen ausgehen. Seltener sind dafür Hypophysentumoren und Neurinome an den Augenmuskelnerven verantwortlich oder aber Frakturen der Orbitaspitze sowie Entzündungen, die von benachbarten Gewebsstrukturen, insbesondere von den Nebenhöhlen auf den Bereich der Fissur übergreifen. In letzteren Fällen bleibt oft auch der Nervus opticus nicht verschont, nämlich dann, wenn die schützende Knochenlamelle zerstört wird. (Dieses Syndrom wird auch als Syndrom der Orbitaspitze bezeichnet.) Krankheitsprozesse in der Fissur sind deshalb charakterisiert durch retroorbitalen Schmerz, Lähmung der inneren und äußeren Augenmuskeln und Reiz- bzw. Ausfallserscheinungen im Versorgungsbereich des Nervus ophthalmicus (Parästhesien bzw. Hypo- bis Anästhesien). Die Lähmung der gesamten äußeren Augenmuskeln bewirkt ihrerseits eine Protrusio bulbi; der vorstehende Augapfel läßt sich dabei mit der Fingerkuppe, im Unterschied zu einer Protrusio im Zusammenhang mit einer retroorbitalen Raumforderung, leicht zurückdrängen.

Häufigste Ursachen: - raumfordernde Prozesse im Fissurbereich, - Frakturen der Orbitaspitze, - Entzündungen des Orbitaspitzenbereichs.

Klinische Symptomatik: - frühzeitig Auftreten von Ptosis, Mydriasis und absoluter Pupillenstarre als Zeichen der partiellen Okulomotoriusschädigung, - früher oder später komplette Okulomotoriuslähmung, - Verlust des Kornealreflexes, evtl. auch sensible Störung im Ophthalmikusversorgungsbereich, in späteren Stadien evtl. - Traktushemianopsie für das kontralaterale Gesichtsfeld, - kontralaterale Hemiparese durch Druck auf den psilateralen Hirnschenkel, - zusätzlich evtl. ipsilaterale Hemiparese durch Anpressen des kontralateralen Hirnschenkels gegen den Tentoriumrand.

Klinische Symptomatik: - retroorbitaler Schmerz, - Paresen der von den Nn. oculomotorius, trochlearis und abducens versorgten Augenmuskeln, - Reiz und Ausfallserscheinungen im Opthalmikusversorgungsbereich, - digital zurückdrängbare Protrusio bulbi.

2.2.5.7 G r a d e n i g O S y n d r O m

Gradenigo-bzw. Felsenbeinspitzensyndrom

Im Bereich der Felsenbeinspitze liegen der Nervus abducens und das Ganglion Gasseri bzw. der Nervus ophthalmicus unmittelbar benachbart (s. Abb. 2-10). Deshalb werden diese beiden Nerven bei Krankheitsprozessen

Häufigste Ursachen: Otitiden und Mastoiditiden.

Neurologische S y n d r o m e

160 Klinische Symptomatik: - ipsilaterale Abduzensparese; - Ophthalmikusneuralgie, bei Fortschreiten des Prozesses Hinzutreten von - neuralgischen Schmerzen im Maxillarisund Mandibularisbereich, - trophischen Störungen im Trigeminusversorgungsbereich, - komplette Okulomotorius, Trochlearisund Abduzenslähmungen (totale Ophthalmoplegie).

hier regelmäßig gemeinsam lädiert. So spricht man in diesen Fällen auch von einem Felsenbeinspitzensyndrom. Dabei handelt es sich überwiegend um Otitiden und Masteoiditiden. Symptomatologisch kombinieren sich beim Gradenigosyndrom dementsprechend eine ipsilaterale Abduzensparese mit neuralgischen Schmerzen primär im Ophthalmikusversorgungsbereich, später ev. auch im Maxillarisund Mandibularisbereich. Mit der Zeit können sich hier an der Hornhaut und an den Schleimhäuten der Nase und des Mundes auch noch trophische Störungen und Nekrosen einstellen. Mit der Ausbreitung der lokalen Meningitis und Abszeßbildung entwickelt sich schließlich nicht nur eine komplette interne und externe, sondern totale Ophthalmoplegie mit Mydriasis, absoluter Pupillenstarre und Akkomodationslähmung, verbunden mit einer Ptosis und einer totalen Bewegungslosigkeit des Augapfels.

Sinus-cavernosus-Syndrom

2.2.5.8

Häufigste Ursache: - blande und septische Sinusthrombosen.

Vor dem Durchtritt durch die Fissura orbitalis superior durchziehen die Nervi oculomotorius, trochlearis, abducens und ophthalmicus den Sinus cavernosus (Abb. 2-11). Die genannten Hirnnerven werden deshalb bei blanden und septischen Sinus-cavernosus-Thrombosen regelhaft gemeinsam alteriert. Beim Sinus-cavernosus-Syndrom kommt es in Verbindung mit gleichseitigen Orbita- und Schläfenschmerzen, entzündlich-livider Verfärbung und Schwellung der Stirn-, Schläfen- und Augenpartie, Lidödem, konjunktivaler und ziliarer Injektion sowie einer Protrusio bulbi progressiv zur Entwicklung einer kompletten und totalen Ophthalmoplegie und zu paraesthetischen Mißempfindungen und Sensibilitätsausfällen im Ophthalmikusversorgungsbereich. Gelegentlich bezieht die Alteration den Nervus maxillaris ein, obwohl er nicht direkt durch den Sinus cavernosus hindurchzieht, jedoch diesem und dem Sinus petrosus superior unmittelbar anliegt. Durch Übergreifen der Thrombose auf die Vena centralis kann schließlich auch der Nervus opticus Schaden nehmen und auf dem Wege über den Si-

Klinische Symptomatik: - gleichseitige Orbita- und Schläfenschmerzen, - entzündliche Verfärbung und Schwellung der Stirn- und Schläfenpartie, - Lidödem, konjunktivale und ziliare Injektion, - Protrusio bulbi, - fortschreitende Okulomotorius-, Trochlea ris- und Abduzenslähmung, schließlich komplette und totale Ophthalmoplegie, - sensible Reiz- und Ausfallserscheinungen im Ophthalmikusversorgungsbereich, mögliche Syndromausweitungen: - Alterationserscheinungen des Nervus maxillaris, - Optikusschädigung durch Thrombose der Vena centralis, - Übergreifen der Thrombose auf die Gegenseite.

Sinus-cavernosus-Syndrom

N.opticus

A. carotis interna

oculomotorius trochlearis

A. ophthalmica

abducens

V. ophthalmica N.opticus

ophthalmicus—^ anglion semilunare

Plexus caroticus N. maxillaris

.mandibulars—·' A Sinus cavernosus

Hypophyse

Β Fissura orbitalis superior C

Orbitaspitze

trochlearis

D Processus clinöideus anterior

N. abducens

Ε Processus clinöideus posterior Sinus 1

N. frontalis

|

2

N. lacrimalis

>N. ophthalmicus

3

N.nasociliarisJ

oculomotorius carotis interna

ophthalmicus maxillaris mater

Abb. 2-11 Fissura orbitalis superior und Orbitaspitzenregion mit Nn. oculomotorius, trochlearis, abducens, Ganglion Gasseri, Nn. ophthalmicus, maxillaris, mandibularis, Sinus cavernosus sowie Arteria und Vena ophthalmica im schrägsagittalen Längsschnitt (a) und Frontalschnitt (b)

Zerebrale Syndrome

161

nus intercavernosus auch der gegenseitige Sinus cavernosus einbezogen werden.

2.2.5.9 Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom

Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom

Den Winkel zwischen Kleinhirn und Brücke durchziehen die Nervi statoacusticus, facialis und der aus dem Ganglion Gasseri hervorgehende Nervus ophthalmicus. Hier im Brückenwinkel entwickeln sich in besonderer Häufigkeit Akustikusneurinome. Viel seltener sind Meningeome und Cholesteatome und entzündliche Prozesse, die überwiegend vom Felsenbein ihren Ausgang nehmen. Das Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom setzt frühzeitig mit einer gleichseitigen Hörminderung und einem Hinterhauptsschmerz ein. Der fortschreitende Hörverlust wird oft von Ohrgeräuschen, unsystematischem Schwindel und Gleichgewichtsstörungen begleitet. Bei der Untersuchung findet sich zumeist ein spontaner Blickrichtungsnystagmus, der typischerweise beim Blick zur Tumorseite grobschlägiger und intensiver wird und beim Wegblikken feinschlägiger und geringer. Außerdem ergibt sich nicht selten ein richtungswechselnder Lagenystagmus und bei rotatorischer Prüfung ein Richtungsüberwiegen des Nystagmus nach einer Seite. Durch Alteration des Ganglion Gasseri bzw. des Nervus ophthalmicus schwächt sich frühzeitig der gleichseitige Kornealreflex ab und stellen sich mit der Zeit paraesthetische Mißempfindungen und manchmal auch sensible Störungen im Trigeminusbereich (insbesondere Ophthalmikusbereich) ein. Dazu treten als Nachbarschaftssymptome von Seiten der Kleinhirnhemisphäre Gangabweichen sowie Abweichen der gleichseitigen Hand beim Barany-Zeigeversuch nach der Prozeßseite und homolaterale Gliedataxie, mangelnde Bremsfunktion, gestörtes Gewichteinschätzen und Muskelhypotonie. Große Tumoren können durch direkten Druck auf die Brücke auch noch kontralaterale und durch Druck auf die Gegenseite sogar homolaterale Pyramidenstörungen nach sich ziehen. Nur selten treten Abduzens- und Fazialislähmungen oder Fazialisreizerscheinungen in Form eines Spasmus facialis hinzu und nur ausnahmsweise auch noch Störungen an kaudalen Hirnnerven. Charakteristisch für Akustikusneurinome ist nicht zuletzt eine exzessive Liquoreiweißvermehrung und röntgenologisch eine Erweiterung des Porus und Meatus acusticus. Mit zunehmender Größe drängen Kleinhimbrückenwinkeltumoren den Hirnstamm nach der Gegenseite und blockieren dabei den Aquädukt. Damit kommt es zur Ausbildung eines Hydrocephalus occlusus, mit Marködem und Vorderhornerweiterung, Frontalhimsymptomatik, Hirndrucksteigerung und zur Gefahr der akuten Einklemmung des Hirnstamms ins Foramen occipitale (s. S. 170 u. 206).

Ursachen: - am häufigsten Akustikusneurinome, - seltener Meningeome und Cholesteatome im Brückenwinkel, - vom Felsenbein übergreifende Entzündungsprozesse.

2.2.5.10 Foramen-jugulare-Syndrom

Foramen-jugulare-Syndrom

Die kaudalen Hirnnerven, Nervi glossopharyngicus, vagus und accessorius verlassen nahe beieinander seitlich die Medulla oblongata und danach gemeinsam durch das Foramen jugulare die hintere Schädelgrube (s. Abb. 2-10). Krankheitsprozesse, besonders Meningeome, Neurinome und Glomustumoren hier im Foramenbereich, in dem die Nervenstränge keine Ausweichmöglichkeiten haben, führen deshalb regelmäßig zu kombinierten Ausfallserscheinungen dieser drei Himnerven. Sie manifestieren sich in herdseitigen Sensibilitäts- und Geschmackstörungen am hinteren Zungendrittel, am

Häufigste Ursachen: Meningeome, Neurinome und Glomustumoren im Foramenbereich.

Klinische Symptomatik: - frühzeitig gleichseitige Hörminderung mit Ohrgeräuschen, - gleichseitiger Hinterhauptsschmerz, - unsystematischer Schwindel und Gleichgewichtsstörungen verbunden mit spontanem Blickrichtungsnystagmus, - Abschwächung bzw. Verlust des Kornealreflexes und evtl. Reiz- und Ausfallserscheinungen im Trigeminusversorgungsbereich, - Abweichen beim Gang und UnterbergerTretversuch nach der Herdseite, - Abweichen mit der herdseitigen Hand nach der Herdseite beim Barany-Zeigeversuch, - homolaterale Gliedataxie, mangelnde Bremsfunktion und Störung beim Gewichtschätzen, - Muskelhypotonie an den herdseitigen Gliedmaßen, spätere mögliche Symptomerweiterungen: - kontralaterale und evtl. auch homolaterale Pyramidenbahnzeichen (durch Druck bzw. Gegendruck auf die Brücke), - homolaterale Abduzens- und Fazialislähmung (evtl. Spasmus facialis als Reizsymptom), - ausnahmsweise Störungen an den kaudalen Hirnnerven, - Ausbildung eines Hydrocephalus occlusus mit Hirndrucksteigerung u. Frontalhirnsymptomatik. Für ein Akustikusneurinom spricht: - eine exzessive Eiweißvermehrung im Liquor, - röntgenologisch eine Erweiterung des Porus und Meatus acusticus.

Klinische Symptomatik (bestimmt durch kombinierte Glossopharyngeus-Vagus- und Akzessoriusschädigung): - Sensibilitäts- und Geschmackstörung am hinteren Zungendrittel, - Sensibilitätsstörung am weichen Gaumen, im Rachenraum und Kehlkopf,

162 - Lähmung des ipsilateralen Gaumensegels, der Larynx- und Pharynxmuskulatur, des M.sternocleidomastoideus und mittlerer und unterer Trapeziusanteile. Später mögliche Syndromerweiterungen: - kontralaterale Hemiparese (durch Druck auf die Medulla oblongata; Vernet-Syndrom), - homolaterale Pyramidenbahnsymptome (durch Druck des Tentoriumrandes gegen den kontralateralen Hirnschenkel), - herdseitige peripher-atrophische Zungenlähmung (wenn Prozeß den Canalis hypoglossi erreicht; Villaret-Syndrom), - herdseitiges Horner-Syndrom (durch Schädigung des sympathischen Karotisgeflechts bei Prozessen, die von extrakraniell ans Foramen jugulare heranreichen).

Neurologische Syndrome weichen Gaumen, Rachen und Kehlkopf sowie in Lähmungen des herdgleichen Gaumensegels, der herdseitigen Larynx- und Pharynxmuskulatur (Nervi glossopharyngicus und vagus), sowie des Musculus sternocleidomastoideus und Musculus trapezius, vornehmlich dessen mittlerer und unterer Partien (N. accessorius). Bei zunehmender Raumforderung kann durch Druck auf die Medulla oblongata eine kontralaterale Hemiparese hinzutreten, was dann als Vernet-Syndrom bezeichnet wird, außerdem kann durch Massenverlagerung und Anpressung des kontralateralen Hirnschenkels an den Tentoriumrand auch noch eine homolaterale Pyramidenbahnsymptomatik zustande kommen. Drängt der Prozeß gegen das Foramen occipitale magnum und damit gegen den Canalis hypoglossi vor, gesellt sich zum Foramen-jugulare-Syndrom durch eine Nervus-hypoglossus-Schädigung auch noch eine herdseitige peripher-atrophische Zungenlähmung; nach dem Erstbeschreiber wird dann von einem Villaret-Syndrom gesprochen. Die gleiche Kombination von Glossopharyngikus-, Vagus-, Akzessoriusund Hypoglossuslähmung kann gelegentlich auch durch entzündliche und tumoröse Prozesse hervorgerufen werden, die von extrakraniell ans Foramen jugulare heranreichen. In diesen Fällen ist zumeist durch Mitschädigung des Sympathikusgeflechtes der vorbeiziehenden Karotis auch ein herdseitiges Horner-Syndrom vorhanden.

Garcin-Syndrom

2.2.5.11 Garcin-Syndrom

Häufigste Ursachen: - Sarkome und Karzinome der Schädelbasis - Epipharyngeome, die aus dem Nasen-Rachenraum in die Schädelbasis einbrechen.

Überwiegend maligne Geschwülste wie Sarkome und Karzinome der Schädelbasis oder aus dem Nasen-Rachenraum in die Hirnbasis einbrechende Epipharyngeome infiltrieren die jeweils hier entlangziehenden Hirnnerven. Mit der frontal- oder okzipitalwärts gerichteten Ausbreitungstendenz wird fortschreitend ein Hirnnerv nach dem anderen an der Hirnbasis einer Seite zerstört, weshalb dafür synonym auch die Bezeichnung „halbseitiges Schädelbasis-Syndrom" oder „Halbbasis-Syndrom" gebraucht wird.

Klinische Symptomatik: Sich ausbreitende Hirnnervenstörungen an einer Kopfseite in Abhängigkeit vom Ausgangspunkt und der Wachstumsrichtung der Geschwulst. Foramen-occipitale-magnum-Syndrom

2.2.5.12 Foramen-okzipitale-magnum-Syndrom

Häufigste Ursache: Tumoren in der Nähe des Foramen occipitale magnum. Klinische Symptomatik im Frühstadium: - anfallsweise Hirndruckkrisen mit NackenHinterkopfschmerz und Erbrechen; - Entlastungshaltungen des Kopfes, - Entwicklung von Stauungspapillen. Im Spätstadium: - doppelseitige Lähmungen kaudaler Hirnnerven, - doppelseitige Pyramidenbahnsymptome, schließlich Para- oder Tetraparesen, - zunehmende Kleinhirnstörungen

Tumoren, die sich in der Nachbarschaft des Foramen occipitale magnum entwickeln, blockieren hier frühzeitig die Liquorpassage. Dies führt anfallsartig zu Hirndruckkrisen und Nacken-Hinterkopfschmerzen und zerebralem Erbrechen und zu Stauungspapillen sowie zu torticollis- und opisthotonusartigen Entlastungshaltungen des Kopfes und durch Druckschädigung auf die Medulla oblongata und die Kleinhirntonsillen zu Schluckkrämpfen, doppelseitigen Lähmungen kaudaler Hirnnerven, doppelseitigen Pyramidenbahnsymptomen bis hin zu Para- und Tetraparesen und schließlich auch zu fortschreitenden Kleinhirnstörungen.

Hirnstammsyndrome

2.2.6 Hirnstammsyndrome

Zum Hirnstamm rechnet der Neurologe nur: - das Mittelhirn (Mesenzephalon) - die Brücke (Metenzephalon) und - das verlängerte Mark (Medulla oblongata)

Z u m Hirnstamm rechnet der Neurologe aus funktionellen und praktisch-klinischen Gründen nur das verlängerte Mark (Medulla oblongata), die Brücke (Pons) und das Mittelhirn (Mesenzephalon), der Anatom aus morphologischen und entwicklungsgeschichtlichen Gründen auch noch das Zwischenhirn (Dienzephalon) und die großen basalen Ganglien.

Zerebrale Syndrome

163

ffl.

IV. N.trochlearis

N.oculomotorius

2/3 N. trigeminus

Nucleus salivatorius superior

N.abducens

21.

Ν. facialis u. 2Π. N.intermedius

Nucleus salivatorius inferior dorsalis n.vagi (Nucleus alae cinereae)

Ν. glossopharyngeus IX. N.vagusX. N.hypoglossusXH. N.accessorius

Nucleus u.Tractus mesencephalicus n.trigemini Nucleus principalis n.trigemini 1 2 3

Nuclei vestibuläres

N. trigeminus

u. Tractus spinalis n.trigemini

N.intermedius2n.

Nucleus cochlearis

N. statoacusticus2E.

Nucleus sensorius alae cinereae u. Nucleus u.Tractus solitarius

2.

N.glossopharyngeus K .

Hinterstrangkerne Tractus spinalis

N.vagusX. u.Tractus spinalis trigemini

Abb. 2-12a, b Lage der Hirnnervenkerne im Hirnstamm. Motorische Kerne = rot. Sensible und sensorische Kerne = grau. Parasympathische Kerne = rot schraffiert im sagittalen Längsschnitt

Neurologische Syndrome

164 Im Hirnstamm befinden sich: - die Hirnnervenkerne 3 bis 12 nebst ihren Verbindungsbahnen untereinander, - wichtige vegetative und motorische Zentren, - an- und aufsteigende Verbindungsbahnen des Cortex, der Basaiganglien und des Kleinhirns.

Im Hirnstamm befinden sich auf engstem Raum zusammengedrängt die Kerne der Hirnnerven 3 bis 12, deren Verbindungsbahnen untereinander, dazu einige übergeordnete vegetative und motorische Zentren sowie die vom Cortex, den Basaiganglien und dem Kleinhirn absteigenden und ebenso zu diesen grauen Strukturen aufsteigenden Verbindungsbahnen. Im Längsschnitt betrachtet (Abb. 2-12) liegen dabei die Kerne des 3. und 4. Hirnnerven in Höhe der 4 Hügel (Mesenzephalon), die Hirnnervenkerne 5 bis 8 im Niveau der Brücke (Pons) und die kaudalen Hirnnerven 9 bis 12 im verlängerten Mark (Medulla oblongata). Im Querschnitt (s. Abb. 2-14 bis 2-18) sind die Kerne der 3. und 4. Hirnnerven in Mittelliniennähe lokalisiert, rücken die folgenden Hirnnervenkerne 5 bis 8 sukzessive peripherwärts und nähern sich die restlichen Hirnnervenkerne 9 bis 12 allmählich wieder der Mittellinie. Darüber hinaus sind die Hirnnervenkerne auch noch in ventrodorsaler Richtung in 3 Schichten angeordnet, kommen die Kerne des 8. Hirnnerven am weitesten ventral, die motorischen Kerne der 5., 7., 9. und 11. Hirnnerven in der Mitte und die Kerne der Hirnnerven 3, 4, 6 und 12 am weitesten dorsal, unmittelbar unter dem Boden der Rautengrube zu liegen. Die Hirnnervenkerne setzen sich aus Ganglienzellen zusammen, die als periphere Neurone dem peripheren Systemanteil zuzurechnen sind, obwohl sie im Zentralnervensystem liegen, ebenso wie die Zellen der Vorderhornsäule des Rückenmarks. Zerstörungen von Hirnnervenkernen und deren infranukleären intramedullären Wurzelfasern, führen deshalb grundsätzlich zu peripher-atrophischen Lähmungen, und zwar jeweils auf der Herdseite (nur der Trochleariskern macht hier eine Ausnahme, weil dessen infranukleäre Wurzelfasern die Seite kreuzen).

Verlauf der supranucleären

Herd f :



kontralat. suDranucleare Hy pog lossusparese

Herd a: Hemiplegia alternans oculomotorica Herd c: Hemiplegia alternans facialis supranuclearis Herd d: Hemiplegia alternans hypoglossica (nuclearis) Herd e: Hemiplegia alternans hypoglossica (infranuclearis)

d.N.oculomotorius b: Hemiplegia alternans facialis (nuclearis) Kern d. N. facialis intramedulläre Verlaufsstrecke d. mfranukleären Hypoglossusfasern Kern d. N. hypoglossus

Radix spinalis anterior Abb. 2-13 Beispiele nuklearer, supranukleärer und infranukleärer alternierender Lähmungen

Zerebrale Syndrome

165 Aquädukt Lamina tecti colliculus rostralis (obere 4 Hügel) Tractus u. Nucleus mesencephalicus Nuclei η. oculomotorii η. trigemini Mediales Längsbündel Formatio reticularis Vf Brachium conjunctivum Tractus spino-thalamicus Zentrale Haubenbahn

Zentrales Höhlengrau Herd a: Parinaudsche Lähmung Herd b Nothnagelsches Syndrom

Roter Kern

!

Π

XA-Mediale Schleife -pi-Substantia nigra Tractus temperopontinus Bein Rumpf,

Herd c Webersche Lähmung

N.oculomotorius

Tractus cortico-spinalis u. cortico-bulbaris

Hirnnerven

dorsale Haubenkreuzung ventrale Haubenkreuzung (Forel)

Tractus frontopontinus

Abb. 2-14 Hirnstammquerschnitt in Höhe der Okulomotoriuskerne und der oberen Vierhügel

a) Fovillesche Lähmung b) GasperiniSyndrom

Nucl. Bechterew! [\| uc lei Nucl. Deiters /vestibuläres salivatorius superior N.tract.solitarii u. Tractus spinalis η. trigemini Corpus restiforme Nucleus cochlearis ?ΠΤ Ν. stato-acusticus 3ZHN. facialis

c) Millard-Gublersche Lähmung bzw. c + d d) Hemiplegia alternans n.abducentis

Tractus spinocerebellaris Olive ^ r a c t u s spino-thalamicus Fasciculi pyramidici "SLN.abducens Mediale Schleife

Abb. 2-15 Hirnstammquerschnitt in Höhe des Abduzens- und Fazialiskerns am kaudalen Brückenende A u c h die auf- u n d a b s t e i g e n d e n l a n g e n m o t o r i s c h e n u n d sensiblen B a h n e n n e h m e n im H i r n s t a m m f e s t s t e h e n d e Areale ein, u n d sie alle k r e u z e n in i h r e m Verlauf in b e k a n n t e r H ö h e die Seite. Die U n t e r b r e c h u n g dieser Bahn e n im H i r n s t a m m n i v e a u zeigt sich deshalb i m m e r an der d e m K r a n k h e i t s herd entgegengesetzten Körperseite (Abb. 2 - 1 3 ) . All diese strukturellen G e g e b e n h e i t e n e r l a u b e n in der Regel K r a n k h e i t s h e r d e im H i r n s t a m m sowohl in Bezug auf ihre H ö h e als a u c h in Bezug auf ihre Lage u n d A u s d e h n u n g im Q u e r s c h n i t t sehr präzise zu lokalisieren.

Neurologische Syndrome

166 Nucleus dorsalis n.vagi Herd f: dorso-laterales Oblongata-Syndrom

N.medialis n.vestibuli (Schwalbe) Corpus restiforme sensorius alae cinereae

'

Nucleus tractus solitarii Pars dors, •medullae spinalis oblongatae n.trigemini spinalis n.trigemini ΪΙΠ.Ν. cochlearis

>

Ν. glossopharyngeus reticularis Herd a: Avellisches Syndrom

Pars ventr. •medullae oblongatae

Herd g: ventro-laterales Oblongata-Syndrom (Babinski-Nageotte) Herd f+g: Cestan-Chenais- Syndrom Abb. 2-16 Hirnstammquerschnitt in Höhe des Glossopharyngeuskerns im oberen Teil der Medulla oblongata Nucleus dorsalis n.vagi (Nucleus alae cinereae) I Nucleus sensorius alae cinereae Ϊ

Herd b: Tapiasches Syndrom

Nucleus tractus solitarii Nucleus vestibularis Hinterstrangkern Corpus restiforme Nucleus spinalis n.trigemini Tractus spinalis n.trigemini .N.vagus ambiguus spino-cerebellaris Tractus spino-thalamicus reticularis

Herd c: dorsales paramedianes Oblongata-Syndrom

N.hypoglossus \

\ Fasciculi pyramidici

Herd d: ventrales paramedianes \ Mediales Langsbündel Oblongata-Syndrom Mediale Schleife ( J a c k s o n s c h e Lahmung) Abb. 2-17 Hirnstammquerschnitt in Höhe der Vaguskerne im mittleren bis unteren Abschnitt der Medulla oblongata

Hemiplegia-alternans-Syndrome

2.2.6.1

Hemiplegia-alternans-Syndrome

Hirnstammsyndrome sind charakterisiert durch alternierende Lähmungsverteilung: - peripher-atrophische Lähmungen auf der Herdseite und - Hemiparesen und Hemihypaesthesien (zumeist von dissoziiertem Charakter) auf der entgegengesetzten Körperseite.

In Konsequenz des eben Ausgeführten, daß sich alle Läsionen der motorischen wie der sensiblen Hirnnervenkerne an der Herdseite auswirken und alle Unterbrechungen der auf- und absteigenden Langen Bahnen an der Herdgegenseite, ergeben sich bei Schädigungen im Hirnstamm grundsätzlich alternierende Lähmungsverteilungen, sog. Hemiplegia-alternans-Syndrome; d.h. es kombinieren sich peripher-atrophische Lähmungen und peripher-sensible Störungen im herdseitigen Kopfbereich mit zentralen Lähmungen (Hemiplegien) und zentralen, meist dissoziierten, sensiblen Störungen an der entgegengesetzten Körperseite.

167

Zerebrale Syndrome PyramidenKreuzung

Gollscher Kern tractus solitarius Burdachscher Kern Tractus spinalis n.trigemini Nucleus spinalis n.trigemini XI.N.accessorius Tractus cerebellaris dors. Tractus cerebellaris ventr. Längsbündel Tractus spino-thalamicus

k) Herd bei Hemi plegia

pyramidici

Abb. 2-18 Schema der Hemiplegia cruciata. Querschnitt am Übergang von der Medulla oblongata zum Rückenmark in Höhe der Pyramidenkreuzung

Zumeist nach den Erstbeschreibern benannt, werden eine größere Zahl von alternierenden Lähmungen unterschieden (Tabelle 2-1 u. Abb. 8-13). Deren Kenntnis im einzelnen ist aber wohl nur von Neurologen zu fordern. Häufige Ursachen für Hirnstammsyndrome sind thrombotische oder embolische Verschlüsse von Gefäßen, die den Hirnstamm versorgen, lokal akzentuierte Störungen der Durchblutung bei vertebro-basilärer Insuffizienz, Krankheitsherde im Rahmen einer Multiplen Sklerose oder einer Enzephalitis und Geschwülste, die sich dort primär oder sekundär, auf metastatischem Wege, etablieren.

Häufige Ursachen für Hirnstammsyndrome: - gefäß- und durchblutungsabhängige Herde, - Entmarkungsherde bei Multipler Sklerose, - Hirnstammenzephalitiden, - hirnstammeigene und metastatische Geschwülste.

2.2.6.2

Hemiplegia-cruciata-Syndrom

Hemiplegia-cruciata-Syndrom

Hemiplegia cruciata

Die Pyramidenbahnkreuzung befindet sich ventral des Zentralkanals am Übergang der Medulla oblongata ins Rückenmark. In ihrem Bereich ziehen die Bahnen für den gegenseitigen Arm und für das gleichseitige Bein dicht nebeneinander kaudalwärts (s. Abb. 2-18). Krankheitsherde, die im Sonderfall von lateral an die Decussatio pyramidum heranreichen, können deshalb zu einer gekreuzten Lähmungsverteilung, einer zentralen Lähmung am kontralateralen Arm und am ipsilateralen Bein fuhren, einer Lähmungsverteilung, die Hemiplegia cruciata genannt wird.

Entsteht bei Herden, die seitlich an die Pyramidenkreuzung am Übergang von der Medulla oblongata zum Rückenmark heranreichen. Gekreuzte Lähmungsverteilung bedeutet Kombination zentraler Lähmungen - am kontralateralen Arm und - am ipsilateralen Bein.

2.2.6.3 Syndrom der Bulbärparalyse

Syndrom der Bulbärparalyse

Einseitige motorische Hirnnervenkernschädigungen führen zwar zu gleichseitigen peripher-atrophischen Lähmungen, jedoch praktisch nicht zu Störungen des Kauens, Schluckens und Sprechens, weil sich die Muskeln beider Seiten vielfältig verschränken und so einseitige Ausfälle zu kompensieren vermögen. Bei doppelseitigen Kernschädigungen kaudaler Hirnnerven dagegen stellen sich rasch Kau-, Schluck- und Sprechschwierigkeiten ein; nicht nur feste Speisen, sondern oft auch Flüssigkeit, ja selbst der eigene Speichel kann nicht mehr ohne Mühe geschluckt werden und auch das Sprechen wird rasch undeutlich, verwaschen, näselnd, kloßig bis unverständlich (bulbär-dysarthrisch), womit dann das Vollbild der Bulbärparalyse erreicht ist.

Entsteht bei doppelseitigen multiplen Kernschädigungen kaudaler Hirnnerven überwiegend auf degenerativer Grundlage. Hauptursache: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Klinische Symptomatik: - peripher-atrophische Lähmungen im Kopfbereich, - Kauschwierigkeiten, - Schluck- und Schlingstörungen, - bulbär-dysarthrische Sprechstörung.

Neurologische Syndrome

168 Tabelle 2-1

Einige bekannte Hirnstammlähmungen

Bezeichnung

Störungen im Kopfbereich homolateral

Störungen an Rumpf und Gliedmaßen kontralateral

Lokalisation

Nothnagel-Syndrom (oberes Nucleus-ruber-Syndrom; Abb. 2-14, Herd b)

Okulomotoriuskernlähmung

Gliedmaßenataxie u. Hemihypästesie

Mittelhirn (Mesenzephalon)

Weber-Lähmung (Hemiplegia alternans oculomotorica; Abb. 2-14, Herd c)

infranukleäre Okulomotoriuslähmung

Hemiplegie, einschl. zentraler Fazialis- u. Hypoglossuslähmung

Mittelhirn (Mesenzephalon)

Foville-Lähmung (dorso-kaudales Brükkenhaubensyndrom; Abb. 2-15, Herd a)

Abduzens- u. Fazialislähmung (evtl. Blicklähmung) u. sensorische Störung im Trigeminusbereich

Schmerz- u. Tempera- Brücke turempfindungs(Metenzestörung ab Halsphalon) region

Millard-Gubler-LähFazialislähmung (evtl. mung auch infranukleäre (ventro-kaudales Brük- Abduzenslähmung) ken hau ben-Syndrom; Abb. 2-15, Herd c)

Hemiplegie

Brücke (Metenzephalon)

Tapia-Syndrom (Abb. 2-16, Herd b)

Lähmung des Gaumensegels, Pharynx u. d. Zunge

Hemiparese

Verlängertes Mark (Medulla oblongata)

Wallenberg-Syndrom (dorsolaterals Oblongata-Syndrom Abb. 2-17, Herd f)

Gaumensegel-, Pharynx· und Larynxlähmung sensorische Störung im Glossopharyngeusu. Vagusbereich, Schmerz- u. Temperaturempfindungsstörung im Trigeminusbereich mit Kornealreflexverlust, Nystagmus u. gleichseitiges Horner-Syndrom, Schwindel

Schmerz- u. Temperaturempfindungsstörung am Rumpf ab Halsgegend u. homolat. Gliedmaßenataxie, Asynergie u. Dysmetrie

Verlängertes Mark (Medulla oblongata)

Jackson-Lähmung (paramedianes ventrales Oblongata-Syndrom; Abb. 2-18, Herd d bzw. c + d)

Lähmung der Zunge (infranukleär)

Hemiplegie

Verlängertes Mark (Medulla oblongata)

Syndrom der Pseudobulbärparalyse

2.2.6.4 Syndrom der Pseudobulbärparalyse

Entsteht bei doppelseitiger Unterbrechung der Pyramidenbahnen für die motorischen Hirnnerven.

Die Doppelseitigkeit der pyramidalen Innervation der motorischen Hirnnervenkerne erklärt, daß sich einseitige Pyramidenbahnunterbrechungen an den Hirnnerven kaum bemerkbar machen, bzw. n u r in Form einer „Mundfazia-

169

Zerebrale Syndrome Häufigste Ursachen: - multiple zerebrale Insulte, - amyotrophe Lateralsklerose, - Syringobulbie.

lisschwäche" und einer, meist auch nur passageren „Hypoglossusschwäche"; dies weil hier keine, bzw. nur eine ungenügende doppelseitige Innervation vorhanden ist. In dem Augenblick aber, in dem zwei oder mehrere Krankheitsherde die Pyramidenbahnen für die motorischen Hirnnerven beiderseits unterbrechen, kommt es gleichermaßen zu Kau-, Schluck-, Schling- und Sprechstörungen wie bei der Bulbärparalyse, nur daß sie nicht mit Atrophien und anderen peripheren Schädigungszeichen einhergehen, sondern im Gegenteil mit einer Steigerung der bulbären Reflexe (Steigerung des Masseterreflexes und der oralen Reflexerregbarkeit) als Zeichen der zentralen Natur der Lähmung. Diese Umstände haben zu dem nicht ganz glücklich gewählten, aber allenthalben verwendeten Begriff der „Pseudobulbärparalyse" geführt.

Klinische Symptomatik: - zentrale Innervationsstörungen im Bulbärbereich, - Steigerung bulbärer Reflexe (Masseterreflexsteigerung, orale Reflexübererregbarkeit), - Kauschwierigkeiten, - Schluck- und Schlingschwierigkeiten, - bulbär-dysarthrische Sprechstörung.

2.2.7 Dezerebrationssyndrome

Dezerebrationssyndrome

Zu einer „Dezerebration" kann es entweder durch eine ausgedehnte und schwere Schädigung des Großhirnmantels oder durch eine Abtrennung desselben vom Hirnstamm infolge einer weitgehenden Kontinuitätsunterbrechung in Höhe des Zwischenhirns kommen oder aber bei Erhaltensein des Hirnmantels durch eine ausgedehnte diffuse Schädigung des Hirnstammes entweder in Höhe des Mittelhirns (Mesenzephalon), der Brücke (Pons) oder des verlängerten Marks (Medulla oblongata). Die ersteren beiden Formen der Dezerebration, für die alleine die Bezeichnung „apallisches Syndrom" (pallium = Hirnmantel) gerechtfertigt wären, sind ein relativ seltenes Ereignis. Trotzdem werden sie inkorrekterweise vielfach als Oberbegriff für alle Zustände von Dezerebration gebraucht. Bei der letzten, viel häufigeren Form der Dezerebration lassen sich je nach dem Niveau und der Intensität der Hirnstammschädigung ein sog. Mittelhirnsyndrom mit drei Schweregraden von einem sog. Bulbärhirnsyndrom und dem einsetzenden Hirntod, auch Coma depassee genannt, unterscheiden. A m häufigsten entwickeln sich diese Dezerebrationssyndrome im Zusammenhang mit akuter oder chronisch progressiver Hirndrucksteigerung und der Einklemmung des Hirnstamms im Tentoriumschlitz und im Foramen occipitale magnum aufgrund raumfordernder Prozesse (s. S. 307 f.) oder bei Hirntraumen, Massenblutungen, ausgedehnten Insulten und allgemeinen Hypoxien und schließlich auch im Zusammenhang mit Enzephalitiden und Intoxikationen.

Ursächlich beruhen Dezerebrationssyndrome auf: - ausgedehnten Hirnmantelschädigungen, - Abtrennungen des Hirnmantels vom Hirnstamm, - ausgedehnten diffusen Hirnstammschädigungen.

2.2.7.1 Akute Mittelhirnsyndrome

Häufige Ursachen: - bei progressiver akuter und chronischer Einklemmung, - schwere Hirnmantel- und Hirnstammkontusionen, - Massenblutungen in Großhirn und Hirnstamm, - Basilaristhrombosen und Embolien, - primäre und sekundäre Hypoxien und Hypoxämien, - Enzephalitiden. Schwerestadien der Dezerebration bei progressiver Hirnstammschädigung: - Mittelhirnsyndrom in 3 Stadien (Frühstadium, Übergangsstadium, Vollbild), - Bulbärhirnsyndrom, - einsetzender Hirntod (Coma depassee). Akute Mittelhirnsyndrome

Für die Zustandsbeurteilung und Prognosestellung, ob die sich anbahnende Dezerebration fortschreitet, in einem stationären Zustand verharrt oder sich regredient entwickelt, hat man Kriterien für Schweregrade von Mittelhirnschädigungen erarbeitet. In der folgenden Zusammenstellung werden nur diejenigen aufgeführt, die durch einfache klinische Untersuchungen feststellbar sind und die entscheidenden Verschlimmerungszeichen jeweils durch Fettdruck hervorgehoben. Symptomatik im Stadium I (Frühstadium des Mittelhirnsyndroms): - Sopor, - leichte Muskeltonuserhöhung, - Bulbusstellung parallel oder divergent und regellos wandernd, - Pupillen mittelweit, nur gelegentlich eng, - Lichtreaktion der Pupillen erhalten, - Komealreflex erhalten, - algogener (= schmerzbedingter) Pupillenreflex erhalten, - positives Puppenkopfphänomen, - Babinski-Zeichen beiderseits schwach positiv ( + ) .

Symptomatik im Frühstadium

170

Neurologische Syndrome

Symptomänderung im Übergangsstadium: - Sopor geht in Koma über, - Arme gehen in Beugekontraktur, Beine in Streckkontraktur über, - Zunahme der Hyperreflexie und BabinskiPhänomen + + .

Symptomatik im Stadium II (Übergangsstadium) - Koma, - deutliche Muskeltonuserhöhung, - Beugekontraktur der Arme und Streckkontraktur der Beine, - Bulbusstellung divergent, - Pupillen mittelweit, evtl. auch eng, - Lichtreaktion der Pupillen erhalten, - Kornealreflex noch auslösbar, - algogener Pupillenreflex noch vorhanden, - Puppenkopfphänomen noch nachweisbar, - Babinski-Zeichen beiderseits positiv ( + + ) .

Symptomausweitung im Vollbildstadium: - Übergang in Streckkontraktur an allen 4 Extremitäten, - Pupillen werden weit, - Lichtreaktionen der Pupillen erlöschen, - Kornealreflexe schwinden, - partielle Aufhebung des Puppenkopfphänomens, - hochgradige Hyperreflexie und Babinskiphänomen + + + .

Symptomatik im Stadium I I I (Vollbild) - Koma, - starke Muskeltonuserhöhung, - Streckkontrakturen an allen 4 Extremitäten, - Bulbusstellung divergent, - Pupillen mittelweit bis weit, - Lichtreaktion der Pupillen erloschen, - Kornealreflex erloschen, - algogener Pupillenreflex noch vorhanden, - Puppenkopfphänomen zum Teil aufgehoben oder nur noch einseitig dissoziiert vorhanden, - hochgradige Hyperreflexie ( + + + ) und beidseits stark positives Babinski-Zeichen (+ + +).

Akutes Bulbärhirnsyndrom

2.2.7.2 Akutes Bulbärhirnsyndrom

Symptomausweitung im Bulbärhirnsyndrom: - Übergang des generellen Strecktonus in allgemeine Muskelhypotonie bzw. Atonie, - Pupillen werden maximal weit und reaktionslos, - komplette Aufhebung des Puppenkopfphänomens, - Verlust aller Eigenreflexe, Fremdreflexe und pathologischer Reflexe.

Mit dem Erlöschen der Mittelhirnfunktionen und dem einsetzenden Versagen der Funktionen der Medulla oblongata geht das Mittelhirnsyndrom ins sog. Bulbärhirnsyndrom über. Es ist durch folgende Symptome ausgezeichnet, wobei die entscheidenden Veränderungen wiederum durch Fettdruck hervorgehoben sind: - Koma, - Übergang des Strecktonus in allgemeine Muskelhypotonie bis Atonie, - Parallel- und Mittelstellung der Augenbulbi, - Pupillen maximal weit, - Lichtreaktion der Pupillen erloschen, - Kornealreflex erloschen, - algogener Pupillenreflex erloschen, - Puppenkopfphänomen komplett aufgehoben, - Hypo- bis Areflexie und Verschwinden des Babinski-Zeichens beidseits.

2.2.7.3 Einsetzender Hirntod Hinweise auf einsetzenden Hirntod: - Komplettes Schwinden aller Hirnstammreflexe, - Aussetzen der Atmung, - Zusammenbruch der Herz-Kreislaufregulation, - Sistieren der zirkadianen Temperaturregelung, - Sistieren der bioelektrischen Hirntätigkeit (Nullinien-EEG),

Das Bulbärhirnsyndrom geht in der Regel rasch in den Hirntod über. Diese Übergangsphase, in der trotz des Erlöschens aller Hirnfunktionen das Herz vielfach noch eine Weile weiterschlägt, wird deshalb auch dissoziierter Hirntod oder Coma depassee bezeichnet. Mit dem Hirntod schwinden auch die letzten Hirnstammreflexe und sistieren die vom Hirnstamm gesteuerte Atmung, die vom Hirnstamm abhängige Herz- und Kreislaufregulation und die zirkadiane Temperaturregelung. Bei künstlicher Beatmung geht die Urinausscheidung, oft sogar forciert, weiter, bleiben die Muskeleigenreflexe erhalten, ja kehren evtl. sogar wieder, desgl. die Bauchhautreflexe und andere spinale Reflexe wie Babinski-Reak-

171

Zerebrale Syndrome tionen und Beuge- und Strecksynergien. Verständlicherweise ist in diesem Zustand keinerlei bioelektrische Hirntätigkeit mehr vorhanden. Bei primärer supratentorieller Hirnschädigung kann das in mehrfachen Untersuchungen festgestellte schrittweise bilaterale Erlöschen der intrazerebralen Komponenten der frühen akustisch evozierten Potentiale (FAEP) - Welle III bis V - die Irreversibilität des Hirnstamm-Funktionsausfalls beweisen. Bei der Katheterangiographie der 4 Hirngefäße gelangt keinerlei Blut mehr in den intrakranialen Raum (weil der intrakranielle Druck durch das immer vorhandene starke Hirnödem das Blutdruckniveau übersteigt). Die Veränderungen der vegetativen Funktionen lassen sich den verschiedenen Stadien des Mittelhirnsyndroms und dem Bulbärhirnsyndrom nicht gleichermaßen zuordnen. Es sind aber im allgemeinen folgende Entwicklungstendenzen erkennbar: Mit der Komplettierung des Mittelhirnsyndroms und dem Eintritt ins Bulbärhirnsyndrom steigen die Pulsfrequenz, der Blutdruck und die Temperatur sukzessive an. Erst unmittelbar vor dem Übergang in den Hirntod gehen die Tachykardie in eine Bradykardie, die Hypertonie in eine Hypotonie und die Hyperthermie in eine Hypothermie über. Die Atmung kann unterschiedlich im Sinne einer Cheyne-Stokes-, periodischen oder großen Kußmaul-Atmung gestört sein. Gehen die Atemformen in eine Biot- oder Schnappatmung über, dann steht der Hirntod unmittelbar bevor.

- Erlöschen d e r f r ü h e n akustisch evozierten Potentiale (FAEP) - Ausbleiben der intrakraniellen Kontrastmittelanfärbung aller 4 Hirngefäße bei Katheterangiographie.

2.2.7.4 Apallisches Syndrom

Apallisches S y n d r o m

Von einem apallischen Syndrom, das diesen Namen verdient, wofür synonym auch „neocortical death" geprägt wurde (Ingvar u. Brun 1972), kann gesprochen werden, wenn der Großhirnmantel weitestgehend zerstört ist, der Hirnstamm aber funktionell erhalten geblieben ist. Daraus resultiert folgendes Zustandsbild: Bei zumindest teilweisem Erhaltensein der Schlaf-Wachrhythmik besteht bei den Betroffenen ζ. T. eine „Wachheit ohne Bewußtsein"; die Augen sind offen, fixieren nicht und bewegen sich intermittierend hin und her. Im übrigen fehlen alle Spontanund Reaktivbewegungen, auslösbar sind einzig und allein noch reflektorische Kau-, Saug-, Schling- und Schluckbewegungen und Reflexsynergien auf die Applikation von Schmerzreizen. Bei passiver Kopfdrehung nach den Seiten oder Neigung des Kopfes nach vorn und hinten führen die Augen reflektorisch konjugierte Gegenbewegungen aus, was als positives Puppenkopfphänomen bezeichnet wird. Charakteristisch ist weiterhin das Fehlen gravierender vegetativer Störungen und ein flaches, weitgehend isoelektrisches Hirnstrombild, ein sog. Null-Linien-EEG.

Ein apallisches S y n d r o m im Sinne des W o r tes liegt vor, w e n n bei w e i t g e h e n d zerstörtem H i r n m a n t e l d e r H i r n s t a m m funktionell erhalten geblieben ist.

2.2.7.5 Coma vigile

C o m a vigile

Ist der Großhirnmantel verschont geblieben, jedoch vom Hirnstamm durch Läsionen in Höhe des Zwischenhirns weitgehend abgekoppelt, dann liegt, exakt ausgedrückt, kein apallisches Syndrom, sondern ein Coma vigile vor. Dessen klinisches Zustandsbild gleicht weitestgehend dem des apallischen Syndroms, es findet sich dabei jedoch kein flaches sondern ein mehr oder weniger schwer allgemeinverändertes Hirnstrombild, weil ja eine, wenn auch gestörte Hirnmanteltätigkeit erhalten geblieben ist. Zustände dieser Art können dadurch, daß der Hirnstamm seine elementaren lebenserhaltenden Funktionen weiterhin zu erfüllen vermag, bei guter Pflege lange überlebt und nicht ganz selten auch, wenn gewisse Großhirnfunktionen wiederkehren, zumindest partiell, überwunden werden.

Ein C o m a vigile liegt dann vor, w e n n der erhaltene G r o ß h i r n m a n t e l d u r c h eine Kontinuitätsunterbrechung in Höhe des Zwischenhirns v o m H i r n s t a m m abgetrennt und damit abgekoppelt ist.

Symptomatik: - Schlaf-Wach-Rhythmik zumindest teilweise erhalten, - „ W a c h h e i t o h n e Bewußtsein", - A u g e n offen, nicht fixierend, hin und her pendelnd, - Fehlen v o n Spontan- und Reaktivbewegungen, - erhalten sind ausschließlich reflektorische Kau-, Saug-, Schling- und Schluckbewegungen und Reflexsynergien auf Schmerzreize, - positives P u p p e n k o p f p h ä n o m e n , - Erhaltensein aller vegetativer Funktionen, - extrem flaches oder Null-Linien-EEG.

Symptomatik: - Das klinische Zustandsbild entspricht d e m jenigen des apallischen Syndroms, - j e d o c h kein isoelektrisches, sondern allgemeinverändertes H i r n s t r o m b i l d .

172

Neurologische Syndrome

Locked-in-Syndrom

2.2.7.6 Locked-in-Syndrom

Ursache: Transversalschädigung des Hirnstamms in Höhe der Brücke.

D e m apallischen Syndrom und d e m Coma vigile z u m Verwechseln ähnlich sieht das Locked-in-Syndrom aus. I h m liegt eine Transversalschädigung des H i r n s t a m m s in H ö h e der Brücke zugrunde. Daraus resultiert, daß die Betroffenen zwar wach u n d bei Bewußtsein sind, dies jedoch nicht bzw. einzig u n d allein noch durch willkürlich ausführbare vertikale Augenbewegungen zu erkennen geben können. Sie sind nämlich nicht n u r tetraplegisch, sondern können bei der H ö h e der querschnittsartigen Unterbrechung auch die Hals-, Kopf-, Sprech- und Gesichtsmuskeln nicht m e h r innervieren. Da das Großhirn u n d der obere H i r n s t a m m intakt sind, ergibt sich bei diesen Patienten ein meist k a u m verändertes EEG. Zustände dieser Art werden nach bisherigen Erfahrungen n u r u m Stunden bis höchstens Tage überlebt.

Klinische Symptomatik: - Klares Bewußtsein, erkennbar an Verständigungsrest mittels willkürlich ausführbarer vertikaler Blickbewegungen; - sonst komplette Bewegungslosigkeit, bedingt durch ganz hohe Querschnittslähmung; - normales bzw. nur gering allgemeinverän dertes EEG.

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Rückenmarkssyndrome

173

2.3 Rückenmarkssyndrome

Rückenmarkssyndrome

Μ. Stöhr

2.3.1 Einleitung Um zu einem Verständnis der bei Rückenmarkserkrankungen auftretenden Symptome zu gelangen, müssen im wesentlichen die folgenden drei Fragen geklärt werden: 1. Ist der gesamte Rückenmarksquerschnitt geschädigt oder erstreckt sich die Läsion nur auf einzelne Rückenmarksbahnen bzw. -kerngebiete? 2. In welcher Höhe des vom ersten Zervikal- bis zum vierten Sakralsegment sich erstreckenden Rückenmarks ist die Schädigung lokalisiert? 3. Trifft die jeweilige Noxe das Rückenmark akut, chronisch oder intermittierend und beschränkt sich die Läsion auf ein oder wenige Segmente, oder erstreckt sie sich über einen längeren Abschnitt? In Abhängigkeit von den genannten Faktoren variiert das klinische Bild einer Rückenmarkserkrankung, ζ. B. von einer umschriebenen Muskelatrophie an einer Hand oder einer spastischen Monoparese eines Beines bis hin zum kompletten spinalen Querschnittssyndrom mit Tetraplegie.

2.3.2 Abhängigkeit des spinalen Syndroms von der Querschnittsausdehnung einer Rückenmarkserkrankung (Abb. 2 - 1 9 ) Im Zentrum des Rückenmarkquerschnitts befindet sich das aus einer Anhäufung von Nervenzellen bestehende Rückenmarksgrau, wobei die motorischen Vorderhornzellen und die sensiblen Hinterhornzellen die größte praktische Bedeutung besitzen. Im Lumbal- bzw. Sakralmark befindet

sich

darüber hinaus das sympathische bzw. parasympathische Blasenzentrum, das stellvertretend für die vegetativen Kerngebiete des Rückenmarks dargestellt werden soll. Die Peripherie des Rückenmarks wird von auf- und absteigenden Bahnen eingenommen, von denen die Pyramidenbahn, der Hinterstrang und der Vorder-Seitenstrang funktionell am wichtigsten sind. Die aus einer Schädigung dieser verschiedenen Strukturen resultierenden Symptome werden im folgenden einzeln aufgeführt. Im konkreten Krankheitsfall müssen dann die jeweils vorliegenden Symptome mosaikartig zusammengesetzt werden, um ein Bild von der Querausdehnung der Rückenmarksläsion zu gewinnen.

Hinterstrang

Hinterhorn

Pyramidenbahn

Abb. 2-19 Rückenmarksquerschnitt (nach Poeck). Die den zervikalen (z), thorakalen (th) und lumbosakralen (Is) Abschnitten zugeordneten Faserbündel der Hinterstränge und Pyramidenbahnen verlaufen dort topisch gegliedert, so daß bei umschriebenen Läsionen Teilausfälle von Seiten der langen Bahnen vorkommen

Symptomatik einer Rückenmarks-Schädigung abhängig von: 1. Querschnittsausdehnung des spinalen Prozesses 2. Läsionshöhe 3. Längsausdehnung und zeitlicher Ablauf der Schädigung

174 Vorderhornläsion: - Muskelatrophie, - Muskelschwäche, - Herabsetzung des Muskeltonus, - Abschwächung oder Verlust der Eigenreflexe.

Neurologische Syndrome Vorderhorn. Die Schädigung der im Vorderhorn gelegenen motorischen Nervenzellen führt zur Atrophie und Schwäche der von diesen innervierten Muskeln. So ist beispielsweise eine Vorderhornläsion in Höhe des unteren Halsmarks von atrophischen Paresen der Handmuskulatur gefolgt. Da die motorischen Vorderhornzellen und ihre Axone den efferenten Schenkel der Muskeleigenreflexe bilden, resultieren außerdem eine Herabsetzung des Muskeltonus und eine Abschwächung der - über die betroffenen Segmente laufenden - Muskeleigenreflexe. Uni- und bilaterale Vorderhornläsionen kommen bei zahlreichen Rückenmarkserkrankungen vor, ζ. B. bei traumatischen, vaskulären, entzündlichen Prozessen und bei intramedullären Raumforderungen einschließlich der Syringomyelie. Ein systematischer Befall dieser Strukturen findet sich bei den verschiedenen Formen von progressiver spinaler Muskelatrophie und bei der amyotrophen Lateralsklerose.

Hinterhornläsion: - Segmentale dissoziierte Sensibilitätsstörung, - Verlust der Eigenreflexe.

Hinterhorn. Eine Läsion der im Hinterhorn gelegenen sensiblen Nervenzellen führt zu Sensibilitätsstörungen und/oder Parästhesien in demjenigen Hautareal, das dem betroffenen Segment zugeordnet ist. Da die afferenten Fasern für die Schmerz- und Temperaturempfindung in Hinterhornzellen umgeschaltet werden, u m über die vordere Kommissur zum kontralateralen Vorderseitenstrang zu verlaufen, steht vielfach ein Ausfall dieser sensiblen Qualitäten - u. U. verbunden mit Schmerzen und Temperaturmißempfindungen - im Vordergrund. Da der afferente Schenkel der monosynaptischen Eigenreflexbögen durch das Hinterhorn verläuft, gehört außerdem eine Reflexabschwächung zu einem voll ausgebildeten Hinterhornsyndrom (sofern über die betroffenen Segmente ein klinisch prüfbarer Muskeleigenreflex läuft).

Neurogene Blasen- und Mastdarm-Störung: Bei Schädigung des Sakralmarks resultieren: - Harn- und Stuhlinkontinenz, - schlaffe Lähmung von Blase und Mastdarm mit Retention.

Blasenzentren. Die sympathischen Neurone für die Innervation der Blase stammen aus den Rückenmarkssegmenten T h l 2 bis L2. Ihre Funktion besteht vorwiegend in einer Tonisierung des Sphincter vesicae internus und damit in der Aufrechterhaltung der (unwillkürlichen) Blasenkontinenz. Wichtiger ist das im Sakralmark (S1 bis 4) gelegene parasympathische Blasenzentrum. Die zugehörigen Neurone innervieren u.a. den Detrusor vesicae und sind für die Entleerung der Harnblase von Bedeutung. Außerdem liegen dort die Ursprungszellen des N. pudendus der über die Versorgung des M. sphincter urethrae externus die willkürliche Kontinenz garantiert. Eine Schädigung der sakralen parasympathischen und somato-motorischen Nervenzellen führt damit zu einer Kombination von Blasenentleerungsstörung (mit variabler Restharnbildung) und Harninkontinenz („Überlaufblase").

Pyramidenbahn-Läsion: - zentrale - meist spastische - Lähmung, - Steigerung der Eigenreflexe, - Abschwächung der Bauchhautreflexe, - „Pyramidenbahnzeichen" (ζ. B. positiver Babinski).

Pyramidenbahn (Tractus corticospinalis). Die Unterbrechung der an der Lateralseite des Rückenmarks deszendierenden Pyramidenbahn führt zu einer zentralen Parese des ipsilateralen Beins und - bei einer Läsion in Höhe des oberen oder mittleren Halsmarks - auch des Arms. Bei akut einsetzender Schädigung sind die gelähmten Gliedmaßen meist schlaff, jedoch sind die Muskeleigenreflexe teilweise erhalten, da die Reflexbögen über die intakt gebliebenen infraläsionellen Abschnitte laufen. Im Lauf von Tagen bis Wochen tritt dann meist eine spastische Tonuserhöhung mit Eigenreflexsteigerung hinzu; nur in diesem Fall ist die Bezeichnung „spastische Lähmung" gerechtfertigt. Zentrale - sind im Unterschied zu peripheren - Lähmungen dadurch gekennzeichnet, daß die Feinmotorik stärker beeinträchtigt ist als die Kraft. Außerdem resultiert bei einer Pyramidenbahnläsion eine Enthemmung primitiver Schmerz- und Fluchtreflexe (u. a. Babinski-Zeichen) sowie eine fehlende Bahnung physiologischer Fremdreflexe (ζ. B. Ausfall der Bauchhautreflexe). Spastik und Eigenreflexsteigerung sind dagegen häufige aber keineswegs obligate Begleitsymptome einer Pyramidenbahnschädigung.

175

Rückenmarkssyndrome Hinterstrang. Der Hinterstrang zählt zum spezifischen ( = lemniskalen) System der Somatosensorik, der Meldungen über mechanische Hautreize und über die Gelenkstellung schnell und somatotopisch gegliedert zum Gehirn leitet. Die Unterbrechung des Hinterstrangs führt damit zum Verlust des Tastsinns (Stereoanästhesie), des Bewegungs- und Lage-Sinns, sowie zu einer starken Herabsetzung des Berührungsempfindens an den ipsilateralen Extremitäten. Außerdem ist der hierbei eintretende Informationsverlust der motorischen Zentren über die aktuellen Gelenkstellungen von unkoordinierten Bewegungsentwürfen für die Gliedmaßen gefolgt (sensible oder „Hinterstrang-" Ataxie).

Hinterstrangläsion: - Parästhesien, - Hypästhesie für Berührungs- und Vibrationsempfindung, - Störung des Lagesinns mit sensibler Ataxie.

Vorderseitenstrang. Über diese Rückenmarksbahn werden vorwiegend Temperatur- und Schmerz-Empfindungen geleitet. Da die entsprechenden Afferenzen bereits in demjenigen Rückenmarkssegment, in dem sie dort eintreten, auf das zweite sensible Neuron umgeschaltet werden, um danach - in der vorderen Kommissur - zur Gegenseite zu kreuzen, führt die einseitige Unterbrechung des Tractus spino-thalamicus zu einem Ausfall der Schmerzund Temperaturempfindung ( = dissoziierte Empfindungsstörung) in der kontralateralen Körperhälfte.

Vorderseitenstrangläsion: - Dissoziierte Empfindungsstörung (Temperatur und Schmerz) im infraläsionellen Körperabschnitt kontralateral zur Seite der Schädigung.

Individuelle Querschnittssyndrome. Im konkreten Fall einer Rückenmarkserkrankung können einzelne oder mehrere der beschriebenen Strukturen in die Schädigung einbezogen sein. Beispiele für isolierte Läsionen des Vorderund Hinterhorns wurden bereits in dem entsprechenden Abschnitt angeführt. Isolierte bilaterale Funktionsstörungen von Seiten der Pyramidenbahn kommen bei spastischer Spinalparalyse, aber auch bei manchen Fällen von spinaler Multipler Sklerose vor. Eine Kombination von Pyramidenbahn- und Hinterstrangläsion besteht bei der funikulären Spinalerkrankung (B 12-Avitaminose). Bei den seltenen halbseitigen Rückenmarksschädigungen findet sich unterhalb der Läsionsstelle auf der betroffenen Seite eine Kombination von zentraler Parese und Ausfall der Hinterstrangsensibilität, während auf der Gegenseite eine dissoziierte Sensibilitätsstörung (Schmerz- und Temperaturempfindung herabgesetzt) vorliegt (Brown-Sequard-Syndrom). Das zentrale Rückenmarkssyndrom kommt u. a. bei der Syringomyelie, intramedullären Tumoren, beim Spinalis-anterior-Syndrom sowie der Contusio spinalis vor. In Höhe der betroffenen Segmente entwickeln sich hierbei eine dissoziierte Empfindungsstörung (Hinterhorn oder vordere Kommissur) und atrophische Paresen (Vorderhorn). Bei einer Ausdehnung der Schädigung über das Rückenmarksgrau hinaus können bei einer zervikalen Schädigungslokalisation ausschließlich die zentraler gelegenen Anteile der Pyramidenbahn für die obere Extremität einbezogen werden, so daß sich eine isolierte zentrale Armparese einstellen kann, ohne daß eine Mitbeteiligung der Beine besteht.

Spinales Halbseitensyndrom (BrownSequard): Ipsilateral zentrale Parese, Störung der Hinterstrangsensibilität (und evtl. Muskelatrophien, schlaffe Paresen sowie Reflexverlust in Höhe des betroffenen Segments). Kontralateral dissoziierte Sensibilitätsstörung.

Beim vollständigen Transversalsyndrom (ζ. B. bei vielen traumatischen Querschnittslähmungen) bestehen schließlich bilaterale Ausfälle von Seiten sämtlicher spinaler Leitungsbahnen mit Para- bzw. Tetraparese und einem Sensibilitätsverlust für alle Qualitäten.

Komplettes Querschnittssyndrom: Je nach Schädigungsniveau Para- oderTetraplegie (s. 2.3.3)

Zentrales Rückenmarkssyndrom: Vorder- und Hinterhornsymptome (s. dort). Evtl. vegetativ-trophische Störungen bei Mitbeteiligung des Seitenhorns. Bei Ausdehnung der Schädigung auf die parazentral gelegenen Anteile der Pyramidenbahn zentrale (oft spastische) Lähmung vorwiegend der Arme.

2.3.3 Abhängigkeit des spinalen Syndroms von der Höhe der Schädigung (Abb. 2-20) Für die Symptomatik einer Rückenmarkserkrankung ist nicht nur von Bedeutung, welcher Teil des Rückenmarksquerschnitts davon in Mitleidenschaft gezogen wird, sondern auch in welcher Höhe diese lokalisiert ist. Aus der Vielzahl möglicher Schädigungshöhen werden aus didaktischen Gründen 5 Lokalisationstypen herausgegriffen.

Besonderheiten des spinalen Querschnittssyndroms in Abhängigkeit von der Läsionshöhe. Beispiel: Brown-Sequard-Syndrom in Höhe C7/8 rechts.

Neurologische Syndrome

176

HWK7 C8

BWK12 Th12

LWK 5

Abb. 2-20 Topische Beziehungen zwischen den Wirbelsäulen-(schwarz) und den Rückenmarks-(rot)Segmenten. Letztere sind gegenüber den gleichnamigen Wirbelkörpern nach kranial verschoben, so daß sich das untere Rückenmarksende zwischen BWK12 und LWK 1 befindet

Generell gilt, daß die Obergrenze der Sensibilitätsstörung in Höhe des geschädigten Rückenmarkssegments (oder knapp darunter) gelegen ist.

Von genereller Bedeutung ist bei allen diesen Formen die Tatsache, daß sich eine Schädigung der Zellverbände innerhalb des zentralen Rückenmarksgraus ausschließlich im Bereich der betroffenen Rückenmarkssegmente auswirkt, während die Leitungsunterbrechung der Rückenmarksbahnen zu Störungen im gesamten infraläsionellen Körperabschnitt führt. So bedingt ζ. B. eine Verletzung der rechten Rückenmarkshälfte in Höhe der Segmente C7 und 8 Atrophien und nukleare Paresen der Hand- und Unterarmmuskulatur (Myotome C7 und 8), Sensibilitätsstörungen für alle Qualitäten in den Dermatomen C 7 und 8 des rechten Arms, sowie einen Ausfall des Trizepsund des Trömner-Reflexes (die über diese Segmente verlaufen). Unterhalb des Schädigungsniveaus tritt ipsilateral eine zentrale Parese und eine Hypästhesie, kontralateral eine dissoziierte Sensibilitätsstörung auf. Für die exakte Höhenlokalisation einer Rückenmarksschädigung sind die segmentalen Symptome von größerer Zuverlässigkeit, gleichgültig, ob diese in Form von

Rückenmarkssyndrome

177

Reizerscheinungen (Schmerzen, Parästhesien, Faszikulationen) oder von Ausfallerscheinungen (segmental angeordnete Sensibilitätsstörungen, atrophische Paresen, Eigenreflexverlust) vorliegen. Conus medullaris. Der die kaudalen Sakralsegmente enthaltende Conus medullaris ist u.a. wegen der nicht seltenen Ausbildung von Tumoren in diesem Bereich von Bedeutung. Führende Symptome eines Konussyndroms sind schlaffe Lähmungen von Blase und Mastdarm, verbunden mit einer Stuhlund Harninkontinenz (durch kombinierten Ausfall der parasympathischen Kerngebiete und der Ursprungszellen des N. pudendus, der die willkürlichen Schließmuskeln innerviert). Hinzu kommen Parästhesien und Sensibilitätsstörungen in den Dermatomen S2 bis 4, d . h . im Ano-Genital-Bereich und an der Dorso-Medialseite des Oberschenkels („Reithosenanästhesie").

Konus-(Kauda-)Syndrom: - Schlaffe Lähmung von Blase und Mastdarm, - Harn- und Stuhl-Inkontinenz, - „Reithosenanästhesie", - bei Einbeziehung der Cauda equina Parästhesien und Sensibilitätsstörungen sowie schlaffe Lähmungen an beiden Beinen.

Sofern ein intramedullärer Tumor des Conus medullaris nicht rechtzeitig erkannt wird, kommt es mit dessen Größenzunahme außerdem zu einer Kompression der daneben nach kaudal verlaufenden lumbosakralen Nervenwurzeln, d. h. der Cauda equina. Demgemäß gesellen sich senso-motorische Reiz- oder Ausfallserscheinungen von Seiten dieser Wurzeln hinzu (Konus-Kauda-Syndrom). Die Symptomatik des Kauda-Syndroms ist in dem Abschnitt über vertebragene Syndrome dargestellt. Lendenmark. Eine Lumbalmarkläsion führt zu Sensibilitätsstörungen und Paresen an beiden unteren Extremitäten sowie zur Blasen-Mastdarm-Lähmung. Sofern die infraläsionellen Abschnitte ihre Eigentätigkeit behalten oder nach einer Restitutionsphase wieder aufnehmen, resultieren spastische Lähmungen. Oft ist das bei solch tiefsitzenden Rückenmarkserkrankungen allerdings nicht der Fall, so daß anhaltende schlaffe Lähmungen der Beine und der Blasen-Mastdarm-Muskulatur resultieren.

Querschnittssyndrome in Höhe des Lumbaimarks: meist schlaffe Paraparese der Beine.

Brustmark. Thorakalmarkläsionen führen fast immer zu spastischen Lähmungen der Beine. Bei einer akut einsetzenden Schädigung (ζ. B. traumatische oder operative Querschnittslähmung) m u ß allerdings erst die Phase des „spinalen Schocks" überwunden werden, ehe sich die Tonussteigerung und die Steigerung der Beineigenreflexe entwickeln. Als Ausdruck der Eigentätigkeit des infraläsionellen Rückenmarkabschnitts können sich daneben unwillkürliche Beinbewegungen (sog. spinale Automatismen) einstellen, wobei in der Frühphase eher Beuge-, danach eher Strecksynergismen beobachtet werden. Die bei höhersitzenden Rückenmarkserkrankungen bestehende Blasen-Mastdarm-Lähmung ist wie die der Beine nicht schlaff (wie beim Konus-Syndrom), sondern spastisch. Das bedeutet, daß die Blasenkapazität durch die Tonussteigerung des Detrusor vesicae vermindert und die reflektorische Blasenentleerung enthemmt ist, mit der Folge einer erhöhten Miktionsfrequenz. Zusätzlich besteht - wie auch bei tiefersitzenden Läsionen - eine Harn- und Stuhlinkontinenz.

Querschnittssyndrome in Höhe des Thorakalmarks: - meist spastische Lähmung der Beine (Paraspastik), - spastische Reflexblase, - u. U. spinale Automatismen.

Unteres Halsmark. Eine kaudale Zervikalmarkläsion führt zu denselben Symptomen wie die des Thorakalmarks, außer daß die obere Begrenzung der Sensibilitätsstörung entsprechend weiter nach rostral rückt. Da in den Segmenten C5 bis C8 (sowie T h l ) die Motoneurone der Armmuskeln gelegen sind, treten zusätzlich nukleäre Paresen und Muskelatrophien sowie ein Ausfall von Armeigenreflexen auf. Im einzelnen gelten dabei folgende (vereinfachte) Segment-Zuordnungen: C8 Atrophische Paresen der Hand- und Unterarmmuskulatur Verlust des Trömner-Reflexes C7 Atrophische Paresen u. a. des Triceps brachii Verlust des Trizepsreflexes C6 Atrophische Paresen der Beugemuskeln am Oberarm Verlust des Bizepsreflexes C5 Atrophische Paresen der Schultergürtelmuskulatur

Querschnittssyndrome in Höhe des unteren Halsmarks: - spastische Lähmung der Rumpf- und BeinMuskulatur sowie der Blase, - segmentale („radikuläre") Muskelatrophien und Paresen sowie Reflexausfälle an den Armen.

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Neurologische Syndrome Zusätzlich ist zu beachten, daß bei einer Läsion in Höhe C 5 / 6 die Handund Unterarmmuskeln bereits eine spastische Parese aufweisen können. Typisch ist hierfür der Kontrast zwischen dem abgeschwächten oder fehlenden Bizeps- und dem gesteigerten Trömner-Reflex.

Querschnittssyndrom des oberen Halsmarks: - spastische Tetraparese, - Atemlähmung.

Oberes Halsmark. Hohe Zervikalmarkläsionen führen zu spastischen Lähmungen auch der oberen Extremitäten und damit zu einer spastischen Tetraparese. Der Funktionsausfall der in Höhe C3/4 lokalisierten Phrenicusneurone bedingt außerdem eine Zwerchfellähmung, eine rostral davon gelegene Läsion deren Abkopplung vom Atemzentrum und damit ebenfalls eine Atemlähmung.

2.3.4 Akuität und Längsausdehnung einer Rückenmarkserkrankung

Bei akuter Rückenmarksschädigung „spinaler Schock" mit zunächst schlaffen Lähmungen

Die Symptomatik einer Rückenmarkserkrankung hängt nicht nur von der Höhe und von der Querausdehnung der Schädigung über dem Rückenmarksquerschnitt ab, sondern auch von zeitlichen Faktoren. So kann eine das Rückenmark treffende Noxe akut (z.B. Contusio spinalis), chronisch (ζ. B. spinaler Tumor) oder intermittierend (ζ. B. spinale Gefäßsyndrome) einwirken. Darüber hinaus kann die Noxe lediglich zu einer vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung bestimmter Strukturen mit nachfolgender Funktionsrückkehr oder aber zu einer irreversiblen Zerstörung von Strukturen mit bleibendem Funktionsdefizit führen. Bei akut einwirkenden Krankheitsursachen (ζ. B. Traumen) führt die plötzliche Abkopplung der infraläsionellen Rückenmarksabschnitte zum sog. spinalen Schock mit schlaffer Lähmung von Beinen sowie Blase und Mastdarm. Erst im Lauf von Tagen bis Wochen nimmt der infraläsionelle Abschnitt seine Eigentätigkeit wieder auf mit der Ausbildung von spinalen Automatismen und der Rückkehr meist sogar Enthemmung - der spinalen Reflextätigkeit (spastische Muskeltonussteigerung, Eigenreflexsteigerung, spastische Form der Blasenlähmung). Schließlich spielt die Längsausdehnung einer Rückenmarkserkrankung eine Rolle bei der Ausgestaltung der Symptomatik. Bei der Besprechung der verschiedenen Lokalisationstypen von Rückenmarksläsionen wurde aus didaktischen Gründen von einer gewissermaßen scheibenweisen Schädigung ausgegangen, wie sie ζ. B. bei vielen traumatischen und tumorbedingten Formen vorkommt. Daneben gibt es aber auch Rückenmarkserkrankungen wie ζ. B. Entzündungen, Angiome, arterielle Durchblutungsstörungen oder Stiftgliome, die eine Längsausdehnung über viele Rückenmarkssegmente aufweisen und beispielsweise vom mittleren Thorakal- bis ins Lumbosakralmark reichen. In letzterem Fall fehlt die bei thorakalen Querschnittssyndromen übliche Ausbildung einer Spastik der Beine und der Blase, da die lumbosakralen Motoneurone mit in die Schädigung einbezogen sind, so daß anhaltend schlaffe Bein- und Blasenlähmungen resultieren.

Myoklonisches Syndrom

179

2.4 Myoklonisches Syndrom F. L.

Glötzner

2.4.1 Definition Unter Myoklonus sind plötzliche, kurze, stoßartige, unwillkürliche Bewegungen zu verstehen, die durch Muskelkontraktionen hervorgerufen werden - positiver Myoklonus - oder durch H e m m u n g von Muskeltätigkeit - negativer Myoklonus. Diese Aktivierung oder H e m m u n g der Muskeltätigkeit n i m m t ihren Ausgang vom Zentralnervensystem.

Der negative Myoklonus wird auch als Asterixis bezeichnet und ist von einer Pause im E M G begleitet. Der Myoklonus kann sehr unterschiedlich in Erscheinung treten. Im folgenden sind die verschiedenen zeitlichen und räumlichen Merkmale zusammengestellt.

Myoklonisches Syndrom

Asterixis: - negativer Myoklonus, - plötzlicher kurzer Muskeltonusverlust.

Phänomenologie des Myoklonus Wiederholung:

- einzeln; - mehrmals.

Bewegungseffekt:

- kann gänzlich fehlen; - Bewegung eines einzelnen Gelenkes, einer Extremität, des Kopfes oder des R u m p f e s möglich; - einzelne Muskeln oder ganze Muskelgruppen beteiligt.

Verteilung:

fokal (z.B. Epilepsia partialis continua); segmental (ζ. B. Paramyoklonus multiplex); polytop (ζ. B. severe myoclonus epilepsy of childhood); generalisiert (progressive Myoklonusepilepsie).

Symmetrie:

bilateral; symmetrisch, asymmetrisch; unilateral.

Synchronie:

synchron; asynchron.

Rhythmizität:

rhythmisch (ζ. Β. spinaler Myoklonus); arrhythmisch; oszillatorisch.

Meist lassen sich die Zuckungen durch Reize auslösen ( = Reflexmyoklonus). Das Auftreten sowohl in R u h e ( = Spontanmyoklonus) als auch bei Willkürbewegungen ( = Aktionsmyoklonus) ist möglich. Die Kombination dieser verschiedenen F o r m e n bei ein und demselben Patienten ist nicht selten. Der Aktionsmyoklonus besteht in einem arrhythmischen feinen oder groben Zucken eines Muskels oder einer Muskelgruppe in regelloser Folge - ausgelöst durch Muskelaktivität, insbesondere durch einen bewußten, exakten Bewegungsversuch. Besonders häufig wird diese Myoklonusform auch durch das G e h e n aktiviert. Die Muskelzuckungen sistieren im Schlaf. Eine leichte zerebelläre Ataxie tritt begleitend hinzu. Der Aktionsmyoklonus kann bei der Multiplen Sklerose vorkommen. A m häufigsten entsteht er jedoch nach einer Sauerstoffmangelschädigung des Gehirns.

Reflexmyoklonus durch taktile, akustische oder visuelle Reize auslösbar. Spontanmyoklonus tritt ohne äußeren Anlaß auf. Aktionsmyoklonus durch Halten oder Bewegen einer Extremität oder des Körpers ausgelöst.

posthypoxischer Myoklonus = LanceAdams-Syndrom, ζ. B. nach Reanimation (Herzstillstand, Ertrinken).

Neurologische Syndrome

180

spinaler Myoklonus

Die Muskelzuckungen treten meist schon im hypoxischen Koma auf und bleiben im posthypoxischen Verlauf fast immer bestehen. Der posthypoxische Myoklonus (Lance-Adams-Syndrom) kann entweder dem kortikalen oder dem retikulären Reflextyp zugeordnet werden. Der spinale Myoklonus kann sich ζ. B. im Gefolge eines Spinalis-anteriorSyndroms finden. Er tritt meist spontan auf, ist also reizunempfindlich. Es kommt zu 2 bis 600 segmentalen rhythmischen Kontraktionen pro Minute, die im Schlaf persistieren.

2.4.2 Ätiologie Ätiologie der Myoklonien: - physiologisch, - essentiell, - epileptisch, - symptomatisch.

Periodische Bewegungen im Schlaf: - nächtliche Myoklonien, - im NREM-Schlaf, - bi- und unilateral, - synchron oder asynchron, - Dorsalextension von Zehen und Fuß.

Ballistischer Überlaufmyoklonus: pathologische Ausbreitung der Muskelaktivität auf Muskelgruppen, die für eine bestimmte Bewegung nicht benötigt werden.

Progressive Myoklonusepilepsie UnverrichtLundborg: - baltic myoclonus, - reizabhängige Myoklonien, - Grand-mal-Anfälle, - Fotosensibilität.

Phenytoin flap anticonvulsant asterixis

Myoklonische Zuckungen treten als Sympton bei einer großen Zahl weit auseinander liegender Erkrankungen auf. Sie stellen gewissermaßen eine mögliche gemeinsame motorische Endstrecke von Stoffwechselstörungen, Hirnkrankheiten, Arzneistoff- und Giftwirkungen dar. Beim Gesunden kommen Myoklonien z u m Beispiel als Einschlafzuckungen, als Schreckreaktion oder als Singultus vor. Unter den essentiellen Myoklonien finden sich der familiär oder sporadisch auftretende Paramyoklonus multiplex Friedreich und die nächtlichen Myoklonien, bei denen es sich eigentlich u m periodische Bewegungen im Schlaf handelt. Während des Non-Rem-Schlafes treten bi- oder unilateral synchrone oder mehr asynchrone 0,5 bis 3 s dauernde Bewegungen der Beine mit Dorsalextension der Zehen und des Fußes und seltener mit zusätzlicher Beugung des Knies und der Hüfte auf. Es liegen oftmals chronische Schlafstörungen, eine Behandlung mit trizyklischen Antidepressiva, Schlafmittelentzug oder eine chronische Niereninsuffizienz vor. Der essentielle Myoklonus zeigt selbst bei den einzelnen Betroffenen ein recht wechselndes Erscheinungsbild. Es handelt sich u m eine gutartige Störung ohne Progredienz oder begleitende Epilepsie. Das EEG ist in der Regel normal. Der Ursprung liegt vermutlich subkortikal. Selten tritt der essentielle Myoklonus familiär als sog. ballistischer Überlaufmyoklonus auf, d. h. bei einer raschen Bewegung werden nicht nur die für die Bewegung erforderlichen Muskeln, sondern auch weit entfernte Gruppen innerviert, so daß zum Beispiel eine Daumenbewegung eine unwillkürliche Bewegung im Bein nach sich zieht. Epileptische Myoklonien finden sich bei verschiedenen altersgebundenen Petit-mal-Formen und bei der Epilepsia partialis continua. Als typisches familiäres epileptisch-myoklonisches Syndrom galt früher die progressive Myoklonusepilepsie Unverricht-Lundborg. Sie wird heute von manchen Autoren nicht mehr zum epileptischen, sondern zum symptomatischen Myoklonus mit familiärer spinozerebellärer Degeneration gezählt und wegen der Häufung der Beobachtungen in Finnland auch baltischer Myoklonus (baltic myoclonus) genannt. Typische Zeichen dieser Erkrankung sind reizabhängige Myoklonien und Grand-mal-Anfälle bei Fotosensibilität. Andere symptomatische Formen kommen bei Speicherkrankheiten, Basalganglienerkrankungen wie Morbus Wilson, Morbus Huntington, bei der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, den viralen, metabolischen, toxischen, hypoxischen Encephalopathien und fokalen Schädigungen des Zentralnervensystems vor. Von Bedeutung ist auch, daß höhere Dosierungen von Antiepileptika, speziell Phenytoin, zu einem Myoklonus fuhren können. Man spricht in solchem Fall von Phenytoin-Flattern (Phenytoin flap) oder AntiepileptikaAsterixis (anticonvulsant asterixis).

Myoklonisches Syndrom

181

2.4.3 Pathogenese Bei d e n f o k a l e n u n d s e g m e n t a l e n F o r m e n k a n n die G e n e s e d u r c h e i n e u m s c h r i e b e n e S c h ä d i g u n g des Z e n t r a l n e r v e n s y s t e m s a n g e n o m m e n werden. Bei d e n generalisierten F o r m e n ist eine E n t s t e h u n g i m R a h m e n einer d i f f u s e n E n c e p h a l o p a t h i e wahrscheinlich, eine h e r d f ö r m i g e E n t s t e h u n g j e d o c h n i c h t ausgeschlossen. F o l g e n d e p a t h o g e n e t i s c h u n t e r s c h i e d l i c h e F o r m e n lassen sich - reflektorisch oder s p o n t a n ausgelöst - u n t e r s c h e i d e n : kortikaler M y o k l o n u s , subkortikaler oder retikulärer M y o k l o n u s , kortikal getriggerter retikulärer M y o k l o n u s . Bei der l e t z t g e n a n n t e n F o r m f ü h r t nicht das kortikale Ereignis zu der M u s k e l z u c k u n g , s o n d e r n die kortikal getriggerte E n t l a d u n g in der F o r m a t i o retikularis. E i n e D i f f e r e n z i e r u n g zwischen kortikalem u n d r e t i k u l ä r e m Myoklon u s ist n a c h Tabelle 2-2 möglich. A u c h b e i m epileptischen M y o k l o n u s besteht k e i n e feste Korrelation zwischen E E G u n d E M G . Der U r s p r u n g k ö n n t e im H i r n s t a m m oder im Thalam u s liegen. Tabelle 2-2

Gegenüberstellung von kortikalem und retikulärem Myoklonus Kortikal

Retikulär

Entladungsdauer im EMG

10-30 ms

30-50 ms

Verteilung der myoklonischen Zuckungen

fokal

generalisiert

EEG-EMG-Beziehung

EEG-Potential geht der Muskelzuckung voraus

zugehörige EEG-Veränderungen - falls vorhanden zeitlich unabhängig oder verzögert zum EMG

Abfolge der Muskelaktivierung

absteigend im Hirnstamm und Rückenmark

aufsteigend im Hirnstamm und absteigend im Rückenmark

Riesen-SEP

über dem zum Reizort kontra-lateralen Kortex oft ableitbar

nicht nachweisbar

Es gibt k e i n e pathologisch a n a t o m i s c h e n V e r ä n d e r u n g e n , die k o n s t a n t bei allen M y o k l o n u s f o r m e n v o r k o m m e n . Posthypoxisch w u r d e n in e i n z e l n e n Fällen V e r ä n d e r u n g e n i m Mittelhirn, im N u c l e u s raphe dorsalis, g e f u n d e n . E i n e wichtige Rolle scheint der N u c l e u s giganto-cellularis m e d u l l a e oblongatae zu spielen. Z u r P a t h o b i o c h e m i e liegen keine e i n d e u t i g e n E r k e n n t n i s s e vor, wahrscheinlich ist eine S t ö r u n g der serotonergen u n d a u c h der G A B A - e r g e n I m p u l s übertragung, die zu einer v e r m i n d e r t e n H e m m u n g im m o t o r i s c h e n System f ü h r e n soll. Es wird ein m o r p h o l o g i s c h intaktes, aber hypoaktives SerotoninSystem a n g e n o m m e n .

D e m m y o k l o n i s c h e n S y n d r o m liegen die gleichen p a t h o p h y s i o l o g i s c h e n A b l ä u f e z u g r u n d e wie der Epilepsie. H i e r wie dort finden sich auf n e u ronaler E b e n e die p a r o x y s m a l e n D e p o l a r i s a t i o n s v e r s c h i e b u n g e n m i t S y n c h r o n i s i e r u n g s t e n d e n z i n n e r h a l b großer N e u r o n e n a g g r e g a t e .

Keine spezifischen pathologisch-anatomischen Veränderungen im Z N S .

Störung der serotonergen und der GABA-ergen Impulsübertragung.

Neurologische Syndrome

182

2.4.4 Diagnostische Maßnahmen -

Feststellen der Grundkrankheit, synchrone EEG- und EMG-Aufzeichnung, polygraphische EMG-Registrierung, Bestimmung der somato-sensorisch evozierten Potentiale.

EEG-Korrelate bei epileptischem Myoklonus - Spike wave, - Polyspike, - steile Potentiale.

Therapie: - Clonazepam, - Valproinsäure, - Baclofen. Flunitrazepam L-5-Hydroxytryptophan + Carbidopa Fluoxetine Lisurid

In erster Linie bestimmt die Grundkrankheit (s. 2.4.2) die diagnostischenMaßnahmen. Besonders geeignet für die Analyse des Myoklonus ist die synchrone Aufzeichnung von EEG u n d E M G einschließlich der polygraphischen Registrierung verschiedener Muskelgruppen. Die Amplitude der somato-sensorisch evozierten Potentiale läßt Rückschlüsse auf die Art des Myoklonus zu, z u m Beispiel treten Riesen-SEP bei der progressiven Myoklonusepilepsie auf. EEG-Korrelate eines epileptischen Myoklonus sind zum Beispiel Spikewave-Komplexe oder rhythmische Spikes sowie steile Potentiale in der kontralateralen Zentralregion. Die zeitliche und topographische Beziehung zwischen Spike und myoklonischer Zuckung sind hierbei meist variabel.

2.4.5 Therapie Die Vielzahl der angewandten Arzneistoffe weist darauf hin, daß die Behandlung in vielen Fällen noch unbefriedigend ist. Clonazepam und Valproinsäure wirken bei allen Formen des Myoklonus. Bei essentiellen Myoklonien empfehlen sich Valproinsäure, Clonazepam oder Baclofen. Die hypoxischen Myoklonien sprechen im Akutstadium besonders gut auf Clonazepam und Flunitrazepam an, später kann auch L-5-Hydroxytryptophan 1000 bis 2 000 mg/d (übliche empfohlene Dosis: 1 0 0 - 3 0 0 mg/d) in Kombination mit 100 bis 200 mg Carbidopa sehr wirksam sein. Die Zweierkombination wird gegebenenfalls durch 30 bis 40 mg des spezifischen Serotoninuptake-Hemmers Fluoxetine ergänzt. Schließlich kann der kortikale Reflexmyoklonus durch Lisurid 0,1 bis 0,15 mg i. v. wirksam beeinflußt werden.

Literatur Fahn S., C. D. Marsden, M. H.van Woert (Hrsg.): Myoklonus. Advances of Neurology, Bd. 43. Raven Press, New York 1986 Friedreich N.: Paramyoclonus multiplex. Virchow Arch. Path. Anat. 86 (1881) 4 2 1 - 4 3 4 Hallett M., D. Chadwick, C. D. Marsden: Ballistic movement overflow myoclonus. A form of essential myoclonus. Brain 100 (1977) 2 9 9 - 3 1 2 Marsden C. D., M. Hallett, S. Fahn: The nosology and pathophysiology of myoclonus. In: Movement disorders (Hrsg. C. D. Marsden, S. Fahn), S. 196-248. Butterworth, London - Boston - Toronto 1981

183

Neuroophthalmologische Syndrome

2.5 Neuroophthalmologische Syndrome E. Mehdorn, P. Clarenbach 2.5.1 Pupillenstörungen 2.5.1.1 Untersuchung der Pupille Der afferente Schenkel des Pupillenreflexbogens kann verläßlich nur bei intaktem efferenten Schenkel beurteilt werden (Abb. 2-21). 1. Prüfung der Efferenz: gleichzeitige starke Belichtung beider Augen. 2. Prüfung der Afferenz (Swinging-Flashlight-Test): dunkler R a u m , Patient blickt in die Ferne (weite Pupillen), wechselweise kurze Belichtung des rechten und linken Auges von unten (diffuse Ausleuchtung der gesamten Netzhaut). Afferenz beidseits intakt = Pupillen immer gleichweit. Einseitige afferente Störung = Pupillenerweiterung bei Belichtung des geschädigten

TO

Abb. 2-21 Pupillenreflexbogen. Afferenter Schenkel: Netzhaut (NH), Nervus opticus (NO), Chiasma opticum (CO), Tractus opticus (TO) bis zum Praetectum (PT). Efferenter Schenkel: Parasympathische Okulomotoriusfasern (III), Umschaltung im Ganglion ciliare (GC)

Θ

Abb. 2-22 Swinging-Flashlight-Test bei afferenter Störung des linken Auges. Pupillenweite in Dunkelheit (a), bei Belichtung des gesunden rechten (b) und des geschädigten linken Auges (c)

Pupillenreflexbogen: - Afferenz = vordere Sehbahn, - Efferenz = parasympathische Fasern des N. III.

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Neurologische Syndrome Auges (Abb. 2-22). Wegen Seitenvergleichs sehr empfindlich, insbesondere bei Retrobulbärneuritis u. a. Optikusläsionen.

Efferente Pupillenstörungen: - Pupillotonie, - Argyll Robertson-Pupille, - Tonische Pupillen bei Parinaud-Syndrom, - Innere Okulomotoriuslähmung, - Horner-Syndrom (Sympathikusläsion), - Augentropfen, - Botulismus, - Irisanomalien und -läsionen. Argyll Robertson-Pupille (syn. reflektorische Pupillenstarre): LichtNah-Dissoziation, d. h. träge Lichtreaktion, bessere Verengung bei Naheinstellung (Konvergenzreaktion).

Horner-Syndrom: - Ptosis - Miosis - scheinbarer Enophthalmus. Die Läsion kann zentral (1. Neuron), präganglionär (2. Neuron) und postganglionär (3. Neuron) liegen. Präganglionärer und postganglionärer Horner können durch die unterschiedliche Reaktion auf OH-Amphetamin unterschieden werden (bei postganglionärem Horner keine Pupillenerweiterung).

2.5.1.2 Efferente Pupillenstörungen Pupillotonie: Pupille mittelweit, rund, träge Lichtreaktion, bessere Verengung bei Naheinstellung. Meist auch Akkommodationsstörung (Akkommodotonie). Meist einseitig. Im Gegensatz zur normalen Pupille Miosis bereits mit 0,1 % Pilocarpin. Harmlos, Ursache unklar, ζ. T. Fehlregeneration nach Ganglionitis ciliaris. Pupillotonie plus Patellarsehnenareflexie: Adie-Syndrom. Adie-Syndrom plus segmentale Anhidrose = Ross-Syndrom. Argyll-Robertson-Pupille (syn. reflektorische Pupillenstarre): Licht-Nah-Dissoziation wie bei Pupillotonie, aber sehr enge, u n r u n d e Pupillen und schlechte Erweiterung im Dunkeln. Meist beidseitig. Ursache: diffuse Schädigung im rostralen Mittelhirn (Neurosyphilis). Tonische Pupillen bei Parinaud-Syndrom: s. d.! Innere Okulomotoriuslähmung: s. d.! Horner-Syndrom (Sympathikusläsion): einseitige mäßige Miosis, geringe Ptosis (scheinbarer Enophthalmus) (Abb. 2-23); bei präganglionärer Läsion zusätzlich trockene Gesichtshälfte. Ursachen: zentraler Horner (1. Neuron) bei Hirnstamminfarkten (Wallenberg-Syndrom), Großhirnläsionen; präganglionär (2. Neuron) bei Hals- und zervikothorakalen Traumen (Schulter-ArmSchmerz bei Horner Hinweis auf bronchogenes Karzinom, Pancoast-Tumor); postganglionär (3. Neuron) bei Cluster-Kopfschmerz, Schädelbasistumoren und -frakturen, Metastasen und Entzündungen der Halslymphknoten. Bei präganglionärem Horner Neoplasien häufiger als bei postganglionärem. Postganglionärer Horner: keine Pupillenerweiterung mit 1 % Hydroxyamphetamin-hydrobromid (Paredrine®) im Gegensatz z u m zentralen und präganglionären Horner.

Abb. 2-23 Horner-Syndrom rechts. Anisokorie ( = .ungleiche Weite der Pupillen) im hellen Raum (oben) gering, im dunklen Raum (unten) stärker (Blitzlichtaufnah-

Andere Ursachen für efferente Störungen: Medikamentöse Miosis und Mydriasis, Irisanomalien, Synechien nach Iritis, traumatische Sphinkterläsion, Irisatrophie, Botulismus. Afferente Pupillenstörungen

2.5.1.3 Afferente Pupillenstörungen

Ursachen: - dichte Medientrübungen, - Netzhautläsion, - Sehnervenläsion.

Ursachen: einseitige oder einseitig stärker ausgeprägte Sehnervenläsion (Neuritis, Tumor, Trauma), ausgedehnte Netzhautläsion, sehr dichte Trübungen von Hornhaut, Linse, Glaskörper. Bei homonymer Hemianopie gelegentlich afferente Störung auf der Seite des temporalen Gesichtsfeldausfalls.

185

Neuroophthalmologische Syndrome

2.5.2 Augenbewegungsstörungen 2.5.2.1 Periphere Augenmuskellähmungen

Periphere Augenmuskellähmungen

Ursachen: Hirnnervenläsion (neurogen), Muskelerkrankung (myogen), Störung der neuromuskulären Überleitung (Myasthenie). Bei peripheren (infranukleären) Augenmuskellähmungen tritt ein Lähmungsschielen auf. (Differentialdiagnose: frühkindliches Begleitschielen).

Ursachen: - Hirnnervenläsion, - Muskelerkrankung, - Myasthenie.

Kennzeichen des Lähmungsschielens: - Schielstellung meist akut aufgetreten - Doppelbildwahrnehmung - Schielwinkel und Doppelbildabstand nehmen in Zugrichtung des paretischen Muskels zu. - Kopfzwangshaltung zur Vermeidung von Doppelbildern (Abb. 2-24) - Lokalisationsstörung (Vorbeizeigen) bei Fixation mit dem paretischen Auge

Diagnostik bei Augenmuskellähmungen: Fahndung nach weiteren Hirnnervenläsionen und neurologischen Ausfällen, Blutbild (Lymphozytose?, abgelaufene Infektion?), Blutsenkung (Arteriitis cranialis?), Glukosetoleranztest, Tensilontest (Myasthenie?), Röntgen-Thorax (Tbc, Boeck), Lumbalpunktion, gezielte Computertomographie; evtl. auch Kernspintomographie, Angiographie.

Abb. 2-24 Trochlearisparese rechts

Kennzeichen des Lahmungsschielens

Φ=·

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Neurologische Syndrome Therapie bei Augenmuskellähmungen: Behandlung der Grunderkrankung. Bei Doppelbildbeschwerden Aufkleben von Prismenfolien auf die Brillengläser oder Okklusion des paretischen Auges. Kinder wechselweise okkludieren zur Vermeidung einer Amblyopie. Bei stabilem Befund evtl. nach 6 Monaten operative Korrektur.

Okulomotoriusparese Ursachen: - Kompression (weite Pupille), - Ischämie (ohne Pupillenbeteiligung).

Okulomotoriusparese (N. III) Klinik: Ptosis, Adduktions-, Hebungs- und Senkungseinschränkung, Mydriasis und Akkommodationslähmung (Ophthalmoplegia interna) durch Parese von M. levator palpebrae superior, Mm.rectus internus, superior, inferior und M. obliquus inferior sowie des M. sphincter pupillae und des M. ciliaris. Ursachen: 1. Bei weiter Pupille meist Kompression (Aneurysma der A. Carotis int.-A. communicans post., Keilbeinmeningiom, Hypophysenadenom, Clivuskantensyndrom). 2. Ohne Pupillenbeteiligung meist reversible ischämische N.III-Parese infolge Diabetes/Arteriosklerose. Die ischämische N.III-Parese kann mit plötzlichen, heftigen Augen- und Kopfschmerzen einhergehen (painful ophthalmoplegia, Differentialdiagnose: Aneurysma). Spontanremission nach 4 - 6 Wochen. Fehlregeneration: Nach Kompression, nicht nach ischämischer Parese. Häufig sprossen Fasern für den R. inferior oder R. internus in den M. levator ein.

Trochlearisparese: - verkippte Doppelbilder bei Abblick, - Kopfneigung zur gesunden Seite Bielschowsky-Phänomen Höherstand des gelähmten Auges bei Kopfneigung zur gelähmten Seite.

Abduzensparese horizontal versetzte Doppelbilder, besonders in der Ferne.

Differentialdiagnose: - Pseudoabduzensparese (frühkindlicher Strabismus convergens), - Duane-Syndrom. Okuläre Myasthenie Bei jeder Augenbewegungsstörung ohne Pupillenbeteiligung muß eine Myasthenie ausgeschlossen werden.

Simpson-Test bei okulärer Myasthenie: Bei anhaltendem Aufblick sinken die Lider allmählich herab.

Trochlearisparese (Ν. IV) Klinik: Die Parese des M. obliquus superior führt zu Außenrotation, Höherstand und Adduktion des Auges, verkippten Doppelbildern bei Abblick, Kopfneigung zur gesunden Seite, Höherstand des gelähmten Auges bei Kopfneigung zur gelähmten Seite (Bielschowsky-Phänomen, s. Abb.2-24). Ursachen: kongenital oder früh erworben (Kopfzwangshaltung auf alten Fotos), Trauma, Ischämie (Diabetes, Arteriosklerose), selten Tumoren. Differentialdiagnose: kongenitaler Strabismus surso-adductorius (Höherstand des adduzierten Auges); supranukleäre Vertikaldivergenz (Hertwig-Magendie). Abduzensparese (Ν. VI) Klinik: Innenschielstellung, horizontal versetzte Doppelbilder, besonders in der Ferne, evtl. Kopfdrehung zur Seite des paretischen M. externus (= M. rectus lateralis). Ursachen: Trauma, vaskulär, Tumor (Hirnstammtumoren häufigste Ursache bei Kindern), Hirndruck, Entzündungen. Häufigste Augenmuskelparese. In ca. 80 % der Fälle isoliert, dann ohne lokalisatorische Bedeutung. Eine isolierte „periphere"-N.-VI-Parese kann durch Demyelinisierung der in der Pons verlaufenden Fasern Zustandekommen. Differentialdiagnose: Pseudoabduzensparese bei frühkindlichem Strabismus convergens (normale Abduktionssakkaden), Duane-Syndrom (R. externus teilweise vom N. III innerviert, deswegen Abduktionsschwäche und Bulbusretraktion mit Lidspaltenverengung bei Adduktion). Okuläre Myasthenie Klinik: Ptosis und Schielstellung ohne Pupillenbeteiligung, meist gegen Abend zunehmend, von einer Untersuchung zur anderen wechselnd, keinem Hirnnervenausfall entsprechend (neurogene periphere u n d supranukleäre Störungen wie die internukleäre Ophthalmoplegie können vorgetäuscht werden), Oberlidzuckungen bei Blicksprung nach oben. Simpson-Test: Bei anhaltendem Aufblick sinken die Lider allmählich herab. Analog hierzu Z u n a h m e einer myasthenischen Schielstellung bei anhaltender Blickauslenkung. Weitere Diagnostik und Therapie s. Kapitel 24.

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Neuroophthalmologische Syndrome Chronisch Progressive Externe Ophthalmoplegie (Graefe) Klinik: I m Laufe von Jahren z u n e h m e n d e Ptosis u n d Unbeweglichkeit beider Augen, meist ohne Doppelbildbeschwerden, keine Pupillenstörung, Orbikularisschwäche, m a n c h m a l familiär. Kearns-Sayre-Syndrom (mitochondriale Zytopathie): zusätzlich Retinitis-pigmentosa-ähnliche Veränderung des Augenhintergrunds, Herzschenkelblock u. a. Differentialdiagnose: Myasthenie, progressive supranukleäre Bulbärparalyse, Parkinsonismus.

2.5.2.2 Nukleäre Augenmuskellähmungen

Abduzenskernläsion — horizontale ipsilaterale Blickparese.

N.III-Kern einseitig: Einseitige N.III-Parese und Ausfall des kontralateralen R. superior, beidseitige leichte Ptosis. N.III-Kern beidseitig: Beidseitige N.III-Parese m i t / o h n e Ophthalmoplegia interna und ohne Ptosis. N u r in den beiden oben angeführten Fällen kann eine nukleäre sicher von einer infranukleären Okulomotoriusparese unterschieden werden. N.IV-Kern: wie periphere Trochlearisparese. N.VI-Kern: immer horizontale ipsilaterale Blickparese (vgl. supranukleäre Störungen!).

2.5.2.3 Supranukleäre Augenbewegungsstörungen Mit den vier supranukleär gesteuerten Blickbewegungen wird das Bild eines Gegenstandes in der Fovea beider Augen eingefangen u n d festgehalten: 1. Sakkade Rasche Blickzielbewegung, wird geprüft durch Hin- und Herblicken zwischen zwei Punkten oder zwischen den beiden erhobenen Zeigefingern des Arztes. 2. visuelle Folgebewegung Langsame, gleitende Bewegung beim Verfolgen eines bewegten Fingers/Pendels. 3. vestibulo-okulärer Reflex Gleitende Augenbewegung entgegen der Kopfbewegung, Prüfung durch Hinund Herschütteln des Kopfes oder vertikale Nickbewegung (Puppenkopfphänomen). 4. Vergenz Langsame, im Gegensatz zu 1 - 3 gegenläufige Bewegung beider Augen (Konvergenz, Divergenz u. a.) Prüfung der Konvergenz: Zeigefinger des Patienten fest fassen u n d von u n t e n zu seiner Nase heranführen.

Diagnostische Regel: Isolierter Ausfall einer Blickbewegungsart = supranukleäre Läsion. Alle Blickbewegungen gestört = nukleäre oder infranukleäre Läsion.

Internukleäre Ophthalmoplegie (INO) Klinik: Rectus-intemus-Parese mit deutlicher Verlangsamung der Adduktionssakkade, aber meist ohne Außenschielstellung bei Geradeausblick. Im Gegensatz zur peripheren Internusparese kann das Auge durch Konvergenz weiter adduziert werden als bei Seitwärtsblick. Dissoziierter Nystagmus am kontralateralen abduzierten Auge. Bei bilateraler I N O vertikaler Blickrichtungsnystagmus nach oben und unten. Ursache: Ein- oder beidseitige Unterbrechung des Medialen Longitudinalen Fasciculus (MLF, mediales Längsbündel) zwischen A b d u z e n s k e m und Internussegment des Okulomotoriuskerns (Abb.2-25). Beidseitige INO bei j u n g e n Patienten meist Entmarkungserkrankung (MS), einseitige INO bei alten Patienten meist ischämisch.

Blickbewegungen - Sakkade, - visuelle Folgebewegung, - vestibulo-okulärer Reflex, - Vergenz.

Diagnostische Regel bei Störung der Blickbewegungen:

Internukleäre Ophthalmoplegie - Unterbrechung des MLF, - langsame Adduktionssakkade, - dissoziierter Nystagmus, - Adduktion bei Konvergenz besser. INO-Regel - beidseitige INO, junger Patient: Entmarkung (MS), - einseitige INO, alter Patient: Ischämie.

188

Neurologische Syndrome

Abb. 2-25 Hirnstammstrukturen für horizontalen und vertikalen Blick (nach Henn). PPRF (Paramediane Pontine Retikulär-Formation): erzeugt ipsilaterale horizontale Sakkaden, koordiniert horizontale und vertikale Sakkaden. Abduzenskern (VI): enthält außer Abduzensneuronen auch die Interneurone, welche über den Medialen Longitudinalen Fasciculus (MLF) zum Internussegment des kontralateralen Okulomotoriuskerns (III) ziehen. riMLF (rostraler interstitieller Kern des MLF): mesenzephales Zentrum für vertikale Sakkaden Horizontale Bllcklähmungen Ursachen: - Hemisphärenläsion, - PPRF-Läsion, - Abduzenskernläsion.

Pontine horizontale Blickzentren 1. PPRF - nur für ipsilaterale Sakkaden, 2. Abduzenskern für alle ipsilateralen Augenbewegungen.

Vertikales Blickzentrum

riMLF-rostraler interstitieller Kern des Medialen Longitudinalen Fasciculus (im Mes-

enzephalon).

Parinaud-Syndrom: - vertikale Blicklähmung, - Oberlidretpaktion, - Nystagmus retractorius, - Konvergenznystagmus, - tonische Pupillen.

Horizontale Blicklähmungen Hemisphärenläsion: 1. Akute Frontalhirnläsion verursacht (meist nur flüchtigen) Ausfall der Sakkaden zur Gegenseite mit Diviation conjuguee („Patient blickt den Herd an."). Durch vestibulookulären Reflex und Fingerfolgen Augenwendung zur Gegenseite möglich. 2. Bei hinteren Hemisphärenläsionen ruckartige (sakkadierte) Folgebewegung zur Herdseite und Abschwächung des optokinetischen Nystagmus bei Streifenbewegung zur Herdseite, Sakkaden normal, homonyme Hemianopie. 3. Akute, ausgedehnte Läsionen des Marklagers, der inneren Kapsel und der Basalganglien führen zur kompletten Blicklähmung (= 1.+2.) mit Bewußtseinseintrübung. Pontine Blicklähmung (s. Abb. 2-25): 1. Einseitige Läsion der in unmittelbarer Nachbarschaft des Abduzenskerns gelegenen PPRF (paramediane pontine Retikulär-Formation): anhaltender Ausfall der ipsilateralen Sakkaden, im akuten Stadium vorübergehend tonische kontralaterale Augenwendung. 2. Einseitige Abduzenskernläsion: zusätzlich Ausfall der ipsilateralen Folgebewegungen und der vestibulo-okulären Kompensationsbewegungen, Konvergenz erhalten. 3. Beidseitige kaudale PPRF-Läsion: Ausfall der horizontalen Sakkaden nach rechts und links und Störung der vertikalen Sakkaden. Ursachen: Tumoren, Ischämie, Demyelinisierung, gelegentlich angeboren. Vertikale Blicklähmung (Parinaud-Syndrom) Klinik: komplette vertikale Blicklähmung (häufigste Form) oder isolierte Auf-/Abblicklähmung. Bei versuchtem Aufblick Oberlidretraktion und Konvergenznystagmus oder Nystagmus retractorius (ruckartiges Einziehen der Augen in die Orbita). Durch langsame Folgebewegungen und den vestibulookulären Reflex können die Augen oft noch ein wenig nach oben/unten bewegt werden. Pupillen meist mittelweit, tonisch, mit Licht-Nah-Dissoziation. Ursachen: Tumor (Pinealom), Mittelhirninfarkt mit Einschluß der Commissura post, oder des vertikalen Blickzentrums (riMLF - s. Abb. 2-25).

189

Neuroophthalmologische Syndrome 2.5.2.4 Nystagmus

Nystagmus

Definition: Regelmäßige Folge einer raschen sakkadischen Augenbewegung in eine Richtung und einer langsamen gleitenden Rückführung in die entgegengesetzte Richtung; die Benennung des Nystagmus erfolgt nach der raschen Phase. Physiologische Nystagmusformen sind der optokinetische und der vestibuläre Nystagmus. Optokinetischer Nystagmus: Ein bewegtes Reizmuster löst eine langsame Folgebewegung zur Stabilisierung des Blickziels aus, an deren Ende eine sakkadische Rückbewegung in Gegenrichtung der Musterbewegung erfolgt. Der OKN ist nach einer Seite gemindert, wenn kontralateral eine Läsion des parieto-okzipitalen visuellen Assoziationsfeldes (Area 17) oder des prämotorischen frontalen Augenfeldes besteht, aber auch bei ipsilateralen pontinen oder Flocculus-Läsionen (ζ. B. bei Akustikus-Neurinom). Vestibulärer Nystagmus: Bei Rotation um die vertikale Körperachse entsteht ein vestibulärer Beschleunigungsnystagmus in Drehrichtung, der bei abrupter Unterbrechung der Rotation in die Gegenrichtung umschlägt (postrotatorischer Nystagmus). Bei Spülung eines Gehörgangs mit warmem Wasser von 44 °C kommt es zu einem vestibulären Nystagmus nach ipsilateral, bei Spülung mit kaltem Wasser von 30 °C nach kontralateral. Der vestibuläre Nystagmus ist Ausdruck des vestibulookulären Reflexes, der bei Kopfbewegungen den Blick im Raum stabilisiert und bei einem Ausfall zu charakteristischen Oszillopsien führt. Pathologische Nystagmusformen sind u. a. der Spontannystagmus und der Blickrichtungsnystagmus. Spontannystagmus: Ein einseitiger akuter Labyrinthausfall mit Beteiligung der horizontalen Bogengänge führt zu einem vestibulären rotierenden Spontannystagmus zur gesunden Seite bei kalorischer Unter- oder Unerregbarkeit der kranken Seite. Blickrichtungsnystagmus: Im Rahmen einer Blickhalteschwäche kommt es bei Seitblick von 5 ° = Kippdeviationen. (2) K u r z e Episoden von Sakkaden wechselnder R i c h t u n g mit Unterschreitung des ü b l i c h e n intersakkadischen I n t e r v a l l - M i n i m u m s von 80 m s = Opsoklonus. (3) Oszillationen im A n s c h l u ß an eine Willkürsakkade = postsakkadisches Augenflattern. Eine Treppe vieler kleiner Sakkaden anstelle einer einzelnen großen findet m a n bei der Sakkadenhypometrie. - Rhythmische Augendrifts: (1) Pendelformige, überwiegend horizontale Augenbewegungen in f r ü h e n Schlafstadien, leichtem K o m a oder leichter Narkose. (2) Vertikales „ B a u m e l n " (engl, ocular bobbing) in F o r m von langsamen Abwärtsdrifts mit R ü c k k e h r zur Mitte n a c h einigen S e k u n d e n ; es wird im K o m a bei einseitiger Hirns t a m m s c h ä d i g u n g gesehen u n d gilt prognostisch als ungünstig.

2.6.4 Hörstörungen Eine

Hörminderung

kommt

durch

Hörstörungen

Schädigung

des Innenohrs

als B e g l e i t s y m p t o m b e i v i e l e n n e u r o l o g i s c h e n

oder des Ν. VIII Erkrankungen

Auslöser, topische Z u o r d n u n g u n d Zeitverlauf der Hörstörung k ö n n e n

vor. die

Diagnose der neurologischen Erkrankung erleichtern. Die Kombination von Hör- u n d vestibulärer Störung kann durch eine Vielzahl von Schädigungen b e d i n g t sein: vaskulär (z.B. A p o p l e x des I n n e n o h r e s ) , t r a u m a t i s c h (z.B. Pyr a m i d e n q u e r f r a k t u r ) , e n t z ü n d l i c h (ζ. B. b a s a l e M e n i n g i t i s ) ,

konstitutionell-

e r b l i c h ( O t o s k l e r o s e ) , t o x i s c h (ζ. B. S t r e p t o m y c i n ) s o w i e d u r c h R a u m f o r d e -

H ö r s t ö r u n g e n im R a h m e n n e u r o l o g i s c h e r Erk r a n k u n g e n sind ein w i c h t i g e r topodiagnostischer Hinweis.

202

Neurologische Syndrome rung im B e r e i c h der Schädelbasis, des Mittelohrs oder des K l e i n h i r n b r ü c k e n winkels.

Retrocochleäre Hörstörungen sind zumeist durch Schädigung des Hörnerven bedingt. Diagnostische Hilfsmittel: akustisch evozierte Potentiale, Audiogramm, bildgebende Verfahren (z.B. CT), Liquor. Für die Untersuchung zentraler Hörstörungen sind spezielle Verfahren notwendig.

A u f die Unterscheidung zwischen Schalleitungs- und Innenohrschwerhörigkeit wurde bereits hingewiesen (s. Ν. V I I I ; 1.2.3). D i e Unterscheidung zwischen I n n e n o h r - und retrocochleärer (nervaler) Hörstörung ist

ungleich

schwieriger. B e i mäßiger Hörminderung k ö n n e n evtl. die akustisch evozierten Potentiale (s. 1.3.1.5) weiterhelfen. Audiologisch kann ein

fehlender

Lautheitsausgleich (fehlendes recruitment), eine a b n o r m e Gehörermüdung und ein auffallend starker Diskriminationsverlust im Sprachaudiogramm a u f eine nervale Störung hinweisen. L ä s i o n e n im B e r e i c h der aufsteigenden Hörb a h n e n sowie in der primären Hörrinde sind nur mit speziellen Untersuchungsverfahren

(Richtungshören,

auditives Selektionsvermögen,

dichoti-

sche Hörversuche) faßbar. Dagegen können sich L ä s i o n e n in den auditiven Assoziationsfeldern (Areae 42 u. 22) in F o r m einer akustischen Agnosie zeigen. I m weitesten S i n n e gehören auch die A m u s i e und die W e r n i c k e - A p h a sie zu den kortikalen Hörstörungen. Ohrgeräusch (Tinnitus) Zumeist kombiniert mit Hörstörungen. Die Schädigung kann im Mittelohr, im Innenohr oder retrocochleär gelegen sein. Pulssynchrone Ohrgeräusche sind verdächtig auf Gefäßmißbildung.

O h r g e r ä u s c h (Tinnitus) Es ist häufig mit einer Hörminderung kombiniert und k o m m t bei Mittelohr-, I n n e n o h r - und retrocochleären Prozessen vor. E i n klingender T o n oder ein Pfeifen spricht für eine cochleäre Störung. G e r ä u s c h e entstehen eher im Mittelohr oder sind fortgeleitet. A u f neurologischem G e b i e t spielen pulssynchrone G e r ä u s c h e eine besonders wichtige Rolle. S i e k ö n n e n durch G e f ä ß stenosen oder durch G e f ä ß m i ß b i l d u n g e n bedingt sein. In solchen

Fällen

gehört eine lokale Auskultation, ein Abdrücken von Ästen der A. carotis externa (ein Abdrücken der Interna ist nicht unproblematisch) sowie eine Dopplersonographie

zur

Erfassung

eines

vermehrten

arteriellen

Flusses

(durch arteriovenösen Shunt) zur Untersuchung. B e i rhythmischen, nicht pulssynchronen G e r ä u s c h e n sucht m a n nach e i n e m Gaumensegelnystagmus. A l l g e m e i n gehört eine Ohrspiegelung zur Untersuchung. E i n durch das T r o m m e l f e l l d u r c h s c h i m m e r n d e s bläuliches G e f ä ß k n ä u e l zeigt z u m Beispiel einen G l o m u s t u m o r i m Mittelohr an ( A n g i o m y o n e u r o m ; „ G l o m u s tympanic u m " oder, ausgehend von der Schädelbasis, „ G l o m u s jugulare", häufig kombiniert mit Hirnnervenausfällen).

Literatur Brandt,

T.,

W. Büchele:

Augenbewegungsstörungen.

Fischer,

Stuttgart

1983 F e l d m a n n , H.: Prinzipien der Diagnostik zentraler Hörstörungen. Z. Laryng. Rhinol. 55:864 1969 Frank, F., F. Horak: Analysen objektivierbarer Ohrgeräusche. Laryngol. R h i nol. 55 ( 1 9 7 6 ) 5 1 8 Kornhuber, H . H . : H a n d b o o k o f Sensory Physiology, Bd. I V , Vestibular System, T e i l 1 und 2. Springer, Berlin 1974 Kornhuber,

Η. H.: Zur Differentialdiagnose

des Schwindels. Arch.

Oto-

Rhino-Laryngol. 2 1 2 ( 1 9 7 6 ) 3 3 9 Stenger, H . H . : Vestibularisuntersuchungen in der Praxis. In: Hals-NasenOhren-Heilkunde,

Bd. V / 1

T h i e m e , Stuttgart 1 9 7 9

(Hrsg. B e h r e n d e s J., R . Link, F . Zöllner).

203

Meningeale Syndrome und Hirndrucksyndrome

2.7 Meningeale Syndrome und Hirndrucksyndrome F. Broser

2.7.1 Meningeale Syndrome

Meningeale Syndrome

Diesen liegen Reizerscheinungen der Hirn- und Rückenmarkshäute zugrunde. Sie können nicht nur durch virale und bakterielle Infektionen, sondern auch durch Einblutung in den Subarachnoidalraum (ausnahmsweise auch durch andere Fremdsubstanzen wie das Cholesterin eines Cholesteatoms), durch Insolation, durch Tumorinvasion, durch Liquorpunktion, Störungen der Liquorzirkulation und durch gesteigerten Hirndruck hervorgerufen sein.

Ursachen: - bakterielle und virale Infektionen, - Subarachnoidalblutungen, - Insolation, - meningeale Tumorinvasion, - postpunktionelle meningeale Reaktion, - Liquorzirkulationsstörungen und Hirndrucksteigerung.

2.7.1.1 Klinische Symptomatik

Klinische Symptomatik: - Kopfschmerz, - Nackensteife, - Brudzinski-, Kernig- und Lasegue-Zeichen, - Lichtscheu und allg. Schmerzüberempfindlichkeit, - Übelkeit und Erbrechen, - Hyperhidrose und verstärkte Dermographie, - Bradykardie bzw. Herzrhythmusstörungen, - psychische Veränderungen (Aufmerksamkeits-, Antriebs- und Vigilanzstörungen, ev. Funktionspsychosen)

Im Vordergrund stehen: - Kopfschmerz, besonders im Hinterkopf und Nacken, der vielfach in die Schultern und den Rücken ausstrahlt; - schmerzhafte Nackensteife (Meningismus) mit Abwehrspannung gegen eine passive Vorwärtsbeugung des Kopfes und der Tendenz zur Retroflexion des Kopfes (Opisthotonus), zur Überstreckung des Rumpfes und zur Flexion der Beine in den Hüft- und Kniegelenken; - positives Brudzinski-Nackenzeichen: Anheben und Anteflexion des Kopfes löst reflektorisch ein Anziehen und Beugen der Beine aus; - positives Kernig- und Lasegue-Zeichen: In sitzender Stellung stößt die passive Streckung der im Knie abgewinkelten Beine auf reflektorischen Widerstand und in Rückenlage die Hüftbeugung bei im Knie gestreckten Beinen. Häufig kommen hinzu: - Lichtscheu und allgemeine Schmerzüberempfindlichkeit bei Berührung oder Druck auf Haut und Weichteile. - vegetative Störungen in Form von Übelkeit mit Erbrechen, Fieber und Blutbildveränderungen, Hyperhidrosis, Verlangsamung, Beschleunigung oder Unregelmäßigkeit der Herzschlagfolge und verstärkte Dermographie. - psychische Veränderungen unterschiedlicher Schweregrade von Apathie mit Antriebs-, Konzentrations-, Aufmerksamkeits-, Merk- und Gedächtnisschwäche verbunden mit emotioneller Labilität bis hin zu psychotischen Zuständen, von einfacher Benommenheit oder deliranter und amentieller Unruhe (s. S. 140). Brauchbare Hinweise bei Kindern ergeben sich evtl. auch noch aus dem: - „amoss sign" bzw. „Dreifußzeichen", daß das Kind beim Sitzen sich nach hinten neigt und sich dabei hinten mit beiden Armen abstützt und dem - „spine sign" bzw. „Knickfußphänomen", daß das Kind mit dem Mund das Knie nicht erreicht.

204 Es sind zu unterscheiden ein - akutes meningeales Syndrom, - subakutes meningeales Syndrom, - chronisches meningeales Syndrom, - Meningismus.

Neurologische Syndrome 2.7.1.2 Akutes meningeales Syndrom Dabei ist ein plötzlicher Beginn und eine rasche und oft foudroyante Entwicklung der meningitischen Erscheinungen üblich und finden sich deutliche Liquorveränderungen in Abhängigkeit von der Ätiologie, wie ein massiv blutiger Liquor bei Aneurysmaruptur oder eine starke Pleozytose bei bakteriellen Infektionen.

2.7.1.3 Chronisches meningeales Syndrom Hier entwickelt sich die meningeale Symptomatik in der Regel schleichend, bleibt lange wenig ausgeprägt, oft nur angedeutet. Auch die Liquorveränderungen bleiben bei entzündlicher Ätiologie meist bescheiden, vor allem was die Pleozytosen betrifft, wohingegen Eiweißvermehrungen häufiger sind und öfters sogar stärkere Ausmaße annehmen. Neben Lues und Tuberkulose kommen für solche chronischen Verläufe auch Leptospirosen, Bruzellosen, Toxoplasmen- und Pilzinfektionen infrage, aber auch das Boeck-Sarkoid, Leukosen, Sarkomatosen, Karzinomatosen und Melanoblastosen.

2.7.1.4 Meningismus Leichte meningeale Reizerscheinungen kommen bei zahlreichen Infektionskrankheiten vor.

Leichte meningeale Erscheinungen, die, wenn dabei keinerlei Liquorveränderungen zu finden sind, als „Meningismus" bezeichnet werden, treten nicht selten in Begleitung einer Reihe von bakteriellen und viralen Infektionskrankheiten auf wie bei Pneumonie, Typhus, Paratyphus und Ruhr sowie Influenza, Masern, Scharlach, Coxackie- und ECHO-Virusinfektion, PfeifferDrüsenfieber und Parotitis epidemica. Dabei ist bis heute unentschieden, ob es sich u m Folgeerscheinungen toxischer oder allergischer Gefäß- und Gewebeschädigungen handelt.

Hirndrucksyndrome

2.7.2 Hirndrucksyndrome

Häufige Ursachen: - Hirntumor - Hirnabszeß - intrazerebrale Massenblutung - Hirnödem - Liquorabflußbehinderung (Foramen-Monroi-, Aqaeduktblockade u.a.)

Die Unnachgiebigkeit der knöchernen Schädelkapsel, zumindest des Erwachsenen, bedingt, daß alle Prozesse, die zu einer Volumenvermehrung Anlaß geben, wie ζ. B. Hirntumoren, Hirnabszesse, zerebrale Massenblutungen, ausgedehnte Hirnödeme und Liquorabflußbehinderungen nach Aufbrauch der Reserveräume, die etwa 10% des Gesamtvolumens ausmachen, den intrakraniellen Druck steil ansteigen lassen. Dadurch und durch die vielfach vorauslaufenden Hirnmassenverschiebungen mit transfalxialer, transtentorieller oder tonsillärer Herniation (Abb. 2-30) kommt es zu einer Drosselung der arteriellen Blutzufuhr und damit der Sauerstoffversorgung des Gehirns und zusätzlich zu einer Kompression von Hirnvenen und venösen Hirnsinus und damit zur Ausbildung bzw. Zunahme des schon bestehenden Hirnödems und früher oder später auch zu Störungen der Liquorzirkulation und zur Liquorblockade (Foramen-Monroi- oder Aquaedukt-Verschluß). Diese sich wechselseitig verstärkenden pathophysiologischen Faktoren führen schließlich bei progredienter Entwicklung entweder

Folgeerscheinungen gesteigerten Hirndrucks: - transfalxiale Herniation - Massenverschiebung, ev. mit Ventrikelverlagerung und Einengung - Drosselung der arteriellen Blutzufuhr (Hypämie) - venöse Abflußbehinderung - Störung der Liquorzirkulation - transtentorielle (mesenzephale) Einklemmung - tonsilläre (bulbäre) Einklemmung

a) zu einer Einpressung des Gehirns in den Tentoriumschlitz mit der Ausbildung eines Prolapses medialer Temporalhirnanteile zu einer sog. oberen mesenzephalen oder transtentoriellen Einklemmung (s. 2.7.2) oder b) zu einer Einpressung der Kleinhirntonsillen ins Foramen occipitalemagnum und unter Ausbildung eines tonsillären Prolapses zu einer sog. unteren pontinen oder bulbären Einklemmung (s. 2.7.2).

205

Meningeale Syndrome und Hirndrucksyndrome

Abb. 2-30 Auswirkungen intrakranieller Drucksteigerungen. Pathophysiologische Veränderungen: 1 Transfalxiale Herniation 2 Ventrikeleinengung und Verlagerung, evtl. mit Foramen-Monroi-Blockade 3 Transtentorielle Herniation 4 Tonsilläre Herniation

2.7.2.1 Klinische Symptomatik Zu den evtl. vorauslaufenden, durch den Ort des raumfordernden Prozesses und der jeweiligen Massenverschiebung bedingten Herderscheinungen stellen sich mit der Ausbildung eines Hirndrucks folgende Hirndrucksymptome ein: - Kopfschmerz diffus im Nacken- und Stirnbereich betont in Form eines dumpfen Drucks, eines Empfindens, als sei der Kopf in einem Reifen eingepreßt oder als „wolle er zerspringen". Häufig ist eine Verstärkung durch Lageänderung, Bücken, Pressen und dergl. gegeben. - Schwindel unsystematisch, permanent oder intermittierend, vielfach durch Lageänderung zu provozieren. - Übelkeit und Erbrechen im Schwall ohne Ankündigung besonders morgens nach dem Aufstehen. - Neigung zu Singultus und zum Gähnen. - Psychische Veränderungen, Nachlassen der Wachheit (Vigilanzstörungen), des Antriebs, der Aktivität, der Auffassung, der geistigen Regsamkeit, des Tempos psychischer Abläufe mit Übergang in eine zunehmende Eintrübung des Bewußtseins. - Stauungspapillen, einseitig oder beidseitig ohne feste Beziehung zur Seite der Prozeßlokalisation; frühzeitig bei Prozessen in der hinteren Schädelgrube, meist erst in späteren Stadien, wenn der Prozeß im Bereich der vorderen und mittleren Schädelgrube lokalisiert ist. - An weiteren Augensymptomen sind zu nennen eine herdseitige Mydriasis, die sich früher oder später zu einer kompletten Okulomotoriuslähmung ausweiten kann, dann eine Fusionsstörung mit Übergang in eine Abduzensparese und auch Blicklähmung, in Störungen, die bereits die beginnende Einklemmung des Hirnstamms im Tentoriumschlitz anzeigen. Je nach dem Tempo der Hirndruckentwicklung unterscheidet man eine akute, subakute und chronische intrakranielle Drucksteigerung.

Klinische Symptomatik: - Kopfschmerz, - unsystematischer Schwindel, - Übelkeit und Erbrechen, ev. Singultus und Gähnen), - psychische Veränderungen (Aspontaneität und Vigilanzstörungen), - früher oder später Stauungspapillen, - herdseitige Mydriasis, ev. fortschreitende Augenmuskelparesen als Zeichen der beginnenden Einklemmung.

Zu unterscheiden sind eine: - akute intrakranielle Drucksteigerung, - subakute intrakranielle Drucksteigerung, - chronische intrakranielle Drucksteigerung.

Neurologische Syndrome

206

2.7.2.2 Syndrom der akuten und subakuten intrakraniellen Drucksteigerung Bei akuter Drucksteigerung: rasche Eintrübung, keine Stauungspapille und Augensymptomatik.

Ursächlich handelt es sich bei akuter Hirndrucksteigerung in erster Linie u m posttraumatische epidurale, seltener um subdurale Hämatome oder u m hypertonische Massenblutungen und massive Hämorrhagien aus rupturierten Aneurysmen. Die rapide akute Entwicklung des Hirndrucks macht hier kompensatorische Ausgleichsvorgänge unmöglich. So folgt dem heftigen Kopfschmerz mit Schwindel und Erbrechen rasch die psychische Eintrübung. Wenn die Blutung nicht zum Stillstand kommt und keine operative Druckentlastung vorgenommen wird, setzt schnell die Einklemmung und in kurzer Zeit, in Minuten bis Stunden das Coma depassee und der Hirntod ein (s. S. 170 u. 171).

Bei subakuter Drucksteigerung: protrahierte Bewußtseinseintrübung und Ausbildung einer Stauungspapille und Augenmuskelsymptomatik.

Bei subakuter Hirndrucksteigerung reicht im allgemeinen die Zeit zum Hervortreten von Lokalsymptomen und zur Ausbildung von Pupillenstörungen, Augenmuskellähmungen und Stauungspapillen aus und verläuft die eben skizzierte Entwicklung gleichförmig, nur verzögert innerhalb einiger Tage, ab. 2.7.2.3 Syndrom der chronischen intrakraniellen Drucksteigerung

Bei chronischer Drucksteigerung: nur allmählich einsetzende Bewußtseinsstörung, in der Regel Stauungspapillen und röntgenologisch Entkalkungszeichen an der Kalotte und Sellaformation.

Entwickelt sich die intrakranielle Drucksteigerung über Wochen und Monate protrahiert, wie bei langsam wachsenden Hirntumoren, bei chronisch sich entwickelnden Subduralhämatomen und intermittierenden Liquorpassagestörungen, dann werden zuerst einmal alle vorhandenen Druckausgleichsmechanismen ausgeschöpft, und es vergehen viele Wochen und Monate, evtl. sogar Jahre, bis die sich anbahnenden Hirndrucksymptome faßbar werden. Nach einer langen Phase uncharakteristischer, meist nur zeitweise auftretender Kopfschmerzen, Schwindelerscheinungen, Übelkeit und Brechreiz mit einer sich nur allmählich bemerkbar machenden organischen Wesensänderung läßt sich folgendes konstatieren: In etwa 60% der Fälle Stauungszeichen am Augenhintergrund oder in etwa 10 bis 20% sekundär atrophische Veränderungen am Optikus und röntgenologisch in etwa 40 % Entkalkungen und in etwa 25 %Erweiterungen der Sellaformation sowie Hinweise auf Entkalkungsvorgänge an den Knochen der Schädelkalotte in Form eines sog. „Wolkenschädels". A m Ende steht aber auch hier die Dekompensation, die dann über eine Hirnstammeinklemmung ebenfalls akut und dramatisch verlaufen kann mit allen Begleiterscheinungen, wie sie im Abschnitt über die Dezerebrationssyndrome (s. S. 169 bis 172) dargestellt wurden.

Literatur Bing, R.: Kompendium der topischen Gehirn- und Rückenmarksdiagnostik, 13. Überarb. Aufl., Schwabe, Basel 1948 Broser, F.: Topische und klinische Diagnostik neurologischer Krankheiten, 2. überarb. u. erweitert. Aufl. Urban & Schwarzenberg, M ü n c h e n - W i e n - B a l t i m o r e 1981 Mumenthaler, M.: Neurologie, 4. Überarb. Aufl. Thieme, Stuttgart 1973 Scheid, W.: Lehrbuch der Neurologie, 5. Überarb. Aufl. Thieme, Stuttgart - N e w York 1983

Schmerzsyndrome

2.8 Schmerzsyndrome

207 Schmerzsyndrome

Η.-Η. ν. Albert Von fast allen Anteilen des zentralen u n d allen Anteilen des peripheren Nervensystems können Schmerzen ausgelöst werden. Schmerzen sind dann häufig das einzige neurologische Symptom, das nach Lokalisation, Auftreten, Qualität sowie verstärkenden oder vermindernden Faktoren analysiert werden muß. Wir unterscheiden einen akuten Schmerz, wie er ζ. B. nach Verletzungen oder bei Frakturen auftritt, von einer chronischen Schmerzkrankheit. Bei chronischen Schmerzen kommt es zusätzlich zu Schlafstörungen, Appetitsverlust, Antriebsmangel und depressiven Reaktionen.

Schmerzen können von vielen Bereichen des Z N S und des peripheren NS ausgelöst werden. Wir unterscheiden akute Schmerzen und das chronische Schmerzsyndrom.

2.8.1 Neuralgien

Neuralgien

Eine Neuralgie ist durch einen akuten, meist anfallsartig oder attackenformig auftretenden Schmerz hoher Intensität mit scharfem Schmerzcharakter (vergleichbar einem akuten Zahnschmerz) gekennzeichnet. Neuralgien können im Bereich der Hirnnerven oder des peripheren Nervensystems auftreten, ausgelöst durch Veränderungen im Bereich des Nerven oder seiner Ganglien (Beispiel Trigeminusneuralgie) bzw. - vor allem beim peripheren Nervensystem - durch Kompression von außen (Engpaß-Syndrome, s. S. 127, 128, 693). Die Trigeminusneuralgie ist ein häufiges Beispiel einer echten Neuralgie: Durch Auslösung (Berührung) an Triggerpunkten (Abb. 2-31), aber auch durch Afferenzen im sensiblen Versorgungsgebiet (Bewegungen, Berührungen, Kälte, Rasieren, aber auch Bewegungen der Gesichtsmuskulatur, ζ. B. Essen) kommt es zu attackenförmig einschießenden Schmerzen im Ausbreitungsgebiet eines oder mehrerer Trigeminusäste (s. Abb. 2-31; weitere Angaben s. 17.3.1).

Neuralgie ist anfallsartig und attackenförmig auftretender Schmerz hoher Intensität und scharfen Charakters.

Die Trigeminusneuralgie ist häufig: Die Schmerzattacken werden durch Afferenzen im Trigeminusgebiet ausgelöst (Berührung, Kälte, Bewegungen der Muskulatur).

Abb. 2-31 Häufigste Schmerzausstrahlung bei der Trigeminusneuralgie (rechte Gesichtsseite) mit Triggerpunkten im (linke Gesichtsseite) Die Glossopharyngeusneuralgie ist durch neuralgische Schmerzattacken gekennzeichnet, die einseitig vom Tonsillengrund bzw. Epipharynx her ausstrahlen und durch Schlucken ausgelöst werden. In typischer Weise findet sich beim unbehandelten Patienten während des Schluckaktes eine Neigung zur Gegenseite. Der neurologische Befund ist hier auch regelrecht, gelegentlich kommt es auf dem Wege über eine gleichzeitige Erregung des N.vagus (enge Verbindung zum N. Glossopharyngeus) zu Bradykardien bis kurzen Asystolien. Neuralgien der übrigen Hirnnerven und Hirnnervenäste sind selten.

Bei der Glossopharyngeusneuralgie wird der Schmerz durch Schlucken ausgelöst und zieht vom Pharynx her zum Ohr. Bradykarde Rhythmusstörungen bis zur Asystolie sind im Schmerzanfall möglich.

Neuralgien der übrigen Hirnnerven sind selten.

Neurologische Syndrome

208 Bei der Metatarsalgie bestehen brennende Schmerzen im Bereich der mittleren Metatarsalia mit Ausstrahlung in die Fußsohle. Bei der Inguinalisneuralgie sind die Schmerzen in der Leiste bis zum inneren Oberschenkel ausgeprägt.

Bei und nach Herpes-Zoster-Infektion kann eine Neuralgie auftreten. Symptome Der Schmerz ist mehr dauernd mit attackenweiser Verstärkung; der Schmerzcharakter mehr brennend.

Neuralgiforme Schmerzen in der Peripherie, also mit scharfer Schmerzcharakteristik und attackenweiser Verstärkung, sieht man ζ. B. bei der MortonMetatarsalgie (Kompression oder Auftreibung eines N. digitalis plantaris communis vor der Aufzweigung im 3. oder 4. Zwischenknochenraum mit brennenden Schmerzen im Bereich der mittleren Metatarsalia, beim Gehen verstärkt) oder der Inguinalis-Neuralgie (Kompression des N. Ileo-Inguinalis im Leistenband, Schmerzen in der Leiste bis z u m inneren Oberschenkel). Bei Erkrankung des Spinalganglions, z.B. dem Herpes-Zoster, kann sich ein post-herpetischer Zosterschmerz, die sogenannte Zosterneuralgie, entwikkeln: Es handelt sich hier aber mehr u m einen brennenden und dauernd auftretenden Schmerz mit attackenförmiger Verstärkung bei Berührung oder Bewegung; der Schmerz ist meistens an das Ausbreitungsgebiet des ehemaligen Zosterbefalls gebunden und stellt therapeutisch ebenfalls ein schweres Problem dar.

2.8.2 Hyperästhesie Hyperästhesie = Steigerung einer Gefühlsempfindung für primär nicht schmerzhafte Reizempfindungen.

Unter Hyperästhesie ist eine Steigerung der Gefühlsempfindung zu verstehen, wie sie relativ selten als neurologisches Teilsymptom zu beobachten ist, häufiger aber bei Veränderungen der Haut auftritt: Wohl jedem ist die Temperaturüberempfindlichkeit (Thermhyperästhesie) in einem durch Sonnenbrand geröteten Hautstück beim Baden in Wasser von normaler Badetemperatur, das dann als heiß oder sehr heiß empfunden wird, erinnerlich.

2.8.3 Hyperpathie Hyperpathie = schmerzhafte Überempfindlichkeit, z.B. bei der Trigeminusneuralgie im befallenen Ast.

Hyperpathie ist die mit Schmerzen oder schmerzhaften Mißempfindungen einhergehende Überempfindlichkeit von einzelnen Hautabschnitten, Extremitäten oder des gesamten Körpers, meist gegen Berührungsreize. Das Auftreten von Schmerzen grenzt gegenüber der Hyperästhesie ab. Eine Hyperpathie findet sich ζ. B. bei der Trigeminusneuralgie im befallenen Trigeminusbereich, andererseits auch im Rahmen bestimmter Enzephalitisformen als allgemeine Hyperpathie, bei der der Patient bei der leisesten Berührung der Haut, Bewegungen des Bettes usw. unter erheblichen Schmerzen mit entsprechenden Reaktionen leidet. Ebenso wie die Hyperästhesie ist Hyperpathie Hinweis auf eine Störung in einem bestimmten Ausbreitungsgebiet eines Hirn- oder peripheren Nerven.

2.8.4 Parästhesien Parästhesien treten spontan auf, werden als Ameisenlaufen bzw. elektrisierendes Gefühl gespürt.

Parästhesien sind häufiges Krankheitszeichen bei der Polyneuropathie.

Parästhesien sind spontan auftretende Mißempfindungen, die von Patienten sehr häufig als das Gefühl des Ameisenlaufens oder als unangenehmes Kribbeln bzw. elektrisierendes Gefühl gespürt werden. Jeder hat sie vermutlich schon einmal gespürt, wenn es nach der Störung der Blutzirkulation in einer Extremität (ζ. B. schlechte Armlagerung) dann zur Wiederherstellung der normalen Blutzirkulation kommt: Die dabei auftretenden unangenehmen Mißempfindungen sind Parästhesien. Als Krankheitszeichen werden sie sehr häufig bei (meist fortgeschrittener) diabetisch oder alkoholtoxisch ausgelösten Polyneuroapthien gesehen. Sie sind dabei meist an den Akren betont und gehen mit den üblichen Begleiterscheinungen der Polyneuropathie (Reflexverlust, distal betonte Störung der Sensibilität usw.) einher.

Schmerzsyndrome

209

2.8.5 Dysästhesie Unter Dysästhesie, die ein selten zu beobachtendes neurologisches Teilsymptom ist, verstehen wir eine Sensibilitätsstörung, bei der durch Störungen der Perzeption oder der Signalverarbeitung ein fehlerhafter sensorischer Eindruck entsteht: ζ. B. Verkennung von Temperatureinflüssen, wenn kalt als warm empfunden wird und umgekehrt beziehungsweise abnorme schmerzhafte Empfindungen bei Berühren der Haut der Extremitäten oder im sensibilitätsgestörten Areal. Es können auch begleitende unangenehme Mißempfindungen dabei sein.

Dysästhesie = fehlerhafte Verarbeitung sensorischer Afferenzen.

2.8.6 Kausalgie Die Kausalgie kann nach Läsion oder subtotaler Durchtrennung eines peripheren Nerven (z.B. im Rahmen einer Amputation, bei Verletzungen usw.) auftreten und stellt einen neuralgiformen, häufig aber auch starken und eher von brennnendem Charakter geschilderten Dauerschmerz dar, der durch Analgetika bis hin zu den Opiaten nicht zu beherrschen ist. Der Schmerz hält sich an das Ausbreitungsgebiet des peripheren Nerven; er entsteht durch Fehlverarbeitung des Afferenzmangels, wenn lokale Veränderungen am Stumpf des peripheren Nerven (Neurombildung, Verwachsungen usw.) ausgeschlossen worden sind. Andere neurologische Zeichen oder Symptome bestehen nicht. Kennzeichnend sind die begleitenden vegetativen Störungen, am leichtesten erkennbar im Bereich der Haut (trophische Störungen), es treten aber auch Begleiterscheinungen an den Gelenken (Bewegungseinschränkung, Schmerzhaftigkeit) auf. Die Kausalgie wird erfolgreich ebenfalls weniger durch operative Verfahren im Bereich der afferenten Systeme, sondern leichter durch eine medikamentöse Schmerzbehandlung (Kombination von Thymoleptikum und Neuroleptikum) beeinflußt.

Kausalgie = Schmerzen und begleitende starke vegetative Störungen nach Nervenläsion (Amputation).

Therapie = Kombination von Thymoleptikum und Neuroleptikum.

2.8.7 Phantomschmerz Phantomschmerz ist ein Schmerz in einem durch Amputation oder Unfall verloren gegangenen Extremitätenanteil: Im Bereich des Phantoms (z.B. Unterschenkel und Fuß) können nicht nur die oben genannten Phänomene wie Hyperästhesie, Parästhesie und Dysästhesie auftreten, sondern es kann auch zu einer allgemeinen oder lokalisierten Schmerzhaftigkeit kommen, der sich bis zur Neuralgie steigern kann. Der Phantomschmerz kann spontan oder bei Berührung des Stumpfes auftreten; er ist intensiv und hat brennend-reißenden Charakter. Gelegentlich geben die Patienten an, daß ein „Bewegen des Phantomgliedes" zu einer Besserung führt. Zugrunde liegt sicher die komplexe Störung in der Afferenz nach Amputation oder Verlust eines Gliedes, wobei sich auch noch psychische Faktoren nach dem Verlust eines wichtigen Körperteils eine Rolle spielen. Therapeutisch ist die chronische Schmerztherapie indiziert.

Phantomschmerz tritt nach Amputation (Deafferentierung) auf: Er wird in dem nicht mehr existierenden Körperanteil empfunden; gelegentlich kann er durch „Bewegungen in dem Phantomglied" gebessert werden.

2.8.8 Organschmerz Je nach Ausmaß ihrer vegetativen oder autonomen Innervation sind Organe unter bestimmten Bedingungen schmerzhaft: Muskuläre Hohlorgane z.B. bei übermässiger Wanddehnung (Blase), Organe mit glatter Muskulatur beim Auftreten von Hindernissen (Verstopfung mit Koliken, z.B. Gallengang) oder auch durch lokale Hypoxie (Koronarinsuffizienz) bzw. Entzün-

Organschmerzen treten besonders bei muskulären Hohlorganen auf (Harnblase, Gallenb l a s e Ma en ' 9 >·

Neurologische Syndrome

210

düngen, die zu einer Strukturveränderung bzw. Volumenänderung und damit zu Veränderungen der Kapselspannung und auf diese Weise zu einer Aktivierung afferenter Neurone führen.

2.8.9 Referred pain IrradiierenderSchmerz, z.B. Schulterschmerz bei Pankreasaffektionen.

Im Gegensatz zum Organschmerz wird der irradiierende Schmerz (referred pain) nicht im Bereich der erkrankten Körperregion bzw. des erkrankten Organs empfunden, sondern die Schmerzprojektion führt in andere Körperanteile, ζ. B. Projektion in die rechte Schulter bei Pankreasaffektionen, Schmerzausstrahlung in den linken Arm bei Angina pectoris usw.

2.8.10 Zusammenfassung Schmerzsyndrome sind nur bei wenigen Krankheitsbildern (Trigeminusneuralgie) so typisch, daß die Diagnose leicht zu stellen ist. Immer bedarf es einer sehr eingehenden Anamnese, in der auch auf Veränderungen der Schmerzsyndrome oder sensiblen Veränderungen genau eingegangen werden muß, bei der psychologische Hintergrundsfaktoren mit erfaßt werden müssen. Die genaue körperliche Untersuchung läßt faßbare Ursachen von Schmerzsyndromen erkennen und ausschalten, in der Therapie haben in letzter Zeit die konservativen Behandlungsverfahren durch Kombination von Thymoleptikum und Neuroleptikum die operativen Schmerzbehandlungsverfahren in den Hintergrund gedrängt.

Literatur Albert, H.-H. v.: Vom neurologischen Symptom zur Diagnose, Differentialdiagnostische Leitprogramme, 3. Aufl. Springer, B e r l i n - H e i d e l b e r g - N e w Y o r k - T o k y o 1986 Mumenthaler, Μ., H. Schliack: Läsionen peripherer Nerven, Diagnostik und Therapie, 4. Aufl. Thieme, Stuttgart - New York 1982 Thoden, U.: Neurogene Schmerzsyndrome, Differentialdiagnose und Therapie. Hippokrates, Stuttgart 1987

Neurourologische Syndrome

2.9 Neurourologische Syndrome Ρ Brühl

Miktionsstörungen

2.9.1 Miktionsstörungen

Die Harnblase hat: - Reservoirfunktion - Entleerungsfunktion Die Ausdehnung der Detrusormuskulatur über den Blasenhals in die proximale Urethra ist verantwortlich für die Kontinenz.

Die Harnblase sammelt den Urin (Reservoirfunktion), um ihn dann unter willkürlicher Kontrolle auszustoßen (Entleerungsfunktion). Das den Blasenhals miteinschließende Sphinktersystem besteht aus Ausläufern des M. detrusor, die sich schleifenförmig zum Blasenhals ordnen und in die proximale Urethra übergehen, sowie aus der glatten Ring- und Längsmuskulatur der (proximalen) Urethra, deren Lichtung außerhalb der Miktionsphase durch den Ruhetonus der urethralen Muskulatur verschlossen ist. Diese beiden Faktoren garantieren normalerweise die Kontinenz, - sie sind aber durch aktive Weitstellung und Verkürzung der proximalen Harnröhre auch am Entleerungsmechanismus beteiligt. Dem willkürlichen, quergestreiften äußeren Schließmuskel kommt lediglich eine unterstützende Funktion zu.

Funktion des willentlichen Sphinktermechanismus: - kontrollierte Kontraktion zur Sicherung der Harnkontinenz - Einleitung der willentlichen Miktionsunterbrechung

211

Neurourologische Syndrome 2.9.1.1 Innervation

Innervation

Die Tonusregulation der glatten Muskulatur von Harnblase und Harnröhre erfolgt über dualistische vegetative Spinalreflexe, die durch übergeordnete Hirnzentren gehemmt oder gefordert werden können. Volumen-Druckrezeptoren der Blasenwand, besonders im Trigonumbereich, lösen bei zunehmender Füllung afferente Impulse aus, die über viszerosensible Fasern des parasympathischen N. pelvicus (S2-S4) zur Stimulation des spinalen Hamblasenreflexzentrums und über motorische parasympathische Efferenzen zur Detrusorkontraktion und zur Miktion führt. Der afferente und efferente Schenkel des sympathischen Reflexbogens wird von N. hypogastricus (Th n -L 2 ) gebildet (Abb. 2-32). Es sind im sympathischen Nervensystem α- u. ß-Rezeptoren zu unterscheiden. Am Detrusor finden sich überwiegend ß-Rezeptoren (Abb. 2-33). Im Trigonum und am Blasenhals überwiegen die Anzahl der α-Rezeptoren; durch efferente sympathische Impulse wird der Blasenauslaßwiderstand durch Kontraktion des Sphinkter-Apparates erhöht. Gleichzeitig kommt es durch Aktivierung der häufigeren ß-Rezeptoren der Blasenwand zur Senkung des Detrusortonus. Die Willkürmotorik der quergestreiften Muskulatur des Sphinkter extemus u. des Beckenbodens wird durch somatomotorische Efferenzen des N. pudendus (S2-S4) gesteuert (Abb. 2-33).

Detrusor vesicae - Ν. pelvicus, parasympathisch, cholinerg (s. A b b . 2-32).

Lumbaimark Th 1 0 - 1 2 N. praesacralis (sympathisch) L1

N. pelvicus (parasympathisch) Plexus vesicalis N. p u d e n d u s (somatisch) Abb. 2-32

Innervation der Harnblase (schematisch)

Sympathikus]

Autonomes Nervensystem

Parasympathikus Tonussteigerung

Tonuserniedrigung / \ α-Rezep- ß-Adrenergika torenblocker

Cholinester

Cholinesterasehemmer

Tonuserniedrigung α-Adrenergika

Anticholinergika

ß-Re torcnblocker

Tonussteigerung Muskelrelaxantien

Abb. 2-33

Somatisches Nervensystem

Muskulotonika z.B. Strychnin

Nervale Regulationsmechanismen der M i k t i o n und Kontinenz

Blasenhals und Urethra N. hypogastricus, sympathisch, adrenerg. Tonussteigerung über Alpha-Rezeptoren Tonussenkung über Beta-Rezeptoren

Neurologische Syndrome

212 Symptomatik bei neurogener Blasenfunktionsstörung

2.9.1.2 Symptomatik bei neurogener Blasendysfunktion

— fehlende, - nicht ausreichende oder unkontrollierte, ungewollte Entleerung (Inkontinenz).

Die Symptomatik ist gekennzeichnet durch die „neuropathische Blase" mit fehlender, nicht ausreichender oder unkontrollierter, ungewollter Entleerung.

Harninkontinenzformen

Einteilung der Harninkontinenzformen nach der International Continence Society 1. Streßinkontinenz Unter Belastung übersteigt der intravesikale Druck den Blasenverschlußdruck, keine unwillkürlichen Detrusorkontraktionen, unauffällige Blasensensibilität 2. Urge-Inkontinenz A) motorisch: mit unwillkürlicher Detrusorhyperaktivität Zentrale Hemmung des Miktionsreflexes bei intakter Sensibilität der Blase B) sensorisch = unstable bladder: ohne unwillkürliche Detrusorkontraktionen Miktionsreflex durch vermehrte Sensibilität 3. Reflexinkontinenz Willkürlicher Harnverlust als Folge einer abnormalen Reflexaktivität im Rückenmark, ohne Harndrang 4. Überlaufinkontinenz Unwillkürlicher Urinverlust bei Erreichen des Urethraverschlußdruckes durch den intravesikalen Druck, ausgelöst durch Blasenüberdehnung, große Restharnmengen Die Störung der Blasendynamik kann letzten Endes auch zur Störung der Dynamik der oberen ableitenden Harnwege führen mit refluxiven bzw. stauungsbedingten renalen Schäden.

Untersuchungsablauf: Gezielte Miktionsanamnese, Sexualfunktion, Darmfunktion.

Anamnese neurogener Störungen des unteren Harntraktes

2.9.1.3 Untersuchungsablauf Das diagnostische Vorgehen richtet sich im wesentlichen danach, ob bereits bekannt ist oder zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, daß eine neurogene Störung vorliegt oder ob die Diagnose erst eine solche ausschließen bzw. nachweisen soll. Anamnese bei neurogenen Störungen des unteren Harntraktes 1. Genese der Störung: Vorerkrankungen, Voroperationen, Vorbehandlung. Medikamente, besonders neuro- oder psychotrope, neurotoxische. 2. Urinentleerung: Modus, Volumen, Frequenz, sensible Empfindungen. 3. Urinspeicherung: Kontinenz-Inkontinenz (Klassifikation). Urinal, Einlagen, Dekubitus. 4. Sexualfunktion: Erektion, Ejakulation, Orgasmus, Vita sexualis. 5. Darmfunktion: Obstipation, Diarrhoe, Kontinenz.

Neurourologische Syndrome

213

6. Vegetative Begleitstörungen: Kreislauf, Blutdruck, Schwitzen, autonome Dysreflexie. 7. Motorik: Ungestörter Gang, Gehen mit Stütze, Rollstuhl, periphere Spastik.

Untersuchungsablauf bei Funktionsstörungen des unteren Harntraktes

Untersuchungsablauf bei Funktionsstörungen des unteren Harntraktes

Minimalprogramm: 1. Urologische Anamnese/Darmfunktion/Sexualanamnese 2. Klinische Untersuchung - rektal-digitale Untersuchung - Reflexanalyse der Sakralsegmente 3. Urininfektdiagnostik 4. Sonographie Nieren/Blase (Restharn?) 5. Ausscheidungsurographie (Blasenkonfiguration?) 6. Uroflowmetrie Bei anhaltendem Verdacht bzw. Bestätigung einer neurogenen Störung: 7. Kombinierte urodynamische Untersuchungsverfahren (Druck-Fluß-Röntgen- evtl. EMG) 8. ggf. retrograde Urethrographie 9. ggf. Endoskopie/Kalibrierung

2.9.1.4 Klassifikation n e u r o g e n e r Blasenfunktionsstörungen

Klassifikation neurogener Blasenfunktionsstörungen.

Der neurologische Status ist ebenso wichtig, wie die Blasenfunktion (kombinierte urodynamische Untersuchungsverfahren s. u.). Neben traumatischen Läsionen fuhren auch Erkrankungen des ZNS zu Blasenfunktionsstörungen. Dabei gibt es jedoch keine typischen Miktionsstörungen für das jeweilige Krankheitsbild, sondern Sitz und Ausdehnung der entzündlichen oder degenerativen Herde bestimmen den klinischen Verlauf. Insbesondere die Beziehung solcher Veränderungen z u m „Miktionszentrum" sowie Dauer und Umfang (komplette oder inkomplette Querschnittsparese) prägen die Blasenfunktionsstörung. Strukturelle Veränderungen der Blasenmuskulatur und chronische Harninfektion komplizieren das Bild: Detrusorinaktivität, Hypoaktivität, Hyperaktivität, Überlaufblase oder Schrumpfblase. a) „Sensory Neuron Lesion" Ätiologie: Tabes dorsalis, diabetische Polyneuropathie, funikuläre Myelose Chordotomie. Symptomatik: Partielle Läsion. Häufiger Harndrang, autonome Blasenkontraktionen (Zystometrie), Restharnbildung möglich. Komplette Läsion: Kein Harndrang, verzögerter Miktionsbeginn, Detrusoratonie und Inaktivierung (Zystometrie), Blasenkapazität vergrößert, Restharnbildung. b) „Upper Motor Neuron Lesion" Ätiologie: angeborene (Myelomeningocele) oder erworbene supranukleare Querschnittslähmung (Oberhalb des Sakralmarks) durch Trauma, Blutung, infektiöse Myelitis, degenerative Demyelinisation, Neoplasma, Bandscheibenprolaps, Multiple Sklerose, M. Parkinson. Entscheidend ist die Lokalisation der Läsion oberhalb des sakralen Miktionszentrums (bei kompletten Läsionen oberhalb des Segmentes ThlO mit Abtrennung auch der sympathischen Innervation aus dem unteren thorakalen Kreuzstrang).

Sensory Neuron Lesion Ätiologie: - Tabes dorsalis, diabetische Polyneuropathie, - funikuläre Myelose, - Chordotomie. Partielle Läsion: Befund: autonome Blasenkontraktionen. Komplette Läsion: Befund: Detrusoratonie (Zystometrie!). Upper Motor Neuron Lesion Ätiologie: Supranukleare Läsion, d. h. oberhalb des sakralen Miktionszentrums.

214 Symptomatik: automatische Blase (Reflexblase).

Typische neurogene Blasen-Befundkonstellation: - Reflexkontinenz, - oft Restharn, - sekundäre Nephropathie.

Lower Motor Neuron Lesion Ätiologie: Querschnittsläsion unterhalb des Miktionszentrums. Symptomatik: - kein Harndrang, - autonome Blase (schlaffe Blase), - erhebliche Restharnbildung (Überlaufblase).

Kombinierte Läsionen polysymptomatisch.

Urodynamische Funktionsdiagnostik

Neurologische Syndrome Symptomatik: Es fehlen die h e m m e n d e n Einflüsse von Sympathikus und von kortikalen Zentren. Man bezeichnet diese Situation als automatische Blase. (Reflexblase). Sie ist wegen der dauernden und nicht gehemmten Impulse vom Sakralmark spastisch. Das bedeutet, daß schon kleine Harnvolumina in der Blase zu einer Detrusorkontraktion führen. Weil diese Kontraktionen nicht gehemmt werden, kommt es zu sehr hohen Intravesikaldrücken. Weil aber die motorischen Afferenzen zum Beckenboden und z u m Sphinkter urethrae externus ebenfalls durchtrennt sind, wird auch der Sphinkter externus über den gleichen Reflexbogen stark spastisch. Pathognomonische Konstellation für neurogene Blasenentleerungsstörung: Inkontinenz (Reflexkontinenz), oft in Verbindung mit einer Blasenentleerungsstörung (Restharn bei funktioneller infravesikaler Obstruktion) und sekundären Affektionen der oberen Harnwege (Infektion bei Reflux oder Harnrückstau). c) „Lower Motor Neuron Lesion" Ätiologie: Rückenmarkstrauma unterhalb des Miktionszentrums mit Konusoder Kauda-equina-Läsion. Symptomatik: Mangels eines vorhandenen Reflexbogens kommt es zu einer schlaffen, atonen, sog. autonomen Blase mit folgenden Konsequenzen: Es entstehen große Resturinmengen. Mit der Zeit bildet sich eine Überlaufinkontinenz aus. Bei genügender Überdehnung der Blasenwand kann sich auch hier ein vesicorenaler Reflux einstellen. Bei starker und vor allem chronischer Überdehnung der Blase degenerieren die intramuralen, in der Blasenwand gelegenen cholinergen Ganglien, so daß die Blase nicht mehr stimulierbar ist. Während sich für die reinen Läsionen eine klare Symptomatologie erarbeiten läßt, ist das Bild der d) „kombinierten Läsionen" polysymptomatisch, wobei gegensinnige (schlaffe/spastische) Lähmungstypen miteinander kombiniert sein können.

2.9.1.5 Urodynamische Funktionsdiagnostik Urodynamische Untersuchungsmethoden dienen der Klärung der verschiedenen Blasenentleerungsstörungen.

Zystometrie = diagnostische Maßnahme zur Objektivierung der Detrusorreaktion auf eine Füllungszunahme mit oder ohne Provokation.

Zystometrie: Das Prinzip besteht darin, die entleerte Harnblase mit einem geeignetem Medium aufzufüllen und den intravesikalen Druck bei bekannten unterschiedlichen Füllungsvolumina zu messen. Neben der Messung der maximalen Blasenkapazität, der effektiven Blasenkapazität (maximale Kapazität minus Restham) und dem 1. Harndrang lassen sich ungehemmte Detrusorkontraktionen nachweisen, d. h. durch den Detrusor hervorgerufene Druckwellen während der Füllungsphase der Blase, die der Patient nicht unterdrücken kann. Indirekt können Detrusor-Sphinkter-Wechselwirkungen mitbeurteilt werden, wie ζ. B. eine Harninkontinenz oder der Blasenentleerungsmodus.

Urethrotomie = Urethra-Druckprofilmessung.

Urethrotomie: Das Druckprofil der Harnröhre gilt als Maß für die Verschlußkraft der einzelnen Harnröhrenabschnitte. Ein 21umiger Perfusionskatheter wird mit konstanter Geschwindigkeit langsam durch die Harnröhre gezogen. 2 Druckmeßfühler erfassen Blasen- und Harnröhrendruck unter Ruhe- und Streßbedingungen (Husten). Für die Kontinenz entscheidend ist, daß auch unter Provokationsbedingungen stets in einem umschriebenen Bezirk der Urethra der Druck höher ist als in der Blase.

Uroflowmetrie = Beurteilung der Blasenentleerungsphase.

Die Uroflowmetrie ist die Messung der Harnmenge (ml), die die Urethra in der Zeiteinheit (s) während der gesamten Miktion verläßt. Die Stärke des

215

Neurourologische Syndrome Harnflusses ist abhängig vom urethralen Widerstand u n d vom Miktionsdruck (= intravesikaler Druck bei Miktion). Elektromyographie: EMG-Ableitungen aus dem Analsphinkter oder der Beckenbodenmuskulatur haben in Kombination mit Druck- und Flußmessungen für die Erfassung neuromuskulärer Faktoren klinische Bedeutung

Elektromyographie = Beurteilung der Beckenbodenaktivität.

Die simultane Miktionszysturethrographie erlaubt eine kontinuierliche Bilddarstellung der urodynamischen Funktionsmessung bzw. der dynamischen Funktionsabläufe. Ein dazu erforderliches urodynamisches Funktionslabor ist aufwendig. Diese Untersuchungen bedürfen einer strengen Indikation.

Miktionszysturethrographie = röntgendiagnostische Untersuchung zur Beurteilung der Morphologie und der Dynamik des unteren Harntraktes.

2.9.1.6 Therapie

Therapie der Miktionsstörungen

Für Entleerungsfunktionsstörungen infolge einer neurologischen Erkrankung stehen verschiedene Therapieformen zur Verfügung. Diese lassen sich leicht auf funktioneller Basis je nach ihrer Wirkung auf die Blase oder den Blasenausgang einordnen. Die wichtigsten Ziele der Behandlung sind: - Erhaltung oder Verbesserung der Nierenfunktion, - ausreichende Entleerung bei niedrigen intravesikalem Druck, - Vermeidung einer Blasenüberdehnung, - ausreichendes Speichervermögen zur Verhütung oder Verminderung einer Inkontinenz, - ausreichende Kontrolle, Weder Katheter noch Stoma, - private bzw. berufliche Akzeptabilität/Anpassungsfähigkeit.

Ziele der Behandlung: - Erhaltung oder Verbesserung der Nierenfunktion, - Erleichterung der Blasenentleerung bzw. - Erleichterung der Harnspeicherung.

Therapiemodalitäten zur Erleichterung der Blasen-Reservoirfunktion A) Hemmung der Blasenkontraktilität Senkung der sensorischen Leistung 1. Blasenentleerung „nach der Uhr" („Blasentraining") 2. Pharmakologische Therapie a) Anticholinergika b) Muskulotrope Relaxantien (ζ. B. Oxybutyninchlorid) c) Polysynapsen-Hemmer d) Kalziumantagonisten e) beta-adrenerge Agonisten f) alpha-adrenerge Antagonisten g) Prostaglandinsynthesehemmer h) Trizyklische Antidepressiva i) DMSO j) Bromocriptin 3. Biofeedback, Blasen-Training 4. Blasenüberdehnung 5. Elektrostimulierung (Reflexhemmung) 6. Innervationsunterbrechung a) Subarachnoidaler Block b) Selektive sakrale Rhizotomie c) Periphere Blasendenervation 7. Blasenplastik B) Erhöhung des Blasenauslaßwiderstands 1. Physiotherapie 2. Elektrostimulation des Beckenbodens

Neurologische Syndrome

216

3. Pharmakologische Therapie a) alpha-adrenerge Agonisten b) Trizyklische Antidepressiva c) Beta-adrenerge Antagonisten 4. Nichtchirurgische mechanische UrethraKompression (beim Mann) 5. Chirurgische mechanische Kompression (artifizieller Sphinkter) 6. Blasen-Harnröhren-Suspension (BHS) C) Umgehung von Problemen 1. Externe Harnauffangbeutel (Kondomurinal), bei Frauen: saugfähige Vorlagen 2. Dauerkatheterismus 3. supravesikale Hamableitung Therapiemodalitäten zur Erleichterung der Blasenentleerung A. Erhöhung des intravesikalen Drucks 1. Externe Kompression, Valsalva 2. Förderung der Auslösung von reflektorischen Kontraktionen a) Trigger-Zonen oder -Handgriffe b) Blasentraining, Tidal-Drainage 3. Pharmakologische Therapie a) ParaSympathomimetika b) Prostaglandine c) Inhibitionsblocker (1) alphaadrenerge Antagonisten (2) opioide Antagonisten 4. Elektrostimulation a) Direkte Anwendung an der Blase b) Anwendung am Rückenmark oder an den Nervenwurzeln B) Senkung des Blasenauslaßwiderstands 1. An einem Ort anatomischer Obstruktion a) Prostatadenektomie b) Beseitigung einer Harnröhrenstriktur oder -klappe 2. Auf der Ebene des inneren Sphinkters a) Transurethrale Resektion oder Inzision des Blasenhalses b) Pharmakologische Therapie (1) alphaadrenerge Antagonisten (2) betaadrenerge Agonisten 3. Auf der Ebene des äußeren Sphinkters a) Externe Sphinkterotomie b) Harnröhrendilatation (J) c) Unterbrechung des Nervus pudendus d) Pharmakologische Therapie (1) Skelettmuskelrelaxantien (a) zentral wirkende Relaxantien (Diazepam) (b) Dantrolen (c) Baclofen (2) alphaadrenerge Antagonisten e) Psychotherapie, Biofeedback

217

Neurourologische Syndrome C) Umgehung von Problemen 1. Intermittierender Katheterismus 2. Dauerkatheterismus 3. Supravesikale Hamableitung

2.9.2 Potenzstörungen

Potenzstörungen

2.9.2.1 Neurogene Immissions- und Ejakulationsstörungen

Neurogene Immissionsund Ejakulationsstörungen

Bei Patienten, die sich einer radikalen retroperitonealen Lymphadenektomie, ζ. B. wegen eines Hodentumors, unterziehen müssen, entwickeln sich Immissions- und/oder Ejakulationsstörungen. a) Immission: Bereitstellung der Samenflüssigkeit in der hinteren Harnröhre durch Kontraktion der glatten, sympathisch innervierten Muskulatur von Ductus deferens, Nebenhoden, Samenblasen und Prostata. Die neurogene Versorgung der genannten Organe verläuft über den lumbalen Grenzstrang u n d den Plexus hypogastricus. Gleichzeitig leitet der lumbale Sympathikus während dieser Phase eine Kontraktion der glatten Muskulatur des hinteren Blasenhalses ein, wodurch ein Rückfluß des Spermas in die Blase vermieden wird. b) Eigentliche Ejakulation: Ausstoßung des Ejakulats durch die Harnröhrenöffnung. Diese zweite Phase besteht aus rhythmischen Kontraktionen der bulbo- und ischiokavernösen Muskeln sowie des Musculus transversus perinei profundus und des Musculus levator ani. Sie wird parasympathisch über den Nervus pudendus gesteuert. Voraussetzung für eine ungestörte Ejakulation ist neben einer intakten Innervation weiterhin die freie Durchgängigkeit der Harnröhre sowie die Möglichkeit des mechanischen Blasenhalsverschlusses. Ein Ejakulationsverlust kann entweder durch die Störung der Samenimmission in die hintere Urethra oder durch eine retrograde Ejakulation von Sperma in die Harnblase infolge einer Störung der immissionssynchronisierten Tonuszunahme im Blasenhals und proximalen intrinsischen UrethralSphinktermechanismus hervorgerufen werden. Eine postoperative retrograde Ejakulation liegt dann vor, wenn die Immission noch erhalten ist, die Innervation des Musculus Sphinkter internus jedoch ausfällt, so daß das Ejakulat statt nach außen retrograd in die Blase gelangt. Die Beurteilung dieser Störung, die durch eine Zerstörung lumbaler Grenzstrangfasern, die wegen ihrer engen topographischen Beziehung zu den retroperitonealen Lymphbahnen bei der Operation nicht geschont werden können, zustande kommt, erfordert eine quantitative Spermaanalyse im Urin.

Immission: = Bereitstellung der Samenflüssigkeit in der hinteren Harnröhre.

Ejakulation: = Austoßen des Ejakulats durch die Harnröhrenöffnung.

Ejakulationsverlust = Störung der Samenimmission und/oder retrograde Ejakulation. Retrograde Ejakulation = Immission erhalten, fehlende Innervation des proximalen Urethralsphinktermechanismus. Diagnose: quantitative Spermaanalyse im Urin.

2.9.2.2 Therapeutische Aspekte

Therapie

Eine eingeschränkte retroperitoneale Lymphadenektomie mit Schonung des Plexus u. Nervus hypogastricus bei Fällen ohne prä- oder intraoperativen Nachweis von Metastasen ist fertilitätserhaltend. Ein solches Vorgehen ist bei Fällen mit Metastasen unmöglich, und Ejakulationsstörungen sind somit unvermeidlich. Bei solchen Fällen kann eine orthograde Ejakulation von Sperma durch pharmakologische Behandlung mit direkten Alphasympathikomimetika, z.B. Midodrin ( 2 5 - 3 0 m g ) , als Bolus erreicht werden, da die glatte Muskulatur des Vas deferens, der Samenblasen, des Blasenhalses und des proximalen intrinsischen Urethralsphinkters eine hohe Anzahl exitatorischer Alphaadrenozeptorbindungsstellen enthält, die durch die direkten Alphaagonisten angesprochen werden können.

Prävention durch operative Schonung von Nerven und Plexus. Versuch mit direkten Alphasympathikomimetika.

218

Neurologische Syndrome

Erektile Impotenz

2.9.2.3 Erektile I m p o t e n z

P h y s i o l o g i s c h e G r u n d l a g e n des Erektionsmechanismus.

Die penile Erektion ist ein neurovaskuläres Phänomen, dessen funktionelleAbläufe sowohl von einer direkten Stimulation des Genitalbereichs als auch von psychogenen Faktoren wie visuellen, sensorischen oder gedanklichen Impulsen abhängen. Die Impulsleitung erfolgt über afferente Pudendusfasern, die im Rückenmark auf efferente parasympathische Fasern des pelvinen Nervenplexus umgeschaltet werden bzw. über sympathische, thoracolumbale Nervenbahnen. Das „sakrale Erektionszentrum" befindet sich in den Sakralsegmenten S 2 -S 4 . Die neurogene Übermittlung erfolgt sowohl über sympathische (Plexus hypog a s t r i c s superior) als auch parasympathische (Nn. erigentes, Plexus hypog a s t r i c s inferior) Fasern, die peripher gemeinsam in den Nn. cavernosi verlaufen und an Rezeptoren in den Corpora cavernosa enden. An ihrer Neurotransmission ist wohl das vasoaktive intestinale Polypeptid (VIP) beteiligt. Die Beteiligung von Prostaglandin Ej bei der Erektionsleistung steht zur Diskussion. Zusätzlich existieren erektionshemmende, alphaadrenerge, sympathisch innervierte Rezeptoren, deren Stimulation eine Kontraktion der Schwellkörpermuskulatur hervorrufen und somit eine Tumeszenz verhindern. Bei der Erektionsinduktion entsteht durch die Freisetzung von VIP eine Relaxation der glatten Schwellkörpermuskulatur, wodurch es einerseits zu einer enormen Steigerung der arteriellen Blutzufuhr, andererseits zu einer starken venösen Abflußblockade kommt und somit zu einer Tumeszenz des Gliedes. Über die erhöhte Aktivität des N. dorsalis penis und des N. pudendus kommt es im Gefolge zu einer Tonussteigerung der Nn. bulbo- und ischiocavernosi, die wahrscheinlich auf den Boden einer verstärkten venösen Abflußblockade zu einem weiteren intrakavernösen Anstieg führt und dadurch Induktion und Aufrechterhaltung einer ausreichenden Rigidität zu garantieren scheint.

Erektion = Z u s a m m e n s p i e l - nervaler, - humoraler Faktoren —» T u m e s z e n z , Rigidität = arterieller Z u f l u ß z u m Penis f v e n ö s e r A b fluß

Ätiologie, Diagnostik und T h e r a p i e : M u l t i p l e A n s a t z p u n k t e f ü r S t ö r f a k t o r e n der e r e k t i l e n Funktion.

Ätiologie, Diagnostik und Therapie: Entsprechend den physiologischen Grundlagen des Erektionsmechanismus ist es verständlich, daß es sowohl im psychogenen als auch im somatischen Bereich multiple Ansatzpunkte für Störfaktoren der erektilen Potenz gibt. Tabelle 2-3

Anamnestische Differentialdiagnose der erektilen Dysfunktion Psychogen

Organogen

Beginn

meist akut

meist p r o t r a h i e r t

Verlauf

oft episodenhaft

meist k o n t i n u i e r l i c h

bzw. periodisch Ursache

soziales U m f e l d , w i r t -

p r i m ä r oft n i c h t e r k e n n b a r

schaftliche Schwierig-

(Ausnahmen: Traumata,

keiten, Partnerpro-

O p e r a t i o n e n , akute Gefäß-

bleme

erkrankungen)

Erektions-

b i s w e i l e n n o c h kom-

meist u n v o l l s t ä n d i g e Erek-

qualität

plette Erektion (ζ. B.

t i o n o d e r nur T u m e s z e n z e n

m o r g e n s , masturbatorisch, nach e r o t i s c h e r Stimulation) Ejakulation

anamnestisch oft Ejaku-

meist unauffällig

latio p r ä c o x evtl. s e k u n d ä r e p s y c h i s c h e

Psychische

p r i m ä r e , p s y c h i s c h fi-

Konstellation

xierte V e r s a g e n s a n g s t ,

Ü b e r l a g e r u n g mit Versa-

oft i n t r o v e r t i e r t

gensangst

Neurourologische Syndrome Ursachenspektrum der erektilen Dysfunktion (η. Porst) A) Psychogen I. II.

Psychosexuelle Fehlentwicklung Partnerspezifische Konfliktkonstellationen

Β) Neurogen I.

Läsionen des ZNS 1. Zerebral (Schädel-Hirn-Traumen, T u m o r e n , Entzündungen): Limbisches System, Temporallappenaffektionen 2. Spinal (Querschnittsverletzungen) a) Psychogenes Erektionszentrum ( T h l l / 1 2 - L 2 - 3 ) b) Reflexogenes Erektionszentrum (S2-S4) c) Spinale Leitungsbahnen (Afferenzen u./o. Efferenzen)

II.

Läsionen des peripheren Nervensystems 1. A u t o n o m e s Nervensystem a) Parasympathikus: Nervi erigentes (S2-4) Nervi cavernosi b) Sympathikus ( T h l l - L 2 ) : Plexus hypogastricus superior (Ν. erigens lumbalis). Plexus hypogastricus inferior 2. Somatisches Nervensystem a) N. p u d e n d u s (S2-4) b) N. dorsalis penis.

C) Endokrin (Störungen der Hypothalamus-Hypophysen-Gonadenachse) I. Testosterondefizit: hypo-, normo-, hypergonadotroperHypogonadisms II. Testosteron-Östrogen-Imbalance (Östrogenüberschuß) III. Hyperprolaktinämie

D) Medikamentös (Antihypertonika, Diuretika, Lipidsenker, H 2 -Blocker, Neuroleptika, Tranquilizer, Antidepressiva, Antiandrogene, Östrogene, Cortison u. a.)

Ε) Vaskulär I. Arteriell 1. Kongenitale G e f ä ß a n o m a l i e n a) Gefäßagenesien, -hypoplasien, -dysplasien b) Arteriovenöse Malformationen 2. Erworbene Gefäßläsionen a) Arteriosklerotisch: Stenosen u./o. Verschlüsse b) Posttraumatisch: Stenosen, Verschlüsse, AV-Fisteln c) Entzündlich (?): Funktionelle Stenosen bei Prostatitis II.

Venös 1. „Insuffiziente Venen" a) V. dorsalis profunda u./o. V. dorsalis superficialis b) Vv. profundae penis c) Ektope Schwellkörpervenen 2. Leaks a) Glando-kavernosaler Shunt b) Spongioso-kavernosaler Shunt

III. Corpus cavernosum 1. Fibrosierung der glatten Schwellkörpermuskulatur 2. Inkompetenz der Tunica albuginea (erhöhte Permeabilität der Vv. emissariae) 3. Induratio penis plastica 4. Neurotransmitter- bzw. Rezeptormangel?

219

Neurologische Syndrome

220 Diagnostik: - standardisierte nicht-radiologische Verfahren, - invasive Methoden. Therapie: - Schwellkörperautoinjektionstherapie (SKAT) - operative Maßnahmen.

Die Diagnose „psychogene Impotenz" sollte immer eine Ausschlußdiagnose sein, basierend auf objektiven und jederzeit reproduzierbaren Parametern, denn viele früher als rein psychogen-impotent deklarierte Patienten haben ein organisches Defizit. Aus der anamnestischen Differentialdiagnose (Tab.2-3) ergibt sich eine rationale Diagnostik mit Hilfe standardisierter Methoden wie Doppler-Sonographie, Tumeszenzmessung, Bulbokavemosusreflex-Latenzzeitmessung, Penisangiographie, dynamische Kavernosographie zugleich mit Schwellkörperpharmakontests. Daraus ergibt sich ein Therapiekonzept in der Hand des Spezialisten, das problemorientiert eine Schwellkörperinjektionstherapie mit vasoaktiven Substanzen (ζ. B. Papaverin, Phentolamin, Prostaglandin E,) oder operative M a ß n a h m e n (Venen-, Revaskularisations-, Prothesenchirurgie, Korporaplastik) beinhaltet.

Literatur Abrams, P. H., R. C. L. Feneley, M.Torrens: Urodynamik für Klinik und Praxis (übersetzt u. bearbeitet von U.Jonas, B.Schönberger, J.Thüroff)· Springer, B e r l i n - H e i d e l b e r g - N e w York 1987 Bissada, Ν. Κ., Α. E. Finkbeiner: Urologie Manifestations of Drug Therapy. Urologie Clinics of North America 15 (1988) 7 2 5 - 7 3 6 Böhlau, V.: Inkontinenz. Schattauer, Stuttgart - New York 1985 Diokno, A. C., R. L. lies: Harninkontinenz (übersetzt von Th. Schwenzer). Acron, B e r l i n - N e w York 1988 Kiesswetter, Η.: Harninkontinenz, Reizblase, Miktionsstörungen. Edition medizin, W e i n h e i m - D e r f i e l d B e a c h / F l o r i d a - B a s e l 1981 Krane, B.J., Μ. B. Siroky: Clinical neuro-urology. Little Browne & Co., Boston 1989 Melchior, H.: Urologische Funktionsdiagnostik. Lehrbuch und Atlas der Urodynamik. Thieme, S t u t t g a r t - N e w York 1981 Palmtag, H.: Praktische Urodynamik. Fischer, Stuttgart - New York 1977 Porst, H.: Erektile Impotenz; Ätiologie, Diagnostik, Therapie. Enke, Stuttgart 1987 Stockamp, M.: Alpha-Rezeptorenblocker und Hamblasendysfunktion. Schattauer, S t u t t g a r t - N e w York 1976 Stöhrer, M. (Hrsg.): Urologie bei Rückenmarkverletzten unter Berücksichtigung sexualpädagogischer, gynäkologischer und andrologischer Probleme. Springer, B e r l i n - H e i d e l b e r g - N e w York 1979 Stöhrer, Ν., M. Palmtag, R. Madersbacher: Blasenlähmung, Sexualität und Blasenfunktion bei Rückenmarksverletzten und Erkrankungen des Nervensystems. Thieme, Stuttgart - New York 1984

Liquorsyndrome

2.10 Liquorsyndrome Η. I. Schipper

Punktion

2.10.1 Punktion

Apico-caudaler Konzentrationsgradient der Liquorproteine.

Die Untersuchung des Liquor cerebrospinalis gehört zu den diagnostischen Standardverfahren und gewinnt mit laufender methodischer Weiterentwicklung zunehmend an Bedeutung. Bei der Beurteilung muß der Entnahmeort berücksichtigt werden, da insbesondere bei den Proteinen ein erheblicher Konzentrationsanstieg vom Ventrik-elliquor über zisternal nach lumbal besteht. Die früher wegen der geringen Inzidenz postpunktioneller Beschwerden (s. u.) bei ambulanter Punktion beliebte Zisternalpunktion wird aller-

Zisternalpunktion nur in Sonderfällen.

Liquorsyndrome dings heute wegen der Gefahr einer tödlichen Blutung durch akzidentelle Punktion eines aberrierenden Gefäßes nur bei eng umgrenzter Indikation durchgeführt, ggf. mit lateraler Punktionsrichtung. Demgegenüber ist die Lumbalpunktion nach sorgfältiger klinisch-neurologischer Untersuchung weitgehend ungefährlich. Kontraindikationen sind allerdings: • Eine Stauungspapille, wenn diese mit einem raumfordernden intrakraniellen Prozeß (besonders der hinteren Schädelgrube) verbunden ist: Durch die plötzliche lumbale Druckentlastung kann es zur lebensbedrohlichen Einklemmung von Medulla oblongata und Kleinhirntonsillen in das Foramen magnum kommen. • Erhebliche Gerinnungsstörungen - auch medikamentös bedingte, ζ. B. bei Antikoagulantienbehandlung oder nach Zytostatikagabe. Jeder Fall muß hier individuell beurteilt werden! Nach artifiziell blutiger Lumbalpunktion sollte ca. 4 Stunden mit der Einleitung einer hochdosierten Heparin-Therapie gewartet werden. • Eiterungen im Verlauf des Stichkanals. Die Punktion wird mit möglichst dünner Nadel und unter aseptischen Bedingungen in liegender oder sitzender Position durchgeführt. Punktion im Sitzen ist bei nicht bewußtseinsgetrübten oder kollapsgefährdeten Patienten technisch einfacher, da keine Verlagerung des Spinalkanals aus der Mittellinie erfolgt. Eingehende vorherige Aufklärung des Patienten über jeden Einzelschritt mindert dessen verständliche ängstliche Verspannung. Der Patient wird von einer Hilfsperson gehalten und soll mit vor dem Leib verschränkten Armen die Lendenwirbelsäule maximal krümmen, u m die Zwischenwirbelräume zu entfalten (Abb.2-34). Lokalanästhesie hilft dem Patienten und dem weniger geübten Arzt (diesem bei der Orientierung). Gewöhnliche Punktionsstelle ist der Zwischenwirbelraum L3/4 in Höhe der Verbindungslinie zwischen beiden Darmbeinkämmen; auch im nächsthöheren Zwischenwirbelraum ist die Punktion noch gefahrlos. Während der Punktion plötzlich einschießender radikulärer Schmerz zeigt die Lage der Punktionsnadel in einer Wurzeltasche an (in der die Wurzel nicht ausweichen kann). Bei korrektem Sitz der Nadel in der Mittellinie fließt der Liquor frei ab, durch vorsichtiges Ziehen des Mandrins wird langsames Abtropfen bewirkt. Besonders in liegender Position kann auch Aspiration mit einer Spritze erforderlich sein. Die Entnahme von 1 0 - 2 0 ml Liquor ist angesichts der hohen Liquorproduktionsrate von 500 ml/d unter normalen Bedingungen völlig unbedenklich. Im Anschluß an die Punktion soll der Patient eine Stunde flach lagern, danach für den Rest des Tages Bauchpresse vermeiden.

Abb. 2-34

Lumbalpunktion im Sitzen

221

Kontraindikationen gegen Lumbalpunktion: • Stauungspapille bei intrakranieller Raumforderung; • erhebliche Gerinnungsstörungen; • Eiterungen im Stichkanal.

Lumbalpunktion bei liegendem oder sitzendem Patienten. Lokalanästhesie, aseptische Bedingungen. Punktion in Höhe der Verbindungslinie beider Darmbeinkämme (Zwischenwirbelraum L3/4).

Radikulärer Schmerz = Wurzelberührung Hohe Liquorproduktionsrate, deshalb reichliche Entnahmemenge unbedenklich.

Neurologische Syndrome

222 Postpunktionelle Kopfschmerzen (mit Latenz) besonders bei dicken Punktionskanülen und bei engen Liquorräumen.

Makroskopische Beurteilung Liquordruck Liquor: • klar = normal; • trübe = starke Pleozytose; • eitrig = mass, granulozytäre Pleozytose; • xanthochrom = Hämoglobinbeimengung; • blutig = Subarachnoidalblutung oder artifizielle Blutung.

Bei bis zu einem Drittel aller Lumbalpunktierten treten mit einer Latenz vonca. 24 Stunden postpunktionelle Kopfschmerzen auf, häufig begleitet von unsystematischem Schwindel u n d Übelkeit, mit besonderer Verstärkung beim Aufrichten und bis zu einer Woche anhaltend. Die Inzidenz ist signifikant geringer bei Patienten mit weiten Liquorräumen und bei Verwendung dünner Punktionskanülen. Als Ursache wird neben einem blanden meningealen Reizzustand ein Unterdrucksyndrom aufgrund eines kontinuierlichen Liquorverlustes durch das Stichloch vermutet. Die Therapie erfolgt symptomatisch: Analgetika, Ergotaminpräparate, Elektrolytinfusionen, verlängerte Bettruhe.

2.10.2 Makroskopische Beurteilung - Liquordruck. Normaler Liquor ist farblos, wasserklar. Trübung tritt bei starker Zellvermeh rung ( > 6 0 0 - 1 0 0 0 / 3 ) auf, Gelbfärbung (Xanthochromic) nach Beimischung von Blutfarbstoffen (auch bei Ikterus). Eitriger, grün-gelblich tingierter Liquor wird bei massiver granulozytärer Zellvermehrung gesehen. Blutiger Liquor kommt entweder artifiziell bei der Punktion oder durch spontane Einblutung in den Subarachnoidalraum zustande. Eine Differenzierung ist nach folgendem Schema möglich: Artifizielle Blutung:

Differenzierung zwischen Subarachnoidalblutung und artifiziell blutigem Liquor.

Pandy-Reaktion mehrung.

Trübung bei Eiweißver-

Liquordruck in Abhängigkeit vom intrakraniellen Venendruck stark schwankend. Queckenstedt-Versuch: bei spinalem Liquorzirkulationsstop kein lumbaler Druckanstieg nach Jugularvenenkompression.

Subarachnoidalblutung:

Inspektion:

Blut fadenförmig, wenn Blut homogen massiv: Gerinnung

Dreigläserprobe:

Rückgang des Blutgehaltes

Blut homogen

Nachpunktion im nächsthöheren Zwischenwirbelraum:

Liquor klar

Liquor blutig

Abzentrifugieren des Liquors:

Überstand klar

Überstand xanthochrom, wenn Blutung vor > 2 h.

Zelldifferenzierung:

Granulozytenzahl wie peripheres Blut

Reizpleozytose nach 2 h, Erythrophagen ab 2 h bis 1 Woche, Siderophagen ab 4. Tag

Bei erheblicher artifizieller Blutbeimengung kann der Liquor gerinnen, ebenso bei massiver Eiweißerhöhung (Froin-Syndrom). Die seltene Bildung von „Spinnwebgerinnseln" bei tuberkulöser Meningitis ist heute ohne praktisch-diagnostischen Wert. Eine grobe Sofortorientierung über den Eiweißgehalt gewinnt man durch die Pandy-Reaktion: Wenige Tropfen Liquor in einem Röhrchen mit gesättigter Phenollösung ergeben bei Eiweißerhöhung (aber auch bei starker Immunglobulinvermehrung mit noch normalem Gesamteiweiß) eine Trübung. Der Liquordruck unterliegt großen physiologischen Schwankungen, besonders in Abhängigkeit von der Körperposition. Er ist unmittelbar abhängig vom intrakraniellen Venendruck, während die arteriellen Druckverhältnisse ihn nicht nennenswert beeinflussen. Der diagnostische Wert einer einmaligen Druckmessung - insbesondere in der Hydrozephalusdiagnostik - ist allerdings nicht sehr hoch. Sie erfolgt in liegender Position mit hinreichend

Liquorsyndrome

223

weiter Punktionskanüle, so daß puls- und atemsynchrone Schwankungen im Steigrohr sichtbar sind (Normalwerte 65-195 mm H 2 0 bzw. 5 - 1 5 mm Hg). Der Queckenstedt-Versuch dient einer raschen Orientierung, ob ein komplettes Passagehindernis (ζ. B. Tumor) im spinalen Liquorraum vorliegt: Nach Bauchpresse und intrakranieller Venendruckerhöhung durch bds. Jugularvenenkompression steigt der Liquordruck prompt an und fällt nach Lokkerung ebenso prompt wieder ab. Bei einem spinalen Passagehindernis ist dieser Anstieg und Abfall durch Jugularvenenkompression nicht oder nur angedeutet auslösbar.

2.10.3 Zellen

Zellen

Der Zellgehalt des Liquors wird nach Anfärbung der Zellen mit Karbolfuchsinlösung in der Fuchs-Rosenthal-Kammer bestimmt. Da diese ein Volumen von 3.2 mm 3 besitzt, werden im deutschen Schrifttum die Zellzahlen in /3 angegeben, Zellzahlen bis 12/3 sind normal. Eine Erhöhung über diesen Wert (Pleozytose) kommt durch unterschiedlichste Krankheiten zustande. Deshalb ist bei Pleozytose eine Differenzierung der Liquorzellen erforderlich. Einfache Ausstrichpräparate nach Zentrifugation führen dabei zu erheblichen Zelldenaturierungen und sind nur für orientierende Untersuchungen geeignet. Methodisch aufwendiger, aber schonender sind die Zytozentrifugation oder das Sedimentkammerverfahren nach Sayk. Die routinemäßige Anfärbung erfolgt danach mit einer modifizierten Pappenheim-(May-Grünwald/Giemsa-)Färbung. Aus der Fülle der Spezialfärbungen sind vor allem immunzytochemische Techniken erwähnenswert. Sie ermöglichen mit Hilfe spezifischer Antikörper und hochempfindlicher Enzymfärbungen eine selektive Anfärbung zellständiger Marker, z.B. beim Nachweis von Tumorzellen und aktivierten, immunglobulinenthaltenden B-Lymphozyten (s. u.). Auch die Berliner-BlauReaktion zum Nachweis von Eisenpigment in Siderophagen hat klinische Bedeutung (Schema). Unter den Bakterienfärbungen sind die Gramfärbung und die Ziehl-Neelsen-Färbung wichtig; Tuschepräparate ermöglichen die Identifikation von Kryptokokken. Normaler Liquor enthält nur Lymphozyten (überwiegend kleine) und Monozyten (mononucleäre Phagozyten) im Verhältnis von ca. 7:3, welche mehrheitlich hämatogenen Ursprungs sind. Unter pathologischen Zuständen ist der Anteil vergrößerter, „aktivierter" Formen beider Zelltypen vermehrt. Zusätzlich treten je nach Art der zugrundeliegenden Erkrankung weitere Zelltypen hinzu.

Zellzahl bis 12/3 normal.

Zelltypen im normalen und pathologischen Liquor (n. (Jehmichen 1976) Immunkompetente Rundzellen • Kleine Lymphozyten (T- und B-) • Große, aktivierte Lymphozyten (einschl. immunglobulinenthaltender B-Lymphozyten) • Plasmazellen Mononukleäre Phagozyten • Monozyten • Aktivierte Monozyten (Histiozyten) • Makrophagen (Lipo-, Erythro-, Sidero-, Leuko-, Bakteriophagen) • Riesenzellen (fusionierte Makrophagen) Polymorphkernige Granulozyten • Neutrophile • Eosinophile • Basophile

Zellvermehrung = Pleozytose

Zelldifferenzierung nach Zytozentrifugation und modifizierter Pappenheim-Färbung.

Immunzytochemie ermöglicht selektive Anfärbungen. Berliner Blau färbt Eisenpigment. Gramfärbung für Bakterien, Ziehl-Neelsen für Tuberkelbakterien.

Normaler Liquor enthält nur Lymphozyten und Monozyten; vergrößerte Formen = Reizzustand.

Neurologische Syndrome

224 Erythrozyten Zellauskleidung der Liquorräume • Plexus-choriodeus-Zellen • Ependymzellen • Arachnoidalzellen

Tumorzellen Sonstige, ζ. B. Knorpel- oder Knochenmarkzellen. Infektionen: granulozytäres Vorstadium (evtl. nur flüchtig) geht über in lymphozytäres Stadium; wirksame Antibiotikatherapie fördert den Übergang.

Im Verlauf infektiös-entzündlicher Erkrankungen des Gehirns und vor allem der Meningen wird in der Regel ein granulozytäres Vorstadium unterschiedlicher Länge und Intensität von einem lymphozytären Stadium gefolgt. Je nach Art des Erregers ist das granulozytäre Stadium evtl. nur flüchtig (ζ. B. virale Meningitis) oder massiv und anhaltend (ζ. B. Mehrzahl der bakteriellen Meningitiden). Wirksame antibiotische Therapie beschleunigt den Übergang vom granulozytären in das lymphozytäre Stadium. Charakteristische erregerspezifische Besonderheiten der Zellzusammensetzung ermöglichen (in Verbindung mit entsprechenden Proteinveränderungen) häufig eine recht sichere Diagnose.

Rein lymphozytäre Pleocytose bei viralen Meningitiden und Enzephalitiden.

Eine (fast) rein lymphozytäre Pleozytose ist assoziiert mit der Mehrzahl der viralen Meningitiden (dort mit Zellzahlen bis ca. 3 000/3, evtl. noch höher) und Enzephalitiden. Sie wird jedoch in geringerem Ausmaß auch bei nichtentzündlichen Erkrankungen (ζ. B. Hirninfarkt, -tumor) gesehen. Überwiegend lymphozytäre Pleozytosen (in Verbindung mit Monozyten, Granulozyten und/oder aktivierten, immunglobulinenthaltenden B-Lymphozyten bzw. Plasmazellen) kommen ζ. B. im Ausheilungsstadium bakterieller Infektionen, bei tuberkulöser Meningitis, parasitären Erkrankungen, Neurolues, Meningoradikulitis Bannwarth, multipler Sklerose, Meningealkarzinose und nach Lumbalpunktion vor.

Überwiegend lymphozytäre Mischpleozytose bei zahlreichen unterschiedlichen Erkrankungen.

Immunglobulinenthaltende B-Lymphozyten und Plasmazellen deuten auf (beginnende) Immunglobul insynthese. Massive granulozytäre Pleozytose bei akuter bakterieller Meningitis. Granulozytäre Misch Pleozytose bei weniger akuten bakteriellen Infektionen.

Eosinophilie bei parasitären Erkrankungen.

Makrophagen haben ζ. B.

Fett Erythrozyten Hämosiderin Leukozyten Bakterien

phagozytiert.

Der Nachweis aktivierter, intrazytoplasmatisch immunglobulinenthaltender B-Lymphozyten (Weber et al. 1988) oder reifer Plasmazellen ist immer als pathologisch anzusehen und deutet auf einen entzündlichen Prozeß mit beginnender oder in Gang befindlicher Immunglobulinsynthese. Ähnliche Signifikanz besitzt der Nachweis von neutrophilen Granulozyten bei Pleozytose. Eine rein granulozytäre Pleozytose, mit Zellzahlen bis ca. 20000/3, tritt im akuten (eitrigen) Stadium bakterieller Meningitiden auf. Mischpleozytosen mit einem hohen Anteil von Neutrophilen werden z.B. bei weniger akuten bakteriellen Infektionen, auch bei tuberkulöser Meningitis und Pilzmeningitiden, beobachtet. Eine geringe granulozytäre Pleozytose kann aber auch nach intrathekalen Injektionen, Trauma oder Hirninfarkt gesehen werden. Z u m Auftreten von Granulozyten nach Subarachnoidalblutungen s. u. Eosinophile Granulozyten, auch ohne begleitende Bluteosinophilie, sind für parasitäre Erkrankungen charakteristisch, kommen aber vereinzelt auch bei anderen Entzündungen und unspezifischen Reizzuständen vor. Unter den mononukleären Phagozyten sind differentialdiagnostisch besonders die Makrophagen wichtig, je nach Art des phagozytierten Materials: Lipophagen erscheinen häufig nach größeren Hirninfarkten oder traumatischen Schädigungen. Erythrophagen treten bereits 1 2 - 1 8 h nach einer Subarachnoidalblutung auf und persistieren für ca. eine Woche. Siderophagen haben durch Erythrozytenzerfall freigesetztes Hämosiderin aufgenommen und werden etwa vom 4. Tag nach der Blutung über mehrere Wochen beobachtet. (Also: Erythrophagen plus Siderophagen in der 2. Woche nach Subarachnoidalblutung = Hinweis auf Rezidivblutung!) Leukophagen enthalten unterschiedliche Zelltypen, vorwiegend aus der Abräumphase nach entzündlichen Veränderungen oder Hirnparenchymuntergang. Neben aktivierten Monozyten können auch Granulozyten Bakterien phagozytieren.

Liquorsyndrome

225

Tumorzellen im Liquor sind bei primären Hirntumoren selten, mit Ausnahme von Medulloblastomen, Ependymomen und liquorraumnahen Glioblastomen. Häufiger sind sie bei Metastasen extrazerebraler Tumoren, diagnostisch beweisend bei der Meningealkarzinose. Auch meningeale Leukosen und ZNS-Lymphome sind mit hoher Trefferquote zytologisch zu diagnostizieren. Blutungen in den Liquorraum zeigen einen charakteristischen Ablauf zellulärer Veränderungen: 1. Die Erythrozyten zerfallen relativ rasch, da die Schutzkolloidwirkung der Serumproteine im Liquor fehlt: es kommt zur Xanthochromie. 2. Bereits nach wenigen (2) Stunden tritt eine mäßige lympho-granulo-monozytäre Mischpleozytose auf (Reizpleozytose), aus der nach weiteren 24 h die Granulozyten zunehmend verschwinden. 3. Gleichzeitig treten Erythrophagen auf und persistieren für etwa eine Woche. 4. Vom vierten Tag an kommen Siderophagen hinzu, sie sind über mehrere Wochen nachweisbar. Der Nachweis dieser Vorgänge ermöglicht eine sichere Abgrenzung spontaner von artifiziellen Blutungen (s. Schema S. 222).

Tumorzellen selten bei hirneigenen Tumoren, beweisend bei Meningealkarzinose und -leukose.

2.10.4 Erreger- und Antigennachweis

Erreger- und Antigennachweis

Bei zahlreichen bakteriellen Infektionen, vor allem den Meningitiden, ist die möglichst rasche Erregeridentifikation (lebens-)wichtig für den Beginn einer wirksamen antibiotischen Therapie. Da in vielen Fällen die Bildung spezifischer Antikörper den klinischen Symptomen hinterherhinkt, kommt dem unmittelbaren Erregernachweis hohe Bedeutung zu. Dieser beginnt bereits bei der mikroskopischen Untersuchung, ggf. nach Spezialfärbung (s. o.). Sterile Abnahme einer Liquorprobe ermöglicht das Anlegen von Bakterienkulturen, bei Verdacht auf ungewöhnliche Erreger (z.B. Tuberkelbakterien, Protozoen, Pilze) mit speziellen Verfahren.

Direkter Erregernachweis durch Bakterienfärbung, Kultur, Antigenteste.

Merke: Bereits nach einer einzigen Antibiotikagabe ist ein Bakteriennachweis aus dem Liquor nicht mehr möglich! In solchen Fällen, aber auch in der Routinediagnostik kann der Erreger häufig mit Hilfe antigenspezifischer Latexteste identifiziert werden. Virusisolierungen aus dem Liquor sind erfahrungsgemäß nur bei wenigen Viren (Echo, Coxsackie, Herpes simplex, LCM) erfolgreich. Sie sind mit hohem technischen Aufwand verbunden und der Nachweis von löslichen Virusantigen mit Hilfe antigenspezifischer ELISA-Teste (s. u.) dürfte in den meisten Fällen einfacher sein. Z u m erregerspezifischen Antikörpernachweis s.u.

2.10.5 Proteine Nur wenige Proteine werden ausschließlich oder überwiegend im Hirn produziert, ζ. B. Beta-Trace, Gamma-Trace, Präalbumin, Tau-Globulin. Mit Ausnahme von Beta-Trace, dessen Nachweis im Nasensekret eine Liquorfistel beweist, haben sie keine diagnostische Bedeutung. Der überwiegende Anteil der Liquorproteine entstammt ganz oder teilweise dem Serum. Ihre Konzentration ist erheblich geringer, als im Serum und nimmt von kranial nach kaudal zu. Sie wird von mehreren Faktoren beeinflußt: • Serumkonzentration des Proteins • Durchlässigkeit der Blut/Liquor-Schranke • Geschwindigkeit des Liquorflusses • intrazerebrale Synthese des Proteins

Veränderungen nach Blutungen: Xanthochromie, Reizpleozytose, Erythrophagen, Siderophagen.

Nach Antibiotikagabe kein Bakteriennachweis mehr möglich.

Virusisolierung schwierig. Virusantigennachweis evtl. bei HlV-lnfektion.

Proteine Beta-Trace bei Liquorfistel im Nasensekret nachweisbar. Liquorproteine stammen ganz oder teilweise aus dem Serum, aber: wesentlich niedrigere Konzentration. Liquorproteinkonzentration abhängig von

Neurologische Syndrome

226 Blut/Liquor-Schrankenfunktion beeinflußt die Liquorkonzentration der Serumproteine in Abhängigkeit von deren hydrodynamischem Radius. Schrankenfunktionsstörung unterschiedlichen Ausmaßes bei vielen Erkrankungen. Schrankenzusammenbruch bei Polyradikulitis Guillain-Barre („zytoalbuminäre Dissoziation") oder spinalem Zirkulationshindernis („Stopliquor").

Gesamteiweiß bis 500 mg/l normal.

Schrankenfunktion durch Liquor/SerumQuotienten des Albumin definiert. Grenzen des Albuminquotienten altersabhängig, >0,008 = sicher pathologisch.

Φ

Lokale IgM-Produktion vor allem bei Meningoratlikulitis Bannwarth und bei unbehandelter Neurolues. Lokale IgA-Produktion vor allem bei bakteriellen Erkrankungen, z.B. Neurotuberkulose.

Quantitativer Nachweis einer lokalen IgGProduktion im Liquor durch:

Für differentialdiagnostisch relevante Aussagen ist dabei vor allem die Blut/ Liquor-Schranken-Funktion zu berücksichtigen. Diese bewirkt ein erhebliches Konzentrationsgefälle zwischen Serum und Liquor, dessen Ausmaß mit dem hydrodynamischen Radius des Moleküls variiert (Felgenhauer 1980): Größere Moleküle (ζ. B. IgM) werden stärker zurückgehalten, als kleinere (z.B. Albumin). Sehr kleine Moleküle (besonders fettlösliche - Alkohol) treten fast ungehindert in den Liquor über. Unter pathologischen Umständen (z.B. bei Hirninfarkt, -tumor) steigt die Durchlässigkeit der Schranke, d.h. mehr Proteine dringen in den Liquorraum ein (Schrankenfunktionsstörung). Ein massiver Zusammenbruch der Schrankenfunktion ohne nennenswerte Pleozytose ist ζ. B. bei der Polyradikulitis Guillain-Barre („zytoalbuminäre Dissoziation") und bei Liquorzirkulationsstörung durch spinale raumfordernde Prozesse („Stopliquor") zu beobachten. Physiologischerweise nimmt die Schrankendurchlässigkeit mit dem Alter zu und ist beim männlichen Geschlecht etwas größer. Das Gesamteiweiß im Liquor (Normalwerte 150-500 mg/1), welches durch alle der o. g. Faktoren verändert werden kann, reicht zwar zur genauen Analyse dieser Verhältnisse nicht aus, ist aber eine rasche Orientierungshilfe und Plausibilitätskontrolle. Empfindlicher und selektiver wird die Schrankendurchlässigkeit durch den Liquor/Serum-Konzentrationsgradienten des nur extrazerebral (in der Leber) synthetisierten Albumins definiert: Der Liquor/Serum-Quotient des Albumins liegt normalerweise im Alter von bis zu 15 Jahren unter 0,005 (dimensionslose Zahl), bis zu 40 Jahren unter 0,0065, bis zu 60 Jahren unter 0,008 (bei Frauen ca. 0,001 weniger). Dieser Albuminquotient ist immer zu berücksichtigen, wenn Liquorwerte solcher Proteine beurteilt werden sollen, die sowohl intra- als auch extrazerebral synthetisiert werden, insbesondere die Immunglobuline.

Merke: Immer müssen neben den Liquorwerten auch die Serumwerte der zu bestimmenden Proteine ermittelt werden. Erst aus dem Vergleich ihrer Konzentrationsgradienten mit dem des Albumins ist eine Aussage möglich: Eine überportionale Erhöhung des zu bestimmenden Proteins im Liquor beweist die lokale Synthese im ZNS. Die lokale Immunglobulinproduktion im ZNS spielt sich nicht, wie im Serum, in der Weise ab, daß einer frühen IgM-Synthese eine spätere, anhaltende IgG-Synthese folgt (Nossal-Switch). Vielmehr treten IgM und IgA nur bei einzelnen Krankheitsbildern auf. In diesen Fällen läuft ihre lokale Synthese der des IgG parallel. Mit einer intensiven IgM-Synthese gehen z.B. die Meningoradikulitis Bannwarth und die aktive, unbehandelte Neurosyphilis einher. Bei manchen bakteriellen Infektionen, insbesondere der Neurotuberkulose, wird IgA produziert. Der Nachweis einer lokalen Immunglobulinproduktion kann quantitativ oder qualitativ erfolgen. Der quantitative Nachweis ist aus den Absolutwerten allein nicht zu führen, sondern, wie oben ausgeführt, nur über Quotientenbestimmungen im Vergleich mit dem Albuminquotienten. Dies gilt besonders für das IgG, dessen Bestimmung zur Grunddiagnostik, besonders bei Verdacht auf entzündliche ZNS-Erkrankungen gehört. • In vielen Fällen ergibt sich bereits eine hinreichende Aussage durch den IgG-Index, den man erhält, indem die beiden Liquor/Serum-Quotienten des IgG und des Albumin durcheinander dividiert werden:

227

Liquorsyndrome IgG-Index (pathol. ab 0,7)

Liquor IgG Serum IgG-Index = Liquor Albumin Serum Werte oberhalb 0,7 sind pathologisch und deuten auf eine lokale IgG-Synthese. • Anschaulicher sind Auswerteschemata, welche einen simultanen Überblick über die Schrankenfunktion und die Höhe der lokalen IgG-Produktion ermöglichen. Optimal ist das Schema von Reiber und Felgenhauer (1987), das auf einer empirisch begründeten Weiterentwicklung des IgG-Index beruht: Es ermöglicht auch bei unterschiedlichen Schrankendurchlässigkeiten eine sichere Abgrenzung der im ZNS synthetisierten IgG-Fraktion (Abb. 2-35). Der quantitative Nachweis einer lokalen IgA- und IgM-Produktion unterliegt den gleichen Prinzipien wie das IgG. Allerdings verlaufen die Grenzlinien der beiden Auswerteschemata flacher, entsprechend den größeren hydrodynamischen Radien dieser beiden Immunglobuline. Das zweite, qualitative, Nachweisprinzip einer lokalen Immunglobulinproduktion (vor allem des IgG) ist die Demonstration einer oligoklonalen IgGSubfraktionierung im Liquor mit Hilfe der isoelektrischen Fokussierung. Bei dieser elektrophoretischen Technik wandert das zu fraktionierende Proteingemisch in einem stabilen pH-Gradienten. Jedes Protein wird an seinem isoelektrischen Punkt konzentriert („fokussiert"). Infolge der hohen Auflösungskraft dieser Methode werden zahlreiche - scheinbar homogene - Proteine in Untereinheiten von verschiedener Ladung aufgetrennt. Das gilt auch für „oligo"-spezifisches IgG, das sich durch ein auffälliges Bandenmuster aus dem Hintergrund des polyklonalen IgG heraushebt (Abb. 2-36). Das isolierte Auftreten von oligoklonalem IgG im Liquor kennzeichnet eine Immunglobulinproduktion im ZNS, welche bei zahlreichen akut und chronisch entzündlichen Erkrankungen auftreten kann. Demzufolge ist das MuMOOxIO3

A

5 10 20 ι ι 111 μ mini 11 ι ι ι ι I I I I I 2

100 χ 10":

CSF Albumin j r ^ — Quotient oerum Abb. 2-35 Auswerteschema zur lokalen IgG-Produktion Α Normalbereich mit altersabhängigen Grenzen des Albumin-Quotienten Β Schrankenfunktionsstörung ohne lokale IgG-Produktion C Lokale IgG-Produktion bei ungestörter Schrankenfunktion D Schrankenfunktionsstörung mit lokaler IgG-Produktion

und Auswerteschemata (deren Vorteil: simultaner Überblick über Schrankenfunktion und lokale Immunglobulinsynthese).

Noch empfindlicher: Qualitativer Nachweis einer lokalen IgG-Synthese durch Demonstration der oligoklonalen IgG-Subfraktionierung.

Oligoklonales IgG ist nicht krankheitsspezifisch, sondern beweist nur die lokale IgGProduktion allgemein.

Neurologische Syndrome

228 CSF

_

Serum

• p i

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CSF

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Serum *

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CSF

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Serum

Abb. 2-36 Isoelektrische Fokussierung in Polyacrylamidgel, pH-Bereich 9.5 (Ii) 3.5 (re): Pat. 1: Normalbefund in Liquor und Serum. Pat.2 und 3: Oligoklonales IgG im Liquor (unterstrichen) bei normalem Serum

Nachweis einer erregerspezifischen lokalen Antikörperproduktion: • hochempfindliche Teste; • Indexbildung aus Liquor/Serum-Quotient spezifischer Antikörper und Liquor/SerumQuotient des Gesamt-lgG.

Index erregerspezifischer Antikörper analog dem IgG-lndex.

ster nicht spezifisch für ein einzelnes Krankheitsbild (etwa „MS"), sondern beweist nur die lokale IgG-Produktion als solche. Auch hier ist die gleichzeitige Untersuchung des Serums erforderlich, u m eine von dort in den Liquor übergetretene oligoklonale IgG-Fraktion abzugrenzen. Der Nachweis des oligoklonalen IgG ist hochempfindlich und in vielen Fällen bereits positiv, wenn die lokale IgG-Produktion quantitativ nur so gering ist, daß sie noch nicht zu einem eindeutigen Anstieg des IgG-Quotienten über die Grenzlinie des Auswerteschemas oder zu einem pathologischen IgG-lndex geführt hat. Die Bestimmung erregerspezifischer Antikörper im Liquor ermöglicht eine weitere Differenzierung der lokalen Immunglobulinproduktion. Empfindlicher als die geläufigen Titerbestimmungen sind dabei moderne Enzymimmunoteste (ELISA = Enzyme Linked Immuno-Sorbent Assay). Die Anwendung solcher Verfahren ist besonders relevant bei Viruserkrankungen, u. a. der HIV-Enzephalitis. Da sich der entzündliche Prozeß häufig sowohl intraals auch extrazerebral abspielt, müssen auch hier Liquor- und Serumwerte gleichzeitig bestimmt werden. Darüber hinaus ist der Vergleich mit den Liquor- und Serumwerten des Gesamt-lgG erforderlich, u m die lokal synthetisierte Fraktion abzugrenzen: • Entweder durch vorherige Verdünnung des Serums auf Gesamt-IgGWerte, welche denen des Liquors entsprechen. Falls dann erhöhte spezifische Werte im Liquor nachgewiesen werden, beweist dies die lokale Produktion. • Oder durch den rechnerischen Vergleich der spezifischen Titer bzw. Meßwerte mit den entsprechenden Werten des Gesamt-lgG über eine doppelte Quotientenbildung analog dem IgG-lndex (s. o.). Beispiel: ITPA-Index zur Ermittlung der lokalen treponemenspezifischen IgG-Produktion (Prange et al. 1983).

ITPA-Index (modif.)

Gewebedestruktionsmarker bei Hirnparenchymzerfall.

Liquor Serum Liquor Gesamt-lgG Serum TPHA IgG

Unter normalen Verhältnissen sind die Liquor- und Serumquotienten gleich: Der ITPA-Index liegt bei 1. Werte über 2 sind als Hinweis auf eine lokale treponemenspezifische IgG-Produktion zu werten. Bei Hirnparenchymverfall unterschiedlicher Ätiologie werden verschiedene Proteine freigesetzt, die im Liquor als (unspezifische) Gewebedestruktionsmarker nachgewiesen werden können, ζ. B. das basische Myelinprotein, verschiedene Enzyme, aber auch kleinmolekulare Substanzen.

Liquorsyndrome Als T u m o r m a r k e r sind solche Proteine geeignet, die spezifisch aus den Tumorzellen stammen und von einer aus dem Serum in den Liquor übergetretenen Fraktion abgrenzbar sind. Auch hier muß wie beim Nachweis einer lokalen Immunglobulinsynthese die Schrankendurchlässigkeit über Quotientenbildungen berücksichtigt werden. Dies ist ζ. B. bei den Paraproteinen der Non-Hodgkin-Lymphome, vor allem der Myelome leicht möglich. Relevant ist auch der Nachweis einer lokalen Synthese des karzinoembryonalen Antigens (CEA) bei zerebralen Manifestationen CEA-produzierender extrazerebraler Tumore (Reiber et al. 1986). Leider sind humorale Marker für hirneigene Tumore bisher noch nicht bekannt.

229 Lokaler Tumormarkernachweis beweiskräf9 n u r b e i Quotientenbildung; wichtig: CEA.

tj

2.10.6 Glukose und Laktat

Glukose und Laktat

Der lumbale Liquor-Glukosespiegel liegt normal bei ca. zwei Dritteln des Serumwertes. Bei diffuser bakterieller, tuberkulöser, pilzbedingter und karzinomatöser Infiltration der Meningen sinkt er infolge der vermehrten glykolytischen Aktivität von Granulozyten und Tumorzellen (weniger der Bakterien) drastisch ab. Gleichzeitig nimmt die anaerobe Glykolyse zu, der Liquor-Laktatspiegel steigt. Die Glukosebestimmung im Liquor ist allerdings relativ ungenau und störanfällig: • Der Liquorwert schwankt mit den Serumspiegeln, so daß in jedem Fall eine Quotientenbildung nach vorheriger Blutwertbestimmung erforderlich ist (lumbaler Liquor/Serum-Quotient >0,66 = pathologisch). • Die Bestimmung muß mit Hilfe von Enzymstoppern erfolgen, u m falsch pathologische Werte zu vermeiden. Wesentlich stabiler ist das Laktat, das obendrein den Vorteil hat, daß die schwankenden Serumspiegel (ζ. B. nach körperlicher Belastung) sich nicht dem Liquor mitteilen. Dies beruht vermutlich auf einem carrier-vermittelten Ausschleusungsmechanismus, der auch das normalerweise im ZNS (aus ca. 10 % der utilisierten Glukose) gebildete Laktat eliminiert. Liquorwerte über 3,5 m mol/1 deuten auf eine vermehrte anaerobe Glykolyse. Durch diese Bestimmungen ist häufig eine rasche Differenzierung möglich zwischen bakteriellen, tuberkulösen, pilzbedingten und karzinomatösen Meningitiden einerseits und viralen Meningitiden andererseits. Das ist besonders wichtig bei der Erkennung der tuberkulösen Meningitis, die gelegentlich eine fast rein lymphozytäre Pleozytose wie die viralen Meningitiden zeigt. Andersartige Erkrankungen, die ebenfalls zu einer Laktaterhöhung fuhren, sind klinisch leicht abzugrenzen: Intrazerebrale Blutungen, Hirninfarkte, prolongierte zerebrale Hypoxie.

Bei bakterieller, tuberkulöser, karzinomatöser Meningealinfiltration sinkt die Liquorglukose, steigt das Liquorlaktat.

Literatur Dommasch, D., H. G. Mertens (Hrsg.): Cerebrospinalflüssigkeit - CSF. Thieme, Stuttgart-New York 1980 Fishman, R. Α.: Cerebrospinal fluid in diseases of the nervous system. W . B . S a u n d e r s Co., P h i l a d e l p h i a - L o n d o n - T o r o n t o 1980 Oehmichen, M.: Cerebrospinal fluid cytology. Thieme, Stuttgart 1976 Prange, Η., M.Moskophidis, H.I.Schipper et al.: Relationship between neurological features and intrathecal synthesis of IgG antibodies to treponema pallidum in untreated and treated h u m a n neurosyphilis. J. Neurol. 230 (1984) 2 4 1 - 2 5 2 Reiber, Η., K. Felgenhauer: Protein transfer at the blood cerebrospinal fluid barrier and the quantitation of the humoral immune response within the central nervous system. Clin. Chim. Acta 163 (1987) 3 1 9 - 3 2 8

Glukosebestimmung störanfällig und nur bei Quotientenbildung aussagekräftig: >0,66 = pathologisch.

Laktat stabil, Absolutwerte ausreichend: >3,5 m mol/l = pathologisch.

Durch Glukose- und Laktatbestimmung rasche Differenzierung: virale vs. bakterielle Meningitis.

Neurologische Syndrome

230

Reiber, H., C. Jacobi, K. Felgenhauer: Sensitive quantitation of carcinoembryonic antigen in cerebrospinal fluid and its barrier-dependent differentiation. Clin. Chim. Acta 156 (1986) 259-270 Schmidt, R. M.: Der Liquor cerebrospinalis. Thieme, Leipzig 1987 Weber, Τ., P.Rieckmann, S.Jürgens et al.: Immunocytochemical analysis of immunoglobulin-containing cells in CSF and blood in inflammatory disorders of the central nervous system. J. Neurol. Sei. 86 (1988) 6 1 - 7 2 Tabelle 2-4

„Typische" Liquorsyndrome (In der klinischen Praxis sind Abweichungen von diesen Bildern häufig!)

Pleozytose und/oder lokale Immunglobulinproduktion im Vordergrund

lokale Zellen

Schrankenfunktion

bakterielle

—> 30.000/3, überw.

massiv gestört

nur bei kompliz. Vf.

Meningitis

Granulozyten

(Alb.-Quot. >20)

(chron., abszedierend)

Meningo-

-> 6.000/3, lympho/

mittelgradig bis schwer

IgM, IgG, IgA, spez. Ak-

radikulitis

mono/plasmazellulär,

gestört

Quot.

Bannwarth

lg-enth. B-Lympho

tuberkulöse

- » 6.000/3, initial überw.

massiv gestört

häufig IgG und IgA

Meningitis

Granulozyten, später „buntes Bild",

Sonstiges

Immunglobul insynthese Glukose-Quot. J,, Laktat f, Erregernachweis (Gramfärbung, Kultur, Antigen)

Glukose-Quot. j , Laktat f ,

(Alb.-Quot. >20)

Erregernachweis (ZiehI-

evtl. nur mäßig gestört

Neelsen-Färbung, Kultur)

chron: überw. Lympho/ Plasmazellen, lg-enth. B-Lympho virale

- » 3.000/3, überw.

normal oder nur leicht

b. einigen Err. (ζ. Β.

Meningitis

Lympho/Mono,

gestört (Alb.-Quot.

Mumps, V Z V ) IgG,

normal,

evtl. lg-enth. B-Lympho

—»20)

spez. Ak-Quot.

(evtl. Antigennachweis)

normal oder nur leicht

b. einigen Err. (ζ. Β.

(evtl. Antigennachweis)

gestört.

Herpes s./VZV/Ma-

virale

- » 300/3, überw.

Enzephalitis

Lympho/Mono,

sern/EB): IgG, spez. Ak-

evtl. lg-enth. B-Lympho

HIV-

normal

Quot. ungestört

Enzephalitis

stadienabh. oligokl. IgG

(evtl. Antigennachweis),

(70 —»40 %), spez. Ak-

b. opp. Inf. evtl. Erreger-

Quot., b. opp. Inf. evtl. auch IgA und I g M

Neurosyphilis

Glukose-Quot. und Laktat

-^>200/3, lympho/mono/

normal, bei progr. Para-

granulozytär, Plasmazel-

lyse und meningovask.

unbehandelten Fällen

len, lg-enth. B-Lympho

Vf. leicht gestört

auch I g M .

nachweis

übw. I g G ; bei akuten,

ITPA-Index t Multiple

- » 200/3, lympho/

Sklerose

monozytär, Plasmaz., lg-enth. B-Lympho

normal (in 12 %

IgG, (gel. IgM),

im Schub evtl. basisches

leicht gestört)

spez. Ak-Quot. gegen

Myelinprotein

Masern/Röteln/Zoster

231

Vertebragene Syndrome Tabelle 2-4 (Fortsetzung)

Schrankenstörung im Vordergrund

Polyradikulitis Guillain-Barre

lokale Immunglobul insynthese

Sonstiges

mit zeitl. Latenz massiv gestört (Alb.-Quot. -»100)

fehlt

„zytoalbuminäre Dissoziation"

leicht gestört (Alb.-Quot. —>15)

fehlt

Schrankenstrg. bei anderen

Zellen

Schrankenfunktion

normal, allenfalls bis 150/3

diabetische Polyneuropathie

normal

Hirninfarkt

normal, evtl. geringe lympho/monozytäre Pleozytose

leicht gestört

nur bei entz. Ursache (ζ. B. meningovask. Neurolues, LE) IgG

mass. Parenchymzerfall: Laktat f

Subarachnoidalblutung

Erythrozyten, initial Leuko entspr. Blut, später Reizpleozytose, Erythrophagen —» Siderophagen

je nach Ausmaß leicht

fehlt

Xanthochromie; ähnlich: Hirnkontusion, Intrazerebralblutung m. Ventrikeleinbruch. DD. artifizielle Blutung!

Hirntumor

leichte lympho/monozytäre Pleozytose. Selten Tumorzellen.

mäßig gestört

fehlt

bei Metastasen ggf. Tumormarker

spinale Liquor-

normal

massiv gestört

fehlt

„Stopliquor"

zirkulationsstörung (Tumor, Wirbelkörperzusammenbruch)

Polyneuropathien selten

bis massiv gestört

(Alb.-Quot. —»100)

2.11 Vertebragene Syndrome

Vertebragene Syndrome

Μ. Stöhr Die vertebragenen Syndrome im engeren Sinn, d. h. die aus Erkrankungen der Wirbelsäule resultierenden Syndrome sind Gegenstand der Orthopädie. Da die Wirbelsäule jedoch enge räumliche Beziehungen einerseits zum Rükkenmark, andererseits zu den Nervenwurzeln aufweist (Abb. 2-37) können deren Erkrankungen sowohl auf benachbarte Rückenmarksabschnitte als auch auf einzelne oder mehrere Nervenwurzeln übergreifen und diese schädigen (Abb. 2-38). Diese durch Affektion nervaler Strukturen entstehenden vertebragenen Syndrome kommen somit in Form vertebragener Myelopathien und in Form vertebragener Radikulopathien vor. Im folgenden werden zunächst einige Erkrankungen der Wirbelsäule als häufigere Ursachen vertebragener Syndrome besprochen (2.11.1), um anschließend die Syndrome der vertebragenen Myelopathien (2.11.2) sowie der vertebragenen Radikulopathien (2.11.3) darzustellen.

2.11.1 Ursachen vertebragener Syndrome Die Erkrankungen der Wirbelsäule, die zu einer Schädigung von Rückenmark und/oder Nervenwurzeln führen können, werden eingehend in den Lehrbüchern der Orthopädie, teilweise auch in speziellen Abschnitten dieses Buches (siehe Kapitel über degenerative, raumfordernde und entzündliche

Wirbelsäulen-Erkrankungen können zu einer Schädigung des Rückenmarks (vertebragene Myelopathien) und der Nervenwurzeln (vertebragene Radikulopathien) führen.

Neurologische Syndrome

232

HWK7 BWK1

BWK12 LWK1

LWK 5

Abb. 2-37 Längsansicht des Rückenmarks von dorsal Die segmental aus dem Rückenmark austretenden Nervenwurzeln zeigen aufgrund der Höhenverschiebung zwischen Rückenmark und Wirbelsäule einen von zervikal nach lumbosakral zunehmenden abwärts gerichteten Verlauf, um (in den thorakalen und lumbosakralen Abschnitten) unterhalb des gleichnamigen Wirbelkörpers auszutreten. Wichtige Ursachen: - Degenerative Veränderungen (Spondylarthrose, Osteochondrose), - Traumatische Schädigungen der Wirbelsäule, - Entzündliche und tumoröse Prozesse von Wirbelkörpern, - Epidurale Tumoren, Blutungen und Abszesse.

Prozesse, Gefäßkrankheiten und Fehlbildungen) besprochen. I m R a h m e n der Syndromlehre genügen daher einige Hinweise zu den topographischen Beziehungen zwischen den erkrankten Wirbelsäulenabschnitten und den dadurch in Mitleidenschaft gezogenen nervalen Strukturen. Das Rückenmark mit seinen Hüllen liegt innerhalb des knöchernen Spinalkanals, dessen Weite individuellen Schwankungen unterliegt. Bei einem angeborenen engen Spinalkanal genügen bereits leichtere raumbeengende Prozesse, um eine Rückenmarkskompression zu bewirken, ζ. B. Osteophyten, Bandscheibenprotrusionen oder Bandverdickungen. Bei normaler Weite geschieht dies erst bei ausgedehnteren Veränderungen der genannten Art bzw. bei andersartigen, den Spinalkanal ausfüllenden Prozessen, wie z.B. epiduralen Blutungen oder Abszessen bzw. infiltrativ vorwachsenden primären oder metastatischen Tumoren der Wirbelsäule. Schädigungen von Nervenwurzeln treten bei mehr lateral gelegenen Wirbelsäulenveränderungen auf, die diese vor deren Eintritt in den Wurzelkanal bzw. darin selbst komprimieren. Mit Abstand am häufigsten erfolgt dies durch einen lateralen Bandscheibenvorfall, seltener durch entzündliche (Abb. 2-39) und tumoröse Prozesse (Abb. 2-40).

Vertebragene Syndrome

Abb. 2-38 Topische Beziehungen zwischen Wirbelsäule, Rückenmark und Nervenwurzeln. Im Zusammenhang mit osteochondrotischen Prozessen resultiert aus einem medialen Bandscheibenvorfall (bzw. entsprechend lokalisierten knöchernen Anbauten) eine Kompression des Rückenmarks, während lateral gelegene Bandscheibenvorfälle die durch das Foramen intervertebrale austretenden Nervenwurzeln in Mitleidenschaft ziehen.

Abb. 2-39 Spondylodiszitis mit Kompression der Wurzel L5 links durch eine epidurale Abszedierung («—)

Abb. 2-40 Osteolytische Metastase im 4. Lendenwirbelkörper als Ursache eines monoradikulären Syndroms

233

234 Vertebragene Myelopathien resultieren aus Prozessen, die zu einer Einengung des Spinalkanals und damit zur Rückenmarkskompression führen. Besonders rasch erfolgt dies bei einer konstitutionellen Enge des Spinalkanals. Die initialen Symptome gehen meist auf die Läsion der vulnerableren langen Bahnen zurück („Paraspastik", s. 2.3).

Neurologische Syndrome

2.11.2 Vertebragene Myelopathien Die vertebragenen Schädigungen des Rückenmarks beruhen meistens auf einer subakut bis chronisch verlaufenden Kompression umschriebener Anteile des Myelons, z.B. durch einen Rückenmarkstumor. Im Zusammenhang mit Wirbelsäulenverletzungen kommen außerdem akut einsetzende partielle oder komplette spinale Querschnittssyndrome vor, deren Symptomatik bereits bei der Besprechung der Rückenmarkssyndrome (Kap. 2.3) dargestellt wurde. Der Prototyp einer vertebragenen Myelopathie ist die sog. zervikale Myelopathie, die besonders bei angeborener Enge des zervikalen Spinalkanals im Zusammenhang mit osteochondrotischen Veränderungen der HWS vorkommt (s. Abb. 2-38). Hierbei entwickelt sich eine chronische Kompression des Halsmarks, die durch Kopfbewegungen intermittierend verstärkt werden kann. Bei einer Retroflexion des Kopfes wird nämlich das Halsmark gestaucht und zugleich der Durchmesser des Spinalkanals verkleinert, was den Druck auf das Rückenmark verstärkt. Die bei einer Flexion des Kopfes resultierende leichte Aufwärtsbewegung des Halsmarks kann sich durch dessen Zug über einen als Hypomochlion wirkenden Osteophyten zusätzlich schädigend auswirken. Offenbar sind die langen Rückenmarksbahnen - vor allem die Pyramidenbahn - gegenüber diesen pathogenen Einflüssen besonders vulnerabel, da das klinische Bild der zervikalen Myelopathie oft durch eine allmählich progrediente Paraparese der Beine gekennzeichnet ist. Im weiteren Verlauf können sich Symptome von Seiten der Hinterstränge (siehe 2.3.2) hinzugesellen, was gegen die pathogenetische Annahme einer Kompression der A. spinalis anterior spricht, da diese nur die vorderen zwei Drittel des Rückenmarksquerschnitts versorgt. Auf den Schädigungsort hinweisende radikuläre Schmerzen und Sensibilitätsstörungen sind ebenso wie atrophische Paresen an den Armen nur in einem kleineren Teil der Fälle nachweisbar und daher diagnostisch von untergeordneter Bedeutung. Lokaldiagnostisch wichtig ist das gelegentlich anzutreffende Lhermitte-Zeichen, d. h. in den Rücken oder in die Arme ausstrahlende, teilweise elektrisierende Mißempfindungen bei Kopfbeugung. Da das R ü c k e n m a r k bereits in H ö h e LWK 1/2 endigt, k ö n n e n die häufigen Erkrankungen der LWS zu keiner Rückenmarks-, sondern n u r zu einer Nervenwurzelschädigung f ü h r e n , wobei die e n t s p r e c h e n d e n W u r z e l s y n d r o m e im nächsten Abschnitt dargestellt sind.

Vertebragene Radikulopathien resultieren aus einer Nervenwurzel-Kompression im lateralen Anteil des Spinalkanals oder im Canalis intervertebralis. Symptome einer Wurzelkompression: - radikulärer Schmerz, - Parästhesien, - schlaffe Paresen in den „Kennmuskeln" der betroffenen Wurzel, - Eigenreflexverlust.

Von der Wirbelsäule in eine Extremität ausstrahlende Schmerzen, die nicht dem Hautareal einer Nervenwurzel (Dermatom) entsprechen, stellen ein „pseudoradikuläres Symptom" dar.

2.11.3 Vertebragene Radikulopathien Grundsätzlich kann jede Nervenwurzel durch Krankheitsprozesse an benachbarten Wirbelsäulenabschnitten geschädigt werden. Von größter praktischer Bedeutung sind die Kompressionssyndrome der unteren Zervikalwurzeln ( C 5 - C 8 ) , einzelner lumbosakraler Nervenwurzeln (L4, L5 und S l ) sowie das Syndrom der Cauda equina. Daneben kommen aber auch - meist als „Interkostalneuralgie" verkannte - thorakale Wurzelkompressionssyndrome relativ häufig zur Beobachtung (Abb. 2-41), die sich - wie dies für sämtliche Monoradikulopathien gilt - meist durch die Anordnung der Schmerzen, Parästhesien bzw. Sensibilitätsausfälle innerhalb eines Dermatoms einfach erkennen lassen. Die Schmerzprojektion in ein Dermatom beweist das Vorliegen einer Wurzelschädigung und stellt eine verläßliche Leitschiene zum Ort des krankhaften Geschehens dar. Nicht jeder von der Wirbelsäule in den Arm, den Rumpf bzw. das Bein ausstrahlende Schmerz geht auf eine Nervenwurzelirritation zurück. Vielmehr ist die Annahme eines radikulären Syndroms nur gerechtfertigt, wenn sich der Schmerz exakt an das jeder Wurzel zugeordnete Hautareal (d. h. deren

Vertebragene Syndrome

235

f

t A b b . 2-41 S p o n t a n f r a k t u r eines B r u s t w i r b e l k ö r p e r s bei Plasmozytom mit bilateralem t h o r a k a l e m W u r z e l k o m p r e s s i o n s s y n d r o m

Dermatom) hält. Andernfalls muß von der Annahme eines pseudoradikulären Syndroms ausgegangen werden. Zervikale Wurzelkompressionssyndrome (Abb. 2-42) Von den zervikalen Nervenwurzeln sind mit Abstand am häufigsten die Wurzeln C6 und C7, deutlich seltener die Wurzeln C5 und C8 betroffen, so daß deren Symptomatik im folgenden detaillierter dargestellt wird (Abb. 2-42). Ursächlich überwiegen osteochondrotische (Abb. 2-43) und tumoröse Prozesse. C 5-Syndrom Das C5-Syndrom ist durch Schmerzen an der Außenseite der Schulter sowie der Vorderaußenseite des proximalen Oberarms charakterisiert, während die Sensibilitätsstörungen im Zentrum dieses Gebietes - über der Mitte des Deltamuskels - lokalisiert sind. Etwaige Paresen betreffen bevorzugt den M.deltoideus, in geringerem Umfang auch die Beugergruppe am Oberarm. In einem Teil der Fälle sind der Bizeps- und Brachioradialisreflex abgeschwächt. C 6-Syndrom Bei der Schädigung dieser Wurzeln betreffen die Schmerzen und Sensibilitätsstörungen den Daumen und die angrenzende Hand- und eventuell Unterarmpartie. Paresen finden sich bevorzugt von Seiten der Mm. biceps brachii und brachioradialis; außerdem sind die entsprechenden Muskeleigenreflexe abgeschwächt oder ausgefallen. C7-Syndrom

Die Schmerzen und Sensibilitätsstörungen beim C7-Syndrom betreffen in der Regel den Mittelfinger und die angrenzende Handpartie, wobei die beiden benachbarten Finger in variablem Ausmaß beteiligt sein können. Etwaige Paresen finden sich vorwiegend im M. triceps brachii, dessen Eigenreflex außerdem frühzeitig abgeschwächt oder ausgefallen ist. C8-Syndrom Hier sind die Schmerzen und Sensibilitätsstörungen in der ulnaren Handpartie einschließlich dem Kleinfinger angeordnet, während etwaige Paresen die Hand- und distale Unterarmmuskulatur betreffen. In der Mehrzahl der Fälle ist der Trömner- (Fingerbeuge-) Reflex abgeschwächt oder ausgefallen.

Häufige zervikale Wur;:elsyndrome Symptomatik des C5- und C6-Syndroms.

Symptomatik des C7- und C8-Syndroms

Neurologische Syndrome

236 Schmerz

Sensibilitätsstörungen

Paresen

Reflexausfälle

C5

C6

C7

KD

C8

Abb. 2-42 Synopsis der häufigsten zervikalen Nervenwurzelsyndrome (nach Stöhr u. Riffel, 1988) Häufige lumbosakrale Wurzelsyndrome Lumbosakrale Wurzelkompressionssyndrome sind häufig, aber nicht immer die Folge eines lateralen Bandscheibenvorfalls („Ischias"). Differentialdiagnostisch sind besonders Tumormetastasen in der LWS von Bedeutung.

Lumbosakrale Wurzelsyndrome (Abb. 2-44) Die lumbosakralen Wurzel-Syndrome sind in der Mehrzahl der Fälle durch laterale Bandscheibenvorfälle bedingt und zählen zu den häufigsten neurologischen Krankheitsbildern überhaupt. Außer Bandscheibenerkrankungen spielen aber auch knöcherne Veränderungen, Entzündungen, Blutungen, primäre und metastatische Tumoren sowie die Spondylolisthesis eine wichtige Rolle, so daß vor der diagnostischen Annahme einer „Ischias" immer eine sorgfältige diagnostische Abklärung erforderlich ist (s. Abb. 2-38).

Vertebragene Syndrome

237

Φ Abb. 2-43 Lateraler Bandscheibenvorfall zwischen H W K 6 und 7 mit Kompression der Wurzel C7 links und leichter Verlagerung des Halsmarks zur Gegenseite (Die das Halsmark umgebende ovale Dichteanhebung ist durch dreieinhalb Stunden vor der zervikalen Computertomographie eingegebenes, wasserlösliches Kontrastmittel bedingt, das sich im Subarachnoidalraum ansammelt. Die Wurzeltasche ist auf der rechten Seite angefärbt, auf der linken nicht.)

L4-Syndrom Die Schmerzen und Sensibilitätsstörungen sind beim L4-Syndrom vorwiegend an der Vorderinnenseite des Unterschenkels lokalisiert. Paretisch ist in erster Linie der M. quadriceps femoris, dessen Eigenreflex frühzeitig abgeschwächt oder ausgefallen ist.

L4-Syndrom

L5-Syndrom Beim L5-Syndrom sind die Schmerzen an der Außenseite des Ober- und Unterschenkels angeordnet und strahlen von dort in den medialen Fußabschnitt aus. In letzterem sind auch die hinzutretenden Sensibilitätsstörungen lokalisiert. Paretisch sind in erster Linie die Fuß- und Zehenheber, in meist geringerem Umfang auch die seitlichen Gesäßmuskeln mit etwaiger Ausbildung eines positiven Trendelenburg-Zeichens.

L5- und S 1-Syndrom

S1-Syndrom Entsprechend der Anordnung des Dermatoms S 1 sind hier die Schmerzen an der Rückseite des Beins angeordnet und breiten sich von dort in den lateralen Fußrand aus, der auch von einer hinzutretenden Hypästhesie bevorzugt betroffen ist. Paresen entwickeln sich bevorzugt in den Plantarflexoren des Fußes und der Zehen mit Erschwerung bzw. Aufhebung des Zehenstandes. Kombinierte Wurzelsyndrome Der gleichzeitige Ausfall von zwei oder mehr Wurzeln ist im Bereich der zervikalen und thorakalen Segmente selten, im Lumbosakralbereich wegen des parallelen Verlaufs der Nervenwurzeln wesentlich häufiger. Am häufigsten finden sich dabei kombinierte Schädigungen der Wurzeln L4 und L5 bzw. L5 und S l , wobei die jeweiligen Reiz- und Ausfalls-Erscheinungen einer Summation der oben dargestellten monoradikulären Syndrome entsprechen. Cauda-equina-Syndrom Das Kauda-Syndrom beruht auf einer Schädigung der im lumbosakralen Spinalkanal verlaufenden Cauda equina, wobei die hieraus resultierende Symptomatik vom Schädigungsniveau abhängt. Bei einer Läsion in Höhe L W K 5 / O s sacrum finden sich bilaterale Lähmungen der Fuß- und Zehenbeuger, des Glutaeus maximus sowie eine Blasenmastdarmlähmung mit Harn- und Stuhlverhaltung sowie Inkontinenz (Überlaufblase). Der Analsphinktertonus ist herabgesetzt, der Analreflex ausgefallen. Darüber hinaus besteht ein beidseitiger Ausfall des Triceps-surae-Reflexes. Die Sensibilitätsstörungen sowie etwaige Schmerzen betreffen sämtliche sakralen Derm-

Cauda-equina-Syndror ι - Blasenmastdarmlähmung mit Harn- und Stuhlverhaltung sowie Inkontinenz, - Parästhesien und Sensibilitätsstörungen im Anogenitalbereich und an den Beinen, - Schlaffe Paresen der Gesäß- und Beinmuskulatur.

238

Neurologische Syndrome Schmerz

Sensibilitätsstörungen

Paresen

Reflexausfälle

L4

L5

S1

CAUDA EQUINA

Gesäßund Beinmuskulatur BlasenMastdarmLähmung

Abb. 2-44 Synopsis der häufigsten lumbosakralen Wurzelsyndrome (nach Stöhr u. Riffel, 1988)

atome, d.h. die Dammregion mit der angrenzenden Oberschenkelinnenseite sowie die Rückseite der Beine und den äußeren Fußrand. Abweichungen von dieser Symptomatik ergeben sich, wenn die Cauda equina weiter rostral eine Schädigung erfährt. In diesem Fall gesellen sich je nach Lokalisation bilaterale Ausfälle der Wurzeln L5 (Schwäche der Fußund Zehenheber), L4 (Quadrizepsparese) und ggf. L2/3 (Hüftbeuger- und Adduktorenparesen) hinzu. Die Sensibilitätsstörungen umgreifen in einem solchen Fall auch noch die entsprechenden lumbalen Dermatome.

Vertebragene Syndrome

Abb. 2-45 Cauda-equina-Syndrom durch medialen Bandscheibenvorfall mit Kontrastmittelstop in Höhe LWK4/5

Eine Schädigung der Cauda equina geht am häufigsten auf einen medialen Bandscheibenvorfall zurück (Abb. 2-45) und m u ß unverzüglich erkannt und einer operativen Dekompression zugeführt werden, da andernfalls mit keiner Rückbildung der gravierenden Symptomatik gerechnet werden kann.

239

3 Neuropsychologische Syndrome

Neuropsycho.ogischesyndrome

B. Preilowski

Neuropsychologische Symptome sind Veränderungen im Verhalten und in den Verhaltensmöglichkeiten, also in den sensomotorischen und intellektuellen Fähigkeiten sowie der Persönlichkeit, die auf Veränderungen im Zentralnervensystem zurückgeführt werden können. Eher aus pragmatischen und historischen, denn aus prinzipiellen Gründen, werden Verhaltensänderungen, bei denen keine organische Ursache nachzuweisen ist, dem Zuständigkeitsbereich der klinischen Psychologie und Psychiatrie zugerechnet. Unterschiedliche Veränderungen nach Hirnschäden können gleichzeitig in typischen Konstellationen auftreten und so die Verwendung des Begriffs Syndrom rechtfertigen. Die Entwicklung von praktikablen und theoretisch fundierten Syndromdefinitionen in der Neuropsychologie ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Hierzu reicht das Wissen darüber, wie das Gehirn funktioniert, noch nicht aus.

3.1 Ursachen neuropsychologischer Ausfälle Schlaganfälle (s. Kap. 13.). Schädelhirnverletzungen (s. Kap. 12.). Pathophysiologische Prozesse: Neuropsychologische Syndrome werden auch als Folge von langsamen pathologischen Veränderungen beobachtet. Diese können durch Tumoren hervorgerufen werden; sie können aber auch durch Mangelernährung entstehen oder durch chronische und mehrere Gehirnbereiche gleichzeitig betreffende Stoffwechselentgleisungen, Vergiftungen, Infektions- und degenerative Alterungsprozesse sowie deren medikamentöse oder physikalische Behandlung.

3.2 Zur Lokalisation neuropsychologischer Störungen Neuropsychologische Symptome und Syndrome können nach dem Ort der verursachenden Schädigung zu hirnlokalen Syndromen geordnet werden. Eine solche Gliederung ist die Grundlage dafür, in umgekehrter Richtung von der Beschreibung neuropsychologischer Ausfälle auf eine Lokalisation von Hirnschäden zu schließen.

Hauptursachen neuropsychologischer Störungen • Schlaganfälle • Schädelhirnverletzungen (Traumata) • Pathophysiologische Prozesse: - Tumoren, - Vergiftungen, Stoffwechselstörungen, Hypoxien, - Infektionserkrankungen, degenerative Prozesse, - iatrogene Störungen.

Lokalisation neuropsychologischer Störungen —» Zusammenfassung zu Syndromen aufgrund der Lokalisation (hirnlokale Syndrome).

242

Neuropsychologische Syndrome

Laterale Zerebrale Asymmetrie

3.3 Laterale Zerebrale Asymmetrie

Morphologische und funktionelle Unterschiede zwischen der linken und rechten Gehirnhälfte. Synonyme Begriffe: Lateralität, Gehirn- oder Hemisphärenasymmetrie, Hirn- oder Hemisphärendominanz.

Begriffe, wie Laterale Zerebrale Asymmetrie, Lateralität, Hemisphärenasymmetrie oder Hemisphärendominanz, werden verwendet, u m - mit geringen Unterschieden in der Konnotation - morphologische und funktionelle Unterschiede zwischen der rechten und linken Gehirnhälfte zu beschreiben. Der Begriff der Hirndominanz ist mehrdeutig und sollte, wenn überhaupt, nur mit Hinweis auf bestimmte Funktionen verwendet werden.

Linkshemisphärische Dominanz für Sprache

3.3.1 Linkshemisphärische Dominanz für Sprache

Beziehung zwischen Sprachlateralisierung und Händigkeit

Die Grundlage des statistischen Zusammenhangs zwischen Sprachlateralisierung und Händigkeit ist noch ungeklärt.

—» Der Schluß von der Händigkeit einer Person auf die Sprachdominanz einer Hemisphäre ist auch bei Rechtshändern mit einem Fehler behaftet, der bei wichtigen Entscheidungen nicht zu vernachlässigen ist. —» Die Beziehung ist bei Linkshändern variabler als bei Rechtshändern und noch unbestimmter bei Linkshändern mit Verdacht auf eine frühkindliche Hirnschädigung. —* Die einzige ausreichend verläßliche Methode zur Bestimmung der Sprachlateralisierung ist der Wada-Test.

Die wichtigsten und am längsten bekannten Hinweise auf funktionelle Unterschiede zwischen linker und rechter Hemisphäre des menschlichen Gehirns, sind Beobachtungen über die Beeinträchtigung von Sprache und sprachabhängigen Leistungen, die überwiegend nach Läsionen der linken Gehirnhälfte auftreten. Man spricht hier von einer Dominanz der linken Hemisphäre für sprachliche Funktionen. Während zwischen Händigkeit und Sprachlateralisierung ein deutlicher statistischer Zusammenhang besteht, findet man zwischen diesen Formen der Asymmetrie und anderen, wie der Beinigkeit (Bevorzugung eines Beines, ζ. B. beim Springen oder Ballkicken) oder der Äugigkeit (von der Refraktionsqualität unabhängige Bevorzugung eines Auges, ζ. B. beim Blick durch ein Okular oder den Sucher einer Kamera) keine eindeutigen Beziehungen. Eine kausale Verbindung ist jedoch auch zwischen Händigkeit und Sprachlateralisierung nicht nachweisbar, da nach einseitigen Himschädigungen im Kindesalter jede dieser beiden lateralisierten Funktionen die Seite wechseln kann, ohne eine entsprechende Änderung in der Lateralisierung der anderen nach sich zu ziehen. Es ist aber zu vermuten, daß ein gemeinsamer oder zumindest ähnlicher Mechanismus die ursprüngliche Entwicklung beider funktioneller Asymmetrien auslöst. Dieser Mechanismus ist offensichtlich genetischer Natur, da, unabhängig von kulturellen Einflüssen, ein gleichbleibend stark überwiegender Anteil aller Menschen Rechtshänder mit linkshemisphärischer Sprachdominanz ist. Die Expressivität, beziehungsweise Penetranz beider funktioneller Asymmetrien scheint aber durch verschiedene Variablen unabhängig voneinander beeinflußt zu werden. Insbesondere bei der Händigkeit muß davon ausgegangen werden, daß sie durch lebenslange Gewohnheiten mitgeprägt ist. Es empfiehlt sich daher, nicht nur die Handbevorzugung (Bevorzugungshändigkeit) zu testen, sondern auch Leistungen zu vergleichen, die mit beiden Händen bei Aufgaben erbracht werden, die noch nicht überlernt wurden (Leistungshändigkeit). Wenn es aber darum geht, eine folgenschwere Entscheidung zu treffen, etwa darüber, welche der beiden Hemisphären, bei einem neurochirurgischen Eingriff oder bei einseitiger Elektrokrampftherapie, besonders geschont werden sollte, u m Sprachausfälle zu vermeiden, kann dies nicht aufgrund eines Händigkeitstests erfolgen. Auch ein Test der Leistungshändigkeit ist hierfür nicht ausreichend. Die bisher einzige verläßliche Methode zur Beurteilung der Sprachlateralität ist der sogenannte Natriumamobarbitaltest (auch Natrium-Amytal-Test oder Wada-Test genannt). Hierbei wird an zwei verschiedenen Tagen jeweils eine der Hemisphären durch Injektion eines Barbiturats in eine der Karotiden kurzfristig betäubt. Solange die einseitige Lähmung anhält, können Aufgaben zur Sprach-, Wahmehmungs- und Gedächtnisprüfung, die vorher in ähnlicher Form mit dem Patienten eingeübt wurden, durchgeführt werden.

Allgemeine neuropsychologische Veränderungen

243

3.3.2 Funktionelle Asymmetrie, Lateralität

Funktionelle Asymmetrie, Lateralität

Die zerebrale Asymmetrie ist nicht nur durch eine Spezialisierung der linken Hemisphäre für verbale Informationsverarbeitung und Sprachausgabe gekennzeichnet, sondern auch durch eine besondere Fähigkeit der rechten Hemisphäre bei der Verarbeitung von ganzheitlichen Reizmustern und räumlichen Zusammenhängen. Die Funktionsweise der linken Hemisphäre könnte man als seriell, analytisch und zeitabhängig charakterisieren, während die der rechten als parallel und ganzheitlich beschrieben werden kann. Erstere würde eher den sprachlichen Funktionen zugute kommen, letztere eher solchen, wie dem Erfassen und Wiedererkennen von Gesichtern, von räumlichen Zusammenhängen, aber auch von divergenten gedanklichen Konzeptionen, wie sie beispielsweise zum Erfassen von metaphorischen Umschreibungen notwendig sind. Bei Patienten mit rechtshemisphärischen Läsionen findet man daher auch typische Ausfälle im Bereich der räumlichen Orientierung, in räumlich konstruktiven und graphischen Fähigkeiten oder in der Fähigkeit, Sprichwörter, Anspielungen und Redewendungen zu erklären.

Die funktionelle Asymmetrie der Großhirn hemisphären kann in Unterschieden der Lokalisation von einzelnen Funktionen in der rechten und linken Hemisphäre oder in unterschiedlichen Funktionsweisen beider Großhirnhälften gesehen werden: - Links- versus rechtshemisphärisch lokalisierte Funktionen, beispielsweise Sprachfunktionen versus Funktionen räumlicher Vorstellung und Integration, - Links- versus rechtshemisphärische Funktionsweisen, beispielsweise sequentielle, analytische versus parallele, ganzheitliche Arbeitsweise.

3.4 Allgemeine neuropsychologische Veränderungen nach Hirnschädigungen Bevor Verhaltensänderungen besprochen werden, die nach enger umgrenzten funktionellen Gesichtspunkten gegliedert sind (funktionelle Syndrome) oder solche, die typischerweise mit Schädigungen gewisser Hirnbereiche einhergehen (hirnlokale Syndrome), sollen Veränderungen des Verhaltens beschrieben werden, die keiner der beiden genannten Kategorien eindeutig zugeordnet werden können. Es geht dabei nicht u m die akuten Probleme der Hirnschädigung, wie Verwirrtheit oder Bewußtseinstrübung, sondern u m die oft weniger offensichtlichen Veränderungen des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns. In diesem Zusammenhang sollten Begriffe wie hirnorganisches Psychosyndrom oder Hirnleistungsschwäche nur mit Vorsicht verwendet werden. Diese Begriffe stammen aus dem Bereich der Psychiatrie, wobei als Psychosyndrom alle Bewußtseins- und Geistesstörungen, die auf Hirn- oder Allgemeinerkrankungen zurückzuführen sind, bezeichnet werden. Die Untersuchung von neuropsychologischen Funktionen setzt immer einen gewissen Grad der Wachheit und Ansprechbarkeit des Patienten voraus. Sobald dies gegeben ist, sollten psychotische Veränderungen, im Sinne von organisch begründeten Psychosen, von genauer zu definierenden neuropsychologischen Beeinträchtigungen getrennt werden. Natürlich hängen psychologische Leistungen eng mit neurologischen Grundfunktionen zusammen. Geringere Wachheit und schnellere Ermüdbarkeit können zu gravierender Verminderung der Konzentrationsfähigkeit fuhren. Solche Interaktionen sind vor allem bei Läsionen im Hirnstammbereich (insbesondere der Formatio reticularis) zu erwarten. Verluste der Fähigkeit, sich zu konzentrieren, werden manchmal erst dannsichtbar, wenn der Patient, der durch irrelevante Reize sehr leicht ablenkbar ist, einer komplexeren Umgebung ausgesetzt wird. Oder er fällt auf, wenn kompliziertere Aufgaben gelöst werden müssen und er beispielsweise nicht in der Lage ist, von mehreren Gesichtspunkten eines Problems einen ganz bestimmten im Auge zu behalten. Für diese Patienten ist auch typisch, daß sie komplexere Reizsituationen häufig sehr stark vereinfacht wahrnehmen und, beispielsweise beim Beschreiben von Bildern, nur auf einige zumeist auch nur unwichtige Einzelheiten reagieren.

Allgemeine neuropsychologische Störungen nach Hirnschädigungen

Psychosyndrom, hirnorganisches Psychosyndrom Gängige Allgemeinbegriffe ohne diagnostische Bedeutung Psychosyndrom: Bewußtseins- und Geistesstörungen, die auf Hirn- oder Allgemeinerkrankungen zurückzuführen sind. Hirnorganisches Psychosyndrom: allgemeine Bewußtseins- und Geistesstörungen aufgrund von vermuteten Hirnschäden. Wenn ein Patient wach und ansprechbar ist, sollte zwischen - organisch begründeten Psychosen, - neuropsychologischen Störungen und - neurologischen Grundstörungen differenziert werden. • Rasche Ermüdbarkeit;

Verminderte Konzentrationsfähigkeit - Eingeschränkte, vereinfachende Wahrnehmung - Leichte Ablenkbarkeit durch irrelevante Reize;

244

Neuropsychologische Syndrome Verminderte Flexibilität im Denken und Handeln Tendenz zu Perseverationen;

Verminderter Antrieb verlangsamtes Denken (Bradyphrenie) und Handeln; Gedächtnisstörungen.

Auch im konzeptionellen Denken zeigen sich Schwierigkeiten, vor allem, wenn der Patient sich auf eine neue Situation einstellen soll. Zum Beispiel wird in einem der neuropsychologischen Tests verlangt, Karten mit unterschiedlichen Merkmalen nach bestimmten Regeln zu sortieren. Probleme treten vor allem dann auf, wenn die Regeln gewechselt werden. Dann nämlich perseveriert der Patient und reagiert immer wieder nach der alten nicht mehr gültigen Regel. Schwierigkeiten treten auch beim Benennen von Gemeinsamkeiten auf. Je nach Schweregrad werden schon einfache Fragen falsch beantwortet, beispielsweise nach Gemeinsamkeiten von Hammer und Zange oder Tisch und Stuhl. Leichtere Störungen zeigen sich bei schwierigen Aufgaben durch wenig differenzierte Antworten, die sich an Vordergründigem orientieren; beispielsweise, wenn danach gefragt wird, was eine Urkunde und ein Geldschein gemeinsam haben. Einschränkungen des Denkens und des Klebens am Konkreten zeigen sich häufig auch in der Unfähigkeit, Sprichwörter zu interpretieren oder spontan neue Ideen, unterschiedliche Worte oder verschiedene Handlungen zu produzieren. Kennzeichnend ist oft eine generelle Verlangsamung der Gedankenabläufe (Bradyphrenie). Bei der Überprüfung des Gedächtnisses sind neben Auslassungen vor allem Fehler, wie zusätzliche Assoziationen oder Anfügen von zusätzlichen Details, die in der Vorgabe nicht vorkamen, sowie Perseverationen und in schweren Fällen Konfabulationen, wichtige Hinweise. Bei schweren Störungen machen sich auch im sensomotorischen Bereich Auffälligkeiten bemerkbar. Zumeist zeigen sich Probleme dann, wenn laufende Tätigkeiten zu unterbrechen oder abzuändern sind. Auch hier kommt es zu Perseverationen: Lautet die Aufgabe, abwechselnd „m" und „1" in lateinischer Schreibschrift zu schreiben, dann wiederholt der Patient nach einigen richtigen Wechseln nur noch einen Buchstaben; wird eine unregelmäßige, rhythmische Klopfsequenz vorgegeben, antwortet der Patient nur mit monoton gleichförmigem Klopfen; soll der Patient jeweils das Gegenteil von dem tun, was der Untersucher vormacht (einmal klopfen, wenn zweimal vorgeklopft wird, oder umgekehrt), so kann der Patient sich nicht von der Vorgabe lösen und imitiert den Untersucher.

Spezifische funktionelle Syndrome

3.5 Spezifische funktionelle Syndrome

Sprech- und Sprachstörungen

3.5.1 Sprech- und Sprachstörungen Zu den neuropsychologischen Störungen des Kommunikationsverhaltens werden diejenigen Sprech- und Sprachstörungen gerechnet, die durch nachweisbare oder zu vermutende spezifische Hirnschädigungen hervorgerufen wurden. Veränderungen der sprachlichen Kommunikation, wie sie beispielsweise bei schizophrenen und depressiven Krankheitsformen oder allgemeiner Demenz als ein Ausdruck veränderter Denkprozesse vorkommen, gehören nicht zu diesen Krankheitsbildern.

Sprechstörungen

3.5.1.1 Sprechstörungen

Störungen der Lautformung (Ursachen, siehe Tabelle 3-1):

Von den Aphasien, die als Sprachsinn- und Sprachverwendungsstörungen in einem separaten Abschnitt noch näher dargestellt werden, sind die Störungen der Lautformung beim Sprechen abzugrenzen. Diese werden als Dysarthrien bezeichnet (Tab. 3-1). Neben der Dysarthrie, die durch undeutliche, verwaschene Aussprache, inadäquate beziehungsweise mühevolle Lautgebung oder einen abnormalen

Dysarthrie: Undeutliche, verwaschene, mühevolle, dysrhythmische Aussprache.

Spezifische funktionelle Syndrome

245

Tabelle 3-1 Die wichtigsten zentralen Ursachen dysarthrischer Störungen und ihrer Kennzeichen Art der neural. Erkrankung

Läsionsort

Form der Sprechstörung

Kehlkopfmuskel-, Stimm bandlähmung

N. recurrens vagi

bei einseitiger Lähmung, vorübergehende Heiserkeit

Bulbärparalyse (ζ. B. myatrophe Lateralsklerose)

Motorische Kerne in der Medulla oblongata

„Schwere Zunge, Kloß im Mund" R und L verwaschen, im Extremfall Anarthrie, allmähliche Entwicklung

Pseudobulbärparalyse (ζ. B. vaskuläre Läsionen)

Motorische Bahnen (kortikobulbäre Bahnen)

wie bei der Bulbärparalyse, aber plötzliches Auftreten

Parkinson-Krankheit

Basalganglien

verlangsamte, leise, monotone Sprache, verminderter Sprachantrieb, im Extremfall Mutismus

Enzephalitis

diffuse Schädigungen verschiedener Bereiche (ζ. B. des limbischen Systems)

wie bei Parkinson-Erkrankung

Vaskuläre und traumatische Läsionen, Multiple Sklerose

Kleinhirn

skandierende Sprache, ungeregelte Lautstärke

Vaskuläre und traumaGroßhirnrinde tische Läsionen, Tumoren

allgemeine, dysarthrische Störungen ähnlich wie bei einer Broca-Aphasie, aber ohne grammatikalische Fehler

Sprechrhythmus gekennzeichnet ist, unterscheidet man die Dysprosodie zur Beschreibung von abnormaler Sprachmelodie und dem Sinn nach falscher Wort- und Satzbetonung („skandierende Sprache"). Als Folgen einer Schädigung der peripheren Lautgebungsorgane und ihrer nervösen Innervation sind die Dysarthrien eigentlich keine neuropsychologischen Störungen im engeren Sinne. Aber häufig ist es nicht möglich, zwischen Störungen eines zentralen Steuersystems und denen eines peripheren, ausführenden Organs, also zwischen einer rein neuropsychologischen und einer rein neurologischen Symptomatik zu unterscheiden. So sind dysarthrische Veränderungen des Sprechens eines der Kennzeichen einer bestimmten Form der Aphasie (der Broca-Aphasie). Und Dysarthrien können auch müssen aber nicht - bei allen anderen Aphasien auftreten. In Extremfällen, beispielsweise der Anarthrie, also dem vollständigen Verlust der Artikulationsfähigkeit, wird es schwierig oder gar sinnlos, eine Unterscheidung im oben genannten Sinne aufrechtzuerhalten. Ähnliches gilt für den Mutismus, der dadurch gekennzeichnet ist, daß keinerlei Ansatz oder Anstrengung zu erkennen ist, sprachlich zu kommunizieren. In diesen Fällen ergeben sich Hinweise auf die sprachlichen Funktionen nur bei Patienten, die in Sprachverständnistests adäquat reagieren und/oder noch schreiben können. Solange die Fähigkeit zu schreiben ungestört ist, sind später im allgemeinen keine aphasischen Probleme zu erwarten. Mutismus ist häufig die akute Folge von Läsionen im Bereich des linken Thalamus, des linken Frontalkortex sowie des supplementär-motorischen Areals (SMA). Auch nach der chirurgischen Durchtrennung der neokortika-

Dysprosodie: Abnormale Sprachmelodie und falsche Wort- oder Satzbetonung.

Anarthrie: Vollständiger Verlust der Artikulationsfähigkeit. Mutismus: Kein Ansatz oder Anstrengung, sprachlich zu kommunizieren; Sprachverständnis, Schreibfähigkeit vorhanden; akute Folge linksseitiger Läsionen im Thalamus, Frontalkortex sowie Supplementärmotorischen Areal (SMA) und neokortikaler Kommissurotomie.

246

Akinetischer Mutismus: Unbeweglich und stumm (ähnlich einem Coma vigile); nach mesenzephalen Schädigungen und bilateralen Frontalläsionen.

Sprachstörungen (Aphasien)

Neuropsychologische Syndrome len Kommissurenbahnen („Split-brain"-Operation) kann es zu unterschiedlich lang andauerndem Mutismus kommen, dessen eigentliche Ursache noch ungeklärt ist. Eine besondere Form, der sogenannte akinetische Mutismus, findet sich bei Patienten mit mesenzephalen Schädigungen oder bilateralen Frontalhirnläsionen (z.B. nach beidseitigem Verschluß der A. cerebri anterior). Der Zustand dieser Patienten ist dem Coma vigile ähnlich. Sie liegen mit offenen Augen zumeist unbeweglich und stumm und können auch nicht dazu angeregt werden, zu sprechen oder Bewegungen auszuführen. Gelegentlich jedoch bewegen sie sich von selbst, und es werden auch Worte oder Geräusche produziert. Insbesondere bei jüngeren Patienten wurden selbst nach Jahren noch erstaunliche Verbesserungen dieses Zustandes beobachtet.

3.5.1.2 Sprachstörungen (Aphasien) Aphasien sind Beeinträchtigungen der sprachlich-symbolischen Kommunikation aufgrund von Störungen eines hypothetischen, überwiegend in verschiedenen Bereichen der linken Großhirnhemisphäre lokalisierten Systems bzw. mehrerer Systeme, dessen bzw. deren vermutete Funktionen beispielsweise darin bestehen, Laute zu bedeutungsvollen Worten und diese nach grammatikalischen Regeln zu informationstragenden Sätzen zusammenzustellen und ihre Ausgabe zu kontrollieren. Ebenso müssen Wort- und Schriftinformationen aufgenommen und entsprechend analysiert werden.

Hauptformen der Aphasie

Zur Untergliederung der Aphasien Für die klinische Praxis genügt die Unterscheidung von vier Hauptformen der Aphasie:

Broca-Aphasie: Stockende, mühevolle, karge Sprache; Agrammatismus, Telegrammstil; Sprachverständnis relativ gut.

Broca-Aphasie: Die Broca Aphasie wird auch als motorische, expressive, verbale oder efferent motorische Aphasie bezeichnet (frz. desintegration phonetique). Sie ist durch eine nicht-flüssige, karge und mühevolle Sprache mit stark vereinfachter oder fehlender Grammatik gekennzeichnet. Da fast alle Sätze aus nur wenigen Worten bestehen, erhält die Sprache den typischen Charakter des Telegrammstils. Dieser ist das Ergebnis der grammatikalischen Störung und nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, einer durch die Artikulationsschwierigkeiten erzwungenen Sprachsparsamkeit.

Wernicke-Aphasie: Schwere Sprachverständnisstörungen; flüssige, teilweise ungehemmter Sprachfluß, inhaltlich leer oder unverständlich.

Wernicke-Aphasie: Andere Bezeichnungen hierfür sind sensorische, rezeptive oder akustische Aphasie (engl, auch syntactic aphasia). Ihr Kennzeichen sind die schweren Sprachverständnisstörungen. Das, was der Patient an sprachlichen Äußerungen produziert, hört sich ganz normal an, ist aber inhaltlich leer und unverständlich.

Amnestische Aphasie: Massive Wortfindungsstörungen.

Amnestische Aphasie: Die Amnestische Aphasie wird auch als anomische Aphasie (engl, auch anomic, nominal or semantic aphasia) bezeichnet, weil das Hauptkennzeichen dieser Aphasie Wortfindungsstörungen sind.

Globale Aphasie: Schwerste Störungen der Sprachproduktion und des Sprachverständ-

Globale Aphasie: Bei der globalen Aphasie liegen sowohl schwerste Störungen der Sprachproduktion wie des Sprachverständnisses vor (engl, auch expressive-receptive aphasia; frz. auch l'aphasie totale). Neben den bisher genannten Hauptformen der Aphasie können weitere Sonderformen unterschieden werden. Die wichtigsten sind:

Leitungsaphasie: Störungen des Nachsprechens.

Leitungsaphasie: Wegen des herausragenden Defekts beim Nachsprechen wird diese Aphasie auch als Nachsprechaphasie bezeichnet. Der ursprüngliche Begriff der Leitungsaphasie hat sich jedoch gehalten und bezieht sich auf die vermutete Unterbrechung der Verbindung zwischen rezeptiven und

Spezifische funktionelle Syndrome

247

expressiven Sprachfunktionen. Daher findet man zur Bezeichnung dieser Störung auch den Begriff afferent-motorische Aphasie. Transkortikale Aphasien: Auch die transkortikalen Aphasien erklärt man sich durch die Unterbrechung von Verbindungen innerhalb des Kortex und der dadurch hervorgerufenen Isolation wichtiger Sprachbereiche. Je nachdem, ob eher sensorische (rezeptive) oder motorische (expressive) Funktionen gestört sind, unterscheidet man transkortikal-sensorische und transkortikal-motorische Aphasien. Einige Autoren definieren auch noch eine gemischte Gruppe mit motorischen wie sensorischen Sprachstörungen. Allen ist aber (im Unterschied zu Broca- und Wernicke-Aphasien sowie den Leitungsaphasien) gemeinsam, daß die Patienten keine Probleme mit dem Nachsprechen haben. - Transkortikal-sensorische Aphasie. Diese Sprachstörung ähnelt der Wernicke-Aphasie insofern, als vor allem Sprachverständnisprobleme im Vordergrund stehen, im Gegensatz zum Wernicke-Aphasiker kann der Patient mit transkortikal-sensorischer Aphasie jedoch korrekt nachsprechen. - Transkortikal-motorische Aphasie. Diese relativ seltene und zumeist nur vorübergehende Sprachstörung ist besonders dadurch geprägt, daß der Patient Schwierigkeiten hat, mit dem Sprechen zu beginnen. Er kann jedoch, wie bei der transkortikal-sensorischen Aphasie, nachsprechen, zeigt aber keine Beeinträchtigung des Sprachverständnisses.

Transkortikal-sensorische Aphasie: Sprachverständnisprobleme; kann nachsprechen.

Transkortikal-motorische Aphasie: Schwierigkeiten, mit dem Sprechen zu beginnen; kann nachsprechen, keine Sprach Verständnisprobleme.

Worttaubheit: Diese Störung wird auch als subkortikal-sensorische Aphasie bezeichnet (engl, pure word deafness). Zum Teil findet man auch die Bezeichnung Wortagnosie, womit angedeutet werden soll, daß es sich hierbei nicht um eine sprachliche Störung, sondern eine Wahrnehmungs- bzw. Erkennungsstörung (Agnosie) handeln könnte. Ein Patient mit dieser relativ seltenen Störung kann gesprochene Sprache nicht verstehen, er kann aber nichtsprachliche Laute und Geräusche richtig identifizieren. Worttaube Patienten berichten, daß sie zwar Stimmen aber keine Worte hören, daß alles nur ein Summen ohne irgendwelchen Rhythmus wäre, daß alles gedämpft zu hören sei, wie wenn eine fremdländische Sprache in der Ferne zu hören wäre, oder, daß die Worte einfach zu schnell kämen. Außer einer Störung im Nachsprechen sind die expressiven sprachlichen Leistungen intakt.

Worttaubheit: Auditive Agnosie für Sprachlaute; Sprachverständnis- und Nachsprechstörungen; Sprachproduktion relativ normal.

Syndromwandel Im Laufe der Zeit können sich die Sprachausfälle eines Patienten und damit die Zuordnung zu einem aphasischen Syndrom ändern. Denn neben einer einfachen Rückbildung (Abschwächung der ursprünglichen Symptomatik) kann es auch zu Verlagerungen von Störungsschwerpunkten kommen, die man als Syndromwandel bezeichnet (Die häufigsten Syndromwandel erfolgen in der mit Pfeilen gekennzeichneten Richtung: Globale Aphasie —» Broca-Aphasie; Broca- und Wernicke-Aphasien —» Amnestische Apha-

Syndromwandel bei Aphasien Spontane oder therapiebedingte Veränderungen der aphasischen Symptomatik; häufigste Syndromwandel: Globale Aphasie —» Broca-Aphasie Broca- und Wernicke Aphasie —» Amnestische Aphasie

Zur Diagnostik der Aphasien Zur einfachen Unterscheidung zwischen aphasischen und nichtaphasischen Patienten eignet sich am besten der sogenannte Token-Test. Der Test setzt voraus, daß der Patient Farben und Formen unterscheiden kann, da Testmaterialien in fünf verschiedene Farben, zwei Formen und zwei Größen verwendet werden. Es werden dem Patienten zunehmend schwierige Aufgaben gestellt, indem die Instruktionen sprachlich komplizierter werden. Dies geschieht vor allem durch Verwendung von zusätzlichen Wortformen, insbesondere von grammatikalischen Funktionsworten. Zu den einfachen Aufgaben gehört beispielsweise: (1) „Zeigen Sie das blaue Viereck!"; und mit steigender Schwierigkeit (Beispiele 2 - 5 ) : (2) „Zeigen Sie den kleinen weißen

Diagnostik der Aphasie —> 1. Aphasisch, nicht-aphasisch? Token-Test —• 2. Klassifizierung der Aphasieform: Aachener-Aphasie-Test (AAT)

Neuropsychologische Syndrome

248

Aachener-Aphasie-Test (AAT): normierte Testbatterie zur Diagnostik der Aphasien

Kreis" (3) „Zeigen Sie den roten Kreis und das gelbe Viereck" (4) „Zeigen Sie das kleine blaue Viereck und den großen roten Kreis" (5) Legen Sie den roten Kreis auf das grüne Viereck" oder „Nachdem Sie das gelbe Viereck fortgenommen haben, berühren Sie den blauen Kreis". Leichte Störungen im sprachlichen Bereich können auch durch die Untersuchung des lauten Lesens und des Schreibens aufgedeckt werden. Zur Differenzierung der verschiedenen Sprachstörungen ist es jedoch notwendig, die spontanen Sprachäußerungen (insbesondere Sprachfluß, Artikulation, Wortwahl sowie Satzbau) und das Sprachverständnis genauer zu untersuchen. Mit dem Aachener-Aphasie-Test (AAT) steht eine normierte Testbatterie zur Verfügung, mit der die für Prognose und Therapie wichtige Beschreibung und Diagnose der Sprachstörungen in den meisten Fällen möglich ist. Neben dem schon erwähnten Token-Test und der Prüfung der Spontansprache, der Schriftsprache und des Sprachverständnisses enthält der AAT noch Unterteste z u m Nachsprechen und Benennen. Zur Differenzierung unterschiedlicher Aphasieformen trägt vor allem die Beurteilung der syntaktischen Struktur (des Satzbaus) der Spontansprache und, wie schon erwähnt, die Feststellung von Störungen des Sprachverständnisses bei. Nach dem Klassifikationsschema des AAT lassen sich dann die vier am häufigsten definierten Aphasieformen wie folgt unterscheiden (Tabelle 3-2): Tabelle 3-2 Hinweise zur Grobklassifikation der Aphasien nach dem Ausmaß von syntaktischen Störungen der Spontansprache und des Sprachverständnisses (nach Willmes et al. 1980) Syntaktische Störung der Spontansprache leicht

schwer

Störung des Sprachverständnisses leicht

Amnestische Aphasie

Broca-Aphasie

schwer

Wernicke-Aphasie

Globale Aphasie

Zusammenfassende Beschreibung der wichtigsten Aphasieformen Die wichtigsten Daten zu den Hauptformen der aphasischen Störungen sind in den folgenden Übersichten 1 - 7 zusammengefaßt. Übersicht 1 Broca-Aphasie Lautsprache Spontan:

geringe oder überhaupt keine spontanen Äußerungen, Aufforderung notwendig; mühsame, sichtlich anstrengende Sprachproduktion, Hilfe durch Vorgabe der Anfangslaute eines Wortes; Dysarthrien, verwaschene undeutliche Aussprache, dabei gequälte Verrenkung von Mund und Unterkiefer, zwischendurch deutliche und scheinbar leicht gesprochene Satzteile; phonematische Paraphasien, d. h. klangliche Veränderung von Worten durch Auslassen oder Ersetzen von Lauten, Fehler häufig im Anlaut, (Kauffrau oder Hauffrau statt Hausfrau, abbestellt statt abgestellt), Hilfe durch Vorgabe des Anlauts; Dysprosodie, d. h. falsche Betonung bei mehrsilbigen Worten oder bestimmter Worte eines Satzes; Agrammatismus - starke Vereinfachung der Sprache (Substantive, Adjektive, Verben ohne grammatikalische Endigungen); - bis auf Possessivpronomina (mein, dein) fehlen grammatikalische Funktionswörter (Artikel, Konjunktionen, Präpositionen);

Spezifische funktionelle Syndrome

249

sehr kurze Sätze, teilweise einzelne Worte, keine grammatikalische Beziehung erkennbar. N a c h s p r e c h e n : wie Spontansprache, besonders auffällig: Verkürzungen, p h o n e m a t i sche Paraphasien. Benennen:

Wortfindungsstörungen, Hilfe durch Vorgabe von Sätzen mit offen e m Ende, oder Vorgabe eines Anlautes; p h o n e m a t i s c h e Paraphasien (keine B e n e n n u n g s s t ö r u n g e n im eigentlichen Sinne); s i n n ä h n l i c h e semantische Paraphasien, d. h. Verwendung eines falschen, jedoch normalsprachlichen Worts, das aber d e m

richtigen

Wort d e m Sinne nach ähnelt. Vorlesen:

wie N a c h s p r e c h e n .

Schreiben (Auf rechtsseitige Hemiparesen u n d H e m i a n ä s t h e s i e n achten) Spontan:

wie Spontansprache.

N a c h Diktat:

wie N a c h s p r e c h e n .

Abschreiben:

Probleme auf Wortebene, Buchstaben intakt.

Sprachverständnis vor allem bei syntaktisch komplexeren Sätzen gestört; ungefährer Inhalt wird begriffen. Leseverständnis wie Sprachverständnis. Begleitende

Ausfälle

Neurologische Ausfälle: Hemiparese, Hemianästhesie; Dysarthrie; bei rechtsseitiger Hemiparese, sympathische Dyspraxie der linken Hand. Differentialdiagnostik Dysarthrie - hierbei j e d o c h kein A g r a m m a t i s m u s , keine Benennungsstörungen, keine Schreibstörungen; Dysarthrien treten auch nach rechtsseitigen Läsionen auf. Globale Aphasie - zusätzlich Sprachverständnisstörungen, stereotype Sprachäußerungen, Neologismen (Wortneubildungen, die nicht zur Normalsprache gehören, aber aus semantischen u n d lautlichen Teilen der Normalsprache bestehen können). Prognose Abhängig von Art der Schädigung, aber allgemein günstig (insbesondere bei bes t i m m t e n operablen T u m o r e n ) . Prosodiestörungen können (ζ. B. als f r e m d l ä n d i s c h a n m u t e n d e Akzente) ü b e r d a u e r n .

Übersicht 2 Wernicke-Aphasie Lautsprache Spontan:

flüssiges Sprechen, häufig unkontrollierte übermäßige duktion (Logorrhoe); gute Artikulation; normale Prosodie;

Sprachpro-

Wortfindungsstörungen (nicht gleichbedeutend mit nicht-flüssiger Sprache), m e h r f a c h falsche Wortwahl, wiederholte A n n ä h e r u n g an ein Zielwort; falls ein adäquates Wort schließlich ausgesprochen wird, werden trotzdem weitere Worte generiert, was darauf schließen läßt, daß das Zielwort nicht erkannt wird; viele semantische Paraphasien sowohl mit als a u c h o h n e Bezug zu e i n e m an dieser Stelle richtigen Wort (Teller statt Tisch; laufen statt rauchen); viele unspezifische Worte (es, Ding); viele Floskeln u n d allgemeine R e d e w e n d u n g e n (na so'n was weiß ich; das geht aber nicht; also, ich meine; na, sie wissen schon; u n d ü b e r h a u p t u n d so); p h o n e m a t i s c h e Paraphasien, oft werden die gleichen falschen Lautsilben m e h r f a c h wiederholt; Neologismen; im Extremfall n u r Kauderwelsch (Jargon-Aphasie);

Neuropsychologische Syndrome

250

Kommunikationsschema (Wechselrede zwischen Gesprächspartnern, Frage - Antwort, etc.) erhalten, wenn nicht durch zu unkontrollierten Redefluß beeinträchtigt; Grammatik oft schwer zu beurteilen, da die semantischen und syntaktischen Beziehungen der Paraphasien oft nicht erkennbar sind; Nachsprechen: phonematische Paraphasien; bei längeren Sätzen auch semantische Paraphasien und Paragrammatismen; Benennen: Wortfindungsstörungen wie bei Spontansprache; semantische Paraphasien, oft ohne Bezug z u m Zielwort; mehrfache Versuche, scheinbare Annäherung an das Zielwort, aber genauso wieder sich entfernende Wortwahl; keine Hilfe durch Vorgabe eines Anlautes oder einer Anfangssilbe; Umschreibung des gesuchten Wortes (Kühlschrank - Auto z u m Wanke, Kaffee und alles drin); Perseverationen

(Beantwortung

mehrere verschiedener

Vorlagen

durch ständige Wiederholung eines Wortes oder einer Lautsilbe); Vorlesen: Schreiben Spontan:

Diktat: Abschreiben:

Paralexien. wie Spontansprache, Paragraphien; Beeinträchtigung wird vom Patienten hier eher bemerkt als bei Spontansprache; schwer gestört; mechanisches Kopieren möglich.

Sprachverständnis Je nach Schweregrad unterschiedlich, aber zumeist stark gestört; zumeist bereits auf Phonem- und Einzelwortebene sehr stark gestört; Befehle, Ganzkörper- und Augenbewegungen auszuführen, sollen m a n c h m a l verstanden und ausgeführt werden können. Leseverständnis Wie Sprachverständnis. Begleitende Ausfälle Neurologische Ausfälle: oftmals Quadrantanopsie (oben rechts); mündliche und schriftliche Akalkulie; Dyspraxie. Differentialdiagnostik Leitungsaphasie (Nachsprechaphasie) - Hierbei sind Spontansprache, Lesen und Spontanschrift wenig oder gar nicht gestört; Worttaubheit (reine Sprachverständnisstörung) - Hierbei sind Spontansprache, Lesen und Spontanschrift wenig oder gar nicht gestört; im Gegensatz zum Wernicke-Aphasiker weisen worttaube Patienten von sich aus oft auf „Hörprobleme" hin; Amnestische Aphasie - hierbei keine Paraphasien, keine Neologismen; aber in bestimmten Fällen einer stark gebesserten Wernicke-Aphasie sehr ähnlich; Verwirrtheit/Psychose - hierbei keine Paraphasien, aber Denkstörungen. Prognose Eine Rückbildung ist eher im Sprachverständnis als in der Sprachproduktion zu erwarten.

Übersicht 3 Amnestische Aphasie Lautsprache Spontan:

Wortfindungsstörungen; semantische Paraphasien, die d e m Sinn nach d e m Zielwort ähneln; phonematische Paraphasien selten; ungenauer sprachlicher Ausdruck - Umschreibungen des Gebrauchs oder der Eigenschaften - Floskeln - Wiederholungen, dabei wenig zusätzliche Information;

Spezifische funktionelle S y n d r o m e Perseverationen; A b b r e c h e n eines Satzes oder der Konversation bzw. Abweichen vom Thema; Fehler werden bemerkt u n d versucht zu verbessern Einsatz von Gestik; Sprachfluß unterschiedlich - leichte F o r m e n mit flüssiger Sprache, intaktem Satzbau, normaler Satzlänge, - schwere F o r m e n mit stockendem, zögerndem Ausdruck, wenig spontaner Sprache, kurzen Antworten, Satzabbrüchen; gute Artikulation; normale Prosodie; N a c h s p r e c h e n : selten gestört; Benennen:

bei längeren Worten oder Sätzen können Auslassungen v o r k o m m e n ; starke W o r t f i n d u n g s s t ö r u n g e n ; noch ausgeprägter als in der Spontansprache, Worte, die z u m B e n e n n e n von A b b i l d u n g e n oder Gegenständen nicht g e f u n d e n werden, k ö n n e n im normalen Gespräch spontan gebraucht werden; - statt des speziellen Wortes häufig n u r übergeordneter Begriff (Vogel oder Tier statt Papagei); - aus m e h r e r e n schriftlich oder m ü n d l i c h a n g e b o t e n e n Alternativen kann das richtige Wort ausgewählt u n d ausgesprochen werden, - Hilfe durch Vorgabe eines Anlauts oder durch einen Satz mit off e n e m E n d e (Vorgelegt wird die Z e i c h n u n g eines Klaviers; vorgesprochen: „Ich spiele auf d e m ...);

Vorlesen:

keine Störungen.

Schriftsprache Spontan:

ähnliche Störungen wie in der Spontansprache (unpräzise, wenig informativ), aber weniger stark ausgeprägt;

Diktat:

keine Störungen;

Abschreiben:

keine Störungen.

Sprachverständnis Keine oder n u r geringfügige, unauffällige Störungen. Leseverständnis Keine Störungen. Begleitende Ausfälle Keine typischen begleitenden Ausfälle. Differentialdiagnostik A n d e r e Aphasien - W o r t f i n d u n g s s t ö r u n g e n sind bei allen F o r m e n der Aphasie zu finden: Die A m n e s t i s c h e Aphasie kann oft als Restsyndrom anderer A p h a s i e f o r m e n auftreten; Broca-Aphasie - hierbei zusätzlich generell m ü h s a m e r e s Sprechen, Artikulationsprobleme, A g r a m m a t i s m u s ; Wernicke-Aphasie - hierbei zusätzlich p h o n e m a t i s c h e Paraphasien u n d semantische Paraphasien o h n e Sinnverwandtschaft mit d e m Zielwort; keine Hilfe d u r c h Lautvorgabe; kein E r k e n n e n eines a n g e b o t e n e n passenden Wortes; Transkortikal-motorische Aphasie - hierbei wenig oder ü b e r h a u p t keine spontane Sprache. Altersabbau - hierbei m e h r Satzabbrüche o h n e Versuch der Ergänzung; D e m e n z (ζ. B. Alzheimer) - hierbei progrediente Verschlechterung der Wortfindungsstörungen; zusätzlich andere intellektuelle E i n b u ß e n (siehe separater Abschnitt). Prognose Bei nicht progredienter G r u n d e r k r a n k u n g günstig.

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Neuropsychologische Syndrome

252 Übersicht 4 Globale Aphasie Lautsprache Spontan:

sehr stark reduzierte Sprache; oft keine K o m m u n i k a t i o n möglich; S p r a c h a u t o m a t i s m e n (Wiederholung nicht z u s a m m e n p a s s e n d e r Silben oder Worte); Stereotypien, Floskeln, emotionale Ausdrücke, ( G u t e n Tag; ja, g e n a u ; nein; na, also; m e i n Gott; dammich!), Auswahl zumeist u n p a s s e n d ; Ja u n d N e i n werden in der Rückbildungsphase m a n c h m a l richtig verwendet; m a n c h m a l wird das falsche Wort gewählt, aber mit sinng e m ä ß richtiger Betonung I n f o r m a t i o n übermittelt; Recurring utterances (wie S p r a c h a u t o m a t i s m e n , aber aus i m m e r gleichen Silben: jajajaja, didididi, tantan), k ö n n e n m a n c h m a l mit z u m Teil übertriebener Betonung eine b e s t i m m t e Intention (fragend, z u s t i m m e n d , a b l e h n e n d ) wiedergeben;

Keine Hilfe d u r c h Vorgabe von Silben oder Worten oder Satzanfängen; Sprachfluß stockend, angestrengt; Artikulation gestört; Prosodie stark gestört; N a c h s p r e c h e n : sehr stark gestört; m a n c h m a l sind Ansätze z u m Mitsprechen vorhanden oder direkte reaktive W i e d e r h o l u n g e n von Worten u n d Satzteilen in der Untersuchungs- bzw. Gesprächssituation, die j e d o c h d u r c h Perseverationen verlorengehen; Benennen:

sehr stark gestört (wie auch Spontansprache); Neologismen; Perseverationen;

Vorlesen:

ä h n l i c h e Probleme wie b e i m N a c h s p r e c h e n .

Schriftsprache Spontan:

stark gestört ( F o r m u n g der Buchstaben möglich, soweit die oft schwere Hemiplegie das Schreiben ü b e r h a u p t ermöglicht u n d keine Apraxie vorliegt);

N a c h Diktat:

stark gestört (wie Spontanschrift);

Abschreiben:

je n a c h Schweregrad der Hemiplegie u n d einer begleitenden Apraxie, k ö n n e n Buchstaben u n d Worte kopiert werden, aber ein Umsetzen von Schreibschrift in Druckschrift oder umgekehrt ist nicht möglich, auch wenn nicht geschrieben, sondern m i t Buchstabenplättchen gelegt werden m u ß .

Sprachverständnis Das A u s m a ß des Sprachverständnisses ist schwer zu b e s t i m m e n . Die Patienten machen häufig einen verständigen Eindruck, z u m i n d e s t in der Gesprächssituation. Aber a u c h einfachste sprachliche Instruktionen k ö n n e n nicht befolgt werden, wenn situative Hinweisreize ausgeschaltet werden. Leseverständnis Sehr stark gestört (siehe auch Sprachverständnis). Begleitende Ausfälle und Auffälligkeiten Z u m e i s t sehr starke Hemiplegie Deutliche Anzeichen der Frustration in K o m m u n i k a t i o n s s i t u a t i o n e n u n d z u m Teil heftige emotionale Ausbrüche. Differen tialdiagn ostik In der Rückbildungsphase V e r ä n d e r u n g e n in R i c h t u n g anderer A p h a s i e f o r m e n , insbesondere bei j ü n g e r e n Patienten Verbesserungen der rezeptiven S p r a c h f u n k t i o n e n (Bild einer schweren Broca-Aphasie); schwere Broca-Aphasie - hierbei keine Neologismen, keine S p r a c h a u t o m a t i s m e n , keine semantische Paraphasien M u t i s m u s - hierbei keine Z u w e n d u n g bei Ansprache, kein Sprachversuch, keine rechtsseitige Hemiplegie; D e m e n z (ζ. B. fortgeschrittenes S t a d i u m der Alzheimer-Krankheit) - hierbei bestehen mögliche rhythmische Silbenwiederholungen, insbesondere von Endsilben

Spezifische funktionelle Syndrome (Logoklonie) - im Gegensatz zu „recurring utterances" verschiedenster Lautsilben; zusätzlich, starke Störungen des Gedächtnisses u n d der r ä u m l i c h e n Orientierung sowie der Motivation u n d Sensomotorik. Prognose Je nach Läsionsort und Läsionsausmaß sowie individuellen Faktoren (beispielsweise Alter) sehr unterschiedlich; in einigen Fällen kann innerhalb eines halben Jahres eine wesentliche Verbesserung des Sprachverständnisses in R i c h t u n g einer schweren Broca-Aphasie erfolgen (insbesondere bei frontalen Läsionen u n d bei j ü n g e r e n Patienten). Bessere Prognose a u c h bei t r a u m a t i s c h e n Schädigungen u n d bei gut operablen Tumoren, hier treten häufig relativ schnelle u n d umfangreichere Verbesserungen auf als bei vaskulärer Ätiologie. Das Auftreten von „recurring utterances" verschlechtert die Prognose. In einigen Fällen k ö n n e n auch nach langem Training n u r wenige Worte gesprochen u n d geschrieben werden.

Übersicht 5 Leitungsaphasie Lautsprache Spontan:

generell flüssige Sprache; Wortfindungsstörungen; viele p h o n e m a t i s c h e Paraphasien u n d Paraphonien (Verwechslung von ähnlich klingenden Worten);

die Fehler sind d e m Patienten bewußt, er versucht sich zu korrigieren; häufig durch sukzessive Approximation (Conduite d'approche); gute Artikulation; serielle Produktion (Tage der Woche, M o n a t e im Jahr, Alphabet etc.) gewöhnlich o h n e Probleme; eventuell Fehler in längeren Serien bei den letzten N e n n u n g e n N a c h s p r e c h e n : sehr stark gestört; je länger die Worte u n d Sätze, desto stärker die Störung (ob hierbei G e d ä c h t n i s s t ö r u n g e n mitbeteiligt sind, ist umstritten); p h o n e m a t i s c h e V e r ä n d e r u n g e n ; die Wiedergabe ist aber inhaltlich richtig; Benennen:

wie beim Nachsprechen p h o n e m a t i s c h e Fehler, aber semantisch richtig; (d. h. keine Benennungsfehler im eigentlichen Sinn; wie a u c h bei Broca-Aphasikern); Auswahl des richtigen Wortes aus mehreren Vorgaben ist möglich;

Vorlesen:

stark beeinträchtigt, vor allem bei längeren u n d weniger gut bekannten Worten treten Paralexien auf

Schriftsprache Spontan:

durch orthographische Fehler, Umstellungen von Buchstaben u n d Worten sowie Auslassungen beeinträchtigt; aber insgesamt weniger gestört als sprachlicher Ausdruck;

N a c h Diktat: Abschreiben:

ähnliche Probleme wie b e i m s p o n t a n e n Schreiben; keine Störung; Druckschrift kann auch in Schreibschrift umgesetzt werden.

Sprach- und Leseverständnis Keine wesentlichen Störungen. Begleitende

Ausfälle

Häufig ideomotorische und konstruktive Apraxien; Akalkulie; Asomatognosie; insbesondere Fingeragnosie. Differen tialdiagn ostik Wernicke-Aphasie - hierbei kein Erkennen der eigenen Sprachfehler, kein Versuch einer Verbesserung. Prognose Allgemeine Verbesserungen möglich, jedoch speziell für die Fähigkeit nachzusprec h e n ist die Prognose schlecht.

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Neuropsychologische Syndrome

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Übersicht 6 Transkortikal-sensorische Aphasie Lautsprache Spontan:

wenig, aber relativ flüssige Sprache; viele p h o n e m a t i s c h e u n d semantische Paraphasien; Inhalte haben keinen Bezug zu Fragen oder z u m T h e m a einer Unterhaltung; teilweise semantischer Jargon; häufig wird das, was der Untersucher sagt oder fragt, fast zwanghaft wiederholt (Echolalie) oder paraphrasiert; dabei korrigiert der Patient grammatikalische Fehler, die vom Untersucher absichtlich begangen wurden.

N a c h s p r e c h e n : keine Störung (aber auch kein Verständnis für das Nachgesprochene). Benennen:

stark gestört; oft wird gar nicht auf Vorgabe reagiert.

Vorlesen:

gestört.

Schriftsprache Alle F o r m e n des Schreibens weisen Störungen auf. Sprach- u n d Leseverständnis sehr stark gestört. Begleitende Ausfälle und Auffälligkeiten Hemiparese sowie H e m i a n ä s t h e s i e oder Gesichtsfeldausfälle (ersteres bei Läsionen, die m e h r im parieto-okzipitalen Grenzgebiet zur Wernicke-Region liegen, letzteres eher bei Läsionen im temporo-okzipitalen G r e n z b e r e i c h u n d subkortikalen Beeinträchtigungen); visuelle Agnosie; häufig wird von einer dramatischen Agitiertheit der Patienten berichtet, die zur Fehldiagnose einer Psychose f ü h r e n kann. Differen tialdiagn ostik Wernicke-Aphasie - hierbei schwere Störungen des Nachsprechens. Psychose - hierbei gewöhnlich kein semantischer Jargon. Prognose Prognose relativ gut; z u m Teil k o m m t es zu R ü c k b i l d u n g e n mit verbleibenden leichten Wortfindungsstörungen und unpräziser Sprache. Transkortikal-sensorische Aphasien, die als Synd r o m w a n d l u n g aus einer Wernicke-Aphasie entstehen können, sollen längerfristig erhalten bleiben.

Übersicht 7 Transkortikal-motorische Aphasie Lautsprache Spontan:

wenig oder ü b e r h a u p t keine Sprache; - wenn ü b e r h a u p t dann stockend, nicht-flüssig; - Ein-Wort-Antworten auf einfache Fragen; - ,Aufwärmeffekt' (Es wird davon berichtet, daß Patienten im Verlauf einer Untersuchung, nach etwa 10 M i n u t e n sehr viel m e h r wenn auch i m m e r noch weniger als normale - Spontansprache produzieren. D i e s e r , A u f w ä r m e f f e k t ' ging innerhalb von M i n u t e n nach Beendigung der U n t e r s u c h u n g verloren.) Dysarthrische Störungen;

N a c h s p r e c h e n : keine Störung; prompt u n d mit guter Artikulation u n d intakter Syntax; Benennen:

bis auf Wortfindungsstörungen keine besonderen Beeinträchtigungen;

Vorlesen:

es wird sowohl von Störungen als auch von u n a u f f ä l l i g e m l a u t e m Lesen berichtet.

Schriftsprache Ä h n l i c h e Beeinträchtigungen wie in der Lautsprache. Sprach- und Leseverständnis Keine Störungen.

Spezifische funktionelle S y n d r o m e Begleitende

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Ausfälle

Hemiplegie. Differentialdiagnostik Broca-Aphasie - hierbei gestörtes Nachsprechen, gestörtes Lesen, A g r a m m a t i s m s ; A m n e s t i s c h e Aphasie - hierbei relativ gute u n d flüssige Spontansprache. Prognose Es wird von relativ raschen R ü c k b i l d u n g e n berichtet; Als Ergebnis einer R ü c k b i l d u n g bzw. Syndromwandlung kann eine amnestische Aphasie längerfristig bestehen bleiben.

Zur Lokalisation von aphasischen Störungen Aphasien nach linkshemisphärischen Läsionen: Aphasische Störungen treten insbesondere im Zusammenhang mit linkshemisphärischen Schädigungen der Großhirnrinde auf. Die häufigste Ursache hierfür sind ischämische und hämorrhagische Infarkte im Bereich der linken Arteria carotis interna und der linken Arteria cerebri media. Am wenigsten strittig ist die Bedeutung zweier linkshemisphärischer, kortikaler Regionen für die Sprache (Abb. 3-1).

Abb. 3-1 Laterale (oben) und mediale Ansicht der linken Großhirnhemisphäre mit schematischer Darstellung der wichtigsten Sprachregionen (B) Broca-Region (Area 44 und 45 nach Brodmann), (W) Wernicke-Region, (SMA) Supplementär-motorisches Areal (entspricht dem medialen Teil der Area 6aß). Weitere für sprachverwandte Funktionen wichtige Strukturen: (F. a.) Fasciculus arcuatus. Gyrus arcuatus ( = Area 39), Gyrus supramarginalis ( = A r e a 40). Versorgungsgebiete der Hirnarterien: hell - Arteria cerebri media, vertikal schraffiert A.c. anterior, horizontal schraffiert - A.c. posterior.

Lokalisation der Aphasien Broca-Aphasie: Linkshemisphärische Läsion im inferioren Präzentralbereich; Wernicke-Aphasie: Linkshemisphärische Läsion im posterioren Bereich der ersten Temporalwindung;

Neuropsychologische Syndrome

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Zum einen das sogenannte Broca-Areal (Area 44, 45 nach Brodmann) im inferioren präzentralen Kortex sowie darüber hinausreichende Teile des Versorgungsgebietes des Ramus frontalis der A. c. media. Hier befinden sich die meisten Läsionen, die mit der sogenannten motorischen oder Broca-Aphasie verbunden sind. Das andere Gebiet liegt ebenfalls im Versorgungsgebiet einer der Äste der A. c. media, nämlich der A. temporalis posterior, im posterioren Bereich der ersten Temporalwindung. Läsionen in diesem Bereich werden mit der sogenannten sensorischen oder Wernicke-Aphasie in Verbindung gebracht. Das kritische kortikale Areal wird auch als Wernicke-Region bezeichnet. Globale Aphasie: Umfangreiche Läsion im Versorgungsgebiet der linken Arteria cerebri media unter Einbezug des Broca- und Wernicke-Areals; Amnestische Aphasie: Nicht eindeutig zu lokalisieren; häufig Zerstörungen im linkshemisphärischen temporo-parietalen Grenzbereich (Gyri angularis und supramarginalis); Leitungsaphasie: Läsionen im Bereich des linken Fasciculus arcuatus und der Insula; Transkortikale Aphasien: Linkshemisphärische Läsionen, die Broca- oder WernickeAreal von assoziationskortikalen Bereichen isolieren. Worttaubheit: Linksseitige oder bilaterale das Marklager zumeist einschließende Läsionen der Temporallappen.

Für die anderen Formen der Aphasie, die Globalaphasie, die amnestische Aphasie sowie die sogenannten Leitungsaphasien und transkortikalen Aphasien fällt es schwerer, eine ähnlich eng umgrenzte Lokalisation vorzunehmen. Der globalen Aphasie liegen zumeist sehr große Läsionen im gesamten Versorgungsgebiet der A. c. media zugrunde. Bei amnestischen Amnesien werden häufig Zerstörungen im temporo-parietalen Grenzbereich beschrieben. Hier wird dem Gyrus angularis und dem Gyrus supramarginalis eine besondere Bedeutung zugesprochen. Schäden im letztgenannten kortikalen Bereich unter Einbeziehung der darunter liegenden weißen Substanz sowie des Fasciculus arcuatus und Schädigungen der Insula werden mit der Leitungsaphasie in Verbindung gebracht. Die transkortikalen Aphasien schließlich werden im Zusammenhang mit Hirnschädigungen beschrieben, die die Sprachregionen im engeren Sinne (Broca- und Wernicke-Areal) von den übrigen Bereichen des Assoziationskortex isolieren. Im Zusammenhang mit der Worttaubheit wurden tiefe Marklagerläsionen vaskulären Ursprungs im Bereich des Heschl-Gyrus der sprachdominanten Hemisphäre beschrieben.

Sprachstörungen nach rechtshemisphärischen Läsionen: • normalerweise nur geringfügige, zumeist dysprosodische Störungen; • aphasische Störungen (sogenannte gekreuzte Aphasien) bei manchen Links- oder Beidhändern.

Aphasien nach rechtshemisphärischen Läsionen: Aber auch nach rechtshemisphärischen Läsionen sind Sprachstörungen beobachtet worden. Diese reichen von geringfügigeren Veränderungen, zum Beispiel dysprosodischen Störungen, bis hin zu Beeinträchtigungen, wie sie auch nach linksseitigen Läsionen zu finden sind. Letztere werden als gekreuzte Aphasien bezeichnet. Rechtshemisphärische Sprachausfälle können zum einen auf eine vom üblichen Schema abweichende Laterale Zerebrale Asymmetrie zurückzuführen sein, beispielsweise bei einigen Links- oder Beidhändern oder bei Personen mit Verdacht auf frühkindliche Hirnschädigung. Zum anderen können diese Befunde aber auch auf bestimmte Sprachfunktionen der rechten Hemisphäre hindeuten. Die Bedeutung einer Existenz von sprachlichen Funktionen der rechten Hemisphäre liegt insbesondere darin, daß man sie sich bei der Rehabilitation von Sprachschädigungen nach Läsionen der sprach-dominanten Hemisphäre zunutze machen könnte.

Nach thalamischen Läsionen zumeist nur vorübergehende aphasische Störungen.

Aphasische Störungen nach dienzephalen Schädigungen: Was den Einfluß von subkortikalen Strukturen angeht, so gibt es bisher noch keine überzeugenden Hinweise dafür, daß subkortikale Läsionen länger bestehende isolierte aphatische Probleme hervorrufen.

Aphasiker zeigen häufig weitere neuropsychologische Ausfälle:

Apraxien oder Dyspraxien bukkofaziale oder Gliedmaßenapraxien,

Begleitende Ausfälle Je nach Lage und Ausmaß der Gehirnschädigung, die der aphasischen Störung zugrunde liegt, kann es auch zu weiteren neuropsychologischen Ausfällen kommen. Häufig sind diese aber aufgrund der vorhandenen Aphasie nur schwer als eigenständige Störungen abzugrenzen oder in ihrem vollen Umfang zu erfassen. Dies gilt beispielsweise für die Dyspraxie bzw. Apraxie. Es handelt sich hierbei um eine Störung in der Auswahl und Ausführung von

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Spezifische funktionelle Syndrome sinnvollen und zweckmäßigen Handlungen. Bei der Praxie-Prüfung muß aber sichergestellt sein, daß der Patient versteht, welche Handlung er auszuführen hat. Insbesondere mimische Bewegungen des Gesichts und des Mundes sind häufig gestört. Eine solche Beeinträchtigung wird als bukkofaziale Apraxie bezeichnet. Wegen einer rechtsseitigen Parese des Aphasikers ist eine Prüfung der Praxis mit den Extremitäten der rechten Seite oftmals nicht möglich. In diesen Fällen sollte auf eine mögliche Dyspraxie der linken Seite, die als sympathische Dyspraxie bezeichnet wird, geachtet werden. Weitere im Zusammenhang mit Aphasien auftretende Ausfälle sind Agnosien sowie Alexien, Agraphien und Akalkulien.

3.5.2 Lese- und Schreibstörungen

sympathische Dyspraxie (linksseitige Dyspraxie bei gleichzeitiger rechtsseitiger Parese); Agnosien; Alexien; Agraphien; Akalkulien.

Lese- und Schreibstörungen

Der Verlust der Fähigkeit zu lesen wird als Alexie und der Fähigkeit zu schreiben als Agraphie bezeichnet. Nach Hirnschäden können sowohl Alexie wie auch Agraphie oder beide Störungen zusammen in vielfältigen Ausprägungen und auch zusammen mit anderen neuropsychologischen Störungen auftreten. 3.5.2.1

Legasthenie

Legasthenie

Alexie und Agraphie sind von Störungen des Erwerbs von Lesen und Schreiben, den sogenannten Lese-Rechtschreib-Störungen abzugrenzen. Letztere, in Deutschland vorwiegend als Legasthenie und im angelsächsischen Sprachbereich als Developmental Dyslexia bezeichnete Störung, läßt sich nicht eindeutig auf eine Hirnschädigung zurückführen. Eine Reihe von Befunden spricht dafür, daß sie ein Anzeichen einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung ist, die sich auch in anderen Problemen äußert. Beispielsweise sind bei Legasthenikern Mängel in der Lautunterscheidungsfähigkeit beschrieben worden, aber auch in der Verhaltenskontrolle (Impulskontrolle), in der Konzentration und im Bereich von Emotion und Motivation.

Lese-Rechtschreibschwäche; keine Alexie im eigentlichen Sinne, da es sich um eine Störung im Erlernen von Lesen und Schreiben handelt; Anzeichen einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung.

3.5.2.2 L e s e s t ö r u n g e n (Alexien)

Lesestörungen (Alexien)

Alexien nach linkshemisphärischen Läsionen Reine Alexie (ohne Agraphie): Bei dieser Störung (engl, auch agnosic alexia) kann ein Patient sogar das nicht lesen, was er selbst spontan oder nach Diktat zu schreiben vermag. Einschränkend muß jedoch erwähnt werden, daß die Fähigkeit zu schreiben zwar relativ zur Lesefertigkeit gut erhalten, aber zumeist doch beeinträchtigt ist. Die Hauptursache einer reinen Alexie sind ischämische Infarkte im Bereich der linken A. c. posterior, die zu Zerstörungen im linken Okzipitallappen und im Splenium des Corpus callosum führen. Zentrale Alexie (mit Agraphie): Patienten mit einer zentralen Alexie haben die Fähigkeit verloren, mit Schriftsprache umzugehen, sie können weder schreiben noch Geschriebenes lesen. Der Ausfall ist nicht auf die visuelle Modalität beschränkt, d. h. daß sie auch solche Worte nicht erkennen, die ihnen vorbuchstabiert oder taktil über Hautschrift oder Plastikbuchstaben dargeboten werden. Ursache dieses Ausfalls ist zumeist ein Infarkt der A. c. media auf der sprachdominanten Seite mit Läsionen im temporo-parieto-okzipitalen Bereich, häufig auch mit besonderer Beeinträchtigung des Gyrus angularis.

nach linkshemisphärischen Läsionen: • Reine Alexie (ohne Agraphie): Patient kann schreiben, aber Geschriebenes nicht lesen; Diskonnektionsstörung; Zerstörungen im Bereich des linken medialen Okzipitalkortex und des Splenium corporis callosi; typisch rechtsseitige homonyme Hemianopsie;

• Zentrale Alexie (mit Agraphie): Verlust sämtlicher schriftsprachlicher Funktionen; umfassende Läsionen im linken temporoparieto-okzipitalen Grenzbereich; häufig mit aphatischen Ausfällen und rechtsseitigen, unterschiedlich großen homonymen Gesichtsfelddefekten.

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Neuropsychologische Syndrome

Schreibstörungen (Agraphien)

3.5.2.3 Schreibstörungen (Agraphien)

nach linkshemisphärischen Läsionen:

Agraphien nach linkshemisphärischen Läsionen Bei den linkshemisphärischen Agraphien unterscheidet man vor allem drei Gruppen: die reine Agraphie, die apraktische Agraphie und die aphasische Agraphie.

• Reine Agraphie: Massive orthographische Störungen; sonst keine sprachlichen Defekte; selten; keine Informationen über Lokalisation;

Reine Agraphie: Wie der N a m e andeutet, handelt es sich hierbei u m eine reine Schreibstörung ohne lautsprachliche Beeinträchtigungen, ohne Lesestörungen und ohne Beeinträchtigung der Praxis. Es gibt nur einige wenige Beschreibungen solcher Patienten, die vor allem durch massive orthographische Fehler auffielen.

• Apraktische Agraphie: Buchstaben werden nicht richtig geformt; mit Buchstabenplättchen können Worte richtig zusammengefügt werden;

Apraktische Agraphie: Eine Apraxie, sei es in Form einer Unfähigkeit, Schreibgeräte adäquat zu verwenden (siehe Ideomotorische Apraxie), sei es in Form einer Konstruktiven Apraxie (siehe dort), kann die Schreibfähigkeit dadurch sehr stark einschränken, daß keine richtigen Buchstabenformen erzielt werden können. In solchen Fällen können mit Hilfe von Buchstabenplättchen Worte korrekt zusammengefügt werden.

• Aphasische Agraphie: Agraphische Probleme sind ein Abbild gleichzeitig vorhandener aphasischer Störungen.

Aphasische Agraphie: Im Vordergrund dieser Störungen stehen sprachliche Aspekte, so daß hier auch manchmal der Begriff linguistische Agraphie verwendet wird. Alle Patienten mit einer aphasischen Agraphie haben auch mehr oder minder schwere Sprachstörungen, wobei die Art der agraphischen Störung zum größten Teil mit den aphasischen Beeinträchtigungen übereinstimmen.

nach rechtshemisphärischen Läsionen: • Räumliche Alexie und räumliche Agraphie: Störungen der räumlichen Wahrnehmung, die durch rechtshemisphärische Läsionen bedingt sind, können auch zu Problemen beim Lesen und Schreiben führen.

Lese- und Schreibstörungen nach rechtshemisphäriscnen Läsionen Nach rechtshemisphärischen Hirnschäden kann es ebenfalls zu Lese- und Schreibstörungen kommen. Diese sind durch Wahrnehmungsstörungen bedingt.

Rechenstörungen (Akalkulien)

3.5.3 Rechenstörungen (Akalkulien)

nach linkshemisphärischen Läsionen:

Rechenstörungen nach linkshemisphärischen Läsionen Aphasische Akalkulie: Rechenstörungen treten in unterschiedlichster Form auf und sind oft nur schwer als eigenständiges neuropsychologisches Syndrom zu definieren. Sie werden daher zumeist als Folge von aphasischen Störungen bzw. alexischen und agraphischen Ausfällen angesehen. Auch die Akalkulie, die zusammen mit drei weiteren Symptomen das sogenannte Gerstmann-Syndrom (s. dort) bildet, kann als eine aphasische Akalkulie bezeichnet werden. Viele Aphasiker haben Schwierigkeiten mit dem Verständnis von Zahlen und arithmetischen Zeichen und machen deshalb Rechenfehler. Selbst wenn keine Lesestörungen vorliegen, machen solche Patienten häufig Fehler beim mündlichen und schriftlichen Rechnen. In einem Mehrfach-Antwort-Wahlverfahren zeigen sich jedoch gute Leistungen, was darauf schließen läßt, daß hierbei keine arithmetische Störung (An- bzw. Dysarithmie) im eigentlichen Sinne vorliegt.

• Aphasische Akalkulie: Probleme beim Rechnen aufgrund von aphasischen Störungen (bezüglich Zahlen und Zahlworten);

• Anarithmie: Rechenstörung; zumeist als Anzeichen einer allgemeinen intellektuellen Störung;

Anarithmie: Der Verlust der Fähigkeit, relativ einfache Rechenaufgaben zu lösen, obwohl Zahlen korrekt erkannt und benannt sowie Fragen aus dem kleinen Einmaleins beantwortet werden können, wird, wie die aphasische Akalkulie, mit linkshemisphärischen Läsionen in Verbindung gebracht. In reiner Form, ohne gleichzeitige Anzeichen einer aphasischen Akalkulie, wird sie vor allem bei dementen Veränderungen, beispielsweise bei der Alzheimer-Erkrankung beobachtet. Es wird daher vermutet, daß es kein eigenständiges Syndrom einer Rechenstörung gibt, sondern auch die Anarithmie nur

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Spezifische funktionelle Syndrome eine sekundäre Konsequenz, in diesem Falle einer allgemeinen intellektuellen Störung, darstellt. Rechenstörungen nach rechtshemisphärischen Läsionen (Räumliche Dyskalkulie) Auch die Rechenstörungen, die nach rechtshemisphärischen Läsionen auftreten können, wenn die Aufgaben schriftlich vorgegeben oder ausgeführt werden, sind nur sekundäre Auswirkungen, hier der visuell-räumlichen Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsprobleme als typische Folge rechtsseitiger parieto-okzipitaler Schädigungen (siehe auch räumliche Alexie und räumliche Agraphie). Die Patienten machen vor allem deshalb Fehler, weil sie Zahlen übersehen oder die Einer-, Zehner- oder Hunderter-Kolonnen nicht genau genug untereinanderschreiben können. Bei Kopfrechenaufgaben zeigt sich, daß keine Rechenstörung vorliegt.

nach rechtshemisphärischen Läsionen: • Räumliche Dyskalkulie: Probleme beim schriftlichen Rechnen aufgrund von Wahrnehmungsstörungen (nach zumeist rechtshemisphärischen Läsionen).

3.5.4 Apraxien

Apraxien

Unter einer Apraxie versteht man die Unfähigkeit, zweckmäßige oder durch bestimmte Vorgaben (Instruktion, Vorbild) definierte Bewegungen auszuführen, ohne daß grundlegende sensorische, motorische oder intellektuelle Beeinträchtigungen bestehen. Im Wesentlichen unterscheidet man zwei Formen der Apraxie, die ideomotorische und die ideatorische Apraxie. Über die Definitionen beider Störungen gibt es keine hundertprozentige Übereinstimmung. Die ideomotorische Apraxie wird gewöhnlich auf Finzelbewegungen und Gesten bezogen. Die ideatorische Apraxie beschreibt Störungen bei Handlungssequenzen, wobei zwar die Einzelhandlungen korrekt, aber beispielsweise in falscher, bzw. unlogischer Folge ausgeführt werden (etwa so, wie man sich die Fehlhandlungen bei extremer Zerstreutheit vorstellt). Leider wird der Begriff Apraxie auch zur Beschreibung von verschiedenen Bewegungs- und Handlungsstörungen verwendet, die aus Beeinträchtigungen der räumlichen Wahrnehmung und der sensomotorischen Kontrolle resultieren. Hierzu gehören beispielsweise die gliedkinetischen Apraxien und die Ankleideapraxie. Zwischen den echten Apraxien und den wahrnehmungsbedingten apraktischen Störungen ist die konstruktive Apraxie angesiedelt. Kennzeichen dyspraktischer und apraktischer Störungen • Völlig fehlender Bewegungsansatz. • Amorphe, unsystematische oder fahrige Bewegungen, teilweise ohne erkennbaren Sinn, teilweise mit Wiederholungen und kurzen zwischenzeitlichen Pausen, ähnlich Versuch und Irrtum. • Allmähliche Annäherung an die adäquate Bewegung während des Ablaufs (die Bewegung wird zögernd begonnen und allmählich schneller). • Allmähliche Annäherung in wiederholten Versuchen (ähnlich dem conduite d'approche). • Abbruch einer begonnenen Bewegung oder scheinbares Hängenbleiben; oft erfolgt statt der Bewegung eine Beschreibung (verbale Fortführung). • Eine vollkommen andere als die verlangte Bewegung wird ausgeführt. • Vorher ausgeführte Bewegungen werden (unpassenderweise) wiederholt (Perseveration). • Zusätzliche Elaboration der Bewegung. Bei der „Als-ob-Prüfung" ohne Objekt wird häufig beobachtet, daß Patienten einen Körperteil statt des Werkzeuges benutzen. So schlagen sie beispielsweise mit der Faust auf den Tisch (Bewegung bei der Benutzung eines Hammers). Die Patienten können übrigens in der entsprechenden Situation spontan Bewegungen und Handlungen korrekt ausführen, die sie in der Untersuchungssituation auf Aufforderung hin nicht zeigen konnten.

Neuropsychologische Syndrome

260 • Ideomotorische Apraxien: Probleme, einzelne vom Untersucher bestimmte beziehungsweise beschriebene Bewegungen oder Gesten auszuführen oder nachzuahmen.

Ideomotorische Apraxie Wie bereits erwähnt, betrifft die ideomotorische Apraxie Beeinträchtigungen in der Ausführung einfacher Bewegungen und einzelner Gesten. Hierbei werden wiederum zwei wesentliche Formen, die Gesichts- und die Gliedmaßenapraxie unterschieden.

Gliedmaßenapraxie: Probleme bei einzelnen Bewegungen mit den oberen oder unteren Extremitäten; Läsionen im Bereich des linken Fasciculus arcuatus,

Gliedmaßenapraxie: Als Gliedmaßenapraxie bezeichnet man Beeinträchtigungen, die erst dann sichtbar werden, wenn vom Patienten verlangt wird, mit einer oder mit beiden Extremitäten (jeweils einzeln untersucht) verschiedene symbolische, praktische oder vom Untersucher willkürlich erfundene, bedeutungslose Bewegungen auf mündliche Aufforderung hin auszuführen oder nachzuahmen. („Drohen Sie mit der Hand"; „machen Sie eine Bewegung wie beim Zigarettenrauchen"; „legen Sie den Handrücken gegen die Stirn".)

- Bukkofaziale Apraxie: Entsprechende ideomotorische Apraxie bei Bewegungen des Mundes und Gesichtes; Läsionen in anterioren Bereichen der linken Insula und benachbarter Opercula;

Gesichtsapraxie (bukkofaziale Apraxie): Die teilweise oder vollständige Unfähigkeit, Mund- oder Gesichtsbewegungen auf verbale Aufforderung hin auszuführen oder nachzuahmen („Rümpfen Sie die Nase"; „zischen Sie"; „machen Sie eine Bewegung wie beim Ausblasen einer Kerze"; „... wie beim Trinken aus einem Strohhalm"), wird als Gesichtsapraxie bezeichnet. Die Fehlertypen sind bei dieser Apraxieform naturgemäß etwas schwieriger zu differenzieren, aber im Prinzip gelten auch hier die Angaben der Gliedmaßenapraxie.

• Ideatorische Apraxie: Probleme, einzelne Bewegungen beziehungsweise Handlungsabschnitte in sinnvoller Reihenfolge auszuführen. Keine Lokalisation möglich.

Ideatorische Apraxie Bei der ideatorischen Apraxie haben die Patienten besondere Probleme, einzelne Handlungen in richtiger Reihenfolge auszuführen. Typische Aufgaben bestehen darin, einen Brief zu schreiben und zur Versendung fertig zu machen, Kaffee zuzubereiten und eine Tasse zu servieren. Im Gegensatz zu ideomotorischen Apraktikern sollen Patienten mit ideatorischen Defiziten eher in der Lage sein, Bewegungen zu imitieren. All dies wird dahingehend interpretiert, daß diesen Patienten die Fähigkeit einer übergeordneten Planung von Handlungen verlorengegangen ist. Teilweise wird zu dieser Apraxieform auch die Unfähigkeit gerechnet, einen Gegenstand adäquat zu benutzen. Da das isolierte Auftreten von ideatorischen Apraxien relativ selten ist und nicht nur mit Aphasien, sondern auch mit Demenz verbunden sein kann, lehnen es einige Wissenschaftler ab, die ideatorische Apraxie als neuropsychologisches Syndrom anzuerkennen. Auch über die Lokalisation dieser Störung gibt es widersprüchliche Angaben.

Differentialdiagnostik Gliedkinetische Apraxie, Gangapraxie, motorische Ausdauerschwäche Diese Beeinträchtigungen sind keine Apraxien, sondern primäre neurologische Störungen der Motorik, die sich in mangelnder Koordination und mangelndem motorischen Antrieb und mangelnder Aktivierung äußern.

Differentialdiagnostik Die gliedkinetische Apraxie (limb-kinetic apraxia) ist keine Apraxie im eigentlichen Sinne. Ein Patient mit einer solchen Störung kann eine geforderte Handlung, beispielsweise, Knöpfe zu öffnen, Papier zu falten, etc. durchaus ausführen, ist dabei aber häufig extrem ungeschickt. Das heißt, sowohl die Auswahl der einzelnen Teilbewegungen wie auch der Entwurf der Gesamthandlung, bei dem die Teilbewegungen in logischer, zielgerichteter Folge mit einander verbunden werden, ist erhalten. Bei der gliedkinetischen Apraxie liegt gewöhnlich eine neurologische Grundstörung des motorischen Systems vor. Ähnliches gilt für die sOgenannte Gangapraxie, die am ehesten als Ausdruck eines sehr stark reduzierten motorischen Antriebs (zumeist nach frontalen Läsionen) anzusehen ist. Eine vergleichbare Störung, die ebenfalls bei frontalen Läsionen zu finden sein kann, ist die motorische Ausdauerschwäche (motor impersistence), die dadurch gekennzeichnet ist, daß ein Patient eine nach mündlicher Aufforderung ausgeführte Bewegung oder Haltung nicht aufrecht erhalten kann.

Spezifische funktionelle Syndrome

261

Beispielsweise kann er die Augen nicht geschlossen halten oder die Zunge nicht herausgestreckt lassen. Sonderformen der Apraxie Ankleideapraxie (Dressing apraxia): Wie die Bezeichnung Ankleideapraxie bereits sagt, bestehen bei dieser Störung Probleme beim Anziehen von Kleidung, ohne daß andere apraktische Störungen vorliegen. Dabei ist offensichtlich, daß der Patient einzelne Kleidungsstücke nicht in eine dem Körper entsprechende Position bringen kann; er hantiert hilflos mit dem Kleidungsstück nach Versuch und Irrtum.

Sonderformen der Apraxie • Ankleideapraxie: Probleme, beim Anziehen Kleidungsstücke in eine dem zu bekleidenden Körperteil entsprechende Orientierung zu bringen.

Konstruktive Apraxie: Kennzeichnend für diese Störung ist die Unfähigkeit, durch Zusammenfügen von Einzelteilen zwei- und dreidimensionale Konstruktionen herzustellen. Die Untersuchungsaufgaben reichen vom Abzeichnen einfacher geometrischer oder bedeutungsloser Figuren und dem Zeichnen von komplexeren Gegenständen ohne Vorlage (ζ. B. ein Würfel, eine Treppe, ein Haus, ein Fahrrad) bis hin zum Bauen (mit und ohne Vorlage) mit unterschiedlichen Bauklötzen oder Baukastenmaterialien. Nach linkshemisphärischen Läsionen treten hierbei überwiegend Schwierigkeiten in der motorischen Ausführung auf, während die Fehler bei rechtshemisphärisch Geschädigten eher durch Probleme der räumlichen Wahrnehmung gekennzeichnet sind.

• Konstruktive Apraxie: Probleme beim Zeichnen und Zusammenfügen von Einzelteilen zu Mustern, Gegenständen oder sinnfreien Konstruktionen; Läsionen im Bereich der Gyri supramarginalis und angularis.

Einseitige apraktische Störungen In den meisten Fällen zeigen sich die apraktischen Störungen unter Verwendung rechter wie linker Gliedmaßen. Bei frontalen linkshemisphärischen Läsionen, die zu einer Broca-Aphasie und rechtsseitigen Hemiplegie führen, kbmmt es zu apraktischen Störungen der linken Hand, die als sympathische Dyspraxie bezeichnet werden. Einseitige, auf die linke Extremität beschränkte Apraxien, findet man auch bei Zerstörungen der neokortikalen Kommissurenbahnen. Diese Diskonnektioijsapraxien wurden beispielsweise bei den sogenannten „Split-brain"-Patienten beschrieben.

Einseitige apraktische Störungen: • Sympathische Apraxie: Linksseitige Gliedmaßenapraxie bei Broca-Aphasikern mit gleichzeitiger rechtsseitiger Parese. Läsionen im Bereich des Broca-Areals;

Zur Lokalisation von apraktischen Störungen Im Zusammenhang mit apraktischen Störungen sind Läsionen in weiten Bereichen der sprachdominanten Hemisphäre und hier insbesondere in aphasieträchtigen Gebieten zu finden. Als besonders wichtig werden folgende Gebiete genannt:

Lokalisation von apraktischen Störungen

- Probleme bei der motorischen Ausführung —»linkshemisphärische Läsion, - Probleme der räumlichen Orientierung der Einzelteile —»rechtshemisphärische Läsion.

• Diskonnektionsapraxie: Linksseitige Gliedmaßenapraxie nach Balkenläsionen.

Beidseitige Gliedmaßenapraxie - Fasciculus arcuatus (linkshemisphärisch, parietal) Linksseitige sympathische (Gliedmaßen-) Apraxie - Broca-Region Gesichtsapraxie - Anteriore Teile der Insula und der benachbarten Opercula in der sprachdominanten Hemisphäre Konstruktive Apraxie - Gyri supramarginalis und angularis der linken oder rechten Hemisphäre Linksseitige Diskonnektionsapraxie - Corpus callosum

3.5.5 Wahrnehmungsstörungen Nach Hirnschädigungen treten in allen Sinnesmodalitäten Wahrnehmungsstörungen auf, die nicht ohne weiteres mit Beeinträchtigungen in grundlegenden sensorischen und motorischen Funktionen erklärt werden können.

Wahrnehmungsstörungen

262

Neuropsychologische Syndrome Wahrnehmungsstörungen sind häufig modalitäts- und materialspezifisch, was sich auch in der Gliederung dieses Abschnittes widerspiegelt.

Untergliederung der neuropsychologischen Wahrnehmungsstörungen

Zur Unterteilung von Wahrnehmungsstörungen Vier wesentliche Formen von Wahrnehmungsstörungen werden im Folgenden unterschieden: Primäre sensorische Störungen Apperzeptive Störungen Assoziative Störungen Bewußtwerdungsstörungen (Neglekt)

• Apperzeptive Störungen: Die Wahrnehmung ist fehlerhaft, unscharf oder verzerrt, so daß das Erkennen gestört ist; Zeichnungen der Vorlage spiegeln die defekte Wahrnehmung wider; • Assoziative Störung (Agnosien): Die Wahrnehmung ist intakt, aber es fehlt die Verbindung zu den zugehörigen Erfahrungsinhalten, so daß das Erkennen der Bedeutung eines Objektes oder Bildes gestört ist;

• Störungen der Bewußtwerdung (Neglekt): Fehler in der Wahrnehmung und im Erkennen aufgrund systematischer Vernachlässigung von Reizen der Umwelt und des eigenen Körpers.

Die Grenze zwischen den primären Störungen und den eigentlichen neuropsychologischen Störungen ist nicht immer eindeutig, so wie auch zwischen den drei letztgenannten neuropsychologischen Beeinträchtigungen fließende Übergänge zu finden sind. Unter einer apperzeptiven Wahrnehmungsstörung (auch als apperzeptive Agnosie bezeichnet) versteht man eine Beeinträchtigung des Wahrnehmungsprozesses in Form von Unschärfen, Ausfällen oder Verfälschungen, die zum Nichterkennen eines Reizes führen können. Die assoziativen Wahrnehmungsstörungen sind die Agnosien im engeren Sinne. Es sind Störungen im Erkennen von Reizen der Umwelt und des Körpers, die trotz intakter bewußter Sinneswahrnehmungen, durch das Fehlen zugehöriger Erlebnis- und Bedeutungsinhalte zustande kommen. Dies wird auch in den früher gebrauchten Begriffen wie Asymbolie oder Seelenblindheit (visuelle Agnosie) bzw. Seelentaubheit (auditive Agnosie) deutlich. Mit Störungen der Wahrnehmungsbewußtwerdung schließlich sollen Ausfälle abgegrenzt werden, die ebenfalls nicht auf primäre senso-motorische Störungen zurückzuführen sind und eine gewisse Ähnlichkeit mit apperzeptiven wie assoziativen Agnosien haben, aber doch mehr als diese durch systematische Veränderungen der Aufmerksamkeit oder Einschränkungen in dem, was bewußt wird, gekennzeichnet sind. Es handelt sich hier um die verschiedensten Formen des Neglekts, die als Vernachlässigung von Reizen der Umwelt oder Teilen bzw. Fehlfunktionen des eigenen Körpers zu beobachten sind.

Visuelle Wahrnehmungsstörungen

3.5.5.1 Visuelle Wahrnehmungsstörungen

Visuelle apperzeptive Wahrnehmungsstörungen

Apperzeptive visuelle Störungen Schwere Störungen der Fähigkeit, einfache visuelle Muster zu unterscheiden, sind gewöhnlich die Folge primärer sensorischer Ausfälle. Die neuropsychologischen Störungen zeigen sich zumeist erst, wenn bei der Prüfung komplexere visuelle Reize verwendet werden.

• Probleme der Figur-Grund-Unterscheidung, des Erkennens von eingebetteten Figuren und übereinander gezeichneter Umrisse verschiedener Objekte —» Parieto-okzipitale Läsionen;

Figur-Grund-Unterscheidung: Deutliche Probleme treten beispielsweise bei sich überschneidenden Mustern auf oder dort, wo ein Muster aus einem Hintergrund herausgelöst werden muß (sogenannte Figur-Grund-Muster, eingebettete Figuren, ζ. B. Gottschaldt-Test oder übereinander gezeichnete Umrisse von Objekten, sog. Poppelreuter-Figuren). Defizite werden hier bei allen fokal hirngeschädigten Patienten, unabhängig von der Lokalisation der Läsionen gefunden. Am größten aber ist die Beeinträchtigung bei Läsionen im parieto-okzipitalen Bereich der rechten Hemisphäre.

• Störungen der visuellen Gesamtauffassung

Störungen der visuellen Gesamtauffassung: Bei verschiedenen neuropsychologischen Tests treten Defizite auf, die offensichtlich wahrnehmungsbedingt sind und sich am ehesten dadurch charakterisieren lassen, daß der Pa-

Spezifische funktionelle Syndrome tient zwar Details einer Vorlage erkennen und beschreiben kann, aber Probleme hat, die Vorlage als Ganzes zu erfassen. - Defizitäre Wahrnehmung komplexer Szenen und Aktionsbilder. Sehr deutlich zeigt sich dies zum Beispiel, wenn der Patient Bilder vorgelegt bekommt, auf denen ein bestimmtes Geschehen dargestellt wird (z.B. sogenannte Binet-Bilder). Er beschreibt dann häufig alle Einzelheiten, kann aber nicht das Wesentliche, also das dargestellte Geschehen charakterisieren. Über die Spezifität dieses Defekts für bestimmte Hirnschädigungen besteht keine Einigkeit.

263

Defekte Wahrnehmung von Aktionsbildern —»okzipitale Läsionen; bei defekten Augenbewegungen —»frontale Läsionen,

Assoziative visuelle Wahrnehmungsstörungen (visuelle Agnosien) Bei den assoziativen visuellen Störungen vermutet man den Defekt auf der Bedeutungsebene bzw. semantischen Ebene. Die Wahrnehmung ist intakt, die Patienten können also Wahrgenommenes unterscheiden, aber sie können es weder benennen noch bezüglich ihrer Bedeutung, Verwendung oder in sonst irgendeiner Weise beschreiben bzw. umschreiben. Man könnte sagen, daß die mit diesen Objekten verbundenen Erfahrungsinhalte verloren wurden oder zumindest beim Sehen nicht mehr bewußt werden. Im Folgenden werden die drei wichtigsten Agnosieformen, für Gegenstände und Bilder (Visuelle Objektagnosie), Gesichter (Prosopagnosie) und Farben (Farbagnosie), zusammen mit den jeweils davon zu unterscheidenden apperzeptiven Störungen besprochen.

Assoziative visuelle Wahrnehmungsstörungen (visuelle Agnosien): Wahrgenommenes kann weder benannt noch bezüglich Bedeutung und Verwendung beschrieben werden

Objekterkennungsstörungen Apperzeptive Objektagnosie: Im Gegensatz zu Patienten mit einer assoziativen Agnosie haben Patienten mit einer apperzeptiven Störung schon Schwierigkeiten mit der visuellen Form- und Mustererkennung. Sogar einfache Umrißzeichnungen können nicht erkannt werden. Das Charakteristische des Defizits zeigt sich darin, daß sie ein nicht erkanntes Objekt oder Bild weder zeichnen, noch einem anderen (aus mehreren Wahlmöglichkeiten) zuordnen können. Der Patient kann auch nicht auf einen Gegenstand zeigen, der vom Untersucher benannt wird. Als Ursache werden hier bilaterale Läsionen mit umfangreichen, aber nicht totalen Zerstörungen des striären und prästriären visuellen Kortex beschrieben. Häufig werden solche Läsionen durch Kohlenmonoxydvergiftung, allgemeine ischämische Zustände (Herzstillstand) oder atrophische Prozesse verursacht. Viele der Patienten wurden zuerst auch als kortikal blind diagnostiziert und zeigten die apperzeptiven Störungen in der Rückbildungsphase. Differentialdiagnostisch sind vor allem augenoptische Veränderungen und okulomotorische Störungen abzuklären.

Visuelle Objekterkennungsstörungen • Apperzeptive Objektagnosie: Keine Agnosie im eigentlichen Sinne, da schon die Wahrnehmung defekt ist; Zeichnung des Patienten zeigt an, daß die Wahrnehmung lükkenhaft, unscharf oder verzerrt ist; —»Zerstörungen im striären und prästriären visuellen Kortex.

Visuelle Objektagnosie: Die Patienten können gesehene Gegenstände weder benennen noch nach Kategorien ordnen (ζ. B. Bilder aller Werkzeuge, Möbel, Kleidungsstücke zusammenzulegen). Auch bei der Zuordnung von unterschiedlich aussehenden, aber von der Bedeutung her gleichen Gegenständen (z.B. zwei unterschiedliche Abbildungen einer Uhr) haben sie Probleme. Die Erkennungsstörungen treten bei Bildern von Objekten eher auf als bei Objekten selbst. Visuell agnostische Patienten können aber mit geschlossenen Augen Gegenstände fühlen und dann richtig benennen oder ihren Gebrauch demonstrieren, also zeigen, daß sie sie unter diesen Umständen erkannt haben. Im täglichen Leben können die Patienten mit den Gegenständen auch umgehen, selbst wenn sie sie im Test nicht erkennen. Die meisten Patienten mit einer assoziativen visuellen Objektagnosie haben eine rechtsseitige Hemianopsie, oft auch Farbwahrnehmungsstörungen. Häufig sind gleichzeitig andere neuropsychologische Ausfälle vorhanden. Während die apperzeptiven Agnosien eher mit rechtshemisphärischen oder

• Visuelle Objektagnosie: Die Bedeutung von gesehenen Gegenständen und ihrer Bilder wird nicht erkannt; Objekte können aber bei geschlossenen Augen aufgrund anderer sensorischer Informationen erkannt werden; —» massive Läsionen vor allem im inferioren medialen Okzipitalkortex (Gyri fusiformes und linguales).

Wichtige visuelle Agnosieformen: - visuelle Objektagnosie - Prosopagnosie - Farbagnosie

Neuropsychologische Syndrome

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bilateralen Herden verbunden sind, finden sich bei den assoziativen Störungen entweder linkshemisphärische oder bilaterale Zerstörungen. Als Ursachen der bilateralen Läsionen kommen sowohl diffuse pathologische und traumatische Veränderungen in Frage als auch Gefäßprozesse im Bereich der A. c. posterior, auf die auch die meisten linksseitigen Läsionen zurückzuführen sind. Auch die unilateralen Läsionen sind häufig sehr massiv und betreffen große Bereiche des medialen Okzipitallappens. Als besonders wichtig werden die Gyri linguales und fusiformes (entsprechen in etwa den medialen Anteilen der Areae 18 und 19) erachtet sowie mediale (d.h. limibische) Anteile des Temporallappens und das Splenium corporis callosi. Störungen der Gesichterwahrnehmung

Störungen der Gesichterwahrnehmung Man unterscheidet zwei Hauptstörungen der Gesichterwahrnehmung; eine Beeinträchtigung beim Unterscheiden von unbekannten Gesichtern und die eigentliche Prosopagnosie, d.h. assoziative visuelle Agnosie für Gesichter. Die Möglichkeit, daß es sich bei beiden Störungsformen lediglich um Unterschiede im Schweregrad derselben Erkrankung handelt, kann im Augenblick noch nicht ausgeschlossen werden.

• ApperzeptiveStörung: Unfähigkeit, unbekannte G e s i c h t e r zu unterscheiden; —» massive zumeist einseitige temporo-okzipitale Läsionen; m e h r rechts- als linkshemisphärische S c h ä d i g u n g e n ;

Apperzeptive Gesichterwahrnehmungsstörungen: Diese Störung bezieht sich, wie bereits erwähnt, vorwiegend auf die Unterscheidung von unbekannten Gesichtern. Als begleitende Ausfälle sind häufig linksseitige Gesichtsfeldausfälle zu finden. Bei linkshemisphärischen Läsionen kommt es oft zu Sprachverständnisstörungen. Insgesamt wird diese apperzeptive Störung der Gesichterwahrnehmung mit größeren temporo-okzipitalen Läsionen in Verbindung gebracht.

• Assoziative Störung (Prosopagnosie): Unfähigkeit, G e s i c h t e r von Bekannten und Fam i l i e n a n g e h ö r i g e n zu identifizieren; —»zumeist bilaterale Läsionen des inferioren medialen Okzipitalkortex (Gyri fusiformes und linguales).

Prosopagnosie: Die Prosopagnosie ist die Unfähigkeit, bekannte Gesichter, beispielsweise von Bekannten und Verwandten, zu identifizieren. Aber es wurde auch schon von Erkennungsstörungen berichtet, bei denen es nicht um Gesichter, sondern um Objekte ging, deren Erkennung aufgrund einer besonderen Erfahrung erlernt worden war. So konnte ein Bauer seine Kühe nicht mehr unterscheiden, ein weiterer Patient hatte Schwierigkeiten, Automodelle zu erkennen. Die typische Beschwerde des Prosopagnosikers ist, daß sich alle Gesichter ähnlich sehen, oder daß sie sich beim genauen Hinsehen verändern und ihnen fremd vorkommen. Sie achten auf Größe, Haartracht, Kleidung oder die Art des Gehens, um Personen unterscheiden zu können. Beim Erkennen spielt auch die Stimme eine große Rolle. Bei der Prosopagnosie findet sich ebenfalls häufig eine linksseitige homonyme Hemianopsie oder ein Ausfall der linken oberen Quadranten. Außerdem wird von assoziierten Farbwahrnehmungsstörungen, visuelle Objektagnosie, insbesondere für Symbole, räumliche Orientierungsstörungen sowie Schwächen des topographischen Gedächtnisses berichtet. Über die anatomisch-pathologische Ursache der Prosopagnosie besteht einige Unsicherheit. Neuere Untersuchungen zeigen auf die Bereiche, die auch bei der assoziativen visuellen Agnosie betroffen sind, nämlich die inferioren striären Bereiche, insbesondere die Gyri linguales und fusiformes sowie retrospleniale Teile des Gyrus cinguli. Zumeist sind die Läsionen bilateral.

Farbwahrnehmungsstörungen

Störungen der Farbwahrnehmung Nach Hirnschädigungen kann es zu sehr unterschiedlichen Defekten in der Farbwahrnehmung und der Farbbenennung sowie assoziativen Verbindung von Farben und Gegenständen kommen.

Primäre Farbwahrnehmungsstörungen:

Primäre Farbwahrnehmungsstörungen: Bei den sensorischen Störungen sprechen wir von Farbwahrnehmungsschwächen, Farbenfehlsichtjgkeit

Spezifische funktionelle Syndrome oder teilweiser Farbblindheit (Dyschromatopsie), wenn einzelne Farben nicht richtig unterschieden werden können, bei einem vollständigen Verlust des Farbunterscheidungsvermögens von Farbenblindheit (Achromatopsie). Bei der letzteren Störung sind nur noch Hell-Dunkel-Unterscheidungen möglich. Patienten mit Dyschromatopsien empfinden Farben als blaß und verwaschen. Die Ausfälle können nur teilweise mit pseudoisochromatischen Tafeln und mit Farbdiskriminations- und Vergleichstests (ζ. B. FamsworthMunsell 100 Hue Test) erfaßt werden. Achromatische und Dyschromatische Ausfälle können sich mehr oder weniger auf einen Quadranten, ein Halbfeld oder auf das gesamte Gesichtsfeld erstrecken. Im gleichen Bereich sind Form- und Mustererkennung normal.

265 - Dyschromatopsie (synon. Farbwahrnehmungsschwache, Farbenfehlsichtigkeit, teilweise Farbenblindheit): Einzelne Farben können nicht unterschieden werden, - Achromatopsie (Farbenblindheit): Nur noch Hell-Dunkel-Unterscheidungen sind möglich, —* Läsionen in verschiedensten Teilen des visuellen Systems;

Die nach Läsionen in verschiedenen Teilen des visuellen Systems auftretenden Schäden, die als zentrale Farbwahrnehmungsstörungen bezeichnet werden, können den angeborenen Störungen ähneln. A m häufigsten sind in beiden Fällen Ausfälle im Grün-Blau-Bereich zu finden. Farbbenennungsstömngen: Als Farbanomie (ab und zu auch als amnestische Aphasie für Farbnamen) bezeichnet man die Unfähigkeit, Farben zu benennen oder auf verbal benannte Farben zu zeigen, ohne daß eine primäre Farbwahrnehmungsstörung oder allgemeine Benennungsstörung (amnestische Aphasie) vorliegt. Visuell-verbale Zuordnungen (Farbe benennen) sind stark gestört; verbal-visuelle Störungen (beim Zeigen einer Farbe) können geringer ausfallen; verbal-verbale („Welche Farbe hat eine Banane?") sowie visuell-visuelle Assoziationen (Bildern von farbigen Gegenständen kolorieren oder entsprechenden Farbplättchen zuordnen) können erhalten sein. Diese Störung ist sehr häufig mit rechtsseitigen homonymen Gesichtsfeldausfällen und zumeist intakter sensorischer Farbwahrnehmung in der linken Gesichtsfeldhälfte assoziiert. Oft sind sensorische Aphasien und in fast jedem Fall eine Alexie (ohne Agraphie) vorhanden, wobei der Grad der Störung insbesondere mit dem Schweregrad der Aphasie korreliert. Als Erklärung wird auf die linksseitigen Läsionen im Versorgungsbereich der A. c. posterior vor allem des striären visuellen Kortex und des Splenium corporis callosi verwiesen.

• Farbbenennungsstörungen (Farbanomie): Selektive Benennungsstörung für Farben; fehlende visuell-verbale Assoziationen; zumeist liegt auch eine reine Alexie vor - wie bei dieser auch rechtsseitige homonyme Gesichtsfeldausfälle —» Läsionen des linken striären visuellen Kortex und des Splenium corporis callosi, d.h. Diskonnektionseffekt: intakte Farbwahrnehmung der rechten Hemisphäre von verbaler Benennung durch die linke Hemisphäre getrennt;

Farbagnosie: Wie bei allen Agnosien kann der Patient mit einer Farbagnosie Farben weder benennen, noch auf Farben zeigen, die vom Untersucher benannt werden. Darüber hinaus jedoch zeigen sich Probleme in der Assoziation von Farben und Objekten sowohl auf visueller wie auch auf verbaler Ebene. Visuell-visuelle aber auch verbal-verbale Farbassoziationsaufgaben können Defekte aufweisen. Manchmal ist die verbal-verbale Assoziation intakt und die fehlende verbal-visuelle Assoziation führt zu Fehlern beispielsweise beim Kolorieren. Der Patient sagt: „Die Tomate ist rot." Greift aber zum gelben Stift und färbt die Tomate gelb. Als Ursache werden linkshemisphärische Läsionen im inferioren medialen Okzipitalkortex (Gyrus fusiformis) beschrieben.

• Farbagnosie: Farben können weder benannt noch mit entsprechenden Erfahrungsinhalten assoziiert werden —»linkshemisphärische Läsionen des inferioren medialen Okzipitalkortex (Gyrus fusiformis).

3.5.5.2 Visuell-räumliche Wahrnehmungsstörungen

Visuell-räumliche Wahrnehmungsstörungen

Die allgemein als visuell-räumliche Wahrnehmungsstörungen bezeichneten Defizite beinhalten Beeinträchtigungen der Lokalisation im Raum, der Analyse von räumlichen Hinweisreizen sowie der Orientierung im R a u m und Ausfälle in der räumlichen Vorstellung und Konstruktion. Sie können Wahrnehmungen im aktuell sichtbaren R a u m betreffen, aber sich auch auf räumliche Bereiche beziehen, die im Augenblick nicht gesehen werden können.

266 Räumliche Agnosien Störungen der räumlichen Orientierung und Vorstellung (visuell-räumliche und topographische Orientierungsstörung) —> bilaterale oder rechtshemisphärische Läsionen im posterioren parieto-temporalen Bereich.

Neuropsychologische Syndrome Störungen der räumlichen Orientierung und Vorstellung (räumliche Agnosie) Diese Störungen zeigen sich beispielsweise dadurch, daß der Patient Schwierigkeiten hat, sich in seiner eigenen Wohnung zurechtzufinden, oder sich in der Klinik verirrt, wenn er vom Untersuchungszimmer in sein Zimmer zurückgehen will. Auch eine Skizze oder die Verwendung einer Karte ist ihm keine Hilfe. Neben diesen Störungen der Orientierung scheint auch die Fähigkeit verloren oder zumindest beeinträchtigt zu sein, sich bekannte Örtlichkeiten vorzustellen und beispielsweise zu beschreiben, wie man in seinem Heimatort von einem bestimmten Punkt zu einem anderen gelangen kann. Eigene Skizzen von Wohnung, Klinik, Ort oder räumliche Eigenarten der vertrauten Umgebung oder des eigenen Landes sind häufig nicht nur dürftig, sondern sehr fehlerhaft. Insgesamt werden diese Beeinträchtigungen als Störungen der visuell-räumlichen oder topographischen Orientierung bezeichnet. Ausfälle in Teste des räumlichen Gedächtnisses und des Vorstellungsvermögens (Grundriß der Wohnung, Orientierung am Ort) sind zumeist mit bilateralen oder rechtshemisphärischen Beschädigungen der posterioren Parietalund Temporalbereiche verbunden.

Auditive Wahrnehmungsstörungen

3.5.5.3 Störungen der auditiven Wahrnehmung Nach Hirnschädigungen kann es zu Beeinträchtigungen des Hörens bis hin zur Taubheit und zum Verlust des Verständnisses bestimmter akustischer Reize (auditive Agnosien) kommen. Im Vergleich zu den visuellen Störungen, werden Störungen der auditiven Wahrnehmung jedoch sehr viel seltener beschrieben.

• Kortikale Taubheit: Folge beidseitiger Temporalschädigungen;

Kortikale Taubheit Eine bilaterale Zerstörung der primären Hörbereiche im Temporalkortex kann (muß aber nicht) zur kortikalen Taubheit führen. Die Audiometrie ist stark abnormal und die Patienten scheinen akustische Reize nicht zu beachten. Die kortikale Taubheit ist oft die Konsequenz eines zweiten Schlaganfalls (in der rechten Hemisphäre), nachdem ein erster, linksseitiger zu Aphasie und Hemiparese führte. Aber auch nach einer Enzephalitis oder einem schweren Schädelhirntrauma kann es zu beidseitigen Schädigungen mit kortikaler Taubheit kommen.

• Geräuschtaubheit: Apperzeptive Störung, verschiedene akustische Reize zu unterscheiden —> rechtshemisphärische Temporalkortexläsionen (bei linkshemisphärischen oder bilateralen Läsionen —»Worttaubheit);

Apperzeptive auditive Agnosien (Geräuschtaubheit) Patienten mit dieser Störung haben Schwierigkeiten, verschiedene akustische Reize zu unterscheiden. Die Unfähigkeit, nicht-sprachliche Reize zu unterscheiden (Geräuschtaubheit), weist auf eine rechtshemisphärische Läsion im Temporalbereich hin. Bei einseitigen linkshemisphärischen oder beidseitigen Läsionen im Bereiche des Heschl-Gyrus und der genikulären und kallosalen Verbindungen kann es zu einer selektiven Störung der Wahrnehmung von Sprachreizen kommen, die als Worttaubheit bezeichnet wird (s. dort).

• Auditive Agnosie (Geräuschsinntaubheit): Unfähigkeit, die Bedeutung von akustischen Reizen, beispielsweise Geräuschen des täglichen Lebens, zu erkennen —> bilaterale, rechtshemisphärisch massivere, temporale Läsionen; auch linkshemisphärische, aphasische Form möglich.

Assoziative auditive Agnosien (Geräuschsinntaubheit) Die eigentliche auditive Agnosie bezeichnet die Unfähigkeit, nicht-sprachliche Reize zu erkennen und zu deuten. Ein Patient mit dieser Störung kann beispielsweise Geräusche des täglichen Lebens und unserer Umwelt nicht benennen oder sie entsprechenden Abbildungen von Tätigkeiten oder Objekten zuordnen.

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Spezifische funktionelle Syndrome 3.5.5.4 Taktile Wahrnehmungsstörungen (Haptische Störungen)

Taktile Wahrnehmungsstörungen (Haptische Störungen)

Die Unfähigkeit, nur durch Erfühlen mit den Händen einen Gegenstand erkennen zu können, wird generell als Astereognosie bezeichnet, wobei dies auf eine apperzeptive oder eine assoziative Störung zurückzuführen sein kann.

Astereognosien: Unfähigkeit, Gegenstände aufgrund von Tastempfindungen zu erken-

Apperzeptive Astereognosie Bei den apperzeptiven Störungen können zwei Formen unterschieden werden: die Amorphognosie, die Probleme beim Erkennen von Form und Größe (Ausdehnung) eines Gegenstandes bezeichnet, und die Ahylognosie, bei der Schwierigkeiten bestehen, andere Eigenschaften eines Objekts zu identifizieren, beispielsweise Textur, Temperatur, Festigkeit oder Gewicht. Patienten mit einer apperzeptiven Astereognosie können das nur mit den Händen Gefühlte weder korrekt zeichnen, noch taktil oder visuell aus einer Gruppe von anderen Gegenständen heraussuchen. Häufig haben diese Patienten auch Probleme mit der räumlichen Orientierung. Es wird sogar vermutet, daß eine Unterscheidung der apperzeptiven Störungen nach dem Ausmaß der Schwierigkeit, primär sensorische Information räumlich zu integrieren (Amorphosynthese), möglich ist. In diesem Fall liegt gewöhnlich eine rechtshemisphärische Störung vor.

• Apperzeptive Astereognosien: Unfähigkeit, Gegenstände aufgrund von Tastempfindungen zu unterscheiden oder sich von ihnen ein Bild zu machen —» Läsionen parietaler somatosensorischer Bereiche (postzentrale Gebiete). - Amorphognosie: Probleme, Form und Größe zu erkennen, - Ahylognosie: Probleme, Materialeigenschaften eines Objekts zu erkennen, - Amorphosynthese: Probleme, sensorische Informationen räumlich zu integrieren;

Die Beeinträchtigungen treten zumeist einseitig auf und sind mit Läsionen im kontralateralen postzentralen Bereich, insbesondere dem somatosensorischen Projektionsgebiet der Hand im postzentralen Gyrus, in Verbindung gebracht worden. Assoziative Astereognosie (Taktile Agnosie) Bei der eigentlichen taktilen Agnosie (taktile Asymbolie) können Gegenstände durch Erfühlen unterschieden und wiedererkannt werden - auch intermodale Vergleiche sind möglich - aber die Gegenstände können nicht identifiziert werden. Es kommt zu Benennungsstörungen und Unfähigkeit, ihren adäquaten Gebrauch zu demonstrieren. Die Störung tritt zumeist bilateral auf und ist mit Läsionen im posterioren Parietalbereich der sprachdominanten Hemisphäre verbunden.

• Taktile Agnosie (Assoziative Astereognosie): Unfähigkeit, aufgrund von Tastempfindungen Gegenstände (d.h. die Bedeutung von Gegenständen) zu erkennen —» Läsionen im posterioren Parietalbereich der linken Hemisphäre.

3.5.5.5 Störungen der Körperwahrnehmung

Körperwahrnehmungsstörungen

Die für die Körperwahrnehmung grundlegenden Funktionen werden in den primären und sekundären somatosensorischen Projektions- und angrenzenden Assoziationsgebieten lokalisiert. Dementsprechend werden Störungen der Körperwahrnehmung mit parietalen Hirnschädigungen in Verbindung gebracht. Andererseits muß man berücksichtigen, daß das Ausmaß der Hirnschädigungen bei den betroffenen Patienten oft sehr groß ist (also den parietalen Kortex fast zwangsläufig mit einbezieht) und bisher zwischen den einzelnen Formen der Körperwahmehmungsstörungen keine deutlichen Unterschiede in der Lokalisation der Schädigungen nachgewiesen werden konnten. Asomatognosien Als Asomatognosie bezeichnet man den Verlust der sensorischen Wahrnehmung des eigenen Körpers oder von Teilen des Körpers. Obwohl in seltenen Fällen beide Körperhälften betroffen sein können, handelt es sich zumeist u m halbseitige Störungen (Hemiasomatognosien). Es hat sich als sinnvoll erwiesen, bei den Hemiasomatognosien eine bewußte und eine unbewußte Form zu unterscheiden.

• Asomatognosien: Fehlende sensorische Wahrnehmung von Teilen des eigenen Körpers

Neuropsychologische Syndrome

268 Bewußte Hemiasomatognosie: Anfallsartiger einseitiger Verlust der Körperwahrnehmung —» vorübergehende sukkortikale Beeinträchtigung somatosensorischer Bahnen,

Bewußte Hemiasomatognosie: Bei dieser relativ seltenen Form eines einseitigen Verlustes der Körperwahrnehmung berichtet der Patient spontan von einem Gefühl, als ob eine Hälfte seines Körpers entfernt worden sei. Dieses Gefühl tritt anfallsartig auf und ist zumeist nur von kurzer Dauer. Die Betroffenen leiden zumeist unter anderen anfallsartigen neurologischen Störungen wie Epilepsie oder Migräne. Als Ursache wird eine vorübergehende subkortikale Unterbrechung der somatosensorischen Bahnen vermutet.

Unbewußte Hemiasomatognosie: Patient verhält sich so, als ob eine Hälfte seines Körpers nicht existiere; teilweise besteht eine Hemiplegie, die dem Patienten aber gleichgültig zu sein scheint (Anosodiaphorie) oder die er sogar leugnet (Anosognosie der Hemiplegie); zumeist ist die linke Körperseite betroffen —»rechtshemisphärische parietale Läsionen (bei linkshemisphärischen Läsionen —* beidseitige Körperwahrnehmungsstörungen);

Unbewußte Hemiasomatognosie: Bei der häufiger vorkommenden unbewußten Form, die gewöhnlich unter der Bezeichnung Hemiasomatognosie verstanden wird, handelt es sich u m eine länger andauernde Störung (Tage oder Wochen). Sie ist überwiegend mit rechtshemisphärischen kortikalen Läsionen assoziiert. Im Gegensatz zu der bewußten Form, scheint sich der Patient hier über den Verlust der Wahrnehmung einer Körperhälfte nicht im Klaren zu sein. Aber er verhält sich so, als ob seine eine Körperhälfte überhaupt nicht vorhanden sei; er läßt beispielsweise die Extremitäten der betroffenen Seite aus dem Bett hängen oder deckt sie nicht zu. Häufig, aber nicht immer, sind diese Patienten hemiplegisch. Und oft besteht für die Hemiplegie eine Anosognosie. In diesem Fall lassen sich die Patienten auch nicht vom Untersucher davon überzeugen, daß sie halbseitig gelähmt sind.

• Autotopagnosien: Probleme, einzelne Körperteile zu benennen oder durch Zeigen zu identifizieren; - Fingeragnosie, - Rechts-Links-Störung. Beides sind eigenständige Störungen, die aber (zusammen mit der reinen Agraphie und der Dyskalkulie) zum Gerstmann-Syndrom gerechnet werden —» Läsionen des linken Parietalbereichs;

Autotopagnosien Die als Autotopagnosien bezeichneten Probleme, einzelne Teile des Körpers zu identifizieren und zu benennen, können in verschiedenster Form auftreten. Die normalen Testaufgaben bestehen darin, daß der Patient - einmal mit offenen, einmal mit geschlossenen Augen - auf einen vom Untersucher genannten Körperteil zeigt oder ihn bewegt, oder daß er einen vom Untersucher berührten Körperteil benennt bzw. bewegt. Das Zeigen und Benennen von Körperteilen wird auch am Körper des Untersuchers und an einer Abbildung geprüft. Die meisten Patienten mit autotopagnostischen Störungen haben auch Schwierigkeiten, ein Gesicht oder eine Figur zu zeichnen. Zumeist werden Körperteile vergessen oder verzerrt dargestellt. Ähnliche Probleme zeigen sich beim Zusammenfügen von entsprechenden Abbildungen oder Figuren, die in Einzelteilen zerschnitten wurden. In jedem Fall sollte festgestellt werden, ob sich die Schwierigkeiten des Patienten nur auf Gesichter- oder Körperdarstellungen beziehen oder ob eine Konstruktive Apraxie vorliegt. Die den gesamten Körper betreffende, eigentliche Autotopagnosie ist relativ selten, verglichen mit Störungen, die beispielsweise nur beim Identifizieren von Fingern oder bei der Unterscheidung zwischen rechts und links auftreten. Diese beiden letzteren Beeinträchtigungen werden als eigenständige neuropsychologische Störungen - Fingeragnosie und Rechts-Links-Störung - betrachtet. Die der Autotopagnosie zugrunde liegenden Läsionen umfassen immer die sprachdominante Hemisphäre, und zwar die parieto-okzipito-temporalen Bereiche. Häufig sind zugleich auch vergleichbare kortikale Gebiete der rechten Hemisphäre betroffen. Die Fingeragnosie und die Rechts-Links-Störung sind Teil des sogenannten Gerstmann-Syndroms.

• Makro- und Mikrosomatognosie: Teile des eigenen Körpers oder der gesamte Körper werden vorübergehend als in der Größe verändert wahrgenommen —»sowohl rechtswie linkshemisphärische Läsionen im pa rieto-temporo-okzipitalen Bereich;

Sonstige Körperschemastörungen Makro- und Mikrosomatognosie: Bei dieser Störung berichtet der Patient von einem Gefühl, als ob Teile seines Körpers oder der ganze Körper abnormal groß oder klein seien. Wie bei der bewußt wahrgenommenen Asomatognosie, tritt das Gefühl anfallsartig auf und ist ebenso oft mit Epilepsien und Migräne assoziiert. So kann beispielsweise ein Gefühl der Schwere und der

Spezifische funktionelle S y n d r o m e

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Vergrößerung einer Gliedmaße als Aura auftreten. Sowohl rechts- wie linksseitige Läsionen im Bereich des parieto-temporo-okzipitalen Kortex werden mit dieser Wahrnehmungsveränderung in Verbindung gebracht. Alloästhesie (Allästhesie): Bei der Alloästhesie werden taktile Stimuli an anderen Stellen des Körpers als den tatsächlich gereizten wahrgenommen. Zumeist werden die Reize auf der gegenüberliegenden anderen Körperhälfte lokalisiert. Da diese Störung häufig an den Händen auftritt, wird sie auch als Allocheirie oder Allochirie bezeichnet. Eine zentrale Lokalisation dieser Störung ist noch nicht nachweisbar. Bisher wurde sie vor allem bei degenerativen Neuropathien und Psychosen beschrieben. Eine besondere Form der Alloästhesie bezieht sich auf die Wahrnehmung von Bewegungen und ist mit subkortikalen und spinalen Verletzungen beschrieben worden. Hierbei werden spontane Bewegungen mit einer paretischen Gliedmaße als Bewegungen des gesunden Gliedes wahrgenommen. Exosomesthesie und Autoskopie: Mit diesen beiden Wahrnehmungsstörungen sind wir der Grenze zur Psychopathologie noch näher gekommen. Beide Formen treten nicht nur nach weitreichenden diffusen und fokalen Mehrfachschädigungen des Gehirns auf, sondern auch im Zusammenhang mit Epilepsie und Migräne sowie verschiedenen psychotischen Erkrankungen. Bei der Exosomesthesie werden Hautreize in den außerkörperlichen Raum projiziert. Eine Erklärung für diese punktuelle Ausdehnung des Körperschemas gibt es nicht. Auch für die Autoskopie (Autohalluzination, Doppelgängerwahrnehmung), bei der die Projektion des gesamten eigenen Körpers im Raum visuell wahrgenommen wird, gibt es noch keine Erklärung. Anosodiaphorie und Anosognosie Im Zusammenhang mit der Bewertung von spezifischen Funktionsausfällen, beispielsweise Hemiplegien, finden sich vor allem bei Patienten mit größeren rechtshemisphärischen Läsionen Auffälligkeiten. Diese zeigen sich aber zumeist nur bei direkter Befragung des Patienten oder direkter Konfrontation mit einem Funktionsausfall. Einige Patienten nehmen einen Funktionsausfall wie die Hemiplegie zwar zur Kenntnis, aber sie verniedlichen ihn oder sind ihm gegenüber scheinbar gleichgültig. Man spricht hier von einer Anosodiaphorie. Im Gegensatz zu frontalgeschädigten Personen, zeigen Patienten mit rechtshemisphärischen Läsionen außerdem Ausfälle in der Wahrnehmung von normalen und gestörten Körperfunktionen (Asomatognosien), und manche leugnen diese sogar. Letzteres wird als Anosognosie oder verbale Anosognosie bezeichnet. Differentialdiagnostisch ist von Interesse, daß im Gegensatz zu den bereits erwähnten Auswirkungen von frontalen Läsionen und auch bei Zuständen der Demenz, bei denen Krankheiten und Funktionsausfälle ebenfalls in veränderter Form wahrgenommen oder sogar geleugnet werden, die Anosognosie nach rechtshemisphärischen Schädigungen zumeist nur bestimmte Funktionsausfälle betrifft. Man spricht daher auch von Anosognosien für Hemiplegie, für Hemianopsien, für Blindheit, für Taubheit oder für Schmerz. Nach den Wissenschaftlern, die die Anosognosien für Hemiplegie und die für Blindheit besonders bearbeitet haben, wird die Anosognosie auch als Anton-Babinski-Syndrom bezeichnet. Die Anosognosien treten vor allem im akuten Zustand nach massiven Schlaganfällen im Bereich der rechten A. c. media auf. Trotz der zumeist sehr umfangreichen Läsionen wird den parietalen Bereichen, aber auch subkortikalen, insbesondere Thalamusstrukturen besondere Bedeutung zugemes-

• Alloästhesie (Allästhesie): B e r ü h r u n g e n w e r d e n an a n d e r e n als d e n g e r e i z t e n Stellen w a h r g e n o m m e n —» keine L o k a l i s i e r u n g m ö g lich;

• E x o s o m e s t h e s i e : H a u t r e i z e w e r d e n in d e n a u ß e r k ö r p e r l i c h e n Raum projiziert —»diffuse u n d m u l t i p l e H i r n s c h ä d i g u n g e n ; - A u t o s k o p i e : P r o j e k t i o n des e i g e n e n Körpers w i r d als v i s u e l l e H a l l u z i n a t i o n w a h r g e n o m m e n —»keine Lokalisation m ö g l i c h ;

• Anosodiaphorie: G l e i c h g ü l t i g k e i t g e g e n ü b e r e i n e m Funktionsausfall;

• Anosognosie (Anton-Babinski-Syndrom): L e u g n u n g e i n e s Funktionsausfalls —* z u m e i s t nach umfangreichen rechtshemisphärischen parietalen L ä s i o n e n ;

270 Anosognosie für Schmerz: Es fehlen normale Verhaltensreaktionen auf Schmerzreize; physiologische Schmerzreaktionen sind vorhanden; Schmerzreize können auch von anderen somatosensorischen Reizen unterschieden werden —» vermutet werden linkshemisphärische Läsionen im Bereich der Insula.

Hemineglekt

Neuropsychologische Syndrome Anosognosie für Schmerz Die Anosognosie für Schmerz wird auch als Agnosie oder Asymbolie für Schmerz bezeichnet. Im Gegensatz zu Veränderungen in der emotionalen Bewertung von Schmerz, wie sie nach frontalen Läsionen auftreten, fehlen bei der Schmerzasymbolie die normalen Verhaltensreaktionen auf Schmerzreize, und zwar für beide Seiten des Körpers. Teilweise fehlt bei den betroffenen Patienten auch die Angst vor offensichtlichen Verletzungsfolgen und möglichem Schmerz. Schmerzreize können aber durchaus von anderen taktilen Reizen unterschieden werden, und auch die normalen autonomen physiologischen Reaktionen auf Schmerz sind vorhanden. Eine genauere lokalisatorische Zuordnung dieser Störung gibt es noch nicht.

3.5.5.6 Hemineglekt Unter Hemineglekt versteht man die Vernachlässigung einer Hälfte des eigenen Körpers, einer Hälfte einzelner Reizmuster oder einer Hälfte des außerpersönlichen Raumes. Man kann außerdem einen eher motorisch und einen eher sensorisch betonten Neglekt unterscheiden. Der strikten Definition nach sollten die primären sensorischen und motorischen Funktionen intakt

Sensorischer Hemineglekt • Visuell-räumlicher Neglekt mit Hemianopsie: Vernachlässigung einer Hälfte des visuellen Raumes; Hemianopsie führt nicht zu kompensatorischem Blickverhalten;

Sensorischer Hemineglekt Visuell-räumlicher Neglekt bei gleichzeitiger Hemianopsie: Bei den meisten Patienten mit einer Vernachlässigung einer Hälfte des visuellen Raumes liegt eine hemianoptische Störung vor. Die Patienten zeigen dabei spontane Augen- und Kopfbewegungen nur in Richtung des gesunden Bereichs. Damit wird verständlich, weshalb sie beispielsweise ein Blatt Papier nur auf der einen Seite beschreiben, beim Lesen Probleme haben, da sie nur eine Hälfte der Druckseite beachten, oder von den Münzen, die man über eine Tischplatte verstreut hat, nur den zur gesunden Seite hin liegenden Teil auflesen. Im Gegensatz zu Problemen, die nur durch eine Hemianopsie bedingt sind, kann der Patient mit einem visuell-räumlichen Neglekt sein Blickverhalten trotz entsprechender Hinweise durch den Untersucher nicht korrigieren.

• Visuell-räumlicher Neglekt ohne Hemianopsie (visuelle Extinktion): Bei gleichzeitiger Darbietung zweier Reize in jeweils unterschiedlichen Gesichtsfeldhälften, wird nur ein Reiz wahrgenommen;

Visuell-räumlicher Neglekt ohne Hemianopsie: Auch Patienten mit einem perimetrisch intakten Gesichtfeld können einen Neglekt zeigen. Dieser kann eine von zwei Formen annehmen. Die eine unterscheidet sich von den Neglektphänomenen mit Hemianopsie scheinbar nur dadurch, daß sie von subkortikalen, beispielsweise thalamischen Läsionen herrühren. Die zweite Form des Neglekts bei sonst intaktem Gesichtsfeld wird als visuelle Extinktion bezeichnet. Bei dieser Form des Neglekts können die Patienten Reize, die jeweils einzeln nur in der rechten oder linken Gesichtshälfte dargeboten werden, erkennen. Werden aber zwei Reize gleichzeitig dargeboten, und zwar jeweils einer in jeder Gesichtsfeldhälfte, so berichtet der Patient, von dem Reiz in der rechten Gesichtsfeldhälfte. Der in die linke Hälfte dargebotene wird „gelöscht" (daher die Bezeichnung Extinktion). Hemineglekt in anderen sensorischen Modalitäten: Die Hemineglektphänomene sind nicht auf die visuelle Modalität beschränkt. Auch im Bereich der taktilen und auditiven Wahrnehmung treten einseitige Vernachlässigungen auf. So wie ein Patient mit visuell-räumlichem Neglekt beispielsweise Reize in einer Gesichtsfeldhälfte nicht wahrnimmt oder auch nicht auf Personen reagiert, die von einer bestimmten Seite an ihn herantreten, so gibt es auch Patienten, die auf akustische Reize von einer bestimmten Seite überhaupt nicht reagieren. Andere Patienten nehmen taktile Reize nur auf einer

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Spezifische funktionelle Syndrome Körperhälfte wahr, obwohl sie an beiden Seiten berührt werden (taktile Extinktion). Lokalisation des sensorischen Hemineglekts Sensorische Formen des Hemineglekts werden vor allem mit parietalen Läsionen, insbesondere von Bereichen inferior zum Sulcus intraparietalis, in Verbindung gebracht. Sowohl rechts- wie linksseitige Vernachlässigungen sind zu beobachten. Aber die Beeinträchtigungen der linken Hälfte des körperlichen und außerkörperlichen Raumes sind sowohl häufiger als auch sehr viel schwerer als die rechtsseitigen Störungen. Es wird sogar vermutet, daß rechtsseitige Störungen bei Rechtshändern gewöhnlich nur nach beidseitigen Läsionen auftre-

3.5.6 Lern- und Gedächtnisstörungen Patienten mit Hirnschädigungen klagen sehr häufig über Gedächtnisprobleme. Es muß hier aber sorgfältig zwischen Schwierigkeiten im Behalten und Erinnern unterschieden werden, die als Folge von allgemeinen Konzentrations- und Leistungsstörungen auftreten, und den Gedächtnisstörungen oder Amnesien als eigenständigen neuropsychologischen Syndromen. Bezogen auf den Zeitpunkt einer Erkrankung oder eines Traumas unterscheiden wir im klinischen Bereich zwischen retrograden und anterograden Amnesien. Bei den retrograden Amnesien handelt es sich um Gedächtnisverluste für Ereignisse vor dem Beginn einer Erkrankung oder dem Zeitpunkt eines Unfalls. Bei der anterograden Amnesie können nach diesem Zeitpunkt keine neuen Gedächtnisinhalte mehr gespeichert werden. Dies ist gleichbedeutend mit einer Lernstörung, die jedoch zumeist nicht alle Bereiche des Lernens umfaßt. Die normale Gedächtnisuntersuchung umfaßt Prüfungen zum Kurzzeitgedächtnis und zum Langzeitgedächtnis.

Die Vernachlässigung oder Extinktion betrifft häufiger die linke Raumhälfte —»zumeist rechtshemisphärische parietale Läsionen (bei Defekten der rechten Raumhälfte werden beidseitige Läsionen vermutet).

Lern- und Gedächtnisstörungen Die Diagnose einer Gedächtnisstörung setzt voraus, daß andere kognitive Funktionen relativ intakt sind.

• Retrograde Amnesie: Gedächtnisverluste für Inhalte, die vor dem Zeitpunkt einer Erkrankung oder eines Traumas erlebt oder wahrgenommen wurden; • Anterograde Amnesie: Probleme beim Behalten von Ereignissen und Wahrnehmungen nach dem Zeitpunkt des Traumas.

Kurz- und Langzeitgedächtnis sind psychologische Arbeitshypothesen über unterschiedliche hypothetische Zustände oder Prozesse.

3.5.6.1 Kurzzeitgedächtnisstörungen

Kurzzeitgedächtnisstörungen

Bestimmung der unmittelbaren Gedächtnisspanne Vor der Prüfung des Kurzzeitgedächtnisses muß die unmittelbare Gedächtnisspanne bestimmt werden. Da hierbei nur verlangt wird, dargebotene Informationen ohne weitere Bearbeitung sofort wiederzugeben, spricht man auch von einer Prüfung der Aufmerksamkeitsspanne oder psychischen Präsenzzeit. Die Untersuchung der unmittelbaren Gedächtnisspanne erfolgt zumeist dadurch, daß der Patient gebeten wird, zunehmend längere Zahlenreihen nachzusprechen. Da die Leistung von der Zeitvorgabe abhängt, ist es außerordentlich wichtig, die Zahlen immer mit der gleichen Geschwindigkeit vorzusprechen und nicht etwa kürzere Serien langsam und längere Serien in schnellerem Tempo. Wenn beim Nachsprechen von Zahlenreihen Probleme auftauchen, ist zu vermuten, daß allgemeine Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen vorliegen. Dies ist bei der weiteren Untersuchung von Gedächtnisfunktionen zu berücksichtigen. Insbesondere bei der Prüfung auf anterograde Amnesie kann es allein dadurch zu Schwierigkeiten in der Bestimmung der Gedächtnis- und Lernleistung kommen, daß bereits bei der Aufnahme von Information gravierende Probleme bestehen. In den meisten Fällen eines eigenständigen amnestischen Syndroms ist die unmittelbare Gedächtnisspanne nicht beeinträchtigt.

Die unmittelbare Gedächtnisspanne oder Aufmerksamkeitsspanne ist nicht gleichbedeutend mit Kurzzeitgedächtnis. Die Beurteilung der Gedächtnisleistungen setzt eine intakte unmittelbare Gedächtnisspanne voraus (beispielsweise sollten vier oder mehr Zahlen nachgesprochen werden können).

272

Neuropsychologische Syndrome

Kurzzeitgedächtnis: Hypothetischer Zustand oder Speicher, in dem eine aktuelle Bearbeitung des Materials stattfindet (—» Arbeitsgedächtnis).

Prüfung des Kurzzeitgedächtnisses Bei der Prüfung des Kurzzeitgedächtnisses werden relativ wenige verbale, nicht-verbale sowie sinnvolle und sinnfreie Materialien in den verschiedenen Sinnesmodalitäten dargeboten. Der Patient m u ß dann nach kurzer Zeit die Inhalte frei reproduzieren oder unter mehreren Vorgaben wiedererkennen.

Langzeitgedächtnisstörungen

3.5.6.2 Störungen des Langzeitgedächtnisses

Konsolidierung: Hypthetischer Prozeß der Gedächtnisverfestigung; länger konsolidierte Inhalte sind resistenter gegen Verges-

Untergliederung des Langzeitgedächtnisses - Gegenwartsgedächtnis, - Altgedächtnis,

Verbales Gedächtnis - bildhaftes Gedächtnis, Semantisches Gedächtnis - episodisches Gedächtnis, Deklaratives Gedächtnis (was?) - prozedurales Gedächtnis (wie?), Bewußtes Wissen - unbewußtes Wissen (Gewohnheiten), Autobiographisches Gedächtnis.

Im klinischen Bereich versteht man unter dem Langzeitgedächtnis häufig das Gedächtnis, in dem die Inhalte bereits eine bestimmte Festigkeit und Resistenz gegenüber störenden Einflüssen erreicht haben. Mit der Verarbeitung im Kurzzeitgedächtnis vermutet man, daß die Konsolidierung (Verfestigung) des Gedächtnisinhaltes beginnt. Dieser hypothetische Prozeß besteht aus der bewußten Verarbeitung des Materials (zum Beispiel können semantische, bildhafte, zeitlich-ordnende Assoziationen gebildet werden) wie auch aus weiteren, in stärkerem Maße zeitabhängigen Vorgängen. Die Tatsache, daß bestimmte Zeitabschnitte und bestimmte Materialien auf unterschiedliche Art und Weise von Gedächtnisstörungen betroffen sein können, deutet an, daß der Konsolidierungsprozeß trotz individueller Unterschiede gewissen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Z u m einen sind ältere (länger konsolidierte) Gedächtnisinhalte im allgemeinen resistenter gegen Störungen als jüngere Gedächtnisinhalte. Man spricht hier von einem zeitlichen Gradienten des Langzeitgedächtnisses. Auch solche mit besonderen Emotionen oder vielfachen zeitlich-situativen Assoziationen verbundene Inhalte sind weniger leicht störbar als neutrale und vereinzelte (aber auch nicht durch Isolation auffallende) Gedächtnisinhalte. Untergliederung des Langzeitgedächtnisses Spezifische Verluste und Unterschiede in der experimentellen Beeinflußbarkeit haben dazu geführt, innerhalb des Langzeitgedächtnisses weitere Unterteilungen vorzunehmen. So gibt es deutliche Unterschiede zwischen dem, was man als Gegenwartsgedächtnis bezeichnen kann, und einem Altgedächtnis. Das Gegenwartsgedächtnis umfaßt eine variable Zeitspanne, bis zu Stunden, Tagen und Wochen, je nach Art des Gedächtnismaterials. Es kann sich dabei zum Beispiel um die Ereignisse des Tagesablaufs handeln, also Inhalte aus kürzeren chronologischen Abschnitten, aber auch u m tagespolitische Ereignisse, bestimmte längere Zeit bestehende Lebenssituationen und länger nachwirkende Erlebnisse. Es ist gewissermaßen das Alltagsgedächtnis, das uns das Bewußtsein einer Kontinuität in der Gegenwart und damit auch der eigenen Identität vermittelt. Die einzelnen Gedächtnisinhalte können für eine bestimmte Person während einer gewissen Zeitspanne von Bedeutung sein, danach aber teilweise oder fast vollständig vergessen werden oder zumindest sehr viel an Detail verlieren. Das Altgedächtnis setzt sich aus dem zusammen, was vom Gegenwartsgedächtnis übrigbleibt. Auch die Inhalte des Altgedächtnisses verändern sich ständig. Im Laufe der Zeit kommt es zu systematischen Vereinfachungen und Verzerrungen. Weitere Unterscheidungen des Gedächtnisses kann man nach Art des Materials vornehmen. Z u m Beispiel wird zwischen dem Gedächtnis für verbales und bildhaftes Material oder auch zwischen einem semantischen Gedächtnis für Faktenwissen (gewissermaßen Inhalte eines internen Lexikons) und einem episodischen Gedächtnis unterschieden. Eine andere Unterscheidung wird zwischen deklarativen (über das „Was") und prozeduralen Gedächtnisinhalten (über das „Wie") getroffen. Von anderen Forschern wird in ähnlicher Weise das bewußte Wissen von unbewußten Gedächtnisinhalten (Gewohnheiten und erlernten Verhaltensweisen [ha-

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Spezifische funktionelle Syndrome bits]) getrennt. Und schließlich gibt es noch die Abgrenzung eines sogenannten autobiographischen Gedächtnisses für Inhalte, die in einer besonderen Beziehung zur eigenen Person stehen. Diagnostik anterograder und retrograder Störungen des Langzeitgedächtnisses Für die routinemäßige Untersuchung anterograder Störungen empfiehlt sich ein standardisiertes Verfahren, beispielsweise der Lern- und Gedächtnistest von Bäumler (LGT-3). Bei der Untersuchung mit Hinblick auf mögliche retrograde Gedächtnisstörungen beziehen sich die Fragen auf bereits vor der Erkrankung gespeicherte Gedächtnisinhalte. Naturgemäß kommt hierbei der fremdanamnestischen Erhebung eine besondere Bedeutung zu. Der Vergleich mit fremdanamnestischen Daten ist besonders wichtig, wenn dem Patienten überhaupt keine Gedächtnisprobleme bewußt sind oder er solche sogar abstreitet. In diesen Fällen (und zumeist nur in solchen Fällen) zeigen die Patienten häufig eine Tendenz zu konfabulieren.

3.5.6.3 Amnestische Syndrome

Diagnostik anterograder Störungen des Langzeitgedächtnisses Diagnostik retrograder Störungen des Langzeitgedächtnisses

Tendenz zur Konfabulation besteht zumeist nur bei neuropsychologischen Patienten, die sich ihrer Gedächtnisstörung nicht bewußt sind. Amnestische Syndrome

Als amnestische Syndrome bezeichnet man alle Gedächtnisstörungen, die nicht auf allgemeine Konzentrations- und kognitive Leistungsstörungen zurückzuführen sind. Das heißt, daß bei der neuropsychologischen Untersuchung im Vergleich der verschiedenen Testleistungen Leistungseinbrüche nur bei den Gedächtnistests oder bei Tests, die Gedächtnisleistungen voraussetzen, auftreten sollten. Diese Syndrome lassen sich wiederum in globale amnestische Störungen und in Teilgedächtnisstörungen sowie transiente und länger dauernde, bzw. permanente oder progrediente Störungen, einteiBei den globalen Amnesien treten vor allem anterograde Störungen für alle Modalitäten und Gedächtnismaterialien sowie variable retrograde Gedächtnisprobleme auf. Teilgedächtnisstörungen sind Probleme des Gedächtnisses für bestimmte Materialien. So können anterograde Störungen beispielsweise vor allem bei verbalem Lernstoff oder retrograde Amnesien besonders deutlich für episodische Gedächtnisinhalte auftreten. Alle amnestischen Störungen lassen sich auf Verletzungen von limbischen Strukturen zurückführen und globale Amnesien immer auf bilaterale Herde. Die häufigsten Ursachen sind basiläre Zirkulationsstörungen, insbesondere Infarkte der A. c. posterior. Die limbischen Strukturen scheinen überhaupt besonders empfindlich auf Versorgungsschwierigkeiten zu reagieren, so daß hier bei generellen anoxischen, anämischen oder histotoxischen Störungen umfangreiche Schädigungen beobachtet werden. Schließlich ist der mediale Temporalbereich sowie der orbitofrontale Kortex aufgrund der inneren Form der Schädelbasis auch bei Schädelhirntraumen besonders häufig betroffen, sei es durch direkte Verletzungen der Hirnsubstanz oder durch Gefäßabrisse und Blutungen. Telenzephale amnestische Syndrome Globale Amnesien nach bilateralen Temporallappenschädigungen (Scoville-Milner-Syndrom) - Die meisten globalen Amnesien sind mit beidseitigen Läsionen des medialen Temporallappens verbunden. A m ausführlichsten sind die Ausfälle beschrieben worden, die als Folge einer beidseitigen chirurgischen Läsion des Hippocampus, der Amygdala und benachbarter kortikaler Bereiche auftreten. Ähnlich schwere Amnesien werden als Folge von bilateralen Infarkten im Bereich der A. c. posterior beobachtet.

Globale Amnesien;

Teilgedächtnisstörungen.

Alle amnestischen Störungen hängen mit Läsionen des limbischen Systems zusammen. Bei globalen Amnesien liegen rechts- und linkshemisphärische Schädigungen vor.

Telenzephale Amnesien • Scoville-Milner-Syndrom: Globale Amnesie nach beidseitigen medialen Temporallappenschädigungen; Ursachen; Beidseitige chirurgische Läsionen im Bereich der Amygdala und des Hippocampus; bilaterale Infarkte im Bereiche der A. cerebri posterior; enzephalitische Erkrankungen; degenerative Erkrankungen;

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Neuropsychologische Syndrome Enzephalitische Erkrankungen können ebenfalls zu schweren Schädigungen des limbischen Systems und zu relativ isolierten amnestischen Syndromen führen, solange die Läsionen einigermaßen auf mediale temporale Bereiche beschränkt bleiben. Zumeist sind jedoch größere Bereiche des Temporallappens geschädigt, so daß gleichzeitig schwere emotionale und kognitive Störungen vorliegen (siehe auch unter hirnlokalen Syndromen). Auch {lie im Zusammenhang mit degenerativen Erkrankungen, wie der Alzheimer· oder Pick-Krankheit, auftretenden Gedächtnisdefekte werden mit Läsionen im medialen Temporalbereich in Verbindung gebracht. Bei der Alzheimerschen Krankheit vermutet man bezüglich der Gedächtnisausfälle außer den pathologischen Veränderungen in hippocampalen und parahippocampalen Strukturen auch Beeinträchtigungen der gesamten cholinergen Innervation des limbischen Systems. Im Unterschied zu den infarktbedingten amnestischen Syndromen, zeigen die Gedächtnisstörungen bei den degenerativen Erkrankungen einen allmählichen Beginn: So gehört auch zu den ersten Verhaltensauffälligkeiten bei der Alzheimer-Krankheit eine zunehmende Vergeßlichkeit für alltägliche Ereignisse. Während bei einigen Patienten im späteren Verlauf der Krankheit aphasische oder apperzeptiv agnostische Defizite im Vordergrund stehen, kann bei anderen Alzheimer-Patienten ein amnestisches Syndrom für einige Jahre die wesentliche Störung ausmachen.

• Frontale Gedächtnisstörungen: Vor allem anterograde Gedächtnisstörungen nach orbitofrontalen and Septum verum Läsionen; Ursache: Infarkte im Bereich der A.communicans anterior, Tumoren und Schädelhirntraumata.

Gedächtnisstörungen nach Fornixläsionen und Kommissurotomien sind noch nicht eindeutig nachgewiesen.

Amnestische Störungen nach Läsionen in anderen telenzephalen Strukturen: Weitere amnestische Störungen werden im Zusammenhang mit Läsionen des Frontalhirns, zumeist der basalen bzw. orbitofrontalen Regionen, beschrieben. Die Ursache hierfür können Tumoren in hypothalamischen, septalen und kaudalen orbitofrontalen Regionen sowie ischämische und hämorrhagische Infarkte der A. communicans anterior sein oder aber Verletzungen, die in diesen Bereichen durch notwendige chirurgische Eingriffe, beispielsweise zur Behandlung von Tumoren oder Gefäßanomalien, entstanden sind. Eine besondere Bedeutung wird Läsionen im Bereich des präkommissuralen Septums (Septum verum) zugeschrieben. Einige der hier lokalisierten Nuclei (zum Beispiel N. s. mediale, N. des Brocaschen Diagonalbandes und des N. basalis von Meynert) enthalten Zellen, von denen man vermutet, daß sie die cholinerge Innervation der Hirnrinde sicherstellen. Sehr widersprüchliche Ergebnise liegen über chirurgische und pathologische Läsionen der Fornix vor. Einig ist man sich lediglich darüber, daß einseitige Schädigungen zu keinen Gedächtnisdefiziten führen. Aber auch nach bilateralen Läsionen gibt es ebenso viele positive wie negative Befunde bezüglich amnestischer Ausfälle. Schließlich sei noch erwähnt, daß bei Patienten, bei denen zur Therapie ihrer Epilepsie eine Kommissurotomie durchgeführt worden war, Verschlechterungen der Gedächtnisleistungen festgestellt wurden.

Dienzephale Amnesien

Dienzephale Amnesien Vor allem Läsionen der anterioren und medio-dorsalen Thalamuskerne sowie der Mamillarkörper werden mit dienzephalen amnestischen Syndromen in Verbindung gebracht.

Beidseitige thalamische Infarkte können zu schweren globalen Amnesien führen; kritische Region: dorsomedialeThalamuskerne.

Amnesien nach thalamischen Läsionen: Die Bedeutung des Thalamus für Gedächtnisfunktionen wird durch einzelne Fälle mit dorso-medialen Thalamusschäden und durch Befunde bei beidseitigen Infarkten insbesondere wiederum im Bereich der dorso-medialen Thalamuskerne gestützt. Diese sind ausnahmslos mit schweren anterograden und retrograden Amnesien verbunden. Gedächtnisdefizite sind auch als Nebenwirkungen bei psychochirurgischen Eingriffen, insbesondere bei bilateralen dorsomedialen Thalamotomien beschrieben worden. Vor allem die zeitliche Ordnung des Gegenwartsgedächt-

Spezifische funktionelle Syndrome

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nisses scheint hierbei zumindest zeitweise massiv gestört zu sein. Im Unterschied zu den krankheitsbedingten Schädigungen treten die Auswirkungen stereotaktischer Läsionen im Thalamus oft nur vorübergehend auf. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, daß bei chirurgischen Eingriffen die kritischen Bereiche nur teilweise zerstört wurden. Amnesien nach hypothalamischen Läsionen: Hypothalamische Läsionen, vor allem aufgrund von Tumoren im Bereich des III. Ventrikels, können ebenfalls zu Gedächtnisstörungen fuhren.

Hypothalamische Amnesien sind umstritten, da gleichzeitig Aufmerksamkeits- und Bewußtseinsstörungen auftreten.

Korsakoff-Syndrom (Korsakow-Syndrom): Das Korsakoff-Syndrom ist durch eine Reihe von Störungen gekennzeichnet, die sich im Verlauf der Erkrankung in unterschiedlicher Ausprägung zeigen können. A m Anfang können neurologische Anzeichen, wie Augenbewegungs- und ataktische Störungen, im Vordergrund stehen. Gedächtnisprobleme werden verleugnet oder verniedlicht. In diesem Stadium sind Konfabulationen besonders häufig. Einige Patienten werden erst durch den gewöhnlich als nächstes auftretenden Zustand schwerer Verwirrtheit und Desorientiertheit auffällig. Erst nach dieser akuten Phase der Erkrankung zeigen die Patienten die charakteristische, relativ isolierte Amnesie. Typischerweise kommt es zu einer schweren anterograden und variablen retrograden Amnesie bei möglicherweise gut erhaltener Intelligenz.

• Korsakoff-Syndrom: Globale Amnesie bei ansonsten gut erhaltener Intelligenz; Besonders betroffen sind verbales und episodisches Gegenwartsgedächtnis; Altgedächtnis relativ intakt; Konfabulationen nicht typisch für das chronische amnestische KorsakoffSyndrom; Ursache: Langjähriger Alkoholabusus und Thiamindefizit sowie noch nicht genau definierte genetische Prädisposition; Läsionen im Bereich des Nucleus medialis dorsalis und des Corpus mamillare.

Das verbale Gedächtnis scheint besonders stark betroffen zu sein. Je weniger verbale Mediation bei den Gedächtnistests verlangt wird, u m so geringer ist der Leistungsabfall im Vergleich zu Kontrollgruppen. Bei sensomotorischen Aufgaben sind oft keine oder nur geringfügige Einbußen festzustellen. Einen weiteren Unterschied findet man zwischen semantischen und episodischen Gedächtnismaterialien. Letzteres ist im Vergleich zum ersteren besonders stark beeinträchtigt. Es ist, als ob die Patienten nicht in der Lage sind, das, was sie wahrnehmen, mit zeitlichen Markierungen zu versehen und so die chronologische Einordnung von Gedächtnisinhalten vorzunehmen. Sie können nicht beurteilen, welches von zwei Ereignissen früher oder später war oder wie häufig bestimmte Ereignisse vorkamen. Es ist anzunehmen, daß durch das Fehlen von zeitlichen Zusatzinformationen auch die Unterscheidung zwischen ähnlichen Ereignissen beeinträchtigt wird. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, daß Korsakoff-Patienten besonders anfällig für proaktive Interferenz sind. Das heißt, daß jeweils zuvor Wahrgenommenes oder Gelerntes das Nachfolgende negativ beeinträchtigt. Bei Korsakoff Patienten bestehen auch sehr stark ausgeprägte retrograde Störungen mit einem zeitlichen Gradienten. Jüngere Gedächtnisinhalte sind also stärker betroffen als ältere. Das Gedächtnis für frühe Lebensabschnitte wird als relativ gut erhalten betrachtet. Mittlerweile stimmt man darin überein, daß Konfabulationen für die Amnesie im chronischen Stadium dieser Erkrankung nicht typisch sind. Die Prognose mit Hinblick auf die amnestischen Beeinträchtigungen ist relativ schlecht. Bisher wurden bei Patienten, bei denen sowohl eine WernickeEnzephalopathie und eine alkoholische Demenz (beide mit wesentlich besserer Prognose bezüglich der Gedächtnisstörungen) ausgeschlossen werden konnte, keine wesentlichen Verbesserungen beobachtet. Teilgedächtnisstörungen Wie bereits kurz erwähnt wurde, können sowohl materialspezifische als auch modalitätsspezifische Teilstörungen des Gedächtnisses auftreten. A m besten erforscht sind die materialspezifischen Störungen nach einseitigen temporalen Lobektomien. Hierbei zeigen Patienten, die am linken Temporallappen operiert worden waren, Gedächtnisprobleme mit verbalem Material, während die rechtsseitig operierten beim Wiedererkennen von Gesichtern und sinn-

Teilgedächtnisstörungen - Materialspezifische Gedächtnisstörungen,

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freien Formen und Mustern sowie beim Erlernen eines Labyrinths Schwierigkeiten hatten. Vergleichbare materialspezifische Gedächtnisstörungen sind auch bei Epileptikern mit einseitigen temporalen fokalen Herden beschrieben worden. Desgleichen gibt es ähnliche Berichte über die Auswirkungen von einseitigen elektrokonvulsiven Behandlungsserien bei psychiatrischen Patienten. Modalitätsspezifische Gedächtnisstörungen,

Modalitätsspezifische Gedächtnisstörungen sind für visuelle und für taktile Aufgaben beschrieben worden. Sie werden zumeist auf Unterbrechungen zwischen den entsprechenden sensorischen kortikalen Bereichen und den medialen temporalen Strukturen zurückgeführt.

Transiente Gedächtnisstörungen

Transiente Gedächtnisstörungen Die Bezeichnung einer Gedächtnisstörung als transient ist vieldeutig. Teilweise bedeutet dies nur, daß der krankhafte Zustand, der einer zumeist globalen Amnesie zugrunde liegt, zeitlich begrenzt ist. Aber für die Ereignisse während dieser akuten Phase ist die Amnesie permanent.

• Transitorische globale Amnesie (TGA): Vorübergehende anfallsartige globale Gedächtnisstörung; Dauer zumeist nicht länger als ein Tag; durch Anstrengung oder Stress ausgelöst; auch nach Vertebralis-Angiographien; Ursache: zeitweise basiläre Zirkulationsstörung, bzw. vaskuläre Tonusstörung.

Transitorische globale Amnesie (TGA): Die transitorische globale Amnesie ist eine vorübergehende schwere Gedächtnisstörung mit einer Dauer von wenigen Stunden bis einigen Tagen. In der Mehrzahl der Fälle kommt es spätestens nach einem Tag zu einer allmählichen Rückbildung der Gedächtnisstörung. Die meisten Patienten sind Männer im Alter zwischen 50 und 70 Jahren. Die Störung besteht aus einer totalen anterograden Amnesie, die anfallsartig auftritt, häufig unter erhöhtem Stress und emotionaler oder körperlicher Belastung. Auch während und nach arteriellen Injektionen, beispielsweise zur Angiographie, wurden Fälle von TGA beobachtet. Während der transitorischen globalen Amnesie sind die intellektuellen Funktionen im allgemeinen nicht direkt gestört, und es können relativ komplexe Verhaltensweisen ausgeführt werden. Auch sind gewöhnlich keine zusätzlichen neurologischen Ausfälle beobachtet worden. Der Patient ist jedoch zeitlich und zumeist auch räumlich desorientiert sowie sehr stark beunruhigt und verwirrt über das, was mit ihm geschieht. Trotz der zumeist relativ schnellen Besserung werden häufig noch nach Tagen und Wochen Beeinträchtigungen der Gedächtnisleistung beobachtet. In einigen Untersuchungen wurden herabgesetzte Leistungen auch noch nach Monaten gefunden, was für eine permanente Schädigung in medialen temporalen Bereichen sprechen würde. Im Vergleich zur retrograden Amnesie während des Anfalls, die über Jahre zurückreichen kann, bleibt sie nach dem Anfall im Mittel auf die letzte Stunde vor Beginn der TGA beschränkt. Die Schrumpfung der retrograden Amnesie folgt einem zeitlichen Gradienten, so daß frühe Erinnerungen zuerst zurückkommen. Für die Ereignisse während der TGA bestehen keine Erinnerungen. Es wird vermutet, daß die Ursache in einer vorübergehenden basilären Zirkulationsstörung bzw. vaskulären Tonusstörungen zu suchen ist. Das Auftreten von TGAs, insbesondere nach Injektionen in die A. vertebralis, scheint diese A n n a h m e zu stützen. Daß dabei letztlich mediale temporale Bereiche besonders beeinflußt werden, zeigen Untersuchungen, in denen mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie, während der TGA eine reduzierte metabolische Aktivität in diesen Regionen festgestellt werden konnte. Weder kardiovaskuläre Risikofaktoren, noch Anfallsleiden und intrakranielle pathologische Prozesse konnten als prognostische Indikatoren bestätigt werden. Z u d e m bleibt es in der Mehrzahl bei einem einzigen Anfall von TGA und dieser ist kein Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für einen nachfolgenden Hirninfarkt.

Spezifische funktionelle Syndrome Gedächtnisstörungen nach diffusen oder multiplen Hirnschädigungen Traumatische Amnesien: Eine gewisse Ähnlichkeit zu den bereits beschriebenen amnestischen Syndromen ergibt sich dadurch, daß auch bei traumatischen Amnesien überwiegend Schädigungen des limbischen Systems angen o m m e n werden können. Besonders häufig sind Läsionen im Bereich des orbitofrontalen Kortex und der temporalen Pole. In vielen Fällen besteht während einer gewissen Zeitspanne nach dem Trauma eine anterograde Amnesie wie auch eine retrograde Gedächtnisstörung. Man spricht hier auch von einer posttraumatischen Amnesie. Der Schweregrad der anterograden Störung ist zumeist mit dem Umfang der retrograden Ausfälle korreliert. In vielen Fällen sind mit dem Trauma Bewußtseinstrübungen oder komatöse Zustände verbunden. Zwischen Dauer und Schweregrad einer Bewußtlosigkeit, bzw. eines komatösen Zustandes und der Dauer und dem Schweregrad der posttraumatischen Amnesie besteht eine positive Korrelation.

277 Gedächtnisstörungen nach diffusen oder multiplen Hirnschädigungen • Traumatische Amnesie Posttraumatische Amnesie: Gedächtnisprobleme (retrograde wie anterograde Störungen), die für eine gewisse Zeitdauer nach einem Trauma vorliegen.

Pharmakogene Amnesien (vgl. 2.1.3.2): A m bekanntesten sind transiente amnestische Zustände mit einer Dauer von zumeist wenigen Stunden, insbesondere nach intravenöser Applikation von Benzodiazepinen. Es wird ferner angenommen, daß Anticholinergika, wie beispielsweise Scopolamin, amnestische Syndrome hervorrufen können. Dies wird als eine Bestätigung dafür aufgefaßt, daß Gedächtnisdefizite mit cholinergen Störungen verbunden sind.

Pharmakogene Amnesien

Gedächtnisstörungen im Alter Bei älteren Personen bestehen häufig Probleme der differentialdiagnostischen Abgrenzung verschiedener Gedächtnisstörungen. Außer der Möglichkeit von isolierten amnestischen Syndromen, beispielsweise nach Infarkten, und von Störungen im Rahmen einer progredienten Demenz, kann es auch zu reaktiven Depressionen mit Gedächtnisstörungen kommen. Sehr häufig klagen ältere Patienten über ganz bestimmte Probleme, so zum Beispiel, daß sie besonders mit N a m e n und Einzelheiten von Ereignissen Schwierigkeiten hätten, obwohl sie sich an die Ereignisse selbst gut erinnern könnten. Häufig sind die Gedächtnisleistungen dieser Patienten sehr gut, wenn bestimmte Hinweisreize auf das zu erinnernde Material gegeben werden. Oft fällt ihnen auch zu einem späteren Zeitpunkt spontan ein, was sie vorher nicht erinnern konnten. Solange es zu keiner weiteren Verschlechterung anderer kognitiver Leistungen kommt, betrachtet man diese Störungen als „normale" altersbedingte Abrufstörungen des Gedächtnisses.

Gedächtnisstörungen im Alter

Gedächtnisstörungen im Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen Neben den sogenannten psychogenen Amnesien, die von Fluchtverhalten mit eingeschränkten Bewußtseinszuständen und Verlust der eigenen Identität nach psychologischen Traumen bis zu Verdrängungsphänomenen reichen, und hier nicht näher beschrieben werden können, ist gerade auch wegen der differentialdiagnostischen Bedeutung die Frage nach Gedächtnisstörungen bei Depressionen von großer Bedeutung. Die wissenschaftlichen Daten hierzu sind sehr widersprüchlich. Insgesamt jedoch scheint sich abzuzeichnen, daß die Gedächtnisprobleme bei Depressiven mit zentralen motivationalen Defiziten zusammenhängen.

Gedächtnisstörungen im Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen Psychogene Amnesien Gedächtnisprobleme bei Depressionen werden mit zentralen motivationalen Störungen in Verbindung gebracht.

Neuropsychologische Syndrome

278 Hirnlokale Syndrome

3.6 Hirnlokale Syndrome (vgl. 2.2.2)

Neuropsychologische Ausfälle, die mit Läsionen in bestimmten Abschnitten des Gehirns in Verbindung gebracht werden.

Verhaltensänderungen, die nach Schädigungen bestimmter Teile des Gehirns auftreten, können zu hirnlokalen Syndromen zusammengefaßt werden. Je nachdem, wie groß die einzelnen Bereiche der lokalisatorischen Untergliederung ausfallen, werden solche Syndrome funktional ähnliche oder funktional sehr unterschiedliche und eigenständige neuropsychologische Störungen beinhalten. Zumeist wird zwischen kortikalen und subkortikalen bzw. telenzephalen und dienzephalen Syndromen unterschieden. Die telenzephalen Ausfälle lassen sich wiederum nach der Lokalisation in den vier Hirnlappen untergliedern.

Frontalhirnsyndrom

3.6.1 Frontalhirnsymptome (vgl.2.2.2.1.1 und 2.2.2.1.2)

Störungen in der Persönlichkeit und im Leistungsverhalten, die durch fehlenden Antrieb und defekte selektive Hemmung gekennzeichnet sind.

Wenn man ein einheitliches Frontalhirnsyndrom definieren wollte, so müßte man es als Störungen in der Persönlichkeit und im Leistungsverhalten umschreiben, die durch fehlenden eigenen Antrieb und defekte selektive H e m m u n g gekennzeichnet sind. Die Persönlichkeitsstörungen reichen von Störungen der Motivation und der Aktiviertheit, die sich in fehlender Spontanität, genereller Tatenlosigkeit und mangelndem Interesse äußern können, bis zu massiven schizoiden und depressiven Veränderungen sowie sozial unangepaßtem Verhalten. Sowohl die Entscheidungsfähigkeit wie die Urteilsfähigkeit sind beeinträchtigt. Die Patienten scheinen weder eine Vorstellung von den Konsequenzen ihres aktuellen Verhaltens zu haben, noch scheinen sie sich Gedanken über zukünftige mögliche Auswirkungen einer Verhaltensentscheidung zu machen.

-

Antriebs- und Planlosigkeit Desinteresse sozial unangepaßtes Verhalten emotionale Labilität emotionale Flachheit vereinfachende Wahrnehmung Perseverationstendenz

Typisch sind auch Probleme in der Kontrolle der Intensität von emotionalem Verhalten, was sich in Wutanfällen äußern kann, die durch geringfügige Ereignisse ausgelöst, aber durch Ablenkung auch relativ schnell wieder beendet werden können. Auch die Flachheit in den Reaktionen auf emotionale Reize, unter anderem auch auf Schmerzreize, gilt als typische Verhaltensänderungen nach frontalen Läsionen. Schließlich wird nach beidseitigen Läsionen auch von einer emotionalen Labilität berichtet sowie von unvermitteltem und durch die augenblicklichen Gefühle nicht motiviertes Lachen oder Weinen. Im Leistungsverhalten zeigen sich Wahrnehmungs- und Handlungsdefizite, die sowohl durch Defizite der Motivation und Aktivation als auch der motorischen Steuerung beeinflußt sind. Komplexere Reizvorgaben werden nur unvollständig wahrgenommen und häufig werden gerade die wichtigsten Einzelheiten nicht erkannt. Für die frontalhirngeschädigten Patienten ist ebenso typisch, daß sie sich nicht von der Reizvorgabe lösen können. So wiederholen sie beispielsweise Zahlenreihen, die sie rückwärts wiedergeben sollten, in der gleichen Reihenfolge, wie sie der Untersucher vorgab. Und wenn sie gebeten werden, zweimal zu klopfen, wenn der Untersucher einmal klopft, bzw. umgekehrt, einmal bei zweimaligem Klopfen, dann folgen sie nur der Vorgabe durch den Untersucher. Auch die anderen Handlungsdefizite frontalgeschädigter Patienten können durch fehlende selektive Hemmung und Perseverationen gekennzeichnet sein. Teilweise werden richtige Lösungen von Anfang an dadurch blockiert, daß zuvor gezeigte Verhaltensweisen persevieren. Die Planung sequentieller Handlungen und die korrekte Ausführung in der richtigen Reihenfolge werden dadurch besonders beeinträchtigt. So haben die Patienten (vor allem solche mit linkshemisphärischen Läsionen) besondere Schwierigkeiten mit einem Test, bei dem verschiedene, vom Untersucher in einer bestimmten

Hirnlokale Syndrome Reihenfolge vorgegebenen, Hand- und Fingerstellungen nachgeahmt werden sollen. Andere Defizite scheinen durch Schwierigkeiten im Antrieb bedingt zu sein. Bewegungen werden nur angedeutet oder nur einseitig ausgeführt (Hemihypokinese) oder bestimmte Bewegungen, beispielsweise die Augen geschlossen zu halten oder die Zunge herausgestreckt zu lassen, können nur sehr kurz aufrecht erhalten werden (motor. Ausdauerschwäche). Sowohl Antriebsschwächen wie Probleme der Interferenz können dafür verantwortlich sein, wenn Patienten mit frontalen Hirnschäden Aufgaben beginnen, aber dann scheinbar den Faden verlieren und aufgeben. Als motorische Antriebsschwäche im Zusammenhang mit frontalen Läsionen wären hier auch die gliedkinetische Apraxie und die Gangapraxie zu nennen. Die Gedächtnisdefizite nach frontalen Läsionen lassen sich ebenfalls am ehesten durch Probleme der zeitlichen Ordnung und fehlenden H e m m u n g erklären. So können die Patienten zwar gute Wiedererkennungsleistungen zeigen, aber beispielsweise nicht sagen, welcher von zwei Reizen ihnen zuerst dargeboten wurde. Die sprachlichen Defizite nach frontalen Läsionen können denen der motorischen Leistungsveränderungen sehr ähnlich sein. So wird bei medialen Läsionen und bei degenerativen Erkrankungen wie der Pick-Krankheit, die im Anfang besonders frontale Regionen betreffen können, fehlendes Spontanverhalten wie auch dürftige Spontansprache bis hin zum Mutismus beobachtet. Nach lateralen Läsionen sind die Ausfälle der Broca-Aphasie zu finden.

279

Hemihypokinese motorische Ausdauerschwäche gliedkinetische Apraxie Gangapraxie Gedächtnisprobleme

Mutismus Broca-Aphasie

3.6.2 Parietalhirnsymptome (vgl. 2.2.2.1.6)

Parietalhirnsyndrome

Im parietalen Kortex befinden sich die primären Projektionsgebiete der Somatosensorik sowie multimodale Assoziationsbereiche. Die Ausfälle nach parietalen Läsionen spiegeln diese Situation wider. Häufig reichen die Schädigungen über die Grenzen des Parietallappens hinaus. Dann findet man beispielsweise bei Läsionen in okzipitalen Grenzbereichen visuelle und bei temporo-parietalen Schädigungen auditive Wahrnehmungsstörungen. Wenn die Zerstörungen im Grenzbereich zum linken okzipitalen und temporalen Kortex liegen, kommt es auch zu sprachbezogenen Dysfunktionen. Dagegen sind entsprechende Läsionen der rechten Hemisphäre vorwiegend mit räumlichen Ausfallen verbunden. Motorische Störungen treten auf, wenn die Läsionen frontale Bereiche mit einschließen. Die meisten der hier zu nennenden Störungen sind bereits beschrieben worden (s. auch Kapitel 2), so daß im Folgenden zur Erinnerung nur noch eine Übersicht gegeben wird:

Neuropsychologische Ausfälle nach parietalen Läsionen sind vor allem Defizite der Wahrnehmungen, die durch multisensorische Assoziationen gekennzeichnet und/ oder mit somatosensorischen Funktionen verbunden sind (Stereognostische Störungen, Körperwahrnehmungsstörungen, Störungen der räumlichen Wahrnehmung und Vorstellung).

Parietalhirnsyndrome Somatosensorische Wahrnehmungsstörungen • Taktil-haptische Störungen (Amorphognosie, Ahylognosie) - Taktile Agnosie (überwiegend nach linkshemisphärischen Läsionen) - Apperzeptive Astereognosie und Amorphosynthese (überwiegend nach rechtshemisphärischen Läsionen) • Körperwahrnehmungsstörungen - Autotopagnosie, Fingeragnosie, Rechts-links-Störungen am eigenen Körper (überwiegend nach linkshemisphärischen Läsionen) - Hemiasomatognosie, Anosognosien für halbseitige somato-sensorische Ausfälle, Rechts-Links-Störungen im außerkörperlichen Bereich, Extinktion bei gleichzeitig doppelter Stimulation, Hemineglekt (überwiegend nach rechtshemisphärischen Läsionen)

280

Neuropsychologische Syndrome • Pseudothalamisches Syndrom (spontane Schmerzen und unangenehme Empfindung bei taktiler und thermischer Stimulation) • Verger-Dejerine-Syndrom (Amorphognosie, Ahylognosie, Astereognosie, propriozeptive Wahrnehmungsstörungen) Störungen der räumlichen Wahrnehmung • Störungen der räumlichen Lokalisation u n d Orientierung (überwiegend nach rechtshemisphärischen Läsionen) • Geographisch-topographische Störungen Gerstmann-Syndrom (Fingeragnosie, Reine Agraphie, Rechts-Links-Desorientierung, Dyskalkulie; nach linkshemisphärischen Läsionen) Bei Läsionen im linkshemisphärischen parieto-temporo-okzipitalen Agraphien Amnestische Aphasie Leitungsaphasie Gliedmaßenapraxie Konstruktive Apraxie (linkshemisphärischer Typus)

Grenzbereich:

Bei entsprechenden Läsionen der rechten Hemisphäre: Konstruktive Apraxie (rechtshemisphärischer Typus) Räumliche Dyskalkulie Bei linkshemisphärischen Läsionen im fronto-parietalen Gesichtsapraxie Anosognosie für Schmerz

Temporalhirnsyndrome

Besonders wichtig sind Störungen der Sprache und sprachverwandter Funktionen, Gedächtnisstörungen und emotionale Veränderungen.

Klüver- Bucy-Syndrom

Grenzbereich:

3.6.3 Temporallappensyndrome Störungen des Gedächtnisses, der Sprache sowie der auditiven und visuellen Wahrnehmung nach temporalen Schädigungen wurden bereits ausführlich besprochen. Noch nicht erwähnt wurden die emotionalen Veränderungen, die nach beidseitigen medialen und lateralen Temporallappenschädigungen auftreten u n d als Klüver-Bucy-Syndrom bezeichnet werden. Ursprünglich war dieses Syndrom bei Affen nach bilateralen temporalen Lobektomien beschrieben worden. Z u m klassischen beim Tier beschriebenen Klüver-Bucy-Syndrom gehören: Extreme Zahmheit - Die Tiere zeigen weder Furcht noch Aggression. Objektagnosie - Die Bedeutung von Gegenständen und Lebewesen scheint nicht erkannt zu werden, da alle, auch gefährliche Objekte, exploriert werden. Hyperoralität - Alles wird zum Mund geführt, auch potentiell gefährliche Dinge. Hypermetamorphosis - Leichte Ablenkbarkeit durch den Versuch, jeden sichtbaren Reiz zu greifen. Hypersexualität - Sexuelles Verhalten wird in gesteigertem Maße auf passende wie unpassende Partner oder Objekte sowie auf sich selbst gerichtet. Bei Patienten mit schweren bilateralen Temporalhirnschäden unterschiedlichster Ätiologie, beispielsweise bei degenerativen Erkrankungen wie dem Morbus Pick und der Alzheimer-Krankheit oder traumatischen, enzephalitischen sowie anoxischen Schädigungen, wurden ähnliche Veränderungen beschrieben: zwanghaftes orales Verhalten, sexuelle E n t h e m m u n g und leichte Ablenkbarkeit durch neue Reize sowie emotionale Blandheit und reduzierter Antrieb. Bei diesen Patienten wurden außerdem Gedächtnisstörungen, prosopagnostische Störungen und anfallsartiges unkontrolliertes Eßverhalten (Bulimie) beobachtet.

Hirnlokale Syndrome

281

3.6.4 Okzipitalhirnsyndrome

Okzipitalhirnsyndrome

Schädigungen okzipitaler Hirnbereiche wirken sich vor allem auf die visuelle Wahrnehmung aus (siehe visuelle Wahrnehmungsstörungen). Schlaganfälle im Bereich der A. c. posterior und mediale Läsionen anderer Ätiologie können, je nach Ausdehnung in die angrenzenden parietalen und temporalen Bereiche, Defizite bewirken, die von primären Sehstörungen wie kortikaler Blindheit bis zu apperzeptiven und assoziativen Störungen der visuellen Wahrnehmung reichen. Solche Ausfälle werden aber auch oft durch generelle hypoxische Zustände hervorgerufen, da vor allem die Wasserscheidenbereiche der Hirnarterien und damit auch die striären kortikalen Gebiete von Anoxien besonders stark betroffen sein können.

Störungen der visuellen Wahrnehmung.

3.6.5 Thalamussyndrome

Thalamussyndrome

Die speziellen intellektuellen Fähigkeiten des Menschen und die bei ihm vergleichsweise besonders stark ausgeprägte Entwicklung der Großhirnrinde, vor allem der frontalen und parieto-okzipitalen Assoziationsgebiete, sowie die umfangreichen Nervenfaserverbindungen innerhalb der (Assoziationsbahnen) und zwischen den beiden Hemisphären (Kommissurenbahnen) rechtfertigen es, dem Großhirn eine hervorragende Bedeutung für das menschliche Verhalten zuzuschreiben. Aber darüber sollte nicht vergessen werden, daß sämtliche kortikalen Prozesse mittels afferenter und efferenter Projektionsbahnen in ständiger Wechselbeziehung mit subkortikalen Strukturen ablaufen. Neuroanatomische und neurophysiologische Befunde, die neben den Assoziationsbahnen innerhalb des Kortex auf umfassende Verbindungen aller kortikalen Bereiche mit subkortikalen Strukturen, insbesondere dem Thalamus, hinweisen, stützen ein Modell der verteilten, parallelen Verarbeitung mit einem ständigen Austausch der unterschiedlichsten Informationsaspekte in vielen Bereichen des Gehirns. Diese Vorstellung gewinnt neben der bislang vorherrschenden Ansicht einer sequentiellen, hierarchischen Abarbeitung von Informationen immer mehr an Bedeutung. Klassische Thalamussyndrome Eines der klassischen Thalamussyndrome ist das Dejerine-Roussy-Syndrom, das mit ischämischen Läsionen der thalamischen Relaisnuklei in Verbindung gebracht wird. Es beinhaltet eine vollständige Hemianästhesie, beziehungsweise ein jeweils die ganze Körperhälfte betreffendes somatosensorisches Diskriminationsdefizit, fehlende propriozeptive Empfindungen (der Gliedstellungen) und taktile Lokalisationsprobleme sowie spontane Schmerzen, somatosensorische Hypersensibilität und Chorea. Vergleichbare Störungen treten nach parietalen Läsionen auf und werden als pseudo-thalamisches Syndrom beschrieben. Ein anderes klassisches Syndrom ist die thalamische Demenz, die durch bilaterale Zerstörung der medialen Thalamuskerne bedingt zu sein scheint. Ischämische Läsienen, Tumoren und degenerative Prozesse, beispielsweise im Rahmen eines Creutzfeldt-Jakob-Syndroms, sind die häufigsten Ursachen. Einzelne neuropsychologische Ausfälle nach thalamischen Läsionen Im Zusammenhang mit thalamischen Läsionen können Sprach- und Gedächtnisstörungen auch als eigenständige neuropsychologische Störungen auftreten. Bereits beschrieben wurden die amnestischen Störungen nach dorsomedialen Thalamusläsionen. Insbesondere bei bilateralen Schädigungen kommt es zu schweren anterograden und retrograden Gedächtnisstörungen.

Klassische Thalamussyndrome • Dejerine-Roussy-Syndrom: Hemianästhesie, spontane Schmerzen, Hypersensibilität, Chorea —» Läsionen der Relaiskerngebiete;

• Thalamische Demenz: Progredienter Abbau aller intellektuellen Funktionen, jeweils zunehmende Desorientiertheit, Affektnivellierung und Antriebslosigkeit —» bilaterale Zerstörung der medialen Kerngebiete.

Gedächtnisstörungen

282 Sprachstörungen

Körperwahrnehmungsstörungen

Störungen nach einseitigen eng umgrenzten Läsionen sind zumeist relativ gering und nur vorübergehend.

Diskonnektionssyndrome Neuropsychologische Störungen aufgrund von Zerstörungen von Nervenfaserverbindungen zwischen kritischen Funktionsbereichen des Gehirns.

Split-brain-Syndrom Balkensyndrom

Akutes neokommissurales Diskonnektionssyndrom

- intermanueller Konflikt, - Fremde-Hand-Symptom für die linke Hand, - Mutismus.

Neuropsychologische Syndrome Nach linksseitigen Läsionen ist vor allem das Gedächtnis für verbales Material betroffen. Auch Sprachstörungen wurden vorwiegend nach linksseitigen Läsionen gefunden. Neben aphasischen Störungen (siehe dort) sind vor allem Sprechantriebsstörungen beschrieben worden; der Patient redet nur, wenn er aufgefordert wird, antwortet dabei mit Kurzsätzen oder einzelnen Worten, spricht mit geringer Lautstärke und wird im Laufe der Konversation immer leiser. Nach rechtsseitigen thalamischen Läsionen wird von Ausfällen berichtet, die denen nach rechtshemisphärischen Schädigungen ähneln, z u m Beispiel von Körperschemastörungen, wie kinästhetischen Illusionen, Hemiasomatognosie, Asomatognosie und Anosognosien. Es ist für die thalamischen Ausfälle einzelner Funktionen typisch, vor allem wenn sie nach einseitigen stereotaktischen Eingriffen auftreten, daß die Beeinträchtigungen gewöhnlich geringfügiger und weniger dauerhaft sind, als die Defizite, die nach kortikalen Läsionen beschrieben werden.

3.7 Diskonnektionssyndrome Bei der Erklärung von neuropsychologischen Ausfällen wurde vor allem auf die Zerstörung von kortikalen Arealen hingewiesen, denen für bestimmte Funktionen eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Außerdem wurde aber auch die Möglichkeit angedeutet, daß verschiedene Beeinträchtigungen ebenso durch die Unterbrechung von Projektions-, Assoziations- und Kommissurenbahnen, also durch Ausfälle in den Interaktionen zwischen kritischen Bereichen, erklärt werden können. Dies geschah zum Beispiel bei den Leitungs- und transkortikalen Aphasien. Manche Wissenschaftler führen sogar die Mehrzahl neuropsychologischer Ausfälle auf Diskonnektionseffekte zurück. Hierfür fehlen jedoch in vielen Fällen eindeutige anatomische Belege. Relativ eindeutige Beschreibungen von Diskonnektionseffekten stammen aus Untersuchungen bei Patienten mit chirurgischen Durchtrennungen der neokortikalen Kommissurenbahnen, vor allem des Corpus callosum und der vorderen Kommissur (Commissura anterior). Die Begriffe Split-brain-Syndrom und Balkensyndrom werden daher auch oft als Synonym für Diskonnektionssyndrom verwendet, obwohl es sich hier nur u m eines von mehreren möglichen Diskonnektionssyndromen, nämlich ein kommissurales Syndrom, handelt.

3.7.1 Diskonnektionssyndrome nach kompletter neokortikaler Kommissurotomie Akutes Syndrom Zu den transienten Auswirkungen einer kompletten Balkendurchtrennung gehören intermanuelle Konflikte und das Symptom der fremden Hand. Die Patienten berichten vor allem von Schwierigkeiten mit der linken Hand, deren Handlungen sie oftmals nicht kontrollieren können. Längerfristig werden diese Phänomene aber nur bei Patienten gesehen, die zum Zeitpunkt der Operation schon älter waren und bei denen der Verdacht auf umfangreichere extrakallosale Schädigungen nicht ausgeschlossen werden kann. In ähnlicher Weise scheint die Dauer des Mutismus, der postoperativ fast immer für Tage bis Wochen auftritt, vom Ausmaß extrakallosaler Hirnschäden abzuhängen. Die ebenfalls nach der Operation auftretende linksseitige Gliedmaßendyspraxie bleibt zumeist länger erhalten. Die Dauer ist jedoch individuell sehr verschieden.

Diskonnektionssyndrome Chronisches Syndrom Von den Angehörigen wird berichtet, daß nach der Operation keine Veränderungen in der Persönlichkeit oder im allgemeinen sozialen Verhalten der Patienten zu bemerken seien. Bei einer routinemäßigen ärztlichen Untersuchung zeigen sich spätestens einige Monate nach der Operation keine besonderen Auffälligkeiten mehr. In der experimentellen Untersuchung zeigt sich aber, daß die Patienten schon bei relativ einfachen neuen Beidhandkoordinationsaufgaben darauf angewiesen sind, die Bewegungen visuell zu kontrollieren. Auch im Bereich der Sensorik zeigen sich Diskonnektionseffekte. So wird beispielsweise das, was nur in der linken Gesichtsfeldhälfte dargeboten wird oder nur von der linken Hand ertastet werden kann, auch nur von der rechten Hemisphäre wahrgenommen. Die linke Hemisphäre weiß von dem, was die rechte Hemisphäre gesehen oder gefühlt hat, normalerweise nichts. Deshalb kann das unter diesen Bedingungen Wahrgenommene auch nicht benannt werden. Nur wenn der Reiz nach der Wahrnehmung mit der rechten Hemisphäre eine Reaktion auslöst, beispielsweise ein bestimmtes Verhalten, das dann von der linken Hemisphäre empfunden werden kann, wird die linke Hemisphäre versuchen, eine sprachliche Erklärung abzugeben. Diese Erklärung zeigt zumeist sehr deutlich, daß die linke Hemisphäre keine genaue Kenntnis dessen besitzt, was als Erfahrung nur der rechten Hemisphäre zugänglich gemacht wurde.

283 Chronisches neokommissurales Diskonnektionssyndrom Ausfälle sind nur in experimentell-kontrollierten Tests nachweisbar.

- Probleme der propriozeptiven und feedforward-Kontrolle der bimanuellen Koordination, - fehlender interhemisphärischer Informationsaustausch.

Die Diskonnektionseffekte nach der vollständigen Balkenläsion treffen alle Sinnes-Modalitäten.

3.7.2 Diskonnektionssyndrom nach partiellen neokortikalen Kommissurotomien Die meisten der bisher erwähnten Defizite scheinen durch die Unterbrechung von splenialen Anteilen des Balkens bewirkt zu werden. So kommt es nach Läsionen des Spleniums trotz ansonsten intaktem Balken zu den typischen Diskonnektionsstörungen im visuellen Bereich. Eine frontale Kommissurotomie, die die vorderen zwei Drittel des Balkens und die Commissura anterior umfaßt, fuhrt weder zu Mutismus noch zu sensorischen Diskonnektionsphänomenen. Bei der motorischen Beidhandkoordination sind die Ausfälle der feedforward und kinästhetischen Kontrolle nur in speziellen Tests nachzuweisen. Die Auswirkungen einer frontalen Balkenläsion, bei der das Splenium wie auch die Commissura anterior erhalten bleibt, sind denen der frontalen Kommissurotomie vergleichbar. Da sowohl bei kompletten als auch frontalen Kommissurotomien Gedächtnisdefizite beschrieben wurden, wird der vorderen Kommissur eine mögliche Beteiligung an Gedächtnisfunktionen zugesprochen.

Literatur Bäumler, G.: Lern- und Gedächtnistest - LGT-3. Verlag für Psychologie Dr. C. J. Hogrefe, Göttingen 1974 Benton, A. L., K. de S.Hamsher, N.R.Varney et al.: Contributions to neuropsychological assessment. A clinical manual. Oxford University Press, Oxford 1983 Bradshaw, J. L., N. C. Nettleton: H u m a n cerebral asymmetry. Prentice-Hall Inc. Englewood Cliffs NJ 1983 Creutzfeldt, Ο.: Cortex cerebri: Leistung, strukturelle und funktionelle Organisation der Hirnrinde. Springer, Berlin 1983

Posteriores (spleniales) Balkensyndrom

Frontales neokommissurales Diskonnektionssyndrom

Frontale Balkenläsion

284

Neuropsychologische Syndrome Leischner, Α.: Aphasien und Sprachentwicklungsstörungen. Klinik und Behandlung. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart 1987 Luria,A. R.: Die höheren kortikalen Funktionen des Menschen und ihre Störungen bei örtlichen Hirnschädigungen (Übersetzung der 2. russ. Aufl., Original erschien 1969). Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1970 Poeck, K. (Hrsg.): Klinische Neuropsychologie. Thieme, Stuttgart 1982 Poon, L. W. (Hrsg.): Handbook for clinical memory assessment of older adults. American Psychological Association, Washington/DC 1986 Remschmidt, Η., M. Schmidt (Hrsg.): Neuropsychologie des Kindesalters. Enke, Stuttgart 1981 Handbuch der Psychologie. Bd. 8, Klinische Psychologie, 1. Halbbd., S. 154-254 (Hrsg. L. J. Pongratz, K.-H. Wewetzer). Willmes, Κ., K. Poeck, D. Weniger et al.: Der Aachener Aphasie Test. Differentielle Validität. Nervenarzt 51 (1980) 553-560

4. Fehlbildungen und frühkindliche Hirnschäden D.

und frühkindliche Hirnschäden

Bechinger

Die Entwicklung des Z e n t r a l n e r v e n s y s t e m s (ZNS) ist eine f a s z i n i e r e n d e Folge von Ereignissen. Die K o m p l i z i e r t h e i t dieser Vorgänge bedingt eine erh ö h t e Anfälligkeit f ü r S t ö r u n g e n , die Folge sind H e m m u n g s f e h l b i l d u n g e n . Diese ö n t s t e h e n m e i s t f r ü h w ä h r e n d der E m b r y o g e n e s e , spätere S c h ä d e n k ö n n e n je n a c h d e m Z e i t p u n k t zu S t ö r u n g e n der Histogenese oder z u r N a r b e n b i l d u n g f ü h r e n . Die Entwicklung des Z N S geht in v e r s c h i e d e n e n S t u f e n vor sich, das v o r a u s g e h e n d e E n t w i c k l u n g s s t a d i u m i n d u z i e r t jeweils das n a c h folgende.

4.1 Fehlbildungen

Fehlbildungen

Die E n t s t e h u n g vieler F e h l b i l d u n g e n läßt sich i n n e r h a l b gewisser zeitlicher G r e n z e n relativ g e n a u datieren (Abb. 4-1 u n d 4-2). Tab. 4-1 u n d 4-2 zeigen die v e r s c h i e d e n e n E n t w i c k l u n g s s t a d i e n u n d die f ü r diese S t a d i e n spezifischen F e h l b i l d u n g e n . Die U r s a c h e n der F e h l b i l d u n g e n sind dagegen u n s p e zifischer: G e n e t i s c h e u n d c h r o m o s o m a l e Störungen, e x o g e n e U r s a c h e n : Tox i s c h - m e t a b o l i s c h e S c h ä d i g u n g e n , Strahleneinwirkung, I n f e k t i o n e n wie

Abb. 4-1

Stadium der d o r s a l e n I n d u k t i o n (ca. 22 Tage)

Rhombencephalon Dach des Diencephalons

Mesencephalon

Wand der Hemisphärenblase

Anlage der Basalganglien

Abb. 4-2

Rückenmark Epiphyse

der Zwischen| Augenblase hirn Endhirn

S t a d i u m der v e n t r a l e n I n d u k t i o n (ca. 35. Tag)

-

genetische, chromosomale Ursachen, toxisch-metabolische Schädigungen, Strahleneinwirkung, Infektionen. Häufigste Fehlbildungen: Dysrhaphien: 3:1 000 Geburten Hydrozephalus: 8,4:1 000 Geburten

286

Fehlbildungen und f r ü h k i n d l i c h e Hirnschäden Lues, Röteln, Zytomegalie, Toxoplasmose, Hepatitis. Die häufigsten Fehlbildungen des ZNS sind: Anenzephalie und Spina bifida (Dysraphien) ca. 3:1000 Geburten Hydrozephalus (ohne Spina bifida) 8,4:1000 Geburten

Fehlbildungen des Gehirns

4.1.1 Fehlbildungen des Gehirns

Störungen der dorsalen und ventralen Induktion

4.1.1.1 Störungen der dorsalen und ventralen Induktion

Rachischisis: meist T o t g e b u r t e n ; A n e n z e p h a l i e : L e b e n s e r w a r t u n g ca. 1 Jahr; E n z e p h a l o z e l e n : 16,6 % d e r spinalen M e n i n g o m y e l o z e l e n u n d M y e l o z e l e n , meist d o r s o okzipital selten parietal, f r o n t a l o d e r nasal. 20% Meningozelen; 80% Enzephalomeningozelen.

Die schwerste Fehlbildung, die Rachischisis, tritt auf, wenn der Neuralrohrschluß vollständig gehemmt wird. Sie ist nicht mit dem Leben vereinbar. Wenn sich das Neurairohr am kranialen Ende nicht schließt, entsteht eine Anenzephalie; Kinder mit Anenzephalie überleben meist nicht das erste Lebensjahr. Bei den Enzephalozelen (Kranium bifidum) ist der Neuralrohrschluß im Gehimbereich an umschriebener medianer Stelle partiell gestört, meist dorso-okzipital, seltener parietal, frontal oder nasal. Die nasale Enzephalozele kann mit einem Polypen des Nasenrachenraumes verwechselt werden! Hinweis kann ein Hypertelorismus sein. Die Häufigkeit beträgt etwa 16,6 %

Therapie: g r o ß e Z e l e n s o f o r t o p e r i e r e n , k l e i n e r e im 1.Lj.

Tabelle 4-1

E n t w i c k l u n g s s t a d i e n des Z N S

u n d die h i e r f ü r s p e z i f i s c h e n F e h l b i l d u n g e n (Embryogenese) Gestation 3.-4. Woche

Stadium

Normale Entwicklung

Störung

Dorsale

Bildung der Neuraiplatte, Rachischisis

Induktion

des N e u r a i r o h r s ,

Anenzephalie

(chordales

drei H i r n b l ä s c h e n

Myeloschisis

Mesoderm)

(Prosenzephalon,

Enzephalozelen

Mesenzephalon,

Myelomeningozele

Rhombenzephalon)

Arnold-Chiari-

A n l a g e des Kraniums

Fehlbildung

u n d der W i r b e l 5.-6. Woche

Ventrale

A b t r e n n u n g des

Holoprosenzephalie

Induktion

Telenzephalons

faciotelenzephale Miß-

(prächordales

vom Dienzephalon

bildungen

Mesoderm)

Entwicklung der Großhirnhemisphären und -ventrikel, der Stammganglien, der Augenbläschen, Ohrbläschen, Entwicklung v o n Gesicht, Nase u n d G a u m e n Bildung d e r

6. W o c h e

Balkenmangel

Kommissurenplatte 7.-8. Woche

ventrikulo-

Bildung des

Subarachnoidalzysten,

zisternale

Chorioid-Plexus,

kommunizierender

Entwicklung

Perforation des

Hydrozephalus,

4. V e n t r i k e l s ,

H y d r o z e p h a l u s bei

Bildung des Sub-

Arnold-Chiari,

arachnoidalraumes.

H y d r o z e p h a l u s bei

Beginn d e r Liquor-

Aquäduktstenose

bildung

(15.-17. Woche?) Hydranenzephalie

Fehlbildungen

287

Tabelle 4-2 Entwicklungsstadien des Z N S und die hierfür spezifischen Fehlbildungen (Histogenese) Gestation

Stadium

Normale Entwicklung

Störung

2 . - 4 . Monat

Neuronale Proliferation

Proliferation der ventrikulären (frühen) u. subventrikulären (späteren) Neuroblasten

Mikrozephalia vera Kleinhirnhypoplasie und Dandy Walker Makrenzephalie (bilateral oder unilateral)

5. Monat bis?

gliale, endotheliale Proliferation

3 . - 5 . Monat

Migration

Wanderung von Neuronen aus der ventrikulären oder subventrikulären Schicht zum Kortex

Schizenzephalie Lissenzephalie Pachygyrie Polymikrogyrie Neuronale Heterotopien (evtl. + Balkenmangel)

6. Monat pränatal bis Jahre postpartal

Organisation (Differenzierung u. Synapsenbildung)

Bildung der Zellsäulen, dendritische u. axonale Verzweigungen

atypische und verminderte Dendritenverzweigungen, abnorme Spinebildung. Vermehrte Zelldichte im Kortex.

Synapsenbildung Zelltod und Elimination überflüssiger neuronaler Verbindungen. Gliale Proliferation u. Differenzierung

mentale Retardierung Epilepsie Morbus Down

Myelinisation beginnt im periph. NS. (motor. vor sensiblen Fasern) Myelinisierung im Z N S : sensorische vor motorischen Bahnen Assoziationsfasern nach Geburt

Hypoplasie der weißen Substanz bei Aminoaz, idopathien. Unterernährung, assoziiert: bei Leukodystrophien und degenerativen Erkrankungen

Geburt bis Jahre postpartal (beginnend 2. Schwangerschaftstrimester)

Neurokutane Erkrankungen (Phakomatosen)

Myelinisierung

der spinalen Meningo- u n d Myelomeningozelen. 20% sind Meningozelen, 80% Enzephalomeningozelen. Therapie: Nicht-epithelialisierte Enzephaloz e l e n m ü s s e n s o f o r t o p e r i e r t w e r d e n , g r ö ß e r e Z e l e n sollte m a n i n n e r h a l b d e r e r s t e n 2 - 3 W o c h e n o p e r i e r e n , k l e i n e r e i n n e r h a l b des e r s t e n L e b e n s j a h r e s . Die Arnold-Chiari-Mißbildung (ACM) gehört zu den häufigen Dysraphien. M a n u n t e r s c h e i d e t drei T y p e n : Typ I: V e r l a g e r u n g der M e d u l l a u n d d e r v e r s c h m ä l e r t e n e l o n g i e r t e n K l e i n h i r n t o n s i l l e n n a c h u n t e n oft bis z u m d r i t t e n Halswirbel, g e l e g e n t l i c h k o m b i n i e r t m i t S y r i n g o m y e l i e o d e r k n ö c h e r n e n F e h l b i l d u n g e n des k r a n i o - v e r t e b r a len Ü b e r g a n g e s (Platybasie, b a s i l ä r e I m p r e s s i o n , A t l a s a s s i m i l a t i o n , a t l a n t o okzipitale Dislokation,

-

verkleinertes F o r a m e n m a g n u m ,

Klippel-Feil).

K l i n i s c h e S y m p t o m e e n t w i c k e l n sich o f t erst n a c h d e r P u b e r t ä t : Torticollis, O p i s t h o t o n u s , basale H i r n n e r v e n l ä s i o n e n , K o p f s c h m e r z e n , S c h w i n d e l .

Arnold-Chiari-Mißbildung Typ l Verlagerung der bypoplastischen Kleinhirntonsillen nach unten;

288 Typ II Verlagerung der Kleinhirntonsillen, Kompression der Medulla, Hydrozephalus, komb. mit Spina bifida;

T y p III Enzephalozelen komb. mit zervikaler Spina bifida zystika. Diagnose: C T und/oder NMR, Ventrikulographie Therapie: T y p I operative Entlastung, T y p II ventrikulo-peritonealer (-atrialer) Shunt.

Fehlbildungen und frühkindliche Hirnschäden Typ II: Verlagerung des Kleinhirns oder einer Kleinhirntonsille durch das Foramen magnum nach unten mit Kompression des Hirnstammes, kombiniert mit einer Spina bifida (eigentliche ACM). Der Pathomechanismus wird einerseits durch Druck von oben infolge des Hydrozephalus, andererseits durch Zug des im unteren Wirbelkanal fixierten Rückenmarks nach unten erklärt. Da häufig auch die Foramina am 4. Ventrikel (Luschkae, Magendii) verschlossen bleiben, kann es sekundär zu einer Erweiterung des Spinalkanales bzw. einer Syringomyelic (20 %) bzw. Hydromyelie (40 %) kommen. Weitere Fehlbildungen des Kleinhirns, Hirnstamms und zerebrale Migrationsstörungen können assoziiert sein. Die ersten Symptome treten meist kurz nach der Geburt auf mit Entwicklung eines Hydrozephalus. Typ III: Okzipito-zervikale Enzephalozelen, zervikale Spina bifida zystika, Hirnstammfehlbildungen und Verlagerung des Kleinhirns durch den Knochendefekt. Die Diagnose der ACM wird durch ein kraniales Computer-Tomogramm (CCT), evtl. Ventrikulographie mit CCT oder Nuklear Magnetic Response (NMR) gestellt. Beim Amold-Chiari Typ II ist in der Regel ein ventrikuloperitonealer oder ventrikulo-atrialer Shunt notwendig, beim ACM Typ I eine operative Entlastung oder ein Shunt.

Abb. 4-3 Holoprosenzephalie: Teilweise getrennte Mittelstrukturen, Zyklopenventrikel, Hinterhörner (der Seitenventrikel) angedeutet bilateral angelegt. Neugeborenes mit Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte. Schwere generalisierte Krampfanfälle seit dem 1. Lebenstag. (Mit freundlicher Genehmigung des Röntgeninstituts der Universität Ulm.) Holoprosenzephalie 6:10000 Lebendgeburten „Zyklopenventrikel" statt zwei Seitenventrikel Kombiniert evtl. mit Zyklopie oder medianen Lippen-Nasen-Gaumenspalten, Hypo-/Hypertelorismus. Ätiologie: - häufig Chromosomenanomalien, - genetisch-familiäre Störungen, - mütterlicher Diabetes mellitus, - konnatale Infektionen. Therapie: symptomatisch

Die Holoprosenzephalie hat eine Häufigkeit von 6:10 000 Lebendgeburten und entsteht aufgrund einer Hemmung bei der Teilung des Prosenzephalons in Dienzephalon und beide Großhirnhemisphären (Telenzephalon). In ihrer schwersten Ausprägung findet sich statt zweier Seitenventrikel ein großer mittelständiger nach dorsal offener Ventrikel, die Stammganglien sind nicht getrennt (Abb. 4-3). Bei weniger ausgeprägten Formen sind die einzelnen Hirnlappen von okzipital nach frontal mehr oder weniger ausgebildet, es besteht aber noch eine Verschmelzung des fronto-basalen Cortex. Die Stammganglien sind weitgehend oder ganz getrennt. Da es sich um eine Störung aller drei Keimblätter handelt, finden sich häufig auch Gesichtsfehlbildungen, in maximaler Ausprägung mit Zyklopie, in der mildesten Form mit Hypo- oder Hypertelorismus, evtl. auch Lippen-Gaumen-Nasen-Spalten. Ursache sind häufig Chromosomenanomalien (u.a. Trisomie 13 und 18, Ringchromosom 18). Exogene Einflüsse sind mütterlicher Diabetes mellitus, connatale Infektionen wie Syphilis, Zytomegalie, Toxoplasmose, ferner auch genetisch-familiäre Störungen bei Assoziation mit anderen Fehlbildungen. Klinisch besteht eine schwerste mentale und statomotorische Retardierung, Epilepsie, Störungen von Atmung und Temperaturregulation. Nur symptomatische Therapie möglich.

Fehlbildungen Kommissurenstörungen: Die wichtigste zerebrale Kommissur ist der Balken. Eine Balkenagenesie kann komplett oder partiell vorkommen mit kombinierter Läsion der benachbarten Strukturen wie Gyrus cinguli und Septum pellucidum. Faserbündel, die im Balken kreuzen, verlaufen ipsilateral in Längsrichtung. Symptome eines Balkenmangels sind zerebrale Krampfanfälle, mentale Retardierung, visuelle und motorische Koordinationsstörungen. Bei Balkenmangel können gelegentlich auch Migrationsstörungen vor allem Mikropolygyrien und Heterotopien vorkommen. Eine besondere Form ist das Aicardi-Syndrom, das familiär bei Mädchen auftritt, häufig kombiniert mit Fehlbildungen der Netzhaut (chorio-retinale Lakunen) und Klippel-Feil. Die klinische Symptomatik besteht in schwerer mentaler und motorischer Retardierung, myoklonischen und tonisch-klonischen Anfällen mit Hypsarrhythmie im EEG. Wahrscheinlich handelt es sich u m eine Störung zwischen der 4. bis 12. Schwangerschaftswoche (vgl. 14.6.6).

289 Kommissurenstörungen Balkenagenesie, partiell oder komplett Symptome: - zerebrale Krampfanfälle, - visuelle und motorische Koordinationsstörungen, - schwere mentale Retardierung. Gelegentl. Kombination mit - Mikropolygyrien, - Heterotopien, - Dandy-Walker-Mißbildung.

Weitere Mittellinienstörungen sind das Cavum septi pellucidi (mit Flüssigkeit gefüllter Hohlraum zwischen den beiden Blättern des Septum pellucidum), Cavum vergae (reicht das Cavum septi pellucidi sackförmig im rückwärtigen Septumteil bis zum Splenium, spricht man vom Cavum Vergae oder 5. Ventrikel) und das weiter nach hinten und unten reichende Cavum veli interpositi. Bei der Geburt ist ein Cavum septi pellucidi relativ häufig, es schließt sich meist im Verlauf des 4. bis 6. Lebensmonates. Seltener ist das weiter hinten gelegene Cavum vergae und das dorsal des Fornix gelegene Cavum veli interpositi. Es handelt sich u m Varianten, gelegentlich kann ein solches Cavum aber zusammen mit Induktions-, Proliferations- und Migrationsstörungen und den Symptomen von mentaler Retardierung und zerebralen Krampfanfällen vorkommen.

Weitere Mittellinienstörungen: Cavum septi pellucidi, Cavum vergae, Cavum veli interpositi. Meist Varianten, aber gelegentlich kombiniert mit Migrationsstörungen.

4.1.1.2 Störungen der ventrikulo-zisternalen Entwicklung

Störungen der ventrikulo-zisternalen Entwicklung

Ein Hydrozephalus (H.) entsteht durch ein Ungleichgewicht zwischen Liquorproduktion und Liquorabfluß bzw. -absorption. Man unterscheidet den Hydrocephalus communicans vom H. occlusus. Der H. communicans kann bei vermehrter Liquorproduktion auftreten, ζ. B. einem Plexuspapillom oder bei verminderter Liquorresorption in den Subarachnoidalräumen nach Blutungen oder Infektionen. Die Ursachen des Hydrozephalus variieren mit dem Manifestationsalter: Bei Neugeborenen ist in etwa % der Fälle die Ursache eine Aquäduktstenose, ein großer Teil ist auf eine Arnold-Chiari-Fehlbildung bei Myelomeningozele, kommunizierenden Hydrozephalus oder Dandy-Walker-Mißbildung (s. 4.1.1.3) zurückzuführen. Bei wenigen ist die Ursache eine intrauterine Infektion (Toxoplasmose, Zytomegalie), ein Tumor (Chorioidplexus-Papillom), intraventrikuläre Blutung, oder ein Aneurysma der Vena Galeni. Die Aquäduktstenose könnte auch später entstehen, d.h. in der 15. bis 17.Woche, wenn das Mesenzephalon an Länge zunimmt, oder früher (3.-4.Woche): denn Gabelungen und Verzweigungen des Aquädukts könnten auch für eine Induktionsstörung im mesenzephalen Bereich sprechen. Die Aquäduktstenose infolge Gliose ist meist sekundär nach Entzündungen oder Blutungen.

Hydrocephalus communicans bei Liquorüberproduktion oder mangelnder Liquorresorption z.B. nach Blutungen, intrauterinen Infektionen.

Die Diagnose eines Hydrozephalus kann oft schon intrauterin durch die Ultraschalluntersuchung gestellt werden. In solchen Fällen kann eine vorzeitige Schnittentbindung notwendig werden. Nach der Geburt stellt man die Diagnose aufgrund des sich rasch vergrößernden Kopfumfanges (tägliche Kopfumfangmessungen!), der gespannten oder prominenten Fontanelle, der klaffenden Schädelnähte, eines Sonnenuntergangsphänomens (teilweises „Versinken" unterer Korneaanteile hinter dem Unterlid bei Druck auf die vorderen Vierhügel; evtl. chorioretinischen Veränderungen am Augenhintergrund bei Toxoplasmose und Zytomegalie). In den letzten Jahren hat die So-

Hydrocephalus occlusus Ursachen: - ca. 30% bei Aquäduktstenose, - Arnold-Chiari-Mißbildung, - Dandy-Walker - (nach intrauterinen Infektionen).

Diagnose: Überproportionale Zunahme des Kopfumfanges, Sonnenuntergangsphänomen Gespannte Fontanelle bei Säuglingen Ultraschall durch die große Fontanelle CT, NMR, Kontrast-CT

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Fehlbildungen und frühkindliche Hirnschäden nographie durch die große Fontanelle an diagnostischer Bedeutung auch fur die Diagnose des Hydrozephalus zugenommen. Wenn die Größe der Ventrikel zunimmt, ist ein kraniales CT oder NMR indiziert.

Therapie: - Shuntoperation, - Pudenz-Heyer-, Spitz-Holter-Ventile, - Ventrikulo-atrialer oder ventrikulo-peritonealer Shunt. Komplikationen: Sepsis, Endocarditis, Thrombose, Katheterabriß beim v.-a. Shunt, Darmverletzungen, Aszites beim v.-p.-Shunt, subdurale Effusionen, Ventrikulitis, Krampfanfälle.

Therapie: Bei zunehmendem Hydrozephalus ist eine operative Entlastung mit ventrikulo-peritonealem oder ventrikulo-atrialem Shunt nicht zu umgehen. Die verwendeten Ventile sind entweder das Spitz-Holter-Ventil oder Pudenz-Heyer-Ventil. Die Indikation zu einer Shuntoperation wird im allgemeinen aufgrund der Hirnmanteldicke gestellt 35 mm: keine Indikation. In den letzten Jahren wird der ventrikulo-peritoneale Shunt dem ventrikulo-atrialen Shunt vorgezogen, da bei letzterem häufiger Sepsis oder Endokarditis auftraten, femer Komplikationen durch Katheterabriß infolge des Größenwachstums der Kinder. Nachteile des ventrikulo-peritonealen Shunts sind unter Umständen Verletzungen oder Perforationen des Darmes, Ascites, evtl. Darmverschluß, was aber durch geeigneteres Kathetermaterial umgangen werden kann. Spätere Ventilkomplikationen sind subdurale Hygrome, Ventrikulitis, Krampfanfälle, beim ventrikulo-atrialen Shunt Wandthrombosen, Verschluß der Vena cava, Herzrhythmusstörungen. Patienten mit einem Shunt sollten vor allem im Wachstumsalter regelmäßig kontrolliert werden mit klinischer Untersuchung, EEG und kranialem CT. Bei beeinträchtigter Shuntfunktion ist eine operative Revision notwendig.

Hydranenzephalie: nur noch basaler Cortex vorhanden. Meist Folge eines intrauterinen Hydrozephalus oder eines oder multipler Gefäßinsulte.

Bei der Hydranenzephalie findet sich statt eines Cortex lediglich eine häutige Struktur bestehend aus Ependym und Pia, basal ist noch Cortex erkennbar. Dienzephalon, Mittelhirn und Hirnstamm können intakt sein, aber auch Heterotopien zeigen. Man deutet die Entstehung durch einen frühen Hydrozephalus, vor allem, wenn das Ependym erhalten ist; andere mögliche Ursachen wären Infektionen, intrauterine Gefäßinsulte oder eine genetisch bedingte proliferative Vaskulopathie. Kinder mit Hydranenzephalie bleiben in der Entwicklung stehen, werden zunehmend spastisch, entwickeln unkoordinierte Augenbewegungen, Krampfanfälle, im EEG eine zunehmende Abflachung. Die Diagnose einer Hydranenzephalie kann durch das kraniale CT gestellt werden.

Subarachnoidalzysten: Fehlbildungen der Arachnoidea oder umschriebene Schädigungen.

Subarachnoidalzysten entstehen infolge Zystenbildung innerhalb der Schichten der Arachnoidea, eine andere Entstehungsweise könnte eine Ver-

Abb. 4-4 Subarachnoidalzyste der hinteren Schädelgrube. Scheinbar erweiterte Cisterna Magna, rechts marginal durchziehendes Gefäß. (4 Monate alter Säugling mit BNS-Anfällen). Im 2./3. Schwangerschaftsmonat viraler Infekt mit starken Lymphknotenschwellungen retroaurikulär. (Mit freundlicher Genehmigung des Röntgeninstituts der Universität Ulm.)

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Fehlbildungen Symptome: - Partialanfälle und lokale neurologische Symptome, - Hirndruck.

größerung des Subarachnoidalraumes bei umschriebener Entwicklungsstörung oder narbiger Schädigung des Cortex sein. Sie sind besonders im Bereich der Sylvi-Furche, der mittleren Schädelgrube oder in der hinteren Schädelgrube zu finden. Die klinische Symptomatik besteht in lokalen neurologischen Ausfällen oder Partialanfällen. Im Verlauf der Entwicklung kann sich eine Subarachnoidalzyste vergrößern, möglicherweise infolge eines Ventilmechanismus, und zu Himdruck fuhren. Die Diagnose wird durch das kraniale CT (Abb. 4-4) (nativ und mit Kontrast) oder das N M R gestellt. Therapie: Bei Hirndruck oder schwer einstellbaren Anfällen operative Intervention entweder in Form eines zysto-peritonealen Shunts oder einer breiten Fensterung der Zystenwand.

Therapie: zysto-peritonealer Shunt - operative Fensterung

4.1.1.3 Störungen der Proliferation

Störungen der Proliferation

Die wichtigsten Störungen der Proliferation sind die Mikrocephalia vera, die Kleinhirnhypoplasien einschl. Dandy-Walker-Syndrom, die Makrenzephalie und Phakomatosen. Die Microcephalia vera kann durch genetische oder chromosomale Störungen, Strahleneinwirkung, infektiöse, chemisch-toxische bzw. metabolische Schädigungen hervorgerufen werden. Die Häufigkeit der genetisch-bedingten Form ist 1:25 000 bis 50000 der Geburten. Sie findet sich oft zusammen mit verschiedenen Dysmorphie-Syndromen (z.B. Cornelia-de-Lange-Syndrom), bei Chromosomenstörungen wie Trisomie, Translokationen oder Deletionen. Exogene Faktoren sind Strahlenbelastung, ζ. B. bei therapeutischer Anwendung in der 4. bis 20. Gestationswoche, (nach Hiroshima traten Mikrozephalien dann auf, wenn sich die Mütter bis 1,5 km vom Epizenter befanden und die Gestation noch innerhalb der 15. Woche war; eine diagnostische Strahlenbelastung von 0,01 Gy bzw. 1 rem oder weniger scheint kein Risiko innerhalb der ersten 4 Monate zu bedeuten), ferner infektiöse Ursachen wie Zytomegalie, Toxoplasmose, Röteln; toxische Schäden, besonders Alkohol; medikamentöse, z.B. Cortison, Zytostatika; metabolische, wie Hypothyreose, Phenylketonurie. Klinisch fällt die fliehende Stirn, der flache Hinterkopf auf; die Untersuchung zeigt eine leichte bis schwere Spastik, eine schwere mentale Retardierung mit Verhaltensauffälligkeiten, Aufmerksamkeitsdefizit und Epilepsie. Die Schwere der mentalen Behinderung nimmt im allgemeinen mit der Abweichung des Kopfumfangs vom Normalwert zu. Die Mikrozephalie ist abzugrenzen von den Kraniosynostosen (s. 4.1.3).

Mikrocephalia vera Häufigkeit der genetischen Form: 1:25000-50000 Geburten

Kleinhirnhypoplasien können solitär im Bereich der Hemisphären oder des Wurmes auftreten. Eine Hypo- bis Aplasie des Wurmes findet sich beim Dandy-Walker-Syndrom (Abb. 4-5). Der früher angenommene Verschluß der Foramina Luschkae und Magendii als Ursache der maximalen zystischen Erweiterung des 4. Ventrikels ist selten. Heute wird eine primäre Fehlbildung des 4. Ventrikels und des Wurmes möglicherweise auch im Stadium der dorsalen Induktion angenommen. In 68 % der Fälle finden sich noch weitere zerebrale Fehlbildungen oder Gaumenspalten, kardiale Anomalien und Zystennieren. Die klinische Symptomatik kann oft erst nach dem 6. Lebensmonat auftreten oder später mit Nystagmus, Ataxie und Hirnnervenausfällen und ausladendem Hinterhaupt. Bei zunehmender Hirndrucksymptomatik ist eine Shuntoperation indiziert.

Kleinhirnhypoplasien Dandy-Walker-Mißbildung Fehlbildung des 4. Ventrikels und Kleinhirnhypoplasie, kombiniert mit Balkenaplasie und Migrationsstörungen (68%).

Eine Makrencephalie ist eine einseitige oder bilaterale Vergrößerung der Hirnsubstanz. Das Gehirn wiegt bei der Geburt oft doppelt so viel wie das eines normalen (350 g) Neugeborenen. Oft ist die mentale Entwicklung normal, es können aber auch verschiedene Grade einer mentalen Behinderung auftreten. Sonstiges Vorkommen: Makrenzephalie und körperlicher Riesenwuchs: Sotos-Syndrom, ferner bei Neurofibromatose, Achondroplasie (mit Kleinwuchs). Diese echte Makrenzephalie ist zu unterscheiden von den me-

Ursachen: - genetische und chromosomale Störungen, - Strahleneinwirkung (0,01 Gy innerh. des 1.-4.Gestationsmonats ohne Risiko); - Infektionen: Zytomegalie, Toxoplasmosen, Röteln; - toxisch: Alkohol; - medikamentös: Cortison, Zytostatika; - metabolisch: Hypothyreose, Phenylketonurie. Symptome: - fliehende Stirn, flacher Hinterkopf, - spastische Paresen, - mentale Retardierung, - Epilepsie, - Aufmerksamkeitsdefizit, - Hyperaktivität.

Symptome: Nystagmus, Hirnnervenausfälle und Ataxie.

Makrenzephalie: - einseitige oder beidseitige Vergrößerung der Hemisphären, - oft keine Symptome, - gelegentlich mentale Retardierung. Vorkommen: Sotos-Syndrom (Riesenwuchs); Neurofibromatose; Achondroplasie (Kleinwuchs),· Sekundär bei metabolisch-degenerativen Erkrankungen

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Fehlbildungen und frühkindliche Hirnschäden

Abb. 4-5 Dandy-Walker-Mißbildung. Hypoplasie des Kleinhirnwurms und nach dorsal zystisch erweiterter 4. Ventrikel. 7jähriges Kind, motorische und mentale Retardierung, Strabismus convergens. (Mit freundlicher Genehmigung des Röntgeninstituts Dr. Puchner, Neu-Ulm.) - Gangliosidosen, - Leukodystrophien, - Mukopolysaccharidosen.

tabolisch-bedingten Makrenzephalien, vor allem bei Leukodystrophien, Gangliosidosen und Mukopolysaccharidosen.

Phakomatosen Neurofibromatose (Recklinghausen) Häufigkeit 1 : 2 5 0 0 - 1 : 3 0 0 0 Zentrale Manifestation: Erwachsene: - Kleinhirnbrückenwinkeltumoren - multiple Meningeome Kinder: - Optikusgliome - 10% mental retardiert, Makrenzephalie - Dysplasie des großen Keilbeinflügels und - Exophthalmus

Phakomatosen Die Neurofibromatose (Recklinghausen) ist die häufigste Phakomatose mit einer Inzidenz von 1:2 5 0 0 - 3 000. Die Erkrankung ist autosomal dominant mit unterschiedlicher Penetranz. Es handelt sich um eine Hyperplasie und Neoplasie des neuroektodermalen und des mesodermalen Gewebes. An der Haut finden sich Neurofibrome und Cafe-au-lait-Flecke oft erst nach dem 2. Lebensjahr; am ZNS intrakranielle oder intraspinale Tumoren und Tumoren der peripheren Nerven. Bei Kindern sind Optikusgliome am häufigsten, im Erwachsenenalter sind Akustikusneurinome häufiger und eine Assoziation mit multiplen Meningeomen und Hirnstammgliomen. 10 % der erkrankten Kinder sind mental retardiert, haben zerebrale Krampfanfälle und zeigen eine Makrenzephalie. Gelegentliche Assoziationen mit einem Phäochromozytom. Häufig finden sich auch Skelettveränderungen wie Dysplasie des großen Keilbeinflügels und Exophthalmus, Erweiterung des Cafialis N. optici oder anderer Nervendurchtrittsöffnungen, femer· Kyphoskoliosen, Wirbelmißbildungen. Die Diagnose wird durch Hautbiopsie gestellt, die Beteiligung des ZNS kann durch Nativ-Röntgen-Aufnahmen und das kraniale CT festgestellt werden. Beim Akustikusneurinom kann die Veränderung der akustisch evozierten Potentiale den röntgenologischen Veränderungen vorausgehen. Behandlung: 1. operative Entfernung der Tumoren, 2. symptomatisch (ζ. B. antikonvulsive Behandlung).

Diagnose: - Hautbiopsie, - Nativ-Röntgenaufnahmen (Schädel evtl. WS) C T , NMR, - akustisch evozierte Potentiale. Therapie: - Operation, - symptomatisch (antikonvulsive Behandlung).

Tuberöse Hirnsklerose (Bourneville-Pringle) Häufigkeit 1:3000-1:150000. Neurogliale Knoten kortikal und subependymal, retinale Knoten, Umwandlung in Astrozytome und Glioblastome. Hautveränderungen: Adenoma sebaceum. Vitiligo-, Cafe-au-lait-, Chagrinlederflecken, Teleangiektasien; Herz: Rhabdomyome; Nieren: Angiomyolipome. Symptome: - mentale Retardierung, - zerebrale Anfälle. Therapie: symptomatisch

Tuberöse Hirnsklerose (Bourneville-Pringle): Inzidenz 1:3 000 bis 1:150000. Teilweise werden ein autosomal dominanter Erbgang, teilweise Neumutationen angenommen. Pathologisch-anatomisch findet man: Adenoma sebaceum, neurogliale Knoten an der Gehirnoberfläche oder subependymal, ferner fibrilläre Gliosen und Demyelinisierungen, Tumoren des Herzens und der Nieren. - Teilweise Umwandlung der neuroglialen Knoten in Astrozytome und Glioblastome und sekundäre Verkalkungen. Häufige Lage im Bereich des Foramen Monroi. Die klinischen Symptome sind Krampfanfälle und Hypsarrhythmie, mentale Retardierung, ophthalmologisch: kleine retinale Tumoren oder transparente Verwölbungen der Retina. Hautveränderungen zeigen sich oft später: Vitiligo-, Cafe-au-lait-, Chagrinleder-Flecken und Adenoma sebaceum, kleine Teleangiektasien. Am Herzen finden sich Rhabdomyome und an den Nieren Angiomyolipome. Die Lebenserwartung ist aufgrund der malignen Entartung der intrakraniellen Knoten einge-

Fehlbildungen

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schränkt, der Befall der Nieren kann z u m Nierenversagen führen. Therapie: Symptomatische Anfallsbehandlung. Retinocerebelläre Angiomatose (Hippel-Lindau): Bei dieser finden sich disseminierte kapilläre Angiome in Kleinhirn, Retina, Haut und Eingeweiden (Pankreas, Nieren, Leber, Lunge). Die Angiome des ZNS sind oft zystische Hämangiomblastome im Cerebellum, selten im Hirnstamm, Rückenmark oder in den Hemisphären. Kleine Hämangiome finden sich auch an der Retina (Hippel). Die Erkrankung manifestiert sich meist im Jugendalter mit progredienter oder intermittierender Ataxie und intermittierend erhöhtem intrakraniellem Druck, seltener Blutungen. Die Behandlung besteht in einer operativen Entlastung.

Retinocerebelläre Angiomatose (Hippel-Lindau): Disseminierte kapillare Angiome; Kleinhirn, Retina, Haut, Eingeweide. Symptome: Ataxie, intermittierender Hirndruck. Therapie: operative Entlastung.

Enzephalofaziale Angiomatose (Sturge-Weber): Kutanen Angiomen (Naevus flammeus) im Gesicht oder auch hemifacialen portweinroten Hautveränderungen entsprechen Angiome der Meningen, die im Versorgungsgebiet des gleichen Trigeminusastes liegen, mit tortuösen Venen und Verkalkungen. Die ersten Symptome sind epileptische Anfälle, meist Partialanfälle, Hemiparesen, homonyme Hemianopsien, mentale Retardierung und bei Lokalisation im Bereich des ersten Trigeminusastes auch Glaukom (Buphthalmus). Die intrakraniellen Veränderungen lassen sich am besten im Computer-Tomogramm nativ und mit Kontrast nachweisen oder auch im N M R . Bei schwer kontrollierbaren Anfällen wird eine Exzision des angiomatösen Gewebes angestrebt, in schweren Fällen auch eine Hemisphärektomie.

Enzephalofaziale Angiomatose (Sturge Weber) Kutane Angiome im Gesicht und Angiome der Meningen im Versorgungsgebiet desselben Trigeminusastes. Symptome: - epileptische Anfälle, meist Partialanfälle, - Hemiparese, - mentale Retardierung, - evtl. Buphthalmus. Diagnostik: CT, NMR, Angiographie. Therapie: operativ: Exzision, evtl. Hemisphärektomie; konservativ: Anfallsbehandlung.

Ataxia teleangiectatica (Louis-Bar): Charakteristisch für diese Phakomatose ist eine progrediente Ataxie, die im Säuglingsalter beginnt, und progrediente Teleangiektasien des Gesichts, vor allem der Konjunktiven. Die Ataxie n i m m t im Verlauf der Kindheit zu, in der zweiten Dekade sind die Kinder oft nicht mehr gehfähig, sie zeigen eine Störung der Blicksakkaden, des optokinetischen Nystagmus, eine schwere Dysarthrie und choreatisch-athetotische Bewegungen. Körperwachstum und sexuelle Entwicklung sind verzögert, es findet sich ein Immundefekt mit IgA-Mangel, Hypoplasie des Thymus und eine Tendenz zu Malignomen. Morphologisch ist die Kleinhirnrinde oft atrophisch mit Fehlen von Purkinje- und Körnerzellen. Häufig auch Atrophie der Hinterstränge, ferner Leberzirrhose, neurogene Muskelatrophien und Veränderungen der Spinalganglien. Die Chromosomenuntersuchung zeigt eine erhöhte Chromosomenbrüchigkeit und Klone mit Translokation, besonders am Chromosom 14.

Ataxia teleangiectatica (Louis-Bar) Zunehmende Teleangiektasien im Gesicht, bes. Konjunktiven, Ataxie.

4.1.1.4 Störungen der Migration Bei Störungen der Migration kommt es zu verschiedenen Fehlbildungen, die nach Schweregrad erwähnt werden: Die Schizenzephalie ist eine Spaltbildung zwischen Kortex und Ventrikel, oft bilateral und entspricht meist einer primären Fissur. Klinisch besteht eine muskuläre Hypotonie, Hemi- oder Tetraparese, Mikrozephalie und mentale Retardierung. Die Spaltbildungen sind im CT nachweisbar. Bei der Lissenzephalie (Agyrie) sind beide Großhirnhemisphären angelegt, die Bildung von Gyri bleibt jedoch aus, da sie von den verschiedenen Migrationswellen nicht erreicht werden. Die Symptome sind eine schwere mentale Retardierung, schwer kontrollierbare epileptische Anfälle, spastische Tetraplegie und Mikrozephalie. Bei der Makrogyrie (Pachygyrie) sind die primären Sulci angelegt, es fehlen die sekundären und tertiären Sulci. Die Fehlbildung ist häufig assymmetrisch und von Heterotopien begleitet. Die klinischen Symptome sind entsprechend der asymmetrischen Ausprägung lokal begrenzt. Die Mikropolygyrie zeigt vermehrte

Weitere Symptome: - Störung der Blicksakkaden, des optokinetischen Nystagmus, - Dysarthrie; ferner: - Immundefekt (IgA-Mangel), - Hypoplasie des Thymus, - Tendenz zu Malignomen, - erhöhte Chromosomenbrüchigkeit, - evtl. Translokation am Chromosom 14.

Migrationsstörungen Schizenzephalie: Spaltbildung zwischen Kortex und Ventrikel, meist bilateral. Symptome: - Mikrozephalie, - muskuläre Hypotonie, - Hemi-Tetraparesen, - mentale Retardierung. Lissenzephalie (Agyrie): Hirnwindungen fehlen. Symptome: - Mikrozephalie, - Tetraplegie, - epileptische Anfälle, - schwerste mentale Retardierung. Makrogyrie (Pachygyrie) Vergröberte Hirnwindungen mit Fehlen tertiärer und sekundärer Sulci, häufig asymmetrisch mit Heterotopien.

294 Symptome: Lokale neurologische Ausfälle. Mikropolygyrie vermehrte sekundäre und tertiäre Gyrie, gestörter kortikaler Schichtenaufbau. Symptome: Spastik, mentale Retardierung. Heterotopien Verlagerung von Nervengewebe subependymal, im Marklager und evtl. Hirnhäuten. Diagnose der Migrationsstörungen aufgrund von CT und NMR.

Fehlbildungen und frühkindliche Hirnschäden sekundäre und tertiäre Gyri, mit Heterotopien und Störung im Aufbau der kortikalen Zellschichten. Häufig sind nur 4 Schichten vorhanden mit irregulärer Anordnung der Zellen, die weiße Substanz ist verschmälert. Klinisch findet man Retardierung, Spastik, evtl. auch muskuläre Hypotonie mit gesteigerten Eigenreflexen. Heterotopien: Als Folge von Migrationsstörungen kann Nervengewebe verlagert sein und in den Hirnhäuten, in der weißen Substanz von Gehirn und Kleinhirn und subependymal gefunden werden. Die Diagnose der Migrationsstörung war früher eine pathologisch-anatomische, bei den heutigen bildgebenden Verfahren ist die Diagnose sowohl im CCT wie auch im N M R möglich.

4.1.1.5 Kongenitale Tumoren und vaskuläre Fehlbildungen Kongenitale Tumoren entwickeln sich aus verlagertem oder fehlgebildetem Gewebe. Vaskuläre Tumoren (meist Hämangioblastome) sind meist infratentoriell gelegen.

Störungen der Organisation (Differenzierung und Synapsenbildung) Epilepsien, mentale Retardierung.

Kongenitale Tumoren entwickeln sich aus verlagertem (Kraniopharyngeome, Chordome, nasale Gliome, Hamartome des Hypothalamus) oder fehlgebildetem (Epidermoide, Dermoide, Germinome, Medulloblastome, Neuroblastome, Retinoblastome, Teratome) Gewebe. Etwa % manifestiert sich in der Neugeborenenperiode. Im weitaus größeren Teil der Patienten treten die ersten Symptome in der Säuglingszeit, Kindheit oder erst im Erwachsenenalter (ζ. B. Dermoide, Epidermoide) auf. Unter den vaskulären Tumoren, meist Hämangioblastomen, sind die infratentoriell gelegenen weitaus häufiger als die supratentoriellen. Die median gelegenen Aneurysmen der Vena Galeni finden sich oft schon in der Neugeborenenzeit, dann meist mit starker Erweiterung auch zu den zuführenden Venen und razematösen Gefäßkonglomerationen im tiefen Hirngewebe.

4.1.1.6 Störungen der Organisation bzw. Differenzierung und Synapsenbildung Nach dem Stadium der Migration beobachtet man ein Absterben von Neuronen neben der zunehmenden Differenzierung anderer Neurone mit Dendritenbildung. Störungen sind wahrscheinlich häufiger als bisher vermutet. Man n i m m t an, daß viele Fälle mentaler Retardierung und der sogenannten idiopathischen Epilepsien hier ihre Ursache haben. Bei der Trisomie 21 sind im Kortex Störungen der Differenzierung und Synapsenbildung nachgewie-

Störungen der Myelinisierung

4.1.1.7 Störungen der Myelinisierung

Aminoazidopathien, Unterernährung.

Sie äußern sich in einer Hypoplasie der weißen Substanz, z.B. bei Aminoazidopathien, wahrscheinlich auch bei Unterernährung. Assoziierte Störungen der Myelinisierung sind bei den Leukodystrophien und anderen degenerativen Erkrankungen anzunehmen (s. 19).

Fehlbildungen des Rückenmarks

4.1.2 Fehlbildungen des Rückenmarks

Spinale Dysrhaphien (Spina bifida) Häufigkeit: 0,25%.

4.1.2.1 Spinale Dysrhaphien (Spina bifida)

Spina bifida occulta meist keine neurologischen Symptome. Lokale Hautveränderungen: Behaarung, Teleangiektasien, subkutane Lipome.

Ihre Häufigkeit wird auf etwa 0,25 % geschätzt. Bei den genetisch bedingten Fällen steigt die Wahrscheinlichkeit einer Dysrhaphie beim nächsten Kind auf 3 - 6 % , beim dritten Kind auf 4 - 1 0 % . D i e Spina bifida kann verschiedene Ausprägungen zeigen. Wenn die Dysrhaphie nur das Mesenchym betrifft, d. h. nur der Bogenschluß der Wirbel fehlt, handelt es sich u m eine Spina bifida occulta, die meist keine neurologischen Symptome hervorruft. Gelegentlich finden sich über der Bogenspalte lokale Hautveränderungen mit Behaarung, Teleangiektasien oder Lipome. Bei voller Ausprägung der Dysrhaphie kommt es zu einem zystischen Vorfall des Rückenmarks (Spina

Fehlbildungen

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bifida cystica). Je nachdem, ob die Meningen oder das Rückenmark an dem Vorfall beteiligt sind, unterscheidet man Meningozelen, Myelomeningozelen, Myelozystozelen und Myelozelen. Aus praktischen Gründen stellt man die drei letzteren als Myelomeningozelen (95 %) den Meningozelen (5 %) gegenüber. Die Spaltbildungen liegen zu 80,3 % im lumbosakralen Bereich, 7 % sind rein thoracal, 8,6% sakral und 3,7% zervikal. In nur 0,4% wurden vordere Myelomeningozelen gefunden. Bei 90% der lumbosakralen Myelomeningozelen findet sich auch ein Hydrozephalus bei Arnold-Chiari-Mißbildung (Typ II).

Spina bifida cystica Myelomeningozelen 9 5 % Meningozelen 5 % 80% lumbosakral 7% thorakal 8,6% sakral 4% zervikal 0,4% anterior Bei 90% Arnold-Chiari-Mißbildung (Typ I

Die Symptomatik ist abhängig von der Höhe der Myelomeningozele. Bei den zervikalen und thorakalen, teilweise auch den thorakolumbalen Myelomeningozelen finden sich spastische Symptome neben segmentalen schlaffen Paresen, bei den lumbosakralen Myelomeningozelen ein Caudasyndrom mit Sensibilitätsstörung, schlaffer Paraparese und Blasenstörungen. Harnverhaltung oder Inkontinenz, evtl. atonische Blase und Harnwegsinfekte finden sich bei 90 % der Patienten. Je nach der Läsionshöhe sind die Ausfälle verschieden schwer: Die Paresen reichen - b i s L3 und höher: es besteht eine komplette Paraplegie mit Anästhesie und Blasenmastdarminkontinenz, Patienten werden nicht gehfähig (1); - bis L4 und tiefer: Hüftflexoren erhalten, ebenso die Adduktoren und Knieextensoren. Patienten werden wahrscheinlich mit entsprechenden Hilfsmitteln (Schienen-Hülsen-Apparate) und orthopädischen Operationen bedingt gehfähig (2); - bis S1 und tiefer: Fußheber- und teilweise die Hüftstrecker und Kniebeugerfunktionen betroffen. Patienten können mit minimalen Hilfen gehen (3); - b i s S3 und tiefer: keine motorischen Ausfälle, Reithosenhypästhesie, wechselnde Blasenmastdarminkontinenz (4).

Einstufung nach Schweregraden: (1) L3 und höher (2) Höhe L 4 - 5 (3) HöheS 1 - 2 (4) S3 und tiefer Prognose: (1) Rollstuhl, Blasenmastdarmstörung; (2) bedingt gehfähig, Blasenmastdarmstörung; (3) mit geringen Hilfen gehfähig, Blasenmastdarmstörung; (4) keine motorischen Ausfälle, wechselnde Blasenmastdarmstörung.

Therapie: Nach heutiger Meinung soll eine Spina bifida cystica innerhalb 6 - 8 h, unter antibiotischem Schutz innerhalb der ersten 22 h operativ geschlossen werden. Die Indikation zur Operation wird eingeschränkt, wenn die Myelomeningozele hoch, d. h. thorakolumbal sitzt, wenn die Paresen schwer sind, d.h. wenn die Läsionen den Schweregraden (1) evtl. (2) entsprechen, bei erhöhtem Kopfumfang (2 cm oberhalb der 90. Perzentile), bei zusätzlichen Fehlbildungen der Wirbelsäule wie Kyphose oder wenn Anhalt für weitere zerebrale Fehlbildungen oder Geburtsschädigungen besteht. Kinder mit solchen Kriterien haben eine relativ geringe Überlebenschance und sind meist mental behindert. Für die Einschätzung der Prognose ist es deshalb wichtig, früh die Höhe und Schwere der Querschnittsläsion festzustellen, ζ. B. durch eine Elektromyographie (EMG). Infolge der meist assoziierten Arnold-Chiari-Fehlbildung entwickelt sich bereits in den ersten Tagen ein Hydrozephalus. Die Indikation zu einem operativen Shunt muß aufgrund der Z u n a h m e des Kopfumfanges, nach dem sonographischen und computertomographischen Befund mit Bestimmung der Hirnmanteldicke ( < 1 0 - 1 5 mm) erfolgen. Andere Fehlbildungen (Migrationsstörungen) stellen eine Kontraindikation dar. Die weitere Behandlung besteht in Krankengymnastik, nach Möglichkeit mit isometrischem Training auch der Beckenbodenmuskulatur (ζ. B. Vojta-Therapie), Kontrolle der Blasenfunktion durch Sonographie und möglichst frühes Erreichen einer automatischen Blasenentleerung, ferner frühzeitige Versorgung mit orthopädischen Hilfsmitteln. In vielen Fällen sind orthopädische Korrekturen (ζ. B. bei Hüftluxation, Fußfehlstellungen) nicht zu umgehen. Wegen der Sensibilitätsstörungen ist meist eine Dekubitusprophylaxe notwendig.

Therapie der Spina bifida cystica: operativer Verschluß innerh. 6 - 8 h, evtl. 22 h bei antibiotischem Schutz. Nur bedingte Op.-Indikation bei Schweregrad (1), evtl. (2) bei erhöhtem Kopfumfang, zusätzlichen Fehlbildungen. Indikation zu Shuntoperation: - Hirnmanteldicke Hirndurchblutung, Herz, - Perfusionsdruck. Hämorheologische Parameter: - Hämatokrit, - Erythrozytenverformbarkeit, - Erythrozyten- und Thrombozytenaggregation, - Vollblut- u. Plasmaviskosität.

Epidemiologie Inzidenz: 150/100 000/Jahr Prävalenz: 600/100000/Jahr. Erblichkeit: nur familiäre Häufung. Mortalität: ist im Abnehmen begriffen.

Risikofaktoren: - Hypertonie,

Gefäßkrankheiten Als häufigste neurologische Erkrankung ist die zerebrale Durchblutungsstörung in Diagnostik und Therapie ein multidisziplinäres Problem. Neben dem Neurologen ist der Allgemeinmediziner, Internist (Kardiologe und Hämatologe), Chirurg (Gefäß- und Neurochirurg), der Präventiv- und Rehabilitationsmediziner gefordert, diese Krankheit zu verhindern, ätiologisch und pathogenetisch einzuordnen und zu behandeln. Trotz der Häufigkeit zerebraler Durchblutungsstörungen und trotz immenser Datenfülle in der Literatur bestehen diagnostisch und therapeutisch weiterhin viele Unsicherheiten. Grundlage einer erfolgreichen Therapie ist die Klärung der zugrundeliegenden Störung. Ein modernes pathogenetisches Konzept der zerebralen Durchblutungsstörung hat neben dem anamnestischen und klinischen Verlauf anhand morphologischer, hämodynamischer, kardiovaskulärer und hämorheologischer Parameter die Pathogenese zu klären. Morphologische Parameter sind der Typ der Läsion (ischämischer oder hämorrhagischer Infarkt, Blutung), deren Konfiguration und Größe (totaler, zentraler, lakunärer oder Grenzzonen-Infarkt, s. Abschn. 13.1.12.2), die topographisch exakte Lokalisation des betroffenen Hirnareals, die Gefäßläsion (arteriell oder venös, Makro- oder Mikroangiopathie), die Differenzierung von Thrombose, Thromboembolie und Embolie bzw. arterieller Zufluß- oder venöser Abflußstörung. Hämodynamische und kardiovaskuläre Parameter sind das Muster der präexistierenden Anastomosen und verfügbaren Kollateralen, der systemische und lokale Blutdruck (z.B. poststenotisch), der Perfusionsdruck, der intrakranielle Druck und sein Einfluß auf die Hirndurchblutung und das Herz als Motor und Emboliequelle. Hämorheologische Faktoren sind der Hämatokrit, die Erythrozytenverformbarkeit, die Erythrozyten- und Thrombozytenaggregation, die Vollblut- und Plasmaviskosität, welche in komplizierten und noch nicht eindeutig geklärten Wirkungen und Wechselwirkungen die Mikrozirkulation beeinflussen.

13.1.4 Epidemiologie Schlaganfälle stehen in der Todesursachenstatistik an dritter Stelle hinter Herzkrankheiten und bösartigen Tumoren. Die jährliche Inzidenz (Anzahl der Neuerkrankungen/Jahr) wird auf 150 pro 100000 Einwohner geschätzt, die Prävalenz (Zahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer bestimmten Krankheit betroffenen Patienten) auf 600 pro 100 000 Einwohner. Die Inzidenz des Schlaganfalls zeigt eine strenge Altersabhängigkeit mit einer Verdoppelung der Inzidenzrate für jedes Jahrzehnt über 50 Jahre. Frauen und Männer sind etwa gleich häufig betroffen. Erblichkeit läßt sich nicht nachweisen, wohl aber familiäre Häufung durch prädisponierende Erkrankungen wie Hypertonie und Herzkrankheiten. Die Mortalität an Schlaganfällen hat in den letzten 30 Jahren deutlich abgenommen, wahrscheinlich durch die frühere Entdeckung und Kontrolle von Risikofaktoren, besonders der arteriellen Hypertonie. Dies weist auf die besondere Bedeutung der Präventivmedizin hin.

13.1.5 Risikofaktoren Die Hypertonie ist Hauptrisikofaktor für die zerebrale Arteriosklerose und damit für die Hirnblutung und auch den ischämischen Hirninfarkt. Dabei ist es unerheblich, ob eine isolierte Erhöhung des systolischen (>160 mm Hg)

513

Zerebrale Durchblutungsstörungen oder des diastolischen Blutdrucks ( > 9 5 m m Hg) vorliegt. Das Risiko eines Schlaganfalls nimmt proportional mit steigendem systolischem oder diastolischem Blutdruck zu, und Hypertoniker erleiden, abhängig von Alter und Geschlecht, zwei- bis über dreizehnmal häufiger eine zerebrale Durchblutungsstörung als Normotoniker. Nach dem Alter („physiologischer Risikofaktor") und der Hypertonie stehen Herzerkrankungen (Herzinfarkt, Rhythmusstörungen, Herzklappenerkrankungen, Linksherzinsuffizienz, Kardiomyopathie u. a.) an dritter Stelle in der Rangordnung der Risikofaktoren. Patienten mit Herzkrankheiten haben, unabhängig vom Blutdruckniveau, ein mehr als zweifaches Hirninfarktrisiko. Bei chronischem Vorhofflimmern im R a h m e n einer Koronarsklerose ist das Risiko um das Fünffache erhöht, bei Vorhofflimmern im Rahmen einer rheumatischen Herzerkrankung, besonders bei Mitralstenose, um annähernd das Achtzehnfache. Die Kombination von Hypertonie und Herzerkrankung bedeutet eine weitere Risikosteigerung. Ältere Menschen erleiden nicht selten einen Herz- und Himinfarkt, und die häufigste Todesursache von Patienten mit Hirninfarkt ist nicht die zerebrale Durchblutungsstörung, sondern die koronare Herzerkrankung.

-

Alter, Herzerkrankungen, Diabetes mellitus, Serumlipide, orale Kontrazeptiva, Blutveränderungen, Nikotin- und Alkoholabusus.

Ein Diabetes mellitus erhöht das Hirninfarktrisiko u m das Zweifache. 2 0 - 3 0 % der Patienten mit Hirninfarkt leiden an Diabetes mellitus. Eine verminderte Glukosetoleranz ist weitaus häufiger zu finden (bis 70 %). Zudem sind Diabetiker häufiger von Hypertonie, kardiovaskulären Erkrankungen, Fettstoffwechselstörungen und Übergewicht betroffen. Die Bedeutung der Serumlipide, vor allem des Cholesterins als Hauptrisikofaktor des Herzinfarkts, ist als Risikofaktor für den Hirninfarkt nicht eindeutig erklärt. Wahrscheinlich erhöht aber eine Erniedrigung des antiatherogenen HDL-Cholesterins und Erhöhung des atherogenen LDL-Cholesterins das Risiko. Orale Kontrazeptiva erhöhen das Risiko für ischämische Insulte u m das Dreifache, für Hirnblutungen u m etwa das Zweifache. Zu einem deutlichen Risikoanstieg (bis zum Dreizehnfachen) kommt es bei gleichzeitigem Vorliegen von Hypertonie, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Migräne oder Nikotinabusus. Während hämorheologische Faktoren (vorwiegend Polyglobulie oder -zythämie, Hämatokritsteigerung, gesteigerte Thrombozyten- und Erythrozytenaggregation) und Nikotinabusus als erhöhtes Hirninfarktrisiko angesehen werden, spielen Übergewicht und Hyperurikämie als Einzelfaktoren offenbar keine wesentliche Rolle, wohl aber in Kombination mit anderen anerkannten Risikofaktoren. Die Rolle eines Alkoholabusus ist noch nicht eindeutig geklärt, zunehmend häufiger wird aber ein Zusammenhang zwischen Alkoholintoxikation und Hirninfarkten oder Subarachnoidalblutungen gesehen.

13.1.6 Zerebrale Durchblutungungsstörungen als Ursache epileptischer Anfälle Etwa 8 - 1 0 % der im Erwachsenenalter auftretenden Epilepsien werden durch eine zerebrale Durchblutungsstörung (Ischämie, Blutung, Gefäßmißbildung) verursacht. Bemerkenswert ist, daß zerebralorganische Anfälle, die nach dem 50. Lebensjahr auftreten (Spätepilepsie), zweimal häufiger durch eine vaskuläre Störung als durch einen Tumor bedingt sind. Häufigste Ursache ist die zerebrale Arteriosklerose, gefolgt von Angiomen und Blutungen.

Zerebralorganische Anfälle

Spätepilepsie

Gefäßkrankheiten

514 Anatomische Grundlagen

13.1.7 Anatomische Grundlagen

Hirnarterien: - extrakranielle,

13.1.7.1 Hirnarterien

- intrakranielle.

Zu unterscheiden sind extrakranielle und intrakranielle Hirnarterien. Zu ersteren gehören der Aortenbogen bis zum Abgang der linken A. subclavia, der Truncus brachiocephalicus, die Aa. subclaviae bis zum Abgang der Vertebralarterien, die paarige Aa. carotis communis und interna und die Vertebralarterien bis zum Eintritt in die Schädelbasis (Abb. 13-1). Intrakranielle Hirnarterien sind die hirnversorgenden Arterien im Schädelinneren. Durch das Tentorium cerebelli wird das Gehirn in supra- und infratentorielle Strukturen unterteilt. Oberhalb des Tentoriums gelegene Strukturen erhalten Blut von Ästen der A. carotis interna (Aa. choroidea anterior, cerebri anterior und cerebri media) und auch der A. cerebri posterior, unterhalb gelegene von den Vertebralarterien und der A. basilaris.

Abb. 13-1 Extra und intrakranielle Hirnarterien mit den wichtigsten Kollateralen (modif. nach Mumenthaler) 1 A. carotis externa - A.facialis - A.angularis - A.ophthalmica - Karotis-Siphon 2 A. carotis externa - A. occipitalis - Muskeläste - A. vertebralis 3 A. subclavia - A. thyreocervicalis - okzipitale Muskeläste - A. vertebralis 4 A. vertebralis - meningeale Äste - Aa. spinales 5 A. cerebri anterior - A. pericallosa - Rr. callosi - A. cerebri posterior 6 A. cerebri anterior dextra - A. communicans anterior - A. cerebri anterior sinistra 7 A. cerebri media - Rr. parietooccipitales - A. cerebri posterior 8 Karotis-Siphon - A. communicans posterior - A. cerebri posterior 9 Karotis-Siphon - A. choroidea anterior - A. choroidea posterior - A. cerebri posterior 10 A. cerebri posterior - Rr. corticales - A. cerebelli superior 11 Α. cerebelli superior - Rr. corticales - A. cerebelli inferior anterior 12 A. cerebelli inferior anterior - Rr. corticales - A. cerebelli inferior posterior

Zerebrale Durchblutungsstörungen

515

Eine andere Unterteilung bezieht sich auf die Stammarterien A. carotis interna (Karotissystem) und A. vertebralis bzw. A. basilaris (vertebrobasiläres System). Die Aa. cerebri posteriores entspringen üblicherweise als Endverzweigungen aus der A. basilaris, sind aber von der embryonalen Entwicklung her, wie auch die A. communicans posterior, Äste der A. carotis interna.

Abb. 13-2 Vaskularisationsschema des Großhirns (modif. nach Lazorthes) 1 Gebiet der A. cerebri anterior 2 Gebiet der A. cerebri media 3 Gebiet der A. cerebri posterior 4 Gebiet der A. choroidea anterior 5 Gebiet der A. choroidea posterior 6 Gebiet der A. communicans posterior

Das Karotissystem versorgt die Augen, die Basalganglien, den überwiegenden Anteil des Hypothalamus, die Frontal- und Parietallappen und den überwiegenden Anteil der Temporallappen (Abb. 13-2). Das vertebrobasiläre System versorgt Anteile der Temporallappen, die Okzipitallappen, den Hauptanteil des Thalamus, Mittelhirn, Brücke, Medulla oblongata, Kleinhirn, Innenohr und den oberen Abschnitt des Rückenmarks (Abb. 13-3). Zur zerebralen Topographie s. Abbildungen 13-2, 13-3 und 13-19. Das arterielle Versorgungsmuster ist für alle Hirnabschnitte weitgehend identisch und hängt von drei Gefäßtyen ab: - Lange, hirnumfassende Äste der Stammarterien (z.B. Äste der Aa.cerebri media oder cerebelli superior), deren Endäste an der Hirnoberfläche Anastomosen bilden (leptomeningeale Anastomosen) und in ihrem weiteren Verlauf eine Unzahl von Ästen abgeben, die in das Gehirn eintreten, - kurze, hirnumfassende Äste der Stammarterien (laterale Perforanten), welche nach einer kürzeren Distanz penetrierende Äste zur Versorgung der grauen und weißen Substanz abgeben und - paramedian oder median perforierende Arterien, die unmittelbar nach ihrem Abgang aus der Stammarterie (ζ. Β. A. basilaris) das Gehirn penetrieren und zentrale Kerngebiete versorgen. Im Gegensatz zu den langen, hirnumfassenden Arterien besitzen die zwei übrigen Typen nur sehr wenige Anastomosen. Sie sind auch angiographisch

Karotissystem versorgt: - Augen, - Basalganglien, - Hypothalamus, - Frontal·, Parietal- und Temporallappen. vertebrobasiläres System versorgt: - oberen Ruckenmarksabschnit, - Innenohr, - Kleinhirn, - Medulla oblongata, - Pons, - Mittelhirn, - Thalamus, - Okzipital- und Temporallappen, Arterielles Versorgungsmuster - abhängig von 3 Gefäßtypen.

516

Gefäßkrankheiten

Abb. 13-3a Die Versorgungsgebiete der Aa. vertebralis, basilaris und ihrer Äste. Vaskularisationsgebiete im hinteren Abschnitt des Circulus arteriosus cerebri in seitlicher Ansicht (modif. nach Gänshirt) 1 A. cerebri posterior 2 A. cerebelli superior 3 Aa. basilaris et cerebelli superior 4 Α. cerebelli inferior posterior 5 A. vertebralis (A. cerebelli inferior posterior, A. spinalis anterior, A. spinalis posterior) Abb. 13-3b Vaskularisationsgebiete im hinteren Abschnitt des Circulus arteriosus cerebri von der Basis aus gesehen (modif. nach Gänshirt) 1 A. cerebri posterior 2 A. cerebelli superior 3 Aa. paramedianae der A. basilaris 4 A. cerebelli inferior posterior 5 A. spinalis anterior et Aa. paramedianae der A. vertebralis 6 A. cerebelli inferior posterior 7 A. spinalis posterior

Karotissystem Α. carotis interna - A.ophthalmica, - A.communicans posterior, - A.choroidea anterior, - A. cerebri anterior, - A. communicans anterior, - A. cerebri media.

A. communicans posterior verbindet Karotis- und vertebrobasiläres Sy stem (A.carotis interna und A.cerebri poste rior).

n u r vereinzelt darstellbar, so daß m i t dieser M e t h o d e n u r ein geringer A n t e i l der arteriellen G e f ä ß v e r s o r g u n g des G e h i r n s (etwa 10 %) erfaßt wird. Karotissystem (Abb.13-4): Als erster kräftiger Ast der A. carotis i n t e r n a entspringt die A. ophthalmica d e m vorderen Anteil das K a r o t i s s i p h o n u n d zieht z u s a m m e n m i t d e m Sehnerv d u r c h das F o r a m e n o p t i c u m in die Orbita, wo sie sich m e h r f a c h aufteilt. Wichtigster Ast ist die A. centralis retinae. E n d ä s t e (Aa. supratrochlearis u n d -orbitalis) a n a s t o m o s i e r e n m i t E n d ä s t e n der A. carotis externa (Aa. t e m p o r a l i s superficialis, facialis u n d maxillaris) u n d bilden die Ophthalmika-Kollaterale, welche als U m g e h u n g s k r e i s l a u f B e d e u t u n g bei hochgradiger Stenose oder V e r s c h l u ß der A. carotis i n t e r n a im H a l s a b s c h n i t t b e k o m m t (vgl. A b b . 13-1 u n d 13-8). Die A. communicans posterior entspringt m i t sehr v a r i a b l e m Kaliber kranial der A. o p h t h a l m i c a , aber n o c h d e u t l i c h k a u d a l der intrakraniellen Karotisbif u r k a t i o n . Sie stellt ü b e r die A. cerebri posterior die V e r b i n d u n g m i t d e m vert e b r o b a s i l ä r e n System her. E i n e Fülle p e n e t r i e r e n d e r Äste versorgt in i h r e m vorderen A n t e i l d e n H y p o t h a l a m u s u n d v e n t r a l e n T h a l a m u s , das vordere Drittel des Tractus opticus u n d d e n h i n t e r e n Anteil der C a p s u l a i n t e r n a . Die posteriore G r u p p e versorgt d e n N u c l e u s s u b t h a l a m i c u s . Alle diese Äste bilden u n t e r e i n a n d e r keine A n a s t o m o s e n , sind also reine E n d a r t e r i e n . Je n a c h D r u c k g r a d i e n t ist die S t r ö m u n g in der A. c o m m u n i c a n s posterior in Richt u n g der Aa. carotis i n t e r n a oder cerebri posterior gerichtet, a u c h h e r z p h a s e n a b h ä n g i g e a l t e r n i e r e n d e S t r ö m u n g s r i c h t u n g ( P e n d e l s t r ö m u n g ) k o m m t vor (s. A b s c h n i t t 13.1.8 u n d 13.1.3.4).

517

Zerebrale Durchblutungsstörungen

Abb. 13-4 Verlauf der H i r n a r t e r i e n , w i e sie sich im Karotisa n g i o g r a m m darstellen (modif. nach H u b e r ) a) Profilaufnahme, b) A u f n a h m e nach T o w n e . 1 A. carotis i n t e r n a 2 A. o p h t h a l m i c a 3 A. c o m m u n i c a n s p o s t e r i o r 4 A. c e r e b r i p o s t e r i o r 5 A. c h o r o i d e a a n t e r i o r 6 A. pericallosa 7 A. f r o n t o o r b i t a l i s 8 g e m e i n s a m e r S t a m m von 9 u n d 10 9 A. f r o n t o p o l a r i s 10 A . f r o n t a l i s interna a n t e r i o r 11 A. frontalis interna media 12 A. frontalis interna posterior 13 A. parietalis interna s u p e r i o r 14 Α. parietalis interna i n f e r i o r 15 A. o r b i t o f r o n t a l i s 16 Aa. praefrontales 17 A. p r a e r o l a n d i c a 17a A. r o l a n d i c a 18 19 20 21 22 23 24 25

A. A. A. A. A. A. A. A.

parietalis a n t e r i o r parietalis p o s t e r i o r g y r i angularis temporalis media t e m p o r a l i s posterior temporopolaris temporalis anterior temporooccipitalis

518

Gefäßkrankheiten

A. choroidea anterior verbindet Karotis- und vertebrobasiläres System (A.carotis interna und A.cerebri posterior)

Die A. choroidea anterior entspringt kranial der A. communicans posterior knapp unterhalb der intrakraniellen Karotisbifurkation, selten aus der A. communicans posterior oder A. cerebri media. Sie verläuft zunächst unter dem Tractus opticus nach hinten zum vorderen Anteil des Corpus geniculatum laterale, wo sie mit der A. choroidea posterior aus der A. cerebri posterior anastomosiert (intrazerebrale Kollaterale zwischen Karotis- und vertebrobasilärem System, vgl. Abb. 13-1). Sie versorgt mit ihren Ästen den Plexus choroideus des Temporalhorns des Seitenventrikels, das Knie und den hinteren Abschnitt der Capsula interna, welcher die Hör- und Sehstrahlung enthält, den Globus pallidus, Tractus opticus und das Corpus geniculatum laterale. Die penetrierenden Äste sind wiederum Endarterien mit Mündung in ein Kapillarnetz.

A. cerebri anterior

Von der intrakraniellen Karotisbifurkation zieht die A. cerebri anterior zunächst fast horizontal z u m Interhemisphärenspalt (präkommunikaler oder Α 1-Abschnitt), wo sie über die A. communicans anterior mit der kontralateralen A. cerebri anterior bzw. dem kontralateralen Karotissystem verbunden ist. Wichtigster Ast in diesem Abschnitt ist die A. recurrens Heubner (A. centralis longa), die den Bulbus olfactorius, den vorderen Schenkel der inneren Kapsel und rostromediale Anteile des Putamen, Thalamus und Kaudatumkopfs versorgt. Nach der Vereinigungsstelle ziehen die beiden Aa. cerebri anteriores fast senkrecht nach oben (A 2-Abschnitt), sind in variablen Abständen durch feine Anastomosen verbunden, verlaufen über das Balkenknie und als Aa.pericallosae über den Balken, wo sie mit Endästen der Aa. cerebri posteriores die „Balkenanastomose" bilden, die als intrazerebrale Kollaterale zwischen Karotis- und vertebrobasilärem System bedeutsam ist. Die Äste der A. cerebri anterior (Aa. frontobasalis, frontopolaris, callosomarginalis und pericallosa) versorgen die mediale Hemisphärenoberfläche bis über die Mantelkante, wo sie Anastomosen mit Endästen der A. cerebri media bilden. Die A. communicans anterior liegt in der Mittellinie oberhalb des Chiasma opticum. Sie kann doppelt oder dreifach angelegt sein, aber auch fehlen und ist die wichtigste Verbindung zwischen den Kreisläufen beider Karotiden. Als stärkster Ast der A. carotis interna biegt an der intrakraniellen Karotisbifurkation die

A. communicans anterior

A. cerebri media

Vertebrobasiläres System

A. cerebelii inferior posterior (PICA)

Wallenberg-Syndrom

A. cerebri media, den Verlauf der A. carotis interna fortsetzend, nach lateral u m (Hauptstamm oder Μ 1-Abschnitt). Aus dem Hauptstamm entspringen nach oben die feinen, büschelförmig angeordneten lentikulostriären Arterien („Apoplexiearterien"), welche zur Versorgung des Putamen, lateralen Globus pallidus, lateralen und dorsalen Kaudatumkopfes und der inneren und äußeren Capsula interna beitragen. Am Beginn der Fissura Sylvii teilt sich der Hauptstamm in zwei oder mehr (bis fünf) Äste auf (M 2-Abschnitt), die in den Sulci der Hemisphärenoberfläche nach oben verlaufen. Einzelne Endäste anastomosieren mit Endästen der Aa. cerebri anterior und posterior (leptomeningeale Anastomosen). Die A. cerebri media vesorgt den größten Teil der Großhirnhemisphären, entsprechend groß ist ihr Anteil am Blutvolumen (etwa 80 %), das zu den Großhirnhemisphären gelangt, und daher sind auch klinische Syndrome im Mediastromgebiet häufiger. Vertebrobasiläres System (Abb. 13-5): Erste intrakranielle Äste der A. vertebralis sind die Aa. spinalis posteriores zur Dorsalseite der Medulla oblongata. Zweiter Ast ist die kaliberkräftige A. cerebelii inferior posterior (PICA), welche die d o r s o l a t e r a l Medulla oblongata, die Kleinhirnunterfläche und -tonsillen und den Plexus choroideus des 4. Ventrikels versorgt. Blutmangel in ihrem Versorgungsbereich bewirkt das Wallenberg-Syndrom (s. Abschn. 13.1.13.12). Anastomosen bestehen zu Ästen der Aa. cerebelii inferior anterior und superior zur Kollateralversorgung bei hohem Vertebralis-

Zerebrale Durchblutungsstörungen

Abb. 13-5 Verlauf von Arterien des ber) a) Seitliches Bild V2 A. vertebralis in der 2. Strecke V 3 A. vertebralis in der 3. Strecke V 4 A. vertebralis intrakraniell 1 A. cerebelli inferior posterior 2 A. basilaris 3 A. cerebelli superior 4 A. cerebri posterior 5 A. temporooccipitalis 6 A. occipitalis medialis 7 Aa. choroideae posteriores mediales et laterales 8 Α. corporis callosi dorsalis 9 A. communicans posterior 10 Aa. thalamicae

ibrobasilären Systems (modif. nach Hub) A n t e r o p o s t e r i o r s Bild V 2 A. vertebralis in der 2. Strecke V 3 A. vertebralis in der 3. Strecke (zwischen Axis und Atlas) V 4 A. vertebralis intrakraniell 1 A. cerebelli inferior posterior 2 R. caudalis vermis 3 R. tonsillohemisphaericus 4 A. basilaris 5 A. cerebelli superior 6 A. marginalis (R. marginalis) 7 R. cranialis vermis 8 Α. temporooccipitalis 9 A. occipitalis interna 10 A. cerebri posterior

519

520

Gefäßkrankheiten

A. spinalis

anterior

A. basilar is

Aa. cerebelli inferior anterior und cerebelli superior

A. cerebri

A.

(Al CA)

posterior

calcarina

A. communicans

A. choroidea

posterior

posterior

Ophthalmika-Kollaterale

Vertebralis-Okzipitalis-Anastomose

arteriosus

leptomeningeale

A. labyrinthi (A. auditiva), die meist aus der AICA, seltener direkt aus der A. basilaris abgeht. Sie ist eine Endarterie, und ihre Mangeldurchblutung ergibt oft erste Hinweise auf eine vertebrobasiläre Insuffizienz. Direkt von der A. basilaris geht eine Vielzahl kleiner Äste zur Brücke ab (mediane und paramediane Ponsarterien). Die Aa. cerebri posteriores stellen meist die Endverzweigung der A. basilaris dar, in etwa 10 % entspringen sie direkt der A. carotis interna. Sie überqueren den N. oculomotorius, verlaufen bogig nach dorsomedial um das Mittelhirn und gelangen auf das Tentorium cerebelli. Sie versorgen das Mittelhim, mediobasale Teile des Temporal- und Okzipitallappens, die Sehrinde und mit der A. calcarina das primäre Sehzentrum (vgl. Abb. 13-2 und 13-3). Die Verbindung zum Karotissystem wird über die A. communicans posterior hergestellt, die oben bereits besprochen wurde. Kurz nach dem Ursprung der Aa. cerebri posteriores entspringen die Aa. choroideae posteriores, die Abschnitte des Thalamus, Spleniums und Plexus choroidus des 3. Ventrikels versorgen und mit Endästen der A.choroidea anterior anastomosieren (vgl. Abb. 13-1). 13.1.7.2 Kollateralsysteme der Hirnarterien (Abb. 13-1 und 13-8)

Kollateralsysteme

Circulus

oder Basilarisverschluß (vgl. Abb. 13-1). Als letzter Ast der A. vertebralis entspringt die A.spinalis anterior zur Versorgung ventromedialer Anteile der Medulla oblongata, nach kaudal verlaufend. Aus der Vereinigung der beiden Vertebralarterien entsteht die A. basilaris am Übergang von Medulla oblongata und Pons, an deren Unterseite sie bis an den Übergang zum Mittelhirn verläuft und sich in die Aa. cerebri posteriores aufteilt. Zu den hirnumfassenden Ästen der A. basilaris gehören die Aa. cerebelli inferior anterior (AICA) und cerebelli superior, wobei erstere die untere und seitliche Fläche des Kleinhirns, zudem die Kerne des VII. bis IX. und XII. Hirnnerven, letztere die Kleinhirnoberfläche, die Brükkenhaube und Bindearme versorgt (vgl. Abb. 13-3). Von besonderer klinischer Bedeutung ist die Versorgung des Innenohrs über

cerebri

Anastomosen

Auch hier ist aus praktischen Gründen zwischen extra- und intrakraniellen Kollateralsystemen zu unterscheiden. Abhängig vom Druckgradienten kann sich die Strömungsrichtung in Kollateralen umkehren (s. Abschn. 13.1.8). Wichtigste extrakranielle Kollateralen sind die Ophthalmika-Kollaterale zwischen dem Kreislauf der Aa. carotis externa und interna über Äste der A. ophthalmica (s. o.) und die Vertebralis-Okizipitalis-Anastomose zwischen Muskelästen der A. vertebralis und der A. occipitalis (Ast der A. carotis externa) als Verbindung des Karotis· und vertebrobasilären Systems. Intrakranielle Kollateralsysteme sind ζ. T. bereits oben besprochen, besondere Bedeutung besitzt die Vertebralis-Vertebralis-Anastomose am Zusammenfluß zur A. basilaris hinsichtlich des Subclavian-Steal (s. Abschn. 13.1.13.3). Wichtigstes Blutverteilungs- und Druckausgleichssystem ist der Circulus arteriosus cerebri (Willisii), der die Karotissysteme beider Seiten über die A. communicans anterior und das Katoris- mit dem vertebrobasilären System über die Aa. communicantes posteriores verbindet. Distal des Circulus arteriosus cerebri sind die leptomeningealen Anastomosen von großer Bedeutung, welche die Stromgebiete der Aa. cerebri media, anterior und posterior verbinden.

521

Zerebrale Durchblutungsstörungen 13.1.7.3

Hirnvenen

Sie verlaufen unabhängig von den Arterien und besitzen keine Klappen. Wichtigste Austrittstelle des venösen Bluts ist das Foramen jugulare. Die venöse Drainage des Gehirns erfolgt über tiefe (zentrale, innere) und oberflächliche (kortikale, äußere) Hirnvenen und die Hirnsinus. Einzelheiten werden im Zusammenhang mit den Hirnsinusund Venenthrombosen (Abschn. 13.1.19) besprochen.

13.1.8 Hämodynamische Grundlagen Für das Verständnis der Pathogenese zerebraler Durchblutungsstörungen, besonders des ischämischen Hirninfarkts, ist die Kenntnis der hämodynamischen Gesetzmäßigkeiten eine wesentliche Voraussetzung. Dies gilt auch für die Interpretation doppler-sonographischer Befunde (s.Kap. 1.3.4). Die Strömung in einem Blutgefäß wird durch die Druckdifferenz (ΔΡ) zwischen seinen beiden Enden, d. h. die Kraft, die das Blut durch das Gefäß schiebt und den Strömungswiderstand (R), d. h. die Behinderung der Strömung, bestimmt. Die Stromstärke (i), das pro Zeiteinheit durch einen bestimmten Gefäßquerschnitt fließende Blutvolumen, wird also im wesentlichen durch diese beiden Größen beeinflußt: 1 =

Hirnvenen - tiefe, - oberflächliche, - Sinus.

Hämodynamische Grundlagen

Druckdifferenz (ΔΡ) Strömungswiderstand (R) Stromstärke (i) . ΔΡ

,=

T

ΔΡ Ί Γ

Diese Gleichung gilt für den Blutkreislauf nur im zeitlichen Mittel, da pulsatile Änderungen der Größen i und R nicht berücksichtigt werden. Neben der Druckdifferenz wird die Stromstärke von der Viskosität (η) und den Abmessungen des Gefäßes (Länge und Radius) bestimmt: .

ΔΡ r4 π 8η1

Danach ist der Strömungswiderstand direkt porportional der Viskosität und Gefäßlänge, umgekehrt proportional der 4. Potenz des Gefäßradius: R =

8η1

Radiusänderungen haben demnach große Widerstandsänderungen zur Folge und bei konstanter Druckdifferenz große Änderungen der Stromstärke. Diese Gesetzmäßigkeiten sind wichtig für die Beurteilung von Stenosen und Verschlüssen der hirnversorgenden Arterien unter hämodyamischen Gesichtspunkten. Die Strömungsgeschwindigkeit ist proportional der Stromstärke (i) und umgekehrt proportional dem Gefäßquerschnitt (Q):

bzw.

APr2 8η1

Bei konstanter Druckdifferenz führt z.B. die Halbierung des Gefäßradius zu einer Vervierfachung der Strömungsgeschwindigkeit, und eine Reduktion der Viskosität bzw. das Hämatokrit führt ebenfalls zu einem Anstieg der Strömungsgeschwindigkeit und Stromstärke. Laminar ist die Strömung, wenn das Blut mit konstanter Stromstärke in zylindrischen Gleitschichten fließt, deren Abstand zur Gefäßwand konstant bleibt. Bei starker Z u n a h m e der Strömungsgeschwindigkeit oder nach einem deutlichen Kalibersprung (bzw. Stenose) kann turbulente Strömung auftreten,

Strömungswiderstand: - direkt proportional der Viskosität u. Gefäßlänge, - umgekehrt proportional der 4. Potenz des Gefäßradius. Folge: Radiusänderungen —» große Änderungen von Widerstand und Stromstärke.

Strömungsgeschwindigkeit - direkt proportional der Stromstärke; - umgekehrt proportional dem Gefäßquerschnitt. Folge: Halbierung des Gefäßradius —» 4fache Strömungsgeschwindigkeit.

Strömungsform:

- laminar, - turbulent.

522

Gefäßkrankheiten wobei dann das Blut unregelmäßig in axialer und lateraler Richtung fließt mit Zerreißung der Gleitschichten durch Wirbelbildung und Vermischung der fließenden Elemente über den ganzen Gefäßquerschnitt. Die Tendenz zu turbulenter Strömung nimmt in direkter Proportion zur Strömungsgeschwindigkeit (v) und dem Gefäßdurchmesser (2 r) zu und verhält sich umgekehrt proportional zur Viskosität des Blutes. Turbulente Strömung bedingt einen wesentlich höheren Gefäßwiderstand.

Stenose hämodynamisch relevant, wenn poststenotisch Abfall der Stromstärke.

13.1.8.1 Hämodynamische Relevanz einer Stenose Eine Stenose ist als hämodynamisch relevant zu definieren, wenn sie eine Abnahme der poststenotischen Stromstärke bedingt. Bezogen auf den Stenosierungsgrad kommt es ab einer Lumeneinengung von etwa 60 % oder Querschnittsreduktion u m etwa 80 % zu einer Abnahme der Stromstärke (Abb. 13-6). Allerdings kann eine Stenose bereits bei geringerer Lumeneinengung hämodynamisch relevant werden, wenn die Stromstärke ipsilateral bei kontralateralem Verschluß erhöht oder der Strömungswiderstand insgesamt erniedrigt ist (z.B. Angiom). Dies gilt auch bei verminderter Autoregulation. ρ=mittlerer poststenotischer Druck (mm Hg) iL i=mittlere Stromstärke (ml/min)

20

40

60

80

100

Abnahme des Gefäßquerschnittes in % Abb. 13-6 Beeinflussung der poststenotischen Stromstärke (i) und des poststenotischen Drucks (p) durch Abnahme des Gefäßquerschnitts. Kritischer Bereich grau (modif. nach Flaningan) Hämodynamik in Kollateralen

13.1.8.2 Hämodynamik in Kollateralen

Die Benutzung und Strömungsrichtung einer Kollaterale ist vom veränderten Druck-Gradienten und ihrem Strömungswiderstand abhängig.

Von besonderer Bedeutung ist die Hämodynamik (Stromstärke, Strömungsgeschwindigkeit und -richtung) in den Umgehungskreisläufen zur Kompensation einer Strömungsbehinderung durch kollaterale Blutversorgung. Die Benutzung und Durchströmungsrichtung einer Kollateralen ist allein vom veränderten Druckgradienten und dem Strömungswiderstand, den die Kollaterale selbst darstellt, abhängig. Wie bereits in Abschn. 13.1.7.2 beschrieben, können die vier großen hirnversorgenden Arterien sowohl ipsi- als auch kontralateral umgangen werden. Die Anastomosenbereiche stellen Wasserscheiden dar, die, abhängig vom Druckgefälle, in beiden Richtungen verschoben werden können. Bestes Beispiel hierfür ist die Ophthalmika-Kollaterale, deren Wasserscheide bei proximalem Verschluß der ipsilateralen A. carotis interna von extra- nach intrakraniell mit retrograder Durchströmung der A. ophthalmica verschoben wird. Anatomisch und funktionell sind somit die meisten Abschnitte der großen hirnversorgenden Arterien und die des Circu-

Anastomosenbereiche sind Wasserscheiden, die, abhängig vom Druckgefälle, in beiden Richtungen verschoben werden können. Die meisten Abschnitte der großen hirnversorgenden Arterien sind anatomisch und funktionell als Verbindungsarterien anzusehen.

Zerebrale Durchblutungsstörungen lus arteriosus cerebri als „ V e r b i n d u n g s a r t e r i e n " zu b e t r a c h t e n ( s . A b b . 13-1), in d e n e n die S t r ö m u n g s r i c h t u n g nicht definitiv festgelegt ist, wie in „ E n d a r terien", die in e i n e m kapillären N e t z e n d e n . Das Druckgefälle in „ V e r b i n d u n g s a r t e r i e n " bzw. Kollateralen k a n n sich akut (z.B. e m b o l i s c h e r Verschluß) oder protrahiert (z.B. z u n e h m e n d e Stenosierung) v e r ä n d e r n . Bei z u n e h m e n d e r S t e n o s i e r u n g treten Ü b e r g a n g s f o r m e n von ortho- zu retrograder D u r c h s t r ö m u n g auf, b e d i n g t d u r c h eine h e r z p h a s e n a b h ä n g i g e Ä n d e r u n g des Druckgefälles bzw. der k o n k u r r i e r e n d e n D r u c k e an d e n E n d e n der „Verbindungsarterie". U n t e r n o r m a l e n B e d i n g u n g e n k a n n z.B. die S t r ö m u n g in der A . c o m m u n i c a n s posterior, a b h ä n g i g v o m Druckgefälle zwischen d e m Karotis- u n d vertebrobasilären System, in b e i d e n Richt u n g e n erfolgen oder zwischen d e n b e i d e n S y s t e m e n h e r z p h a s e n a b h ä n g i g p e n d e l n ( P e n d e l s t r ö m u n g ) . U n t e r pathologischen B e d i n g u n g e n lassen sich die Ü b e r g a n g s f o r m e n von ortho- zu retrograder D u r c h s t r ö m u n g w i e d e r u m a m besten a n h a n d des Subclavian-Steal-Effekts auf die S t r ö m u n g in der A. vertebralis b e s c h r e i b e n , wo als b e g i n n e n d e r Steal-Effekt eine systolische E n t s c h l e u n i g u n g der Strömungsgeschwindigkeit u n t e r s c h i e d l i c h e r A u s p r ä gung u n d eine h e r z p h a s e n a b h ä n g i g e Ä n d e r u n g der S t r ö m u n g s r i c h t u n g (Pend e l s t r ö m u n g ) g e f u n d e n werden k a n n (Abb. 13-7). Prinzipiell k ö n n e n diese S t r ö m u n g s f o r m e n u n t e r p a t h o l o g i s c h e n B e d i n g u n g e n in allen „ V e r b i n d u n g s arterien" a u f t r e t e n . Der Extremfall einer Stase der S t r ö m u n g in diesen Arterien ist n i c h t zu erwarten, da s p o n t a n e u n d h e r z p h a s e n a b h ä n g i g e Schwank u n g e n des Druckgefälles eine ständige Bewegung des Blutstroms in F o r m der P e n d e l s t r ö m u n g zur Folge h a b e n . Dies gilt wahrscheinlich a u c h f ü r die leptomeningealen Anastomosen. Bei zerebralem Kreislaufstillstand mit H i r n t o d (vgl. A b s c h n . 2.2.7.5) k o m m t es d u r c h die Druckwelle zu einer oszillierenden Bewegung der Blutsäule in d e n extra- u n d intrakraniellen H i r n a r t e r i e n , da kein A b f l u ß m ö g l i c h ist. Die B e t r a c h t u n g von H i r n d u r c h b l u t u n g s s t ö r u n g e n u n t e r h ä m o d y n a m i s c h e n G e s i c h t s p u n k t e n scheint in H i n b l i c k auf die p a t h o g e n e t i s c h e K l ä r u n g u n d T h e r a p i e (konservativ oder operativ) z u n e h m e n d wichtiger zu werden.

Abb. 13-7 Mit der Doppler-Sonographie (gepulste Schallemission, Spektrum-Analyse der Doppler-Frequenzen) registrierte Strompulskurven der A. vertebralis bei inkomplettem (A1, A2, A3, B) und komplettem Subclavian-Steal-Effekt. Der Pfeil weist jeweils auf den Beginn der systolischen Schwankung der Strömungsgeschwindigkeit (v) hin. ο orthograde Strömungsrichtung; r retrograde Strömungsrichtung

523

Veränderung des Druckgefälles in Kollateralen: - akut bei Gefäßverschluß, - oder protrahiert bei zunehmender Stenose. Subclavian-Steal-Effekt auf die Strömung in der ipsilateralen A. vertebralis: - inkomplett (systolische Strömungsentschleunigung, Pendelströmung), - komplett (retrograde Durchströmung).

Zerebraler Kreislaufstillstand: oszillierende Bewegung der Blutsäule in den extra- und intrakraniellen Hirnarterien.

524

Gefäßkrankheiten

Physiologie und Pathophysiologic der Hirndurchblutung

13.1.9 Physiologie und Pathophysiologie der Hirndurchblutung

Tagesbedarf des Gehirns: - 1 0001 Blut, - 71 I 0 2 , - 100 g Glukose.

In Ruhe benötigt das Gehirn (1400 g), ungeachtet des Bedarfs anderer Organe, 15-20% (700-1 000 ml) des Herzminutenvolumens und zur Aufrechterhaltung seiner normalen Funktion unter allen Umständen jede Minute 5 0 - 7 0 ml Sauerstoff und 75-100 mg Glukose. Der Tagesbedarf (24 h) beträgt somit etwa 1 000 1 Blut, 711 Sauerstoff und 100 g Glukose, abgegeben werden 711 Kohlendioxyd und 7 g Milchsäure. Die Konstanthaltung der Himdurchblutung wird durch die Autoregulation garantiert. Die regionale Himdurchblutung kann im Wach- und Schlafzustand schwanken und auf spezifische Reize zunehmen, um einen erhöhten metabolischen Bedarf zu decken. Mit zunehmendem Alter nehmen im Mittel die zerebrale Durchblutung, der Sauerstoff- und Glukoseverbrauch kontinuierlich ab. Da das Gehirn über keine Energiespeicher verfügt, führt eine Unterbrechung der Durchblutung bereits nach 6 s zu einer Störung des normalen Metabolismus, nach etwa 2 min erlischt die Hirnaktivität und nach etwa 5 min kommt es zu Hirnschäden. Die globale Himdurchblutung beträgt im Mittel 4 5 - 5 0 ml/100 g Gehirn/min bei einem paC0 2 von 40 mm Hg, in der grauen Substanz ungefähr das Doppelte, in der weißen Substanz etwa ein Viertel. Der 0 2 -Verbrauch beträgt 3 ml/100 g/min.

Konstante Hirndurchblutung durch Autoregulation. Regionale Hirndurchblutung paßt sich metabolischer Bedarfssituation an. Im Alter nehmen mittlere zerebrale Durchblutung, Sauerstoff- und Glukoseverbrauch ab. Bei Unterbrechung der Hirndurchblutung: - nach 6 s: Störung des Metabolismus; - nach 2 min: Erlöschen der Hirnaktivität; - nach 5 min: Hirnschaden. Die globale Hirndurchblutung beträgt im Mittel 4 5 - 5 0 m l / 1 0 0 g Gehirn/min.

Abb. 13-8 zeigt die Abhängigkeit der Hirnfunktion von zerebraler Durchblutung und 0 2 -Verbrauch. zerebraler Ü2-Verb rauch [ml/100 g/min] BewuBtlosigkeit

Epilepsie

9

I 8 I

Bewußtsein

Delirium Angst Exzitation alert

zerebrale Durchblutung [ml/100 g/min]

7

150 125

I

6

I

100

5

75

BewuBtlosigkeit

wach Ruhe Schlaf

50

Stupor Koma

25

-Tod-

0

Abb. 13-8 Schwankungsbereich der Werte für die zerebrale Durchblutung und den zerebralen 0 2 -Verbrauch des Menschen (modif. nach Kuschinsky)

Autoregulation

13.1.9.1 Autoregulation

Hirndurchblutung bei arteriellem Mitteldruck zwischen 55 u. 150 mm Hg konstant.

Die Hirndurchblutung bleibt im arteriellen Mitteldruckbereich zwischen etwa 55 und 150 mm Hg konstant. Dies wird als „autoregulatorisches Plateau" bezeichnet (Abb. 13-9). In diesem Bereich wirken sich Änderungen des Blutdrucks durch Erweiterung (bei Blutdruckabfall) oder Verengung (bei Blutdruckerhöhung) der Hirngefäße nicht auf die Hirndurchblutung aus. Oberhalb und unterhalb dieser Grenzen kommt es zu druckpassiver Änderung der Durchblutung. Die autoregulatorische Anpassung erfolgt allerdings nicht unmittelbar, sondern benötigt Minuten. Akute Veränderungen des Blutdrucks können somit zu einer kurzfristigen Mangel- oder Mehrdurchblutung führen. Zur Erklärung der Autoregulation werden myogene, neurogene und metabolische Mechanismen diskutiert. Unter pathologischen Bedingungen, wie etwa beim

autoregulatorische Mechanismen: - myogene - neurogene, - metabolische.

525

Zerebrale Durchblutungsstörungen Hirndurchblutung [ml/100 g/min] 100 η

1 50

r 100

1 150

1 200

mittlerer arterieller Blutdruck [mm Hg] Abb. 13-9

Schematische Darstellung der Autoregulationskurve mit Gefäßweite (o)

H i r n i n f a r k t , k a n n die A u t o r e g u l a t i o n lokal eingeschränkt oder a u f g e h o b e n sein. E i n e c h r o n i s c h e H y p e r t o n i e k a n n das autoregulatorische Plateau n a c h rechts verschieben. H i e r d u r c h werden h ö h e r e Mitteldruckwerte a u f g e f a n g e n , niedrigere allerdings n i c h t m e h r , was z u r M a n g e l p e r f u s i o n f ü h r e n k a n n . U n ter wirksamer antihypertensiver T h e r a p i e k a n n sich das Plateau wieder n a c h links verschieben. 13.1.9.2 E i n f l u ß v o n C 0 2 u n d 0 2 auf d i e H i r n d u r c h b l u t u n g

Einfluß von C0 2 und 0 2 auf die Hirndurchblutung

Zerebrale Arteriolen reagieren hochsensitiv a u f Ä n d e r u n g e n des p a C 0 2 (norm a l 40 m m Hg). Zwischen 20 u n d 55 m g Hg f ü h r t j e d e r m m Hg zu e i n e r Ä n d e r u n g der H i r n d u r c h b l u t u n g von etwa 1 bis 2 m l / 1 0 0 g / m i n . Sinkt der p a C 0 2 ab, k o m m t es zur Vasokonstriktion mit R e d u k t i o n der D u r c h b l u t u n g u n d u m g e k e h r t . E i n e d u r c h Hyperventilation provozierte M a n g e l d u r c h b l u tung des G e h i r n s k a n n B e w u ß t s e i n s s t ö r u n g e n u n d zerebralorganische A n fälle verusachen. Forcierte A t m u n g bei körperlicher Belastung verringert dagegen n i c h t die H i r n d u r c h b l u t u n g , da die m u s k u l ä r e Aktivität z u r A n h ä u f u n g von Laktat u n d C 0 2 f ü h r t , w o d u r c h der respiratorisch b e d i n g t e Abfall des C 0 2 ausgeglichen wird. Bei Anstieg des p a C 0 2 k o m m t es zur Vasodilatation u n d d a m i t M e h r d u r c h b l u t u n g .

Erhöhung des paC0 2 —> Zunahme der Hirndurchblutung und umgekehrt.

Das G e g e n t e i l tritt bei Anstieg oder Abfall des p a 0 2 ( n o r m a l 80 m m Hg) ein. Die V a s o d i l a t a t i o n b e g i n n t bei e i n e m Abfall u n t e r 80 m m Hg u n d wird m a x i m a l bei u n g e f ä h r 25 m m Hg. U n t e r e i n e m p a 0 2 von etwa 18 m m Hg k o m m t es zu Bewußtseinsstörungen.

Erhöhung des pa0 2 —» Abnahme der Hirndurchblutung und umgekehrt

13.1.9.3 E i n f l u ß des i n t r a k r a n i e l l e n

Einfluß des intrakraniellen Drucks

Drucks

D a das G e h i r n k n ö c h e r n eingeschlossen u n d n i c h t k o m p r i m i e r b a r ist, wirkt sich eine globale oder lokale intrakranielle D r u c k s t e i g e r u n g (Normalwert: 0 - 1 5 m m Hg) d u r c h G e f ä ß k o m p r e s s i o n auf d e n P e r f u s i o n s d r u c k aus. N i m m t der intrakranielle D r u c k l a n g s a m progredient zu, k o m m t es z u m Abfall der D u r c h b l u t u n g , w e n n etwa 35 m m Hg ü b e r s c h r i t t e n werden. A k u t e D r u c k s t e i g e r u n g e n f ü h r e n i m m e r zu r e d u z i e r t e r D u r c h b l u t u n g . Ein e r h ö h t e r intrakranieller D r u c k k a n n d u r c h V a s o m o t o r e n p a r a l y s e die A u t o r e g u l a t i o n irreversibel a u f h e b e n . Als Cushing-Phänomen wird die B e o b a c h t u n g b e z e i c h n e t , d a ß ein stark e r h ö h ter intrakranieller D r u c k „protektiv" von e r h ö h t e m B l u t d r u c k begleitet sein kann.

Cushing-Phänomen: Erhöhter intrakranieller Druck von erhöhtem Blutdruck begleitet.

526

Gefäßkrankheiten

Pathophysiologie des ischämischen Insults

13.1.9.4 Pathophysiologie des ischämischen Insults

Im Infarktbezirk - Vasoparalyse, - Autoregulation und C0 2 -Reaktivität geschädigt.

Im akuten Stadium des Hirninfarkts sind die betroffenen Gefäße durch die Laktazidose mit Vasoparalyse dilatiert, die C0 2 -Reaktivität ist eingeschränkt. Ein Anstieg des p a C 0 2 bewirkt somit keine weitere Dilatation, ein Abfall keine Konstriktion der Gefäße. In der Umgebung des Infarkts besitzen die Gefäße normale C0 2 -Reaktivität. Eine Erhöhung des p a C 0 2 kann dann zum Entzug von Blut aus dem Infarktgebiet führen (Steal-Phänomen). Umgekehrt kann durch induzierte Hyperventilation mit Vasokonstriktion der infarktumgebenden Arterien Blut in den Infarktbezirk umgeleitet werden (Countersteal- oder Robin-Hood-Phänomeri). Unter therapeutischen Gesichtspunkten ist dies aber nicht sinnvoll, da durch Vasokonstriktion der reagierenden Gefäße in der Randzone des Infarkts der Infarktbereich ausgeweitet werden kann. Umgekehrt führt eine Erhöhung des p a C 0 2 zur Dilatation der reagierenden Gefäße, es kommt zur Z u n a h m e des Blutvolumens mit Zunahme des intrakraniellen Drucks, der dann kritische Werte erreicht, wenn zusätzlich ein Hirnödem besteht.

Steal-Phänomen: Blutentzug aus dem Infarktbezirk. Countersteal-Phänomen: Umleitung von Blut in den Infarktbezirk.

Bei Mangeldurchblutung - funktionelle oder - morphologische Schädigung.

Funktionelle Schwelle —» zeitunabhängig. Morphologische Schwelle —* zeitabhängig.

Im akuten Stadium des Hirninfarkts können die Autoregulation und C0 2 -Reaktivität in unterschiedlicher Ausprägung geschädigt sein. Die Erholung erfolgt unabhängig voneinander. Ob ein Infarkt entsteht oder nicht, hängt von der Kollateralversorgung des gefährdeteten Gewebebezirks ab, die Funktion der Ischämiezone also von der Versorgung mit Sauerstoff und Glukose. Die Beziehung zwischen Durchblutung und Ischämiedauer hinsichtlich reversibler oder irreversibler Hirnschädigung ist in Abb. 13-10 dargestellt. Eine Mangeldurchblutung kann zu reversibler Funktionseinbuße (funktionelle Schwelle) oder irreversibler Strukturschädigung (morphologische Schwelle) führen. Experimentelle Untersuchungen bei Affen ergaben eine Funktionsstörung bei einer Durchblutung von weniger als 23 ml/100 g/min, eine Strukturschädigung bei weniger als 8 ml/100 g/min (vgl. Abb. 13-10). Die funktionelle Schwelle ist zeitunabhängig. Wird sie überschritten, kommt es zu normaler Funktion. Bei ausreichender Restdurchblutung kann die Zeit zwischen Funktions- und Struktureinbuße unendlich groß sein. Ganz im Gegensatz hierzu ist die morphologische Schwelle zeitabhängig. Wird sie unterschritten, kommt es nach 5 - 1 0 min zu zellulären Nekrosen. Perfusionswerte von unter 15 ml/100 g/min führen zum Nullinien-EEG und Erlöschen evozierter Potentiale. Durchblutung [ml -100 g" 1 min" 1 ]

20reversibler Zellschaden 16-

12-

irreversibler Zellschaden

0

-1 20

1

1

40

60

r ^ 80 Ischämiedauer [min]

Abb. 13-10 Beziehung von Durchblutung und Ischämiedauer bei irreversiblem Zellschaden. Die Verbindung der drei Meßkurven trennt den reversiblen vom irreversiblen Bereich. Je stärker der Abfall der Durchblutung, desto kürzer die zeitliche Dauer bis zur Entstehung eines irreversiblen Gewebeschadens. Daten aus der Literatur (modif. nach Hartmann)

Zerebrale Durchblutungsstörungen

527

Als ischämische Penumbra wird der wahrscheinlich sehr kleine Gewebebezirk in der Umgebung des Infarktkerns bezeichnet, dessen Perfusionswert zwischen den beiden genannten Durchblutungszuständen liegt. Die Zellen in der Penumbra können also wiederbelebt werden. Die Penumbra kann sich aufgrund sekundärer Prozesse (zytotoxisches Ödem) ausdehnen. Während das Hirngebiet des Infarkts meist therapeutisch nicht erreichbar ist, kann der Zustand der perifokalen Penumbra über mögliche Kollateralen i. S. einer Durchblutungsförderung beeinflußt werden. Als No-reßow-Phänomen wird die Beobachtung bezeichnet, daß eine Rezirkulation im Infarktbezirk nicht zustandekommt, auch wenn die Ursache der Durchblutungsstörung beseitigt ist. Verantwortlich sind u. a. intravasale Gerinnungsstörungen und Schwellung der Endothelzellen. Die Therapie zur Vermeidung einer ischämischen Zellschädigung hat demnach drei Ansätze: - Verbesserung der Durchblutung, - Verbesserung der Ischämietoleranz, - Verhinderung von Sekundärschäden. Einzelheiten hierzu s.Abschn. 13.1.14.4.

Ischämische Penumbra: Infarktbezirk im Perfusionszustand zwischen funktioneller und morphologischer Schwelle.

13.1.10 Klinische Untersuchungsmethoden

Klinische Untersuchungsmethoden

Bei den vielfältigen und z.T. sehr aufwendigen diagnostischen Methoden ist deren Einsatz keine Frage der Möglichkeiten, sondern des Sinns oder Unsinns. Hierzu gehört eine möglichst eingehende Kenntnis der methodischen Grenzen, des richtigen Zeitpunktes des Ersteinsatzes oder der Kontrollen. Zu bedenken ist neben dem Alter des Patienten der Spontanverlauf ohne Therapie, der Allgemeinzustand des Patienten und das Vorliegen von prognostisch ungünstigen Begleiterkrankungen. Allen diagnostischen Maßnahmen ist die Frage voranzustellen, ob sie eine therapeutische Konsequenz nach sich ziehen. Von großer Wichtigkeit ist, wie bei jeder anderen Erkrankung, die peinlich genaue Erhebung der Anamnese (Eigen- und Familienanamnese), u m hereditäre Faktoren oder Risikokonstellationen, flüchtige Prodromalerscheinungen, persistierende körperliche Beschwerden und psychische Veränderungen erfassen und ätiologisch bzw. topographisch einordnen zu können.

Sinnvoller Einsatz berücksichtigt - Alter und klinischen Zustand des Patienten, - Spontanverlauf ohne Therapie, - methodische Grenzen, - richtigen Zeitpunkt des Einsatzes, - therapeutische Konsequenz.

Die körperliche Untersuchung berücksichtigt vordergründig Hinweise aufeine gestörte Herzfunktion. Der Blutdruck wird immer an beiden Armen gemessen, u m eine hämodynamisch signifikante Subklavia-Obstruktion mit Druckabfall und Subclavian-Steal-Effekt zu erkennen. Bei beidseitig niederem Blutdruck an den Armen ist vergleichend auch der Blutdruck mittels Doppler-Sonographie an den unteren Extremitäten zu messen, u m eine „Pseudohypotonie" bei beidseitigem Subklavia-Verschluß bzw. Verschluß des Truncus brachiocephalicus und der kontralateralen A. subclavia zu erkennen. Inspektion, Palpation und Auskultation können erste Hinweise auf eine Stenose oder einen Verschluß im Bereich der extrakraniellen Hirnarterien ergeben. Inspektorisch können ζ. B. eine ein- oder beidseits prominent pulsierende Temporalarterie auf einen ein- oder beidseitigen Verschluß der A. carotis interna hinweisen. Auskultatorisch sind Stenosen allerdings erst ab einer Lumeneinengung von etwa 50 % erfaßbar, was auch für die Dopplersonographie gilt. Mit ihr können aber auch hoch- und höchstgradige Stenosen, die mit dem Stethoskop nicht zu hören sind, erkannt und einer bestimmten Arterie zugeordnet werden (s. Abschn. 1.3.4). Gefäßgeräusche über dem Auge, dem Schädel oder der Nackenregion können zur Verdachtsdiagnose einer arteriovenösen Fistel oder eines Angioms führen.

Körperliche Untersuchung: - Blutdruckmessung an beiden Armen!

No-reflow-Phänomen Fehlende Rezirkulation im Infarktbezirk, auch wenn Ursache der Durchblutungsstörung beseitigt. Therapieansätze: - Verbesserung der Durchblutung, - Verbesserung der Ischämietoleranz, - Verhinderung von Sekundärschäden.

Differenzierte Anamnese extrem wichtig!

Inspektion: - Prominent pulsierende Temporalarterie gibt Hinweis auf Karotisverschluß, - Palpation, - Auskultation erfaßt nur mittel- und höhergradige Stenosen.

528 Blut- und Urinuntersuchungen

Kardiologische Untersuchungen: EKG ist obligat. Neuroiogisch-neuropsychologische-psychiatrische Untersuchung ist von vorrangiger Bedeutung.

Augenhintergrund gibt Hinweis auf Hyperto-

Liquor

Gefäßkrankheiten Blut- und Urinuntersuchungen: Standard ist die Bestimmung der BSG, des Differentialblutbilds mit Hämatokrit, des Blutzuckers, der Blutfette, Harnsäure, Kreatinin, Gerinnungsstatus und TPHA. Nach deren Befund werden weitergehende Untersuchungen bis hin zur Suche nach AIDS veranlaßt. Obligat ist ein EKG, häufig ein Speicher-EGK und Echokardiogramm. Enge Zusammenarbeit mit dem Internisten bzw. Kardiologen und Hämatologen ist für eine differenzierte Diagnostik und Therapie häufig wünschenswert oder notwendig (s. Kap. 25). Von vorrangiger Bedeutung ist die neurologischpsychiatrische Untersuchung: Die neurologische Untersuchung und obligate Verlaufsuntersuchungen geben gute Hinweise auf die Lokalisation, Ausdehnung und damit Schwere und Entwicklung der Durchblutungsstörung. Die gefäß- und territorialbezogenen Syndrome werden unten ausführlich besprochen (s.Abschn. 13.1.13 und Kap.2.2, 2.5 und 2.6). Neuropsychologische und psychiatrische Untersuchungen sind unerläßlich (s. Abschn. 1.2.10-1.2.12 und v. a. Kap. 3). Die Spiegelung des Augenhintergrunds (Ophthalmoskopie) ist Bestandteil der neurologischen Untersuchung und kann wertvolle Hinweise auf eine längerdauernde Hypertonie geben. Bei Vorliegen eines Papillenödems ist an eine venöse Abflußstörung, ein intrazerebrales Hämatom oder eine hypertensive Enzephalopathie zu denken. Sehnervenatrophie, peripapilläre Mikroaneurysmen, Stase und Segmentierung des Bluts in retinalen Arteriolen sind typische Zeichen einer TakayasuArteriitis (s.Abschn. 13.1.11.2). Die Liquoruntersuchung ist wichtig für die Differentialdiagnose Infarkt - Blutung - Entzündung, wenn keine Klärung durch andere Methoden (Computertomographie) möglich ist und kein erhöhter Hirndruck vorliegt. Die Liquoruntersuchung ist demnach nicht obligat in der Diagnostik einer Hirndurchblutungsstörung. Liquoruntersuchung und -syndrome s. Abschn. 1.3.2 und 2.10.

Ultraschalluntersuchungen: - Echoenzephalographie weitgehend durch C T abgelöst, - Doppler-Sonographie, - Duplex-Scan-Sonographie.

Ultraschalluntersuchungen (s. Abschn. 1.3.4): Die Echoenzephalographie, geeignet zum Nachweis einer intrakraniellen Massenverlagerung ohne die Möglichkeit einer ätiologischen Differenzierung, wurde weitestgehend durch die Computertomographie abgelöst. Die Untersuchung der hirnversorgenden Arterien mit Ultraschall (extra- und intrakranielle Doppler-Sonographie, Duplex-Scan-Sonographie) gewinnt zunehmend an Bedeutung, da neben der Diagnostik von Stenosen und Verschlüssen ohne großen apparativen oder räumlichen Aufwand auch Verlaufs- und Überwachungsuntersuchungen durchgeführt werden können, ζ. B. nach akutem Gefäßverschluß, Herzstillstand, zerebralem Kreislaufstillstand, bei herz-, gefäß- und neurochirurgischen Operationen. Langfristige Verlaufsuntersuchungen zur Beurteilung von Progredienz und Regredienz arteriosklerotischer Gefäßveränderungen sind möglich, da diese Methoden im Gegensatz zur zerebralen Angiographie wegen ihrer Ungefährlichkeit beliebig häufig wiederholbar sind.

Elektroenzephalographie gibt Hinweis auf: - Lokalisation, - Schweregrad, - Ausdehnung, der Durchblutungsstörung.

Elektroenzephalographie (EEG): Herd- und Allgemeinstörungen können Hinweise auf die Lokalisation, Ausdehnung und Schwere der Durchblutungsstörung geben, allerdings mit unbefriedigender Spezifität und Sensitivität. Das EEG spielt eine wichtige Rolle in der Hirntoddiagnostik (NullinienEEG). Weitere Einzelheiten s.Abschn. 1.3.1.1.

Computertomographie: ermöglicht Differenzierung zwischen - Blutung und - Infarkt (Lokalisation). Kontrastmittel nicht zur Verlaufsbeurteilung des Infarktes geeignet!

Computertomographie (CT): In der Schlaganfalldiagnostik wichtigste Methode zur Differenzierung vor Therapiebeginn zwischen Blutung (extra- oder intrazerebral, subarachnoidal) und Infarkt bzw. dessen Lokalisation (Ausdehnung und Muster). Infarkte, deren Größe über dem Auflösungsvermögen der Methode liegt, werden mit ausreichender Wahrscheinlichkeit (95 %) nach

529

Zerebrale Durchblutungsstörungen einer Woche sichtbar. Daher sind kurzfristige Kontrollen nur bei kompliziertem klinischem Verlauf sinnvoll. Die zusätzliche Gabe eines Kontrastmittels ist nur bei differentialdiagnostischen Schwierigkeiten indiziert, keinesfalls zur Verlaufsbeurteilung eines Hirninfarkts. Weitere Einzelheiten s. Abschn. 1.3.3.2. Hirnszintigraphie: Sie kann unspezifische Hinweise auf eine zerebrale Zirkulationsstörung geben, ist aber keine obligate Methode in der Schlaganfalldiagnostik. Einzelheiten s. Abschn. 1.3.3.7.

Hirnszintigraphie gibt Hinweise auf zerebrale Zirkulationsstörung.

Positronen-Emission-Tomographie (PET), Single-Photon-Emission-Computertomographie (SPECT) und Messung der regionalen Hirndurchblutung (rCBF, regional cerebral blood flow): Aufwendige, teure und daher noch wenig verbreitete, meist unter wissenschaftlichen Fragestellungen eingesetzte Methoden, die eine differenzierte Betrachtung der zerebralen Durchblutung und des zerebralen Sauerstoffund Glukosestoffwechsels erlauben. Weitere Einzelheiten s. Abschn. 1.3.3.8 bis 1.3.3.10.

PET, SPECT, rCBF

Zerebrale Angiographie: Invasive Methode, deshalb strenge Indikationsstellung. Als konventionelle Angiographie oder digitale Subtraktionsangiographie (DSA) weiterhin wichtigste Methode zur Erkennung arteriosklerotischer Gefäßveränderungen und exakten Lokalisierung von Stenosen und Verschlüssen der extra- und intrakraniellen Hirnarterien und Gefäßmißbildungen (Angiome und Fisteln). Weitere Einzelheiten, s. Abschn. 1.3.3.5.

Zerebrale Angiographie Strenge Indikationsstellung angezeigt. Wichtigste Methode zur exakten Lokalisierung von Stenosen und Verschlüssen.

Andere atraumatische Methoden, wie die Thermographic (s. Abschn. 1.3.5). und Ophthalmodynamographie (Messung von Druck und Pulsationsvolumina in der A.ophthalmica zum Nachweis einer Obstruktion der proximalen A. carotis interna) wurden weitgehend durch die Doppler-Sonographie abgelöst.

Thermographic

13.1.11. Arterielle ischämische Durchblutungsstörungen des Gehirns

Arterielle Durchblutungsstörungen des Gehirns bedingt durch akut oder protrahiert auftretenden Blutmangel.

13.1.11.1 Definition

Ophthalmodynamographie

A m häufigsten vorkommende zerebrale Durchblutungsstörung ( 6 0 - 7 0 % der Schlaganfälle) durch akut oder protrahiert auftretenden Blutmangel mit flüchtigen (transitorischen) oder persistierenden Symptomen. Hier sei wiederholt: Der Begriff Schlaganfall (apoplektischer Insult) bezeichnet lediglich eine akut auftretende Hirnfunktionsstörung vaskulärer Ursache ohne Hinweis auf die Pathogenese. 13.1.11.2 Ätiologie Eine Übersicht gibt nachfolgende Zusammenstellung der Ursachen zerebraler Arterienverschlüsse (Domdorf 1983). I. Lokale Gefäßwanderkrankungen und lokale Schädigungen an und in der Gefäßwand Α Durch Wanderkrankungen und Abscheidungsthromben 1. Arteriosklerose 2. Hypertonische Gefäßkrankheit (Hyalinose) 3. Arteriitiden unspezifische Formen (septische, bei Pilzmeningitis, Fleckfieber, Malaria, Rickettsiosen)

Ätiologie

Gefäßkrankheiten

530 spezifische Formen

(Lues [Heubner-Arteriitis] Tuberkulose, Sarkoidose) Kollagenkrankheiten (Lupus erythematodes, Periarteriitis nodosa, Arteriitis temporalis, idiopathische granulomatöse Arteriitis [Takayasu]) rheumatische Formen (rheumatisches Fieber, Chorea minor) (thrombotische Mikroangiopathie, spontaner andere Formen Verschluß des Circulus Willisii [Moyamoya], granulomatöse Angiitis des ZNS) 4. Fibromuskuläre Dysplasie 5. Spontan dissezierendes Aneurysma Β Durch traumatische Gefäßwandläsion 1. Offene und geschlossene Verletzungen 2. Arteriographiekomplikationen C Durch andere mechanische Einflüsse 1. Narbenzug 2. Halswirbelsäulenerkrankungen 3. Druck durch Tumoren und Himhernien II. Embolische Verschlüsse A

Thromboembolic 1. Kardialer Ursache Vorhofflimmern und andere Rhythmusstörungen Myokardinfarkt mit Wandthromben prolabierende Mitralklappe rheumatische Endokarditis bakterielle Endokarditis abakterielle thrombotische (marantische) Endokarderkrankung Myokarditis Endomyokardfibrose Kardiomyopathie angeborene Herzfehler mit Rechts-links-Shunt Komplikationen chirurgischer Eingriffe am Herzen Vorhofmyxom Amyloidose 2. Nicht kardialer Ursache thrombotische Embolisation bei Arteriosklerose von Aorta, Trunkus und Karotiden paradoxe Hirnembolie thrombotische Embolisation aus Lungenvenen thrombotische Embolisation aus Aneurysma septische Embolie Komplikationen gefäßchirurgischer Eingriffe an Thorax und Hals Embolie nach Halsarterienverletzungen und Brustkorbtraumen

Β Andere Formen 1. Atheromatöse Embolisation bei Arteriosklerose 2. Fettembolie 3. Gasembolie 4. Geschwulstembolie 5. Fremdkörperembolie III. Durch Veränderung der Blutzusammensetzung und durch Störungen im Gerinnungssystem Α Polyzythämie, Sichelzellenanämie, thrombotische sches Syndrom, Hämoblastom, Thrombozythämie, Β

Koagulopathien

Thrombozytopenie, Homozystinurie

aplasti-

Zerebrale Durchblutungsstörungen T a b e l l e 13-1

531

I m m u n v a s k u l i t i d e n mit Beteiligung des zentralen (ZNS) u n d p e r i p h e -

ren (PNS) N e r v e n s y s t e m s (aus Berlit 1985) ZNS

PNS

Muskel

Alter

männl.: weibl.

1. Kollagenosen Panarteriitis nodosa

+ +

Lupus e r y t h e m a t o d e s

+ + +

Rheumatoide A r t h r i t i s

+

Dermatomyositis Sklerodermie

+

+ + + + + + + + +

2:1

+ + +

50-60

+ + + + + + +

30-40

1:3

40-60

2:1

40-60

1:2

30-40

1:2

Nekrotisierende Immunvaskulitiden Arteriitis t e m p o r a l i s Churg-Strauss-Syndrom

+ + +

Wegenersche

+

+ + + + + +

+ +

>50

1:2

40-50

2,5:

40-50

3:2

Granulomatose Takayasu-Arteriitis

+ + +

10-20

1:8,

Moya-Moya-Syndrom

+ + +

10-30

1:6

20-30

1:1

Pararheumatische Immunvaskulitiden Melkersson-Rosenthal-

+

+ + +

+ + + + +

+ + +

Syndrom M o r b u s Behpet Reiter-Syndrom Sjögren-Syndrom

+ + +

30-40

1:1

20-40

2:1

40-50

1:8

25-35

6:1

30-50

1:4

N i c h t klassifizierte Immunvaskulitiden Thrombangiitis

+ +

obliterans (von W i n i w a r t e r Bürger) Lymphomatoide

+

+

Granulomatose + + + >50%;

+ + 30-50%;

+

Demenz.

Akute hypertensive Enzephalopathie Spezielle Verlaufsform der hypertonischen Hirngefäßerkrankung. Ursache: schwere Hypertonie.

550 Pathogenese: Überdehnung der Gefäßwände —» Versagen der Autoregulation —» Zunahme der Hirndurchblutung —» Hirnödem. Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie/Binswanger Pathologie: Diffuse Marklagerdemyelinisierung. Symptome: Komplexe neurologische Ausfälle.

Gefäßkrankheiten u m ein akutes Überdehnen der Gefäßwände bei Versagen der Autoregulation, Z u n a h m e der Hirndurchblutung mit Extravasaten und Hirnödem. Bei längerdauerndem Hochdruck werden morphologisch fibrinoide Degeneration von Arterien und Arteriolen, Wandnekrosen, Mikroinfarkte und -aneurysmen gefunden. Eine Sonderform der hypertensiven Enzephalopathie bzw. Mikroangiopathie ist die subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie, erstmals beschrieben von Binswanger 1894. Pathologisch-anatomisch findet sich eine vakuolige diffuse Marklagerdemyelinisierung. Anamnestisch finden sich häufig flüchtige Insulte bei ausgeprägter Hypertonie, klinisch komplexe neurologische Ausfälle mit Späteinsetzen der dementieilen Entwicklung.

Leitsymptome der akuten hypertensiven Enzephalopathie

Leitsymptome sind - exzessive Hypertonie, - Fundus hypertonicus und Ödem der Sehnervenpapille, z.T. mit Sehstörungen, die aber auch zentral bedingt sein können, - fokale neurologische Störungen (Mono- oder Hemiparese, Aphasie, Koordinationsstörungen), - fokale oder generalisierte zerebralorganische Anfälle, - subjektiv frontal betonter Kopfdruck oder -schmerz, Übelkeit, Brechreiz und Erbrechen.

Es handelt sich um einen Notfall! Erste Maßnahme: langsame Senkung des Blutdrucks.

Die akute hypertensive Enzephalopathie ist ein Notfall, der unter intensiver Überwachung zu behandeln ist. Vordringlich ist die langsame Senkung des Blutdrucks. Komplikationen sind eine Hirnmassenblutung, multiple Mikroblutungen, ein malignes Hirnödem mit Einklemmung oder ein Status großer zerebralorganischer Anfälle.

Komplikationen: - Hirnmassenblutung, - Mikroblutung, - Hirnödem, - Status zerebralorganischer Anfälle. Fettembolie Ursache: multiple Hirninfarkte. Ausgangspunkt: - Knochenbrüche, - Weichteilkontusion. Tödliche Fettmenge: 20-30g. Zerebrale Symptome: Temperaturanstieg, Verwirrtheit, Bewußtseinsstörungen, Schüttelfrost, Erbrechen, Pendelbewegungen der Augen, Pyramiden bahnzeichen Luft- und Gasembolie Folge: Mikrointarkte. Symptome: - Übelkeit, - Oppressionsgefühl, - Ohrensausen, - Schwindel/Angst, - flache Tachypnoe, - Tachykardie (kleine Pulsamplitude), - Sehstörungen u. a. Taucher- oder Caisson-Krankheit Folge: - Spastische Paraparese der Beine, - spinale Ataxie, - Blasen-, Mastdarm-Störungen.

Fettembolie: Sie ist seltene Ursache (klinische Symptome nur bei 1 % der Unfälle) von meist multiplen, kleinen, auch hämorrhagischen Hirninfarkten, ausgehend von Knochenbrüchen und Weichteilkontusionen, seltener von Verbrennungen, Erfrierungen oder Vergiftungen. Die tödliche Fettmenge wird auf 2 0 - 3 0 g geschätzt. Den zerebralen Symptomen gehen meist die der pulmonalen Fettembolie mit Atemnot, Zyanose, Tachykardie, Hypotonie, ängstlicher Unruhe und blutigem Sputum voraus. Zerebrale Symptome sind rapider Temperaturanstieg, zunehmende Verwirrtheit, Bewußtseinsstörungen bis zum Koma, Schüttelfrost, Übelkeit und Erbrechen, Pendelbewegungen der Augen und beidseitige Pyramidenbahnzeichen. Die Mortalität beträgt etwa 50 %. Luft- und Gasembolie: Sie kann als paradoxe Embolie i.R. einer Luftembolie im kleinen Kreislauf oder als Luftembolie im großen Kreislauf (ζ. B. bei Herz- oder Gefäßoperationen an den extrakraniellen Hirnarterien) vorkommen und disseminierte oder herdförmige, auch hämorrhagische Mikroinfarkte verursachen. Symptome sind akutes Auftreten von Übelkeit, Oppressionsgefühl, Ohrensausen, Schwindel, Angst, flache Tachypnoe, Tachykardie mit kleiner Pulsamplitude, von Seiten der Augen- und Hirndurchblutung Sehstörungen bis zur Erblindung, Nystagmus, Augendeviationen, Mißempfindungen, spastische Paresen, aphasische Störungen und Pyramidenbahnzeichen. In schweren Fällen einer Taucher- oder Caissonkrankheit kommt es bevorzugt zu neurologischen Störungen des thorakalen Rückenmarks mit spastischer Paraparese der Beine, spinaler Ataxie und Blasen-Mastdarm-Störungen (s. Abschn. 12.3.3).

551

Zerebrale Durchblutungsstörungen

13.1.14 Therapie der ischämischen Durchblutungsstörung des Gehirns

Therapie der ischämischen Durchblutungsstörung des Gehirns

In j e d e m Fall ist eine pathogenetische Klärung der Durchblutungsstörung anzustreben (s.Abschn. 13.1.11.3), wobei die Risikofaktoren u n d der Gesamtzustand des Patienten therapeutisch von besonderer Bedeutung sind. Therapieempfehlungen können nur unter der Voraussetzung einer differenzierten, qualifiziert u n d sinnvoll eingesetzten Diagnostik gegeben werden. Dabei ist immer den atraumatischen M e t h o d e n der Vorzug zu geben u n d eingreifende Untersuchungen (Angiographie, deren Risiko gerade bei Patienten mit zerebralen Durchblutungsstörungen erhöht ist) nur unter sehr strenger Indikationsstellung im Hinblick auf eine therapeutische Konsequenz d u r c h z u f u h ren. Zu bedenken ist auch, daß der spontane („natürliche") Verlauf isolierter u n d besonders kombinierter Obstruktionen an den extra- und intrakraniellen Hirnarterien noch nicht ausreichend geklärt ist, wodurch das Prinzip des „nil nocere" besondere Bedeutung erhält. Dies gilt für die Diagnostik und die Therapie. Sowohl in der medikamentösen (ζ. B. Verabreichung von gefäßerweiternden oder -verengenden Substanzen) als auch in der operativen Therapie (gefäßchirurgische Eingriffe ohne gesicherten Nachweis einer Verbesserung der Prognose unter Berücksichtigung des Risikos) sind Fehlbehandlungen möglich. Eine schematisierte Therapieempfehlung scheitert häufig an der speziellen Problematik des Einzelfalls. Es erscheint sinnvoll, die Therapie der zerebralen Ischämie anhand der klinischen Verlaufsform (s.Abschn. 13.1.12.2) zu besprechen, da hier eine Schematisierung annäherungsweise gelingt.

Behandlung der zerebralen Ischämie anhand der klinischen Verlaufsform vornehmen.

13.1.14.1 Stadium I

Therapie des Stadium I konservativ: Thrombozytenaggregationshemmer;

Konservative Therapie: Größere Erfahrungen liegen n u r in der Therapie einer Stenose der extrakraniellen A. carotis interna vor. Die Infarktprophylaxe mit Thrombozytenaggregationshemmern ist allgemein akzeptiert. Operative Therapie: Der prophylaktische Wert einer Thrombendarteriektomie wird n u r bei Nachweis einer rasch progredienten, hochgradigen Karotisstenose oder mangelhafter Kollateralversorgung gesehen. Bei dem relativ günstigen Spontanverlauf (Prognose s. Abschn. 13.1.12.2) ist immer das Risiko einer Operation auch in erfahrenen Zentren (etwa 1 % Mortalität, 2 - 3 % Insulte) zu bedenken. Eine prophylaktische medikamentöse oder operative Therapie von Stenosen u n d Verschlüssen der übrigen extrakraniellen Hirnarterien ist bisher wissenschaftlich nicht begründet, damit nicht ausreichend indiziert.

operativ: Thrombendarteriektomie nur bei progredienter, hochgradiger Karotisstenose oder mangelhafter Kollateral Versorgung.

13.1.14.2 Stadium II, PRIND und Insulte ohne größeren klinischen oder morphologischen (CT) Defekt

Therapie des Stadium II, PRIND und kleiner Insulte:

Konservative Therapie: Es ist ausreichend gesichert, daß eine Prophylaxe des Hirninfarkts - wie auch des Myokardinfarkts - hinsichtlich weiterer TIA, Infarkt und Tod durch H e m m u n g der Thrombozytenaggregation sinnvoll ist. • Mittel der ersten Wahl ist die Azetylsalizylsäure ( 1 0 0 - 3 0 0 mg/d). Therapiedauer: 1 - 2 Jahre; • Der Wert von Sulfinpyrazon, Dipyramidol und Pentoxifyllin ist noch nicht ausreichend gesichert bei nachgewiesenen Stenosen u n d Verschlüssen der extra- oder intrakraniellen Hirnarterien. Antikoagulation mit Heparin oder Marcumar® ist der Thrombozytenaggregat i o n s h e m m u n g prinzipiell nicht überlegen u n d nur einzusetzen, wenn letztere nicht hilft, nicht vertragen wird oder eine kardiale Emboliequelle nach-

konservativ: Prophylaxe sinnvoll. Mittel der Wahl: Azetylsalizylsäure (1-2 Jahre); ferner: - Heparin, - Marcumar® (3-6 Monate).

552

Gefäßkrankheiten gewiesen ist. Therapiedauer: 3 bis höchstens 6 Monate, da nach dieser Zeit die Komplikationsrate (Hirnblutungen) deutlich ansteigt. Hier ist ebenfalls der Spontanverlauf (Prognose s.Abschn. 13.1.12.2) zu berücksichtigen.

operativ: bei hochgradiger oder ulzinierender Stenose. Thrombendarteriektomie.

Operative Therapie: Die prophylaktische Wirkung der Thrombendarteriektomie der A. carotis interna ist nicht zweifelsfrei nachgewiesen. Sie wird empfohlen bei hochgradigen oder ulzerierenden Stenosen oder bei Versagen der konservativen Therapie, frühestens drei Wochen nach dem akuten Ereignis, wenn im CT eine Läsion vorliegt. Stenosen u n d Verschlüsse der proximalen Aa. vertebralis und subclavia werden nur bei häufig rezidivierenden Symptomen oder unter hämodynamischen Gesichtspunkten bei Nachweis einer insuffizienten Kollateralversorgung operiert. Die transluminale Angioplastie wird wegen embolischer Komplikationen z.T. abgelehnt. Die prophylaktische Wirkung der extra- intrakraniellen Bypassoperation (Anastomose zwischen einem Ast der A. carotis externa und der A. cerebri media) bei Karotisverschluß konnte nicht nachgewiesen werden, ist aber in Einzelfallen zu erwägen. Nach Operationen im Bereich der extrakraniellen Hirnarterien wird thrombozytenaggregationshemmende Prophylaxe für 1 - 2 Jahre empfohlen.

Therapie des Stadium III

13.1.14.3 Stadium III

konservativ: Antikoagulation mit Heparin (1 Woche), Übergang zu Marcumar® (3-6 Monate), operativ: schlechte Prognose.

Konservative Therapie: Wenn eine intrakranielle Blutung oder hypertensive Enzephalopathie mit diffusem Hirnödem computertomographisch ausgeschlossen ist, ist Antikoagulation mit Heparin (initial Bolus mit 3 0 0 0 - 5 000 IE, dann 1 0 0 0 - 1 500 IE/h) mittels Perfusor unter Überwachung der PTT (einstellen auf 8 0 - 1 0 0 s) indiziert. Therapiedauer: Eine Woche, dann Übergang auf Marcumar®, das nach 3 - 6 Monaten abzusetzen ist, wenn nicht eine persistierende kardiale Emboliequelle vorliegt. Operative Therapie: Thrombendarteriektomie oder Embolektomie der Aa. carotis interna oder cerebri media sind kontraindiziert, auch wenn Operationsmöglichkeit innerhalb von 6 h nach Beginn der Symptomatik besteht, da schlechtere Prognose als bei konservativer Therapie. Eine systemische oder lokale Lyse mit Strepto- oder Urokinase kommt nur in seltenen und verzweifelten Ausnahmefällen (Frühstadium einer Basilaristhrombose) in Frage.

Therapie des Stadium IV

13.1.14.4 Stadium IV

konservativ: Gefäßerweiternde Medikamente sind unwirksam!

Konservative Therapie: Da im ischämischen Bezirk Vasoparalyse mit Verlust der Autoregulation vorliegt, sind gefäßerweiternde Medikamente unwirksam und auch kontraindiziert, da sie eine Blutverteilungsstörung bewirken können. Da der ischämische Hirninfarkt die häufigste Hirndurchblutungsstörung ist, soll in Zusammenhang mit der Therapie nochmals auf die notwendige Diagnostik hingewiesen werden.

Diagnostik

Diagnostik des ischämischen Hirninsultes (aus Diener und Einhäupl

1988): - Blutdruck messen (zur Erkennung hämodynamisch ungünstiger hypotoner oder hinsichtlich der Entstehung sekundär-hämorrhagischer Infarkte gefährlicher hypertoner Werte), - CT zum Ausschluß einer zerebralen Blutung, - Blutbild (Frage: Polyglobulie?, Hämatokrit), - BSG (Frage: Vaskulitis?), - Blutzucker (Hyperglykämie hat ungünstigen Einfluß auf Verlauf des Infarktes), - Urinzucker (Frage: Diabetes mellitus?),

Zerebrale Durchblutungsstörungen

553

-

Nierenwerte (Frage: Dextrantherapie?), EKG (Ausschluß Herzrhythmusstörung, Herzinfarkt), Auskultation des Herzens (kardiale Emboliequelle), Doppler-Sonographie: Verschluß der A. carotis interna oder hochgradige Internastenose (dann Vorsicht bei der Blutdrucksenkung), - Echokardiographie (insbesondere bei rezidivierenden oder multiplen Insultarealen im CT).

Ein therapeutisches Schema, das wissenschaftlich weitgehend begründet ist, haben Diener und Einhäupl (1988) aufgestellt: - Langsame Senkung des erhöhten Blutdruckes, wenn hypertone Werte vorliegen (diastolisch > 1 2 0 m m Hg, systolisch > 2 2 0 m m Hg). Senkung des Blutdruckes mit Nifedipin (Adalat®) 1 0 - 2 0 mg sublingual. Bei exzessiv erhöhtem Blutdruck parenterale Therapie mit Dihydralazin (Nepresol®) oder Natriumnitroprussid (nipruss®). Therapieziel: Blutdrucksenkung u m 2 0 - 3 0 % des Ausgangswertes, in der Regel auf 160/95 m m H g . Keine abrupte Blutdrucksenkung (Yatsu und Zivin, 1985). Bei Blutdruck systolisch < 1 2 0 m m Hg Blutdruckanhebung mit kolloidalen Lösungen (Hydroxyethylstärke 6 %, Dextran 40, H u m a n a l b u m i n ) , D o p a m i n oder Noradrenalin je nach kardialer Situation. - Digitalisierung nur bei klinisch manifester Herzinsuffizienz (mit Dyspnoe, L u n g e n ö d e m oder Knöchelödem). - Behandlung von Bradykardie (evtl. Schrittmacher) oder Tachykardie (evtl. /^-Blocker, Digitalis). - Thromboseprophylaxe (3mal 5 000 IE Heparin s.c., G u m m i s t r ü m p f e , passives und, wenn möglich, aktives Bewegen der Beine). - Flüssigkeitsbilanz (bei schweren Schluckstörungen zunächst Z u f u h r von Flüssigkeit und Elektrolyten intravenös). - Bei Inkontinenz oder Bewußtseinsstörung Blasenkatheter (zur Bilanzierung). Bei Anhalten der Inkontinenz länger als eine Woche: suprapubischer Blasenkatheter. - Lagerung nach Bobath, häufiges Umlagern zur Dekubitusprophylaxe, zunächst passives Bewegen aller Gelenke zur Kontrakturprophylaxe u n d Vermeiden einer Schulterluxation durch Distorsion bei Hemiplegie. - Frühzeitig aktive Krankengymnastik mit Bewegungsübungen, Ergotherapie, logopädischer Behandlung. Sehtraining bei h o m o n y m e r Hemianopsie. - Eventuell Ulkusprophylaxe mit Pirenzipin (Gastrozepin®) oder Ranitidin (Sostril®). - Optimale Einstellung eines bestehenden Diabetes mellitus. Bei Bedarf Wechsel von oralen Antidiabetika auf Insulin. Erhöhte Glukosewerte verschlechtern die Prognose nach Insult (Plum, 1983). - Kortison nur bei entzündlichen Gefäßerkrankungen. - Eventuell Dextran 40 (Rheomacrodex® 10%) 5 0 0 m l / d i. v. über 3 - 4 h, NaCl-frei bei Hypertonus. Zuvor Ausschluß von: Niereninsuffizienz, Herzinsuffizienz, Allergie, Lungenödem, schwerer Hypertonie, zerebraler Blutung, intrakranieller Drucksteigerung (Hartmann, 1987). Bei Erstinfusion: Hapten (Promit®) vorspritzen. Alternativ Hydroxyethyl-Stärke (HAES-steril®, Expafusin®) - Kombination einer Dextranbehandlung mit Aderlaß (500 ml), wenn Hämoglobin > 1 6 g/dl oder Hämatokrit > 4 6 % . Diese Behandlung wird einmal täglich durchgeführt, bis Hämoglobin oder Hämatokrit unter dem kritischen Grenzwert liegen. - Sorbit (z.B. Tutofusin® S 40): nur bei Eintrübung im R a h m e n eines Hirnödems: 125 ml i. v. in 10 min, dann dieselbe Menge alle 3 - 4 h. (Nach 2 - 3 d auf Serum-Osmolalität achten). - Rehabilitationsbehandlung: Neurologische Ausfälle, insbesondere Hemiparesen, Sprachstörungen, Gedächtnisstörungen und Hemianopsien, kön-

Therapie

554

Gefäßkrankheiten nen durch eine intensive Rehabilitationsbehandlung verbessert werden. Dies geschieht in der Regel nicht durch die Wiedererlangung neuronaler Funktionen, sondern durch das Erlernen neuer Strategien. Eine Besserung neurologischer Ausfälle kann bis zu 18 Monaten nach dem akuten Ereignis erfolgen. Schlechte prognostische Faktoren für den Erfolg einer Rehabilitationsbehandlung sind: Alter > 7 0 Jahre, linkshemisphärische Schädigung, bilaterale Läsionen im Bereich der A. cerebri anterior, Hemiplegie, schwere Lagesinnstörung, schwere kognitive Störungen und mehrere vorausgegangene Insulte. Der Wert einer Hämodilutionstherapie mit niedermolekularen Dextranen, Hydroxyethylstärke (HAES) oder H u m a n a l b u m i n konnte bisher nicht mit ausreichender Sicherheit nachgewiesen werden. Neuerdings ist die Hämodilution beim Schlaganfall wieder Gegenstand heftiger Diskussionen. Weitgehend abgelehnt wird die isovolämische Hämodilution, Vorteile werden in der hypervolämischen Hämodilution gesehen. Antikoagulantien in der Akutphase sind ohne sicheren therapeutischen Effekt wie auch antiödematöse Therapie mit Dexamethason, wobei immer die Nebenwirkungen zu berücksichtigen sind. Die Therapie mit hochdosierter Barbitursäure, Prostazyklin und OpiatAntagonisten soll keinen Wert haben, Ca-Antagonisten (Nimodipine) sollen einen eher günstigen Einfluß haben.

Operation nicht indiziert.

Therapieschema bei malignem ischämischem Hirnödem

Operative Therapie: Nicht indiziert (s.u.). Bei intrakranieller Drucksteigerung, die sich 1 - 2 d nach dem Infarkt durch ein malignes ischämisches Hirnödem entwickeln kann, wird folgendes Therapieschema empfohlen (aus Hartmann 1987): - Oberkörper grundsätzlich u m 30° hochlagern, nicht nur den Kopf(!). - Für einwandfreie Atmung sorgen, Kopf möglichst nicht zur Seite drehen. - P a 0 2 muß größer als 75 m m Hg sein. - Blutdruck muß stabil sein. Ein zu niedriger Blutdruck senkt die Durchblutung, ein zu hoher fördert die Ödemausbildung. - Herzleistung m u ß stabil sein. Eine Hypervolämie steigert durch das vermehrte zerebrale Blutvolumen den Hirndruck. Parameter, die gemessen werden müssen: zentraler Venendruck, Blutdruck, Herzrhythmus (Monitor), Elektrolytkonzentration (Na, K, Cl), Osmolarität, Hämatokrit, Atemfrequenz, Blutgase. Parameter, die gemessen werden sollen·. arterieller Blutdruck über Monitor, zentraler Venendruck über Monitor, intrakranieller Druck (epidural oder intraventrikulär). Hyperven tila tion Nur bei beatmeten Patienten. Positiv endexspiratorischer Druck (PEEP) bis 10 cm H 2 0 . P a C 0 2 auf 2 5 - 3 0 m m Hg einstellen, nicht darunter (Herzzeitvolumen und Blutdruck fallen ab). Erst bei normalem Hirndruck und langsam ausschleichen. Im Notfall wenn der nicht beatmete Patient nach klinischen Kriterien eine Hirndruckkrise hat - mit dem Ambubeutel sofort hyperventilieren oder intubieren und manuell hyperventilieren. Infusionstherapie sofort beginnen. Diuretika Nur als Adjuvantien bei Steroidtherapie, nicht als Monotherapie.

Zerebrale Durchblutungsstörungen

555

Hyperosmolare Substanzen M a n n i t 20 % 3 x 80 m l / d oder 2 x 125 m l / d ü b e r jeweils 20 m i n i. v. Eintritt der W i r k u n g n a c h 3 0 - 9 0 m i n , l a n g a n h a l t e n d (bis 12 h, m e i s t aber n u r 6 h). Sorbit 40 % 5 0 - 1 2 5 ml i.v. (schnell) bis zu 4 x / d . Möglichst n u r eine F l a s c h e / d . Eintritt der W i r k u n g n a c h wenigen m i n , kurze W i r k u n g : etwa 3 0 m i n - 4 h . Sorbit wirkt schneller als M a n n i t , d a h e r f ü r d e n N o t f a l l geeignet. Glyzerin 10 % 5 0 0 m l i.v. ü b e r 3 - 4 h . M a x i m a l 1 F l a s c h e / d . N i c h t schneller e i n l a u f e n lassen. F ü r d e n N o t f a l l nicht geeignet. Oral 5 0 - 1 0 0 g m i t O r a n g e n s a f t als Ersatz f ü r die i.v. T h e r a p i e . Steroide W i r k u n g b e i m Insult n i c h t gesichert. Bei P a t i e n t e n m i t m a l i g n e m H i r n ö d e m ( f r ü h e r N a c h w e i s im C o m p u t e r t o m o g r a m m , B e w u ß t s e i n s t r ü b u n g bei einseitigen supratentoriellen i s c h ä m i s c h e n Tabelle 13-6 Zerebrale Vaskulitiden und ihre Therapie (aus Einhäupl u. Diener 1988)

Nekrotisierende Vaskulitiden Panarteriitis nodosa KußmaulMaier allergisch granulomatöse Angiitis Churg Strauß Wegener-Granulomatose Takayasu Arteriitis Arteriitis Temporaiis Horton Hypersensitivitätsangiitis Zeek rheumatoide Arteriitis lymphomatoide Granulomatose Liebow-Carrington isolierte Angiitis des Z N S Kollagenosen Lupus Erythematodes verwandte Syndrome thrombot. thrombozytopen. Purpura Moschkowitz Vaskulitis-ähnliche Gefäßerkrankungen Thrombangiitis Obliterans Winiwarter Bürger Ergotismus Drogen-Arteriitis Strahlenvaskulitis Moya-Moya Erregerbedingte Vaskulitiden TBC Syphylis bakterielle Meningitis septische Endokarditis Virusenzephalitiden Verschiedene Vaskulitiden Mb. Behget Sarkoidose Vogt-Koyanagi-Harada

Z N S Bet.%

Kortison

Endoxanv" Imurek"

20-40

+ +

+ +

20-40

+ +

+ +

23-50

+ +

+ + +

10-36 10 10 selten 20-30

+ + + + +

?

100

+ +

60 selten selten

+ + + +

+ + + + +

? + + + + ?

selten selten ? ? 100

? ? ? ? ?

? ? ? ? ?

10-29 10

++ ?

? ?

+ + + sehr gutes, + + gutes, + mäßiges, - kein Ansprechen

556

Gefäßkrankheiten Insulten ohne Blutungskomplikation, schwere Parese bis Plegie) kann Dexamethason gegeben werden, wenn der Patient am Tag des Insults oder spätestens am 2.d eingeliefert wird. Dosierung: 1 mg/kg KG am 1.-4. d, dann für 3 d auf 0,75 mg/kg KG, dann auf 0,5 mg/kg KG bis zum 10. d, dann ausschleichen. Kontraindikationen der Steroidtherapie beachten. Antazida, H 2 -Rezeptor-Antagonisten (Cimetidin, Ranitidin) zusätzlich geben. Die prophylaktische Therapie mit Hyperventilation, Diuretika als Adjuvanzien oder hyperosmolaren Substanzen ist nicht gerechtfertigt. 13.1.14.5 Zerebrale Vaskulitiden Tab. 13-6 gibt einen Überblick der Behandlung zerebraler Vaskulitiden, deren nosologische Einordnung unterschiedlich gehandhabt wird (vgl. Abschn. 13.1.11.2 und Tab. 13-1.

Intrazerebrale Blutungen:

13.1.15 Intrazerebrale Blutungen (Hirnblutungen) 13.1.15.1 Definition

Primär: Ruptur von kleinen, arteriellen Gefäßen mit Blutaustritt in das Hirngewebe. Sekundär: Extrazerebrale Blutungsquelle mit Einbruch ins Hirngewebe.

Hämorrhagische Infarkte sind Folge von ischämischer Nekrose von Hirngewebe.

Häufigkeit und Lokalisation der Hirnblutungen: - 15% der Schlaganfälle, zu 80% in den Großhirnhemisphären, - bei 60% der hypertonischen Blutungen ist die Lokalisation im Corpus striatum, Clausjrum, - in äußerer u. innerer Capsula interna. Blutungen bei jungen Menschen meist durch Gefäßmißbildungen bedingt.

Ätiologie: 1. Arterielle Hypertonie, 2. Gefäßmißbildung.

Blutungen, die primär durch Ruptur von kleinen, intraparenchymal gelegenen arteriellen Gefäßen mit Austritt aller Blutelemente in das benachbarte Hirngewebe bedingt sind (intrazerebrale Hämatome), zur Destruktion von Hirngewebe und Verlagerung benachbarter Strukturen führen, ζ. T. in das Ventrikelsystem einbrechen. Sekundär können sie durch eine extrazerebrale Blutungsquelle (ζ. B. Aneurysma) mit Einbruch in das Hirngewebe bedingt sein. Hämorrhagische Infarkte sind Folge einer ischämischen Nekrose von Hirngewebe. Sekundär kommt es zum Austritt von Erythrozyten (Diapedese) mit Verteilung entsprechend der arteriellen Versorgung ohne Gefäßruptur und ohne Massenverlagerung. 13.1.15.2 Häufigkeit und Lokalisation Etwa 15% der Patienten mit Schlaganfällen haben eine Hirnblutung, davon zwei Drittel eine hypertonische Blutung. Sie ereignen sich zu 80% in den Großhirnhemisphären, die übrigen in der Brücke und im Kleinhirn. 60 % der hypertonischen Blutungen liegen im Corpus striatum (Putamen und Nucleus caudatus), Claustrum und in der äußeren und inneren Capsula interna, 10-15% im Thalamus, 10-15% im Marklager der Hemisphären und im Kleinhirn und 10-12% in der Brücke. Zur topographischen Orientierung S.Abb. 13-16. Blutungen bei jungen Menschen finden sich nur selten in der Stammganglienregion, weitaus häufiger in der Temporal-, aber auch Frontal-, Parietalund Okzipitalregion und sind meist durch Gefäßmißbildungen bedingt. 13.1.15.3 Ätiologie Häufigste Ursache ist die arterielle Hypertonie, an zweiter Stelle stehen Gefäßmißbildungen. Zusammenstellung der Ursachen von intrazerebralen Blutungen (nach Gänshirt 1983) - traumatisch, - Gefäßmißbildungen (Aneurysmen, Makro- und Mikroangiome),

Zerebrale Durchblutungsstörungen Corpus callosum

-Insel (Insula Reili)

Capsula interna

Putamen

Claustrum

Globus pallidus

-Capsula externa

Commissura anterior

Capsula interna

Putamen

Globus pallidus

tertius

Plexus

Ventriculus lateralis -Nucleus caudatus

Septum pellucidum

Corpus amygdaloideum

557

-Hypothalamus

Chiasma opticum

Ventriculus tertius Nucleus caudatus

Claustrum

(Insula Reili) Thalamus

Cornu posterius ventriculi lateralis

Abb. 13-16 a) Frontalschnitt durch das Gehirn in Höhe der Commissura anterior b) Horizontalschnitte durch das Gehirn in zwei verschiedenen Ebenen zur Darstellung der Basalganglien (modif. nach Chusid)

- Arterielle Hypertonie (essentielle, renale, kardiovaskuläre, Aortenisthmusstenose, Eklampsie, Morbus Cushing, Phäochromozytom), - Blutkrankheiten (Leukosen, Sichelzellanämie, Thrombopathien, Afibrinogenämie, Hämophilie, thrombozytopenische Purpura), - entzündliche Erkrankungen (Leukencephalitis haemorrhagica, subakute bakterielle Endokarditis, Septikämie, Kollagenosen), - Hirntumoren (Melanoblastom, Meningeom, Gliome, Hämangioblastome), - gerinnungshemmende Therapie (Thrombolyse, Antikoagulation), - rekonstruktive Gefäßoperationen, - nicht klassifizierbare Fälle.

558

Gefäßkrankheiten

Pathogenese:

13.1.15.4 Pathogenese

Meist arterielle Blutung durch Erkrankung oder Schädigung der Gefäßwand.

Prinzipiell kann die Blutung arteriell, kapillär oder venös sein. Die Entscheidung hierüber ist klinisch, apparativ und autoptisch nur sehr schwer zu treffen, meist handelt es sich wohl u m arterielle Blutungen. Voraussetzung ist eine Erkrankung der Gefäßwand oder deren Schädigung von außen. Zur Entstehung der hypertonischen Blutung wird folgende Entwicklung diskutiert: Eine chronische arterielle Hypertonie führt zunächst zur Tonuserhöhung der Gefäßwände mit Verdickung der Muskulatur, später wird dieser myogene Mechanismus der Autoregulation (vgl. Abschn. 13.1.9.1) durchbrochen, die Gefäße werden weiter mit Z u n a h m e der Wandspannung bei hypertonen Krisen, die Basalmembranbrücken weichen auseinander und können schließlich zerreißen. Bereits hierdurch können Mikro- oder Makroblutungen auftreten. Es kann auch zu Dissektionen und Mikroaneurysmen kommen, die dann bluten.

Entstehung: - Durchbrechen der Autoregulation, - Erweiterung der Gefäße bei hypertonen Krisen, - Zerreißen der Basalmembranbrücken. Folge: Mikro- und Makroblutungen.

13.1.15.5 Klinik Klinik: - Kopfschmerzen, - diffuser Schwindel, - Benommenheit, - Ohrensausen, - Konzentrationsstörungen. Patienten sind meist älter als 50 Jahre. Auftreten der Symptome tagsüber und schlagartig. Typisches Syndrom einer Massenblutung: - Hochdruckanamnese, - akut auftretende, schwere neurologische Ausfälle und Bewußtseinsstörung. Bei Ventrikelblutung: - Koma, - später weite Pupillen (lichtstarr), - keine Muskeleigenreflexe, - positiver Babinski-Reflex, - Streckkrämpfe, - Atemstörungen, - Bradykardie, - später Tachykardie, - Blutdruckabfall. Blutung in der Putamen-Claustrum-Region: Häufig Massenblutungen auch mit Ventrikeleinbruch. Typische Symptome: - Koma, - Gesichtsrötung, - Augendeviation —» Herd, - kontralaterale Fazialisparese und sensomo torische Hemiplegie. Thalamusblutung Typische Symptome: - keine oder geringe Bewußtseinsstörung, - kontralaterale Hemiplegie, - Augendeviation —» unten.

Als Prodomi können Tage oder Wochen morgendliche Kopfschmerzen, diffuser Schwindel, Gefühl der Leere im Kopf mit Benommenheit, Ohrensausen, Konzentrationsstörungen und Leistungsabfall vorausgehen, seltener sind flüchtige Herdsymptome oder zerebralorganische Anfälle. Die meisten Patienten mit hypertonischer Hirnblutung sind älter als 50 Jahre. Die Symptome treten meist tagsüber bei körperlicher Aktivität auf, überwiegend schlagartig, selten subakut und sehr selten chronisch progredient über Tage oder Wochen (pseudotumoral). Das typische Syndrom besteht aus einer Hochdruckanamnese, akut auftretenden, schweren neurologischen Ausfällen, Bewußtseinsstörungen bis zum Koma, blutigem Liquor und fakultativ (5-10%) Krampfanfällen. Blutungen in den Thalamus und ins Kleinhirn brechen häufig in das Ventrikelsystem ein, und es kann eine partielle oder totale Ventrikeltamponade resultieren, die nur sehr selten überlebt wird. Hinweise auf eine Ventrikelblutung sind Koma, zunächst enge, später weite, lichtstarre Pupillen, erloschene Muskeleigenreflexe und beidseits positiver Babinski-Reflex, Streckkrämpfe, Atemstörungen, anfänglich Brady-, später Tachykardie, Blutdruckabfall und Temperaturerhöhung. Ein Meningismus fehlt bei der schweren Bewußtseinsstörung. Blutung in der Putamen-Claustrum-Region: Diese Hirnregion wird von den lentikulostriären Arterien („Apoplexiearterien") versorgt, die als kaliberschwache Gefäße in fast rechtem Winkel von der kaliberstarken A. cerebri media abgehen und hierdurch offenbar besonders anfällig für eine Schädigung durch chronischen Hochdruck sind. In dieser Region kommen häufig Massenblutungen vor, auch mit Ventrikeleinbruch. Das typische klinische Bild besteht aus Koma, hochrotem Gesicht, schnarchender Atmung, feuchter Haut, Augendeviation zur Herdseite, kontralateraler Fazialisparese und Hemiplegie, erkennbar durch Fehlen der Spontanbewegungen und Reaktionslosigkeit auf Schmerzreize. Anfänglich fehlen die kontralateralen Eigen- und Fremdreflexe. Thalamusblutung: Häufig ist anfängliches Erbrechen, selten treten Kopfschmerzen auf. Meist ist das Bewußtsein nicht oder nur wenig gestört. Im Vordergrund der neurologischen Ausfälle steht eine kontralaterale Hemiplegie, nur fakultativ sind sensible Störungen vorhanden. Typischerweise findet sich eine Störung der vertikalen Blickbewegung (Bulbi nach unten gerichtet), die Pupillen sind eng und reagieren nicht oder nur träge auf Licht. Aphasische Symptome finden sich bei Thalamusblutungen der dominanten Hemisphäre. Die exakte Diagnose einer Thalamusblutung nach dem klinischen

559

Zerebrale Durchblutungsstörungen Syndrom ist häufig sehr schwierig, da in unterschiedlicher Ausprägung umgebende Strukturen mitbetroffen sein können (s. Abb. 13-19). Blutungen in das Marklager der Großhirnhemisphären: Blutungen in die subkortikale, weiße Substanz können in allen Hirnlappen, bevorzugt aber im Parietal- und angrenzenden Temporal- und Okzipitallappen, auftreten. Im Gegensatz zu den Blutungen in tiefen Hirnstrukturen (Basalganglien und Thalamus) findet sich ätiologisch nur in 3 0 - 4 0 % eine Hypertonie, andere Ursachen sind arteriovenöse Mißbildungen (7-14%), Tumoren ( 7 - 9 % ) , Blutkrankheiten und Blutungen unter der Therapie mit Antikoagulantien (5-20%). Etwa 25% können ätiologisch nicht geklärt werden. Auch klinisch unterscheiden sich die Marklagerblutungen gegenüber den anderen Formen. Es treten häufiger Kopfschmerzen und Anfälle (fokale und generalisierte), seltener Bewußtsseinsstörungen auf, und die neurologischen Ausfälle sind meist weniger gravierend. Entsprechend ist die Prognose günstiger.

Blutungen in das Marklager der Großhirnhemisphären Können in allen Hirnlappen auftreten. Nur in 30-40% der Fälle findet sich Hypertonie. Andere Ursachen: - arteriovenöse Mißbildung, - Tumoren, - Blutkrankheiten, - Blutungen unter Therapie mit Antikoagulantien. Klinik: - häufig Kopfschmerzen, - Anfälle.

Primäre Mittelhirnblutungen sind sehr selten. Einseitige Blutung in den Mittelhirnfuß führt zu ipsilateraler Okulomotorius- und kontralateraler Hemiparese (Weber-Syndrom). Ponsblutung: Sie ereignet sich meist aus den paramedian perforierenden Arterien der A. basilaris an der Verbindung zwischen Tegmentum und Basis pontis. Ursächlich kommen überwiegend hypertonische Blutungen und solche aus Mikro- oder Makroangiomen in Frage. Klinisch findet sich die Kombination von Himnervenläsionen (fehlender Kornealreflex, enge Pupillen, okulomotorische Störungen), Läsion langer Bahnen (Quadriplegie mit Dezerebrationshaltung, beidseits positiver Babinski), Läsion autonomer Zentren (Atemstörungen, Hyperthermie) und Läsion von Strukturen, die für das Bewußtsein verantwortlich sind. Meist (80 %) kommt es ohne Warnsymptome zu plötzlicher Bewußtlosigkeit. Die akute Ponsblutung verläuft meist innerhalb von 24 Stunden tödlich (s. auch Abschn. 2.2.4). Kleinhirnblutung: Hauptursachen sind, wie bei den Blutungen in die Basalganglien und die Brücke, die Hypertonie und Gefäßmißbildungen. Blutungsquelle ist oft ein Ast der A. cerebelli superior, und die Blutung bricht häufig in den 4. Ventrikel ein. Charakteristisch sind die meist akut einsetzenden Symptome Hinterkopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Astasie und Abasie, zunehmende Bewußtseinstrübung bei engen Pupillen und konjugierte Blickparese zur Herdseite. Unbehandelt beträgt die Mortalität etwa 80%. Die gesamte Mortalität bei infratentorieller Blutung wird auf 6 0 - 7 0 % geschätzt.

Ponsblutung (Brückenblutung) Ursachen: - hypertonische Blutung, - Blutung aus Mikro- oder Makroangiom. Typische Symptomatik: Kombination von - Himnervenläsionen, - Läsion langer Bahnen, - Läsion autonomer Zentren. Kleinhirnblutung Ursachen: - Hypertonie, - Gefäßmißbildungen. Typische Symptome: - akut Hinterkopfschmerzen, Erbrechen, - Astasie und Abasie, - zunehmende Bewußtseinsstörung.

13.1.15.6 Verlauf und Prognose

Verlauf und Prognose der Hirnblutungen:

Akute (etwa 70%), subakute und sehr selten chronische Verläufe kommen vor. Die frühe Mortalität liegt deutlich über der des ischämischen Hirninfarkts. Schlechteste Prognose mit einer Mortalität von 8 0 - 9 0 % haben Stammganglien-Kapselblutungen mit Ventrikeleinbruch und sekundären Hirnstammläsionen. Wird die Blutung überlebt, ist die Aussicht auf Besserung der Symptome günstiger als beim Hirninfarkt, da die Blutung überwiegend Hirngewebe verdrängt und nicht zerstört. Gute klinische Besserung findet sich bei etwa 50% der Blutungen in den Hemisphären, bei 33% im Putamen und der Capsula interna und bei 14 % in den Basalganglien.

70% akute Verlaufsform. Schlechteste Prognose bei StammganglienKapselblutungen. Wird Blutung überlebt, bessere Aussicht auf Erholung als bei Hirninfarkt.

13.1.15.7 Diagnostik (Abb. 13-17)

Diagnostik: - vorrangig CT, - Lumbalpunktion nur im Zweifelsfall.

An erster Stelle steht die Computertomographie. Eine Liquorentnahme ist nur im Zweifelsfall und nach vorheriger Computertomographie indiziert. Der Li-

Gefäßkrankheiten

560

Abb. 13-17 Computertomogramm Große okzipitale Blutung links bei einem 72jährigen Hypertoniker ohne Einbruch in das Ventrikelsystem (Neuroradiologie Ravensburg, Prof. Stoeter).

quor ist in 8 0 - 9 0 % der Massenblutungen blutig oder xanthochrom verfärbt. Das EEG ist für Verlaufsuntersuchungen geeignet, differentialdiagnostisch aber nicht verwertbar. Die zerebrale Angiographie wird bei gegebener Operationsindikation (s. u.) oder unter differentialdiagnostischen Gesichtspunkten durchgeführt. Therapie der Hirnblutungen:

13.1.15.8 Therapie

konservativ: Behandlung der Hypertonie, bei hohem Hirndruck: Hyperventilation; möglichst frühe Mobilisation;

Konservative Therapie: U m eine Nachblutung zu verhindern, ist die Behandlung der Hypertonie die wichtigste M a ß n a h m e . Da viele Patienten an Komplikationen der Hirnblutung, wie Herz- und Kreislaufversagen, Pneumonie durch Aspiration, Entgleisung des Wasser- u n d Elektrolythaushalts oder Lungenembolie sterben, ist die Allgemeinbehandlung mit optimaler Versorgung auf einer Intensivstation am wichtigsten. Bei erhöhtem Hirndruck ist Hyperventilation indiziert, es können auch hyperosmolare Substanzen wie Mannit und Sorbit oder Dexamethason verabreicht werden, wobei die Wirksamkeit dieser M a ß n a h m e n bisher nicht nachgewiesen ist. Frühzeitige Mobilisierung ist anzustreben.

operativ: Indikation bei wachem Patient, der sekundär eintrübt; Kleinhirnblutungen über 3 cm Durchmesser.

Operative Therapie: Sie kann lebensrettend und -verbessernd sein. Eine Operationsindikation ist gegeben, wenn ein primär wacher Patient sekundär eintrübt, oder bei Kleinhirnblutungen mit einem Durchmesser von mehr als 3 cm. Massenblutungen mit Ventrikeleinbruch u n d K o m a werden nicht operiert.

Subarachnoidalblutung (SAB) Inzidenz: - 10 pro 100000 Einwohner, - 9-12% aller Schlaganfälle durch SAB, - 62% der intrakraniellen Blutungen durch SAB. Definition: Blutung in den Subarachnoidalraum aus ruptierter Arterie oder Vene.

13.1.16 Subarachnoidalblutung (SAB) Die Inzidenz liegt bei etwa 10/100000 Einwohnern. 9 - 1 2 % aller Schlaganfälle sind Folge einer spontanen SAB. 62 % der intrakraniellen Blutungen sind durch eine SAB bedingt. 13.1.16.1 Definition Blutung in den Subarachnoidalraum, entweder aus einer rupturierten Arterie oder Vene (primäre SAB) oder ausgehend von einer intrazerebralen Blutung, die Anschluß an den Subarachnoidalraum der Hirnoberfläche oder an das Ventrikelsystem b e k o m m t (sekundäre SAB).

561

Zerebrale Durchblutungsstörungen Eine SAB kann spontan ohne zunächst erkennbare Ursache auftreten oder traumatisch bedingt sein. Letztere ist häufig Folge einer Hirnkontusion und wird hier nicht besprochen.

Ursache: - spontan, - traumatisch.

13.1.16.2 Risikofaktoren

Risikofaktoren:

Das Risiko einer SAB ist bei Zigarettenrauchern beider Geschlechter erhöht. Bei Frauen, die zudem orale Kontrazeptiva einnehmen, soll die Risikoerhöhung mehr als das Zwanzigfache betragen.

Zigarettenrauchen, orale Antikonzeption (20fach).

13.1.16.3 Ätiologie

Ätiologie:

Häufigste Ursache einer spontanen SAB ist ein rupturiertes Aneurysma (Tab. 13-17). Als mögliche Ursachen spontaner Subarachnoidalblutungen kommen in Frage (aus Dorndorf 1983):

meist rupturiertes Aneurysma.

Gefäßkrankheiten sackförmiges Aneurysma, arteriovenöses Angiom, kapilläres Angiom, kavernöses Angiom, venöses Angiom, Arteriosklerose, hypertonische Gefäßkrankheit, Mikroangiom, Hirnvenen- und Sinusthrombose, anaphylaktische Purpura, Ehlers-Danlos-Syndrom, Granulomatose Wegener, Lupus erythematodes, Morbus Sturge-Weber, Moyamoya, Periarteriitis nodosa, thrombotische Mikroangiopathie, Teleangiektasien, Venektasien; Blutkrankheiten Agranulozytose, aplastisches Syndrom, essentielle Thrombozythämie, Hämophilie, Hypoprothrombinämie, Leukämie, Makroglobulinämie Waldenstrom, Panmyelophthise, perniziöse Anämie, Polyzythämie, Verbrauchskoagulopathie; Neoplasmen Angioblastom, Ependymom, Gliom, Hypophysenadenom, Medulloblastom, Meningeom, Metastasen, insbesondere Melanom, Osteochondrom der Schädelbasis, Plexuspapillom, Sarkom; entzündliche Krankheiten Aspergillose, bakterielle Meningoenzephalitis, Endocarditis lenta, GrippeEnzephalitis, Herpes-simplex-Enzephalitis, Hirnabszeß, Leptospirosen, Lues, Malaria, Toxoplasmose, tuberkulöse Meningitis; spinale Krankheiten Aneurysma, Angiom, angiodysgenetische Myelopathie, Ependymom, Meningeom, Metastasen, Neurinom, Neurofibrom; andere Ursachen Antikoagulantien, Drogensucht, Insolation, Hypernatriämie, Monoaminooxydasehemmer, Streptokinase, Urokinase. Tabelle 13-7 Hauptursachen spontaner Subarachnoidalblutungen (aus Dorndorf 1983, nach Kurtzke 1969) Ursache Aneurysma arteriovenöses Angiom Hochdruck u n d / o d e r Arteriosklerose Andere Ursachen Idiopathisch Gesamt

Häufigkeit 51 % 6% 15 % 6% 22%

100%

562

Gefäßkrankheiten

Klinik

13.1.16.4 Klinik

Leitsymptom: - akut auftretender, heftiger Kopfschmerz, - Übelkeit, Erbrechen.

Leitsymptom ist der akut auftretende, intensivste, meist zervikozephal oder okzipital betonte Kopfschmerz mit nachfolgender Nackensteifigkeit, häufig Übelkeit und Erbrechen. Weitere Einzelheiten s. Abschn. 13.1.17. 38 % der Patienten mit SAB werden unmittelbar komatös und sterben in der Mehrzahl rasch. Die übrigen entwickeln ζ. T. Symptome eines Vasospasmus mit oder ohne bleibende neurologische Ausfälle. Nicht selten (10-40%) sind bei eingetretener SAB anamnestisch flüchtige Warnsymptome wie Kopfschmerzen, Schwindel, Nackensteife oder Doppelt- und Verschwommensehen faßbar, also überwiegend unspezifische Beschwerden und Symptome, die diagnostisch entweder nicht oder überwiegend falsch eingeordnet werden.

38% sterben rasch im Koma. Symptome: - Vasospasmus, - Kopfschmerzen, - Schwindel, - Nackensteife, - Doppelt-/Verschwommensehen. Achtung! Diese Symptome werden oft falsch eingeordnet.

Aneurysmen:

Komplikationen einer SAB, ihre Diagnostik und Differentialdiagnostik, Therapie und Prognose werden im folgenden Abschnitt besprochen.

13.1.17 Intrazerebrale arterielle Aneurysmen 13.1.17.1 Definition

Abnormal lokalisierte Erweiterungen des Gefäßlumens. Einteilung: - kongenitale (90% der Aneurysmen), - arteriosklerotische (7% der Aneurysmen), - septische, 1 selten - traumatische |

Aneurysmen sind abnormal lokalisierte Erweiterungen des Gefäßlumens, „falsch", wenn die gesamte Gefäßwand dilatiert ist, „wahr", wenn die Intima durch die Muskularis herniiert. Zu unterscheiden sind - „Kongenitale" (beeren- oder sackförmige) Aneurysmen, die über 90 % ausmachen und bevorzugt an Aufzweigungen von Arterien der Hirnbasis liegen, - arteriosklerotische (fusiforme) Aneurysmen durch segmentale Arterienerweiterungen (etwa 7 %), - septische (nekrotische) Aneurysmen durch bakterielle Infektionen der Arterie mit Wandschwäche und Dilatation (etwa 0,5 %) und - traumatische Aneurysmen (etwa 0,5 %).

Häufigkeit und Lokalisation

13.1.17.2 Häufigkeit und Lokalisation

90% einer tödlichen SAB durch Aneurysmen.

Aneurysmen werden in 1 - 5 % als Zufallsbefund bei Autopsien gefunden. Eine tödliche spontane SAB ist zu etwa 90 % durch ein Aneurysma bedingt, bei 1 0 - 2 0 % dieser Gruppe finden sich zwei oder mehrere Aneurysmen oder Kombinationen mit arteriovenösen Mißbildungen. Sackförmige Aneurysmen rupturieren selten bei Kindern und Jugendlichen, über 50 % im Alter über 40 Jahren. Dagegen finden sich Blutungen bei arteriovenösen Mißbildungen häufiger im Alter zwischen 20 und 50 Jahren. Etwa 90 % liegen im Stromgebiet der A. carotis interna, bevorzugt an Aufzweigungen und am häufigsten an der Vereinigungsstelle mit der A. communicans posterior und an der A. communicans anterior (Abb. 13-18).

50% der sackförmigen Aneurysmen rupturieren im Alter über 40 Jahre. Lokalisation: 90% im Stromgebiet der A. carotis interna, bevorzugt an der Aa. communicans posterior und anterior Klinik Kopfschmerzen v.a. bei Aneurysmen in der hinteren Schädelgrube; tic-artige Kopfschmerzen bei Aneurysmen im Versorgungsbereich des 1. und 2.Trigeminusastes.

13.1.17.3 Klinik Kopfschmerzen vor Ruptur eines Aneurysmas sind selten und dann einseitig und retroorbital. N u r Aneurysmen der hinteren Schädelgrube mit zunehm e n d e m Hydrocephalus internus verursachen diffuse, okzipitalbetonte Kopfschmerzen. Aneurysmen im infraklinoidalen Abschnitt der A. carotis interna können tic-artige Schmerzen im Versorgungsbereich des 1. und 2. Trigeminusastes bedingen. TIA durch Embolien aus Thromben in Aneurysmen sind selten.

Zerebrale Durchblutungsstörungen

563

Abb. 13-18 Computertomogramme Subarachnoidal- und intraventrikuläre Blutung/„Weißzeichnung" der Subarachnoidalräume) aus einem Aneurysma der A. communicans anterior. 24jähr. Patient (Neuroradiologie Ravensburg, Prof. Stoeter). Die typische Symptomatik einer A n e u r y s m a b l u t u n g mit schlagartig a u f t r e t e n d e n heftigsten K o p f s c h m e r z e n , Übelkeit, E r b r e c h e n , B e w u ß t s e i n s s t ö r u n g e n u n d N a c k e n s t e i f e tritt in etwa 30 % auf, in d e n ü b r i g e n Fällen k o m m t es zu meist fokal b e g i n n e n d e n K o p f s c h m e r z e n , z u m Teil begrenzt frontal u n d retroorbital, h ä u f i g e r mit A u s w e i t u n g n a c h subokzipital, Schwindel, Sehstörungen, N a c k e n s t e i f e , T e m p e r a t u r e r h ö h u n g u n d Leukozytose. Selten f i n d e n sich überwiegend R ü c k e n s c h m e r z e n m i t A u s s t r a h l u n g in die u n t e r e n Extrem i t ä t e n u n d H a r n v e r h a l t u n g . G e l e g e n t l i c h s t e h e n psychische S y m p t o m e wie Desorientiertheit, A m n e s i e , delirante S y m p t o m e mit K o n f a b u l a t i o n e n im V o r d e r g r u n d . Je n a c h Lokalisation u n d A u s d e h n u n g der B l u t u n g k ö n n e n neurologische S t ö r u n g e n u n d zerebralorganische A n f ä l l e (fokale oder generalisierte) a u f t r e t e n .

Typische Symptome: - schlagartig auftretende heftigste Kopfschmerzen, - Übelkeit, Erbrechen, - Bewußtseinsstörung, - Nackensteife.

H ä u f i g ist ein Hirnnerv betroffen, überwiegend der N. o c u l o m o t o r i u s m i t anfänglicher Pupillenerweiterung, was auch lokalisatorisch ( A n e u r y s m a an der V e r b i n d u n g s s t e l l e der Aa. carotis interna u n d c o m m u n i c a n s posterior) verwertbar ist. V o n geringerem lokalisatorischem Wert ist e i n e Parese des N . abd u c e n s , die sich h ä u f i g bei e r h ö h t e m H i r n d r u c k findet u n d d a m i t weniger spezifisch ist. I n n e r h a l b einer S t u n d e n a c h einer A n e u r y s m a b l u t u n g k a n n sich ein Ö d e m der S e h n e r v e n p a p i l l e a u s b i l d e n , z.T. mit retinalen B l u t u n g e n . Das EKG zeigt fakultativ ζ. T. schwere V e r ä n d e r u n g e n , ä h n l i c h d e n e n bei H e r z i n f a r k t u n d n i c h t selten f i n d e n sich H e r z r h y t h m u s s t ö r u n g e n .

Hirnnervenläsionen bei Aneurysmablutungen häufig.

13.1.17.4 Verlauf

Verlauf: - 50% tödlich, - Nachblutungsrisiko vor allem in erster Woche erhöht.

A n e u r y s m a b l u t u n g e n verlaufen in etwa 50 % tödlich. Das Risiko einer N a c h b l u t u n g beträgt 30% in der ersten W o c h e u n d n i m m t d a n a c h w ö c h e n t l i c h

564

Gefäßkrankheiten 2. Blutung verläuft in 60%, 3. Blutung in fast 100% tödlich.

Faktoren, die Symptome und Prognose bestimmen: - Lokalisation, - Volumen der Blutung, - Vasospasmus, - Hirnödem, - Begleiterkrankungen, - Alter.

Klinische Gradierung nach Hess und Hunt und Prognose

um etwa 5 % ab, so daß sechs Monate nach der ersten Blutung nur noch 4 % der Überlebenden nachbluten. Die zweite Blutung verläuft jedoch in mehr als 60 % tödlich, eine dritte Blutung in annähernd 100 %. Die größte Gefahr einer Rezidivblutung besteht zwischen dem 4. und 10.Tag ( 1 - 4 %/d). Dies ist für den Zeitpunkt der operativen Therapie von ausschlaggebender Bedeutung (s.u.). Die Ruptur eines Aneurysmas tritt in etwa 10 % während des Schlafs auf, in über 50% bei körperlicher Belastung mit intrakranieller Drucksteigerung (ζ. B. schweres Heben, Pressen beim Stuhlgang, Koitus) und in etwa einem Drittel der Fälle tagsüber ohne besondere Belastung. Symptome und Prognose einer Aneurysmablutung hängen von folgenden Faktoren ab: - Lokalisation der Blutung. Die Mortalität einer Blutung im Bereich der A. communicans anterior ist höher als die einer im Bereich der A. communicans posterior, - Volumen der Blutung, - Entwicklung eines arteriellen Vasospasmus mit Infarzierung, - Ausmaß des Hirnödems, - Begleiterkrankungen wie Hypertonie, Diabetes mellitus, Arteriosklerose, Herz- oder Lungenerkrankung und - Alter. Der klinische Zustand wird durch die Gradierung von Hunt und Hess beschrieben (Tab. 13-8), welche auch prognostische Aussagen zuläßt. • Grad-IV-Patienten überleben in weniger als 12 % das Jahr nach der ersten Blutung, • dagegen überleben mehr als 50 % der Grad-I-Patienten. Dies gilt für behandelte Patienten, • unbehandelt überleben nur etwa 40 % die ersten 5 Jahre nach der ersten Blutung, etwa 20% behindert.

Diagnostik

13.1.17.5 Diagnostik

1. Computertomogramm bei Verdacht auf SAB ohne vorherige Lumbalpunktion. Nach· weiswahrscheinlichkeit: 90% Blutung, 60% Aneurysma.

Bei Verdacht auf eine frische SAB sollte unverzüglich und ohne vorherige Lumbalpunktion eine Computertomographie durchgeführt werden, die am Blutungstag in über 90 % die Blutung nachweisen und in etwa 60 % das Aneurysma lokalisieren kann (Abb. 13-21). 3 Tage nach einer SAB ist nur noch in etwa 70% Blut computertomographisch nachweisbar. Die größte Bedeutung im Nachweis von Aneurysmen besitzt die intraarterielle zerebrale Angiographie, wobei alle 4 hirnzuführenden Arterien und die Aa. communicantes darzustellen sind. Die Nachweisgrenze liegt bei einem Aneurysmadurchmesser von etwa 0,5 mm. Bei 2 0 - 2 5 % der Patienten mit SAB und akuter Angiographie kann allerdings keine Blutungsquelle nachgewiesen werden, wobei dann eine zweite Angiographie nach wenigen Wochen empfohlen wird. Diese ergibt aber nur selten eine Klärung. Das Mortalitätsrisiko bei Patienten mit fehlendem Nachweis einer Blutungsquelle beträgt etwa 6 % gegenüber 40 % der Patienten mit Aneurysmen. Gelegentlich ist auch eine Myelographie zum Ausschluß einer arteriovenösen Mißbildung im Spinalkanal oder eines Ependymoms indiziert. Mit der transkraniellen Doppler-Sonographie (s. Kap. 1.3.4) kann ein Spasmus der Hirnbasisarterien, dessen Ausmaß und Zeitverlauf erfaßt werden. Eine Lumbalpunktion sollte erst nach der CT-Untersuchung durchgeführt werden und nur dann, wenn diese hinsichtlich Blutung und Hirnschwellung unauffällig ist oder differentialdiagnostische Probleme entstehen.

Methode der Wahl: intraarterielle Angiographie.

Transkranielle Doppler-Sonographie zum Nachweis von Spasmen intrakranieller Hirnarterien. Lumbalpunktion: Nach CT-Untersuchung bei unauffälligem Befund.

565

Zerebrale Durchblutungsstörungen Um eine artefizielle Blutung, verursacht durch die Lumbalpunktion, auszuschließen, ist die Drei-Röhrchen-Probe anzuwenden. Hierzu werden im ersten Röhrchen etwa 3 ml, im zweiten etwa 2 ml und im dritten 1 ml Liquor gesammelt. Bei einer SAB ist die Rotfärbung des Liquors in allen Proben identisch, bei artefizieller Blutung in der dritten Probe meist geringer ausgeprägt. Im Zweifelsfall ist die Zellzahl in den einzelnen Proben zu bestimmen. Eine SAB, die mehr als zwei Stunden zurückliegt, kann durch Xanthochromie des Liquors nach Zentrifugieren nachgewiesen werden. Diese verschwindet etwa drei Wochen nach einer Blutung. Siderophagen sind noch nach 3 - 4 Monaten nachweisbar.

Artefizielle Blutung bei Lumbalpunktion ausschließen.

13.1.17.6 Differentialdiagnostik

Differentlaldiagnostik: - Migräne, - Meningitis, - arteriovenöse Mißbildung, - intrazerebrale Blutung.

Da die Symptome einer aneurysmabedingten SAB häufig unspezifisch sind oder eindeutige anamnestische Angaben fehlen, ist eine Migräne, Meningitis, arteriovenöse Mißbildung, eine intrazerebrale Blutung oder hypertensive Enzephalopathie auszuschließen. 13.1.17.7 Therapie

Therapie der Aneurysmablutung

Patienten der Grade I—III nach Hunt und Hess (Tab. 13-8) werden innerhalb von 72 Stunden nach der SAB operiert, die der Schweregrade I V - V nach Besserung der neurologischen Symptome frühestens 12 Tage nach der SAB. Patienten bei Schweregrad I—III, die später (mehr als drei Tage nach SAB) diagnostiziert werden und dopplersonographisch oder angiographisch einen Vasospasmus der Hirnbasisarterien zeigen, werden ebenfalls frühestens 12 Tage nach der SAB operiert.

Operation: - bei Grad l - l l l : innerhalb 72 h; - bei Grad I V - V : frühestens 12 d nach SAB; - bei Grad l - l l l : frühestens 12 d nach SAB, falls nach 72 h diagnostiziert.

Tabelle 13-8 Einteilung der Patienten mit Aneurysmablutungen gemäß dem Operationsrisiko (aus Dorndorf 1983, nach Hunt u. Hess) Kategorie

Kriterien

Grad I

asymptomatisch oder geringe Kopfschmerzen und leichte Nackensteifigkeit

Grad II

mäßiger bis schwerer Kopfschmerz, Nackensteifigkeit, keine Ausfälle

Grad III

Somnolenz, Verwirrtheit oder milde neurologische Ausfälle

Grad IV

Sopor, mäßige bis schwere Hemiparese, evtl. frühe Streckmechanismen und vegetative Störungen

Grad V

Koma, Streckmechanismen, moribunder Zustand

Der gefürchtete Vasospasmus tritt in 24-62% zwischen dem 4. und 17. Tag nach einer Aneurysmablutung auf und kann durch die transkranielle Doppler-Sonographie erkannt und in seinem Verlauf beobachtet werden. Die konservative Therapie besteht in strenger Bettruhe, Abschirmung von Außenreizen, Blutdruckkontrolle, Sedierung mit Tranquilizern, ausreichender Schmerztherapie, antivasospastischer Therapie mit Nimodipin, Stuhlgangregulierung und krankengymnastischer Behandlung (passiv und über drei Wochen, dann zunehmend aktiv). Durch die Frühoperation konnte bei etwa 80 % der nach Hunt und Hess in die Grade I—III eingeteilten Patienten ein guter postoperativer Zustand erreicht werden, etwa 5 % dieser Patienten verstarben im Rahmen der Operation. Bei Patienten der Grade I V - V war das postoperative Ergebnis noch in etwa 40% gut, allerdings verstarben 25% im Rahmen der Operation. Dennoch ist die Prognose durch die Frühoperation

Vasospasmus kann durch transkranielle Doppler-Sonographie beobachtet werden (4.-17. d). Konservative Therapie: - Bettruhe, - Reizabschirmung, - Blutdruckkontrolle, - Sedierung, - Schmerztherapie, - antivasospastische Therapie, - Stuhlregulierung, - Krankengymnastik. Postoperativ: Ca-Antagonist Nimodipin; —» Senkung der neurologischen Ausfälle auf 4%.

566

Gefäßkrankheiten besser als die des Spontanverlaufs unter konservativer Therapie, da häufig tödliche Nachblutungen innerhalb der ersten Tage oder Wochen nach einer Aneurysmablutung auftreten (s. o.). Die Häufigkeit schwerer neurologischer Ausfälle nach einer Aneurysmablutung konnte durch verbesserte operative Techniken und die intra- und postoperative Verabreichung des Ca-Antagonisten Nimodipin von etwa 40 % auf 4 % gesenkt werden. Komplikationen sind, neben Vasospasmus und Rezidivblutung, Hirndrucksteigerung und Entwicklung eines Hydrozephalus.

Arteriovenöse Angiome

13.1.18 A r t e r i o v e n ö s e A n g i o m e 13.1.18.1 Definition

Angeborene Gefäßmißbildungen durch fehlende Trennung von afferenten und efferenten Gefäßen.

Arteriovenöse Angiome sind angeborene Gefäßfehlbildungen durch fehlende Trennung afferenter und efferenter Gefäße. Sie können primär arteriell, kapillär (kavernös), arteriovenös, teleangiektatisch oder venös sein.

Häufigkeit:

13.1.18.2 Häufigkeit und Lokalisation

Zweithäufigste Ursache einer SAB.

Sie sind zweithäufigste Ursache einer nicht traumatischen SAB (vgl. Tab. 13-7). Sie können an der Hirnoberfläche, in tiefen Hirnstrukturen (z.B. Basalganglien, Thalamus, Hirnstamm, Kleinhirn) oder im Rückenmark gelegen sein, selten multipel und selten vergesellschaftet mit Angiomen anderer Organe oder der Haut. Abb. 1-52 in Kap. 1.3.3 (bildgebende Verfahren) zeigt das angiographische Bild eines arteriovenösen Angioms im Versorgungsbereich der A. cerebri media. Selten ist die Lokalisation extrakraniell (Äste der A. carotis externa oder Muskeläste der A. vertebralis).

Lokalisation: - Hirnoberfläche, - tiefe Hirnstrukturen, - Rückenmark.

Pathogenese:

13.1.18.3 Pathogenese

Durch Vergrößerung arteriovenöser Angiome: - Blutverteilungsstörung, - Blutungen (Ruptur), - Liquorzirkulationsstörung; —» chronische Ischämie; —» zerebralorganische Anfälle; —* Leistungsminderung. Durch hohes Durchflußvolumen: - Mehrbelastung des Herzens, - Herzvergrößerung; —» Herzinsuffizienz.

Arteriovenöse Angiome vergrößern sich langsam über viele Jahre und können zu Blutverteilungsstörungen, Blutungen durch Ruptur und Liquorzirkulationsstörungen führen. Obwohl die zerebrale Durchblutung u m 5 0 - 1 0 0 % gesteigert sein kann, kommt es zu mangelhafter Perfusion des Hirngewebes mit chronischer Ischämie, die dann zu zerebralorganischen Anfällen, neurologischen Ausfällen und intellektueller Leistungsminderung führen kann. Der systemische Effekt großer arteriovenöser Angiome mit hohem Durchflußvolumen besteht in einer Mehrbelastung des Herzens, die zu Herzvergrößerung und -Insuffizienz führen kann.

Klinik:

13.1.18.4 Klinik

Erste Blutungen: 20.-30. Lebensjahr, meist aus ruptierter Vene in den Subarachnoidalraum.

Arteriovenöse Angiome werden selten vor dem Jugendalter symptomatisch. Erste Blutungen treten meist zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr auf, oft aus oberflächlichen Gefäßen in den Subarachnoidalraum, seltener als intrazerebrale Blutung. Die Blutung stammt meist aus einer rupturierten Vene und ist damit weniger intensiv als die aus einem rupturierten arteriellen Aneurysma. Angiomblutungen verlaufen daher auch gutartiger. Vorboten sind rezidivierende, ζ. T. migräneartige Kopfschmerzen. In 2 5 - 4 0 % sind fokale oder generalisierte zerebralorganische Anfälle das erste Symptom. Da Angiome häufig im Parietal- oder Okzipitallappen gelegen sind, können rein sensible und visuelle Störungen (Gesichtsfelddefekte), illusionäre Verkennung oder Halluzinationen auftreten.

Prodromi einer Blutung: - migräneartige Kopfschmerzen, - Anfälle, - sensible oder visuelle Störungen.

567

Zerebrale Durchblutungsstörungen Fokale neurologische Ausfälle können als TIA, flüchtige postiktale Störungen, aber auch manifest nach einer Blutung auftreten. Bei etwa der Hälfte der Fälle mit großen Angiomen soll sich ein organisches Psychosyndrom mit Wesensänderung und intellektueller Leistungsminderung ausbilden, bedingt durch chronische Mangeldurchblutung, Hirnatrophie oder Hydrocephalus internus. Liquorzirkulationsstörungen können nach einer SAB als kommunizierender Hydrozephalus oder durch direkten Druck auf das Ventrikelsystem (Aquäduktkompression) entstehen. In 10-25% der Patienten werden intrakranielle Gefäßgeräusche gefunden.

In der Hälfte der Fälle: - organisches Psychosyndrom durch chronische Mangeldurchblutung, Hirnatrophie oder Hydrocephalus internus, - Liquorzirkulationsstörungen.

13.1.18.5 Verlauf und Prognose

Verlauf und Prognose: - 50% der Patienten mit Angiom erleiden intrakranielle Blutung, - bei 25% leichte neurologische Ausfälle, - bei 10% schwere neurologische Ausfälle, - 25% der Patienten überleben nach Diagnose mehr als 20 Jahre.

Etwa die Hälfte der Patienten mit Angiomen erleiden eine intrakranielle (subarachnoidale oder intrazerebrale) Blutung mit einer Mortalität von etwa 6 %. Bei etwa 25 % treten hierdurch leichte, bei etwa 10 % schwere neurologische Ausfälle auf. Das Risiko, durch eine zweite Blutung zu sterben, wird auf 4 % geschätzt. Etwa der Patienten überleben nach Diagnosestellung mehr als zwanzig Jahre mit keinen oder nur geringen Störungen. Die Prognose ist somit wesentlich besser als die von sakkulären Aneurysmen. 13.1.18.6 Diagnostik Hinweise auf ein größeres Angiom sind mit der Doppler-Sonographie bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit in extra- oder intrakraniellen Hirnarterien zu erhalten. Die Computertomographie kann eine Blutung, allerdings nur wenige Tage nach dem Ereignis, und durch zusätzliche Kontrastmittelgabe die arteriovenöse Mißbildung nachweisen. Die Ausdehnung eines Angioms und die beteiligten Arterien und Venen sind am besten durch die intraarterielle zerebrale Angiographie darzustellen. Hierbei kann auch geklärt werden, ob das Angiom durch eine oder mehrere Arterien des Karotis- bzw. des vertebrobasilären Systems versorgt wird oder multiple Angiome in Kombination mit Aneurysmen vorliegen. 13.1.18.7 Therapie Sie hat zwei Ziele: - medikamentöse Behandlung der Komplikationen, vor allem der Anfälle, die für sich alleine keine Indikation zur Operation darstellen und - operative oder Strahlentherapie. Erstere ist bei sehr großen Angiomen und ungünstiger Lokalisation nicht möglich. Eine stereotaktisch applizierte lokale Strahlenbehandlung kann bei kleineren Angiomen durchgeführt werden. Insgesamt kann bei etwa % der Angiome eine Operationsindikation gestellt werden.

Diagnostik: - Doppler-Sonographie, - CT, - intraarterielle zerebrale Angiographie.

Therapie - konservativ: Behandlung der Anfälle; - operativ: bei etwa % der Angiome; - Strahlentherapie: bei kleinen Angiomen.

13.1.18.8 Kavernöse Hämangiome (Kavernome)

Kavernome

Sie sind meist kleine (Durchmesser von 1 m m - 4 cm) Gefäßmißbildungen, die histologisch aus Bündeln eng gepackter und dünnwandiger Sinusoide bestehen, die zwischen einer kaliberschwachen Arteriole und den drainierenden Venen liegen. Die Sinusoide bestehen aus Endothel und einer feinen Adventitia ohne Muskularis oder elastische Elemente. Sie kommen singulär oder multipel in allen Abschnitten des zentralen Nervensystems vor, gelegentlich liegen gleichzeitig Angiome der Leber, Niere, Lunge oder Haut vor. Die meisten Kavernome verlaufen asymptomatisch, größere können zu einer meist begrenzten intrazerebralen Blutung oder SAB führen.

Gefäßmißbildungen aus Bündeln eng gepackter Sinusoide. Vorkommen singulär oder multipel im ZNS. Größere Kavernome können zu intrazerebraler Blutung oder SAB fuhren.

568 Diagnose: durch CT mit Kontrastmittelanreicherung. Therapie: operative Entfernung.

Gefäßkrankheiten Diagnostisch sind sie bei ausreichender Größe als rundliche hyperdense Zone im Computertomogramm mit Kontrastmittelanreicherung zu sehen, angiographisch entziehen sie sich häufig dem Nachweis. Therapeutisch kommt bei günstiger Lokalisation die operative Entfernung in Frage.

Karotis-Kavernosus-Fistel

13.1.19 Karotis-Kavernosus-Fistel

Entstehung durch Defekt in Arterienwand zwischen A. carotis und Sinus cavernosus.

Durch ihren Verlauf durch den venösen Plexus des Sinus cavernosus ist die A. carotis interna vom venösen Blut lediglich durch die Arterienwand u n d ein dünnes Endothel getrennt. Ein Defekt in diesen Wänden führt zur Karotis-Kavernosus-Fistel. Sie entwickelt sich in etwa 75% traumatisch, seltener durch Ruptur eines sackförmigen oder arteriosklerotischen Aneurysmas, in den übrigen Fällen spontan ohne erkennbare Ursache. Meist ist die Fistel zunächst klein mit geringem Shunt-Volumen. Auch posttraumatisch treten die Symptome meist protrahiert auf, gelegentlich u m Wochen oder Monate verzögert.

Ätiologie: - überwiegend traumatisch, - spontan, - selten Aneurysma.

Klinik: - schmerzlos oder - Schmerzen im Bereich des 1. Trigeminusastes, - pulssynchrones Geräusch. Symptome: - Anschwellen der Augenlider mit Blauverfärbung, - pulsierender Exophthalmus, - Gefäßgeräusche über der Orbita. Diagnose: - Doppler-Sonographie, - Angiographie. Differentialdiagnose: Tolosa-Hunt-Syndrom. Therapie: Neuroradiologische Embolisation.

Klinik: Beginn entweder schmerzlos oder mit heftigen Schmerzen im Versorgungsbereich des l.Trigeminusastes, wobei der Patient häufig ein pulssynchrones Geräusch im Kopf bemerkt. Typische Symptome sind - Anschwellen der Augenlider mit Blauverfärbung, vor allem auf der Seite der Fistel, - pulsierender Exophthalmus mit Chemose und Conjunctivitis bulbi, - Gefäßgeräusche über der Orbita durch die Drainage der Fistel über die Vv. ophthalmicae. Die Diagnose wird dopplersonographisch und angiographisch gestellt. Differentialdiagnostisch ist an ein Tolosa-Hunt-Syndrom zu denken, das durch einseitigen Schmerz hinter dem Auge, gleichseitiger Parese des III. (bevorzugt) und/oder IV. und VI. Hirnnerven, Gefühlsstörungen im I. und seltener auch im II. Trigeminusast, leichter Protrusio bulbi und konjunktivaler Injektion charakterisiert ist. Ausgeprägte venöse Stauungserscheinungen am Auge fehlen. Als Ursache wird eine unspezifische granulomatöse Entzündung im Sinus cavernosus oder in der Fissura orbitalis superior angenommen. Als Therapie kommt, wenn die Fistel nicht spontan thrombosiert (etwa 10 %), die neuroradiologische Embolisation in Frage, die auch bei arteriovenösen und kapillären Gesichtshämangiomen, duralen arteriovenösen Fisteln und extrakraniellen Aneurysmen durchgeführt werden kann.

Sinus- und Hirnvenenthrombosen: - primäre (blande), - sekundäre (septische).

13.1.20 Sinus- und Hirnvenenthrombosen 13.1.20.1 Häufigkeit und Einteilung Sie treten selten auf und machen etwa 1 - 2 % der Hirngefäßerkrankungen aus. Die Einteilung erfolgt in primäre (blande) und sekundäre (septische) Thrombosen.

Ätiologie: - Dehydratation im Kindesalter, - Blutkrankheiten, - Infektion, - Thrombophlebitiden, Risiko: orale Kontrazeptiva.

13.1.20.2 Ätiologie Häufigste Ursachen sind eine Dehydratation im Kindesalter, Blutkrankheiten, Infektionen oder postpartale Thrombophlebitiden. Ein erhöhtes Risiko sollen orale Kontrazeptiva darstellen.

Zerebrale Durchblutungsstörungen

569

Als Ursachen blander venöser Hirngefäßthrombosen (nach Dorndorf 1983) kommen in Frage: Blutkrankheiten und Gerinnungsstörungen - Kryofibrinogenämie - Dehydratation - hämolytische Anämie - paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie - Polyzythämie - Sichelzellanämie - Verbrauchskoagulopathie Colitis ulcerosa Extrakranielle Tumoren Herzkrankheiten - kongenitale Herzfehler - Rechtsherzinsuffizienz Hirngefäßkrankheiten - Arterienverschluß - AV-Angiom - Mikroangiopathie, Vaskulitis Intrakranielle Raumforderungen - Hirntumor - Massenblutung - Subduralhämatom Idiopathisch Infektionskrankheiten Kachexie Operationen Orale Antikonzeptiva, Schädel-Hirn-Trauma Stoffwechselkrankheiten - Diabetes mellitus - Malnutrition - Pankreatitis Schwangerschaft Wochenbett Septische Thrombosen entstehen fortgeleitet von bakteriellen Infektionen des Gesichts und der Kopfhaut, einer Meningitis, Sinusitis, Otitis, Mastoiditis, Tonsillitis, Osteomyelitis und Herdenzephalitis. Auch Virusenzephalitiden können verantwortlich sein. 13.1.20.3 Pathogenese

Pathogenese:

Die Thrombose breitet sich von der Nachbarschaft eines Infektionsherdes entweder in einem duralen Sinus oder in inneren (selten) und äußeren Hirnvenen aus. Eine Übersicht der Hirnvenen und Sinus, wie sie angiographisch erfaßbar sind, gibt Abb. 13-19. Die Thrombose bewirkt eine Störung der Blut-Liquor-Schranke, durch Sauerstoffmangel Endothelschäden der vorgeschalteten Venen mit erhöhter Durchlässigkeit und Blutaustritt, was zu einem mehr oder minder ausgeprägten Hirnödem und größeren oder kleineren Blutungen, auch Massenblutungen, führen kann. Die Hirnrinde ist oft mitbetroffen, es treten dann auch Zeichen einer SAB auf. Blanden Thrombosen gehen gelegentlich Thrombosen in anderen Gefäßprovinzen voraus, am häufigsten Beinvenenthrombosen. Begünstigend wirken erhöhter intrakranieller Druck, Blutdruckabfall, erhöhte Hämokonzentration und Hyperkoagulabilität.

Ausbreitung der Thrombose von der Nachbarschaft eines Infektionsherdes. Thrombose bewirkt Störung der Blut-LiquorSchranke: —» Sauerstoffmangel, —» Endothelschäden der Venen, - » Blutaustritt, —» Hirnödem und Blutungen.

570

Gefäßkrankheiten

a)

Abb. 13-19 H i r n v e n e n u n d Sinus im A n g i o g r a m m a) P r o f i l a u f n a h m e , b) A u f n a h m e nach T o w n e (modif. nach Huber) 1 Sinus sagittalis s u p e r i o r 2 Sinus sagittalis i n f e r i o r 3 V. c e r e b r i m a g n a Galeni 4 Sinus rectus 5 C o n f l u e n s s i n u u m (Torcular H e r o p h i l i ) 6 Sinus transversus 7 Sinus s i g m o i d e u s 8 Sinus petrosus i n f e r i o r 9 Sinus c a v e r n o s u s 10 f r o n t a l e a s z e n d i e r e n d e V e n e n 11 V. T r o l a r d 12 V. Rolandi 13 parietale und okzipitale a s z e n d i e r e n d e V e n e n 14 Vv. fossae Sylvii 15 V. septi p e l l u c i d i 16 V. thalamostriata 17 A n g u l u s venosus 18 V. c e r e b r i interna 19 V. basalis 20 untere V e n t r i k e l v e n e 21 V. c o r p o r i s callosis dorsalis (V. pericallosa posterior)

571

Zerebrale Durchblutungsstörungen 13.1.20.4 Klinik

Klinik:

Zu unterscheiden sind Lokal- und Allgemeinsymptome, die relativ typisch sind. Sie können akut oder protrahiert auftreten. Neurologische Lokalsymptome entsprechen der betroffenen Hirnregion u n d werden weiter unten besprochen. Allgemeinsymptome sind Kopfschmerzen (leicht bis sehr stark, diffus oder lokal), Übelkeit bis Erbrechen, Verwirrtheit, Bewußtseinsstörung, zerebralorganische Anfälle (fokale oder generalisierte), Nackensteifigkeit, Stauungspapille, Fieber, Leukozytose und blutiger oder xanthochromer Liquor. Anhand dieser Allgemeinsymptome ist keine sichere Differenzierung zwischen blander und septischer Thrombose möglich. Sinusthrombosen: Sie betreffen am häufigsten den Sinus sagittalis superior. Bei Verschluß nur des vorderen Sinusdrittels treten meist keine oder nur geringe Symptome auf. • Zu schweren Ausfällen kann es aber bei Verschluß des mittleren und hinteren Sinusdrittels (parietookzipitale Region) kommen, da diese Abschnitte Liquor und venöses Blut ableiten. Die Folge sind Himdruck mit Kopfschmerzen, Erbrechen, Bewußtseinstrübung und Doppelbilder durch druckbedingte Parese des N. abducens. Breitet sich die Sinusthrombose auf kortikale Venen aus, entstehen ein- oder beidseits motorische oder sensible Ausfälle, zunächst an den Beinen, gelegentlich auch aphasische Störungen, Blasenstörung oder Hemianopsie. Auftretende zerebralorganische Anfälle sind meist fokaler Natur (motorisch oder sensibel), es kann aber auch zur Generalisierung bis zum Status epilepticus kommen. Eine Thrombose des Sinus transversus wird meist durch eine Otitis media (akute oder chronische bei Cholesteatom) oder Mastoiditis verursacht. Gravierende Symptome treten nur bei Ausbreitung auf benachbarte venöse Abschnitte auf. Ist der Bulbus venae jugularis betroffen, kann ein Foramen-Jugulare-Syndrom durch Läsion des IX., X. und XI. Hirnnerven entstehen. Eine Mittelohrentzündung kann eine Thrombose des Sinus petrosus inferior bedingen mit homolateraler Abduzensparese und Gesichtsschmerzen (Gradenigo-Syndrom).

Allgemeinsymptome sind: - Kopfschmerzen, - Übelkeit, Erbrechen, - Verwirrtheit, - Bewußtseinsstörungen, - zerebral-organische Anfälle, - Nackensteifigkeit, - Stauungspapille, - Fieber, - Leukozytose.

Eine Thrombose des Sinus petrosus superior entsteht ebenfalls durch Ausbreitung einer Infektion des Mittelohrs oder durch Ausdehnung eines Thrombus im Sinus cavernosus oder Sinus petrosus inferior. Sinus cavernosus-Thrombosen gehen meist von Infektionen (ζ. B. Furunkel) des Gesichts (perioral oder an der Nase) aus oder von den Nasennebenhöhlen, bevorzugt der Stirnhöhle. Sie können auch fortgeleitet sein über den Sinus petrosus via Sinus transversus bzw. Vena jugularis interna (vgl. Abb. 13-6). Die Thrombophlebitis des Sinus cavernosus beginnt meist akut und bedingt ein charakteristisches klinisches Bild mit ein- oder beidseitiger Protrusio bulbi, Augenlid- und Gesichtsschwellung, injizierten Konjunktiven und Chemose. Die zunehmenden Sehstörungen werden durch ödematöse Schwellung der Retina mit Blutungen und Ödem der Sehnervenpapille erklärt. Zudem können Orbitale Schmerzen als Ausdruck einer Läsion des l.Trigeminusastes auftreten und eine Ophthalmoplegie durch Läsion des III., IV. und VI. Hirnnerven im Sinus cavernosus. Gefäßgeräusche über den Augen sind im Gegensatz zur Karotis-Kavemosus-Fistel (vgl. Abschn. 13.1.19) nicht zu erwarten, was differentialdiagnostisch zu verwerten ist. Bei kortikalen Venenthrombosen sind Venen der Mantelkante betroffen. Es kann zu spastischer Parese des kontralateralen Beines oder beinbetonter Hemiparese kommen, in Abhängigkeit von der Ausdehnung auch zu Sensibilitätsstörungen. Anfälle sind häufig. Bei Ausbreitung der Thrombose über die Großhirnkonvexität mit Befall der Vv. frontoparietalis, parietalis und cerebri media superficialis, betreffen die neurologischen Ausfälle und fokalen An-

Sinusthrombosen Häufig betroffen Sinus sagittalis superior. Schwere Ausfälle bei Verschluß des mittleren und hinteren Sinusdrittels. Symptome: - Hirndruck/Kopfschmerzen, - Erbrechen, - Bewußtseinstrübung, - Doppelbilder. Bei Ausbreitung auf kortikale Venen: - motorische oder sensible Ausfälle an den Beinen, - aphasische Störungen, - Blasenstörungen, - Hemianopsie. Durch Otitis media: Thrombose des Sinus transversus. Foramen-Jugulare-Syndrom Gradenigo-Syndrom (bedingt durch Mittelohrentzündung).

Kortikale Venenthrombose Betroffen sind Venen der Mantelkante. Folge: - spastische Parese des kontralateralen Beines oder - beinbetonte Hemiparese, - Sensibilitätsstörungen.

Gefäßkrankheiten

572

Thrombosen der inneren Hirnnerven V o r k o m m e n : häufig gleichzeitig Thrombosen der benachbarten Sinus oder äußeren Hirnvenen. Meist tödlich: Thrombose des galenischen Systems, Puerperale Thrombosen Auftreten meist 8 Tage postpartal. Symptome: - Kopfschmerzen, - Anfälle, - Verwirrtheit, - Desorientierung, - erhöhter Hirndruck, - Bewußtseinsstörung. Verlauf und Prognose: leichte bis schwere Formen; Mortalität

20-40%.

Diagnostik: CT: Aufschluß über Hirnödem und Hämorrhagien; Infarkte hämorrhagisch, rundlich;

Lumbalpunktion: Differenzierung zwischen SAB oder Entzündung;

fälle mehr das Gesicht oder den Arm (brachiofaziale Betonung). Bei Thrombose der V. temporooccipitalis ist eine Hemianopsie zu erwarten, insbesondere, wenn die V. cerebri posterior verlegt ist. Thrombosen der inneren Hirnvenen kommen nur selten selektiv vor. Häufiger liegen gleichzeitig Thrombosen der benachbarten Sinus oder äußeren Hirnvenen vor. Besonders schwer (primäres Koma, Streckkrämpfe, Hyperthermie) und meist tödlich verläuft eine Thrombose des galenischen Systems (V. cerebri magna Galeni). In weniger gravierenden Fällen sind beidseitige extrapyramidale Störungen (vorwiegend Rigor) kennzeichnend. Puerperale Thrombosen treten meist innerhalb von 8 Tagen postpartal auf, seltener am Ende einer Schwangerschaft. Üblicherweise beginnen sie mit Kopfschmerzen, dann folgen fokale oder generalisierte Anfälle, z.T. mit postparoxysmalen Lähmungen, und neurologische Ausfälle. Psychische Symptome oder Verwirrt- und Desorientiertheit lassen zunächst an eine Wochenbettpsychose denken. Der weitere Verlauf mit Zeichen erhöhten Hirndrucks und Bewußtseinsstörung ist aber in jedem Fall diagnostisch wegweisend.

13.1.20.5 Verlauf und Prognose Akuter und subakuter Krankheitsbeginn mit leichten bis schwersten Verlaufsformen sind möglich. Verlauf und Prognose werden ganz wesentlich vom Grundleiden und dem Auftreten von Komplikationen (intrazerebrale Blutung, Lungenembolie, Hirnabszesse, sub- und epidurale Abszesse) bestimmt. Die puerperalen Thrombosen verlaufen mit einer Mortalität von 20-30%, die anderen im Durchschnitt von 40%. 13.1.20.6 Diagnostik Die Computertomographie (Abb. 13-20) gibt Hinweise auf ein Hirnödem und dessen Ausmaß, Hämorrhagien und gelegentlich auch auf die Lokalisation der Thrombose. Die Infarkte sind meist hämorrhagisch und rundlich konfiguriert im Gegensatz zu denen bei Arterienverschluß, die überwiegend ischämisch und keilförmig konfiguriert sind. Die Lumbalpunktion, wenn nicht kontraindiziert, kann Aufschluß über eine Subarachnoidalblutung oder eine Entzündung und ihren Erreger geben. Ein normaler Liquorbefund schließt allerdings eine Thrombose nicht aus.

Abb. 13-20 Computertomogramme einer 66jährigen Patientin mit Thrombose des Sinus sagittalis superior und kugelförmigen Blutungen fronto-präzentral (mit ausgedehnter Ödemzone) und parietal rechts (Neuroradiologie Ravensburg, Prof. Stoeter).

573

Spinale Durchblutungsstörungen Das EEG ist wenig spezifisch, kann normal oder verändert sein (Verlangsamung, Herdstörung oder Hinweise für erhöhte Krampfbereitschaft). Mit der zerebralen Angiographie gelingt fast immer der Nachweis der Thrombose. Sinus- und Hirnvenenthrombosen sind anamnestisch und klinisch nicht selten nur schwer zu diagnostizieren, vor allem wenn leichtere Verläufe vorliegen. 13.1.20.7 Therapie Neben der Behandlung der Grunderkrankung sind die Senkung eines erhöhten intrakraniellen Drucks bei Hirnödem durch hyperosmolare Lösungen und Antikoagulation mit zunächst Heparin am wichtigsten, auch wenn im Computertomogramm Blutungen nachgewiesen sind. Bei ausgeprägtem Hirnödem kann Dexamethason (24-48 mg/d) gegeben werden, auch wenn seine Wirkung beim vasogenen Ödem kontrovers diskutiert wird. Eine Thrombolyse mit Strepto- oder Urokinase wird zurückhaltend beurteilt. Im Akutstadium mit schweren Symptomen und Ausfällen ist Intensivüberwachung nötig. Neben lokalen operativen Eingriffen zur Beseitigung eines Erregerherdes kommt ein neurochirurgischer Eingriff als „ultima ratio" nur bei Massenblutungen und rasch fortschreitendem Visusverlust zur Druckentlastung in Frage.

13.2 Spinale Durchblutungsstörungen

- Zerebrale Angiographie: Nachweis der Thrombose.

Therapie - Hyperosmolare Lösungen —» Senkung des intrakraniellen Drucks, - Antikoagulation mit Heparin, - Dexamethason bei Hirnödem, - operativ nur bei Massenblutungen und bei fortschreitendem Visusverlust.

Spinale Durchblutungsstörungen

Sie weisen mit den zerebralen Durchblutungsstörungen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede auf. Gemeinsamkeiten sind, daß - Rückenmark und Gehirn knöchern eingeschlossen sind und eine Einengung des Spinalkanals durch degenerative Veränderungen und eine Raumforderung durch Bandscheibenvorfall, Tumor oder intraspinale Blutung (epi- oder subdural) zu einer Beeinträchtigung der Gefäßversorgung führen kann und - die spinalen Arterien eine den Hirnarterien entsprechende Autoregulation und C0 2 -Reaktivität zeigen.

Vergleich spinaler und zerebraler Durchblutungsstörungen

Unterschiede sind - die relative Seltenheit spinaler Durchblutungsstörungen (etwa 5 % der Durchblutungsstörungen des zentralen Nervensystems), - eine völlig andere Art der Gefäßversorgung, - das Nichtvorkommen arteriosklerotischer Veränderungen an den spinalen Arterien und - die häufig nur sehr schwer nachweisbare Ursache einer spinalen Durchblutungsstörung.

13.2.1 Gefäßversorgung des Rückenmarks Die arterielle Versorgung des ganzen zervikalen und oberen thorakalen Rükkenmarks erfolgt über Äste der Aa. vertebralis und subclavia bzw. Truncus thyreo- und costocervicalis. Die Kollateralversorgung dieser Abschnitte muß sehr effektiv sein, da bei den relativ häufigen arteriosklerotischen Veränderungen am Truncus brachiocephalicus, der proximalen A. subclavia und den Vertebralarterien nur sehr selten spinale Durchblutungsstörungen auftreten.

Anatomie der Rückenmarksarterien Versorgung über Äste der - A. vertebralis, - A. subclavia, - Truncus thyreocervicalis/costocervicalis. Kollateralversorgung in diesen Abschnitten sehr effektiv.

Gefäßkrankheiten

574

Segmentarterien versorgen - paravertebrale Muskulatur, Wirbel, - Meningen und Nervenwurzeln.

Medulläre Arterien versorgen - Halsmark, - Thorakalmark.

Die verbleibenden Abschnitte bis zum Sakralmark werden von paarigen segmentalen Arterien der thorakalen und lumbalen Aorta und den Aa. iliacae versorgt (Abb. 13-21). Die Segmentarterien versorgen die paravertebrale Muskulatur, Wirbel, Meningen und Nervenwurzeln. Seitenäste ziehen als Wurzelarterien durch die Foramina intervertebralia, wo sie sich als ventrale und dorsale Wurzelarterien aufteilen und die ventralen und dorsalen Nervenwurzeln sowie die Spinalganglien versorgen. Sie tragen nur in geringem Umfang zur Durchblutung des Rückenmarks bei. Einige Segmentarterien geben unpaare medulläre Arterien ab, die zur A. spi-

nalis anterior und den Aa. spinales posteriores (dorsaler Gefäßplexus) ziehen. Das Halsmark wird beidseits durch drei oder vier vordere medulläre Äste der Vertebralarterien und Zervikalarterien versorgt, die obersten thorakalen Segmente von medullären Ästen tiefer Zervikal- und oberer Interkostalarterien und das weitere Thorakalmark durch wenige medulläre Arterien, die aus SegA. spinalis anterior A.vertebralis Muskeläste Truncus thyreocervicalis A. subclavia Zuflüsse aus der thorakalen Aorta

A. spinalis anterior

Diaphragma

A. radicularis magna (Adamkiewicz) A. sacralis ascendens

A. hypogastrica

A. iliaca externa

Aorta

spinalis anterior (punktiert deren Versorgungsgebiet) ventrale Wurzelarterie

dorsale Wurzelarterie Abb. 13-21 Patel)

'

v

-dorsaler Gefäßplexus der Pia

Arterielle Gefäßversorgung des Rückenmarks (modif. nach Toole u.

Spinale Durchblutungsstörungen mentarterien der thorakaleH Aorta stammen. Die kaliberkräftigste u n d häufig einzige lumbale medulläre Arterie ist die A. radicularis magna (Adamkiewicz). Sie entspringt meist in Höhe des 1. oder 2. Lendenwirbels aus der Aorta und versorgt nach Vereinigung mit der A. spinalis anterior die ventralen zwei Drittel des lumbalen und sakralen Rückenmarks, gelegentlich auch die unteren Thorakalsegmente. Die A.spinalis anterior entsteht in H ö h e des 2. oder 3.Zervikalsegments aus den beiden R a m i spinales anteriores der Vertebralarterien. Sie zieht mit unterschiedlichem Kaliber im Sulcus ventralis des Rückenmarks kaudalwärts und erhält sporadisch Zuflüsse aus ventralen und medullären Arterien (meist 7 - 1 0 ) . Über Sulkusarterien versorgt sie unregelmäßig alternierend rechts und links die vorderen zwei Drittel des Rückenmarks (Vorder- und Seitenhörner, vordere u n d hintere Kommissur, Basis des Hinterhorns). Die übrigen Anteile werden über perforierende Dorsaläste und die Vasocorona verbunden.

575 A. radicularis magna versorgt von ventral % des lumbalen und sakralen Rückenmarks. Sulkusarterien versorgen, gespeist von der A. spinalis anterior, die vorderen % des zervikalen und thorakalen Rückenmarks. Strickleiterförmige Anastomisierung der medullären Arterien durch längs verlaufende Arterien des Rückenmarks. Einzelne Abschnitte sind kranial- oder kaudalwärts gerichtet. —> Wasserscheiden, die Risikozentren sind.

Die in Längsrichtung verlaufenden Arterien des Rückenmarks (Aa. spinalis anterior und posteriores) stellen eine strickleiterartige Anastomosierung der medullären Arterien dar, miteinander verbunden durch die Vasocorona. Je nach Druckverhältnissen in diesem arteriellen System kann die Strömung in den einzelnen Abschnitten kranial- oder kaudalwärts gerichtet sein. In Anastomosenbereichen können Wasserscheiden entstehen, die als Risikozonen angesehen werden. Zuflußreiche Abschnitte sind die Segmente C 5 - 8 und Th 9 - L 2 , zußußarme Th 1 - 3 und kaudal L 2 . Der venöse Abfluß erfolgt über radikuläre Venen, die im Subarachnoidalraum liegen und nach Durchtritt durch die Dura epidurale Venenplexus bilden.

13.2.2 Ätiologie N e b e n raumfordernden Prozessen (Neoplasmen, Bandscheibenvorfälle, knöcherne Einengungen des Spinalkanals, Blutungen im Spinalkanal und Rükkenmark) sind obstruierende Veränderungen der an der Rückenmarksversorgung beteiligten Arterien von der Aorta bis zu den Sulkusarterien zu berücksichtigen (Tab. 13-9). A m häufigsten führt wohl eine diabetische Angiopathie, ein Aortenaneurysma, eine zervikale Spondylose oder eine Kollagenerkrankung zu spinalen Durchblutungsstörungen. Arteriosklerotische Veränderungen k o m m e n , wie bereits erwähnt, selten vor. Häufig kann die Ursache nicht eindeutig geklärt werden.

13.2.3 Klinik Bei den Zirkulationsstörungen des R ü c k e n m a r k s handelt es sich ganz überwiegend u m ischämische Durchblutungsstörungen, die analog der Einteilung der Himdurchblutungsstörungen in flüchtige (spinovaskuläre Insuffizienz) und persistierende (Infarkte) eingeteilt werden. Spinovaskuläre Insuffizienz: Meist unter Belastung auftretende Mangelversorgung des R ü c k e n m a r k s als Claudicatio intermittens spinalis. Sie tritt nur selten auf und äußert sich meist als Paraparese der Beine, ζ. T. mit Blasenstörungen und leichten Sensibilitätsstörungen. Differentialdiagnostisch ist an eine Claudicatio intermittens der Cauda equina zu denken, die meist mit belastungs- oder bewegungsabhängigen, mono- oder pluriradikulären Schmerzen und Parästhesien einhergeht, seltener mit einer Paraparese der Beine. Häufigste Ursache ist eine knöcherne Einengung des lumbalen Spinalkanals durch degenerative Veränderungen u n d Bandscheibenprotrusionen (s. Abschn. 5.2.9.2). A u c h spinale Angiome oder arteriovenöse Fisteln können zu einer spinovaskulären Insuffizienz mit belastungsabhängigen neurologischen Störungen führen.

Ätiologie: - raumfordernde Prozesse, - knöcherne Einengung des Spinalkanals, - Blutungen im Spinalkanal, - obstruierende Veränderung der Arterien. Am häufigsten: - diabetische Angiopathie, - Aortenaneurysma, - zervikale Spondylose, - Kollagenerkrankung.

Klinik: Durchblutungsstörung - flüchtig (spinovaskuläre Insuffizienz), - persistierend (Infarkt).

Spinovaskuläre Insuffizienz: Mangelversorgung des Rückenmarks als Claudicatio intermittens spinalis. Folge: - Paraparese der Beine, - Blasenstörung, - Sensibilitätsstörungen. Differentialdiagnose: Claudicatio der Cauda equina Ursache: Einengung des lumbalen Spinalkanals durch Bandscheibenprotrusion.

576

Gefäßkrankheiten Tabelle 13-9 Ätiologie spinaler Durchblutungsstörungen (aus Toole u. Patel 1980)

Rückenmarksinfarkte Auftreten: selten. Bei Beteiligung des Versorgungsbereiches der A. spinalis anterior kommt es zum Spinalis-Anterior-Syndrom: - Paraparese der Beine, - dissoziierte Empfindungsstörung, - Blasen· und Mastdarmstörung, - Vorderhornläsion.

Infarkte im Zervikalabschnitt betreffen oft ganzen Rückmarksquerschnitt —» spastische Parese der Arme und Beine; Blasen-/Mastdarmstörung. Bei Läsion der kaudalen Rückenmarksabschnitte: Spinalis-Anterior-Syndrom; subakut in Minuten bis Stunden. Prodromi: - radikuläre Parästhesien, Schmerzen, - flüchtige Schwäche der Beine. Verlauf: ähnlich Hirninfarkt.

Lokalisation

Kausale Faktoren

Aorta

Dissektion (am häufigsten) Arteriosklerose Aneurysma, arteriosklerotisch oder syphilitisch Takayasu-Krankheit Kompression der lumbalen Aorta zwecks Stillung einer Uterusblutung

Aa. vertebrales

Fraktur mit Dislokation der Wirbelsäule Hyperextensionsverletzungen der Halswirbelsäule Zervikale Spondylose Vertebralisarteriogramm

Interkostalarterien

, Γ Thorakoplastik oder Postoperativ nach < , , . , |_ dorsolumbaler Sympathektomie Aortenisthmusstenose (Erweiterung der Interkostalarterien)

Medulläre Arterien

Ligatur während einer chirurgischen Rekonstruktion der thorakolumbalen Aorta Verschluß durch malignen Tumor, Tuberkulose, Psoasabszeß Injektion von Kontrastmittel bei Aortographie Kompression durch Spondylarthrose

A. spinalis anterior

Arteriosklerose (selten) Diabetische Arteriopathie Syphilitische Arteriitis Mechanische Kompression durch eine zervikale Diskushernie

Aa. sulco-commissurales

Kollagenosen Γ Syphilis Endarteriitis obliterans l Tuberkulose Luftembolien [ Sarkoidose Strahlenmyelopathie

Arterioläres Netz der Pia

Chronische adhäsive Arachnoiditis

Rückenmarksinfarkte sind, verglichen m i t H i r n i n f a r k t e n , ebenfalls selten. Ist der Versorgungsbereich der A. spinalis a n t e r i o r betroffen, k o m m t es z u m Spinalis-Anterior-Syndrom, welches meist das Brust- u n d L e n d e n m a r k betrifft. Leitsymptome sind die - a n f ä n g l i c h schlaffe, später spastische Paraparese der Beine, - dissoziierte E m p f i n d u n g s s t ö r u n g m i t Verlust der T e m p e r a t u r - u n d S c h m e r z e m p f i n d u n g bei e r h a l t e n e r B e r ü h r u n g s e m p f i n d u n g distal der Läsion, - Blasen- u n d M a s t d a r m s t ö r u n g . A u f der H ö h e der Läsion f i n d e n sich Z e i c h e n einer Vorderhornschädigung mit M u s k e l a t r o p h i e , F a s z i k u l i e r e n u n d R e f l e x s t ö r u n g e n , die allerdings im T h o rakalbereich n u r schwer festzustellen sind. Infarkte i m Zervikalbereich b e t r e f f e n oft d e n g a n z e n R ü c k e n m a r k s q u e r schnitt, f ü h r e n je n a c h H ö h e zu spastischer Parese der A r m e u n d Beine oder zu a t r o p h i s c h e r Parese der A r m e u n d spastischer Parese der Beine m i t Stör u n g der Sensibiltiät aller Q u a l i t ä t e n , Blasen- u n d M a s t d a r m s t ö r u n g . Bei a u s g e d e h n t e r Läsion der kaudalen Rückenmarksabschnitte kann eine schlaffe Paraparese persistieren. Das S p i n a l i s - A n t e r i o r - S y n d r o m entwickelt sich s u b a k u t i n n e r h a l b M i n u t e n bis S t u n d e n . Prodromi m i t r a d i k u l ä r e n Parästhesien oder S c h m e r z e n (ζ. T. gürtelförmig u n d sehr heftig) u n d flüchtige Schwäche der Beine k ö n n e n v o r a u s g e h e n . Der Verlauf ist sehr u n t e r s c h i e d lich, ä h n l i c h d e m bei H i r n i n f a r k t e n . Ein isolierter I n f a r k t im Versorgungsbe-

Spinale Durchblutungsstörungen reich der Aa. spinalis posteriores mit Verlust der Hinterstrangsensibilität, die zu spinaler Ataxie f ü h r t , k o m m t nicht vor. Embolische Verschlüsse von spinalen Arterien sind sehr selten, bei der D e k o m pressionskrankheit (s. A b s c h n . 13.1.13.13) k ö n n e n L u f t e m b o l i e n a u f t r e t e n . Spinale Blutung. Sie k a n n epidural, s u b d u r a l oder i n t r a m e d u l l ä r (Haematomyelie) lokalisiert sein.

577

Ätiologisch k o m m e n T r a u m e n , r u p t u r i e r t e G e f ä ß m i ß b i l d u n g e n , K r a n k h e i t e n m i t B l u t u n g s n e i g u n g , B l u t u n g e n in spinale T u m o r e n u n d als K o m p l i k a t i o n e i n e r A n t i k o a g u l a n t i e n t h e r a p i e in Frage. Das klinische Bild einer H ä m a t o myelie ähnelt oft d e m eines S p i n a l i s - A n t e r i o r - S y n d r o m s oder einer Syringomyelic.

Spinale Blutung: - epidural, - subdural, - intramedullär (Hämatomyelie). Ursache: Traumen, Gefäßruptur, Blutungen in spinale Tumoren, Antikoagulantientherapie.

Spinale Subarachnoidalblutungen sind ebenfalls sehr selten. H ä u f i g s t e Blut u n g s q u e l l e n sind G e f ä ß m i ß b i l d u n g e n u n d T u m o r b l u t u n g e n , sehr selten ein A n e u r y s m a der A. spinalis anterior. A n d e r e U r s a c h e n w u r d e n bei d e n Blutungen besprochen.

Spinale SAB: sehr selten. Ursache: Gefäßmißbildungen, Tumorblutungen.

E i n e spezielle F o r m der spinalen Ischämie in h ö h e r e m Lebensalter ist die vaskuläre Myelopathie, die o h n e e r k e n n b a r e arterielle Z u o r d n u n g chronisch-progredient m i t V o r d e r h o r n - u n d P y r a m i d e n b a h n l ä s i o n e n verläuft u n d differentialdiagnostisch von einer a m y o t r o p h i s c h e n Lateralsklerose oder spastischen Spinalparalyse a b z u g r e n z e n ist.

Vaskuläre Myelopathie: ist spezielle Form der spinalen Ischämie ohne arterielle Zuordnung.

Sind a u c h dissoziierte E m p f i n d u n g s s t ö r u n g e n nachweisbar, ist die Diagnose leichter zu stellen. I m weiteren S i n n e sind eine Multiple Sklerose, f u n i k u l ä r e S p i n a l e r k r a n k u n g oder zervikale M y e l o p a t h i e d u r c h (s. A b s c h n . 5.2.9.1) knöc h e r n e E i n e n g u n g des Spinalkanals a u s z u s c h l i e ß e n . V e n ö s e Abflußstörungen, meist b e d i n g t d u r c h r a u m f o r d e r n d e Prozesse, sind a n h a n d der S y m p t o m e nicht von arteriellen S t ö r u n g e n zu u n t e r s c h e i d e n . Arteriovenöse M i ß b i l d u n g e n im Spinalkanal b e t r e f f e n überwiegend die duralen G e f ä ß e u n d sind meist in der l u m b a l e n u n d l u m b o s a k r a l e n R e g i o n lokalisiert, n u r selten in der Zervikalregion. Sie werden d u r c h Blutverteilungsstörungen, K o m p r e s s i o n oder B l u t u n g s y m p t o m a t i s c h . H ä u f i g f i n d e n sich aber n u r l u m b a l e S c h m e r z e n u n d Parästhesien. Die Symptomatik k a n n , a u c h b e l a s t u n g s a b h ä n g i g , f l u k t u i e r e n , progredient i. S. eines Querschnittssynd r o m s z u n e h m e n oder akut bei B l u t u n g a u f t r e t e n .

13.2.4 Diagnostik Der Liquorbefund ist meist wenig aussagekräftig, a b g e s e h e n bei kompressionsbedingter D u r c h b l u t u n g s s t ö r u n g m i t L i q u o r e i w e i ß e r h ö h u n g oder bei Blutung. D u r c h die Myelographie (s. Kap. 1.3.3) k ö n n e h Hinweise auf eine G e f ä ß m i ß b i l d u n g erhalten werden, die selektive spinale Angiographie (s. Kap. 1.3.3) k a n n E i n z e l h e i t e n der G e f ä ß v e r s o r g u n g von s p i n a l e n A n g i o m e n u n d arteriovenösen Fisteln klären. Mit der Kernspintomographie können traumatische Läsionen, Neoplasmen, G e f ä ß m i ß b i l d u n g e n u n d B l u t u n g e n e r k a n n t u n d ζ. T. v o n e i n a n d e r abgegrenzt werden (s. Kap. 1.3.3).

13.2.5 Therapie Bei i s c h ä m i s c h e n D u r c h b l u t u n g s s t ö r u n g e n richtet sich die T h e r a p i e n a c h d e n Prinzipien, die i. R. der H i r n d u r c h b l u t u n g s s t ö r u n g e n b e s p r o c h e n wurden. I m ü b r i g e n richtet sie sich n a c h der z u g r u n d e l i e g e n d e n U r s a c h e der D u r c h b l u t u n g s s t ö r u n g , bei T u m o r e n , G e f ä ß m i ß b i l d u n g e n u n d B l u t u n g e n ζ. T. m i t operativer K o n s e q u e n z .

Arteriovenöse Mißbildungen im Spinalkanal betreffen überwiegend durale Gefäße. Lokalisation: lumbale/lumbosakrale Region. Fluktuierende Symptomatik ähnlich Querschnittsyndrom.

Diagnostik: - Myelographie—* Hinweis auf Gefäßmißbildung, - Angiographie —» klärt Einzelheiten der Gefäßversorgung.

Therapie: wie bei Hirndurchblutungsstörung; operativ bei - Tumoren, - Gefäßmißbildungen, - Blutungen.

Gefäßkrankheiten

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14

Epilepsien

Epilepsien

W. Fröscher

14.1 Definition

Definition

Unter Epilepsie bzw. Epilepsien versteht man alle Zustände und Krankheiten, die wiederholt zu epileptischen Anfällen von einem oder mehreren bestimmten Typen führen. Von Epilepsien statt von Epilepsie spricht man, weil es sich sowohl von den Anfallstypen als auch vom ätiopathogenetischen Standpunkt, vom klinischen Verlauf und der Therapie her um unterschiedliche Syndrome handelt.

Beim Auftreten eines Anfalls oder einzelner Anfälle im Abstand von Monaten oder Jahren ohne faßbare Provokationsfaktoren spricht man von einer „Monoepilepsie" bzw. einer „Oligoepilepsie". Unter einer „aktiven Epilepsie" versteht man eine Epilepsie mit mindestens zwei nicht provozierten (ζ. B. durch Fieber, Alkohol usw.) epileptischen Anfällen, wovon einer im Laufe der letzten fünf Jahre aufgetreten sein muß. Auch eine Epilepsie von Personen, die unter einer antiepileptischen Medikation stehen, wird als „aktive Epilepsie" bezeichnet; andere Autoren sprechen von einer aktiven Epilepsie beim Auftreten von einem Anfall innerhalb von zwei Jahren. Unglücklich gewählt ist die Bezeichnung „latente Epilepsie" oder auch „bioelektrische Epilepsie" bei Menschen, bei denen sich epilepsietypische Potentiale im EEG finden, jedoch niemals Anfälle aufgetreten sind („subklinische" epileptische Aktivität im EEG). Da epilepsietypische Potentiale im Laufe eines Lebens völlig verschwinden können und nie ein Anfall aufzutreten braucht, sollte man EEG-Merkmalsträgem die Benachteiligung der Bezeichnung „latente Epilepsie" ersparen. Als „maskierte Epilepsie" wird manchmal die Kombination von epilepsietypischen Potentialen im EEG (oder auch nur dysrhythmischen Veränderungen im EEG) mit einer Reihe von Beschwerden (ohne Bewußtseinsminderung) bezeichnet. Solche Beschwerden wie Bauchschmerzattacken, Kopfschmerzen, „Nabelkoliken", Enuresis, nächtliche Unruhezustände, Konzentrations- und Verhaltensstörungen werden auch als „epileptische Äquivalente" bezeichnet. Diese Begriffe sind Anlaß vieler Mißverständnisse und bergen die Gefahr nicht indizierter Therapieversuche in sich.

Epilepsietypische Potentiale im EEG bei Menschen ohne klinisch manifeste Anfälle erlauben nicht die Diagnose „Epilepsie" oder „latente Epilepsie" beim Merkmalsträger.

14.2 Epidemiologie

Epidemiologische Daten

In der Bundesrepublik haben etwa 1 % der Einwohner, von denen ein Drittel unter 16 Jahre alt sind, eine Epilepsie (Prävalenz). Die Hälfte der Epilepsien manifestiert sich vor dem 10. Lebensjahr, etwa 70% vor dem 20. Lebensjahr. Die Zahl der Neuerkrankungen (Inzidenz) an Epilepsie beträgt 0,4 bis 0,5 %o jährlich.

Prävalenz:

Ungefähr 1 % der Bevölkerung leidet an Epilepsie. Ein Drittel der Betroffenen ist weniger als 16 Jahre alt.

Epilepsien

580 Gelegenheitsanfälle:

Ein epileptischer Anfall kann unter extremen Bedingungen bei jedem Menschen als eine unspezifische zerebrale Reaktion auftreten. Bei etwa 10% der Bevölkerung ist die Anfallsbereitschaft erhöht. 4 - 5 % der Durchschnittsbevölkerung erleiden im Laufe ihres Lebens mindestens einen Anfall. Überwiegend handelt es sich dabei um Gelegenheitsanfälle. Gelegenheitsanfälle sind unspezifische krisenhafte Reaktionen bei erhöhter Anfallsbereitschaft. Fieberkrämpfe sind die häufigsten Gelegenheitsanfälle.

Ein epileptischer Anfall kann unter extremen Bedingungen bei jedem Menschen als eine unspezifische zerebrale Reaktion auftreten. Solche Bedingungen sind z.B. Sauerstoffmangel oder eine massive Erniedrigung des Blutzuckers. Diese bei allen Individuen bestehende Reaktionsmöglichkeit ist bei etwa 10% der Bevölkerung als erhöhte Anfallsbereitschaft besonders stark ausgeprägt. Die gegenüber der Norm erhöhte Anfallsbereitschaft ist genetisch determiniert u n d führt dazu, daß etwa 4 - 5 % der Durchschnittsbevölkerung im Laufe ihres Lebens mindestens einen Anfall bekommen. Überwiegend handelt es sich dabei u m sogenannte Gelegenheitsanfälle (synonym: Okkasionsanfälle), d. h. Anfälle, die als unspezifische krisenhafte Reaktion bei ganz verschiedenen Erkrankungen auftreten, und zwar bei Patienten, bei denen eine Epilepsie bisher nicht bekannt war. Mit der Noxe verschwinden diese Anfälle in der Regel wieder. Bei der Mehrzahl der Gelegenheitsanfälle handelt es sich um sog. Fieberkrämpfe; 3 - 3 , 3 % der Bevölkerung erleiden einen solchen Anfall. „Gelegenheitsanfälle" treten ferner auf als Neugeborenenkrämpfe, Streßkrämpfe, Entzugsanfälle nach Entzug von Alkohol, Schlafmitteln oder anderen Drogen, bei Urämie oder Eklampsie.

Ätiologie:

14.3 Ätiologie

„Idiopathische" und „symptomatische" Epilepsien

14.3.1 „Idiopathische" und „symptomatische" Epilepsien Die Einteilung der Epilepsien nach ätiologischen Gesichtspunkten erfolgt in idiopathische und symptomatische Formen. Statt „idiopathisch" werden auch die Bezeichnungen genuin, essentiell und kryptogenetisch verwendet.

„Idiopathisch" und „symptomatisch" sind keine polaren, sich ausschließenden Gegensätze, sondern verschiedene Teile eines zur Epilepsie führenden Faktorenbündels. In vielen Fällen stellt die exogene Einwirkung offenbar lediglich den Realisationsfaktor für ein überwiegend genetisch bedingtes Anfallsleiden dar. Im allgemeinen spricht man von idiopathischer Epilepsie, wenn eine anfallsauslösende hirnorganische Läsion oder eine zerebrale Funktionsstörung nicht nachweisbar sind. Manifestiert sich das Anfallsleiden im Zusammenhang mit einer Gehirnschädigung, spricht man von einer symptomatischen Epilepsie.

Man muß sich die Epilepsien auf einer Strecke angeordnet denken, an deren einem Ende die wenigen rein exogenen, an deren anderem Ende die seltenen rein genetisch bedingten Epilepsien zu finden sind. Die Mehrzahl der Leiden ist ätiopathogenetisch zwischen diesen beiden Punkten zu suchen, indem bei geringer genetisch bedingter Krampfneigung nur eine schwere, bei stärkerer Disposition bereits eine leichte exogene Schädigung als Realisationsfaktor zur Epilepsie führt.

581

Ätiologie

14.3.2 Genetische Disposition

Genetische Disposition

14.3.2.1 Familienuntersuchungen Bei den Nachkommen der Patientengruppe mit generalisierten Epilepsien ist in 4 - 8 % mit einer manifesten Epilepsie zu rechnen. Im Falle der vorwiegend exogen verursachten Epilepsien beträgt das Erkrankungsrisiko für Geschwister und Nachkommen 1 ( - 5 ) %.

Eine Sonderstellung unter den fokalen Epilepsien nimmt die benigne zentrotemporale Epilepsie ein. Hier m u ß unter den Geschwistern in 33 % mit analogen EEG-Befunden und in etwa 15% mit manifesten homologen Erkrankungen gerechnet werden. Das Epilepsierisiko steigt erheblich, wenn beide Elternteile an Epilepsie leiden oder aus einer Familie mit erhöhter Anfallsdisposition kommen.

14.3.2.2 Zwillingsforschung Die Zwillingsforschung ergab übereinstimmend in allen größeren Untersuchungsgruppen eine höhere Konkordanz eineiiger Zwillinge sowohl für manifeste Anfälle als für epilepsietypische EEG-Muster. Bei eineiigen Zwillingen beträgt die Konkordanzrate 4 0 - 9 0 % , bei zweieiigen Zwillingen 5 - 2 0 % . Für Zwillinge mit idiopathischer Epilepsie ist die Konkordanz höher als bei symptomatischer Epilepsie.

Die Zwillingsforschung bestätigt das Bestegenetischen Disposition zur EpilepSle '

hen einer

14.3.2.3 EEG-Untersuchungen Nicht nur manifeste Anfälle kommen bei den Verwandten von Patienten mit Epilepsie gehäuft vor, sondern bei einer noch größeren Probandenzahl auch epilepsietypische Potentiale im EEG ohne manifeste Anfälle. Bei den Geschwistern von Patienten mit typischen Absencen wurden bei 20 % Spikewave-Muster gefunden, in der Normalpopulation beträgt die Häufigkeit des Auftretens von Spike-wave-Komplexen bis zu 2 %.

Im EEG ist die eventuelle Disposition zu einer epileptischen Reaktion vor allem an vier Merkmalen erkennbar: • Spike-wave-Komplexe im Ruhe- und Hyperventilations-EEG; • Fotosensibilität (s. 14.8); • monomorphe 4 - 7 / s - R h y t h m e n der Grundaktivität sowie • zentro- temporale Sharp-waves.

14.3.2.4 Erbgang Der Erbgang der Epilepsien ist nicht zweifelsfrei geklärt. Nach den bisherigen Untersuchungen scheint es sich u m ein einzelnes dominantes Gen mit wechselnder Expressivität oder u m die additive Wirkung mehrerer Gene zu handeln. Das Auftreten von steilen Potentialen im EEG ohne klinisch manifeste Anfälle wird als Ausdruck einer verminderten Genpenetranz verstanden. Eine idiopathische oder überwiegend genetisch bedingte Epilepsie ist eine Ausschlußdiagnose. Diese Epilepsien sind aber nicht nur negativ determiniert durch das Fehlen einer faßbaren Gehirnschädigung. Daß es sich u m eine eigenständige Krankheitsgruppe handelt, zeigt sich an einem typischen

Eine idiopathische oder überwiegend genetisch bedingte Epilepsie ist eine Ausschlußdiagnose,

Epilepsien

582

Manifestationsalter; die Art des Anfallstyps korreliert mit dem Manifestationsalter („altersgebundene Epilepsien").

Ursachen einer symptomatischen Epilepsie - Prozeßepilepsie: durch anhaltenden chronischen Hirnprozeß, - Residualepilepsie: bei abgeschlossener Schädigung. 80 % aller Epilepsien sind symptomatische Epilepsien. Jede abgelaufene oder akute Gehirnschädigung kann Ursache von epilep tischen Anfällen werden.

14.3.3 Ursachen einer symptomatischen Epilepsie Wird eine symptomatische Epilepsie durch einen anhaltenden chronischen Hirnprozeß hervorgerufen, spricht man auch von einer Prozeßepilepsie, andernfalls von einer Residualepilepsie. Der Prozentsatz der symptomatischen Epilepsien wird mit bis zu 80% aller Epilepsien beziffert. Jede abgelaufene oder akute Gehirnschädigung kann Ursache von epileptischen Anfällen werden. Für klinisch-diagnostische Belange ist die Einteilung von Matthes (1984) geeignet. Er unterscheidet: 1. Epilepsien als Folge abgeschlossener zerebraler Erkrankungen und zerebrale Dysgenesien. Nach dem Zeitpunkt des Schädigungseintritts unterscheidet man: a) pränatale Läsionen (ζ. B. zerebrale Mißbildungen) b) perinatale Läsionen (ζ. B. Hypoxämie, Blutung, Kernikterus) c) postnatale Läsionen (ζ. B. Meningoenzephalitis, Tumoren) 2. Epilepsien im R a h m e n prozeßhafter Erkrankungen des zentralen Nervensystems (Prozeßepilepsien) a) expansive Prozesse (Hirntumor, Abszeß) b) neurometabolisch-degenerative Erkrankungen (ζ. B. Aminoazidopathien, Gangliosidosen, Lipidspeicherkrankheit, Myoklonus-Epilepsie Unverricht-Lundborg) c) neurokutane Dysplasien bzw. Phakomatosen d) degenerative Gehirnerkrankungen e) entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems 3. Genetisch bedingte „molekulare" Epilepsien 4. Epilepsien unbekannter Ätiologie mit und ohne organische Zerebralschäden. Die angegebenen Schädigungsmöglichkeiten kommen sehr unterschiedlich häufig vor. Peiffer (1984) fand an einem großen Obduktionsgut mit symptomatischfen Epilepsien am häufigsten Folgen von Infektionen und Störungen der Bluthirnschranke (34,5%), gefolgt von Tumoren (13,4%), vaskulären Schäden (9,4 %), Mißbildungen (8,7 %), Geburtsschäden (7,7 %), Traumafolgen (6,7 %) sowie eine Restgruppe von 7,1 % seltener Krankheiten und 12,5 % ungeklärter Ursache. Tabelle 14-1

Beziehungen zwischen Anfallstyp und Ätiologie Übergewicht der genetischen Disposition

Fokale Anfälle Grand mal, Aufwachtyp Grand mal, Schlaftyp

MittelStellung

Übergewicht der exogenen Schädigung +

+ +

Grand mal, diffus

+

BNS-Krämpfe

+

Myoklonisch-astatische Anfälle (mehrheitlich) Absencen Impulsiv-Petit mal

+ + +

Ätiologie

583

Tabelle 14-2 Beziehungen zwischen Manifestationsalter und Ätiologie epileptischer Anfälle und/oder der Epilepsien (nach Matthes 1984, Niedermeyer 1983) Ο--7 Jahre

8--20 Jahre

21-40 Jahre

41I-60 Jahre

>60 Jahre

Ι. Residualschäden von frühkindlichen Hirnverletzungen (prä-, peri-, postnatal) 2. Prozeßhafte Erkrankungen (Hirntumor, neurometabolischdegenerative Erkrankungen usw.). Von 0-3 Jahren ist eine prozeßhafte Erkrankung häufiger Ursache der Erstmanifestation einer Epilepsie, im Alter von 3-7 Jahren ist die Disposition zur Epilepsie häufigere Ursache der Erstmanifestation

1. Genetische Disposition 2. Gehirnverletzungen 3. Residualschäden von frühkindlichen Gehirnverletzungen 4. ZNS-Infektionen 5. Gefäßmißbildungen 6. Sonstiges, unbekannt

1. Gehirnverletzungen 2. Hirntumoren 3. Alkoholismus (regional unterschiedlich) 4. Residualschäden von frühkindlichen Hirnverletzungen 5. Gefäßmißbildungen 6. Sonstiges, unbekannt

1. Hirntumoren 2. Alkoholismus (regional unterschiedlich) 3. Gehirnverletzungen 4. Zerebrale Gefäßsklerose 5. Sonstiges, unbekannt

1. Zerebrale Gefäßsklerose 2. Hirntumoren (primär) 3. Gehirnmetastasen 4. Sonstiges, unbekannt

3. Genetische Disposition 4. Sonstiges, unbekannt Tabelle 14-3

Beziehungen zwischen EEG-Befund und Ätiologie

EEG-Befund

Symptomatisch eher Residualepilepsie

eher Prozeß

Herdbefund progredient

Disposition

+

Generalisierte Spike-wave-Komplexe (ohne fokalen Beginn) Herdbefund, nicht progredient

Genetische

+

+

Nach einer Gehirnverletzung können sowohl einzelne Anfälle auftreten als auch eine chronische Epilepsie entstehen. Im allgemeinen bewegen sich die Häufigkeitsangaben für eine chronische Epilepsie nach einem gedeckten Schädel-Hirn-Trauma zwischen 1 und 5 %, bei offenen Hirnverletzungen zwischen 20 und 50 %. Für die Entstehung einer symptomatischen Epilepsie bedeutungsvoll ist der Sitz einer Schädigung. Schädigungen im Bereich des Frontallappens disponieren in besonderem Maße zur Entwicklung von Krampfanfällen, insbesondere zur Entstehung eines Status epilepticus. Klinik und EEG geben Hinweise zur Ätiologie: In Tabelle 14-1 wurde die Beziehung von Anfallstyp und Ätiologie schematisch dargestellt. Auch das Lebensalter, in welchem ein Anfallsleiden sich erstmals manifestiert (Tab. 14-2), und der EEG-Befund (Tab. 14-3) können wesentliche Aufschlüsse zur Ätiologie geben.

Bei 1 - 5 % der Patienten mit einem gedeckten Schädel-Hirn-Trauma und bei 20 bis 50% der Patienten mit einer offenen Hirnverletzung entwickelt sich eine Epilepsie.

Epilepsien

584 Pathogenese

14.4 Pathogenese Epileptische Anfälle sind der Ausdruck von paroxysmal auftretenden Funktionsstörungen des zentralen Nervensystems. Eine solche Funktionsabweichung kann das gesamte Gehirn betreffen oder sich auf Teile beschränken. Dementsprechend können - je nach den in die epileptischen Funktionsstörung einbezogenen Hirnarealen - bei epileptischen Anfällen motorische und sensorische Zeichen, Funktionsveränderungen des vegetativen Nervensystems und/oder Störungen des Bewußtseins im Vordergrund stehen.

Der epileptische Anfall ist das Resultat exzessiver elektrischer Entladungen größerer Neuronenverbände. Beim Zustandekommen dieser elektrischen Entladungsstörungen spielen Störungen der intrazellulären metabolischen Energieerzeugung und Störungen des biochemischen Gleichgewichts zwischen inhibitorischen und exzitatorischen Transmittersubstanzen an den Synapsen eine Rolle.

Paroxysmale Depolarisation:

Das neuronale Entladungsmuster bei epileptischen Anfällen wird als paroxysmale Depolarisation bezeichnet.

Synchronisierung:

Ein Charakteristikum der zentral-nervösen epileptischen Aktivität besteht in der Synchronisierung der Tätigkeit einzelner Neu-

Das Sistieren epileptischer Aktivität ist wahrscheinlich auf aktive primär neuronale Mechanismen zurückzuführen.

Progressive Epileptogenese:

Ein in Frage kommender Mechanismus: „Kindling"-Effekt; er ist ein Modell für das „Sich-einschleifen" eines epileptogenen Mechanismus während einer Latenzzeit.

Über die pathogenetische Verknüpfung von Ursachen und manifestem Anfallsleiden sind noch viele Fragen offen. Aufgrund von EEG-Untersuchungen am Gehirn und am isolierten Neuron weiß man, daß der epileptische Anfall das Resultat exzessiver elektrischer Entladungen größerer Neuronenverbände ist. Diese elektrischen Entladungsstörungen beruhen auf komplizierten neurochemischen Vorgängen. Im wesentlich spielen dabei folgende Vorgänge eine Rolle: • Störungen der intrazellulären metabolischen Energieerzeugung; • Störung des biochemischen Gleichgewichts zwischen inhibitorischen und exzitatorischen Transmittersubstanzen, die an den Synapsen wirksam sind. Veränderungen in diesem labilen System können zu Störungen der Elektrolytverteilung an der Zellmembran mit Depolarisation des Membranpotentials fuhren. Hierdurch wird die epileptische Entladungsserie ausgelöst. Während eines epileptischen Anfalls ändert sich die elektrische Aktivität einzelner Neurone in typischer Weise. Registriert man unter diesen Bedingungen das Membranpotential, so finden sich charakteristische Potentialveränderungen. Sie bestehen im einzelnen zunächst aus einer steilen Depolarisation, die eine Gruppe von Aktionspotentialen auslöst. Im weiteren ergibt sich eine plateauförmige Verminderung des Membranpotentials. In dieser Phase ist die Zelle soweit depolarisiert, daß keine weiteren Aktionspotentiale generiert werden können. A m Ende der Plateauphase treten dann Oszillationen des Membranpotentials auf, die schließlich in eine steile Repolarisation und Nachdepolarisation bzw. Nachhyperpolarisation einmünden. Dieses neuronale Entladungsmuster tritt stereotyp bei epileptischen Anfällen auf und wird als paroxysmale Depolarisation (PDS, Paroxysmal Depolarization Shift) bezeichnet. Auch Neurone in Krampfherden beim Menschen zeigen diese Entladungsmuster. Ein Einstrom von Kalziumionen ist entscheidend an der Entstehung der PDS beteiligt. Ein Charakteristikum der zentralnervösen epileptischen Aktivität besteht in der Synchronisierung der Tätigkeit einzelner Neurone. Die pathologische Aktivität der „epileptischen" Neurone wird von hemmender Aktivität in den anliegenden Nervenzellen begleitet. Wann und warum dieser Hemmungssaum durchbrochen wird und sich damit ein Anfallsereignis entwickelt bzw. ausbreitet, ist im einzelnen noch nicht geklärt. Das Sistieren epileptischer Aktivität ist wahrscheinlich in erster Linie auf aktive primär neuronale Mechanismen zurückzuführen und nicht auf eine metabolische Erschöpfung der beteiligten Nerven. Einer der für die progressive Epileptogenese in Frage kommenden Mechanismen ist der sog. Kindling-Effekt. Das Wesen des Kindling-Prozesses besteht darin, daß (im Tierexperiment) eine bestimmte Hirnregion durch eine implantierte Reizelektrode periodisch mit geringer Intensität gereizt wird. Anfangs bleibt dies ohne klinische Wirkung. Nach einer gewissen Zeit treten jedoch bei der gleichen Reizintensität zuerst elektroenzephalographisch, spä-

Pathologische Anatomie/Symptomatik ter auch klinische Anfälle auf, die auch nach Beendigung der periodischen Reizung andauern. Dieser Vorgang ist ein Modell für das „Sich-einschleifen" eines epileptogenen Mechanismus während einer Latenzzeit. Es existiert keine spezifische biochemische epileptogene Läsion. W a r u m es bei einem Teil der Patienten bei einzelnen Anfällen bleibt, bei anderen aber ein epileptischer Prozeß in Gang kommt, bei dem sich neuronale Synchronentladungen autorhythmisch wiederholen, ist im einzelnen nicht geklärt.

14.5 Pathologische Anatomie Das morphologische Bild am zentralen Nervensystem wird im wesentlichen durch die für die Anfälle verantwortliche Grundkrankheit bestimmt. Bei diesen idiopathischen und kryptogenen Epilepsien konnten bei der üblichen lichtmikroskopischen pathologisch-anatomischen Untersuchung keine Anhaltspunkte für eine Grundkrankheit gewonnen werden, welche die Epilepsie erklären könnten. Morphologische Folgen epileptischer Anfälle: Etwa 3 % der Gehirne von Epilepsiepatienten weisen das ausgeprägte Bild der Ammonshornsklerose, also der deutlich tastbaren Verhärtung und weißlichen Verfärbung des Ammonshornes auf. Die Zahl der mikroskopisch bei Epilepsiepatienten feststellbaren Nervenzellausfälle im Ammonshorn ist wesentlich größer. Innerhalb der Ammonshornregion zeigt sich eine gewisse Vulnerabilitätsabstufung mit Bevorzugung des Sommer-Sektors. Sogenannte „elektive Parenchymnekrosen" (Untergang von Nervenzellen je nach Alter der Veränderung mit entsprechender nachfolgender Gliazellproliferation) kommen außer im Ammonshorn in absteigender Häufigkeit im Kleinhirn, disseminiert in der Großhirnrinde, im Thalamus und in der unteren Olive vor. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß diese Nervenzellschädigungen nicht als rein hypoxisch bzw. ischämisch gedeutet werden können. Wenn auch die Pathogenese noch unklar ist, so sprechen die vorliegenden Untersuchungen dafür, daß durch Anfälle Schädigungen des Hirngewebes auftreten können.

585

Eine spezifische biochemische epileptogene ° n konnte bisher nicht nachgewiesen werden,

Läsi

Pathologische Anatomie Das morphologische Bild am zentralen Nervensystem wird im wesentlichen durch die Grundkrankheit bestimmt, die für die Anfälle verantwortlich ist.

Die bisher vorliegenden Untersuchungen sprechen dafür, daß durch Anfälle morphologisch faßbare Schädigungen des Hirngewebes auftreten können.

14.6 Symptomatik

Symptomatik

14.6.1 Klassifikation

Klassifikation

Die internationale Klassifikation der epileptischen Anfälle unterscheidet partielle oder fokale Anfälle, generalisierte und nicht klassifizierte epileptische Anfälle. Einteilung der epileptischen Anfallsformen nach dem Vorschlag der Internationalen Liga gegen Epilepsie 1.

Fokale

(partielle,

lokale)

Anfälle

1.1. 1.1.1. a) b) c) d) e)

einfach fokale Anfälle (ohne Bewußtseinsstörung) mit motorischen Symptomen fokal motorisch ohne Ausbreitung („march") fokal motorisch mit Ausbreitung (Jackson-Anfall) Versiv-Anfälle Haltungsanfälle („posturale" Anfälle) phonatorische Anfälle (Vokalisation oder Sprachhemmung)

Epilepsien

586

1.1.2. mit sensiblen oder sensorischen Symptomen (elementare Halluzinationen wie Kribbeln, Lichtblitze, Summen) a) sensibel b) visuell c) auditiv d) olfaktorisch e) gustatorisch f) vertiginös 1.1.3. mit vegetativen Symptomen a) epigastrische Sensationen b) Blässe c) Schwitzen d) Erröten e) Gänsehaut f) Pupillenerweiterung 1.1.4. mit psychischen Symptomen (Störungen höherer zerebraler Funktionen: nur selten ohne Störung des Bewußtseins; häufiger bei komplexfokalen Anfällen a) dysphasisch b) dysmnestisch (ζ. B. Dejä-vu-Erlebnis) c) kognitiv (Dämmerzustand, gestörtes Zeitgefühl) d) affektiv (Angst, Erregung) e) Illusionen (z.B. Makropsie) 0 Strukturierte Halluzinationen (ζ. B. Musik, szenische Abläufe) 1.2. 1.2.1. a) b) 1.2.2. a) b)

komplex fokale Anfälle (mit Störung des Bewußtseins. Beginn manchmal mit einfach fokaler Symptomatik) einfach fokaler Beginn mit nachfolgender Bewußtseinsstörung nur mit einfach fokalen Merkmalen mit Automatismen mit Bewußtseinsstörung von Anfang an nur mit Bewußtseinsstörung mit Automatismen

1.3.

fokale Anfälle mit Entwicklung zu sekundär-generalisierten Anfällen (diese können tonisch-klonisch, tonisch oder klonisch sein). 1.3.1. einfach fokale Anfälle mit sekundärer Generalisation 1.3.2. komplex fokale Anfälle mit sekundärer Generalisation 1.3.3. einfach fokale Anfälle, die sich zunächst zu komplex fokalen Anfällen entwickeln und danach sekundär generalisieren 2. 2.1. a) b) c) d) e) f)

Generalisierte Anfälle (konvulsiv oder nicht konvulsiv) Absencen nur Bewußtseinsstörungen mit Automatismen mit leichten klonischen Komponenten mit atonischen Komponenten mit tonischen Komponenten mit vegetativen Komponenten b bis f können allein oder in Kombination auftreten

2.2.

atypische Absencen a) Tonusveränderungen ausgeprägter b) Beginn und Ende des Anfalls nicht abrupt

2.3.

myoklonische Anfälle a) einzeln b) multipel

2.4.

klonische Anfälle

Symptomatik

587

2.5.

tonische Anfälle

2.6.

tonisch-klonische Anfälle

2.7.

atonische (astatische) Anfälle

3.

Nicht klassifizierbare epileptische Anfälle In Tabelle 14-4 sind die in Deutschland herkömmliche Nomenklatur und die revidierte internationale Nomenklatur gegenübergestellt, was nicht überschneidungsfrei möglich ist. Die revidierte Fassung der internationalen Nomenklatur der epileptischen Anfälle berücksichtigt klinische Anfallstypen, iktales und interiktales EEG. Inzwischen liegt auch eine internationale Klassifikation der Epilepsien und der epileptischen Syndrome vor.

etit-mal-Anfälle

Tabelle 14-4: Gegenüberstellung der in Deutschland üblichen Nomenklatur der epileptischen Anfälle bzw. Epilepsien und der Internationalen Nomenklatur In Deutschland übliche Nomenklatur

Internationale Nomenklatur

BNS-Krämpfe (Blitz-Nick-SalaamKrämpfe) (Propulsiv-Petit mal)

West-Syndrom, Infantile Spasmen

Myoklonisch-astatische Anfälle, bzw. myoklonisch-astatisches Petit mal

Absencen mit myoklonischer Komponente, Absencen mit atonischer Komponente, myoklonische Anfälle, atonische Anfälle Lennox-Gastaut-Syndrom

CL

Absencen (pyknoleptisches Petit mal)

Absencen

Impulsiv-petit mal

Juvenile myoklonische Epilepsie (Epilepsie mit juvenilen myoklonischen Anfällen)

Grand mal ohne fokalen Beginn

Generalisierte tonisch-klonische Anfälle

Psychomotorische Anfälle

Fokale Anfälle (überwiegend komplex fokale Anfälle)

Fokale Anfälle

Fokale Anfälle (überwiegend einfach fokale Anfälle)

Grand mal mit fokalem Beginn

Fokale Anfälle, die in generalisierte tonisch-klonische Anfälle übergehen

Internationale Klassifikation der Epilepsien und epileptischen Syndrome 1. 1.1.

Lokalisationsbezogene (fokale, lokale, partielle) Epilepsien und Syndrome idiopathisch mit altersabhängigem Beginn a) benigne. Epilepsie des Kindesalters mit zentro-temporalen Spikes b) Epilepsie des Kindesalters mit okzipitalen Spikes

Epilepsien

588 1.2.

symptomatische Epilepsien des Frontallappens (der supplementärmotorischen Region, des motorischen Kortex usw.) des Temporallappens (Hippokampus, Corpora amygdaloidea, lateral, posterior-temporal, insular) des Parietallappens des Okzipitallappens

2.

Generalisierte Epilepsien und Syndrome

2.1. a) b) c) d) e) f) g) 2.2. a) b) c) d)

idiopathische mit altersabhängigem Beginn benigne familiäre Neugeborenenkrämpfe benigne Neugeborenenkrämpfe benigne myoklonische Epilepsie des Kleinkindesalters Absencenepilepsie des Kindesalters (Pyknolepsie) juvenile Absencenepilepsie juvenile myoklonische Epilepsie (Impulsiv-Petit-mal) Epilepsie mit Aufwach-Grand mal idiopathische und/oder symptomatische Epilepsien West-Syndrom (infantile Spasmen, Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe) Lennox-Gastaut-Syndrom Epilepsie mit myoklonisch-astatischen Anfällen Epilepsie mit myoklonischen Absencen

2.3. symptomatische Epilepsien 2.3.1. unspezifische Ätiologie myoklonische Frühenzephalopathie 2.3.2. spezifische Syndrome (symptomatische generalisierte Epilepsien spezifischer Ätiologie) a) bei Mißbildungen b) bei nachgewiesenen oder vermuteten angeborenen Stoffwechseldefekten 3. 3.1. a) b) c) d)

Epilepsien und epileptische Syndrome, die nicht als fokal oder generalisiert bestimmbar sind mit generalisierten und fokalen Anfällen Neugeborenenkrämpfe schwere myoklonische Epilepsie des Kleinkindesalters Epilepsie mit kontinuierlichen Spike-wave-Komplexen im synchronisierten Schlaf erworbene epileptische Aphasie (Landau-Kleffner-Syndrom)

3.2.

ohne eindeutige generalisierte oder fokale Symptome

4.

Spezielle Syndrome

4.1.

Gelegenheitsanfälle (situationsabhängige Anfälle) a) Fieberkrämpfe b) Anfälle bei anderen identifizierbaren Situationen wie Streß, hormonellen Veränderungen, Medikamenten, Alkohol, Schlafmangel

4.2.

isolierte epileptische Anfälle ohne faßbare Provokation („Oligo-Epilepsien")

4.3.

Epilepsien mit spezifischen Auslösern (ζ. B. Flickerlicht, bestimmte Musik)

4.4.

chronisch progrediente Epilepsia partialis continua des Kindesalters

Ein epileptisches Syndrom ist definiert als ein epileptisches Leiden, das durch eine Reihe von Symptomen charakterisiert ist, die in der Regel zusammen auftreten. Die Symptome können klinisch sein (z.B. Vorgeschichte, Anfallstyp, Modus der Wiederholung der Anfälle, neurologische und psychiatrische Befunde) oder Befunde, die durch Zusatzuntersuchungen erhoben

Symptomatik

589

w u r d e n ( E E G , R ö n t g e n , CCT, M R T ) . I m G e g e n s a t z zu einer E r k r a n k u n g b r a u c h t ein S y n d r o m keine e i n h e i t l i c h e Ätiologie u n d Prognose zu h a b e n . Einige der epileptischen Störungen, die in dieser Klassifikation e n t h a l t e n sind, sind K r a n k h e i t s e i n h e i t e n ; bei a n d e r e n S t ö r u n g e n , die zur Zeit n u r ein S y n d r o m darstellen, k a n n eine e i n h e i t l i c h e Ätiologie n i c h t entdeckt werden. Die vorliegende E i n t e i l u n g stützt sich auf zwei H a u p t g e s i c h t s p u n k t e , n ä m lich darauf, ob es sich u m eine Epilepsie m i t generalisierten oder m i t f o k a l e n A n f ä l l e n h a n d e l t u n d darauf, ob die Ätiologie b e k a n n t ist ( s y m p t o m a t i s c h e Epilepsie) oder n i c h t (idiopathische bzw. g e n u i n e Epilepsie). A u c h die Alt e r s b i n d u n g b e s t i m m t e r epileptischer S y n d r o m e wird berücksichtigt. Tabelle 14-5 Häufigkeit der einzelnen Anfallstypen bzw. Epilepsien in % (nach Doose 1983, Janz 1969, 1979, Matthes 1984, Niedermeyer 1983) und Daten der Epilepsie-Ambulanz der Univ.-Nervenklinik Bonn). Die Anfallszahlen wurden aufgerundet; sie geben an, bei wieviel % aller Epilepsiepatienten (einer bestimmten Altersstufe) der jeweilige Anfallstyp vorkommt. Anfallstyp Epilepsietyp

Vorwiegend Jugendliche und Erwachsene

Kinder unter 15 Jahren

Alle Altersstufen zusammengefaßt

Grand-mal-Anfälle, isoliert

40%

40%

40 S

Grand-mal-Anfälle und „kleine Anfälle" Grand-mal insgesamt Einfach fokale Anfälle, isoliert

40%

30%

80%

70%

4%

Einfach fokale Anfälle, insgesamt Komplex fokale Anfälle, isoliert Komplex fokale Anfälle, insgesamt Benigne Epilepsie des Kindesalters mit zentro-temporalen Spikes (einfach fokale und/oder komplex fokale Anfälle, fokal beginnende Grand-Mal-Anfälle) Epilepsien mit fokalen Anfällen allgemein BNS-Krämpfe Myoklonisch-astatische Anfälle, isoliert Myoklonisch-astatische Anfälle, insgesamt „Primär generalisierte" myoklonisch-astatische Anfälle Absencen, isoliert Absencen insgesamt

8% im Erwachsenenalter häufiger als im Kindesalter 15%

30%

50% 2% 0,3% 11

1< 12%

(davon 80% als pyknoleptische Absencen, 20% als juvenile Absencen) Impulsiv Petit mal ohne Grand-mal-

1%

Anfälle 41

Impulsiv Petit mal insgesamt unklassifizierbare Anfälle

7%

590

Epilepsien Die folgende Beschreibung der Symptomatik folgt der in Tabelle 14-4 angegebenen, in Deutschland herkömmlichen und weiterhin gebräuchlichen Nomenklatur. Tabelle 14-5 gibt Anhaltspunkte zur Häufigkeit der einzelnen Anfallstypen bzw. Epilepsien.

Petit-mal-Anfälle

14.6.2 Petit-mal-Anfälle (kleine generalisierte Anfälle)

(kleine generalisierte Anfälle).

Die im folgenden genannten Anfallsformen manifestieren sich vor allem im Kindes- und Jugendalter und werden deshalb häufig als „altersgebundene (kleine) Anfälle" bezeichnet. Dabei bedeutet „Altersbindung" das erstmalige oder das bevorzugte Auftreten eines Anfallstyps in einer bestirnten Lebensperiode. BNS-Krämpfe:

14.6.2.1 BNS-Krämpfe (Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe, West-Syndrom, infantile Spasmen, Propulsiv-Petit-mal)

Trias: - infantile Spasmen, - Stillstand der psychomotorischen Entwicklung, - Hypsarrhythmie im EEG.

Es handelt sich in der Regel u m ein Syndrom mit einer charakteristischen Trias, nämlich infantilen Spasmen, Stillstand der psychomotorischen Entwicklung und einer Hypsarrhythmie im EEG. Der Blitzkrampf wird durch eine singulare, generalisierte myoklonische Zuckung hervorgerufen. Er äußert sich in der Regel in einer Kopf- und Rumpfbeugung, Abduktion und Flexion der Arme, Faustbildung und Flexion der Beine in Hüft- und Kniegelenk. Daher auch die Bezeichnung Propulsiv-Anfall. Ereignet sich der Anfall im Sitzen, ähnelt das Bewegungsmuster dem orientalischen Gruß, daher die Bezeichnung Salaam-Krampf. Fehlt die Beteiligung der Extremitäten oder ist sie nur gering ausgeprägt, bietet sich das Bild eines Nickanfalls. BNS-Anfälle ereignen sich in der Regel aus dem Wachzustand, häufig kurz nach dem Erwachen oder bei Müdigkeit. Das typische Manifestationsalter liegt zwischen dem 2. und 8. Lebensmonat. Knaben sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Mädchen. Etwa 80 % der Kinder haben einen pathologischen neurologischen Befund mit zerebralen Bewegungsstörungen. In ätiologischer Hinsicht haben 70% prä- oder perinatale Hirnschäden (davon 10% tuberöse Hirnsklerose), 20% haben postnatale Hirnschäden (z.B. bei Stoffwechselstörungen des Gehirns), 10% haben keine strukturellen Hirnveränderungen (sogenannte idiopathische Formen).

Manifestationsalter: 2.-8. Lebensmonat. Etwa 80% der Kinder haben einen pathologischen neurologischen Befund mit zerebralen Bewegungsstörungen. Gesamtprognose: ungünstig. Mortalität: etwa 20%. Bei 7 0 - 9 0 % der Patienten bestehen intellektuelle Defektsyndrome.

Die Gesamtprognose ist meist ungünstig. Die Mortalität beträgt etwa 20%. BNS-Anfälle sistieren auch ohne Therapie meist im Kleinkindesalter; häufig ist jedoch der Übergang in ein Lennox-Gastaut-Syndrom. Der Übergang in eine Epilepsie mit Grand-mal-Anfällen oder fokalen Anfällen ist möglich. Bei 70 bis 90% bestehen z.T. erhebliche intellektuelle Defektsyndrome. 50% der überlebenden Patienten haben in ihrem weiteren Leben epileptische Anfälle. Myoklonisch-astatisches Petit mal

14.6.2.2 Myoklonisch-astatisches Petit mal (myoklonisch-astatische Anfälle, Petit-mal-Variant)

Bilaterale, generalisierte oder partiell generalisierte Myoklonien, oft mit postmyoklonischer Myatonie.

Myoklonisch-astatische Anfälle sind charakterisiert durch bilaterale, generalisierte oder partiell generalisierte Myoklonien, oft verbunden mit einer postmyoklonischen Myatonie. In der Regel verursachen diese Anfälle eine Störung der Haltungskontrolle. Kurzdauernde Anfälle gehen ohne Bewußtseinsstörung einher, während bei einer Anfallsdauer über 3 s das Bewußtsein meist beeinträchtigt ist. Die intensivste Form der myoklonisch-astatischen Anfälle führt zu einem abrupten Sturz nach vorn, hinten oder zur Seite (Sturzanfälle). Nach dem Sturz steht der Patient entweder spontan auf, oder er bleibt noch

Große Verletzungsgefahr durch blitzartige Stürze (Sturzanfälle).

591

Symptomatik einige Sekunden schlaff am Boden liegen. Gelegentlich beobachtet man dann einige milde myoklonische Zuckungen. Erfaßt die Myoklonie nur die Nacken-, Rumpf- und Armmuskulatur oder ereignet sich der Anfall im Sitzen, resultiert ein Nickanfall. Die Verletzungsgefahr durch die blitzartigen Stürze ist groß. Als Lennox-Gastaut-Syndrom (oder auch Lennox-Syndrom) wird eine altersabhängige Epilepsieverlaufsform bezeichnet, bei der myoklonisch-astatische Anfälle in Kombination mit tonischen Anfällen und/oder Grand-malAnfällen auftreten. Das Manifestationsalter liegt zwischen dem 2. und ö.Lebensjahr. Knaben sind häufiger betroffen als Mädchen. Etwa 40% der Patienten haben zerebrale Bewegungsstörungen (meist Koordinationsstörungen). Psychopathologisch sind Störungen im kognitiven Bereich und hirnorganisch bedingte Charakter- und Verhaltensstörungen die Regel. Ätiologisch liegt meist eine prä-, peri- oder postnatale Hirnschädigung (vor allem Enzephalitiden) vor, es kommen jedoch auch ausschließlich genetisch determinierte Formen vor. Die Prognose ist ingesamt ungünstig, zwei Drittel der Patienten sind ganz oder partiell therapieresistent. Die myoklonisch-astatischen Anfälle können bis ins Erwachsenenalter persistieren. Mit zunehmendem Alter treten die kleinen Anfälle meistens zurück, und einfach und komplex fokale Anfälle und Grand-mal-Anfälle fokaler Genese treten in den Vordergrund. Besonders ungünstig ist die Prognose in den Fällen, in denen sich das LennoxGastaut-Syndrom aus dem West-Syndrom entwickelt (40 % der LennoxGastaut-Fälle).

Sturzanfälle kommen nicht nur im R a h m e n des myoklonisch-astatischen Petit mal vor. „Sturzanfall" ist ein Sammelbegriff für epileptische und nichtepileptische Anfälle, die durch einen plötzlichen Sturz charakterisiert sind. Sie können durch eine abrupte, meist generalisierte Tonussteigerung, eine Muskelatonie, massive Myoklonien oder einen Verlust der Haltungskontrolle verursacht sein. Sturzanfälle nichtepileptischer Genese kommen vor allem im Erwachsenenalter vor. Am häufigsten sind Synkopen und Drop attacks im Rahmen einer vertebro-basilären Insuffizienz, Basilaris-Migräne und anderer Erkrankungen des Hirnstamms. Eine weitere Form der nichtepileptischen Sturzanfälle ist die Kataplexie-Attacke (s. Kapitel 15).

14.6.2.3 Absencen Absencen sind generalisierte Anfälle, die vor allem Bestandteil des pyknoleptischen Petit mals und ferner der juvenilen Absencen-Epilepsie sind. Leitsymptom der Absence ist eine plötzlich beginnende und endende Bewußtseinsminderung, eine „momentane Geistesabwesenheit". Der Patient hält unvermittelt in seinen Bewegungen inne, verharrt (ohne hinzustürzen) und setzt nach kurzer Zeit die unterbrochene Tätigkeit wieder fort. Er blickt starr und ausdruckslos; in der Regel besteht eine Amnesie für den Anfall. Die durchschnittliche Anfallsdauer beträgt 10 s. Die Absencen ohne jede Begleitsymptomatik („einfache" oder „indifferente" Absencen) sind sehr viel seltener als „komplexe" Absencen, bei denen zur Bewußtseinsminderung noch Symptome wie Myoklonien (ζ. B. Lidmyoklonien), eine Änderung des Muskeltonus, Automatismen (ζ. B. orale Automatismen mit Schmatz- und Schluckbewegungen), eine leichte Kopfdrehung, vegetative Symptome (ζ. B. Blaß- oder Rotwerden im Gesicht) oder auch komplexe Handlungsabläufe hinzukommen, wie sie für psychomotorische Anfälle typischer sind. Bei den sogenannten retropulsiven Absencen wenden sich die Bulbi nach oben, mitunter führen auch Kopf und Rumpf eine Rückwärtsbewegung aus.

Lennox-Gastaut-Syndrom: altersabhängige Epilepsieverlaufsform; myoklonisch-astatische Anfälle in Kombination mit tonischen Anfällen und/oder Grand-malAnfällen. Manifestationsalter: 2.-6. Lebensjahr. Psychische Störungen sind die Regel.

Prognose ungünstig.

Sturzanfälle

Absencen

Leitsymptom: eine plötzlich beginnende und endende Bewußtseinsminderung, eine „momentane Geistesabwesenheit". Absencendauer durchschnittlich 10 s.

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Epilepsien

Beginn und Ende der Absence sind plötzlich (im Gegensatz zum psychomotorischen Anfall).

Die Unterscheidung zu psychomotorischen Anfällen (die als „Pseudoabsencen" imponieren können) ergibt sich klinisch durch die kürzere Dauer der Absencen, durch den plötzlichen Beginn (ohne Aura) und das plötzliche Ende der Absencen.

Die Epilepsie mit pyknoleptischen Absencen manifestiert sich vorwiegend zwischen dem 5. und 11. Lebensjahr.

Epilepsie mit pyknoleptischen Absencen (Pyknolepsie) Sie manifestiert sich vorwiegend zwischen dem 5. und 11. Lebensjahr. Die Absencen treten „pyknoleptisch gehäuft" (bis zu 100 und mehr Absencen an einem Tage; pyknos = dicht, stark) auf, bevorzugt in den Morgenstunden und bei Müdigkeit. Mädchen werden häufiger betroffen als Knaben. Generalisierte tonisch-klonische Anfälle, vor allem vom Typ des Aufwach-Grandmal treten bei der Hälfte der Patienten mit Absencen zusätzlich auf. Neurologische und psychische Abnormitäten sind die Ausnahme. Das pyknoleptische Petit mal gehört zu den überwiegend genetisch determinierten, idiopathischen Epilepsien. Bei etwa 8 0 - 9 0 % der Patienten wird Freiheit von Absencen erreicht.

Bei der Hälfte der Patienten mit Absencen treten zusätzlich Grand-mal-Anfälle auf. Ingesamt günstige Prognose.

Juvenile Absencen manifestieren sich später und treten in niedrigerer Frequenz auf als pyknoleptische Absencen.

Juvenile Absencen-Epilepsie Die Absencen bei diesem Epilepsiesyndrom unterscheiden sich phänomenologisch nicht von denen der Epilepsie mit pyknoleptisch auftretenden Absencen, abgesehen davon, daß retropulsive Bewegungen seltener sind. Unterschiede bestehen in einem späteren Manifestationsalter (Präpubertät bis Postpubertät) und einer geringen (nicht pyknoleptischen) Anfallsfrequenz. Die Kombination mit generalisierten Grand-mal-Anfällen, vor allem vom Aufwach-Typ, ist häufig; myoklonische Anfälle können zusätzlich auftreten. Das Ansprechen auf die Therapie ist sehr gut.

14.6.2.4 Impulsiv-Petit-mal (juvenile Myoklonus-Epilepsie, Epilepsie mit benignen juvenilen myoklonischen Absencen) Impulsiv-Petit mal: Manifestation in der Präbis Postpubertät, Anfälle mit bilateralen einzelnen oder wiederholten myoklonischen Zuckungen. Häufig treten Grand-mal-Anfälle hinzu.

Das Impulsiv-Petit mal (bzw. die Impulsiv-Petit-mal-Epilepsie) manifestiert sich in der Prä- bis Postpubertät und ist durch Anfälle mit bilateralen einzelnen oder wiederholten blitzartigen, myoklonischen Zuckungen, vorwiegend in den Armen, charakterisiert. Bei heftigen Myoklonien werden die Arme ruckartig zur Seite oder nach oben geworfen. Bei generalisierten Zuckungen mit Beteiligung der Beinmuskulatur kommt es gelegentlich zum Sturz. Das Bewußtsein ist nicht erkennbar gestört. Häufig treten Grand-mal-Anfälle hinzu, auch Absencen können gleichzeitig vorkommen. Kleine und große Anfälle ereignen sich vorwiegend nach dem Aufwachen, daraus erklärt sich die typische Angabe, daß die Zahnbürste oder die Tasse aus der Hand „geflogen" sei. Die myoklonischen Anfälle können in einen tonisch-klonischen Anfall übergehen.

Ingesamt günstige Prognose.

Beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen. Neurologischer und psychischer Befunde sind in der Regel normal. In ätiologischer Hinsicht gehört das Impulsiv-Petit mal zu den überwiegend genetisch bedingten, idiopathischen Epilepsien. Die Anfälle sprechen sehr gut auf die Therapie an.

Grand-mal-Anfälle ohne fokalen Beginn:

14.6.3 Grand-mal-Anfälle ohne fokalen Beginn (generalisierte tonisch-klonische Anfälle)

Ein Grand-mal-Anfall ist charakterisiert durch tonisch-klonische motorische Phänomene und Bewußtseinsverlust.

Kernsymptom ist ein tonisch-klonischer Anfall mit Bewußtseinsverlust. Der Anfall beginnt ohne Aura. Prodromalerscheinungen wie Gereiztheit, Depressivität oder Kopfschmerzen können minuten-, stunden- oder sogar tagelang vorausgehen. Bei Beginn des Anfalls wird nicht selten ein sogenannter Initialschrei ausgestoßen, oder es ist ein Stöhnlaut zu hören. Dies wird auf

Symptomatik die tonische Verkrampfung von Brust- und Bauchmuskeln sowie im Bereich des Kehlkopfs zurückgeführt. Der bewußtlose Patient stürzt zu Boden, der Sturz geht schnell vor sich und führt häufig zu Verletzungen, vor allem am Kopf (Prellungen, Platzwunden). Das Gesicht erscheint verzerrt. Die Augen bleiben meist geöffnet, der Blick scheint starr oder die Bulbi sind nach oben oder zur Seite verdreht. Die Pupillen sind weit und reagieren nicht auf Licht. Die Extremitäten sind bei Anfallsbeginnn mehrere Sekunden bis zu einer halben Minute lang tonisch verkrampft, wobei die Beine meist gestreckt und die Arme gebeugt sind; die Hände sind häufig zur Faust geballt. Dann folgen rhythmische klonische Zuckungen für Sekunden bis Minuten. Die übliche Dauer der klonischen Phase beträgt eine halbe bis zwei Minuten. Zunächst sind die klonischen Zuckungen bilateral synchron, in der abklingenden Phase auch asynchron. Als Folge der Apnoe und einer Beteiligung der Atemmuskulatur an der tonischen Verkrampfung kommt es zur Zyanose. Die durch den tonischen Krampf bedingte Venenstauung im Kopfbereich führt z u m Hervortreten der Halsvenen und zur Gesichtskongestion (gelegentlich mit subkonjunktivalen Blutungen). Nicht selten findet sich als Begleitsymptom ein Zungenbiß (oder auch Biß auf die Wangenschleimhaut) und Urinabgang. Stuhlabgang kommt offenbar nur selten vor. Aus dem Mund kann schaumiger Speichel fließen (bei zentral bedingter Hypersalivation); er kann bei Verletzungen der Mund- und Zungenschleimhaut blutig verfärbt sein. An vegetativen Symptomen kommen auch Blutdruckerhöhung, Tachykardie und Schweißausbrüche vor. Nach Aufhören der motorischen Phänomene folgt in der Regel eine komatöse Phase von ein bis zwei Minuten Dauer. An die komatöse Phase kann sich ein „Terminalschlaf' von ein bis mehreren Stunden Dauer und/oder ein Verwirrtheitszustand anschließen. Wenn die Patienten wieder ansprechbar sind, klagen sie häufig noch über Kopfschmerzen, Muskelschmerzen und Müdigkeit. Manchmal kommt es in der postkonvulsiven Phase zum Erbrechen (weshalb der Patient vorsorglich in Seitenlagerung gebracht werden muß). Wenn es während der komatösen Phase zum Wiedereinsetzen der Atmung kommt, ist diese häufig besonders tief, schnarchend oder durch zurückfließenden Speichel gurgelnd. Die Eigen- und Fremdreflexe sind in dieser Zeit aufgehoben, das Babinski-Zeichen kann positiv sein. Rein klonische Anfälle kommen fast ausschließlich im Kindesalter vor. Auch rein tonische Anfälle kommen vorwiegend im Kindesalter im Rahmen des Lennox-Gastaut-Syndroms vor. Im klinischen Sprachgebrauch werden tonischer und klonischer Abfall oft ungenau als „abortive Grand-mal-Anfälle" beschrieben. Epilepsie mit generalisierten tonisch-klonischen Anfällen:

593 Der bewußtlose Patient stürzt schnell zu Boden (häufig Kopfverletzungen). Pupillen weit, nicht auf Licht reagierend. Ein Grand-mal-Anfall dauert meist nur wenige Minuten. Fakultative Symptome sind Zyanose, Zungenbiß, Urinabgang, Speichelfluß u.a. vegetative Symptome: Blutdruckerhöhung, Tachykardie, Schweißausbrüche. Nach Aufhören der motorischen Symptome —> komatöse Phase —* Verwirrtheitszustand.

Rein tonische und rein klonische Anfälle kommen vorwiegend im Kindesalter vor.

Epilepsie mit generalisierten tonisch-klonischen Anfällen

Die Mehrzahl aller Epilepsien (etwa 70%) beginnt mit Grand-mal-Anfällen (generalisierte Grand-mal-Anfälle oder Grand-mal-Anfälle mit fokalem Beginn), kombiniert sich mit dieser Anfallsform oder mündet in diese ein. Generalisierte Grand-mal-Anfälle können in jedem Lebensalter erstmals auftreten.

Von der frühkindlichen Verlaufsform sind Knaben häufiger betroffen als Mädchen, sonst ist das Geschlechtsverhältnis ausgeglichen. Die Anfälle treten bevorzugt in den ersten zwei Stunden nach dem morgendlichen Erwachen auf (Aufwach-Grand mal) und/oder bei Ermüdung und Entspannung (Feierabend-Epilepsie). Die generalisierten tonisch-klonischen Anfälle sind (wie auch Absencen und Impulsiv-Petit mal) „umweltlabil". Anfallsprovozierend wirken Schlafentzug (auch nächtliches Wecken), Alkoholzufuhr, körperliche und seelische Bela-

Generalisierte tonisch-klonische Anfälle sind vom Schlaf-Wach-Rhythmus abhängig und auch sonst leicht provozierbar.

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Insgesamt günstige Prognose.

Nach der vegetativen Bindung kann man Grand-mal-Anfälle in Aufwach-Grand mal, Schlaf-Grand mal und diffuses Grand mal einteilen. Für die Epilepsie mit generalisierten tonisch-klonischen Anfällen ist die Aufwachform typisch.

Fokale Epilepsien

Epilepsien stungen. Bei Mädchen kann es zu einer Anfallshäufung vor und während der Periode kommen (eine Anfallshäufung zu dieser Zeit ist auch bei anderen Anfallstypen zu beobachten; bei ausgeprägter Abhängigkeit des Auftretens von Anfällen vom Menstruationszyklus spricht man von einer „katamenialen" Epilepsie). Generalisierte tonisch-klonische Anfälle treten häufig in Kombination mit Absencen und/oder myoklonischen Anfällen (Impulsiv-Petit mal) auf. Die Prognose ist, abgesehen von der frühkindlichen Verlaufsform, bei geregelter Lebensweise und konsequenter medikamentöser Therapie meist günstig. Generalisierte tonisch-klonische Anfälle treten nicht nur als AufwachGrand mal auf, sie können auch im Schlaf vorkommen. Die Schlaf-Grandmal-Anfälle sind teils generalisierte Grand-mal-Anfälle, teils fokal beginnende Grand-mal-Anfälle. Wenn Grand-mal-Anfälle ohne tageszeitliche Bindung auftreten, spricht man von diffusem Grand mal. Eine ursprünglich vorhandene vegetative Bindung kann im Laufe der Jahre verlorengehen, und es kommt zu einem diffusen Grand mal, möglicherweise infolge einer sekundären Krampfschädigung des Gehirns. Bei längerem Bestehen einer Grand-mal-Epilepsie können psychomotorische Anfälle manifest werden als möglicher Hinweis auf eine Krampfschädigung des Temporallappens.

14.6.4 Fokale Epilepsien (Ortsbezogene, lokale, partielle Epilepsien)