186 53 116MB
German Pages 404 [405] Year 1971
NEUE HANSISCHE STUDIEN
FORSCHUNGEN ZUR MITTELALTERLICHEN GESCHICHTE
Begründet durch Heinrich Sproemberg f Herausgegeben von G. Heitz, E. Müller-Mertens, B. Töpfer und E. Werner
BAND 17
A K A D E M I E
- V E R L A G 1970
B E R L I N
NEUE HANSISCHE STUDIEN Herausgegeben von Konrad Fritze, Eckhard Johannes Schildhauer,
A K A D E
M I E - Y E
Müller-Mertens, Erhard Voigt f
KLAG-
1970
B E
R L I N
Erschienen i m Akademie-Verlag G m b H f 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1970 b y Akademie-Verlag G m b H Lizenznnmmer: 202 . 100/212770 Umschlaggestaltung: K a r l Salzbrunn Herstellung: IV/2/14 V E B Werkdruok, 445 Gräfenhainichen • 3309 Bestellnummer: 2090/17 . E D V 751 625 8 . E S 14 D 58,-
INHALT Mutter-Mertens, Eckhard Zum Geleit: Fragen der Städtehanse und Stand der Hanseforschung in der DDR angesichts des 600. Jahrestages des Stralsunder Friedens . . .
VII
Quellen und Historiographie Schroeder, Horst-Diether Stadtbücher der Hansestädte und der Stralsunder ,Liber memorialis'
1
Langer, Herbert Die Stralsunder Gerichtsbücher des 16. Jahrhunderts als Quelle zur Erforschung der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte
15
Choroschkewitsch, A. L. Die Folozker Urkunden aus dem ehemaligen Stadtarchiv Riga als Quelle zur Geschichte der russisch-hansischen Beziehungen am Ende des 15. Jahrhunderts
29
Zaske,
Nikolaus
Mittelalterlicher
Backsteinbau
Norddeutschlands
als Geschichtsquelle
59
Fritze, Konrad Der Stralsunder Frieden im Spiegel der Chronistik des 14. bis 16. Jahrhunderts
83
Krause, Hans-Thomas Dietrich Schäfer und die Umorientierung der deutschen bürgerlichen Hanseforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts
93
Stadtgeschichte und städtische Volksbewegung Zientara,
Benedykt
Zu den Anfängen des Patriziates von Stettin. Über die Rolle des feudalen Grundbesitzes bei der Gestaltung der wirtschaftlichen Grundlagen der führenden Schichten der Stadtbevölkerung
119
Zoellner, Klaus-Peter Zur gewerblichen Produktion der Hansestadt Stralsund am Ausgang des Mittelalters
141
Inhalt
VI Hoyer, Siegfried
Nikolaus Rutze und die Verbreitung hussitischer Gedanken im Hanseraum
157
Kühles, Joachim Die Unterdrückung der Volksbewegung und die Errichtung eines obrigkeitlichen Kirchenregiments zur Zeit der Reformation in den ostbaltischen Hansestädten
171
Cieilak,
Edmund
Einige Probleme der politischen und sozialen Auseinandersetzungen in Danzig in der Mitte des 18. Jahrhunderts
193
Schultz, Helga Der Rostocker Erbvertrag von 1788. Zu einigen Problemen der Geschichte einer spätfeudalen Stadt
209
Handelsgeschichte und internationale Verbindung Spading,
Klaus
Zu den Ursachen für das Eindringen der Holländer in das hansische Zwischenhandelsmonopol im 15. Jahrhundert
227
Stark, Walter Der Lübecker Preußenhandel — seine Struktur und Stellung im System des Lübecker Ostseehandels am Ende des 15. Jahrhunderts 243 Schildhauer, Johannes Der Anteil der wendischen Städte am Königsberger See- und Handelsverkehr im 16. Jahrhundert auf der Grundlage der Königsberger Pfundzollregister
263
Zeids, Teodor Beziehungen der Hansestädte Riga und Rostock im Mittelalter
289
Malowist, Marian Die Ostseeländer und die frühe europäische Übersee-Expansion
301
Samsonowicz,
Henryk
Über Fragen des Landhandels Polens mit Westeuropa im 15./16. Jahrhundert Zoellner,
Zur Stellung der Hansekontore in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Biskup,
311
Klaus-Peter 323
Marian
Das Reich, die wendische Hanse und die preußische Frage um die Mitte des 15. Jahrhunderts
341
Oirski, Karol Königlich-Preußen, Polen und die Hanse. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte um die Wende des 15. und 16. Jahrhunderts
359
Donnert, Erich Außenhandelspolitik und Außenpolitik Rußlands an der Schwelle der Neuzeit
367
ZUM G E L E I T : F R A G E N ZUR S T Ä D T E H A N S E UND STAND D E R HANSEFORSCHUNG I N D E R D D R ANGESICHTS D E S 600. J A H R E S T A G E S DES STRALSUNDER F R I E D E N S von Eckhard
Müller-Mertens
Am 24. Mai 1370 schlössen die seit 1367 mit Dänemark im Kriege stehenden Städte zu Stralsund Frieden mit der dänischen Krone. Die Kölner Konföderation wendischer und preußischer Hansestädte sowie nichthansischer Städte der Zuidersee, Hollands und Seelands — im Bunde mit den Herzögen von Mecklenburg, dem mecklenburgischen König Schwedens, den Grafen von Holstein und aufständischen jütischen Adeligen — hatte die Könige von Dänemark und Norwegen, Waldemar IV. Atterdag und Haakon VI., geschlagen. Die Hegemonialpolitik Waldemars IV. Atterdag, der ein starkes dänisches Königtum erstrebte, die ökonomische Vorherrschaft der Hanse gegenüber Dänemark beseitigen wollte, 1360 Schonen von Schweden zurückgewonnen, 1361 Gotland erobert hatte, war endgültig gescheitert. Der Stralsunder Friede, der Kulminationspunkt in der vielhundertjährigen Geschichte der Hanse, die im 12. Jahrhundert begann, im 17. endete und als hanseatische Geschichte bis in das 20. Jahrhundert führt, jährt sich in diesem Jahre zum sechshundertsten Male. Das Jubiläum fordert eine neue Verständigung und den weiterführenden Meinungsstreit über Grundfragen hansischhanseatischer Geschichte heraus. Zu den Grundfragen gehört die Frage nach dem Platz des Friedens von Stralsund im Werden und Vergehen der Hanse. Unbestritten stellt der Sieg der Kölner Konföderation über das dänische Königtum den absoluten Höhepunkt hansischer Geschichte dar. Doch steht dieser, der Stralsunder Friede von 1370, bereits am nahen Ausgang der Blütezeit der seit den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts aus der Kaufmannshanse entwickelten Städtehanse? Oder setzt deren eigentliche geschichtliche Leistung nicht erst zu diesem Zeitpunkt großartig ein, um ein Jahrhundert der Blüte zu überdauern? Beim Nachdenken über die Definition, die politische Funktion und den Klassencharakter der Städtehanse stellte sich diese alte Frage neu. Sie sei ausgeführt, um die Diskussion über das Verständnis der Hanse in unserer Zeit anläßlich des 600. Jahrestages des Friedens von Stralsund herauszufordern und zu eröffnen. In der Epoche des Stralsunder Friedens hatte der Prozeß eines tiefgreifenden ökonomisch-sozialen und politischen Umbruchs bereits eingesetzt, welcher die europäische Feudalgesellschaft in seinem Ergebnis in ein neues Entwicklungsstadium, aus dem Mittelalter in die Neuzeit führte. Strukturwandlungen in der
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E . MÜLLER-MERTENS
Landwirtschaft, der gewerblichen Produktionssphäre wie der Zirkulationssphäre riefen Krisen hervor, führten zu Stillständen, Abbruchen und Neuentwicklungen, die schließlich in die frühkapitalistische Entwicklung mündeten. Die sozialen und politischen Folgen betrafen alle mittelalterlich-feudalen Klassen, Stände und Schichten. So verschärften sich die sozialen Kämpfe wie die politischen und ideologischen Auseinandersetzungen. Der Feudalstaat t r a t in eine neue Umformung ein. Aus ihr gingen schließlich die deutschen Landeshoheiten und die großen, wesentlich auf Nationalität basierenden Monarchien Europas hervor, welche einerseits die mittelalterlichen Städte ihrer Autonomie beraubten und andererseits die bürgerlich-frükapitalistisch-bourgeoise Entwicklung förderten. In den Beginn dieses Prozesses sahen sich die Hansekaufleute, die Inhaber des Zwischenhandelsmonopols im Nord- und Ostseeraum und des Stadtregiments in den Hansestädten, hineingestellt, als sich die Ausbildung der Städtehanse vollendet hatte und der Frieden von Stralsund geschlossen wurde. Die Städtehanse empfing neue Aufgaben, in der sie sich als „spezifische Organisationsform des Handelskapitals und als Instrument der in den Hansestädten herrschenden Schicht" 1 zu bewähren, Aufgaben, denen die Kaufmannshanse nicht gegenübergestanden hatte. Sie sah sich konfrontiert dem Eindringen der auf eine neue Wirtschaftsweise gestützten und von einer starken Staatsgewalt geförderten holländischen und englischen Konkurrenz, einem aus der Veränderung der Wirtschaftslage und der Handelsbeziehungen genährten Sonderinteresse hansischer Städte, Bestrebungen des Territorialfürstentums, unter den Bedingungen des 15. Jahrhunderts die Urbane Autonomie zu brechen, nicht zuletzt der sich im sozialen Differenzierungsprozeß steigernden bürgerlichen und plebejischen Opposition. Die wirtschaftlich-gesellschaftlichen Wandlungen und ihre politischen Konsequenzen bedrohten das Zwischenhandelsmonopol der Städtehanse, die Rolle Lübecks, der hansischen Führungsmacht, die Städtefreiheit sowie das Stadtregiment der aristokratisch-oligarchischen kaufmännischen Ratsgeschlechter. Die Städtehanse verstand es, der Gefahren, Prüfungen, Rückschläge und Einbußen hindurch bis zum Ende des 15. Jahrhunderts Herr zu werden, bis in die Aera, in der der Frühkapitalismus in Europa durchbrach. Der Friede von Utrecht 1474 dokumentierte noch einmal ihre politische Machtstellung — wenn der Vertrag mit dem Herzog von Burgund und den Holländern insgesamt auch wenig günstig für die Hanse war, so gab sich England besiegt, unterwarf sich Köln und wurden in der Folge gute Beziehungen zu Frankreich hergestellt. Die Städtehanse hatte sich bis dahin im lübisch-hansestädtisch-handelskapitalistischen Interesse bewährt, gleich wie die Bewährung in den einzelnen Punkten zu bewerten ist. 1
FRITZE, K., Am Wendepunkt der Hanse. Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte wendischer Hansestädte in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Berlin 1967, S. 11. (Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald, Bd. 3.)
Zur Städtehanse und Hanseforschung in der
DDR
IX
Der vom ökonomisch-sozialen Prozeß der Epoche mitsamt seinen politischen Konsequenzen und vom Klassencharakter sowie von der politischen Funktion der Städtehanse bestimmte Gedankengang führt an dieser Stelle zu der Frage, ob die Städtehanse, die als spezifische Organisationsform des lübisch-hansestädtischen Handelskapitals und als Instrument der in den Hansestädten herrschenden Ratsoligarchie handelte und keine Unterstützung durch eine historisch progressive Königsmacht erfuhr, unter den veränderten Existenzbedingungen mehr zu leisten vermochte. Bei einer Verneinung entsteht die Versuchung, die Geschichte der Hanse von der zweiten Hälfte des 14. bis zum letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in einer Abwandlung des Titels, den Daenell seiner Darstellung dieses Zeitraums hansischer Geschichte gab2, als Blütezeit der Städte hanse anzusprechen. Bei der Abwägung des pro und contra einer solchen Beurteilung wären für die deutsche Geschichte wesentliche Wirkungen hansischer Politik im 15. Jahrhundert zu bedenken. Schildhauer verweist auf die starken objektiven Impulse zur wirtschaftlichen Vereinigung des gesamten norddeutschen Raumes: „Der Beitritt einer großen Anzahl von binnenländischen Städten zur Hanse zeigt deutlich, daß sich in dieser Periode neben dem Seehandel der Überlandhandel bedeutend erweiterte und intensivierte. Er verband Nord- und Mitteldeutschland enger miteinander und begann Anschluß an das süddeutsche Wirtschaftsgebiet zu gewinnen. Die Tendenz zur Herausbildung eines einheitlichen Marktes ist hier unverkennbar."3 Zugleich bestand die Wirkung der Städtehanse objektiv darin, daß für die Politik eines auf die Reichszentralisation und das Bündnis mit den Städten bedachten Königtums, für die „ständische (noch feudale, verwesend feudale und embryo-bürgerliche) Monarchie"4 relativ günstige Voraussetzungen, Möglichkeiten und Ansatzpunkte bestehen blieben bzw. geschaffen wurden. So schreibt Voigt: „Was die innerdeutsche Entwicklung betrifft, hat es (das hansische Bürgertum) bis ins 15. Jahrhundert durch seine überterritoriale Organisation die Konsolidierung der norddeutschen Fürstentümer erheblich gehemmt und damit eigentlich dem deutschen Königtum den Weg nach dem Norden offengehalten."5 Städtehanse sowie hansestädtische Einungen und Bündnisse unter Führung Lübecks bewiesen — bei allen Einschränkungen — von der Kölner Konföderation 1367 bis zum Frieden von Utrecht 1474 die Potenz des niederdeutschen Bürgertums, Fragen der politischen Vormacht im hansischen Einzugsgebiet zu seinen Gunsten zu entscheiden. Es hielt in dieser Zeit objektiv die Möglichkeit offen, als potentieller Bündnispartner eines auf die Nationalmonarchie, das Bündnis mit den Städten und die Beschränkung der 2
DAENELL, E., Die Blütezeit der deutschen Hanse. Hansische Geschichte von der zweiten Hälfte des 14. bis zum letzten Viertel des 15. Jahrhunderts, 2 Bde., Berlin 1905/06.
3
SCHILDHAUER, J., unter Mitarbeit von K . FRITZE, H . LANGER, K . SPADING, W . STARK, Grundzüge der Geschichte der deutschen Hanse, in: Z f G 11/1963, S. 738. ENGELS, F., Zum „Bauernkrieg", in: MARX/ENGELS, Werke, Bd. 21, Berlin 1962, S.402. VOIGT, E., Reichsgewalt und Hansisches Bürgertum, in: WissZsGreifswald 12/1963, S. 516.
4 5
E . MÜLLER-MERTENS
X
Partikulargewalten bedachten Königtums, einen entsprechenden Beitrag in die Allianz zwischen Königtum und Bürgertum einzubringen. Dabei verdient das hansestädtische Wirtschaftswachstum der späthansischen Zeit Beachtung. „Am Beispiel Wismars, Rostocks, Stralsunds, andeutungsweise Lübecks, Hamburgs und Danzigs" demonstrierte Olechnowitz „eine allgemeine Konjunktur von Handel, Schiffahrt und gewerblicher Produktion 6 ". Die Untersuchungen von Fritze haben diesen Prozeß von der quantitativen Seite her im wesentlichen bestätigt. Wenn Fritze zugleich zu der Auffassung gelangt, daß eine nennenswerte frühkapitalistische Qualität nicht erreicht worden und die Wirtschaftsentwicklung im großen und ganzen in erstarrten, nicht in die Zukunft weisenden Formen verlaufen sei7, so sollte seine Einsicht nicht dazu verführen, die ökonomische Bedeutung der Handels-, Schiffahrts-, Schiffbauund Brauereikonjunktur wendischer Hansestädte zu unterschätzen bzw. als politischen Faktor nicht zu veranschlagen. Was die Städtehanse im 15. Jahrhundert nicht vermochte und darum nicht in die Bewertungsmaßstäbe ihrer Leistung einbezogen werden dürfte, ist zweierlei: sie konnte zum ersten nicht die Rolle der Zentralgewalt ersetzen, und sie konnte ohne den monarchischen Integrationsfaktor sowie die monarchisch-nationalstaatliche Förderung schwerlich die nationalstaatliche Orientierung gewinnen.8 Zum zweiten konnte die Städtehanse die Veränderung der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit sowie die aus ihr resultierende Veränderung der ökonomischen Relationen und politischen Kräfteverhältnisse objektiv nicht verhindern, so daß ihre Existenz unabhängig vom subjektiven hansestädtischen Bemühen, gleich welcher Art, mit Notwendigkeit in Frage gestellt wurde. „Die privilegierte Stellung des hansischen Kaufmanns im Ausland verlor ihren Sinn in dem Augenblick," betont Olechnowitz, „als man ihn nicht mehr brauchte, entweder weil die eigene Wirtschaft schon stark genug war oder weil andere Wirtschaftsmächte aufrückten, die günstigere Bedingungen boten, als die Hansen zu geben bereit waren. Damit verlor die Hanse ihre progressive historische Stellung und ging ihrem notwendigen Ende entgegen."9 Muß die entscheidende Ursache für den Auflösungsprozeß der Städtehanse darin gesehen werden, daß die Hanse, „ungeachtet eines bemerkenswerten Aufschwungs von Handel und Schiffahrt, auf einer historisch überholten Stufe der sozialökonomischen Entwicklung stehengeblieben" sei10, daß in den meisten Hansestädten an feudalen Produktionsformen festgehalten worden sei und diese den Gesamtcharakter der Produktion bestimmt hätten? Auch dieses 6 OLECHNOWITZ, K.-F., Handel und Seeschiffahrt der späten Hanse, Weimar 1965, S. 182f. (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschiehte, Bd. 6.) ? FRITZE, W e n d e p u n k t , a. a. O. 8
MÜLLER-MERTENS, E., Vom Regnum Teutonicum zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Reflexionen über die Entwicklung des deutschen Staates im Mittelalter, in: Z f G 11/1963, S. 344ff.
9
OLECHNOWITZ, H a n d e l , a. a. O . , S. 184.
10 Ebenda, S. 22.
Zur Städtehanse und Hanseforschung in der
DDR
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Problem möchte weiter durchdacht werden. Zur inhaltlichen Verdeutlichung der Frage sei unterstellt, unter den Hansestädten hätten Lübeck und eine Reihe anderer zum Kern der Hanse gehörender Städte ein leistungsfähiges Exportgewerbe entwickelt, das Handelskapital wäre in wesentlichem Maße in die Produktion eingedrungen, der Weg in die frühkapitalistische Entwicklung wäre eingeschlagen worden. Was hätte sich hieraus für das hansische Handels- und Verkehrssystem, die hansestädtischen Beziehungen von Reval, Dorpat und Riga über Danzig und Elbing bis Deventer, Kampen und Zwolle, die inneren Verhältnisse der den frühkapitalistischen Weg gehenden Hansestädte ergeben? Durchdenken wir auch eine noch weitergehende progressive Entwicklung. Was wäre geschehen, wenn zu einer sich eine eigene ökonomische Basis schaffenden wendischen Städtegruppe eine starke Staatsgewalt getreten wäre, wenn die Nationalmonarchie im niederdeutschen Raum Einzug gehalten und die sich dort — in Lübeck und in anderen Seestädten — entwickelnde Handelsbourgeoisie unterstützt hätte? Sollte die Städtehanse unter derartigen Umständen nicht zur Auflösung verurteilt gewesen sein und nicht ihr Ende gefunden haben ? Eine progressive frühkapitalistische Entwicklung im Raum der wendischen Hansestädte mit oder ohne deren bzw. dessen Integration in eine Nationalmonarchie, einen werdenden absoluten Staat hätte Konflikte beschworen und Interessen gesetzt, Relationen hergestellt und Realitäten geschaffen, die der Städtehanse — so wie ihr Wesen und ihr Klassencharakter beschaffen waren — vermutlich einen früheren Schlußpunkt gesetzt, das heißt sie früher aufgelöst hätten, als es die tatsächlichen geschichtlichen Umstände taten. Jedenfalls hätte die Hanse ihr Wesen und ihren Klassencharakter grundsätzlich wandeln, historisch überlebte Wesenszüge aufgeben, neue, den sich verändernden Bedingungen entsprechende gewinnen, sich auf einen Kern territorialstaatlich, wohl auch produktionsmäßig verbundener Hansestädte einengen müssen. In einem solchen Prozeß hätte die Städtehanse aufgehört, als das zu existieren, was sie ihrem Wesen nach war, sie wäre von neuen Kräften in ihrem Interesse umfunktioniert worden, wäre in einem inhaltlich neuen Interessenverband aufgehoben worden. Das Zwischenhandelsmonopol eines nicht auf eine einheimische Produktion gestützten mittelalterlichen Handelsbürgertums, die Autonomie der aus dem feudalherrlichen Staatsverband herausgelösten Bürgerkommune, das Stadtregiment aristokratisch-oligarchischer fernhändlerischer Ratsgeschlechter zu verteidigen, darin hätten die Hauptfunktionen fürderhin nicht mehr bestehen können. Aus der Städtehanse des mittelalterlichen hansestädtischen Handelsbürgertums hätte sich entwickeln müssen ein Instrument einer auf eine eigene Produktionsbasis und eine frühkapitalistische Entwicklung in der Produktion gestützten sowie dem Staat eingegliederten Handelsbourgeoisie und einer frühabsolutistischen (ständischen, noch feudalen, verwesend feudalen und embryo-bürgerlichen) Monarchie. Das Eingehen auf dieses Problem, das hier in heuristischer Absicht gestellt ist, erfordert eine weitere und vertiefte Verständigung über das Wesen der Hanse. Dazu sind in jüngster Zeit von marxistischen Hansehistorikern wesent-
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E . MÜLLER-MERTENS
lieh weiterführende Beiträge geleistet worden. Die Hansehistoriographie auf historisch-materialistischer Grundlage arbeitete heraus, daß die Hanse primär von ihrem Klassencharakter zu begreifen ist. 11 Doch sind noch weitere Forschungen nötig, um zu einer voll befriedigenden Bestimmung des Wesens der Hanse zu kommen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Forderung von Fritze, eine umfassende vergleichende Untersuchung mit den mittelalterlichen Städtebünden anzustellen. 12 Zugleich wäre eine eindringliche Struktur- und Funktionsanalyse der Hanse, ihrer Elemente und Relationen, eine Analyse der Hanse als offenes dynamisches System in Angriff zu nehmen. Diese Fragen zu stellen — sie stehen stellvertretend für andere — gibt der Tag Anlaß, an dem vor 600 Jahren die Hanse in Stralsund mit Dänemark Frieden schloß und ihren Höhepunkt erreichte. Das säkulare Ereignis fordert das weiterführende Gespräch über die Hanse und die Hanseaten heraus. Angesichts der wissenschaftlichen und politischen Aktualität der hansisch-hanseatischen Grundfragen werden Hanse- und Städtehistoriker, wie Vertreter der Wirtschafts-, Sozial- und politischen Geschichte anläßlich des Jubiläums in eine internationale Diskussion über die Hanse eintreten, die gleichermaßen von Interesse für die Geschichte des deutschen Volkes sein wird wie für die Geschichte der Ost- und Nordseeländer, die allgemeine Handels-, Wirtschafts- und Seefahrtsgeschichte und die vergleichende Betrachtung. In die internationale wissenschaftliche Diskussion Ergebnisse der eigenen Arbeit hineinzustellen, ist der hansischen Arbeitsgemeinschaft in der Deutschen Demokratischen Republik ein Bedürfnis und bewegt sie, ihre Neuen Hansischen Studien in Verbindung mit dem 600. Jahrestag des Stralsunder Friedens herauszubringen. Die Neuen Hansischen Studien sind insbesondere erwachsen aus dem wissenschaftlichen Ertrag der Arbeitstagungen von Wismar 1966, Görlitz 1967 und Rostock 1968, dem wachsenden Austausch mit polnischen und sowjetischen Historikern in diesen Jahren sowie der in Greifswald verankerten vorbereitenden Arbeit zu einer marxistischen Gesamtdarstellung der Hansegeschichte. Die Neuen Hansischen Studien stehen in Entsprechung zu dem 1961 erschienenen, Heinrich Sproemberg zum 70. Geburtstag gewidmeten Band Hansische Studien, welche den Ertrag der Arbeitstagungen in Leipzig, Schwerin, Stendal und Berlin 1956-1959 spiegeln. 13 Seit dem Erscheinen der Hansischen Studien im Jahre 1961 ist auf dem Gebiet der Hansegeschichte in der DDR weitere wesentliche Arbeit geleistet SCHILDHATTER, J., Progressive und nationale Traditionen in der Geschichte der Hanse, in: WisaZaGreifawald 12/1963, S . 500; D E R S . , Grundzüge, a. a. O . ; OLECHNOWITZ, Handel, a. a. O . , S . 6f.; F R I T Z E , Wendepunkt, a. a. O . , S . 11; S T E R N , L . und E . V O I G T , Deutschland in der Feudalepoche von der Mitte des 13. Jh. bis zum ausgehenden 15. Jh. Lehrbuch der deutschen Geschichte (Beiträge), Bd. 2/3, Berlin 1964, bes S. 56-66, 189-195. 12 FRITZE, Wendepunkt, a. a. O . , S . 1 2 . 13 Hansische Studien. Heinrich Sproemberg zum 70. Geburtstag, Berlin 1961. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 8.)
11
Zur Städtehanse und Hanseforschung in der DDR
XIII
worden. In diesem Zeitraum führte die Arbeitsgemeinschaft die Hanseund Städtehistoriker, zahlreiche an hansisch-hanseatischer Geschichte interessierten Archivare, Bibliothekare, Kommunalpolitiker, Lehrer, Museologen und Studenten sowie andere Interessenten auf acht wissenschaftlichen Tagungen zu gemeinsamer Arbeit, zur Vermittlung und Verbreitung neuer Forschungsergebnisse, zur Orientierung auf aktuelle Probleme und zur Diskussion zusammen. Die Arbeitstagungen wurden mit wachsender internationaler Beteiligung durchgeführt und gewannen zuletzt den Charakter internationaler Konferenzen. 1961 in Naumburg standen Fragen der sozial-ökonomischen und politischen Auseinandersetzungen in den spätmittelalterlichen Städten zur Diskussion. 14 Die Rostocker Arbeitstagung 1962 ging der Stellung der Hanse in der deutschen Geschichte nach. 15 Den Wirtschaftsbeziehungen der Hanse zu ihrem nord- und mitteldeutschen Hinterland wandte sich 1963 die Schweriner16, Problemen der Handelsgeschichte 1964 die Leipziger Jahresversammlung 17 zu. In Wismar 1966 konzentrierte sich die Arbeitsgemeinschaft auf die hansischen Quellen aus dem städtischen Bereich. Es galt, sich vertiefter über ihre Aussagekraft unter dem Gesichtspunkt der Sozial-, Handels- und Verkehrsgeschichte zu verständigen. 18 Die städtischen Volksbewegungen in den Hansestädten zur Zeit von Reformation und Bauernkrieg standen 1967 im Mittelpunkt der Görlitzer Tagung. Die Arbeitsgemeinschaft leistete damit ihren Beitrag zur Vorbereitung des 450. Jahrestages der Reformation. 19 Zur 750. Jahrfeier Rostocks 1968 wurde wieder in dieser Stadt getagt, um zum Jubiläum der Stadtrechtsbestätigung neue Forschungsergebnisse über das hansische Rostock und seine internationalen Beziehungen vorzustellen. 20 Als Beitrag zum 20. Jahrestag der DDR gestaltete die Arbeitsgemeinschaft ihre Mühlhäuser Tagung 1969, auf der die „Änderungen der Handelswege und Handelsstruktur beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit" (unter besonderer Beachtung der Rolle der Wirtschaft'sveränderungen) im Mittelpunkt der Beratungen standen. 21 14
15
16
LAUBE, A., 7. Arbeitstagung der DDR-Arbeitsgemeinschaft des Hansischen Geschichtsvereins, in: ZfG 10/1962, S. 184-188. LAUBE, A., 8. Arbeitstagung der DDR-Arbeitsgemeinschaft des Hansischen Geschichtsvereins in Rostock, in: ZfG 11/1963, S. 395-398. LAUBE, A., 9. Arbeitstagung der DDR-Arbeitsgemeinschaft des Hansischen Geschichtsv e r e i n s i n S c h w e r i n , i n : Z f G 1 2 / 1 9 6 4 , S. 9 5 - 9 9 .
VOGLER, G., 10. Arbeitstagung der DDR-Arbeitsgemeinschaft des Hansischen Geschichtsvereins in Leipzig, in: ZfG 13/1965, S. 306-309. 18 ENGEL, E . , und S. Looss, 11. Arbeitstagung der DDR-Arbeitsgemeinschaft des Hansischen Geschichtsvereins, in: ZfG 15/1967, S. 304-307. 19 VETTER, K . , 1 2 . Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft des Hansischen Geschichts17
vereins in der D D R , i n : ZfG 16/1968, S. 2 1 5 - 2 1 7 .
D. und K . VETTER, 13. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft des Hansischen Geschichtsvereins in der DDR in Rostock, ZfG in: 17/1969. S. 625-627. 21 VETTER, K . , 14. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft des Hansischen Geschichtsvereins in der DDR, in ZfG: 18/1970, erscheint in Heft 2. 20
PLÖSE,
XIV
E . MÜLLER-MERTENS
Die Arbeitstagungen förderten die internationalen K o n t a k t e , insbesondere die Zusammenarbeit mit den Historikern der sozialistischen Länder; der hansische Austausch zwischen Universitäten der D D R u n d anderer sozialistischer Länder wurde durch gegenseitige Gastvorlesungen u n d Vortragsreisen erheblich verstärkt. Mit der Gdanskie Towarzystwo N a u k o w e , Gdansk, schloß die Arbeitsgemeinschaft Vereinbarungen über regelmäßige Besuche ab. D a z u stellt sich eine rege Publikationstätigkeit auf d e m Gebiet hansischer Geschichte. 2 2 Eine besondere Rolle spielen Untersuchungen zur Sozial- u n d Wirtschaftsgeschichte der späthansischen Zeit, insbesondere der wendischen Hansestädte. N e b e n Aufsätzen u n d Diskussionsbeiträgen stehen hier gewichtige Monographien wie die Bücher v o n Fritze u n d Olechnowitz, die zu grundsätzlich neuen Einsichten in das W e s e n der Hanse gelangten. 2 3 Diese Forschungen werden in Hinsicht auf die Erarbeitung eines Gesamtbildes ergänzt durch Arbeiten über die Verbindung der Seestädte mit d e m agrarischen Hinterland, über d e n Getreidehandel, d a s Bürgerkapital u n d das Lehnbürgertum sowie über Volksbewegungen i n einzelnen Hansestädten. 2 4 D a z u k o m m e n Studien über die inter-
22
Z u d e n P u b l i k a t i o n e n b i s 1 9 6 0 b z w . 1 9 6 2 : K . FRITZE, E . MÜLLER-MERTENS, J . SCHILD-
HAUER und M. UNGER, Forschungen zur Stadt- und Hansegeschichte in der DDR, in: H i s t o r i s c h e F o r s c h u n g e n i n d e r D D R , Z f G 7 / 1 9 6 0 , S . 7 4 — 1 0 4 ; SCHXLDHAUER, J . , F o r -
schungen zur hansischen und hanseatischen Geschichte 1960—1962, in: WissZsGreifswald 12/1963, S. 129 —146. Als neue regionalgeschichtliche Publikationsorgane aus dem Hanseraum erscheinen seit 1961 das „Greifswald-Stralsunder Jahrbuch" (herausgegeben von dem Kulturhistorischen Museum Stralsund, dem Stadtarchiv Stralsund, dem Landesbzw. Staatsarchiv Greifswald, dem Museum der Stadt Greifswald und dem Stadtarchiv Greifswald) und seit 1966 die „Rostocker Beiträge. Regionalgeschichtliches Jahrbuch der mecklenburgischen Seestädte" (herausgegeben von den Stadtarchiven Rostock und Wismar durch J . LACHS). 23 FRITZE, K., Der Kampf um die Demokratisierung des Stadtregiments in Wismar 1427 b i s 1 4 3 0 , i n : W i s s Z s G r e i f s w a l d 1 3 / 1 9 6 4 , S . 2 4 9 - 2 5 8 ; DEKS., D i e
Bevölkerungsstruktur
Rostocks, Stralsunds und Wismars am Anfang des 15. Jahrhunderts. Versuch einer sozialstatistischen Analyse, in: GreifswStralJb 4/1964, S. 69—79; DERS., Einige Bemerkungen zum Problem der hansischen Handelsprofite im 14. und 15. Jahrhundert, in: WissZsGreifsw 14/1965, S. 245—248; DEKS., Keimformen der kapitalistischen Produktionsweise in wendischen Hansestädten zu Beginn des 15. Jahrhunderts, in: JbWG 1965, Teil 4, S. 193—209; DERS., Zur Lage der hansestädtischen Plebejer, in: RostBeitr 1/1966, S . 4 1 - 4 4 ; DERS., S t r a l s u n d s B e v ö l k e r u n g u m 1 4 0 0 , i n : G r e i f s w S t r a l J b 6 / 1 9 6 6 , S . 1 5 - 2 8 ;
DERS., Wendepunkt, a. a. O.; LANGER, H., Zur Rolle der Lohnarbeit im spätmittelalterlichen Zunfthandwerk der Hansestädte, in J b f. Regionalgeschichte 3/1968, S. 92— 108; NEUSS, E., Hanse und niedersächsische Städtebünde in ihrem Verhältnis zu den sozialen Bewegungen im Elbe-Saale-Raum während des Spätmittelalters, in: J b R e g i o n a l g 1 / 1 9 6 5 , S . 1 5 3 — 1 6 3 ; OLECHNOWITZ, H a n d e l , a . a . 0 . ; W I N T E R , H . , D a s H a n s e 24
schiff im ausgehenden 15. Jahrhundert, Rostock 1961. ASSING, H., Die Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse in den Dörfern des Teltow in der Zeit um 1375, phil. Diss. Berlin 1965 (MS.); CZOK, K., Bürgerkämpfe und Chronistik im deutschen Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Herausbildung bürgerlicher Geschichts-
Zur Städtehanse und Hanseforschung in der DDR
XV
nationalen hansischen Verbindungen, die Handelsgeschichte und die politischen Beziehungen. 25 Eine besondere Vortragsfolge und Aufsatzreihe zur hanseatischen Geschichte widmet sich den Beziehungen der Hansestädte zu Lateinamerika im
Schreibung, in: ZfG 10/1962, S. 637 — 645; DERS., Kommunale Bewegung und bürgerliche Opposition in Deutschland im 13. Jahrhundert, in: WissZsLeipzig 14/1965, S. 413 bis 418; DONNERT, E., Bemerkungen zur Frage der Reformation und der Volksbewegung in Livland, in: Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland, Berlin 1961, S. 146-151 (DHG, Tagung der Sektion Mediävistik 1960 in Wernigerode, Bd. 2). ENGEL, E., Bürgerlicher Lehnsbesitz, bäuerliche Produktenrente und altmärkisch-hamburgische Handelsbeziehungen im 14. Jahrhundert, in: HGbll 82/1964, S. 21—41; ENGEL, E., und B. ZIENTARA, Feudalstruktur, Lehnbürgertum und Fernhandel im spätmittelalterlichen Brandenburg, mit einer Einleitung von E. MÜLLER-MERTENS, Weimar 1967 (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte, Bd. 7.); FRITZE, K., Probleme der Stadt-Land-Beziehungen im Bereich der wendischen Hansestädte nach 1370, in: HGbll 85/1967, S. 38—58; RÜHLES, J., Studien zur sozialen Lage der Volksmassen und zu den Volksbewegungen zur Zeit der Reformation in Livland, phil. Diss. Leipzig 1966 (MS); DERS. und W. Küttler, Bürgertum und Reformation in den ostbaltischen Ländern, in: 450 Jahre Reformation, hrsg. von L. Stern und M. Steinmetz, Berlin 1967 S. 186—200; KÜTTLER, W., Patriziat, Bürgeropposition und Volksbewegung in Riga in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, phil. Diss. Leipzig 1966 (MS.); MÜLLERMERTENS, E., Berlin und die Hanse, in: HGbll 80/1962, S. 1 - 2 5 ; DERS., Fritz Rörig, das Landbuch Karls IV. und das märkische Lehnbürgertum, in: ENGEL/ZIENTARA, Feudalstruktur, a. a. O., S. 1—28; SAMSONOWICZ, H., Untersuchungen über das Danziger Bürgerkapital in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Übersetzung aus dem Polnischen, Weimar 1969. (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte, Bd. 8.) Die Arbeitsgemeinschaft förderte diese Thematik durch die Übersetzung der genannten Werke von SAMSONOWICZ und ZIENTARA, sie förderte die vergleichende Betrachtung durch die Herausgabe des Werkes UNGER, M., Stadtgemeinde und Bergwesen Freibergs im Mittelalter, Weimar 1963 (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte, Bd. 5.) und den Goslarer Vortrag von LAUBE, A., Bergbau, Bergstädte und Landesherrschaft i m 15./16. J a h r h u n d e r t , i n : Z f G 16/1968, S. 1 5 7 7 - 1 5 9 1 . 25
DONNERT, E., Die Hanse und Rußland in den Jahren des Livländischen Krieges 1558—83, i n : WissZsLeipzig 14/1965, S. 511—516; FRITZE, K . , D ä n e m a r k u n d die hansisch-hollän-
dische Konkurrenz in der Ostsee zu Beginn des 15. Jahrhunderts, in: WissZsGreifsw 13/1964,
S . 7 9 — 8 7 ; GRINGMUTH-DALLMER, H . , M a g d e b u r g
— Haupthandelsplatz
der
mittleren Elbe, in: HGbll 84/1966, S. 8 - 1 9 ; LANGER, H., Stralsunds Entscheidung 1628, in: GreifswStralJb 4/1964, S. 81—98; DERS., Die Rolle Stralsunds bei der Vorbereitung und beim Beginn der schwedischen Aggression in Deutschland 1630, in: WissZsGreifswald 15/1965, S. 253—263; REINHOLD, J., Die Leipziger Messen und Polen/Litauen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, phil. Diss Rostock 1967 (MS); SCHILDHATJER, J., Zur Verlagerung des See- und Handelsverkehrs im nordeuropäischen Raum während des 15. und 16. Jahrhunderts. Eine Untersuchung auf der Grundlage der Danziger Pfahlkammerbücher, in: JbWG 1968, Teil 4, S. 187—211; UNGER, M., Die Leipziger Messe und die Niederlande im 16. und 18. Jahrhundert, in: HGbll 81/1963, S. 1 - 1 9 ; ZOELLNER, K. P., Zu den hansisch-norwegischen Beziehungen am Ausgang des Mittelalters (1550 bis 1600), i n : N o r d e u r o p a , S t u d i e n I I , W i s s Z s G r e i f s w 16/1967, S. 1 1 5 - 1 2 7 .
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E . MÜLLER-MERTENS
19. u n d zu B e g i n n des 20. Jahrhunderts. 2 6 Zu n e n n e n sind ferner Quellenpublikationen u n d quellenkundliche Studien 2 7 , nicht zuletzt Monographien zur Geschichte einzelner Hansestädte. 2 8 F ü r ein breites P u b l i k u m gedacht, die Ergebnisse der Hanseforschung popularisierend, h a b e n diese besondere Bedeut u n g als massenwirksame historische Literatur. I n der Gegenüberstellung v o n spezieller quellenkritischer Arbeit u n d allgemeinverständlicher Städtemonographie wird die Verbindung v o n strenger Quellenforschung u n d populärer Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der hansischen Arbeit sichtbar. D a z u wurde über die genannten Arbeiten hinaus i n eine Diskussion über die Stellung der H a n s e i n der deutschen Geschichte u n d das W e s e n der H a n s e eingetreten 2 9 , wurde ein Meinungsstreit über die Grundzüge der Geschichte der deutschen H a n s e a u f g e n o m m e n , wurde zugleich eine Reihe v o n Dissertationen über hansische S t r u k t u r f r a g e n d e s 15. u n d 16. Jahrhunderts angefertigt 3 0 , sind 26 KATZ, F . , H a m b u r g e r S c h i f f a h r t n a c h Mexiko 1870-1914, i n : H G b l l 83/1965, S. 9 4 - 1 0 8 ;
KOSSOK, M., Bremen, Preußen und die „Texas-Frage" 1835-1846, in: BremJb 49/1964, S. 73—104; DERS., Zur Geschichte der deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen (Forschungs- u n d Periodisierungsprobleme), i n : H G b l l 84/1966, S. 49—77; ZEUSKE, M., Die
Hansestädte und das Reich in Venezuela zur Zeit des Venezuelakonflikts, Vortrag auf der 83. Jahresversammlung des HGV 1967 in Soest. 27 Der Stralsunder Liber memorialis, bearbeitet von H.-D. SCHROEDER, Teil 1 : Fol. 1—60. 1320-1410, Schwerin 1964, Teil 4: Fol. 187-240. 1366-1426, Rostock 1966 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Stralsund, Bd. 4, 1 und 4.); Das zweite Wismarsche Stadtbuch 1272—1297, bearbeitet von L. KNABE unter Mitwirkung von A. DÜSING, 2 Bde. (Text und Register), Weimar 1966 (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte Neue Folge, Bd. 14,1 und 2.); Hansische Handelsstraßen, auf Grund von Vorarbeiten von F . BRTJHNS ( f ) b e a r b e i t e t v o n H . WECZERKA, R e g i s t e r b a n d , b e a r b e i t e t v o n E . ENGEL
und H. WECZERKA unter Mitarbeit von J . BONGARDT, Weimar 1968 (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte Neue Folge, Bd. 13, 3.); SCHILDHATJER, J . , Hafenzollregister des Ostseebereiches als Quellen zur hansischen Geschichte, in: HGbll 86/1968, S. 6 3 - 7 6 ; STARK, W . , Die Danziger P f a h l k a m m e r b ü c h e r (1468-1476) als Quelle f ü r d e n
Schiffs- und Warenverkehr zwischen den wendischen Hansestädten und Danzig, in: R o s t B e i t r 1/1966, S. 5 7 - 7 8 . 28
EWE, H., Stralsund, Schwerin 1962, 2. Aufl., Rostock 1965; FRITZE, K., Die Hansestadt Stralsund. Die beiden ersten Jahrhunderte ihrer Geschichte, Schwerin 1961; (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Stralsund, Bd. 4.) LACHS, J., und F. K. RAIF, Rostock, Rostock 1965; OLECHNOWITZ K.-F., Rostock von der Stadtrechtsbestätigung im Jahre 1218 bis zur bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49, Rostock 1968. (Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock, Bd. 1.) Vermerkt sei auch EWE, H., Rügen, Rostock 1966.
29
SCHILDHAUER, Grundzüge, a. a. O., S. 729—746, Abdruck auch in: WissZsGreifswald 14/1965, S. 195—203; FRITZE, K., Tendenzen der Stagnation der Hanse nach 1370, in: W i s s Z s G r e i f s w a l d 1 2 / 1 9 6 3 , S . 5 1 9 - 5 2 4 ; D E R S . , W e n d e p u n k t , a . a . O . , S . 8 - 1 2 ; OLECHNO-
WITZ, Handel, a . a . O . , S. 3—9; SCHILDHATJER, Traditionen, a . a . O . ; VOIGT, ReicliFg e w a l t , a. a. O., S. 5 0 7 - 5 1 7 . 30
LANGER, H., Wirtschaft und Politik in Stralsund von 1600-1630, phil. Diss. Greifswald 1965 (MS.); SFADING, K., Holland und die wendischen Hansestädte in der zweiten Hälfte
Zur Städtehanse und Hanseforschung in der
DDR
XVII
weitere in Arbeit gegeben und geplant. Allen diesen Arbeiten ist zugleich die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen-imperialistisehen Geschichtsschreibung der Vergangenheit wie der Gegenwart eigen. Die Neuen Hansischen Studien bieten einen Ausschnitt aus dieser Arbeit. Sie wollen im Zusammenhang mit der Gesamttätigkeit und ihren Zielen gesehen werden und sind insofern repräsentativ, als sie Beiträge zu Schwerpunkten der Diskussion hansischer Geschichte bieten. Die erste Serie ist den Quellen und der Historiographie gewidmet, der marxistischen Aneignung der Quellen, der Ausarbeitung marxistischer Methoden der Quellenkritik und der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung. Die städtischen Volksbewegungen, den sozialgeschichtlichen Aspekt, die Rolle der Produktion und die bürgerlichen Feudalbeziehungen in der hansestädtischen Geschichte in ihrer Bedeutung zu erfassen und zu würdigen, für dieses Anliegen steht die zweite Serie: Stadtgeschichte und städtische Volksbewegungen. Der dritte Themenkreis „Handelsgeschichte und internationale Verbindungen" erwächst aus der besonderen Pflege der internationalen Beziehungen. Es werden Entwicklungen im hansischen Handelssystem abgetastet, seit die Holländer in ihm als größte Sprengkraft erschienen, und werden die Verbindungen zu Preußen, Livland und Rußland sowie zum westeuropäischen und iberischen Bereich verfolgt. Gefördert werden Fragen, die der weiteren theoretischen Diskussion, der Erforschung und Auseinandersetzung bedürfen: die Frage nach der Definition der Hanse; die Frage nach ihrer Bedeutung für die Geschichte des deutschen Volkes; die Frage nach der Rolle der Hanse in der Geschichte des europäischen Städtewesens und Bürgertums sowie die Frage nach ihrer Einordnung in die europäische und allgemeine Geschichte. des 15. Jahrhunderts, phil. Diss. Greifswald 1968 (MS.); STARK, W., Lübeck und Danzig in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, phil. Diss. Greifswald 1969; (MS.) ZÖLLNER, H. P., Studien zur Hansegeschichte der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Stralsund, phil. Diss. Greifswald 1967 (MS.).
2 ifdue Hansisshe Studien
STADTBÜCHER DER HANSESTÄDTE UND DER STRALSUNDER ,LIBER MEMORIALIS' von Horst-Dielher
Schroeder
Die deutsehen Ostseestädte, die den Kern des späteren wendischen Quartiers der Hanse bildeten, haben — abgesehen von Lübeck, das früher und unter anderen Bedingungen gegründet worden war — eine im ganzen gleichartige Entwicklung genommen. Sie waren als Seehandelsstädte entstanden, nachdem in ihrer näheren Umgebung deutsche Bauern angesetzt worden waren, deren wachsender land- und forstwirtschaftlicher Produktionsüberschuß einen Ausfuhrhandel nicht nur ermöglichte, sondern geradezu erforderte. Obgleich in verschiedenen Jahren gegründet bzw. mit deutschem Stadtrecht bewidmet, hatten alle diese Städte um die Mitte der sechziger Jahre des 13. Jh. eine erste Phase ihrer Entwicklung abgeschlossen. Damals waren überall die Alt- mit einer später entstandenen Neustadt unter einem gemeinsamen Rat verschmolzen und eine Stadtbefestigung angelegt oder doch wenigstens das Recht zu einer derartigen Anlage erworben worden. Eine neue Generation hatte die Gründergeneration abgelöst und stand im Begriff, sich auch dem Zwischenhandel mit Waren fremder Herkunft zuzuwenden, der in der Blütezeit der Hanse für diese Städte charakteristisch werden sollte. Aus dieser Zeit stammen die ersten Nachrichten über Handelsverbindungen nach Flandern und Friesland, nach England, Norwegen und dem Baltikum. Neue Formen des Handels waren gefunden und neue Absatzmärkte erschlossen worden. Aus den siebziger Jahren stammen die ersten Zollrollen und Hafenordnungen. Der wachsende Umfang der Handelsverbindungen, die steigende Zahl der Einwohner, der damit verbundene Ausbau der Stadtverwaltung und die immer zahlreicher verhandelten Rechtsgeschäfte machten auf diesem Entwicklungsstand immer häufiger schriftliche Aufzeichnungen für praktische Zwecke der Verwaltung notwendig. Aus diesen zunächst wohl noch unsystematischen Notizen entwickelten sich schon sehr bald immer umfangreichere und differenziertere, fortlaufend geführte Register, welche, später zu Büchern zusammengefaßt, heute für uns eine unschätzbare, bei weitem noch nicht ausgeschöpfte Quelle zur Geschichte der einzelnen Städte und des Städtewesens überhaupt darstellen. Die für diese Bücher heute allgemein übliche Bezeichnung „Stadtbücher" deutet an, daß es sich hierbei um Aufzeichnungen handelt, die früher oder 2*
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H . - D . SCHROEDER
später gebunden wurden und meist in chronologischer Reihenfolge fortlaufende Eintragungen enthalten, welche in offiziellem Auftrage der Stadtverwaltung, also auf Geheiß des Rates oder seiner Organe, erfolgten. Die Bücher wurden im allgemeinen geführt von einem oder mehreren Stadtschreibern — meist notarii oder protonotarii genannt —, die zu den vornehmsten städtischen Beamten zählten. Entsprechend der Vielseitigkeit des mittelalterlichen städtischen Lebens gibt es verschiedene Arten von Stadtbüchern, die jeweils bestimmten Zwecken dienten. Für ihre Gruppierung unter einheitlichen Gesichtspunkten hat sich heute wohl allgemein die 1913 von Rehme 1 vorgeschlagene Einteilung durchgesetzt. Danach werden unterschieden: 1. Statuten- und Privilegienbücher. Statutenbücher enthalten die vom Rat für die betreffende Stadt festgelegten Bestimmungen auf den verschiedensten Lebensgebieten. Es war allerdings — worauf schon Rehme 2 hingewiesen hat — durchaus möglich, daß Bestimmungen im Laufe der Zeit entweder gewohnheitsmäßig oder durch neue Satzungen geändert wurden, ohne daß diese Veränderungen sofort ihren Niederschlag in den Statutenbüchern hätten finden müssen, so daß sich ein bestimmter Rechtszustand nicht allein aus den Statuten, sondern vor allem aus dem angewandten Gewohnheitsrecht erkennen läßt. — Privilegienbücher enthalten lediglich Abschriften von der Stadt verliehenen königlichen oder landesherrlichen Privilegien, deren Originale im allgemeinen auch unter den sorgfältig gehüteten städtischen Urkunden zu finden sind. 2. Justizbücher waren bestimmt für Aufzeichnungen aus der Rechtsprechung des Rates oder der Schöffen sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen sowie über Akte der sogenannten freiwilligen Gerichtsbarkeit. Gerade die Justizbücher sind in ihrer Anlage und Aufgabenstellung in den einzelnen Städten recht unterschiedlich. Zu ihnen gehören etwa Achtbücher, wie das schon vor fast einem Jahrhundert gedruckte Stralsunder Verfestungsbuch von 13103, Gerichtsbücher, Grundbücher, Schuldbücher, Testamentsbücher und andere mehr unter den verschiedensten Bezeichnungen. Am vielseitigsten und interessantesten sind jedoch diejenigen Bücher, die Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit enthalten und die vielfach als „Stadtbücher" im engeren Sinne bezeichnet werden. 3. Verwaltungsbücher enthalten Aufzeichnungen, die für die Durchführung der Verwaltungsaufgaben des Rates unerläßlich waren. Zu ihnen gehören die Finanzbücher, wie Einnahme- und Ausgaberegister, Kämmereibücher, weiterhin die Ratslisten, die Eidbücher, welche die Formeln der Beamteneide enthalten, Innungsbücher und Bürgerbücher mit den Namen der neu aufgenommenen Bürger sowie zahlreiche andere, deren Aufzählung hier zu weit führen würde. Die Entwicklung des Stadtbuchwesens im einzelnen läßt sich selbst für die Städte des „wendischen Quartiers" schwer auf einen Nenner bringen. Im allREHME, P . , Über Stadtbücher als Geschichtsquellen, Halle a. d. Saale 1 9 1 3 , S. 1 1 ff. 2 Ebenda, S. 20. 3 Das Verfestungsbuch der Stadt Stralsund, von 0 . FRANKE, mit einer Einleitung von FRENSDORFF, F . , Halle 1875. 1
Der Stralsunder Liber memorialis
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gemeinen dürfte es wohl so gewesen sein, daß die Stadtschreiber zunächst einmal für ihren eigenen Gebrauch Aufzeichnungen über bestimmte, ihnen wichtig erscheinende Vorgänge machten, die sie später systematisierten, indem sie gleichartige Notizen auf einzelnen Lagen Pergament zusammenfaßten, welche zusammen aufbewahrt und später wohl auch zusammen gebunden wurden. So etwa ist das sogenannte älteste Stralsunder Stadtbuch entstanden, das in der uns heute vorliegenden gedruckten Form 4 aus neun Teilen besteht, deren einige zeitlich parallel nebeneinander laufen. Auch das zweite Stralsunder Stadtbuch von 1310 bis 13425 setzt sich aus drei klar gegeneinander abgesetzten Teilen zusammen. Ähnlich steht es mit dem ältesten Wismarer Stadtbuch6, während das älteste erhaltene Greifswalder Stadtbuch, das mit dem Jahre 1291 einsetzt und mit dem Jahres 1332 abbricht, schon rein äußerlich einen wesentlich geschlosseneren Eindruck macht. Im Gegensatz zu Rehme 7 glaube ich nicht, daß dieses Buch, wie er meint, „eine im Anfange der Entwicklung stehende Einrichtung" sei und vorher kein anderes existiert habe. Da etwa die ersten 34 Eintragungen sich auf einen Zeitraum von neun Jahren verteilen und ausschließlich Auflassungen zum Gegenstand haben, andersartige Eintragungen aber erst wesentlich später auftauchen, und da das Jahr 1291 als Ausgangspunkt der Stadtbuchentwicklung für eine Stadt von der Bedeutung Greifswalds reichlich spät erscheint, möchte man eher annehmen, daß hier das tatsächlich älteste Stadtbuch — vielleicht nur Aufzeichnungen auf einzelnen Blättern, die nie zusammengebunden wurden ? — verlorenging und das jetzt vorliegende zunächst als ein Sonderbuch für Auflassungen ähnlich dem zweiten Teil des Zweiten Stralsunder Stadtbuches angelegt wurde.8 Als Beispiel für die weitere Entwicklung des Stadtbuchwesens in den Hansestädten Mecklenburgs und Pommerns seien die Verhältnisse in Stralsund angeführt. Hier endet das sogenannte Älteste Stadtbuch mit dem Jahre 1310. Damals scheint es sich als zweckmäßig enyiesen zu haben, infolge der Fülle der vorzunehmenden Eintragungen eine Aufteilung auf verschiedene Bücher vorzunehmen, wie sie ähnlich ja auch schon vorher versucht worden war. In diesem Jahr wurde der „Liber de proscriptis", das Verfestungsbuch, begonnen und auch das sogenannte Zweite Stadtbuch, dessen erste beide Teile als Grundbuch dienten, während im dritten Teil Willküren und Beschlüsse des Rates Aufnahme fanden. Dieses Buch endet mit dem Jahre 1342. Seine Fortsetzung bis 1385 ist nicht erhalten, wohl aber das dann folgende, welches bis 1488 reicht, jetzt aber ausschließlich Grundbucheintragungen enthält. Mit dem Jahre 1319 beginnt das älteste erhaltene Bürgerbuch. Die frühen Kämmereibücher sind verloren; das älteste erhalten gebliebene ist ein Einnahmeverzeichnis für die 4 5 6 7 8
Das älteste Stralsunder Stadtbuch (1270-1310), hrsg. v. F. FABRICITTS, Berlin 1872. Das zweite Stralsundische Stadtbuch (1310—1342), bearb. v. B. EBELING, Stralsund 1903. Das älteste Wismarsche Stadtbuch, hrsg. v. F. TECHEN, Wismar 1912. REHME, P., Stadtbücher des Mittelalters, Erster Teil, Leipzig 1927, S. 88. Die Gründe hierfür gebe ich in dem z. Zt. von mir für den Druck bearbeiteten Ältesten Greifswalder Stadtbuch (Einleitung) näher an.
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Zeit von 1392 bis 1440. Wohl auch um 1310 wurde ein Schuldbuch (Liber debitorum) angelegt, das ebenfalls verloren ist, denn das erhalten gebliebene von 1376 bis 1511 ist nachweislich nicht das erste dieser Art gewesen. Schließlich machte es sich im Jahre 1320 offenbar notwendig, eine Reihe von Eintragungen, die in anderen Buchern nicht unterzubringen waren und die verschiedensten Dinge betrafen, gesondert zu verzeichnen. Aus diesen Aufzeichnungen ist in einem sehr komplizierten Prozeß schließlich der sogenannte „Liber memorialis" hervorgegangen, dessen reicher Inhalt, der so gut wie alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens umfaßt, ihn, wie Fabricius meint, zum „geschichtlich wertvollsten von allen Büchern des Stralsunder Stadtarchivs" werden ließ. 9 Freilich sind damit bei weitem noch nicht alle Stralsunder Stadtbücher aufgezählt ; es kam hier nur darauf an, die allmähliche Differenzierung anzudeuten. In ähnlicher Form ist die Entwicklung des Stadtbuchwesens auch in den anderen Seestädten des „wendischen Quartiers" verlaufen. Die Bedeutung der Stadtbücher, insbesondere der sogenannten ,gemischten', welche Eintragungen verschiedenster Art, vor allem der freiwilligen Gerichtsbarkeit, enthalten, als Quelle für die Geschichte der betreffenden Stadt, aber auch ganz allgemein für Wirtschafts-, Sozial-, Rechts-, Personen- und Kulturgeschichte ist in den letzten Jahrzehnten immer stärker erkannt worden. Und dennoch ist ihr reicher Inhalt bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Am Beispiel des Stralsunder Liber memorialis, dessen Bearbeitung zum Druck mir vom Stadtarchiv Stralsund übertragen worden ist, soll hier nur angedeutet werden, welche Fragen und Probleme bei näherer Beschäftigung mit den Eintragungen auftauchen und in welcher Richtung man etwa den Inhalt auch scheinbar weniger interessanter Nachrichten auswerten könnte. Zuvor jedoch noch einige Worte über die Entstehung dieses Stadtbuches. Der Liber memorialis ist, wie bereits erwähnt, nicht von Anfang an als einheitliches Stadtbuch angelegt worden. Teil I (fol. 1-22) ist zwischen 1320 und 1366 aus mehreren Doppelblättern zusammengewachsen, die Eintragungen der verschiedensten Art enthielten und dann teilweise jahrelang unbenutzt liegenblieben, ehe nach und nach die freien Seiten mit weiteren Notizen gefüllt wurden. In den Jahren 1366/67 wurden etwa gleichzeitig zwei neue Lagen Pergament in Benutzung genommen, von denen die eine, heute mit fol. 187a beginnend, eine Fortsetzung der ersten Lage darstellt und demzufolge Nachrichten verschiedenster Art enthält, die bis 1440 geführt wurden, während die andere Lage, beginnend mit fol. 23, die Überschrift „Liber in quo scribuntur fideiussores facientes cauciones dominis consulibus . . . " trägt und zur Aufnahme von Bürgschaftserklärungen bestimmt war. Tatsächlich überwiegen in diesem Teil des Liber derartige Bürgschaftserklärungen bei weitem, denn sie umfassen fast die Hälfte aller Eintragungen. Vor allem in den ersten Jahren nach der Anlage dieses Buches bewahrte es seinen vorgesehenen Charakter fast rein, um 9
Die erhaltenen mittelalterlichen Stadtbücher Pommerns, in: Baltische Studien 46/1896, S. 86.
FABRICIUS, F . ,
Der Stralsunder Uber
memorialis
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dann aber allmählich immer stärker durch Eintragungen anderer Art seine ursprüngliche Geschlossenheit zu verlieren. Ähnlich trägt fol. 189a die Überschrift „Liber debitorum", und auch hier ist zu beobachten, daß dieser Teil in den ersten Jahren fast ausschließlich Nachrichten über Darlehen und Rentenkäufe enthält, bis dann, vor allem nach der Anlage des selbständigen, oben bereits erwähnten Liber debitorum von 1376, der ursprüngliche Charakter durch Notizen anderer Art verwischt wird. Die Eintragungen im Liber memorialis reichen von 1320 bis 1525, verteilen sich aber keineswegs gleichmäßig auf die einzelnen Jahre oder Jahrzehnte. 22 Blatt reichten für die ersten 46 Jahre seines Bestehens aus, 25 Blatt für die letzten 31 Jahre; dagegen wurden für die drei Jahre von 1422 bis 1424 allein 23 Blatt benötigt. Die Ursache hierfür wird wohl erst dann angegeben werden können, wenn alle Teile des Liber bearbeitet worden sind. Die Sprache dieses Buches ist bis gegen 1505 weitaus überwiegend, aber nicht ausschließlich, Latein, später Niederdeutsch. Die häufig genau datierten Eintragungen wurden im allgemeinen wohl durch die Ratsschreiber vorgenommen, öfter aber erscheinen innerhalb kurzer Zeit so viele verschiedene Hände, daß man geneigt ist anzunehmen, gelegentlich seien Eintragungen auch von Ratsherren selbst vorgenommen worden, wofür auch die häufiger gebrauchte Ich- oder Wir-Form oder ein plötzlicher Übergang dazu in ein und derselben Eintragung sprechen könnte. Der Liber memorialis war keineswegs ausschließlich für Aufzeichnungen städtischer Angelegenheiten bestimmt. Es finden sich in ihm außerordentlich zahlreiche Notizen und längere Eintragungen, die geschäftliche und persönliche Beziehungen zwischen Privatleuten betreffen, und solche der freiwilligen Gerichtsbarkeit wie Erbauseinandersetzungen, Abfindungen, Entlastung von Vormündern, Verfügungen von Todes wegen, Baugenehmigungen und ähnliches. Immer aber erfolgte eine Eintragung auf Geheiß des Rates oder eines seiner Beauftragten; in mehreren Fällen wird der Name des Ratsherrn, auf dessen Veranlassung eine Eintragung oder Löschung erfolgte, ausdrücklich genannt. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Personen, über die man im Liber memorialis etwas erfährt, im allgemeinen den besitzenden Schichten angehörten. Es sind in erster Linie Mitglieder des Rates und Kaufleute, Gewandschneider, Handwerker und Geistliche, die hier erwähnt werden. Berufsbezeichnungen finden sich übrigens nicht allzu häufig, meist werden nur die Namen angegeben; doch läßt sich manchmal der Beruf des Genannten aus anderen Angaben erschließen. Die Natur des verzeichneten Vorgangs bestätigt meist die Vermutung, daß der Betreffende zumindest nicht ganz unbemittelt war. Immerhin gibt es doch auch eine Reihe von Eintragungen, die sich auf Angehörige der niederen und niedersten Schichten der Bevölkerung beziehen. Dies ist häufig der Fall bei Nachrichten, die sich mit der Versorgung von alten Leuten beschäftigen. Es gibt mehrere Notizen, nach denen ein Dienstherr
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seiner Magd eine jährliche Leibrente von wenigen Mark kauft 10 oder ihr ein lebenslängliches Wohnrecht sichert (IV 530, 553). In einigen Fällen wird mittellosen Witwen für die Wiederverheiratung von Verwandten oder Freunden ein „dotalicium" zugesichert (I 711, 765 und öfter). Auch gelegentliche Berichte von Unglücksfällen gehören hierher, so etwa, wenn einige Bürger vor dem Rat erscheinen und zu Protokoll geben, daß während eines Sturmes der Koch ihres Schiffes von einem Segel über Bord geschleudert worden sei und sie ihn nicht mehr hätten retten können (II 47), oder wenn andere vor dem Rat beschwören, daß ein Mann ihrer Schiffsbesatzung, als er ohne Genehmigung des Schiffsherrn in Drakor an Land war und bei stürmischem Wetter betrunken in einem Boot zum Schiff zurückkehrte, ins Wasser stürzte und nicht mehr geborgen werden konnte (IV 661). Unter der Fülle der Eintragungen bilden derartige Nachrichten jedoch Ausnahmen. Der Stralsunder Liber memorialis enthält eine Reihe von Eintragungen, die schon für sich allein, ohne Rücksicht auf andere, von höchstem Interesse für die Stadt- oder Landesgeschichte sind. Das trifft etwa zu für die sogenannte „Sarnowsche Verfassung" von 1391, die nur hier überliefert ist (I 864); die Klagen der Stadt gegen Bertram Wulflam und Albert Gildehusen vor der Hanse (I 872); die Ordnung des Beginenhauses (I 1036); Abschriften von Urkunden verschiedenster Art und von Briefen der pommerschen Herzöge an die Stadt (I 32, 456, 495, 1040; II 156, 367, 460; III 1, 47, 91; IV 273, 274, 690 und viele mehr). Auch für andere Nachrichten, die mehr kulturhistorisches Interesse beanspruchen können, trifft das zu, so etwa für die Erwähnungen des Ghiso Kompasmaker in den Jahren 1397 und 1399 (I 925, 953); den Vertrag mit dem Uhrmacher Ghert Hornstorp (IV 115); ein Verzeichnis vorübergehend verpfändeter Schmuckstücke (I 796); die Genehmigung zu Kaperfahrten an Stralsunder Bürger (I 297, 299 in den Jahren 1363 und 1364) und für viele weitere Notizen. Es gibt aber eine große Anzahl von Nachrichten, von denen eine einzelne vielleicht nicht sonderlich interessant erscheinen mag, die aber, in ihrer Gesamtheit betrachtet, durch statistische Zusammenstellungen, Vergleiche oder sonstige Auswertung wertvolle Aufschlüsse vor allem zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu geben vermögen. Es ist nicht meine Absicht, eine derartige Auswertung an dieser Stelle vorzunehmen; es soll lediglich darauf hingewiesen werden, in welcher Richtung etwa derartige Untersuchungen nützlich und erfolgversprechend sein können. Da sind zunächst einmal die außerordentlich zahlreichen Leibrentenverträge. Ein solcher Vertrag bestand darin, daß ein Bürger der Stadt, einer Kirche 10
Der Stralsunder Liber memorialis, bearbeitet von H.-D. SCHROEDER. Teil I (fol. 1—60): Schwerin 1964; Teil IV (fol. 187-240): Rostock 1966; Teil II und III (fol. 61-120 und 121—186): im Druck. Die Belegstellen werden im folgenden immer im Text mit Angabe des Teiles und der laufenden Nr. genannt; hier IV 355 über 5 Mark, IV 298 über 8 M ark; vgl. auch IV 599 und wohl auch IV 643.
Der Stralsunder Liber memorialis
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oder auch einem anderen Bürger eine größere, meist runde Summe, etwa 100 oder 200 Mark, zur Verfügung stellte und dafür, manchmal für einen begrenzten Zeitraum, meist aber auf Lebenszeit, eine jährliche Rente von etwa 8—10 v. H. des eingezahlten Kapitals erhielt. Die Notizen darüber im Liber lauteten etwa folgendermaßen: „Heinrich Schöning und seine Frau Margarete haben von den Provisoren der St. Marienkirche auf Lebenszeit eine Leibrente von 26 Mark gekauft, die sie an vier Zahlungsterminen jährlich aus den Erträgen und Einkünften der genannten Kirche erhalten, und zwar in jedem Vierteljahr 6^2 Mark; falls einer von ihnen stirbt, sollen 13 Mark gelöscht werden, die anderen 13 Mark erhält der Überlebende an den vier Zahlungsterminen. Sind beide gestorben, fallen die ganzen 26 Mark zur freien Verfügung an die genannte Kirche zurück" (IV 299). Es gab jedoch nicht nur solche „echten" Leibrenten, sondern auch in der Form eines Rentenkaufs getarnte Darlehen. Derartige Darlehen sind zeitweise in ganz erheblichem Umfange von der Stadt aufgenommen worden. Allein in den drei Jahren von 1368 bis 1370 sind im Liber memorialis derartige Darlehensverpflichtungen von mehr als 30000 Mark verzeichnet, zu einem großen Teil an Lübecker Bürger (IV 33-57, 66-74, 77-88 und öfter). Auch das Rigaer Domkapitel hat der Stadt damals ganz erhebliche Beträge geliehen (IV 231 = 3 000 Mark, 250 = 6 000 Mark und öfter). Übrigens sind mehrfach Leibrenten, welche die Kirchen verkauft hatten, später von der Stadt übernommen bzw. garantiert worden, weil, wie es in den Eintragungen heißt, das Kapital zum Nutzen der Stadt verwendet worden war (I 287 und öfter). Es ist mehrmals versucht worden, die soziale Lage der verschiedenen Schichten der städtischen Bevölkerung durch den Vergleich der gezahlten Löhne mit den Preisen für die wichtigsten Verbrauchsgüter festzustellen. Das stößt jedoch auf Schwierigkeiten, da das erforderliche Zahlenmaterial innerhalb einer Stadt und innerhalb eines begrenzten Zeitraumes für diesen Zweck unzureichend ist; Vergleiche über größere Zeiträume hinweg oder mit anderen, selbst mit Nachbarstädten, weisen jedoch infolge der jeweils unterschiedlichen Verhältnisse zu große Fehlerquellen auf. Vielleicht ist es nun möglich, mit Hilfe dieser Eintragungen über Leibrentenverträge von einer anderen Seite her zu einigermaßen den Tatsachen entsprechenden Ergebnissen zu kommen. Wenn man die Masse dieser Notizen überblickt, so fällt auf, daß bei dem weitaus überwiegenden Teil der Rentenberechtigten jährliche Renten zwischen 6 und 16 Mark je Person gezahlt werden, öfter weniger; mehr dagegen, soweit es sich um „echte" LeibrentenVerträge handelt, nur in Ausnahmefällen. Diese Verträge sollten doch wohl der Sicherstellung des unbedingt notwendigen Lebensbedarfes dienen, jedenfalls war das ihr ursprünglicher Sinn; sicherlich sind durch Arbeitsverdienst, Schenkungen, Almosen oder sonstige Einkünfte in vielen Fällen noch weitere Einnahmen vorhanden gewesen. In nicht wenigen Fällen wurde einige Jahre nach dem Kauf einer Leibrente — wohl dann, wenn der Käufer wieder eine größere Summe erspart hatte — eine weitere gekauft (so etwa IV 76a/b).
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Recht interessant sind in diesem Zusammenhang einige Eintragungen, in denen vertraglich gewährte freie Wohnung, Verpflegung und Kleidung aus verschiedenen Gründen durch Geldbeträge abgelöst werden, die zwischen 15 und 20 Mark jährlich liegen. So etwa muß sich Marquard Went von 20 Mark jährlich selbst unterhalten, ohne Schulden zu machen (I 391 zum Jahre 1337); in den vorangegangenen zwei Jahren mußten ihm sogar 15 Mark jährlich reichen (I 389). Johannes Halberstadt ist verpflichtet, seiner Schwiegermutter freie Wohnung, Verpflegung und 2 Last Kohlen jährlich zu geben, kann jedoch diese Verpflichtung mit 18 Mark jährlich ablösen (I 1026 zum Jahre 1406). Tilse Hartnaghels kann anstelle von freier Wohnung und Verpflegung, falls sie diese nicht in Anspruch nimmt, jährlich 20 Mark erhalten (IV 432 zum Jahre 1412). Es finden sich noch weitere Beispiele (IV 369, 355 usw.). Aufschlußreich sind auch die Mieten, die gefordert und gezahlt wurden. Sie waren unterschiedlich, aber offenbar sehr hoch: für ein Haus in der Mühlenstraße jährlich 25 Mark (IV 433), für ein halbes Haus in der Semlower Straße 24 Mark (I 389), für ein anderes halbes Haus 15 Mark (I 389); für eine Bude 16, für eine andere 9 Mark (IV 319), für eine Bude mit Vorkeller 12 Mark (IV 402), für eine halbe Bude aber auch nur 2l/2 Mark (I 547). Wenn man berücksichtigt, daß es sich bei den Käufern von Leibrenten in der Regel um Menschen gehandelt hat, die in der Lage waren, eine größere Summe Geldes — wenn auch vielleicht über Jahre hinweg — zu sparen, um sich dann durch einen derartigen Leibrentenvertrag für den Rest ihres Lebens einigermaßen finanziell sicherzustellen, daß aber ein großer Teil der Einwohnerschaft Stralsunds dazu zeit seines Lebens sicherlich nicht in der Lage war, so könnte man annehmen, daß in den Jahrzehnten vor 1400 das sogenannte „Lebensminimum" für Nahrung und Kleidung etwa bei 10 Mark gelegen haben könnte, wozu dann noch die Kosten für Wohnung oder Unterkunft kämen. Es muß jedoch ausdrücklich betont werden: diese Überlegungen ergeben sich bei einem allgemeinen Überblick über die im Liber memorialis verzeichneten Leibrenten. Genauere Untersuchungen zu dieser Frage, die von anderen Quellen ausgehen, müßten diese Angaben aber wohl berücksichtigen. Die Verkäufer von Leibrenten mußten sicher sein, daß sie ihren Verpflichtungen auch tatsächlich laufend nachkommen konnten. Daß derartige Rentenverkäufe in größerem Umfange eine recht zweischneidige Angelegenheit sein konnten, mußten die Stralsunder Gewandschneider erfahren, als sie im ersten Drittel des 15. Jh. auf diese Weise die Mittel für die Fortsetzung des Baues von St. Marien auftreiben wollten. Sie gerieten in finanzielle Schwierigkeiten, aus denen sie schließlich nur durch eine verheerende Pestepidemie erlöst wurden, die einen großen Teil der Rentenberechtigten dahinraffte. Unter diesem Gesichtspunkt ist es interessant, die Rentenverkäufe der drei großen Stadtkirchen miteinander zu vergleichen. Bis gegen 1400 kennen wir bei St. Nikolai 41, bei St. Marien 30 und bei St. Jakobi 18 LeibrentenVerträge, die bei Annahme einer Durchschnittsrente von 10 v. H. diesen Kirchen 6100, 3750 und 1860 Mark einbrachten. Die durchschnittliche Höhe einer einzelnen
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Leibrente betrug im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts bei St. Nikolai 15,7 Mark, bei St. Marien 13 und bei St. Jakobi 11 Mark. Diese Zahlen entsprechen recht gut der Bedeutung dieser Kirchen, die sich in ihrem Äußeren, in ihrer Lage in den mehr oder weniger bevorzugten Teilen der Stadt und in ihrer Innenausstattung widerspiegelt. 11 Vor allem für die zweite Hälfte des 14. Jh. ist im Liber memorialis eine Reihe von Notizen enthalten, die Dienst- oder Arbeitsverträge betreffen, welche vom Rat der Stadt, von den Kirchenprovisoren oder von beiden gemeinsam abgeschlossen wurden. Wenngleich die einzelnen Berufe (abgesehen von den niederen Kirchendienern, für die zahlreichere Angaben vorliegen) jeweils nur mit einem oder zwei bis drei Beispielen vertreten sind und daher keine über einen längeren Zeitraum fortlaufende Reihen derartiger Verträge vorliegen, so sind diese Nachrichten in ihrer Gesamtheit doch von nicht geringem kulturund sozialgeschichtlichem Interesse, da man — mit aller gebotenen Vorsicht selbstverständlich — versuchen könnte, die soziale Stellung dieser Berufe zu ermitteln und ihre Angehörigen auf Grund der Entlohnung und der sonstigen Arbeitsbedingungen in ihrer ganzen Lebenslage zu den führenden Kreisen in der Stadt, den Ratsherren und Fernhandelskaufleuten, in Beziehung zu setzen, dabei aber auch die vorher erwähnten Nachrichten über Leibrenten Verträge, Mieten usw. zu berücksichtigen. Im Jahre 1342 wurde der Magister Liborius cirurdius auf drei aufeinanderfolgende Jahre in den Dienst der Stadt genommen bei einem jährlich nachträglich zu zahlenden Gehalt von 20 Mark. Darüber hinaus erhielt er alljährlich ein Gewand „de pulchro panno" und war frei von Schoß und Nachtwachen. Außerhalb Stralsunds durfte er seine Heilkunst nur nach vorheriger Genehmigung ausüben und mußte auf eine Anforderung des Rates hin sofort in die Stadt zurückkehren (I 117). Die Ratsherren scheinen mit ihm zufrieden gewesen zu sein, denn schon zwei Jahre später wurde er mit einer Erhöhung seines Gehalts auf 24 Mark lebenslänglich angestellt (I 128). Ebenfalls im Jahre 1342 nahm die Stadt den Geschützmeister Bernhard aus Anklam in ihren Dienst. Er hatte die Wurfmaschinen der Stadt zu warten und die Ratsherren auf ihren Ausritten mit seiner „balista" zu begleiten. Dafür erhielt er zunächst alljährlich 10 Mark, ein Paar Beinschienen und zwei Gewänder sowie freie Wohnung, darüber hinaus noch für jeden Tag, den er im Dienste der Stadt tätig war, 18 Pfennige, während seine Genossen von den Kämmerern bezahlt wurden (I 115). Auf Lebenszeit eingestellt wurde im Jahre 1361 ein Zimmermann, Meister Johannes. Er erhielt jährlich 30 Mark und zwei Gewänder sowie freie Wohnung und für jeden Feiertag, ob er arbeitete oder nicht, 2 4 / 2 Schilling. Diese einmal vereinbarte Entlohnung durfte in der Folgezeit weder erhöht noch vermindert werden (I 280). 11
SCHROEDER, H.-D., Bürgerschaft und Pfarrkirchen im mittelalterlichen Stralsund, in: Die gotischen Pfarrkirchen Stralsunds und ihre Kunstwerke, Berlin 1 9 6 4 , S. 283 f.
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Zwölf Jahre später wurde Gert Hornstorp in den Dienst der Stadt genommen, um die Uhr („dat orlogium, dat he gemaket helft") auf seine Kosten zu warten und zu pflegen. Falls er sich außerhalb der Stadt aufhielt, mußte er einen zuverlässigen Mann bestimmen, der sich in seinem Auftrag um die Uhr zu kümmern hatte. Ging die Uhr entzwei und wurden ihm Boten dieser halb gesandt, mußte er ohne Verzug zurückkehren und die Uhr auf seine Kosten reparieren. Dafür erhielt er jährlich 30 Mark und freie Wohnung und blieb auf Lebenszeit frei von Schoß und Nachtwachen. Nur drei Jahre später wurde ein fast gleichlautender Vertrag mit seinem Nachfolger abgeschlossen; allein dieser erhielt, vielleicht weil er die Uhr nicht selbst angefertigt hatte, jährlich nur 20 Mark. Alle anderen Bestimmungen blieben gleich (IV 115, 145). Dies sind nur einige Beispiele von Arbeitsverträgen, die im Liber memorialis enthalten sind. Es gibt noch weitere für Stadtknechte, Bau- und Ziegelmeister und einige andere Berufe. Daneben aber erscheinen auch Notizen über Vergabungen oder Verpachtungen von städtischen Ämtern, die nach unseren heutigen Vorstellungen von unmittelbaren Bediensteten der Stadt hätten wahrgenommen werden müssen. Damals wurden etwa die Schulen als Belohnung für treue Dienste an Geistliche oder Stadtschreiber verliehen oder gegen feste jährliche Zahlungen an geeignet erscheinende Personen verpachtet (I 140, 156, 214; IV 367). Ähnlich wurde es mit den Stadtbütteln, Wechslern, Münzmeistern und anderen gehalten. Die vorstehend erwähnten Arbeitsverträge wurden von den Ratsherren allein mit den in Aussicht genommenen Personen vereinbart und abgeschlossen. Bei einer weiteren Gruppe von Anstellungsverträgen wirkten auch die Kirchenpro visoren mit. Das Amt eines Kirchenprovisors war grundsätzlich ein Ehrenamt, das der dazu berufene Bürger neben seiner bürgerlichen Erwerbstätigkeit unentgeltlich ausübte. Daher kamen die Provisoren immer aus den wohlhabenderen Schichten der Stadt, wobei an St. Marien und St. Jakobi auch Handwerker als Provisoren nachweisbar sind.12 Dieser Grundsatz des Ehrenamtes wird gleich nach dem Stralsunder Frieden zunächst an St. Nikolai durchbrochen, vielleicht deswegen, weil die aus dem Kreise der Ratsmitglieder stammenden Provisoren die mit diesem Amt verbundene tägliche Kleinarbeit nicht mehr zu leisten gewillt oder in der Lage waren. Am 16. Juli 1371 wird zwischen den Ratsherren, den Provisoren von St. Nikolai und dem Johannes Koster und seiner Schwester ein Vertrag geschlossen, nach dem beide von Michaelis an in den Dienst der Nikolaikirche treten. Johannes Koster soll bei der Verwaltung der Kirche helfen, Paramenten, Schmuck und überhaupt alles Kirchengut in guter Obhut halten, die Gelder der Kirche verwalten und Maler- und Glaserarbeiten, soweit er dies selbst vermag, ohne Gegenleistung ausführen; zu diesem Zweck haben ihm die Pro12
Handwerker traten allerdings nur in wenigen Ausnahmefällen auf.
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visoren alles notwendige Material zur Verfügung zu stellen. Seine Schwester soll die Kapelle der hl. Anna bewachen und alle dort anfallenden Arbeiten leisten, wie es bisher üblich gewesen ist. Dafür zahlten ihnen der Rat der Stadt 10 Mark jährlich und ebenso viel die Provisoren von St. Nikolai; außerdem erhalten sie freie Wohnung und sind von Schoß und Nachtwachen frei. Stirbt die Schwester vor dem Bruder, behält dieser die Wohnung und die 20 Mark jährlich; stirbt er jedoch früher, erhält die Schwester 10 Mark jährlich, und die Provisoren stellen ihr eine kleinere Wohnung, ebenfalls mietfrei, zur Verfügung (IV 93). Johannes Koster wie auch seit 1388 Reiner Wittenburg treten nach ihrer Einstellung in gleichem Range und in gleicher Funktion auf wie die ehrenamtlichen Provisoren aus dem Ratsherrenstande (IV 124, 125, 133, 257, 259 und öfter). Wesentlich anders lautet der Vertrag, der im folgenden Jahre zwischen der Marienkirche und Meinard Ponat abgeschlossen wurde (I 502). Dieser wird auf Lebenszeit in die Dienste der Kirche genommen, zahlt an die Provisoren 100 Mark und erhält hierfür und für die Dienste, die er leistet, aus den Einkünften der Kirche ausreichend Verpflegung, Kleidung und sämtliche anderen notwendigen Dinge auf Lebenszeit. Reiner Wittenburg und seine Frau hatten dafür bei ihrer Einstellung sogar 250 Mark zu zahlen (IV 247). Eine genauere Untersuchung dieser und ähnlicher Verträge mit den niederen Kirchenbediensteten (1 161, 256, 310, 502; IV 254 und öfter) könnte sicherlich recht interessante Aufschlüsse über die soziale Stellung dieser Kirchendiener — auch im Verhältnis zu den niederen Geistlichen — ergeben. Eine dritte große Gruppe von Eintragungen, die vor allem in den Jahren von 1366 bis gegen 1400 außerordentlich häufig sind, bilden Bürgschaftserklärungen, die von Stralsunder Bürgern für vom Rat ausgestellte Besitzbescheinigungen in Erbschaftsangelegenheiten abgegeben wurden und für die man im Jahre 1367 ein eigenes, jetzt im Liber memorialis enthaltenes Buch anlegte. Eine solche Eintragung hatte etwa folgenden Wortlaut: „Hermann Specht und Riquin Grammendorf erklären, die Stadt Stralsund schadlos halten zu wollen wegen der hinterlassenen Güter des in Brügge verstorbenen Hennekinus Wulf, die dort durch seinen Bruder Martin Wulf mit Hilfe eines hierüber von der Stadt ausgestellten offenen Briefes in Empfang genommen worden sind, falls ein erneuter Anspruch darauf erhoben wird" (I 421). Es handelt sich hierbei meistens um Geld, Waren und Schiffe, die von außerhalb Stralsunds verstorbenen Schiffern und Kaufleuten in fremden Orten hinterlassen und später von den Erben eingefordert wurden. Als Beleg für die Rechtmäßigkeit ihrer Forderungen stellte die Stadt ihnen Bescheinigungen aus, forderte aber gleichzeitig die Stellung von Bürgen, um später nicht etwa von näher berechtigten Erben haftbar gemacht zu werden. Eine Untersuchung dieser Eintragungen etwa für die 30 Jahre von 1366 bis 1396 ist insofern recht aufschlußreich, als sie zu zeigen vermag, wo vorzugsweise Stralsunder Kaufleute tätig gewesen sind. Da sich diese Eintragungen über einen längeren Zeitraum erstrecken, kann mit der gebotenen Vorsicht wohl
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gesagt werden, daß sie ein Spiegelbild des Stralsunder Handels im letzten Drittel des 14. Jh. bieten, das aus anderen Quellen gewonnene Erkenntnisse bestätigen oder modifizieren könnte. Unter Hinterlassung von Gütern sind in diesen 30 Jahren in Ystad und in Lübeck je 17 Stralsunder gestorben, in Stettin 16. Es folgen Danzig mit 10, Trelleborg, Kopenhagen, Rostock mit je 7, Bergen/Norwegen, Wismar, Stockholm, Sluis/Flandern und Kolberg mit je 6 und Elbing, Greifswald, Somershavn und Brügge mit je 5 Todesfällen. Weitere etwa 50 Orte werden weniger häufig genannt, rund 40 von ihnen nur jeweils einmal. Noch aufschlußreicher scheint eine Zusammenfassung größerer Gebiete zu sein. So sterben auf den dänischen Inseln und in Schonen in dieser Zeit 47 Stralsunder, in Ost- und Westpreußen 25, in Schweden (ohne Schonen, aber einschließlich Gotlands) 23, in Flandern und den Niederlanden 18, in Hinterpommern ohne Stettin 15 und im Baltikum 10, während im Innern Deutschlands zwischen Köln und Frankfurt an der Oder in diesem Zeitraum 18 Stralsunder Güter hinterließen, davon mehr als ein Drittel allein in Westfalen. Daß Vorpommern mit 9 und Mecklenburg (außer Rostock und Wismar) gar nur mit zwei Todesfällen vertreten sind, darf nicht wundern, denn der Weg nach Hause war im Falle einer Erkrankung ja nicht weit. Immerhin fällt auf, daß etwa aus Hamburg nur ein Todesfall in jener ganzen Zeit verzeichnet ist, ebenso aus England und Finnland, während in Jütland zwei Stralsunder den Tod fanden. Leider ist nur selten angegeben, welcher Art die hinterlassenen Güter waren; wahrscheinlich wäre dann das Bild noch interessanter und farbiger geworden. Die vorstehenden Ausführungen erheben in keiner Weise den Anspruch, die Fragen, die bei einer Durchsicht des umfangreichen Quellenmaterials des Liber memorialis auftreten, und die Möglichkeiten, durch sie der Lösung einer Anzahl noch offener Probleme näherzukommen, schon ausgeschöpft zu haben. Es sollte lediglich darauf aufmerksam gemacht werden, daß auch an sich belanglos erscheinende Eintragungen, in ihrer Gesamtheit und in einem größeren Zusammenhang gesehen, geeignet sein können, unser Wissen über das mittelalterliche Stralsund zu erweitern und zu vertiefen. Viele Nachrichten des Liber memorialis betreffen Vorgänge, die grundsätzlich auch in anderen Stadtbüchern beurkundet wurden. Es erhebt sich daher die Frage, in welchem Verhältnis der Liber memorialis zu diesen anderen Stadtbüchern stand. Leider kann sie zur Zeit noch nicht beantwortet werden. Wie bereits erwähnt, ist der Liber im Laufe der Zeit aus mehreren Teilen zusammengewachsen und erst um 1400 zu einem einheitlichen Band zusammengefaßt worden. Von 1366 bzw. 1367 laufen zwei Teile parallel nebeneinander her. Ein grundsätzlicher Unterschied der Eintragungen beider Teile ist nicht zu erkennen, obgleich, wie bereits erwähnt, einzelne Teile mit der Überschrift „Liber debitorum" und „Liber in quo scribuntur fideiussores . . . " Richtlinien für die Eintragungen gaben, die jedoch später durchbrochen wurden. Nur eine genaue Analyse des sachlichen Inhalts beider Teile und ihr Vergleich mit den
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übrigen gleichzeitig geführten Stralsunder Stadtbüchern können auf diese Fragen Antwort geben. Die städtische Angelegenheiten betreffenden Eintragungen sind wohl immer auf Anweisung des Rates oder einzelner seiner Mitglieder vorgenommen worden. Soweit es sich hierbei um Abschriften von Urkunden handelte, die vor allem zu Beginn des 15. Jh. sehr zahlreich sind, geschah dies wohl deshalb, weil kein anderes hierfür bestimmtes Stadt buch geführt wurde. Das trifft auch für andere Notizen zu, falls die Stadt ein Interesse daran hatte, über bestimmte, vielleicht schon länger zurückliegende Vereinbarungen oder Rechtsgeschäfte sichere Unterlagen zur Hand zu haben. Sofern Privatleute dieses Buch benutzten, um Eintragungen vorzunehmen, geschah dies auf freiwilliger Basis; sie erleichterten die Beweisführung für das Bestehen eines Schuldverhältnisses oder einer anderen Verpflichtung, waren aber nicht zwingendes Erfordernis wie etwa bei dem Erwerb von Grundstücken die Eintragungen in das Grundbuch. Gelegentlich im Liber enthaltene Eintragungen über Grundstücksverkäufe und -Verpfändungen sind offenbar deshalb vorgenommen worden, weil im eigentlichen Grundbuch die auf diesen Vorgang bezüglichen Eintragungen nicht aufgefunden werden konnten oder Urkunden darüber verlorengegangen waren; eine Notiz im Liber memorialis bedeutete dann eine vorläufige Sicherung.
DIE STRALSUNDER GERICHTSBÜCHER D E S 16. J A H R H U N D E R T S ALS Q U E L L E ZUR E R F O R S C H U N G D E R WIRTSCHAFTS-, SOZIAL- U N D K U L T U R G E S C H I C H T E * von Herbert Langer
Die Erforschung der späthansischen Wirtschafts- und Sozialverhältnisse hat vor allem das ihr am nächsten liegende Archivmaterial der städtischen Güterund Finanzverwaltung sowie des privaten Waren- und Geldverkehrs zur Grundlage; sie konnte aber zu keiner Zeit auf die Zeugnisse des statuierten und ausgeübten Rechts verzichten. Das gilt in erster Linie für die Frühzeit, in der vorrangig Rechtserhebliches niedergeschrieben wurde. Seit dem 15. Jh. wird die Buchführung der städtischen Verwaltung zusehends umfangreicher und vielgestaltiger. 1 — Der Historiker wählt jenes Archivgut aus, das ihn am raschesten zu seinem Forschungsziel führt. Aber nicht selten tritt der Fall ein, daß die sozialökonomischen Verhältnisse mangels entsprechender Quellen auf Umwegen rekonstruiert werden müssen, z. B. über die im allgemeinen sorgfältig aufbewahrten Dokumente und Akten der Justiz. Die Notwendigkeit, diese Archivalien zu benutzen, ergibt sich in jedem Falle, denn die historische Entwicklung ist trotz aller Vielgliedrigkeit doch immer ein Ganzes. Viele Hansehistoriker waren und sind sich dessen bewußt, daß die Denkmäler der städtischen Gerichtsbarkeit eine Fundgrube für die Wirtschafts- und Sozialforschung darstellen. Wilhelm Ebels Veröffentlichung von etwa 3000 Lübecker Ratsurteilen aus dem 15. und 16. Jh. ist daher nicht nur vom Standpunkt des Rechtshistorikers zu begrüßen.2 Aus der Reihe der jüngeren Arbeiten seien Henryk Samsonowiczs Forschungen zum Danziger Bürgerkapital im 15. Jh. genannt, deren eine Grundlage die Schöffenbücher sind. 3 * Überarbeitete Fassung eines Referates, das auf der Arbeitstagung des Hansischen Geschichtsvereins, Arbeitsgemeinschaft in der DDR, am 9. Oktober 1966 in Wismar gehalten wurde. 1 MEISNER, H. O . , Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, 2., durchgesehene Aufl., Leipzig 1952, S. 20f. 2 Lübecker Ratsurteile, hrsg. v. W . EBEL, Bd. 1: 1421-1500; Bd. 2 : 1501-1525; Bd. 3: 1526-1550, Göttingen, Berlin und Frankfurt 1955, 1956, 1958. 3 Badania nad kapitalem mieszczaiiskim Gdanska w II polowie XV wieku (Badania z dziejöw rzemiosia i handlu w epoce feudalizmu, Bd. 5) Warszawa 1960, S. 7f., 34ff. und 62 ff. 3
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Auf die Bedeutung, die den Gerichtsbüchern für kultur-, sitten- und sprachgeschichtliche Untersuchungen zukommt, hat bereits Karl Koppmann hingewiesen 4 , und mancher Historiker konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Kriminalgerichtsbücher der Hansestädte, z. B. Rostocks und Revals, für eine Art „Pitaval" früherer Jahrhunderte zu verwenden. Leider wurde dabei nicht selten vergessen, daß eine Vielzahl von Verbrechen gesellschaftlich bedingt war. 5 Daß die hansestädtischen Gerichtsprotokolle und Urteilsbücher Ausgangspunkt für viele rechtsgeschichtliche Abhandlungen, unter anderem von Adolf Stölzel, Hans Planitz und Wilhelm Ebel, geworden sind, ist nur natürlich und auch bekannt.6 Auf rechtshistorische Probleme kann im folgenden nicht eingegangen werden. Es soll hier erneut die Aufmerksamkeit auf die Frage gelenkt werden, inwieweit es möglich ist, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Tatsachen und Erkennt< KOPPMANN, K., Der Rostocker Urkundenfund vom 6. Mai 1899, Rostock 1900, S. 20 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock, hrsg. vom Verein für Rostocks Altertümer [im folgenden zitiert: Rostocker Beiträge], Bd. 3, Heft 1). Vgl. auch das älteste Urteilsbuch des holsteinischen Vierstädtegerichts 1497—1574, hrsg. v. W. Gundlach, Kiel 1925, S. 43 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins). 5 Das trifft u. a. für einige Aufsätze in den Rostocker Beiträgen zu: KRAUSE, L., Zur Geschichte des Gaunerwesens und Verbrecheraberglaubens in Norddeutschland im 16. Jahrhundert, Bd. 6, 1912, S. 71 ff.; DERS., Zur Geschichte des Finckeschen Armleuchters in der Petrikirche, Bd. 5, Heft 3, 1911, S. 347ff.; HOFMEISTER, A., Der Fall Castritius, Bd. 1, Heft 2, 1892, S. 65ff.; KOPPMANN, K., Die angebliche Vergiftung Joachim Slüters, Bd. 1, Heft 1, 1891, S. 37 ff. Neuerdings ist ein Beitrag erschienen, der im Gegensatz dazu die soziale Bedingtheit der „Straftaten" gebührend hervorhebt: HAALCK, J., Rostocker Hexenprozesse des 16. Jahrhunderts, in: Rostocker Beiträge, Bd. 1, 1966, S. 79ff. — Für andere Städte vgl. u. a.: NOTTBECK, E. V., Die alte Kriminalchronik Revals, Reval 1884; H A M P E , TH., Die Nürnberger Malefizbücher als Quellen der reichsstädtischen Sittengeschichte vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, in: Neujahrsblätter, hrsg. von der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Bd. 17, Bamberg 1927. 6 STÖLZEL, A., Die Entwicklung der gelehrten Rechtsprechung, untersucht auf Grund der Akten des Brandenburger Schöppenstuhls, Bd. 1; Der Brandenburger Schöppenstuhl, Berlin 1901; PLANITZ, H., Studien zur Geschichte des deutschen Arrestprozesses, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 34/1913; EBEL, W., Forschungen zur Geschichte des lübischen Rechts (im folgenden zitiert: Forschungen), 1. Teil, Lübeck 1950 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, hrsg. vom Archiv der Hansestadt, Bd. 14.); DERSELBE, Die lübische Rechtsfindung, Urteilsbildung und Zuständigkeit in den lübischen Gerichten des 13.—19. Jh., in: Städtewesen und Bürgertum als geschichtliche Kräfte. Gedächtnisschrift für Fritz Rörig, Lübeck 1953; DERSELBE, Der Rechtszug nach Lübeck, in: Hansische Geschichtsblätter 85/1967. Zur Erforschung des älteren Seerechts im Ostseeraum siehe JANIK, B., Ubersicht über die wichtigsten Probleme der Seerechtsgeschichte in der polnischen wissenschaftlichen Literatur, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald, Jg. 1963, gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, nr. 5/6, S. 597-610.
Stralsunder Gericktsbücher
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nisse aus den protokollarischen Aufzeichnungen der hansestädtischen Justizpraxis zu gewinnen. Das Thema ist auf eine Stadt im Geltungsbereich des lübischen Rechts eingeengt und das 16. J h . aus guten Gründen herausgegriffen. Es scheint, als ob — wie ein Beschluß des Rostocker Rates vom 3. August 1505 beweist — um die Wende vom 15. zum 16. J h . in den wendischen Hansestädten die schriftliche Fixierung aller Gerichtsurteile die notwendige Regel wurde.7 In Stralsund beginnt die Reihe der speziellen „Gerichtsbücher" im letzten Drittel des 15. J h . und setzt sich in den drei folgenden Jahrhunderten fort. Die Archive in Wismar und Rostock bergen Urteils-, Zeuge-, Toten- und Protokollbücher allgemeiner Art, die seit Ende des 15. J h . in großer Zahl und über weite Strecken lückenlos erhalten sind 8 , während in Lübeck und Danzig diese Archivbestände zu Beginn des 19. J h . größtenteils vernichtet wurden.9 Wissenschaftlich bearbeitet sind die Gerichtsbücher vor allem für die Geschichte Lübecks und Rostocks; für Wismar und Stralsund hat die Auswertung erst begonnen.10 Im Stadtarchiv Stralsund stehen aus dem 16. — wie aus keinem anderen — Jahrhundert die drei Hauptarten der Gerichtsbücher zur Verfügung 11 : Die Ratsgerichtsprotokolle von 1558 bis 1603, zehn an der Zahl; die Protokolle der beiden Niedergerichte Alt- und Neustadt, in Zivilsachen acht Bände fast durchlaufend von 1505 bis 1602, in Strafsachen drei Bücher — eines für die Jahre 1475/1476 bzw. 1507 bis 1536, ein zweites Buch für den Zeitraum von 1517 bis 1561, ein drittes aus den Jahren 1536 bis 1572. Das mittlere trägt die einprägsame Bezeichnung „Dat swarte bok". Statuten und Rathswillküren, mitgeteilt von K. KOPPMANN, 1890, S. 73f. (Rostocker Beiträge, Bd. 1, Heft 4). Vgl. auch: Das älteste Urteilsbuch des holsteinischen Vierstädtegerichts, S. 40 f. 8 Vgl. dazu: Rostocker Beiträge, Bd. 3, Heft 4, 1903, S. 72ff. 9 KEYSER, E., Die Gerichtsbücher der Altstadt Danzig, in: Mitteilungen des westpreußischen Geschichtsvereins, Jg. 23, nr. 2, Danzig 1924, S. 31F; RETTTER, R., Verbrechen und Strafen nach altem lübischen Recht. Von der Stadtgründung bis zum revidierten Stadtrecht 1586, in: Hansische Geschichtsblätter 61/1936, S. 51; FRANCKE, O., Das Verfestungsbuch der Stadt Stralsund. Mit einer Einleitung von F. FRENSDORFF, Halle 1875, S. 13 (Hansische Geschichtsquellen, Bd. 1). 10 Die Stralsunder Gerichtsbücher und die Wismarer Zeugebücher hat ausgewertet SCHILDHAUER, J., Soziale, politische und religiöse Auseinandersetzungen in den Hansestädten Stralsund, Rostock und Wismar im ersten Drittel des 16. Jh., Weimar 1959 (Abhandlungen zur Handels- u. Sozialgeschichte, hrsg. im Auftrage des Hansischen Geschichtsvereins, Bd. 2). Gerichtsbücher in Zivilsachen und Kämmereiprotokolle sind für Stralsund verarbeitet in: LANGER, H., Wirtschaft und Politik in Stralsund 1600—1630, phil. Diss. Greifswald 1965 (MS), und: ZOELLNER, K.-P., Studien zur Hansegeschichte der zweiten Hälfte des 16. Jh. unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Stralsund, phil. Diss. Greifswald 1967 (MS). 11 Im Handschriftenverzeichnis unter den Signaturen: HS V l l a 1—9; HS Vllb 1—4; HS V l l c 1 - 4 ; HS V l l d 1 - 8 .
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Schließlich gibt es noch sieben Protokolle des Kämmereigerichts von 1521 bis 1598, mit einer kleinen Lücke für das Jahr 1566. Das ergibt eine Gesamtzahl von 28 Bänden; ein einzelner zählt meist Hunderte von beiderseits beschriebenen Blättern. Ihre Führung oblag dem besoldeten Gerichtsschreiber. Der sachliche Inhalt der Gerichtsbücher entspricht der Gerichtsverfassung des 16. Jh., wie sie in allen wendischen Städten mit örtlichen Abweichungen bestand. Die Stralsunder Gerichtsordnungen von 1592/93 und 1670 lassen eine klare „Arbeitsteilung", eine im ganzen 16. Jh. gültige Behördentrennung, erkennen 12 : Wie seit alters her handhabte der Rat als Ganzes die freiwillige Gerichtsbarkeit bei Auflassungen, Erbschaften, Testamenten, Vormundschaftssachen und anderem mehr. Außerdem war er Berufungsinstanz in den „von den Untergerichten auf das Haus gescholtenen Sachen". Daher rührt die Bezeichnung des Rates als „Oberstes Gericht". Aus dem einstigen Vogteigericht hatte sich schon zwei Jahrhunderte früher — wie in den anderen wendischen Städten — auch in Stralsund das „Niedergericht" entwickelt. Es wurde hier auch der „Lübische Baum" genannt und existierte zweifach: für die Alt- und für die Neustadt.13 An die Zusammensetzung des alten Vogteigerichts erinnert die bis in die dreißiger Jahre des 16. Jh. übliche Delegierung eines vorsitzführenden Ratsherrn als „Richtevogt" 14 . Danach verschwindet mit der Person auch die Benennung; zu Gericht sitzen zwei vom Rat deputierte „Richteherrn", der Gerichtsschreiber, der Untervogt und der Wachschreiber. Nicht eindeutig kann die Frage nach den Urteilsfindern in den Stralsunder Niedergerichten beantwortet werden. Offenbar war auch hier wie in Lübeck diese Funktion vom „Umstand" zufällig anwesender Bürger auf fest angestellte, rechtskundige „Urteiler" übergegangen.15 Wir Stadtarchiv Stralsund (im folgenden zitiert: StaStr.). HS 276; unter Rep. 1, J 11, 6 die Gerichtsordnung vom 20. März 1593 und vergleichsweise die vom 7. Oktober 1670. l;! Die Gerichtsverfassung wird im Rahmen von Gesamtdarstellungen skizziert bei: FABRICIUS, F . , Der Stadt Stralsund — Verfassung und Verwaltung, Stralsund 1831, S. 71 ff.; BRANDENBURG, A., Geschichte des Magistrats der Stadt Stralsund, Stralsund 1837, S. 20f.; FRITZE, K., Die Hansestadt Stralsund. Die ersten Jahrhunderte ihrer Geschichte, Schwerin 1961, S. 80f. Eine spezielle Abhandlung zur Geschichte der Gerichtsverfassung in Stralsund gibt es nicht. « Zum letztenmal aufgeführt im „Swarten Bok" 1517-1561 (StaStr., HS V I I c 4) im Jahre 1533; 1547 trägt der neue Gerichtsschreiber außer seinem Namen (Petrus Bantkow) nur noch die der beiden „Richter" (Herr Henning Mues und Herr Peter Heygen) ein. (Gerichtsbuch der Neustadt [1530-1551], HS VIIc 1). 15 Zur Gerichtsverfassung Lübecks vgl. FUNK, M., Die Lübischen Gerichte, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Germ. Abt., 26/1905 und 27/1906, insbesondere 26/1905, S. 61; REUTER, R., a. a. O., S. 50; EBEL, W., Forschungen, S. 25ff. Wie aus dem Rostocker Ordelbok des Niedergerichts 1508—1557 hervorgeht, wurden stets zwei erbgesessene Bürger nach dem Urteil gefragt: Stadtarchiv Rostock, o. Sign. (Vgl. auch NOTTBECK, E. v., a. a. O., S. 3f.). 12
Stralmnder
Gerichtsbücher
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erfahren aus dem Ausgaberegister des Stralsunder Niedergerichts, daß im Jahre 1618 40 Mark Sundisch Salarium an die „Rechtsteiler" ausgezahlt wurden.16 Vor den Niedergerichten wurden peinliche und Injuriensachen verhandelt, bewegliche und unbewegliche Pfände verfolgt, inner städtische Arreste eingeklagt und in Schuldsachen unter 50 Gulden entschieden. Das zweite „Untergericht" bildeten die beiden Kämmerer, in deren Ermessen es lag, in folgenden Rechtssachen zu urteilen: bei Schuldforderungen über 50 Gulden; in Konflikten, die mit See- und Gastrecht entschieden werden mußten; bei Konkursen und in Sachen privilegierter Personen. Außerdem urteilten die Kämmerer in Kompanie- und Ämtersachen und übten die städtische Bau- und Hygieneaufsicht aus. Die anderen Untergerichte, das Konsistorium und das Waisengericht, bleiben hier unberücksichtigt, da von ihnen keine Protokolle erhalten sind. Spezielle Verfestungsbücher wurden im 16. Jh. nicht mehr geführt, denn die Zahl der Verfestungen, Urfehden und Stadtverweisungen nahm ständig ab.17 Sie sind in den Niedergerichtsbüchern verzeichnet. Wetten und Bußen finden sich in den Kämmereiregistern. Der sachliche Inhalt der Gerichtsbücher ist also sehr vielfältig; in formaler Hinsicht beschränkten sich die Schreiber in den meisten Fällen auf die Nominierung der Parteien, den kurzen Inhalt der Anklage und das Urteil. Zeugenaussagen sind seltener protokolliert; große Sorgfalt ist bei erheblichen Fällen wie Verfestungen und Pfandverfolgungen auf die Fixierung der Formulare und des Zeremoniells verwandt.18 Die oben skizzierte Gerichtsverfassung weist den Rat als Inhaber der Gerichtshoheit aus; die Bürgerschaft hatte seit langem jeden Einfluß auf die Rechtsprechung verloren.19 So war institutionell und tatsächlich die Möglichkeit gegeben, Recht zu setzen, zu sprechen und zu beugen im Interesse der herrschenden Oberschicht. Aus Macht wurde Recht gebildet, aus Unterworfensein 16
StaStr., HS V l l d 13, Gerichtsbuch 1610/11, dort eingeheftet die Abrechnung des Niedergerichts vom Jahre 1618. 17 Vgl. auch FRANCKE, O., a. a. O., S. 7. Das älteste Stralsunder Stadtbuch (1270-1310), hrsg. v. F. FABRICIUS, Berlin 1872, S. 168FF., enthält ein Verfestungsverzeichnis, nach dem zwischen 1277 und 1310 150 Verfestungen ausgesprochen wurden. Nach den Gerichtsbüchern der Alt- und Neustadt (StaStr., HS VIIc 1—3) gab es von 1537—1573 nur noch 14 Verfestungen. 18 Bei einem Vergleich zwischen dem Stralsunder und Revaler Verfestungsformular (dieses abgedruckt bei REUTER, R., a. a. O., S. 69) fällt der fast völlig übereinstimmende Wortl a u t auf. Vgl. a u c h FRANCKE, O., a. a. 0 . , S. 5 0 f . , u n d NOTTBECK, E . V., a. a. O., S. 12f. 19
Vgl. BRANDENBURG, A., a. a. O., S. 1 3 f . , u n d FRITZE, K . , a. a. O., S. 83. — A n der
Struktur des Gerichtswesens änderte auch der Bürgervertrag von 1616 nichts. Als programmatische Forderungen sind im Artikel 1 die Fixierung eines „Gewissen Stadtrechts" nach Lübecker Vorbild (1586), eine Revision der Ober- und Niedergerichtsordnung und eine genaue Bestimmung der Prokuratorentätigkeit enthalten: Der Stadt Stralsund fürnehmste Landes-Herrliche Privilegien, Resolutionen und bestätigte Grundgesetze und Verträge von 1581-1739, Stralsund 1766, S. 49f.
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die im Bürgereid beschworene Gehorsamspflicht gegenüber den ökonomisch und politisch Mächtigen abgeleitet. Zeitgenossen bezeugen viele Fälle von Rechtswillkür der Ratsherren. Recht aber wurde von den Kritikern dieser Rechtsbeugung als Gerechtigkeit verstanden, und hartnäckig hielt sich das geflügelte Wort von den kleinen Dieben, die gehängt würden, und den großen Dieben, die mit Ehren und Würden ausgestattet seien.20 Der Stralsunder Ratsherr Balthasar Prütze schrieb im Jahre 1614 — von Sorge um die Polgen der „parteiischen Justiz" erfüllt —, es werde „mit den Armen und unbefreundten das Recht gestreckett, die vermugenen aber, zumahlen wan sie befreundt und verschwiegert gewesen, übersehen"21. Auch Bartholomäus Sastrow teilt in seiner Autobiographie zwei Fälle von Unzucht und Totschlag mit, die ungestraft blieben, weil die Täter Angehörige von Ratsfamilien waren.22 Eine nicht unwesentliche Rolle beim Fällen des endgültigen Urteils spielte die Fürbitte einflußreicher Personen, wodurch oft sogar Strafaufhebung erwirkt wurde.23 Die „parteiische Justiz" oder — modern ausgedrückt — Klassenjustiz war eine Tatsache, und die Zeitgenossen waren sich ihrer bewußt. In den Gerichtsprotokollen findet man begreiflicherweise kaum Beispiele dafür.24 Dafür reflektieren die Gerichtsbücher unmittelbar ökonomische Beziehungen, denn, wie Marx sagt, ist „das Rechtsverhältnis . . . ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt"25. Die Richtigkeit dieser These kann an zwei Kategorien von Eintragungen in den Gerichtsbüchern nachgewiesen werden. Einen wichtigen Platz in den Gerichtsprotokollen nehmen die „Erbpfande" ein. Das sind vor allem Wohngebäude, seltener Äcker und Wiesen, deren hypothekarische Schuldenlast sich dem Wert des Objekts nähert: bei Häusern überschreitet die Schuld meist den Schätzwert des Objekts, bei Buden bleibt sie in der Regel darunter. Ein oder mehrere Gläubiger „verfolgen" vor Gericht das schuldbelastete Gebäude als „Erbpfand". Falls der Schuldner nach dreiVgl. Johann Berckmanns Stralsundische Chronik (im folgenden zitiert: Strals. Chron.) hrsg. v. MOHNTKE/ZOBER, 1. Teil, Stralsund 1833, S. 51. 21 StaStr. HS 2721, fol. 123, Ungefehrliche Reformation oder Regimentsordnung. Den großen Rath, das Gericht und die Stadt empter anbelangend. Mit angehengten gründen und motiven. Nach Wunsch geschrieben durch B(althasar) P(rütze), Zeitt des Unwesens in seiner Verstrickung, Anno 1614. 22 Bartholomäi Sastrowen Herkommen, Geburt und Lauff seines gantzen Lebens (im folgenden zitiert: Sastrow), hrsg. v. G. CH. F. MOHNTKE, 1. Teil, Greifswald 1823, S. 2 3 f. und 68f. 20
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Vgl. auch NOTTBECK, E. V., a. a. 0 . , S. 16.
Ganz eindeutig ist diesbezüglich ein im Rostocker Dodenbok 1586/87 (Stadtarchiv Rostock) enthaltener Fall von Kindesmord, verhandelt am 27. Oktober 1586. Die Magd Anna Vihre war gezwungen worden, ihrem Dienstherrn Johann von Viereck (Weitenhagen) zu Willen zu sein. Das Kind gebar sie im Stall und erwürgte es. Die Magd wurde daraufhin „im Sack ins Wasser gestoßen"; Viereck ging straffrei aus. 25 MARX, K., Das Kapital, Bd. 1, in: MARX/ENGELS, Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 99.
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Stralsunder Oerichtsbücher
maliger öffentlicher Aufforderung die Gläubiger nicht zufriedenstellt, geht das „Erbe" an die Kreditoren über. Dieser Vorgang wird symbolisch sichtbar gemacht, indem öffentlich in Gegenwart des Gerichts die Gläubiger den Türring des Hauses mit den Händen berühren und eingewiesen werden. Der bisherige Eigentümer durfte in vielen Fällen nur das Nötigste mitnehmen — wie im Jahre 1532 eine Witwe, von der es heißt, sie sei aus ihrer Bude „myt ere dageliken klederen und kynde" davongegangen.26 Den Niedergerichtsbüchern der Neustadt zufolge verfielen in der Zeit von 1530 bis 1595, also in einem reichlichen Menschenalter, 98 Häuser und 64 Buden dem Konkurs; 27 das sind ein Sechstel aller Wohngebäude und ein Viertel aller Häuser der Neustadt. 28 Der Hauptteil entfällt auf zwei Straßen: die Franken- und Langenstraße.29 Dort lagen außergewöhnlich viel Werkstätten, Bäckereien, Brauhäuser, auch eine Salpetersiederei. Das zinstragende Kapital konzentrierte sich demnach auf Häuser, in denen produziert wurde, und weniger auf Wohnstätten. Als Gläubiger finden wir in erster Linie reiche Privatpersonen, Kirchen und Hospitäler, in geringerer Anzahl auch Handwerksämter bzw. ihre Alterleute und sogar Träger. Die Verschuldung erweist sich als eine Massenerscheinung; es bestand eine dichte finanzielle Verflechtung unter und zwischen den Mittel- und Oberschichten der Stadt. Kraft ökonomischer Gesetze der spätfeudalen Warenproduktion lösten sich sozialer Aufstieg und Niedergang in ständiger Bewegung ab, ohne daß dadurch am Grundtypus der Eigentumsverhältnisse etwas geändert wurde. Bei niedrigeren Schuldverpflichtungen war die Verpfändung von beweglichen Gütern weit verbreitet. Am häufigsten wurden Kleidungsstücke als Pfand gesetzt; es folgen Hausrat, Silberpfande (meist Spangen, Knöpfe, Gürtel, seltener Geschirr oder Schmuck) und ganz vereinzelt Werkzeuge, Waffen und Viktualien. Aus dieser Zusammensetzung ist die soziale Stellung der Verpfänder unschwer zu erkennen: Es handelt sich meist um Angehörige der Mittel- und Unterschichten; ein Großteil davon sind Frauen. Die Eintragungen über nicht einlösbare Pfände sind noch in anderer Hinsicht aufschlußreich: Sie gestatten Einblicke in die Wohn- und Lebensbedingungen, 26 27 28
29
StaStr., HS VIIc 1, Gerichtsbuch der Neustadt 1530-1551. StaStr., HS c 1 - 3 . Nach einem Steuerregister vom Oktober 1627 gab es in den beiden Quartieren der Neustadt: St. Jacobi
St. Marien-Quartier
Häuser Buden
148 225
203 410
351 635
Summe
373
613
986
Summe
(StaStr., D 969). In der Zeit von 1530—1595 wurden von 57 Häusern der Frankenstraße 30 und von 83 Häusern der Langenstraße 22 als „Erbpfande" verfolgt.
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in die Mode und den bescheidenen Luxus der Verpfänder. Von größtem Interesse ist zum Beispiel das Inventarverzeichnis einer Bude, die von einer Witwe wegen Verschuldung im Jahre 1549 verlassen worden war. 30 Jedes Stück der Einrichtung, Wäsche, Kleidung und Arbeitsgeräte, auch das Kinderspielzeug, sind aufgeführt. Das Inventar verrät, daß die einstige Besitzerin gewaschene Rohwolle verarbeitete — offenbar im Auftrage eines Tuchmachers. Der kulturund sprachgeschichtliche Wert solcher Pfand- und Inventarverzeichnisse ist offensichtlich. Die Untersuchung der Eintragungen über Erb- und bewegliche Pfände nach ihrer Häufigkeit führt zu der Feststellung, daß sie von Buch zu Buch zahlreicher werden, die Erbpfande vervielfachen sich sogar: Zeitraum
1530—49 1551-68 1569-95
Zahl
Erbpfande 10 0,5 40 2,2 112 4,1 162
1530-49 1551-68 1569-81
jährlicher Durchschnitt
2,5
Bewegliche Pfände 85 4,2 118 6,5 100 7,7 303
6,0
Ob die Gerichtsbücher der Realität entsprechen oder ob sich in der Vermehrung der Eintragungen ein „Fortschreiten der öffentlichen Gewalt" gegenüber der privaten Rechtsübung ausgedrückt hat, kann nicht mit Sicherheit entschieden werden. Einen Hinweis enthält die Gerichtsordnung von 1593, die ausdrücklich verbietet, finanzielle Ansprüche durch außergerichtliche Beschlagnahme zu erledigen.31 Noch Ende des 16. Jh. gingen demnach nicht alle Konflikte aus Schuldrecht über die Gerichte und durch ihre Protokolle. Diese registrieren Minimalzahlen und zeigen — wie es scheint — die Tendenzen der Entwicklung an: die Zunahme der Eigentumsveränderungen infolge Verschuldung und materieller Schwierigkeiten und die Vermehrung der Besitzlosenzahl. Es ist hier nicht möglich, sich ausführlich mit den Gerichtsprotokollen der Kämmerei zu beschäftigen. Ihr Inhalt ist auch ohne tiefere Analyse verwertbar. Sie bergen eine reiche Fülle von Eintragungen zur Handels- und Produktionsgeschichte, die es unter anderem ermöglichen, Formen, Richtungen, Objekte 30 StaStr., H S VII c 1. 31 StaStr., Rep. 1, J. 11, 6, Kap. XI.
Stralsunder Gerichtsbücher
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und Wege des Handels und der Schiffahrt zu rekonstruieren. Hier wie sonst kaum finden sich anschauliche Belege zur schweren und gefahrvollen Arbeit der Schiffer sowie für ihr eigenes Gewinnstreben. Seeleute treten aus der Anonymität heraus, denn sie werden häufig als Zeugen vernommen, wenn sich Schiffer einerseits und Befrachter bzw. Reeder andererseits vor den Kämmerern gegenüberstehen. Alter und Herkunft der zeugenden Seeleute sind häufig notiert. 32 Bei Lohnstreitigkeiten der Seeleute mit den Schiffern erfährt man die tatsächlich gezahlte Heuer. 33 Ein großer Teil der Prozesse vor der Kämmerei wurde geführt, um die Umschlagsgeschwindigkeit des im Handel steckenden Kapitals zu beschleunigen. Der Kaufmann drängte auf Einhaltung der geltenden oder vereinbarten Lieferfristen, auf beste Qualität, auf raschen Absatz der Ware und prompte Abrechnung, stieß jedoch oft auf das Unvermögen oder die mangelnde Bereitschaft des Geschäftspartners, der seinerseits eigene Interessen wahrzunehmen suchte. Betrug war nicht selten. So hatte der Ückermünder Kaufmann Ciriacus Ulrich von einem Stralsunder 350 Gulden Vorauszahlung auf zu liefernden Roggen erhalten, kam jedoch seiner Verpflichtung nicht nach. Als der Stralsunder am 18. November 1579 Klage vor den Kämmerern erhob, stellte sich heraus, daß Ulrich Haus und Hof seinem Stiefsohn und das Schiff seiner Frau vermacht hatte, um eine Arrestierung dieser Güter zu verhindern. 34 Schuldner wurden von ihren Gläubigern manchmal hartnäckig über Jahre verfolgt, wie etwa ein Stettiner von einem Stralsunder über Königsberg, Wismar und Marstrand bis nach Stralsund; hier gelang es endlich, den Schuldner vor Gericht zu ziehen. 35 Die häufig gerichtlich angemeldeten Schadenersatzansprüche von Schiffern, Reedern und Befrachtern gestatten es, die Gefahrenpunkte der Seefahrt festzustellen. Im Verlaufe des 16. Jh. waren das die Spanienfahrt, die Reisen nach Narva, Reval und Elfsborg. 36 Da die für Stralsund erstrangige Bergenfahrt Überhaupt nicht auftaucht, ist klar, daß aus den Kämmereiprotokollen keine sicheren Schlußfolgerungen hinsichtlich der Hauptlinien des Handels und der Seeschiffahrt gezogen werden können. 32
Herausgegriffen sei hier der Streit zwischen den Befrachtern von Paul Orlings Schiff, Claus Höver und Andres Vischer. Als Zeugen werden am 17. Februar 1598 vernommen: ein Kaufmann, 200 Taler „reich", 33 Jahre; ein Bootsmann, hat „teglickes brodt", 23 Jahre; eine Magd, 20 Jahre (StaStr., HS V l l a 9, fol. 279ff. und 282). 33 Für eine Fahrt Stralsund—Stockholm—Danzig—Stralsund wurde im Jahre 1585 folgende Heuer gezahlt: Steuermann 18 Mark Sund. Koch 3,5 Mark Sund. 2 Bootsleute je 6 „ „ Putker 3 „ „ (StaStr., H S V I I a 7 ) . 34 StaStr., H S V l l a 6, fol. 282f. 35 Ebenda, fol. 325 f. 36 Spanien: StaStr., HS V l l a 7, fol. 12f. (1585); HS V l l a 9, fol. 5 (1595); Narva: H S V l l a 7, fol. 66f.; Elfsborg: HS V l l a 6, fol. 378.
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Die Protokolle der Kämmerei enthalten außerdem die hinlänglich bekannten subtilen und langwierigen Streitigkeiten innerzünftlerischer und zwischenzünftlerischer Natur, die sich aus den Monopolbestrebungen der Handwerksund kleinhändlerischen Ämter ergaben. Darüber soll hier nicht gehandelt werden. Vielmehr ist aufmerksam zu machen auf bestimmte Entscheidungen der Kämmerer, die die Stellung des Rates und der kaufmännischen Oberschicht gegenüber den Ämtern illustrieren. In einigen Fällen ergriffen die Kämmerer Partei im Interesse von Gesellen, denen die Alterleute und Meister eines Amts mit allen Mitteln den Weg zur Meisterstellung verbauen wollten.37 Günstige Entscheidungen fanden auch Meisterwitwen, die einen zähen Existenzkampf gegen die übrigen Meister des betreffenden Amtes führten. So wurde der Witwe eines Garbraters im Jahre 1598 gestattet, den Betrieb mit Knechten weiterzuführen.38 Kannegießer- und Goldschmiedewitwen durften laut Urteil der Kämmerer zwar das Handwerk ihrer verstorbenen Männer nicht ausüben, aber der Handel mit Zinn bzw. Altsilber wurde ihnen gestattet. 39 Entscheidungen solcher Art weisen auf ein Phänomen der spätmittelalterlichen Städtegesellschaft hin — die Überlagerung und Kompliziertheit der sozialen und ökonomischen Interessen. An den genannten Beispielen zeigt sich, daß der Rat zwar keine prinzipiell zunftfeindliche Wirtschaftspolitik trieb, aber die schlimmsten Auswirkungen der zünftlerischen Monopolisierung und Verknöcherung einzudämmen suchte. Er kam damit objektiv den Interessen der Konsumenten entgegen, zu denen in der Hauptsache die nichtproduktiven Teile der Bevölkerung beziehungsweise die Lohnempfänger gehörten. Wenn von einem politischen Gegensatz zwischen Besitzenden und Besitzlosen gesprochen wird, dann sollte nicht vergessen werden, daß die herrschende Oberschicht den besitzlosen Teilen der Bevölkerung geringfügige soziale Vorteile gab, ohne daß daraus ein „Ausgleich" der sozialen Gegensätze zwischen Oberund Unterschicht wurde. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, welche Fundgrube die Kämmereiprotokolle für die Preis- und Lohngeschichte, die Bauentwicklung und die damals herrschenden hygienischen Verhältnisse darstellen. Hinweise zur Kulturund Sittengeschichte sind nicht selten. Was sonst nirgends ausgesprochen wurde, offenbart sich im Rechtsstreit der Parteien — etwa in der Klage des Jürgen Schepeler gegen den Stadtarzt Peter Rudolph am 8. Mai 1585: Der Kläger beschuldigt den Arzt, er habe ihm eine Arznei verordnet, von der ihm übel geworden sei. Meister Rudolph wehrt sich mit der Behauptung, der Kläger sei „mit dem Frantzosen behafft". 40 So im Prozeß des Gesellen Melchior Radelop gegen die Alterleute der Goldschmiede am 6. November 1576 (StaStr., HS Vlla 6, fol. 113f.) und im Streit des Gesellen Daniel Quineske gegen die Alterleute des Glaseramts am 15. 5.1579, (ebenda, fol. 237f.) 38 StaStr., HS Vlla 9, fol. 360 (1598). 39 StaStr., HS Vlle 2, fol. 82f. und 90; HS Vlla 7, fol. 298ff. (1582 und 1590). «> StaStr., HS Vlle 2, fol. 297. 37
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In der dritten Gruppe der Gerichtsprotokolle, den „schwarzen" oder Kriminalgeriehtsbüchern, widerspiegelt sich eine der dunkelsten Seiten des Lebens in den mittelalterlichen Städten. Das Verbrechen war ein integrierender Bestandteil der spätfeudalen Gesellschaft und zugleich ein unlösbares Problem wie Krieg, Hungersnot und Epidemien. Damit ist nicht gesagt, daß es als natürlich oder gewohnheitsmäßig und alltäglich empfunden wurde. Auf die Zeitgenossen des 16. Jh. machten die als Verbrechen aufgefaßten Handlungen und oft genug auch die Verbrecher einen starken Eindruck. In den Chroniken nehmen sie einen ebenso wichtigen Platz ein wie bedeutende politische Ereignisse und Persönlichkeiten. Die chronikalischen Schriften aus dem 16. Jh. in Stralsund, die Berckmannsche Chronik und die Memorialbücher der Ratssekretäre Lindemann, Andrae und Vahl sowie des Untervogts Gerhard Hannemann, aber auch Sastrows Autobiographie, sind insofern eine Art Gegenstück zu den Strafrechtsbüchern, als hier entweder nahezu vollständig oder in den wichtigsten Fällen die Verbrechen aufgeführt sind.41 Schillers Worte scheinen zeitlose Gültigkeit zu haben: „In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen."42 Es ist in der Tat nicht leicht, die Strafrechtsprotokolle ohne innere Bewegung zu analysieren. Zwischen 1536 und 1572 — für diese 37 Jahre konnten Gesamtzahlen für die Stadt ermittelt werden — sind gerichtsnotorisch geworden: 145 Fälle von Mord und Totschlag, 4 Kindesmorde, 1 Vatermord, 12 Selbstmorde, 40 Diebe mit zuweilen Dutzenden von Diebstählen, 5 Brandstiftungen, 5 Einbrüche, viermal Raub und Plünderung, dreimal See- und zweimal Kirchenraub, je zwei Fälle von Aufruhr und Falschmünzerei, siebenmal Zauberei, 3 Fälle von Betrug und 19 Sittlichkeitsdelikte (Ehebruch, Vergewaltigung, Unzucht, Bigamie, Sodomie und anderes). Jährlich wurden im Durchschnitt sieben Vergehen der genannten Art registriert bzw. verhandelt, davon 4 Fälle von Mord und Totschlag, zwischen denen die damalige Rechtsauffassung im Wesen und Strafmaß kaum Unterschiede machte.43 Sie zogen mit wenigen Ausnahmen die Todesstrafe nach sich, ebenso die meisten Eigentums- und schweren Sittlichkeitsdelikte.44 Freiheits41
42
Die Stralsunder Memorialbücher Joachim Lindemanns und Gerhard Hannemanns (1531-1611), in: Strals. Chron., 2. Teil, Stralsund 1843. Sastrow, Teil 1, S. 80f., 81 ff., 123f. und 195ff. Für Rostock vgl. die Chronik des Buchbinders Dietrich vam Lohe (1529—1583), hrsg. v. E. DRAGENDORFF in: Rostocker Beiträge, Bd. 17, Rostock 1931, in der seit den sechziger Jahren (S. 17 ff.) auch Kriminalfälle aufgeführt sind. Dieser Chronist berichtet auch als erster von der Anatomisierung der Leiche eines Stralsunder Verbrechers am 12. November 1578, S. 44. (Für Nürnberg vgl. H A M P E , TH., a. a. O., S. 3ff.) Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: Kriminalerzählungen der Weltliteratur, Weimar 1953, S. 42.
« REUTER, R . , a. a. O., S. 73. 44
Die Stralsunder Gerichtsbücher bestätigen diesbezüglich voll die Forschungsergebnisse Rolf Reuters.
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entzug gab es im Strafregister nicht. Die Zahlen bestätigen bereits Bekanntes: Die Kriminalität war, gemessen an heutigen Verhältnissen, außerordentlich verbreitet. Dabei sind die noch zahlreicheren Fälle von Körper- und Ehrverletzung nicht mitgerechnet. Lohnend ist die Untersuchung der Strafrechtsbücher nach sozialen Gesichtspunkten. Als Delinquenten erscheinen meist Knechte, Gesellen, Schiffsvolk (darunter häufig Dänen) und Landsknechte. Nur vereinzelt kommen Handwerksmeister, Händler und Adlige vor. Das entspricht etwa den Zahlen Verhältnissen der Sozialstruktur.45 Die jugendlichen Verbrecher gehörten ausnahmslos den ärmsten Schichten an.46 Die Geschädigten stammen ebenfalls im wesentlichen aus den Mittel- und Unterschichten. Nur selten wird Eigentum, Leib und Leben eines Ratsherrn, wohlhabenden Bürgers oder Adligen angegriffen, da sie mit dem Reichtum auch über die Mittel verfügten, diesen zu schützen und zu sichern. Am meisten bestohlen und betrogen wurden Bauern, Kleinhändler, Krüger, Handwerker und Kaufleute (falls sie ihre Ware auf den Hafenbrücken deponierten), aber nicht selten auch Mägde und Knechte. Als Abnehmer von Diebesgut oder ausgemachte Hehler finden wir mit wenigen Ausnahmen ebenso Angehörige der Unterschichten, da die Preise für gestohlene Güter sehr niedrig waren. Hier und da nutzten auch Goldschmiede, Gießer, Schuster, Gerber und Bauern die Situation auf diesem illegalen Markt aus, um billig einzukaufen.47 So vermitteln uns die Kriminalprotokolle ein Bild, in dem als Urheber, Geschädigte und zuweilen auch als Nutznießer der Straftaten die an Eigentum und Recht benachteiligten Stadtbewohner erscheinen. Das entspricht sicher der damals gegebenen Realität, aber ist auch ein Ausdruck der herrschenden Auffassung über diese Realität, nach der alles Böse und Gefährliche von unten her erwartet wurde. Es darf indessen nicht außer acht gelassen werden, daß ein Teil der Verbrechen im Wesen nichts anderes als der Ausdruck des Protestes gegen die bestehenden Verhältnisse war. Einige der Delinquenten hatten nachweislich vergebens einen sinnvollen Platz in der Gesellschaft gesucht, und bei vielen entstand früh eine parasitäre Lebensauffassung, wie sie in der feudalen Gesellschaft auch der herrschenden Schicht eigen war. So gesehen erklären sich Verbrechen zwar aus verschiedenen individuellen Motiven, aber auch aus 45
46
Zu ähnlichen Feststellungen kommen auch KRAUSE, L., a. a. O., S. 76f. und HAALCK, J., a. a. O., S. 87. Bei einigen jugendlichen Dieben ist diese Tatsache ausdrücklich vermerkt: Hans Munstermann, 16 oder 17 Jahre (1563); Chim Everth, 11 Jahre (1565); Joachim Steffen, 13 Jahre (1565); Chim Wale, 20 Jahre (1565). StaStr., HS Vlla 1. (Vgl. auch KRAUSE, L . , a . a . O . , S. 8 6 u n d 8 8 ) .
47
So verkaufte der Dieb Hinrich Schulte im Jahre 1553 Grapen, Kannen und Fäßchen an Bäuerinnen und Grapengießer; Hans Hansen, ein aus Kopenhagen stammender Dieb, fand in einem Rostocker Goldschmied den Abnehmer für einen gestohlenen Goldring (StaStr., HS Vlla 1).
Stralaunder Gerichtsbücher
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den Gesellschaftszuständen. Damals allerdings waren sich weder die Täter noch die Richter der gesellschaftlichen Bedingtheit des Vergehens bewußt. Nur in wenigen Fällen wurde Kinderreichtum als mildernder Umstand angesehen; aber nicht bei der Beurteilung der Straftat selbst, sondern bei der Festsetzung des Strafmaßes; denn Waisenkinder stellten eine nicht unerhebliche Belastung der städtischen Finanzen dar, zumal die „Armut" in Stadt und Land im 16. Jh. erheblich an Masse zugenommen hatte. 48 Unser Standpunkt zum Verbrechen in jener Klassengesellschaft wird geprägt vom Urteil über diese Gesellschaft, über ihre Umstände und herrschenden Anschauungen. Wir können nicht für die Richter Partei nehmen, entschuldigen aber auch nicht die Verbrechen; denn diese trafen meist Unschuldige, die mit dem gesellschaftlich bedingten Konflikt des Täters nichts zu tun hatten. Sowohl Täter als auch Betroffener waren direkt oder indirekt ein Produkt beziehungsweise das Opfer der herrschenden Gesellschaftszustände. Ganz unbeachtet blieb bisher eine Gruppe von Eintragungen, die in den Kriminalgerichtsbüchern als „Unrath" aufgeführt sind, was so viel wie Unfall oder Unglück bedeutet. Da die Niedergerichte die Leichenschau vornahmen und der Stadtarzt die Todesursache festzustellen hatte, sind die meisten Fälle dieser Art in den „schwarzen Büchern" notiert, ausgenommen natürlich die Opfer von Epidemien, wie zum Beispiel in den Jahren 1549 und 1580.49 Zwischen 1536 und 1572 gab es 70 Unfälle bzw. Unglücke; 24 tote Körper wurden aufgefunden, bei denen natürlicher Tod angenommen wurde. Das Gericht entschied meist nicht auf Selbstmord, weil dieser als schimpfliches Verbrechen galt und der Tote auf einem Abfallplatz, dem „Woterick", verscharrt wurde. Aus den Gerichtsbüchern für Kriminalsachen ist zu entnehmen, daß Lohnarbeit in bestimmten Berufen eine ständige Lebensgefahr bedeutete. Dies gilt in erster Linie für die Seeleute; sie stellen die Hauptmasse der tödlich Verunglückten. Ganze Bootsbesatzungen wurden tot geborgen. Ein großer Teil der bei Nacht und im Hafen oder auf den Schiffen geschehenen Unfälle war auf Trunkenheit zurückzuführen. Ungewöhnlich oft ereigneten sich Eiseinbrüche von Kindern und Erwachsenen sowie Abstürze von Dienstboten und Arbeitsleuten durch die Bodenluken. Es gibt einige besonders erschütternde Unfallarten mit tödlichem Ausgang: zum Beispiel stürzten Brauerknechte ins kochende Wasser und ein Mühlenknecht ins Räderwerk der Mühle.50 Über den Bauzustand einzelner Wohngebäude unterrichtet ein Fall: Im Jahre 1569 (am 22. Juli notiert) stürzte die Wand einer hinterm St.-Jakobs-Chor gelegenen /|H
Herausgegriffen sei hier das Einbruchsdelikt der Eheleute Berwald, das im Jahre 1551 verhandelt wurde. Die Täter wurden, da vier unmündige Kinder vorhanden waren, nicht mit der üblichen Todesstrafe belegt, sondern aus der Stadt gewiesen (StaStr., HS VIIe 4). w Strals. Chron., i. Teil, S. 118f.; 2. Teil, S. 58. Für 1580 werden 2100 Pestopfer genannt. 50 Ungewöhnlich zahlreich (38) waren die Hinrichtungen und Unfälle im Jahre 1563 (StaStr., HS VIIa 1; Strals. Chron., 2. Teil, S. 161). - Zur „Leichenschau" vgl. N O T T BECK, E . v . , a. a. O . , S. 2 9 .
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H . LANGER
Bude ein, durchschlug den Fußboden und begrub eine vierköpfige Familie, die im Keller wohnte.51 Sicher wäre es falsch, aus diesen Beispielen auf ein ganz unerträgliches Elendsdasein der Unterschichten zu schließen, aber sie müssen im Zusammenhang mit der unsicheren materiellen Lage, der gedrückten sozialen und politischen Stellung dieser Schichten gesehen werden und runden das Bild ab. Es hat sich gezeigt, daß die Gerichtsbücher, die ihrem Charakter nach vornehmlich den Akten zuzurechnen sind, keineswegs spezieller und abseitiger Natur sind; sie stellen einen integrierenden Bestandteil der allgemeinen Forschungsgrundlagen des Hansehistorikers dar und bedürfen seiner größeren Aufmerksamkeit. Im Rahmen dieses Beitrages konnte der Aussagewert der besprochenen Quellenart nur begrenzt und exemplarisch eingeschätzt werden. Dabei lag das Schwergewicht auf dem zivilrechtlichen Material, das bisher zwar weniger beachtet wurde, aber den Hauptbestandteil des Lübischen Rechts und der Rechtsprechung in den Städten dieses Rechtskreises bildet. Neben Erb- und Familienrecht sind Vermögens-, Schuld- und Handelsrecht unmittelbar mit den entscheidenden Lebenssphären der Stadtbewohner verbunden — mit der materiellen Produktion, dem Warenaustausch sowie den Produktions- und Eigentumsverhältnissen. Hier knüpft sich auch die engste Beziehung zu der benachbarten Quellengruppe: den spätmittelalterlichen Stadtbüchern, die den Gerichtsprotokollen zeitlich vorangehen und im 16. J h . spezifiziert neben ihnen herlaufen.52 Die im Beitrag vorherrschende Blickrichtung auf die Mittel- und Unterschichten der Stadtbevölkerung ist durch den Inhalt der Gerichtsbücher bedingt. Gerade in dieser Eigenart liegt ein besonderes Wertmoment, wenngleich dadurch auch die Gefahr der optischen Täuschung zuungunsten dieser Bevölkerungsschichten heraufbeschworen wird. Deshalb können die Gerichtsbücher niemals alleinige Grundlage einer wissenschaftlichen Darstellung sein. Aus ihnen läßt sich auch kaum statistisches Material für die Wirtschaftsgeschichte entnehmen. Um aber ein der Geschichte der Hansestädte und der Gesamthanse gemäßes Ganzheitsbild zu schaffen — dazu bedarf es unbedingt der aufmerksamen Durchsicht und Verwertung der Gerichtsprotokolle. M StaStr., HS Y l l a 1. Der Stralsunder Liber memorialis, Teil 1, 1320—1410, bearb. v. H.-D. SCHROEDER, Schwerin 1964 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Stralsund, hrsg. v. H. EWE, Bd. 5/1), enthält noch zahlreiche Ratsurteile in Zivilsachen: Einleitung, S. 13.
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DIE POLOZKER URKUNDEN AUS DEM E H E M A L I G E N STADTARCHIV R I G A A L S Q U E L L E ZUR GESCHICHTE D E R RUSSISCH-HANSISCHEN BEZIEHUNGEN AM E N D E D E S 15. J A H R H U N D E R T S von A. L. Choroschkewitsch
Von den wenigen russischen Quellen zur Geschichte der russisch-hansischen Beziehungen sind die Polozker Urkunden (im heutigen Zentralen Historischen Archiv der Lettischen SSR) bisher wenig untersucht worden. Die Bestände des Rigaer Stadtarchivs sind neben dem ehemaligen Revaler (Talliner) Archiv eine der wichtigsten Aufbewahrungsstätten für Urkunden, die die Außenbeziehungen der altrussischen Städte Nowgorod, Pskow, Smolensk, Polozk und Witebsk betreffen.1 Dies ist auch verständlich. Riga war das Verwaltungszentrum der livländischen Städte, die ihrerseits zu dem um die Wende des 13. zum 14. J h . entstandenen Hansebund gehörten. Nach Riga reisten die russischen Boten zu den Verhandlungen mit den livländischen Städten; an den Stadtrat Rigas wurden amtliche Botschaften der russischen Stadtbehörden gerichtet. Im Archiv des Rigaer Stadtrates sind auch russische Briefe erhalten geblieben, die in einem Zeitraum von anderthalb Jahrhunderten veröffentlicht worden sind. Jedoch ist bis jetzt die Möglichkeit neuer Funde russischer Urkunden, die aus Nowgorod stammen, nicht ausgeschlossen.2 1
Index corporis historico-diplomatici Livoniae, Estoniae, Curoniae, hrsg. v. C. E. Bd. 1 und 2, Riga und Dorpat 1833/1835; Liv-, Est- und Curländisches Urkundenbuch (im folgenden zitiert: LECUB), Abt. 1, Bd. 1 - 1 2 , Abt. 2, Bd. 1 - 3 , hrsg. v. F . G . v. B U N G E , P H . SCHWABTZ u.a., Riga, Reval und Moskau 1855/1905; rpaMOTLi, Kacajon^necfl AO CHomeHHÜ CeBepo-3ananHoä POCCHH C Pnroio H raHaeücKHMH roponaMH B XII, X I I I H XIV Benax, im Rigaer Archiv gefunden von K. Napierski und hrsg. von der Archäographischen Kommission, St. Petersburg 1857; PyccKO-JiHBOHCKHe aKThi, gesammelt von K. Napierski, hrsg. von der Archäographischen Kommission, St. Petersburg 1868; TpaMOTH BejiHKoro HoBropona H IICKOBa, unter der Redaktion von S. N. WALK, Moskau und Leningrad 1949; CMOjieHCKne rpaMOTH XII—XV BeKOB, vorbereitet zum Druck v. T. A. S U M N I K O W A / W . W . LOPATTN, Moskau 1963. HHHH, B. JL, flBe HEHSAAHHBIE HOBROPOACKHE rpaMOTH X V BeKa, Apxeorpa$mecKHlt eHteroAHHK, 8a 1959 ros, Moskau 1960, S. 333—339; XOPOIHKEBHH, A. JI., Hoßbie HOBropoflCKHe rpaMOTH XIV—XVBB., in: ebenda, aa 1963 ro«, Moskau 1964, S. 264—274; D I E S E L B E , PyccKHe rpaMOTH 60-x—80-x ronoB XV BeKa HB 6. PawcKoro ropoflCKoro apxiiBa, in: ebenda, sa 1965 roR, Moskau 1966, S. 325—341. NAPIERSKY,
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A. L. Choroschkewitsch
Riga spielte für seine nächsten russischen Nachbarn Polozk, Witebsk und Smolensk eine besondere Rolle. Durch verhältnismäßig geringe Entfernung von Riga getrennt (410 sowie 528 und 661 km) und über günstige Verkehrswege auf der Düna verfügend, trieben diese Städte von der frühesten Zeit ihres Bestehens an einen lebhaften Handel mit Riga. Das Hauptzentrum dieses Handels war Polozk. Für dieses war Riga nicht nur das Oberhaupt der livländischen Städte, sondern vor allem auch der nächste und unmittelbare Kontrahent im Handel. Schon in der zweiten Hälfte des 14. J h . beherrschte Riga den Dünahandel. Die Stadt bekam damals die völlige Leitung des Dünaverkehrs in die Hand und monopolisierte den deutschen Dünahandel ganz für sich. 3 Deshalb stand Polozk in einem regen Schriftverkehr mit Riga, ebenso wie Pskow mit Dorpat (Jurjew, heute Tartu) oder Nowgorod mit Reval (Tallin). Natürlich wurde sein Briefwechsel im Gegensatz zum Schriftverkehr Nowgorods mit Riga nicht von amtlichen Themen beherrscht, die sich auf grundsätzliche Fragen des Handels und der Handelsbeziehungen bezogen; im Mittelpunkt stand vielmehr die Behandlung privater Konflikte, die einzelne Bürger betrafen. Gerade dieser besondere Charakter der Polozker Urkunden dürfte der Grund dafür sein, daß sie bisher wenig beachtet wurden. So ist es wohl auch zu erklären, daß H. Hildebrandt in seiner Übersicht über die Dokumente des Rigaer Archivs im Jahre 1872 diese als sehr inhaltsarm bezeichnete. 4 Einer solchen Einschätzung kann kaum zugestimmt werden.5 Wie dem auch sei — das unterschiedliche Interesse der Gelehrten für die Nowgoroder, Pskower und Polozker Urkunden fällt auf. Während die Nowgoroder, Pskower und die außerordentlich dürftigen Smolensker Urkunden des Rigaer Archivs bereits mehrere Male verlegt und neuverlegt wurden, ruht ein Teil der Polozker Urkunden, vorwiegend aus dem 15. J h . , bis jetzt im Rigaer Stadtarchiv in nicht geordnetem Zustand. Eine Ausnahme bilden lediglich die ältesten Dokumente. 6 Vollständig wurden die frühen Urkunden aus dem 13. bis 14. J h . und der ersten Hälfte des 15. J h . in die Ausgabe der „Livländischen, estländischen und kurländischen Urkunden" aufgenommen, die von F. G. Bunge begonnen und von H. Hildebrandt, R. Schwarz, L. Arbusow und A. Bulmering 3
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Goetz, L. K., Deutsch-russische Handelsgeschichte des Mittelalters, Lübeck 1922, S. 465—467 und 534. rHJIbflEEPAHH, r . , OTieTU 0 pa3HCKaHHHX npOH3Be,HeHHbIX B pHiKCKHX H peBejIbCKHX apxiißax no Haara pyccKoö Heroprai, St. Petersburg 1877, S. 2 f. Auch Hildebrand selbst widerlegte in einer anderen Arbeit durch konkrete Tatsachen seinen eigenen Standpunkt, s. rmibREbpaha, T., HeMeijKaH K 0 H T 0 p a b üoJiouKe, in: Phjkckhü BecTHHK, vom 12., 14., 18., 20., 27. Juni 1874. naJieorpa(J)HHecKHe chhmkh c pyccKHX rpaMOT, npeHMymecTBeHHO XIV b., vorbereitet von A. Sobolewski/S. Ptaschiczki, St. Petersburg 1903; Obhopckhä, C. Ü./BAPxyAapob, C. T., XpecTOMaraH no HCTopnH pyccKoro H 3 H K a , Moskau 1952; BorcuiiOEOBA, H. fl./TAyBEHBEpr, JI. H., O apeBHepyccKHx naMHTHHKax XIII—XIV bb. Phwckoto ropoRCKoro apxiiBa, in: YieHiie 3anncnM JlaTBHüCKoro roc. yHHBepcHTeTa hm. II. Orywn, Bd. 36, Heft 64, Riga 1960.
Polozker Urkunden
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fortgesetzt wurde und für ihre Zeit eine Musterausgabe war. 7 Jedoch selbst für diesen Zeitabschnitt sind bei weitem nicht alle Urkunden aufgenommen worden; die von den Verfassern für unwichtig gehaltenen wurden nicht herausgegeben. 8 Dabei unterschied sich das Kriterium für die Bestimmung der Wichtigkeit stark von den heute gültigen Kriterien. Einige Urkunden — bei weitem nicht die interessantesten — wurden auf dem 10. Archäologischen Kongreß zu Riga ausgestellt. 9 Im Zusammenhang mit der Einstellung der Veröffentlichung der „Livländischen Urkunden" wurden die Polozker Urkunden für die Zeit von 1471 bis 1495 nicht mehr herausgegeben. Ihnen ist der vorliegende Beitrag gewidmet. Bevor wir jedoch zur Behandlung der Urkunden übergehen, betrachten wir die Literatur über diese. Die Unvollständigkeit der Publikation der Polozker Urkunden ist aufs engste mit der ungenügenden Untersuchung des russisch-hansischen Handels auf der Düna verbunden. Die vorrevolutionären russischen Geschichtsschreiber interessierten sich wenig für die Wirtschaftsgeschichte der Städte Belorußlands. Sie beschäftigten sich mit der Geschichte der städtischen Selbstverwaltung, der Rolle des Magdeburger Rechtes beim Verfall der Städte, mit der Rolle der Juden und ähnlichem. Die politische Geschichte der Städte wurde völlig isoliert von der Geschichte ihrer Wirtschaft einerseits und von der Geschichte des Dorfes andererseits behandelt. 10 Eine besondere Stellung nehmen die Werke von A. Sapupow ein, durch dessen Bemühungen Quellen zur Geschichte des Düna- und Dnjeprgebietes gesammelt wurden. Als erster Historiker und Nichtarchivar wurde er auf die Polozker Urkunden aufmerksam. Mit seiner besten Arbeit „Der Fluß Düna" 11 gibt er ein Musterbeispiel einer komplexen geschichtlichen und geographischen Untersuchung, das auch heutzutage noch durchaus nachahmenswert ist. Die deutsch-baltische Geschichtsschreibung des 19. Jh. schenkte der Geschichte des Polozker Handels wenig Aufmerksamkeit. Erst H. Hildebrandt kam auf dieses Thema mehrmals zurück.12 Der zeitliche und thematische 7 8
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Vgl. Anm. 1. Sehr interessant ist auch die Urkunde nr. 68 aus dein Staatlichen Historischen Archiv der Lettischen SSR, F. 2, Moscovitica-Butenica, Kasten 18. Siehe auch S T A N G , C H . S . , Die altrussische Urkundensprache der Stadt Polozk, Oslo 1939. Katalog der Ausstellung zum 10. Archäologischen Kongreß zu Riga, Riga 1896, S. 176-182. CTYKAJIKH, B . , EenopyccHH H JIiiTBa. OnepKH no HCTOPHH ropcmoB B Eenopyccim Witebsk 1894. CAnvnoB, A., PeKa 3anaflHan ¿jBHHa, Witebsk 1893. H I L D E B R A N D T , H . , Das rigische Schuldbuch (1252—1312), Einleitung, St. Petersburg 1872; D E R S E L B E , Das deutsche Kontor zu Polozk, in: Baltische Monatsschrift, Jg. 1873, S. 342 bis 380. Neue Hansische Studien
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A . L . CHOROSCHKEWITSCH
Rahmen seiner wichtigsten Arbeit „Das deutsche Kontor zu Polozk" aber ist sehr begrenzt. Was die quellenkundliche Basis anbelangt, so hat der Verfasser nicht einmal die Briefe der deutschen Kaufleute vollständig ausgewertet, obwohl er über die Möglichkeit dazu verfügte. Im Zusammenhang damit, daß Briefe deutscher Kaufleute aus Polozk für das letzte Viertel des 15. Jh. fehlen, war Hildebrandt geneigt, in diese Zeit den Beginn des Verfalls nicht nur des deutschen Kontors in Polozk, sondern auch des gesamten Riga-Polozker Handels zu datieren. 13 Der Anfang des 20. Jh. brachte keinen Wandel in der Untersuchung der Polozker Urkunden. Selbst die Ausstellung zum 10. Archäologischen Kongreß konnte kein neues Interesse für sie erwecken. Lediglich L. K. Goetz, der beste Kenner des russischen mittelalterlichen Außenhandels, nahm eine eingehende Untersuchung des deutschen Dünahandels, des Sortiments des deutschen Imports und des russischen Exports vor. 14 Er erkannte auch einige Unterschiede zwischen dem Dünahandel und dem Nowgoroder Handel. Doch wie sein Vorgänger Hildebrandt hat auch Goetz die Polozker Urkunden nicht ausgewertet. Der fast gleichzeitig mit dessen erster Arbeit erschienene Artikel von H. G. Schroeder stützt sich ausschließlich auf deutsches Material.15 Das Fehlen Rigaer Urkunden für das letzte Drittel des 15. Jh. machte es ihm nicht möglich, die Handelsbeziehungen dieses Zeitabschnitts aufzuzeigen. Außerdem ist die Darstellung des Verfassers auch für die vorhergehende Zeit und insbesondere für die sechziger Jahre unvollständig. Er interessierte sich ausschließlich für die Fragen der Handelspolitik, nicht für die des Handels selbst. Die bürgerliche lettische Wissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts verschwieg die Tatsache der russisch-lettischen und russisch-deutschen Handelsbeziehungen überhaupt. 16 Im Zusammenhang damit blieben natürlich auch die Polozker Urkunden des Rigaer Stadtarchivs ohne Beachtung. Vollständig zogen diese Urkunden lediglich die Aufmerksamkeit des norwegischen Philologen Ch. H. Stang auf sich, der in den Jahren 1936 und 1938 Riga besuchte und dem sowohl katalogisierte als auch nicht in den Katalog aufgenommene Urkunden zur Verfügung gestellt wurden.17 Als Philologe interessierte er sich nicht für Fragen der Datierung der Urkunden und für deren Inhalt. Das von ihm zusammengestellte Verzeichnis der Polozker Urkunden erleichtert aber die Arbeit an diesen Dokumenten. Es wiederholt mit unwesentlichen Abweichungen das sorgfältig aufgestellte Inventar der Dokumente der « Ebenda, S. 380. M GOETZ, L. K., Deutsch-russische Handelsverträge des Mittelalters, Hamburg 1916; DERSELBE, Deutsch-russische Handelsgeschichte, a. a. O. 15 SCHROEDER, H. G. V., Der Handel auf der Düna im Mittelalter, in: Hansische Geschichtsblätter 23/1917, S. 23-156. 16 Latvijas vestures bibliografija 1918—1935, redigiert v. STENGELS, E., Riga 1935. « STANG, CH. S . , a . a . 0 . , S . 2 .
Polozker
Urkunden
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Abteilung Rossica des Außenarchivs des Rigaer Magistrats. (Leider ist bis heute ungeklärt, von wem dieses erarbeitet wurde.)18 Die sowjetische Geschichtsschreibung kann sich ebenfalls keiner großen Erfolge in der Untersuchung des Düna-Dnjepr-Handels im 14. und 15. Jh. rühmen. N. N. Usatschew ging auf das 14. Jh. ein, aus welchem die Smolensker Urkunden erhalten geblieben sind.19 W. I. Pitscheta beschäftigte sich nicht mit dem Polozker Handel, obwohl er die sozialökonomische Entwicklung des Polozker Gebietes am Ende des 15. und im 16. Jh. gründlich untersuchte.20 Lediglich M. P. Lesnikow ging auf den Polozker Handel bei der Behandlung der Ereignisse des Jahres 1404 ein.21 A. L. Choroschkewitsch, beschränkte sich auf eine allgemeine Untersuchung der Verträge aus dem Anfang des 15. Jh.22 Den ersten Versuch einer marxistischen Erforschung des Dünahandels macht E. Murawskaja.23 Fassen wir jetzt die Ergebnisse der Untersuchung der Polozker Urkunden und in diesem Zusammenhang des Polozker Handels zusammen. Weder die Rolle des Außenhandels noch dessen Zusammenhang mit der Gesamt Wirtschaft der Stadt in der zweiten Hälfte des 15. Jh. wurden bis jetzt untersucht. Deshalb gerieten auch die Polozker Urkunden aus dem letzten Drittel des 15. Jh. bisher nicht in das Blickfeld des Historikers. Die mangelnde Untersuchung jener Frage ist einer der Beweggründe für die vorliegende Untersuchung der genannten Urkunden als einer Quelle zur Geschichte der russischhansischen Beziehungen. Die Wahl des Themas wird auch durch eine Reihe anderer Gründe mitbestimmt : sowohl durch den Zustand der Quellen — für diese letzten 30 Jahre sind im Rigaer Archiv 77 aus Polozk stammende Urkunden erhalten geblieben — als auch durch die Wichtigkeit dieses Zeitabschnittes für die Geschichte des Außenhandels von Polozk. 18
Dieser Katalog dürfte unter der Leitung von L. Arbusow sen. im Prozeß der Vorbereitung der „Livländischen Urkunden" zum Druck zusammengestellt worden sein. Im Katalog ist das Datum des Dokuments angegeben und dessen Inhalt kurz dargelegt.
19
YCAHEB, H . H . , K OIJEHKE SANAßHBIX BHeiiraeToproBHx cBH3eft CMOJIEHCKA B X I I — X I V BB., i n : MEWTAYHAPOÄHHE CB«3H POCCHH HO X V I I B., M o s k a u 1961, S. 203—225.
20
IIHHETA, B. H . , IIojioBiKaH3eMJiH B HakaneXVI B., in: DERSELBE, Eenopyccim H JInTBa X V - X V I BB., M o s k a u 1961, S. 2 1 3 - 2 6 2 .
21
LESNIKOW, M. P., Der hansische Pelzhandel zu Beginn des 15. Jh., in: Hansische Studien. Gesammelte Beiträge, Berlin 1961 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, hrsg.
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XOPOIHKEBHH, A . J L , FLOROBOPU IIOJIOIIKA 1405—1406 r r . KAK HCTOHHHK n o HCTopiiH e r o
v . H . SPBOEMBERG U. a., B d . 8).
23
4»
BHeuiHeft ToproBjiH H ToproBoii nonHTHKH, in: Apxeorpa$HHecKHlt eHteroflHHK, 3a 1962 roA, Moskau 1962, S. 79-87. MypABCKAH, E. H., Ü3 HCTOpHH TOprOBblX CBHSett PÜRH c nOJIOIJKOM, BHTCÖCKOM H CMOJieHCKOM B X I I I — X I V BB., in: M3BECTHH AKaAeMHH Hayn JlaTBiiöcKoö CCP, nr. 2/163, 1961; DIESELBE, OpraHH3ai
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H . - T H . KRAUSE
Betrachtungsweise besser und eindringlicher vortragen zu können. Die Gründung des Hansabundes, einer 1909 als Gegengewicht gegen den Bund der Landwirte entstandenen Organisation von Industrie- und Handelskreisen, nahm er zum Anlaß, seine Auffassung zu Tagesfragen zu äußern. Hierbei wandte er sich besonders gegen linksliberale Politiker und trat unter anderem einer Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Preußen entgegen. Der rote Faden seines Artikels war die immer wieder aufgeworfene Frage, inwieweit die Hanse der Gegenwart als Vorbild dienen könne. Hierbei stellte er als beispielgebend heraus, den maßgebenden Kreisen der Hansestädte sei klar gewesen, „daß man Macht brauche, politische und kriegerische Macht, um wirtschaftliche Wohlfahrt zu fördern und zu behaupten, und daß zu erfolgreicher Politik innere Einheit und Disziplin, zu glücklichem Kriege Opferwilligkeit und Wehrhaftigkeit unerläßlich seien". Angesichts des damals bereits drohenden Ausbruchs eines Weltkrieges pries er Gemeinsinn und Opferbereitschaft der Bürger der Hansestädte und erklärte: „Was der hansische Bürger seiner Vaterstadt leistete, das fordert von uns das Reich, fordert es von jedem seiner Angehörigen."48 Schäfer faßte seine Konzeption noch einmal in einem populär gehaltenen Aufsatz unter dem Titel „Deutsche Seegeltung einst und jetzt" zusammen, der im November 1912 erschien.49 Es ist von besonderem Interesse, daß die Monatsschrift „Überall (Illustrierte Zeitschrift für Armee und Marine)" das Heft 2 ihres 15. Jahrgangs als „Hansenummer" — so auf dem Deckblatt angepriesen — herausgab. Die meisten der hier abgedruckten Aufsätze untersuchten Fragen der hansischen und hanseatischen Geschichte und stellten Vergleiche mit der Gegenwart an, die entsprechend positiv ausfielen. Dietrich Schäfer war mit dem genannten Beitrag der prominenteste Autor dieser Nummer. Er begann ihn wie üblich mit dem „Seefahrermut" der Germanen. Ausführlich verweilte er bei der Geschichte der Hanse und legte seine häufig vorgebrachten Thesen dar. In diesem Zusammenhang betonte er, daß mit der steigenden Bedeutung der See für Deutschland das Interesse für die Geschichte der Hanse als eines „lehrenden, anfeuernden, warnenden" Beispiels immer mehr angewachsen sei. Bei seinen Erörterungen über Gegenwartsprobleme ging er besonders auf das deutschenglische Verhältnis ein und äußerte sich optimistisch über die Aussichten Deutschlands im Wettbewerb jener zwei Staaten. Dieser Aufsatz ist insofern interessant, als er zeigt, daß sich Schäfers Auffassung zum Verhältnis zwischen Kontinental- und Überseepolitik im Vergleich zu seiner 10—15 Jahre zuvor geäußerten Meinung gewandelt hatte. Er scheute sich nun selbst in einem Artikel über die Notwendigkeit deutscher Seegeltung nicht, andere Aufgaben als dringlicher herauszustellen, da sie der momentanen Aufgabenstellung des deutschen Imperialismus entsprachen. Er, der jahrelange Vorkämpfer der deutschen Kriegsflotte, hatte sich der veränderten Konzeption 8 Ebenda, S. 299. DERSELBE, Deutsche Seegeltung einst und jetzt, in: Überall. Illustrierte Zeitschrift für Armee und Marine 15/1912-13, Heft 2, S. 74-87.
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Dietrich Schäfer
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maßgeblicher imperialistischer Kreise angepaßt. So schrieb er, es sei nötig, schon im Frieden die Kräfte aufs äußerste anzuspannen: „Das gilt zunächst von unserem Heer. Wir sind auf dem Lande verankert. Unterliegen wir hier, so ist es auch um unsere Seegeltung und Weltstellung geschehen. Daher muß alles, was im Frieden getan werden kann, uns die Überlegenheit zu Lande zu sichern, restlos ausgeführt werden. Die Bedeutung, welche die See für das gesamte Leben unseres Volkes gewonnen hat, zwingt aber auch (von mir hervorgehoben — H.-Th. K.; von Schäfer sehr deutlich an die zweite Stelle gerückt) zu starker Wappnung auf dem nassen Elemente." 50 Die Quintessenz des Aufsatzes lautete schließlich, unter Berücksichtigung des vorher genannten Primats der deutschen Verankerung zu Lande, „daß Deutschland ohne die See nicht mehr sein kann". Wenn Schäfer im Anschluß daran folgenden Satz formulierte: „Es ist nur der natürliche Anspruch, das natürliche Recht eines großen, lebensvollen Volkes, das wächst und seinem Wachstum nicht willkürliche Grenzen setzen lassen kann" 51 , so griff er auf sozialdarwinistische Gedankengänge zurück, die er in den Jahren vor 1914 nur selten verwendete. Die Analyse der angeführten Publikationen beweist, daß Schäfer in den Jahren vor Ausbruch des ersten Weltkrieges jede Möglichkeit nutzte, aus der Geschichte der Hanse „Lehren" für die Gegenwart im Sinne seiner politischen Anschauungen zu ziehen. Er war bemüht, weit über den Kreis der Hansehistoriker hinaus wirksam zu sein, und propagierte seine Auffassung daher auch in politischen Zeitschriften und Tageszeitungen. Im gleichen Zeitraum, als Schäfer verschiedene politisch akzentuierte, teilweise recht vordergründige Artikel publizierte, war er jedoch auch bestrebt, die Seegeschichtsschreibung in Deutschland als wissenschaftliche Disziplin aufzubauen. Entsprechend dem von ihm in seinem Vortrag „Die Aufgaben der deutschen Seegeschichte" entwickelten Programm ging er daran, verschiedene der von ihm angeführten Projekte mit Hilfe seiner Schüler zu verwirklichen. Hatten bereits an Schäfers früheren Wirkungsstätten etliche junge Historiker bei ihm promoviert, so vermehrte sich deren Zahl seit seiner Berufung nach Berlin gewaltig. Gegenüber den bisher vergebenen Dissertationen wurde deutlich, daß Schäfer in Berlin seine Schüler systematisch auf Themen der Hansegeschichte und der allgemeinen Seegeschichte hinlenkte. 52 Aus seinen Seminaren ging eine Reihe bekannter deutscher Hanse- und Seefahrtshistoriker hervor. Wie im 37. Jahresbericht des Hansischen Geschichtsvereins von 1908 deutlich hervorgehoben wurde, war es Schäfer, der anregte, nach den Pfingstblättern eine weitere Publikationsreihe zu begründen, welche größere wissenschaftliche Arbeiten — in erster Linie seiner eigenen Schüler — aufnehmen sollte. 53 so Ebenda, S. 85f. 51 Ebenda, S. 87. 52 Vgl. das Verzeichnis der von Dietrich Schäfer angeregten Dissertationen in: Dietrich Schäfer und sein Werk, a. a. 0., S. 150ff. 53 Vgl. den 37. Jahresbericht des Hansischen Geschichtsvereins, in: Hansische Geschichtsblätter 35/1908, S. 511.
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H.-TH. KRAUSE
Er setzte seinen Plan durch und übernahm als Herausgeber die Leitung dieser Reihe, die unter dem programmatischen Titel „Abhandlungen zur Verkehrsund Seegeschichte" erschien. Im Vorwort zum ersten Band führte er nochmals aus, daß die deutsche Hanseforschung ihre ursprüngliche Aufgabe weitgehend erfüllt habe, und schrieb: „Der Hansische Geschichtsverein kann, wenn er bestehen und die Stellung, die er errungen hat, bewahren will, nicht anders, als seine Bemühungen um die hansische Geschichte erweitern zur Arbeit für Vermehrung und Vertiefung unserer Kenntnis deutscher Beziehungen zur See." 54 Unter den Schülern Dietrich Schäfers ist in erster Linie Walther Vogel (1880—1938) zu nennen, der 1906 bei ihm mit einer Arbeit über die Normannen promovierte.55 Wie Vogel 1934 in einem Vortrag hervorhob, hatte ihn sein „unvergeßlicher Lehrer" dreißig Jahre zuvor angeregt, eine Darstellung der Geschichte der deutschen Seeschiffahrt zu schreiben.56 Schäfer veranlaßte damals seinen begabten Schüler, sich an dem 1904 verkündeten Preisausschreiben zur Abfassung einer Geschichte der deutschen Seeschiffahrt zu beteiligen. Für seine eingereichte Arbeit wurde Vogel 1913 der volle Preis zuerkannt. Das Werk sollte in drei Bänden erscheinen, jedoch gelang es Vogel lediglich, den ersten Band seiner „Geschichte der deutschen Seeschiffahrt" (1915) herauszubringen — nach den Worten Fritz Rörigs „das grundlegende Werk für die deutsche Seegeschichte des Mittelalters".57 Im Rahmen des Hansischen Geschichtsvereins und der deutschen Hanseforschung wurde Vogel zu einer geachteten Persönlichkeit. Seit 1907 war er regelmäßiger Mitarbeiter der Hansischen Geschichtsblätter, wo er auch, entsprechend dem von seinem Lehrer entwickelten Programm, Arbeiten zur Geschichte der Nautik und Navigation publizierte. Im Auftrag des Vorstandes des Hansischen Geschichtsvereins verfaßte er eine „Kurze Geschichte der deutschen Hanse", die für populäre Zwecke bestimmt war und 1915 als Pfingstblatt erschien. In den zwanziger Jahren rückte der auch in seiner akademischen Laufbahn erfolgreiche Vogel in die erste Reihe der deutschen Hanse- und Seehistoriker 54
SCHÄFER, D., Vorwort zu Bd. 1 der „Abhandlungen zur Verkehrs- und Seegeschichte", hrsg. v. D. SCHÄFER, (HÄPKE, R., Brügges Entwicklung zum mittelalterlichen Weltmarkt, Berlin 1908), S. IV. 53 Über Vogel vgl. besonders RÖRIG, F., Walther Vogel (1880-1938) in: Hansische Geschichtsblätter 63/1938, S. 1 - 1 0 . 56 Vgl. VOGEL, W., Handelskonjunkturen und Wirtschaftskrisen . . ., in: ebenda 74/1956, S. 50. 57 RÖRIG, F., Wandlungen der hansischen Geschichtsforschung, a. a. O., S. 439. — In der Folgezeit veröffentlichte Vogel zahlreiche Aufsätze über den Zeitraum des geplanten zweiten und dritten Bandes, kam aber nicht zu einer Fertigstellung dieser Bände. Der Versuch eines kurzgefaßten Übersichtswerkes entsprechend der Konzeption seines Lehrers blieb ebenfalls unvollendet (VOGEL, W., Die Deutschen als Seefahrer. Kurze Geschichte des deutschen Seehandels und Seeverkehrs von den Anfängen bis zur Gegenwart. Aus dem Nachlaß hrsg. u. ergänzt von G. SCHMÖLDERS, Hamburg 1949).
Dietrich, Schäfer
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auf, übernahm 1926 die Schriftleitung der Hansischen Geschichtsblätter und wurde 1927 Vorstandsmitglied des Hansischen Geschichtsvereins. Zur Beurteilung seiner Persönlichkeit kann man den Worten Fritz Rörigs zustimmen, der über Vogel, den wohl bedeutendsten Schüler Dietrich Schäfers, schrieb, daß das wissenschaftliche Werk und das nationale Ethos seines Lehrers „auch für sein Leben die immer gleichbleibenden Richtungspunkte abgaben", daß er der Welt Schäfers, aus der er stammte, treu blieb, aber ausgeglichener auftrat als sein Lehrer.58 Vogel gilt wie Schäfer als Vertreter der nationalistischen Linie in der deutschen Hanseforschung. Ein anderer bedeutender Schüler Schäfers war Rudolf Häpke (1884—1930), Studiengenosse Vogels in Berlin. 59 Wie dieser Absolvent der Schäferschen Seminare, wurde er von seinem Lehrer frühzeitig auf ein Spezialgebiet gelenkt: die Behandlung der Niederlande im Rahmen der deutschen Seegeschichte. Seine unter Schäfers Anleitung entstandene Dissertation zur Entwicklung Brügges erschien 1908 als Band 1 der Reihe „Abhandlungen zur Verkehrsund Seegeschichte". Häpke galt seitdem als Fachmann für niederländische Seegeschichte. Seit dem Jahrgang 1904/05 war er Mitarbeiter der Hansischen Geschichtsblätter. Auf Schäfers Vorschlag wurde er damit beauftragt, das in sämtlichen niederländischen Archiven vorhandene Material zur deutschen Seegeschichte zu erfassen — eine schwierige und wissenschaftlich bedeutsame Aufgabe, die er, durch Schäfers Seminare geschult, von 1907—1910 bewältigte. Ergebnis dieser Arbeit waren zwei Bände „Niederländische Akten und Urkunden zur Geschichte der Hanse und zur deutschen Seegeschichte" (1913 und 1923). Häpke war nach dem ersten Weltkrieg Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Marburg, blieb aber weiterhin auch auf dem Gebiet der Hanseforschung tätig, so durch seine mehrjährige Wirksamkeit als verantwortlicher Redakteur der Hansischen Geschichtsblätter. 1908 promovierte bei Schäfer Bernhard Hagedorn (1882—1914).60 Schäfer erkannte dessen wissenschaftliche Begabung und war in der Folgezeit bemüht, ihn nach Kräften zu fördern. Am Beispiel Hagedorns läßt sich besonders deutlich erkennen, wie Schäfer einen seiner besten Schüler in die gewünschte Richtung lenkte. Wenn Hagedorn in seiner Dissertation und deren Fortsetzung Handel und Schiffahrt Ostfrieslands im 16. J h . und in der ersten Hälfte des 17. J h . behandelte, so entsprach dies genau Schäfers 1908 aufgestelltem Programm, das unter anderem eine Erforschung der Seegeschichte einzelner deutscher Landschaften vorsah. Schäfer nahm beide Arbeiten in die Reihe „Abhandlungen zur Verkehrs- und Seegeschichte" auf. Seit 1909 war Hagedorn Mitarbeiter der Hansischen Geschichtsblätter. Auf Schäfers Vorschlag hin « RÖMG, W., Walther Vogel, a. a. O., S. 2. 5 9 Über Häpke vgl. besonders VOGEL, W . , Rudolf Häpke. Ein Gedenkwort, in: Hansische Geschichtsblätter 55/1930, S. 1 - 9 . 6 0 Über Hagedorn vgl. besonders SCHÄFER, D., Nachruf für Bernhard Hagedorn, in: ebenda 41/1914, S. I I I - X X X I V . 9
Neue Hansische Studien
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H.-TH. KRAUSE
erhielt er eine ähnliche Aufgabe wie Rudolf Häpke zugewiesen: er sollte — wiederum entsprechend der Konzeption seines Lehrers — die Verkehrsbeziehungen Deutschlands zur Pyrenäenhalbinsel im 16. und 17. Jh. untersuchen. Ab 1910 trat er in den Dienst des Hansischen Geschichtsvereins und widmete sich dieser Aufgabe; über das Stadium der Materialsammlung kam er jedoch bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges nicht hinaus. Wenn der außergewöhnlich befähigte Hagedorn neben diesen Forschungen 1914 ein zusammenfassendes Buch über „Die Entwicklung der wichtigsten Schiffstypen bis ins 19. J h . " veröffentlichte, so erfüllte er damit wiederum eine der Forderungen seines Lehrers. Namhafte Hansehistoriker haben noch Jahrzehnte später mit großer Hochachtung den Namen Hagedorn ausgesprochen61, dessen wissenschaftliche Laufbahn jäh endete: er fiel bereits in den ersten Tagen des Weltkrieges an der deutsch-französischen Front. Ein anderer Historiker, der zu den Schülern Dietrich Schäfers zählt, war Hermann Wätjen (1876—1944).62 Er studierte Mitte der neunziger Jahre in Heidelberg und geriet hier unter den Einfluß Schäfers. Interessant ist, daß Schäfer schon zu jener Zeit bemüht war, einen seiner besten Schüler auf ein Gebiet zu lenken, das der seegeschichtlichen Konzeption entsprach. Das Thema der Habilitationsschrift Wätjens „Die Niederländer im Mittelmeergebiet zur Zeit ihrer höchsten Machtstellung" ging auf Schäfers Anregung zurück, der die Arbeit auch in die Reihe „Abhandlungen zur Verkehrs- und Seegeschichte" aufnahm. Wätjen war wie Vogel und Häpke schon in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg regelmäßiger Mitarbeiter der Hansischen Geschichtsblätter sowie anderer Zeitschriften. Als sein großer Arbeitsbereich zeichnete sich schon damals die Überseegeschichte ab, wobei in besonderem Maße Süd- und Mittelamerika zu seinem Spezialgebiet wurden; ein Hansehistoriker im eigentlichen Sinn war Wätjen nie. 1914 erlangte er seine erste Professur; 1925 wurde er in den Vorstand des Hansischen Geschichtsvereins gewählt. Bezeichnend für das Verhältnis zwischen Schäfer und Wätjen ist eine Episode, die Friedrich Prüser der Vergangenheit entrissen bat: Auf der Jahresversammlung des Hansischen Geschichtsvereins in Lübeck 1926 hielt Wätjen einen Vortrag über den Wiederaufbau der deutschen Handelsschiffahrt nach dem Weltkrieg. Nach diesem Vortrag ging der greise Schäfer auf Wätjen zu und schüttelte ihm vor den Zuhörern die Hand, um damit anzudeuten, daß er in ihm den berufenen Fortsetzer seines Forschungsgebietes, der See- und Überseegeschichte, sah.63 61 Vgl. VOGEL, W., Dietrich Schäfer (1845-1929), in: ebenda 64/1929, S . 9 ; Rörig be-
62
zeichnete Hagedorn als „den kommenden kraftvollsten Führer hansischer Geschichtsforschung" (RÖRIG, F., Walther Vogel, a. a. O., S. 1). Über Wätjen vgl. besonders PRÜSER, F., Hermann Wätjen (1876—1944), in: Hansische Geschichtsblätter 69/1950, S. 93—97, sowie den Nachruf in: Historische Zeitschrift 169/1949, S. 663 f.
^ Vgl. PRÜSER, F . , a. a. 0 . , S . 94.
Dietrich Schäfer
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Fritz Rörig hat als die bedeutendsten Schüler Dietrich Schäfers Hagedorn, Häpke, Vogel und Wätjen bezeichnet.64 Ohne Zweifel hat Schäfer auf sie bestimmenden Einfluß ausgeübt, und es ist seiner Wirksamkeit zuzuschreiben, daß diese vier Wissenschaftler ihre Aufmerksamkeit über die Hansegeschichte hinaus dem Gebiet der Seegeschichte zuwandten, auf dem sie bedeutende Leistungen vollbrachten. Eine Durchsicht der Liste der unter Schäfers Anleitung zustandegekommenen Dissertationen zeigt jedoch, daß neben jenen aus Schäfers Schule eine ganze Anzahl junger Wissenschaftler hervorging, die gleichfalls eine Reihe von Arbeiten zur Hanse- und Seegeschichte verfaßten. Einige ihrer Dissertationen (von Püschel, Schulz, Brinner und Jürgens) hat Schäfer in der Reihe „Abhandlungen zur Verkehrs- und Seegeschichte" der Öffentlichkeit gedruckt vorgelegt.65 Hatte Schäfer sich bis zur Jahrhundertwende den Ruf eines der bedeutendsten Hansehistoriker und eines der besten Kenner der skandinavischen Geschichte in Deutschland erworben, so wurde er seit 1903 zum prominentesten Vertreter der bürgerlichen Hanseforschung überhaupt und zur bestimmenden Persönlichkeit innerhalb des Hansischen Geschichtsvereins.66 Die Neuorientierung des Vereins, die bereits auf den Jahresversammlungen von 1904 und 1905 zutage getreten war, kam in den folgenden Jahren immer deutlicher zum Ausdruck. Mit Dr. Ernst Baasch aus Hamburg, Direktor der Kommerz-Bibliothek, kam 1905 ein Mann in den Vorstand, der Beziehungen zu Handelskreisen besaß und Fragen der nachhansischen Seegeschichte bearbeitete. In den Hansischen Geschichtsblättern nahm diese Problematik besonders seit 1907 immer größeren Platz ein. Wie sich anhand des vorliegenden Materials feststellen läßt, waren Schäfers Bemühungen, vor allem finanzkräftige Vertreter aus Handelskreisen für die Tätigkeit des Vereins zu interessieren, von Erfolg gekrönt. Eine Analyse der Jahresberichte des Vereins von der Jahrhundertwende bis zum Beginn des ersten Weltkrieges ergibt, daß die Zusammensetzung des Mitgliederbestandes sich in diesem Zeitraum entsprechend der erweiterten Aufgabenstellung veränderte. Die neuen Vereinsmitglieder stammten zum großen Teil aus Kaufmanns- und Handelskreisen der großen Hansestädte; neben der häufig wiederkehrenden Berufsbezeichnung Kaufmann tauchen Angaben wie Senator, Konsul, Kommerzienrat, Bankier, Rechtsanwalt, Syndikus auf. Im 38. Jahresbericht des Vereins konnte 1909 als Erfolg hervorgehoben werden, daß es gelungen war, in den letzten fünf Jahren mehr als 150 neue Mitglieder zu werben.67 64 65
66
67
9*
Vgl. RÖRIG, F., Stand und Aufgaben, a. a. O., S. 5. Vgl. die Aufstellung der im Kähmen der „Abhandlungen zur Verkehrs- und Seegeschichte" erschienenen Bände in: Hansische Geschichtsblätter 76/1958, S. 237f. Diese Tatsache findet ihren Ausdruck unter anderem darin, daß Schäfer neben dem Vorsitzenden, Senator Dr. Fehling, den Hansischen Geschichtsverein auf dem Internationalen Historikerkongreß in London 1913 vertrat (vgl. ebenda 40/1913, S. 615). Vgl. den 38. Jahresbericht des Hansischen Geschichtsvereins, in: ebenda 36/1909, S. 663f.
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H.-TH. KBATJSE
Allerdings trat nach dem Höhepunkt des Jahres 1908 wieder eine Stagnation in der Mitgliederbewegung ein. Maßgebliche Handelskreise der deutschen Küstenstädte zeigten für die neue Aufgabenstellung des Vereins ausgesprochenes Interesse; die Senate der Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck sowie verschiedene Handelskammern zahlten stattliche Jahresbeiträge. Die beiden größten deutschen Reedereigesellschaften, die Hamburg-Amerika-Linie und der Norddeutsche Lloyd, spendeten für die künftige Arbeit Gelder in Höhe von 1000 bzw. 2000 Mark.68 Als 1908/09 im Vorstand des Vereins darüber beraten wurde, ob man aus finanziellen Gründen nach dem Muster anderer Vereine zur Ernennung von Patronen übergehen solle, wurde dieser Vorschlag abgewiesen, denn man war der Überzeugung, „daß außerordentliche Zuwendungen aus dem Kreise der begüterten Freunde der hansischen Forschung uns, wie in den letzten Jahren, auch für die Folge nicht fehlen werden".69 In den Jahresberichten der nächsten Jahre wurden mehrfach Spenden an den Verein gemeldet, so 1909 eine in Höhe von 3000 Mark. Die angeführten Tatsachen zeugen von der engen Verbindung zwischen den führenden Männern des Hansischen Geschichtsvereins und finanzkräftigen Wirtschaftskreisen. Welche Rolle Schäfer bei Verhandlungen zwischen beiden spielte, ließ sich nicht klären. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß er eine Schrift verfaßte, die 1907 unter dem Titel „Deutschland, Bremen und der Norddeutsche Lloyd" gedruckt wurde und nicht in den Buchhandel gelangte. Offensichtlich handelt es sich hierbei um ein frühes Produkt moderner bürgerlicher Firmengeschichtsschreibung. Auch in Regierungskreisen des Deutschen Reiches wurde die Neuorientierung des Hansischen Geschichtsvereins mit Interesse und Wohlwollen aufgenommen. Davon zeugen die aktenkundigen Vorgänge um eine Finanzangelegenheit aus dem Jahre 1908.70 Im April jenes Jahres wandte sich der Vorstand des Vereins angesichts der wachsenden finanziellen Bedürfnisse, die sich aus der erweiterten Aufgabenstellung ergaben, an den Kaiser mit der Bitte um Erhöhung des bisher in Höhe von 100 Mark gezahlten Jahresbeitrages oder um Bewilligung einer einmaligen größeren Summe. Um die verantwortlichen Stellen zu gewinnen, bediente man sich in der Immediateingabe vor allem politischer Argumente und berichtete von der Wende in der Tätigkeit des Hansischen Geschichtsvereins, von der eingeleiteten „Erweiterung seines Programms zu einer im besten Sinne volkstümlichen und gemeinverständlichen Darstellung deutscher Handels- und Seegeschichte". In der vom Vereinsvorsitzenden Dr. Fehling unterzeichneten Eingabe war die Rede von „unseren vaterländischen Bestrebungen", und es wurde betont, die „Gegenwart mit ihren neuen Aufgaben" 68
69 70
Vgl. den 35. Jahresbericht des Hansischen Geschichtsvereins, in: ebenda 33/1906, S. I I I . 38. Jahresbericht des Hansischen Geschichtsvereins, a. a. O., S. 562. Vgl. Deutsches Zentralarchiv, Abteilung Potsdam, Auswärtiges Amt, nr. 37879, Bl. 65—98.
Dietrich Schäfer
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weise den Verein auf die Pflicht hin, sein Arbeitsgebiet zu erweitern. Zur Begründung des Gesuchs wurden mehrfach Zitate aus Beden Wilhelms I I . über die Bedeutung der See für Deutschlands Zukunft angeführt. Es wurde betont, daß die „alte Hanse" seinerzeit zerfallen mußte, weil ihr der Schutz des Reiches fehlte, und darauf hingewiesen, daß der Kaiser die gegenwärtige deutsche Flotte als „neue Hansa" bezeichnet hatte. Zur Meinungsäußerung über dieses Gesuch wurden das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten und das preußische Kultusministerium aufgefordert, wobei ersteres für die Behandlung der Angelegenheit verantwortlich war. Das preußische Kultusministerium wandte sich zur Begutachtung an zwei angesehene Wissenschaftler und Vertrauensmänner des Ministeriums, Adolf von Harnack und Dietrich Schäfer. Beide befürworteten den Antrag, wobei Schäfer hervorhob, die Lösung der neuen Aufgaben werde „in hohem Grade dazu beitragen, der Erkenntnis, daß die wirtschaftliche Entwicklung eines Volkes in erster Linie abhängig ist von der gesunden Ausgestaltung und festen Begründung seiner staatlichen Existenz, einen immer festeren Boden zu bereiten. Diese Aufgabe ist nicht mehr eine hansische, sondern eine allgemein deutsche und verdient, sollte ich glauben, als solche allseitig gefördert zu werden." In Schäfers Gutachten vom 14. Mai 1908 findet sich weiterhin folgender bezeichnende Satz, der mit Sicherheit den Tatsachen entspricht: „Ich glaube auch hinzufügen zu sollen, daß ich derjenige war, der den Verein von dem engeren Gebiet der speziell hansischen Geschichte . . . hinübergeführt hat auf das weitere Gebiet der allgemein deutschen See- und Verkehrsgeschichte und der den Plan für die auf diesem Gebiet notwendigen Forschungen und Arbeiten aufgestellt hat." 71 Auf Grund beider Beurteilungen befürwortete der preußische Kultusminister Holle in seinem Schreiben vom 19. Juni 1908 an den Minister der auswärtigen Angelegenheiten das Gesuch des Hansischen Geschichtsvereins. Er erklärte: „Ich glaube gerade in der beabsichtigten Erweiterung des bisherigen Arbeitsprogramms zu einer allgemeinen deutschen See- und Handelsgeschichte eine Aufgabe erblicken zu sollen, der unter den heutigen Zeitverhältnissen ein
über das rein
Wissenschaftliche hinausgehendes wichtiges
Interesse (von mir hervorgehoben — H.-Th. K.) zukommt und zu deren Inangriffnahme keine Instanz so geeignet scheint wie der Hansische Geschichtsverein."72 Die zuständigen Stellen waren sich einig über die Notwendigkeit, den Hansischen Geschichtsverein angesichts seiner neuen Bestrebungen finanziell zu unterstützen. Voller Stolz konnte daher der Vorstand auf der Jahresversammlung in Münster 1909 berichten, daß der Kaiser dem Verein auf dessen Bitte eine einmalige Summe in Höhe von 3000 Mark zur Verfügung gestellt hatte.73 Hierbei wurde hervorgehoben, daß man dies in besonderem Maße Ebenda, Bl. 73 f. » Ebenda, Bl. 71 v. 73 Vgl. den 38. Jahresbericht des Hansischen Geschichtsvereins, a. a. O., S. 559f. 71
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H.-TH. KRAUSE
als Zeichen für die „steigende Anerkennung" der Bestrebungen des Vereins werten könne. Im Anschluß an diese Übersicht über die Entwicklungstendenzen der deutschen Hanseforschung von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges ergeben sich folgende Fragen: Wie ist die unter Schäfers Leitung in Angriff genommene Ausweitung des Aufgabenbereichs des Hansischen Geschichtsvereins aus heutiger Sicht zu beurteilen? War Schäfer seinerzeit im Recht, als er erklärte, die auf dem Gebiet der Hansegeschichte geleistete Arbeit nähere sich ihrem Abschluß und man müsse daher das Forschungsgebiet erweitern? Zu beidem hat bereits 1942 und 1950 Fritz Rörig, damals führend in der deutschen Hanseforschung, in zwei grundlegenden Aufsätzen Stellung genommen.74 Er wies nach, daß die von Schäfer getroffene Feststellung falsch war und nur aus der Enge seiner Gesamtkonzeption, die die politische Geschichte in den Vordergrund stellte und die wirtschaftlichen Probleme der Entwicklung der Hanse zu wenig berücksichtigte, zu erklären sei. Gerade auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte aber lägen noch große Aufgaben vor den Hansehistorikern. Gegen Schäfer gerichtet, schrieb Rörig, „daß der Schwerpunkt unserer Arbeit nach wie vor nicht nur in der eigentlichen Hansezeit liegen kann, sondern sogar liegen muß . . ( i m Original hervorgehoben).75 Die von Schäfer eingeleitete Erforschung der Handels-, Verkehrs- und Seegeschichte brauche deshalb durchaus nicht aufgegeben zu werden. In Auseinandersetzung mit der Konzeption Dietrich Schäfers und der gesamten bisherigen Tätigkeit des Hansischen Geschichtsvereins nannte Fritz Rörig eine Reihe noch zu lösender Aufgaben hansischer Forschung. Daß die Historiker der DDR in der Hansegeschichte noch für lange Zeit ein lohnendes Arbeitsgebiet sehen, zeigt eine Vielzahl in den letzten Jahren erschienener Publikationen, unter denen der von einem Kollektiv Greifswalder Historiker unter Leitung von Johannes Schildhauer vorgelegte thesenartige Überblick „Grundzüge der Geschichte der deutschen Hanse" herausragt.76 In einem richtungweisenden Aufsatz haben Johannes Schildhauer und Konrad Fritze, ausgehend von den Mängeln der in fast hundert Jahren geleisteten Arbeit, als die wichtigsten Aufgabenbereiche der Hanseforschung in der DDR herausgestellt: 1) Die städtische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die sich zum Ziel setzt die gründliche Analyse der sozialökonomischen Struktur der Hansestädte, die Herausarbeitung der die hansische Innen- und Außenpolitik 74
Vgl.
F., Wandlungen der hansischen Geschichtsforschung, a. a. O., S. 420ff.; Stand und Aufgaben, a. a. O., S. 3 ff. Ebenda, S. 8. Grundzüge der Geschichte der deutschen Hanse, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 11/1963, Heft 4, S. 729-746. RÖRIG,
DERSELBE,
75 76
Dietrich
Schäfer
117
bestimmenden Faktoren, die Untersuchung der Rolle und der sozialen Lage der bisher ungenügend behandelten mittleren und unteren Schichten der Stadtbevölkerung. 2) Die Erforschung der internationalen Probleme des Ost- und Nordseehandels und die Untersuchung der Stellung des hansischen sowie hanseatischen Handels im Rahmen des Welthandels. 77 Hieraus wird zugleich die Neuorientierung der Hanse- und Stadtgeschichtsforschung in der D D R deutlich. Knüpft diese an die progressiven Traditionen der älteren hansischen Geschichtsforschung an, so distanziert sie sich zugleich weit von der politischen Zielstellung Dietrich Schäfers. Mit ihren weiteren Untersuchungsergebnissen wird die Hanseforschung der D D R in immer stärkerem Maße Beiträge zur Lösung der Probleme des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus leisten. 77
V g l . SCKLLDHATTBE, J./FRITZE, K . , S t a n d u n d A u f g a b e n , a. a. O., S. 1 7 0 ; SCHILDHAUER, J . ,
Forschungen zur hansischen und hanseatischen Geschichte 1960—1962, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Beihe, Jg. 1963, Heft 2, S. 129.
ZU DEN ANFÄNGEN DES PATRIZIATES VON STETTIN Über die Rolle des feudalen Grundbesitzes bei der Gestaltung der wirtschaftlichen Grundlagen der führenden Schichten der Stadtbevölkerung von Benedykt Zientara
I
Im spätfeudalen Europa war eine scharfe Trennung zwischen Adligem und Bürger allgemein verbreitet.1 In vielen Ländern galt für den Adel die Beschäftigung mit Handel und Gewerbe als erniedrigend; eine solche Beschäftigung sowie auch die Bekleidung von Stadtämtern führte zum Verlust des Adelsstandes. Diese spätfeudale Abschließung der Stände, die erst allmählich zustandegekommen war, beeinflußte die ganze ältere Historiographie stark. Viele namhafte Historiker sahen schon in den Anfängen des mittelalterlichen Städtewesens einen prinzipiellen Gegensatz zwischen dem Bürgertum und der feudalen Welt. Obwohl ein Teil der Historiker, vor allem die Marxisten, sich gegen diese Vereinfachung der sozialen Entwicklung stellte, wurde doch der Kaufmann immer als ein Fremdkörper in der feudalen Gesellschaft, als Vorläufer des Kapitalismus, betrachtet. Ebenso trugen die Theorie des „Handelskapitalismus" sowie die Modernisierung der Vergangenheit in den Arbeiten vieler westlicher Wirtschaftshistoriker zur Festigung der Anschauung bei, daß diese beiden sozialen Gruppen scharf voneinander abzugrenzen wären. Aus welchen Schichten kamen die Großkaufleute, die Vorfahren des Stadtpatriziats2 des mittelalterlichen Europa? ,Aus der Schicht der kleinen wandernden Händler' antwortete Henri Rrenne und sah die Gestalt des heiligen Godric als typisch an, der auf diese Weise zu Reichtum gekommen war.3 1
2
3
Der Artikel, der hier mit kleinen Änderungen und Korrekturen folgt, ist polnisch erschienen in: Przaglad Historyczny 53/1962, S. 763—780, als Beitrag zu dem Sonderheft, das Prof. Marian Malowist zu Ehren seiner dreißigjährigen wissenschaftlichen Tätigkeit gewidmet wurde. Der Terminus „Patriziat" ist in letzter Zeit wegen seiner Ungenauigkeit und Vieldeutigkeit lebhaft angegriffen worden; vgl. R0S£AN0WSKI, T., Recherches sur la vie urbaine et en particulier sur le patriciat dans les villes de la moyenne Rhenanie Septentrionale, in: Studia z dziejöw osadnictwa, Bd. 2, Warszawa 1964, S. 5ff. und Literaturangaben. PIBENNE, H., Les villes du Moyen Age, Bruxelles 1927, S. 103FF. Nach RÖRIG, F., Die europäische Stadt, in: Propyläen-Weltgeschichte, Bd. 4, Berlin 1932, S. 280FF., (vgl. auch die Sammlung seiner Studien und Aufsätze: Wirtschaftskräfte im Mittelalter, Weimar 1959) verteidigte die Thesen Pirennes besonders PLANITZ, H., Die deutsche Stadt im Mittelalter von der Römerzeit bis zu den Zunftkämpfen, Graz und Köln 1954, S. 8 6 ff. und 9 8 ff.
120
B . ZLENTAKA
,Aus der Schicht der Wucherer' behauptete Jean Lestocquoy und wies auf seinen Werimbold von Cambrai hin.4 Aber nur wenige Forscher suchten nach Sombart 5 die Quelle des Handelskapitals in der Grundrente, obwohl Gino Luzzatto zu Godric und Werimbold noch einen „typischen" Proto-Kaufmann hinzufügte, einen Venezianer aus den Reihen der großen Feudalherren : Giustiniano Partecipazio, der schon im 9. Jh. seine aus der Feudalrente herrührenden Einkünfte im Handel angelegt hatte. 6 War Italien in dieser Hinsicht eine Ausnahme? Betrachten wir ein uns näheres Gebiet. Schon 1922 wies Kazimierz Tymieniecki in den pommerschen Städten des 12. Jh. auf eine geschlossene „herrschende Klasse, die sich nicht nur durch ihre Streitbarkeit, sondern auch durch Betriebsamkeit beim Erwerben wirtschaftlicher Einkünfte auszeichnete", hin. „Diese Schicht," schrieb er weiter, „die die Städte bewohnte und Handel trieb, aber auch Landgüter besaß, vereinigte in sich die Eigenschaften der Kaufleute und der großen Grundherren."7 Aus den Lebensbeschreibungen (Yiten) des heiligen Otto von Bamberg kennen wir eine Reihe dieser pommerschen nobiles, die Grundherrschaft mit Seehandel und — Seeraub vereinigten. Es ist hier nicht nötig, die Nachrichten über Domaslaus, Witscacus, Nedamerus und die anderen zu wiederholen: Die Literatur, die die Otto-Viten ausgewertet hat, ist sehr reich. Die Thesen Tymienieckis, die von anderen Gelehrten übernommen wurden8, gelten schon als Gemeingut der Forschung; aber meistens werden sie nur als spezifische Eigenschaft der frühen pommerschen beziehungsweise der vorkolonisatorischen Städte betrachtet. In einem Aufsatz, der zu den besten polnischen Arbeiten über die Geschichte Stettins gehört, versuchte Gerard Labuda bei den Stettiner nobiles aus der ersten Hälfte des 12. Jh. schon eine Differenzierung zu finden, indem er auf den schärfere Umrisse annehmenden Unterschied zwischen Grundherren und Stadtpatriziat hinwies. Der Reichtum des Domaslaus beruhte nach Labuda 4
5 6
7
8
LESTOCQUOY, J., Les villes de Flandre et d'Italie sous le gouvernement des patriciens (XIe—XVIe siècles), Paris 1962, S. 31 ff. SOMBART, W . , Der moderne Kapitalismus, Bd. 1 , München und Leipzig 1 9 2 2 , S . 5 8 8 ff. LUZZATTO, G., Les activités économiques du patriciat vénitien (Xe—XIVe siècles), in: Annales d'histoire économique et sociale 9/1937, S. 25ff.; DERSELBE, Storia economica d'Italia, Koma 1949. TYMIENIECKI, K . , Podgrodzia w pôlnocno-zachodniej Siowianszczyznie i pierwsze lokacje miast na prawie niemieckim, in: Slavia Occidentalis 2/1922, S. 89. Vgl. MAI,OWIST, M., Problematyka gospodarcza badan wczesnodziejowych, in: Studia Wczesnoéredniowieczne 1/1952, S. 21; SCZANIECKI, M., Glôwne linie rozwojowe feudalnego panstwa zachodnio-pomorskiego, in: Czasopismo Prawno-Historyczne 7/1955, S. 55; BABDACH, J., Historia panstwa i prawa Polski, Bd. 1, Warszawa 1957, S. 123; LOWMIANSKI, H., Podstawy gospodarcze formowania siç panstw slowianskich, Warszawa 1953, S. 206 und 211 ff. Lowmianski sieht in den Städten dieser Periode neben den Mächtigen, die den Grundbesitz mit dem Handel verbanden, auch die gemeinen Bitter, die sich mit dem Handwerk beschäftigten (vgl. aber dazu die Bezension von GIEYSZTOB, A., in: Przeglqd Historyczny 44/1953, S.610f.).
Anfänge de» Stettiner Patriziats
121
wahrscheinlich auf seinem Landbesitz, während Witscacus nach seiner Ansicht „ein typischer Vertreter der späteren Kaufmannsschicht" gewesen sei 9 . Aber diese Kombination stützt sich nur auf die Tatsache, daß bei den Hagiographen des heiligen Otto die Nachrichten über den Grundbesitz des Witscacus ebenso wie über die Handelsgeschäfte des Domaslaus fehlen. I m 12. J h . war es noch zu früh für eine Teilung der herrschenden Klasse Pommerns in städtische Patrizier und feudalen Landadel. 10 Selbstverständlich existierten damals neben Personen, die beide Quellen des Reichtums ausschöpften, auch Kaufleute ohne Landbesitz und Grundherren, die mit den Stadtgeschäften nicht verbunden waren. Diese gehörten jedoch sicher nicht zur herrschenden Gruppe in den pommerschen Städten des 12. J h . Die Trennung des Landadels vom Stadtpatriziat wurde auch hundert Jahre später, als die Deutschen im Stadtregiment Stettins die Slawen schon abgelöst hatten, nicht vollzogen. Die Lage in den pommerschen Städten kurz nach Einführung des deutschen Rechtes erinnerte sehr an das Bild, das uns aus den Otto-Viten überliefert worden ist. Es ist bekannt, daß man in vielen Fällen, auch in Stettin, schwerlich von größeren Veränderungen in der Stadttopographie und Bebauung während der „Lokation" sprechen kann. Die „Lokation" Stettins gleicht der Einführung des magdeburgischen Rechtes: die deutsche Kolonie selbst ist in dieser Stadt wenigstens mehrere Jahrzehnte älter. Ihre Vertreter kamen allmählich nach Pommern; sie paßten sich teilweise den dortigen Verhältnissen an. Führende Persönlichkeiten dieser Kolonie verbanden, genau wie früher die slawischen nobiles 11 , mit dem Gewinn aus den Stadtgeschäften die Einkünfte aus dem Landbesitz. Es ist schwer zu sagen, in welchem Maße auch die dritte Quelle der Einkünfte ihrer slawischen Vorgänger, die Seeräuberei, für sie in Frage kommt. Wenn nicht, so liegt die Ursache dafür in der Veränderung der politischen Lage des Landes und der Methoden des Seehandels. Als Repräsentanten der neuen deutschen herrschenden Schicht Stettins wählen wir Beringer von Bamberg (12. J h . ) und Johann von Wussow (Ende 13. bis Anfang 14. Jh.) Labuda, G., Problematyka badan wczesnodziejowych Szczecina, in: Przeglqd Zachodni 8/1952, Bd. 1, S. 550. Ihm folgend, glaubt auch Kiernowski, R., W sprawie pocz%tk6w organizacji panstwowej na Pomorzu Zachodnim, in: Kwartalnik Historyczny 61/1954, Nr. 4, S. 165, eine solche Differenzierung in den pommerschen Städten der 1. Hälfte des 12. Jh. zu sehen. 10 Vgl. Dowiat, J., O rewizj§ pogl^döw na dzieje wczesnosredniowiecznego Pomorza, in: Kwartalnik Historyczny 63/1956, Nr. 1, S. 120 und 123. Er weist darauf hin, daß auch das Herrschergeschlecht seine Einkünfte nicht nur aus den Abgaben und dem Grundbesitz, sondern auch aus dem Seeraub bezogen hatte. Der Niedergang des pommerschen Handels am Ende des 12. Jh. konnte den Abzug eines Teiles der nobiles aus den Städten verursachen; diese Erscheinung konnte jedoch nicht allgemein sein, da bei mehreren Zeugen in den Urkunden die Städte, in denen sie residiert hatten, genannt wurden. 11 Sie werden in den Otto-Viten auoh „primores" und „proceres", manchmal sogar „cives" genannt. 9
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B . ZLENTABA
II Gleich nach dem Tode Herzog Bogislaws I. tagte in Stettin 1187 wegen der Minderjährigkeit der Erben eine Beamtenversammlung unter dem Vorsitz der Herzogin-Witwe Anastasia und des vicedominus terrae Wartislaw Swantiboritz. Außer den in der damaligen schweren Lage Pommerns zweifellos heißen politischen Verhandlungen stand dort auch ein anderes Ereignis auf der Tagesordnung, das von jeher die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich zog: die Weihe der neuen St. Jakobikirche, die für die deutsche Gemeinde Stettins von einem gewissen Beringerus gestiftet worden war. 12 Es ist die Persönlichkeit des Stifters, die uns hier vor allem interessiert. „Quidam Beringerus laicus, in civitate Bambergensi bene natus, sed multo tempore in nostro castro Stetin honeste conversatus" — das ist fast alles, was wir von seinem Leben und seinen Taten erfahren. Bamberg, der Bischofssitz des Apostels von Pommern, und besonders das St. Michaelskloster, seine Grabstätte, standen vom Anfang an in lebhaften Beziehungen zu Pommern. 13 Es waren vor allem selbstverständlich kirchliche Beziehungen: von Bamberg kamen die ersten Geistlichen, und bis 1140 unterstand das Land der Jurisdiktion des Bamberger Bischofs. Die Beziehungen wurden enger zur Zeit Bogislaws I. im Zusammenhang mit dem Kanonisierungsprozeß des heiligen Otto. Der damalige Bischof von Bamberg, Otto II., entsandte den Abt Wolfram des Bamberger St. Michaelsklosters nach Kammin, welcher neue Beweise zur Heiligsprechung des Pommernapostels suchen sollte. Bei dieser Gelegenheit bekam das Kloster von Bogislaw I. eine Wachsrente, die in pommerschen Markttabernen jedes Jahr bezogen werden sollte.14 Diese Rente belebte die Beziehungen zwischen Bamberg und Pommern. Es ist zweifellos, daß sie nicht nur auf kirchliche Angelegenheiten beschränkt worden sind. Als St. Otto 1128 den ersten Warentransport nach Pommern gebracht hatte 1 5 , wurde er selbst Anreger von Handelskontakten. Weitere Nachrichten über solche Kontakte fehlen leider. Wie kam Beringer nach Pommern? Er mußte dort schon eine längere Zeit vor 1187 (multo tempore) gewesen, konnte also nicht erst mit dem Abt Wolfram 12
Codex Pomeraniae diplomáticas, (im folgenden zitiert: CPD), hrsg. v. K. F. W. HASSELBACH, J . G. L . KOSEGARTEN und F. v. MÜDEM, Greifswald 1 8 4 3 — 1 8 6 2 , nr. 6 1 , S. 1 4 5 . 13 WEHBMAUN, M., Pommern und Bamberg, in: Monatsblätter der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde 1/1887, S. 3ff.: DERSELBE, Geschichte der St. Jakobikirche in Stettin bis zur Reformation, in: Baltische Studien 37/1887, S. 292ff. Eine gegenteilige Meinung vertrat SOMMERFELD, W . v.f Geschichte der Germanisierung des Herzogtums Pommern oder Slavien bis zum Ablauf des 13. Jh., Leipzig 1896, S. 37. 14 Miracula et elevatio S. Ottonis, hrsg. v. R. KÖPKE, MGH, SS. XII, c. 8-9, S. 912f.; CPD, nr. 51, S. 124f. 15 Herbordi Dialogus de vita Ottonis episcopi Bambergensis, hrsg. v. R . K Ö P K E , M G H , SS. XX, lib. III, c. 1, S. 747.
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gekommen sein. Martin Wehrmann bemühte sich16, eine Verwandtschaft zwischen diesem Beringer und Bero von Apetestorff, einem Koch des heiligen Otto, festzustellen; aber diese Hypothese, die nur auf der Ähnlichkeit des Namens und der Beziehungen beider Personen zum St. Michaelskloster beruht, ist als reine Phantasie zu betrachten. Mehr Wahrscheinlichkeit hat die These von der Verwandtschaft Beringers von Stettin mit einer Bamberger Familie dieses Namens, die noch im 16. Jh. fortlebte und mit dem Rat von Stettin über das Patronat der St. Jakobikirche korrespondierte.17 Die Phrase „in civitate Bambergensi bene natus" gibt wieder ein Problem auf. Helena Chiopocka versuchte es zu lösen, indem sie Beringer als einen „Adligen" bezeichnete.18 Aber man muß unterstreichen, daß Beringer „in civitate Bambergensi" und nicht „in terra" bene natus gewesen ist. Diese Wendung umreißt seinen Tätigkeitskreis nicht so scharf und erlaubt, Beringer mit den pommerschen stadtansässigen nobiles zusammenzustellen.19 Der Lebenslauf Beringers in Pommern ist uns gänzlich unbekannt. Wir wissen nicht, in welcher Weise er sich beim Herzog verdient gemacht hat. Seine Nachkommenschaft kann man in der später bekannten Stettiner Patrizierfamilie Beringer (nach 1546 mit der Nonne Magdalena erloschen) suchen.20 Sein Interesse für die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse der deutschen Gemeinde in Stettin zeugt stark von der Verbindung seiner Tätigkeitssphäre mit der Stadt. Auf der Stadtflur hatte Beringer einige Äcker, die er ganz oder zum Teil seiner Gründung schenkte. Aber Beringer war auch Besitzer von mindestens zwei Dörfern (Clezcow und Gribin) sowie Grundherr dortiger Bauern. Ihm gehörte auch ein Teil der Gollnower Heide — alles auf Grund einer Schenkung Bogislaws I.21 Wenn wir annehmen — was am wahrscheinlichsten ist —, daß nicht alle Besitzungen Beringers seiner Stiftung übergeben worden waren, so ersehen wir, daß in seinen Händen Stadtbesitz mit ansehnlichem Grundbesitz vereint gewesen war. Als Zeitgenossen Beringers residierten in Stettin mehrere slawische nobiles, die die Tradition des Domaslaus und des Witscacus fortsetzten. Beringer folgt diesem Vorbild ebenfalls — und nicht als einziger der Stettiner Deutschen. Unter den ritterlichen Zeugen in der sogenannten Lokationsurkunde von 1243 tritt ein Gozwinus de Stettin auf22; 1263 ist ein Arnoldus vocatus miles Ratsherr von Stettin23. Das sind die offiziell als milites cincti betrachteten Leute. Und 17 Ebenda, S. 293. « WEHRMANN, M., Geschichte der St. Jakobikirche, a. a. O., S. 292. 18 CHEOPOCKA, H., Poczqtki Szczecina, in: Rocznik Historyczne Bd. 17/1948, S. 316. 19 Eine sehr vorsichtige Stellung zur Frage der Herkunft Beringers nahm W. v. SOMMER-
FELD, a. a. O . , S. 91, ein.
WEHRMANN, M., Geschichte der St. Jakobikirche, S. 292 f. CPD, nr. 61, S. 145; nr. 82, S. 196f. 22 CPD, nr. 324, S. 691. Musseruch de Stettin, der in demselben Jahre in einer anderen Urkunde (CPD, nr. 327, S. 698) auftritt, ist dagegen wohl ein Slawe. 23 Pommersches Urkundenbuch (im folgenden zitiert: PUB), hrsg. v. R. KLEMPIN, R. PRÜMERS u. a., Stettin 1868ff., Bd. 2, nr. 740, S. 108f. 20
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wie stand es mit denen, die in den Urkunden als cives bezeichnet wurden? Untersuchen wir eine der angesehensten Familien Stettins im 13. und 14. Jahrhundert. III Die nach Pommern einwandernden Deutschen brachten eine stabile feudale Rangordnung mit, die in den Zeugenlisten der Urkunden ihren Ausdruck findet. Die ersten in der Reihe (nach eventuellen Vertretern des Fürstenhauses) sind Geistliche, danach kommen die Ritter (milites), erst nach ihnen die cives. Aber diese importierte Ordnung widerspiegelte nicht die pommersche Realität. Hier erstarrte die Gesellschaft noch nicht in einem strengen, hierarchischen Rahmen. Jemand, der als miles gekommen war, konnte, indem er sich in einer Stadt ansiedelte, ein Kaufmann-Bürger werden; ein civis konnte hier vom Herzog ebenso wie ein Ritter einen Lehnsbesitz bekommen. Die höchsten Karrieren machten die servi (Ministerialen), welche sehr schnell zum Gipfel der feudalen Leiter emporstiegen. Diese Labilität der Verhältnisse, die große Möglichkeit vorwärtszukommen spielte zweifellos eine erstrangige Rolle unter den Faktoren, die die Fremden nach Pommern zogen. Das Geschlecht derer von Wussow, das das Oberteil eines Hirsches im Wappen hatte, gehörte bis zu seinem Erlöschen in der männlichen Linie 1804 zu den angesehensten pommerschen Adelsgeschlechtern; seine Angehörigen erbten den Titel des Erbschenken des Herzogtums. 24 Die Anfänge des Geschlechtes verschwinden im Nebel des 13. Jh. Ein pommerscher Forscher des 19. Jh., L. Quandt, sah in ihm einen Zweig des herrschenden Hauses: durch einen mysteriösen Bartholomäus von Pölitz sollen die Wussows Nachkommen des bekannten Stifters von Kolbatz und Regenten von Pommern, Wartislaw II. Swantiboritz, gewesen sein. Indem er den Geschlechtsnamen mit dem Dorfe Wussow bei Stettin (heute Stadtteil Szczecin-Osöw) in Verbindung brachte, behauptete Quandt, daß die Besitzungen derer von Wussow im Gebiet der Domäne Wartislaws II. gelegen hätten und die Wussows dessen Nachkommen und Erben gewesen seien. 25 Aber schon der Verfasser des pommerschen Wappenbuches, J. T. Bagmihl, hat sich kritisch zu dieser These geäußert. Kein Indiz spricht für slawische Herkunft derer von Wussow. Seit ihrem ersten Erscheinen in den Quellen trugen sie rein deutsche Namen oder christliche Namen in ihren deutschen Formen. Der Besitz, den Quandt als Erbe ihrer fürstlichen Vorfahren betrachtete, wurde in Wahrheit durch Schenkungen und Kauf erworben, wie die Urkunden beweisen, die wir im folgenden näher untersuchen werden. m B A G M I H L , J . T . , P o m m e r s c h e s W a p p e n b u c h , S t e t t i n 1843-55, B d . 2, S. 118-123. 26
QUANDT, L., Die Landesteilung in Pommern vor 1295, in: Baltische Studien 11/1845, H. 2, S. 138 f. und Tafel S. 140.
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Wann erscheinen die Wussows in Pommern ? Als ihr Ahnherr wird gewöhnlich der Ritter Marquart Wussow betrachtet, •welcher 1262 in ein Lehnsverhältnis zum Bamberger St. Michaelskloster oder eigentlich zu seiner Stettiner Expositur, der St. Jakobikirche, eintrat. Er erhielt von den Mönchen 13 Hufen im Dorfe Mandelkow (B^dargowo); dafür sollte er ein Pferd für die Reisen der Mönche von Stettin nach Bamberg bereit halten. 26 Wehrmann sah in Marquart einen Vorfahren derer von Wussow: den Vater Wessels, des ersten genealogisch faßbaren Vertreters des Geschlechtes. 27 Die Frage ist jedoch nicht so einfach: 1. Den Vertrag des Klosters mit Marquart kennen wir nur aus einer Aufzeichnung im Chartular der St. Jakobikirche (dem sogenannten Liber Sancti Jacobi), das in der zweiten Hälfte des 15. Jh. vom Prior Theodoricus zusammengestellt wurde. 28 Im 15. Jh. (und auch schon früher, nämlich seit dem 13. Jh.) gehörte der größte Teil von Mandelkow denen von Wussow als Lehen der Kirche; deshalb schrieb Theodoricus diesen Namen auch Marquart zu, den er als einen von Wussow betrachtete. 2. Der Vertrag mit Marquart fehlt in einem Kopiar der Urkunden derer von Wussow. Dieses Kopiar beginnt erst mit zwei Urkunden aus dem Jahre 1267, laut welcher Wessel, unstreitiger Ahnherr der Wussows, vom St. Michaelskloster 5 und 7 Hufen in Mandelkow zu Lehen erhielt. 29 Die abweichende Hufenzahl und das Fehlen der für Marquart charakteristischen Bedingungen bezeugen, daß es sich hier um ein anderes Lehen handelt. 3. Wessel, den Wehrmann ohne Vorbehalt als Sohn Marquarts ansprach, trägt im Gegensatz zu jenem in den Urkunden (er tritt in ihnen 14mal auf) niemals den Zunamen Wussow oder den Titel miles. Somit bleibt der Lehnsbesitz in Mandelkow der einzige Faktor, der den Ritter Marquart und die Wussows zusammenbringt. Das ist aber zu wenig. Lassen wir also den edlen Ritter Marquart das Pferd für die Bamberger Mönche in Mandelkow pflegen und betrachten Wessel näher, eine Persönlichkeit, die im Grunde noch interessanter, wenn auch bescheidener als Beringer von Bamberg gewesen ist. Wessel war aller Wahrscheinlichkeit nach nicht „bene natus". Er tritt in den Quellen nur mit seinem Vornamen auf, der im Norden wie im Süden Deutschlands üblich war. 30 Es fehlt ihm ein Zuname, den in jener Zeit in Deutschland die Ritter fast allgemein, häufig aber auch schon die höheren Schichten der Bürgerschaft trugen. Niemals wird Wessel näher bezeichnet, auch nicht nach 26
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PUB, Bd. 2, nr. 716, S. 13. Das Patronat der St. Jakobikirche und ihr ganzer Besitz standen dem St. Michaelskloster zu, das in Stettin seine Expositur besessen hatte: die Kirche selbst wurde durch die aus Bamberg gekommenen Benediktiner unter der Aufsicht eines Priors verwaltet und bedient. WEHRMANN, M., Geschichte der St. Jakobikirche, a. a. O., S. 331 f.
» Ebenda, S. 402ff. » Vgl. PUB, Bd. 2, nr. 848-849, S. 184f. 30 FÖRSTEMANN, E., Altdeutsches Namenbuch, Bd. 1, 2, Bonn 1901, Sp. 1549 und 1622.
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seinem Herkunftsort. Nur einmal, schon als Ratsherr, wurde er Wetzelinus de Stettin genannt 31 ; damals hatte er aber schon wenigstens 20 Jahre Aufenthalt in dieser Stadt hinter sich. In den Quellen erscheint Wessel (als Wescelus) erst 126632; wir können jedoch annehmen, daß dieses Jahr nicht den Anfang seines Aufenthalts in Stettin markiert. Er weilte dort wahrscheinlich schon kurz nach der Einführung des deutschen Rechtes. P. von Niessen wies schon vor mehreren Jahren auf die Rolle Stendals bei der Entwicklung der deutschen Gemeinde Stettins hin.33 In Stendal suchte er die Heimat der ersten Schultheissen von Stettin, der Barvots; aus einer Stendaler Ratsfamilie sollte auch einer der ersten Schöffen, Lambert von Sandow, stammen. Auch die Stettiner Familien Wiese (Sapiens), Parvus (Kind?), Brakel, Angermünde haben ihre Namensverwandten in Stendaler Urkunden. Den Vornamen Wessel findet man in ganz Deutschland, aber nicht überall so häufig, wie man annehmen könnte. Nur in einer der brandenburgischen Städte jener Zeit treten eine oder mehrere Personen dieses Namens auf — eben in Stendal. Wessels Herkunft aus Stendal, und seine Verbindung mit einer Gruppe einflußreicher Leute aus der gemeinsamen Heimat könnten seine schnellen Erfolge und seinen Eintritt in den Rat erklären. Bis 1269 stand Wessel am Ende der Zeugenlisten. Er stand jedoch nicht hinter den anderen zurück, als 1249, nach der Zerstörung der herzoglichen Burg, deren Gebiet vor allem in bürgerliche Hände überging.34 Damals sicherlich erwarb Wessel einen großen Teil des nordwestlichen Burggeländes; es ist wenig wahrscheinlich, daß er diesen Platz später kaufte. Als die Kanoniker des eben gegründeten Stettiner Kollegiatstiftes (zuerst bei der kleinen St. Peterskirche) eine ansehnliche Domkirche zu bauen beschlossen hatten, fiel ihre Wahl auf eben diesen Teil des ehemaligen Burggeländes. Die Parzelle Wessels stieg jetzt im Preis: Als es 1263 durch Vermittlung Herzog Barnims I. zur Überweisung des kürzlich von den Bürgern gewonnenen Geländes an das Domstift kam 35 , trat auch Wessel seine Parzelle ab, und zwar für eine jährliche Rente von 5 Pfund 3 Schillinge, die für die Domherren eine nicht geringe Belastung war36. Einen ähnlichen Vertrag schlössen, wie es scheint, auch die Nachbarn Wessels, Dietrich und Godeke von Salz31 PUB, Bd. 2, nr. 1124, S. 395f. (zum Jahre 1278). 32 Ebenda, nr. 818, S. 160. 33 N I E S S E N , P. v., Über die Schöffen im ältesten Stettin, in: Baltische Studien, Neue Folge, 34/1932, S. 77 f. 34 CPD, nr. 420, S. 871 f. 33 PUB, Bd. 2 , nr. 7 4 0 , S. 118f.; HOOGEWEG, K., Die Stifter und Klöster der Provinz Pommern, Bd. 2, Stettin 1925, S. 498ff. 36 PUB, Bd. 2, nr. 856, S. 190: „5 talentorum et 3 solidorum Stetynensium denariorum, quae eidem Weszelo singulis annis soluebantur iure hereditario et cedebant de loco sive spacio, in quo ecclesia nostra . . . consistit edificata, constructa honorifice et fundata...".
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wedel.37 Die Geldrente war jedoch für die Domherren äußerst ungünstig, und deshalb wurde 1267 Wessels Rente gegen 6 Hufen in WamJitz (W^welnica) vertauscht.38 Er hatte diesem Tausch zugestimmt, was zeigt, daß ihm der Landbesitz nicht unangenehm war. Bei der damaligen starken Entwicklung des Getreideexports konnte für ihn die Feudalrente in Getreideform sogar ein Vorteil sein. Besonders eng war Wessel mit einem anderen Kirchenstift verbunden, nämlich mit dem Stettiner Nonnenkloster; er tritt häufig in Urkunden der Stettiner Nonnen als Zeuge auf.39 Man kann nicht sagen, was ihn an die Nonnen fesselte: Frömmigkeit oder Vorliebe für ihren Gesang, den Konrad von Massow in einer interessanten Urkunde40 so bewunderte? Eher waren es doch die Geldgeschäfte, die letztlich (1280) die Nonnen zur Übergabe einer Reihe von Grundbesitz (6 Hufen in Rosow, 184/2 Hufen in Pomellen und 10 Hufen in Warsow) an Wessel veranlaßt hatten.41 Wessels Beziehungen zur St. Jakobikirche gaben ihm die Möglichkeit der weiteren Vermehrung seines Grundbesitzes. 1267 belehnte ihn der Abt des Bamberger St. Michaelsklosters mit 5 und 7 Hufen in Mandelkow (laut zweier an demselben Tage ausgestellter Urkunden).42 Wie wir schon festgestellt haben, standen diese Lehnhufen in keinem Zusammenhang mit dem Lehnbesitz des Ritters Marquart, obwohl auch dieser kurz darauf die Besitzungen der Nachkommen Wessels ergänzen sollte. Bei Gelegenheit der Bestätigung von Wessels Erbe erfahren wir, daß der Verstorbene nicht nur Lehnsmann der Domherren, der Benediktiner und der Nonnen, sondern auch herzoglicher Vasall gewesen war.43 Aber auf welchen Gütern? Frühere Forscher verbanden die Wussows mit dem Dorfe Wussow bei Stettin (heute Stadtteil Szczecin-Osöw) als ihrem Familiensitz.44 Aber diese Interpretation begegnet Schwierigkeiten: Wussow wurde nämlich schon 1277 von der Stadt Stettin gekauft 45 , konnte also nach diesem Datum nicht im Besitz der Wussows sein. Vor wie nach 1277 trug Wessel den Zunamen „von Wussow" 37
PUB, Bd. nr. 888, S. 215, nr. 936, S. 249f. In der ersten dieser Urkunden steht deutlich, daß „ . . . Godekinus dictus de Saltwedele" die Rente „ . . . de duobushereditatibus, quae iacent iuxta cymiterium nostrium versus occidentem . . . " bekommen hat. Vgl. HOOGEWEG, H., a. a. 0., Bd. 2, S. 500, und FBIEDBICH, G., Die ehemalige Marienkirche zu Stettin und ihr Besitz, in: Baltische Studien 21/1918, S. 160f. 38 PUB, Bd. 2, nr. 856, S. 190. Ähnlich wurden auch die Salzwedels abgelöst. 39 PUB, Bd. 2, nr. 818, 826, 827, 828, 884, 946, 1124, 1226. 40 Vgl. PUB, Bd. 2, nr. 1125, S. 397f. «i Ebenda, nr. 1161, S. 421. « Ebenda, nr. 848 und 849, S. 184f. 43 Ebenda, nr. 1375, S. 591: „ . . . Quaecunque bona pater ipsorum a nobis habuit in pheodo . . . " 44
QUANDT, L., a. a. O., S. 138; BAGMIHL, J . T . , a. a. O., B d . 2, S. 118.
« PUB, Bd. 2, nr. 1051, S. 338. 10 Neue Hansische Studien
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nicht; mit dieser Bezeichnung tritt zuerst 1285 sein Sohn Johannes auf.46 Es ist merkwürdig, daß unter drei Söhnen Wessels (Johannes, Lambert und Heinemann, d. i. Heinrich) nur der erste diesen Zunamen trug: der eventuelle Besitz von Wussow betrifft also nur ihn. P. von Niessen versuchte, sich aus diesen Schwierigkeiten herauszurotten, indem er behauptete, daß Johannes nicht ein Sohn Wessels, sondern sein Stiefsohn, ein Sohn seiner Frau Grete Platen und ihres angeblichen ersten Mannes, eben Marquart Wussows, des Besitzers der 13 Hufen in Mandelkow, gewesen sei.47 Diese Kombination ist sehr anziehend; gegen sie sprechen jedoch direkte Quellenaussagen: Johannes tritt deutlich als filius Wezeli auf.48 Hier muß man anmerken, daß es in Pommern außer Wussow bei Stettin noch vier Ortschaften dieses Namens (polnisch: Osowo) gibt.49 Davon müssen wir zwei ausschließen: die in den Kreisen Lauenburg (poln. Lfbork) und Bummelsburg (poln. Miastko), die damals zum Herzogtum Pomerellen gehört haben; es bleiben noch zwei übrig, welche in den Kreisen Belgrad (Bialogard) und Naugard (Nowogard) liegen. Mit einem von diesen Dörfern könnte Bogislaw IV. Johannes, den Sohn Wessels, belehnt haben. Aber auch Wessel selbst behielt einige Güter als herzoglicher Vasall, obwohl wir das Dorf Wussow diesen Gütern nicht zurechnen dürfen. Jede Nachricht über sie bleibt jedoch aus. Nach Wessels Tode erfahren wir nur, daß er vom Herzog eine jährliche Rente von 2 Pfund aus 8 Hufen der Stadtflur von Garz an der Oder, eine Rente von 1 Pfund aus 4 Hufen im Dorfe Geesow und 2 Hufen in Reinkendorf mit vollem Nutzungsrecht bekommen hatte.50 Ich vermute jedoch, daß Wessel einige bedeutendere Lehnsbesitzungen vom Herzog bekommen hatte; denn nach seinem Tode erhielten seine drei Söhne am 10. Mai 1286 die formelle Lehnsurkunde, die ihnen „quaecunque bona pater ipsorum a nobis habuit in pheodo, perpetuo manu coniuncta sive communi" vergab.51 Noch ein Wort über die Familienbeziehungen des alten Wessel. Er heiratete Grete Platen, eine Tochter des Rittergeschlechtes, das bei Pyritz und wahrscheinlich auch bei Kolbatz begütert war.52 Die Bedeutung dieses Geschlechtes war jedoch erst sehr jungen Datums. Sein Ahnherr Otto, wahrscheinlich Gretes Vater, trat zum ersten Mal 1255 als Ministeriale (servus) des Abtes von Kolbatz « Ebenda, nr. 1323, S. 545f. « NIESSEN, P. V., a. a. 0 . , S. 71. « P U B , Bd. 2, nr. 1375, S. 591. 49 Meyers Orts- und Verkehrslexikon des Deutschen Reiches, Bd. 2. Leipzig und Wien 1916, S. 1203f. (Vgl. auch EOSFOND, S., Slownik nazw geograficznych Polski Zaehodniej i P61nocnej, Wroclaw und Warszawa 1951, s. v). so P U B , Bd. 2, nr. 1677, S. 200. 51 Ebenda, nr. 1375, S. 591. 52 Vgl. P U B , Bd. 3, nr. 1523, S. 88; nr. 1677, S. 200. Es scheint, daß sie 1312 noch lebte (Vgl. P U B , Bd. 5, nr. 2764, S. 79: vidua beim Dorf Pomellen). Die Verwandschaft der Söhne Wessels und Gretes mit den Platens ergibt sich aus der Urkunde von 1303 ( P U B , Bd. 4, nr. 2085, S. 84): Otto Platen tritt dort als „avunculus" des Johannes von Wussow auf.
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auf; 5 3 eben den Zisterziensern von Kolbatz wie vielleicht auch den Beziehungen zu Stettiner Bürgern dankten die Platen ihren schnellen Aufstieg und ihre Aufnahme in die Umgebung der Herzöge. Als Wessel wahrscheinlich 1285/86 starb, hinterließ er neben den uns bekannten herzoglichen Lehen (darunter jene 2 Hufen in Breinkendorf) 12 Hufen in Mandelkow (als Lehen des Bamberger St. Michaelsklosters), 34^2 Hufen in Rosow, Pomellen und Warsow (als Lehen des Stettiner Nonnenklosters) und 6 Hufen in Wamlitz (als Lehen des Domstiftes St. Marien). Wir wissen auch, daß er in dem Stadtdorf Kreckow (heute Stadtteil Szczecin-Krzekowo) weitere 6 Hufen besaß 54 , kennen aber nicht seine eventuellen weiteren Besitzungen in der Stadtflur. Wessel besaß also volle Feudalrente aus mindestens 6OV2 Hufen, den uns bekannten Teilbesitz der Rente aus einzelnen Hufen nicht eingerechnet. Außer der Transaktion mit seinem Anteil am früheren Burggebiet wissen wir nichts über seine Tätigkeit in der Stadt. Nichtsdestoweniger hat ihm diese Tätigkeit den Eintritt in den Rat ermöglicht.55 Neben einer Tochter, die den Stettiner Ratsherrn Reinecke heiratete hinterließ Wessel drei Söhne. Von diesen erscheint Lambert nur einmal: in der Belehnungsurkunde Bogislaws IV. 5 7 ; und der jüngste Sohn Heinrich oder Heinemann starb vor dem 31. März 1304 58 . Die ganze Erbschaft behielt also der älteste der Brüder, Johannes von Wussow, der erste mit diesem Zunamen, der den Grundstein zur Bedeutung des Geschlechtes legte. Im Grundbesitz erscheinen einige Veränderungen; wahrscheinlich hatte ihn Johannes etwa verdoppelt. Die Besitzungen, die Wussow von den Stettiner Nonnen zu Lehen besaß, kennen wir aus dem Bruchstück eines klösterlichen Inventars aus dem Jahre 1312 5 9 : Warsow — 10 Hufen; Rosow — 5 Hufen; Pomellen — I6V2 Hufen; daneben besaß seine Mutter dort 2 Hufen auf Lebenszeit. Dank den im Inventar zusammengefaßten Angaben über die bäuerlichen Leistungen kennen wir die Höhe der von diesen Gütern dem Wussow zufließenden Rente: Warsow: 120 Scheffel Roggen, 120 Scheffel Hafer, 20 Schillinge; Rosow: 45 Scheffel Roggen, 15 Scheffel Weizen, 60 Scheffel Hafer, 10 Schillinge; 53 PUB, Bd. 2, nr. 608, S. 20ff. « PUB, Bd. 3, nr. 1523, S. 88. 65 Deutlich als Ratsherr in PUB, Bd. 2, nr. 1124, S. 395; ferner sehr oft in den Zeugenlisten als erster von den Bürgern genannt. Vgl. BLÜMCKE, O . , Der Bat und die Ratslinie von Stettin, in: Baltische Studien 17/1913, S. 109, nr. 28. 5« PUB, Bd. 2, nr. 1523, S. 88: Unter den Zeugen „Reineke Weszeli gener". 5' Vgl. Anm. 51. 8 8 An diesem Tage als gestorben bezeichnet: PUB, Bd. 4, nr. 2153, S. 131 f. 69 PUB, Bd. 5, nr. 2764, S. 78-80. 10*
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Pomellen: 198 Scheffel Roggen, 198 Scheffel Hafer, 33 Schillinge; dazu die Mutter: 24 Scheffel Roggen, 24 Scheffel Hafer und 4 Schillinge. Das ergibt zusammen 387 Scheffel Roggen, 15 Scheffel Weizen, 402 Scheffel Hafer und 3 Pfund 7 Schillinge in Bargeld. Diese Rentenhöhe kann ein Licht auf das Einkommen aus anderen Wussowschen Gütern werfen. Über die Beziehungen Johannes von Wussows zum Domkapitel St. Marien Sagen die Quellen nichts: wir wissen nicht einmal, ob die 6 Hufen in Wamlitz in den Händen der Wussöw geblieben waren. Dagegen wurden die Besitzungen in Mandelkow wesentlich vergrößert. Diese Operation, die vielleicht mit dem Ankauf der dem Marquart oder seinen Erben gehörenden Hufen vollzogen .worden war, geschah wahrscheinlich ohne Genehmigung des Priors von St. Jakobi. Das war wahrscheinlich die Ursache des Streites, der im Dezember 1286 durch die Vermittlung des Stettiner Rates geschlichtet wurde. Im Endergebnis besaßen die Wussows in Mandelkow 31 Hufen, darunter 29 mit der Gerichtsherrschaft .60 Im Jahre 1303 kaufte Johannes von Wussow zusammen mit seinem Vetter Otto Platen dem Jüngeren von drei Rittern Seliboritzen das Dorf Lübbezin (Lubczyna)61, das den Endpunkt der Flußüberfahrt von Stettin nach Gollnow dtirch die Oder und den Dammschen See bildete; schon seit 1274 besaßen die Stettiner dort einen Krug62. Im Jahre 1315 erwarb er das Dorf Kurow an der Oder mit 26 Hufen, mit dem Krug und der Bede von 14 Hufen. 63 Endlich, kurz vor seinem Tode, verpfändete ihm 1317 Herzog Otto I. die Bede des Dorfes Staffelde (Staw) mit den Einkünften aus den dortigen zwei Krügen und aus der Mühle.64 Als Feudalherr von über 100 Zinshufen konnte sich Johannes von Wussow zu den vornehmsten pommerschen Rittern zählen, obwohl er sich des Rittertitels nicht bediente; der Titel des Stettiner Ratsherrn schien ihm offenbar würdiger. In dieser Eigenschaft spielte er 1295 eine bedeutsame politische Rolle als Vermittler zwischen den streitenden herzoglichen Brüdern Bogislaw IV. und Otto I. und danach als Mitglied der Kommission, welche die Grenzen der eben gebildeten pommerschen Teilherzogtümer festsetzte.65 Wir können auch seine Beteiligung bei der Redaktion der Garantien annehmen, die der Teilungsvertrag den pommerschen Ständen gegeben hatte und die die PUB, Bd. 2, nr. 1401, S. 609f. W E I D M A N N , M., Geschichte der St. Jakobikirche, S. 347f., glaubt die Ursache des Streites in den Gerichtsrechten im Dorf, deren Verteilung sehr kompliziert gewesen sei, gefunden zu haben. 01 PUB, Bd. 4, nr. 2085, S. 84. Otto Platen wird „avunculus" des Johannes von Wussow genannt, konnte aber wegen seines jugendlichen Alters nicht dessen Onkel gewesen sein. «2 PUB, Bd. 2, nr. 985, S. 286f. (vgl. ZIENTARA, B., Z dziejöw walki Szczecina o handel odrzatiski, in: Szczecin 2/1958, H. 11/12, S. 49). ® PUB, Bd. 5, nr. 2941, S. 214. 64 Ebenda, nr. 2991, S. 248 (vgl. auch die Korrektur des Datums ebenda, nr. 3039, S. 286). «s PUB, Bd. 3, nr. 1729 und 1730, S. 243-248.
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erste Einschränkung der herzoglichen Gewalt zugunsten der Stände bildete.66 Wir kennen die Stellung Wussows während des Streites Ottos I. mit Stettin im Jahre 1313 nicht; zum Herzog hatte er jedenfalls gute Beziehungen. 1305 erwarb er ein Privileg, das seine Vasallendienste begrenzte. Von dieser Zeit an sollte er nur solohen Kriegszügen Folge leisten, an denen der Herzog persönlich teilnahm, und nur solange, wie dieser beim Heer blieb. Insbesondere befreite ihn der Herzog von der Kriegsfolge im Rahmen seiner eigenen Vasallendienste für die brandenburgischen Markgrafen, damals Pommerns Lehnsherren. Endlich wurde Wussow von der Pflicht, zu jeder Vasallenversammlung persönlich zu erscheinen, befreit. Das Privileg galt auch für seine Nachkommen.67 Und doch folgte Wussow dem Herzog Otto 1316, als dieser dem Markgrafen Woldemar bei der Belagerung der mecklenburgischen Stadt Woldeck zur Hilfe eilte.68 Der Feldzug brachte ihm erhebliche Verluste, vielleicht durch eine Pferdeseuche. Wussow verlor dort jedenfalls fünf Pferde; zwei weitere mußte er dem Herzog für dessen gefallene Pferde geben. Der sorgsame Ratsherr sicherte aber seine Interessen, indem er vom Herzog für seine auf 300 Mark berechneten Verluste die schon erwähnte Bede und andere Einkünfte aus Staffelde erwarb.69 Aber auch die Gesundheit des Johannes von Wussow mußte damals Schaden erlitten haben, denn zwischen Januar und August 1317 ist er gestorben.70 Betrachten wir noch die Tätigkeit des Johannes von Wussow im Stadtgebiet von Stettin, was uns das erhaltene Stadtbuch aus dieser Zeit ermöglicht.71 Unser Ratsherr besaß, abgesehen von zwei Steinhäusern, einige Ackerwirtschaften in der Stadtflur. In der Umgebung des sogenannten Hundsberges (später Roddenberg und Rosengarten genannt; in der Gegend der heutigen Podgörna-Straße, also am Südende der damaligen Stadt) besaß er eine hereditas mit einer curia und einer nicht genannten Zahl von mansi (Hufen).72 Eine andere Ackerwirtschaft besaßen die Wussows am Flüßchen Klingendebeke73 66
Vgl. ZIENTABA, B., Rola miast W walce stanöw Pomorza Zachodniego z wladzq, ksiq,zec% na przelomie X I I I i X I V wieku, in: Zapiski Historyczne 27/1962, 8. 496ff.
67
P U B , Bd. 4, nr. 2231, S. 190f. Zu diesen Ereignissen vgl. KLÖDEN, K . F., Diplomatische Geschichte des Markgrafen Waldemar von Brandenburg, Bd. 2, Berlin 1845, S. 207—209. Klöden wußte nichts von der pommerschen Unterstützung für Woldemar bei der Belagerung von Woldeck.
68
Vgl. Anm. 64. Schon am 24. August 1317 belehnte Otto I. die Söhne Johannes (Henning) und Peter mit seinen Gütern (vgl. P U B , Bd. 5, nr. 3136, S. 347 f.). 71 Das älteste Stettiner Stadtbuch (1305-1352), hrsg. v. M. WEHRMANN, Bd. 1, Stettin 1921 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Bd. 1, H. 3). '2 Ebenda, nr. 127, S. 28; nr. 1181, S. 115; nr. 1520, S. 145. 73 Ebenda, nr. 987, S. 99. Es gelang mir nicht, das Flüßchen zu lokalisieren. Die Arbeiten von Hering, Berghaus und Lemcke über die Topographie Stettins berücksichtigen diesen Namen nicht; ZAJCHOWSKA, S., Pierwotny krajobraz ¿redniowiecznego Szczecina, in: Przegl^d Zachodni 8/1952, Bd. 1, S. 604, erinnert an einige kleine Nebenflüsse der Oder im Gebiet des späteren Stettin. 69 70
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und nicht weit davon, hinter dem „Heiligengeistberg", also in der Nähe vom Heiligengeisthospital, hatten sie einen Garten (ortus)74. Endlich bezog Wussow aus den Bauernhufen des städtischen Dorfes Pommerensdorf (Pomorzany) einen Zins von 3 Wispel (72 Scheffel) Roggen75, und in einem anderen Stadtdorf, Scheune (heute Stadtteil Szczecin-Gumience), zahlten mindestens zwei Bauern den Wussow 7 Wispel (168 Scheffel) Getreide76. Es ist merkwürdig, daß mit Ausnahme des letztgenannten Zinses Johannes von Wussow keine Getreiderentengeschäfte betrieb; er handelte auch nicht mit den Grundstücken. Dagegen zeigt uns das Stadt buch ein lebhaftes Bild seiner Spekulationen mit der Rente aus den Stadtparzellen, die damals eine Form des Kredites bildete.77 In den Jahren 1306-1314, für welche Einträge im Stadtbuch existieren, kaufte Johannes von Wussow Renten im Gesamtwert von 14 Pfund 12 Schillingen und verkaufte Renten im Gesamtwert von 31 Pfund 12 Schillingen. Wenn wir annehmen, daß die Eintragungen die Gesamtheit der Transaktionen Wussows bilden, kommen wir zu folgenden Einnahmen aus der Stadtparzellenrente am Beginn der einzelnen Jahre (Angaben in pommerschen Schillingen): 1306-520 1307-480 1308-400 1309-320 1310-440
1311-440 1312-456 1313-392 1314—456 1315-220
Selbstverständlich waren die Einnahmen aus diesen Renten in Wirklichkeit höher; wir kennen jedoch von ihnen nur die von Wussow angekauften oder verkauften und nicht jene, die die ganze Zeit in seinen Händen waren. Nebenbei gesagt, hatte Wussow 1307 seine eigenen Ackerwirtschaften auf dem Hundsberg mit der Rente von 4 Mark, die er dem Stettiner Bürger Johann Jude verkaufte, belastet.78 Wir wissen leider nichts über eine Handelstätigkeit des Johannes von Wussow. Wenn wir aber alles in Betracht ziehen, was über die Rolle des damaligen Stettin im Getreidehandel bekannt ist, wird die Behauptung nicht zu kühn sein, daß die großen Getreidezinse, die Wussow aus seinen näheren und weiteren Dorfgütern bezog, den Weg auf die Ostseegetreidemärkte fanden. Selbst die Erwerbungen Wussows (Lübbezin, Kurow) wurden mit der Handelspolitik Stettins verbunden. Diese zielte auf die Beherrschung der beiden Ufer der unteren Oder ab, wodurch den flußaufwärts gelegenen konkurrierenden Städten der Weg zum Meer abgeschnitten werden sollte.79 Als Ratsherr hatte Wussow auf diese Politik sicher einen Einfluß ausgeübt. » Das älteste Stettiner Stadtbuch, nr. 1156, S. 111. 75 Ebenda, nr. 805, S. 83. Ebenda, nr. 974, S. 98. 77 Ebenda, nr. 98, 129, 169, 201, 209, 235, 270, 434, 474, 520, 521, 550, 577, 691, 788, 804, 806. 78 Ebenda, nr. 127, S. 28. 79 ZIENTARA, B., Bola Szczecina w odrzanskim i baityckimhandlu zbozem XIII—XIV w, in: Przegl%d Historyczny 52/1961, S. 429ff.
Anfänge des Stettiner Patriziats
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Die dürftigen Quellen erlauben uns nicht, diese interessante Gestalt des Ritterbürgers, welcher politische Tätigkeit mit Handel und Wucher rereinigte und von Getreidegeschäften zur Teilnahme an Kriegszügen an der Seite des Herzogs abberufen wurde, näher zu betrachten. Wir wissen nicht, wie Wussow seine vielseitige Tätigkeit organisierte, aber wir wollen sie uns nicht allzu kompliziert vorstellen. Zufällig kennen wir seinen Sekretär (notarius) 80 ; aber diese Tatsache muß nicht unbedingt von Schriftunkundigkeit unseres Ratsherrn zeugen. Ein wenig übertrieben kann man sagen: wir können etwas tiefer in die Seele Wussows und seines Vaters blicken und ihr durchaus-praktisches, berechnendes Verhältnis zum Glauben, das in langem Verkehr mit Stettiner Kirchenstiftungen, ihren Lehnsherren, ausgebildet wurde, kennenlernen. Als das Leben Wessels zu Ende ging, begann der alte Ratsherr, der vorher nicht gezögert hatte, Vorteile aus seiner Stellung als Besitzer von Parzellen zu ziehen, an denen die Kirche interessiert war, nach Mitteln zu suchen, die die Erlösung seiner Seele sichern sollten. Als 1280 seine Transaktion mit den Nonnen, die ihm mehrere Hufen in Rosow, Pomellen und Warsow eingebracht hatte, zustande kam, entschloß er sich, auf die Gerichtsherrschaft und auf die daraus fließenden Einkünfte von 10 Hufen in Warsow zugunsten des Klosters zu verzichten. Das fiel ihm jedoch nicht leicht. Der gänzliche Verzicht sollte erst nach dem Tode Wessels und dem seiner Frau Grete erfolgen. Bis zu diesem Zeitpunkt sollten die Nonnen ihm auf Grund der Schenkung 2 Wispel (48 Scheffel) Roggen, jährlich übergeben. Diese von so vielen Bedingungen begleitete Schenkung (von der in der Urkunde jedoch unterstrichen wird, daß Wessel sie „liberaliter" und „ex pura voluntate" gemacht hatte) sollte ihm ewige Gebete der Nonnen für die ganze Familie, die „annuatim et frequenter" wiederholt werden sollten, sichern.81 Nach dem Tode ihres Mannes erschien aber Grete diese Schenkung zu klein, und sie beschloß, einen Familienaltar in einer der Stettiner Kirchen zu stiften. Dazu wurden Einkünfte aus 6 Hufen im Stadtdorf Kreckow, die Zinsen aus 8 Hufen in Garz (2 Pfund jährlich), 4 Hufen in Geesow (1 Pfund) und alle Einkünfte aus 2 Hufen in Reinkendorf bestimmt. Im Jahre 1290 verzichtete die Stadt auf ihre Rechte auf die Hufen in Kreckow; vier Jahre später (1294) erteilte Herzog Bogislaw IV. als dominus directus der restlichen Einkünfte seine Genehmigung für ihre Schenkung an die neue Stiftung. 82 Das nunmehrige Haupt der Familie, Johannes von Wussow, zögerte doch noch zwei Jahre mit der Realisierung der Stiftung, und als er sie endlich zustande gebracht hatte, entschloß er sich, sie in doppelter Weise auszunutzen: für die Erreichung der himmlischen sowie der irdischen Ziele. PUB, Bd. 3, nr. 1757, S. 264: „Hoc inquam altare Johannes Wussow suo notario Johanni pure contulit propter deum . . .". 81 PUB, Bd. 2, nr. 1161, S. 421. 82 PUB, Bd. 3, nr. 1523, S. 88; nr. 1677, S. 200.
80
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Der Altar St. Marien wurde 1296 in der St. Jakobikirche in einer eigenen Kapelle, welche später Wussow-Kapelle genannt wurde, gestiftet. 83 Für seinen Unterhalt wurden die oben genannten Einkünfte bestimmt; Zahl und Art der für die Sicherung des ewigen Glückes der Familie Wussow abzuhaltenden Gottesdienste wurden genau vorgeschrieben: außer der Messe sollten täglich horae matutinae und Vesper gesungen werden; für einen Stellvertreter im Falle der Erkrankung des die Stiftung bedienenden Vikarius wurde gesorgt. Der Besitzer dieser Präbende sollte stets von den Wussow ernannt werden; aus ihren Einkünften sollte er nicht nur für den würdigen Glanz der Zeremonien sorgen, sondern auch einen Ministranten aus den Reihen der Schüler (wahrscheinlich der St.-Marien-Domschule) unterhalten.84 Aber besonders charakteristisch für die Wussowsche Mentalität war es, daß die Präbende der Notarius des Johannes von Wussow erhalten hatte; sie also war die Belohnung seiner Arbeit. Die Kapelle sollte somit nicht nur der Stettiner Bürgerschaft den Glanz des Geschlechtes zeigen und ewige Gottesdienste für die Seelen derer von Wussow sichern, sondern auch als Mittel zur Belohnung ihrer Untergebenen dienen. Nach dem Tode des Johannes von Wussow 1317 wurden mit seinen Besitzungen zwei Söhne, Johannes (Henning, gest. 1343) und Peter manu coniuncta belehnt. 85 Wir beobachten einen weiteren Zuwachs des Grundbesitzes: 1321 erhielten die Wussow vom Herzog aus dem Dorfe Schönfeld die Bede in Geld und Getreide von 39 Hufen und Wagendienste (servicium curruum), welche die Lieferung der Naturalabgaben in die Stadt ermöglichten.80 Ein Jahr später kamen zwei Oderinseln gegenüber von Kurow in ihren Besitz. 87 Gekrönt wurden diese Bemühungen 1334 durch den Erwerb des erblichen Schulzenamtes (Vogtei) von Stettin mit den dazu gehörigen Besitzungen und Untertanen im slawischen Wik. 88 Der jüngere Bruder Peter prahlte schon mit dem Rittergürtel 89 , heiratete aber eine Bürgerin, Mathilde Santporten, die ihm unter verschiedenen Besitzungen in der Stadt auch eine Reihe von Buden mitbrachte 90 ; sie selbst PUB, Bd. 3, nr. 1757, S. 264. Vgl. WEHRMANN, M., Geschichte der St. Jakobikirche, S. 427f., der den Johannes notarius irrtümlich für den Sekretär des Priors Albertus hielt (vgl. jedoch dazu den Text in Anm. 80). 84 Der St. Jakobikirche fehlte damals eine eigene Schule (vgl. WEHRMANN, M . , Geschichte der St. Jakobikirche., S. 380). «5 Vgl. Anm. 70. «6 PUB, Bd. 6, nr. 3552, S. 76. 87 Ebenda, nr. 3591, S. 104. Über die Bedeutung dieser Erwerbung für die Stettiner Politik vgl. ZIENTARA, B., Kola Szczecina, a. a. O., S. 430, Anm. 113. 8 8 PUB, Bd. 8, nr. 5167, S. 320ff. Das Schultheißenamt (die Vogtei) kauften die Wussow von einer anderen Ratsfamilie, Scheie, und behielten es teilweise bis zum Ende des 16. Jh. 89 Im Stadtbuch oft miles genannt (vgl. Das älteste Stettiner Stadtbuch, nr. 2020, 2243, 2556, 2585, 2630). Übrigens ist er im Stadtbuch schwer zu unterscheiden von seinem Neffen Peter, Sohn des Johannes. » Ebenda, nr. 2020, S. 186, nr. 2662, S. 240. 83
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führte übrigens unabhängig von ihrem Manne mehrere Kreditgeschäfte, und deshalb tritt sie selbständig in den Blättern des Stadtbuehes auf 91 . Als um 1350 sich die Zahl der Quellenangaben plötzlich verringert, waren die Wussows bereits auf dem Wege, in die Reihen des Landadels einzugehen; aber immer blieben sie mit der Stadt und den Stadtgeschäften verbunden.92 Das war die Geschichte einer der vornehmsten Stettiner Familien des 13. und 14. J h . Gehörte sie zu den Ausnahmen ? Sehen wir uns eine andere Familie an. Die Barvot (Nudipes) stammten wahrscheinlich auch aus Stendal: ihr erster Vertreter in Pommern, Werner, wurde vielleicht schon 1237 der erste Schultheiss von Stettin 93 . Sein Nachfolger in dieser Würde war Heinrich Barvot, sein Bruder oder Sohn 94 , der 1260 von Herzog Barnim I. mit dem Dorfe Schwartelanke (Czarnol^ka) belehnt wurde 95 ; kurz danach erscheint er auch als Lehnsmann des Stettiner St. Marienkapitels mit 5 Hufen in Brünken (heute Bezrzecze) und 4 Hufen in Völschendorf (Wolczkowo)96. Es ist höchstwahrscheinlich, daß auch diese Besitzungen, genau wie die Lehen Wessels und der Salzwedel, eine Entschädigung für den dem Domstift abgetretenen Teil des ehemaligen Stettiner Burggeländes waren: bei der Teilung dieses Geländes (1249) war die Schultheissenfamilie sicher nicht übergangen worden. Der Enkel Heinrichs, Konrad, besaß — um nur die größeren Lehen aufzuzählen — einen großen Teil des Dorfes Kasekow 97 , 26 Hufen in Klein Schönfeld (Chwarstnica) 98 undeine eigene Ackerwirtschaft von 8 Hufen in Nemitz (heute Stadtteil Szczecin-Niemierzyn)99. Es folgt die Familie Scheie (Luscus), die den Barvot das Stettiner Schulzenamt abgekauft hatte, um es den Wussow weiter zu übergeben. Der Ratsherr Johannes Luscus Senior erwarb 1291 in Pritzlow (Przeclaw) 9 Hufen, die er fünf Jahre später um weitere 4 Hufen vermehrte. 100 1297 kaufte er eine Ackerwirtschaft in Schwarzow (heute Stadtteil Szczecin-Swierczewo), 1303 in Damitzow 12 Hufen. 101 Ein anderer Ratsherr, Johannes von Pölitz, besaß die Dörfer Bergland (heute Bystra), Stholwin (heute Stadtteil Szczecin-Skolwin) und Nemitz ganz, die kleineren Besitzungen nicht mitgerechnet.102 Um diese Reihe 91
Ebenda, nr. 1551, S. 147, und Anm. 90.
92
V g l . NIESSEN, P . v . , a . a . O . , S . 7 7 f .
Zum ersten Mal in dieser Bolle 1242; vgl. CPD, nr. 308, S. 658f. Zum ersten Mal 1251 genannt (CPD, nr. 465, S. 933); als Schultheiß 1253 (CPD, nr. 487 S. 960). 9 5 P U B , Bd. 3, nr. 678a, S. 440. 9 6 PUB, Bd. 2, nr. 1323, S. 545f. 9 ? PUB, Bd. 5, nr. 3194, S. 383; nr. 3196, S. 384. 88 PUB, Bd. 8, nr. 4896, S. 36 f. 9 9 PUB, Bd. 8, nr. 5253, S. 415. 100 PUB, Bd. 3, nr. 1567, S. 120; nr. 1850, S. 287f. »oi PUB, Bd. 3, nr. 1818, S. 318; PUB, Bd. 4, nr. 2087, S. 86. 102 PUB, Bd. 7, nr. 4317, S. 138; Bd. 8, nr. 4933, S. 62; nr. 5244, S. 398ff.; Bd. 6, nr. 3712, S. 183. 93 94
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nicht noch mehr zu verlängern, nennen wir nur die Namen der Vertreter der reichen Bürgerschaft Stettins, die vielhufige Lehen, oft ganze Dörfer im Gebiete des Herzogtums besaßen103: von Brakel104, Brandenburg, Gropeke, Jude, von Lippe, von Neumarkt (de Novo Foro), von Brunn (de Puteo), von Rein(de Rene), von Salzwedel, von Sanne, Schapow, Witte, Travenol, von Breslau (de Wrezlawe).105 Alle diese Familien, aus denen sich im 13. und 14. Jh. der Rat und die Schöffen rekrutierten, verdienten eine nähere Untersuchung. IV. Das oben zusammengestellte Material läßt die Behauptung zu, daß sich nicht nur im slawischen Stettin des 12. Jh., sondern auch in der deutschrechtlichen Stadt des 13. Jh. die herrschende Gruppe aus Personen zusammensetzte, die neben beweglichen Gütern auch Grundbesitz besaßen und die mit den städtischen Fähigkeiten, Handel und Wucher, die feudale Ausbeutung der Bauern und manchmal die Führung eigener Ackerwirtschaften vereinigten. Stettin war hier keine Ausnahme. In Kolberg finden wir unter den Ratsherren die Bonin, die Kleist, die Verchmin, die Schließen, die Glasenapp106, und nicht anders sahen die Verhältnisse in den übrigen Hafenstädten Pommerns aus. Wie die Ritter aus den führenden Adelsgeschlechtern in die Städte zogen, Handel trieben, Ratsherren oder Schöffen wurden, so errangen andererseits die nach Pommern eingewanderten Kaufleute nichtritterlicher Herkunft, wie die von Wussow, Lehnbesitz und nicht selten die Rittersporen. Erst in der zweiten Hälfte des 14. Jh. änderte sich die Lage, und es erfolgte eine Teilung der Interessensphären zwischen dem Landadel und dem Stadtpatriziat. Aber diese Teilung vollzog sich in Pommern weder vollständig noch endgültig — selbst im 15. und im Anfang des 16. Jh. noch nicht. Ist diese grundherrlich-kaufmännische Schicht nur für Pommern charakteristisch oder kann sie als eine allgemeinere Erscheinung gelten? Pirenne, der die Großkaufmannschaft von den kleinen wandernden Händlern herleiten wollte, bemerkte, daß die Bedingungen des kontinentalen Handels sehr von denen des Seehandels abweichen107, und stellte nicht in Abrede, daß in Italien Feudalherren am Handel wie an Geldgeschäften lebhaft teilgenommen hatten.108 103 104
Vgl. eine Karte dieser Besitzungen in: ENGEL, E./ZIENTABA, B., Feudalstruktur, Lehnbürgertum und Fernhandel im spätmittelalterlichen Brandenburg, Weimar 1967, S. 295. Über die Familie Brakel und ihre Besitzungen vgl. WEHEMANN, M . , Geschichte der St. Jakobikirche, S. 360f.
«'s V g l . BLÜMCKE, C . , a . a . 0 . , S . 1 0 8 f f .
106 Vgl. ¡§LASKI, K., Dzieje ziemi kolobrzeskiej do czasöw jej germanizacji, in: Roczniki Towarzystwa naukowego w Toruniu, Bd. 51, Torun 1948, H. 1, S. 64 ff. und 75 ff. Angaben für Köslin ebenda, S. 80. PIRENNE, H . , a . a . O., S . 1 0 1 . 108
Ebenda, S. 110; vgl. auch seine These über den spontanen Charakter des Handels bei den Seevölkern, S. 95. COKOJIOB, H. II., CoifriajibHiie r p y m m p o B K H H comiaJibHaa 6opt6a
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Übrigens ist eine solche Teilnahme nicht nur aus den italienischen Seestädten, sondern auch aus den Binnenstädten bekannt. Auch der Anteil des Bojarentums am Handel während der Kiewer Periode Rußlands war nicht auf Groß-Nowgorod beschränkt.109 Forschungen über die Anfänge des Städtewesens in Osteuropa haben nicht nur die Verbindung der Landgüter mit Einkünften aus Handel und Geldgeschäften in den Händen der Bojaren gezeigt; es erwies sich, daß die Personen, die in den Quellen als Kaufleute bezeichnet wurden und eine niedrigere Stellung in der sozialen Hierarchie als die Bojaren einnahmen, auch beträchtliche Landgüter besaßen, welche manchmal einige Dörfer umfaßten.110 Es wäre auch nützlich, polnische Binnenstädte unter dem Gesichtspunkt der Rolle dort begüterter nobiles vor der Einführung des deutschen Rechtes zu untersuchen. In welcher Weise hängen diese Stadtbesitzungen der nobiles mit ihrem Anteil an Handelsgeschäften zusammen ? 111 Die Entwicklung der sozialen Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land war ein langsamer und komplizierter Prozeß. Den Verbindungen zwischen Großgrundbesitz und Großhandel entsprach in mehreren Städten die Vereinigung des Handwerks mit dem Ackerbau auf der Stadtflur. Ehe die mittelalterlichen Ständebarrieren, die den Adel von der reichen Bürgerschaft abscheiden sollten, entstanden, existierte längere Zeit zwischen diesen beiden Klassen eine solche Mobilität wie zwischen der Bauernschaft und den niederen Schichten der Stadtbevölkerung. Man kann sagen, daß die b BeHeumi b nepHOA paroero cpeRHeBeKOBbfl, in: Cpenmie Beita, Bd. 7,1955, S. 217—235, besonders S. 220f., bemüht sich zu erweisen, daß der Anteil der Feudalherren im venezianischen Handel erst in einer späteren Periode zugenommen hatte. Dagegen stellt Lopez, R. S., The Trade of Medieval Europe: the South, in: The Cambridge Economio History of Europe, Bd. 2, Cambridge 1952, S. 294 f., sehr scharf diesen Anteil schon von Beginn des italienischen Handels an heraus. 109 R0SI1AN0WSKI, T., Czy istnial ¿redniowieczny patrycjat miejski?, in: Przegl%d Historyczny Bd. 50/1959, S. 350—363, unterscheidet zwei Varianten der Entwicklung des mittelalterlichen Patriziats in Europa: eine „transalpine" (Frankreich, Deutschland, England, Böhmen, Polen) und eine „russisch-italienische" (hierzu rechnet er jedoch auch manche Städte der Provence, Katoloniens, Dalmatiens). Die zweite Variante soll sich im Gegensatz zur ersten „durch einen besonders starken Anteil des feudalen Elementes in der führenden Sozialschicht der Städte auszeichnen" (S. 362). Die nähere Untersuchung zeigt jedoch die Merkmale der „russisch-italienischen Variante" auch in anderen Gebieten. Unzutreffend ist die Ansicht, daß nur diese Variante die Entwicklung der freien Stadtrepubliken förderte: die Stadtrepubliken waren auch in Deutschland eine Realität. ho Thxomhpob, M. H., JlpeBHepyccKHe ropo«a, MocKBa 1956, S. 152 ff. und 158 ff. (vgl. besonders die Angaben über den Nowgoroder Kaufmann Kliment, S. 157f., und die Bemerkungen über die Handels- und Wuchergeschäfte der Bojaren, S. 165). Weitere Literaturangaben ebenda. 111 Vgl. Lalik, T., Stare Miasto w Leczycy, in: Kwartalnik Historii Kultury Materialnej 4/1956, S. 658ff., der eindringliche Erwägungen über die wirtschaftliche Rolle dieser Besitzungen anstellt.
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Trennung dieser Stände nicht möglich war, solange eine „Arbeitsteilung" oder besser eine Teilung der Gewinn quellen in ländliche und städtische nicht zustandegekommen war. Zur Verwirklichung dieser Teilung hat auch die zunehmende Zahl der Handelsbeziehungen, die Entwicklung einer komplizierteren Handelstechnik, die Abgrenzung des Handels vom (offenen) Raubwesen beigetragen. Ein Teil der herrschenden Klasse, der in den Städten verblieben war, verband sich enger mit dem Stadtmilieu, indem er im Handel die Hauptquelle der Gewinne sah; der andere Teil, mehr vom Ritterwesen in Anspruch genommen, siedelte aufs Land über und wurde durch die bäuerlichen Untertanen unterhalten. Pommern selbst zeigt viele Beispiele, wie dasselbe Geschlecht in zwei Linien, eine adlige und eine bürgerliche, zerfiel. Das 13. Jh. war eine Periode, in der unsere nobiles, Kaufleute und Feudalherren zugleich, auf die dritte Gewinnquelle, den Seeraub, der im Anfang der Entwicklung dieser Klasse in seiner Bedeutung den beiden anderen gleichkam, verzichten mußten. Die Verhältnisse hatten sich allzu sehr verändert. Wollen wir uns also ein richtiges Bild von den Vorfahren des mittelalterlichen Großbürgertums machen, so müssen wir neben Godric, den fahrenden Händler, neben den Wucherer Werimbold von Cambrai noch einen dritten Typ stellen: einen Feudalherrn, Kaufmann und Seeräuber zugleich. Beispiele dafür können wir massenhaft in den skandinavischen Sagen finden: Thorir Klakka „war lange Wikinger gewesen, zuweilen aber fuhr er auch als Handelsmann"112; Lodin von Vik, „der war reich und von edlem Geschlecht, . . . machte oft Handelsfahrten, bisweilen aber war er auch auf Wiking"113. Dies sind nur zwei von vielen ähnlichen Darstellungen. Wenn wir uns nun vom nördlichen auf das südliche Ufer der Ostsee begeben, werden wir in Stettin den Witscacus finden, der über eine ganze Flotte, zu Handelsreisen wie zu Raubzügen bereit, verfügte.114 Nicht anders war es wahrscheinlich mit den Vorfahren des Patriziats von Venedig, obwohl die genauen Angaben zu diesem Thema noch fehlen. Die venezianische Gesetzgebung, die die Güter ihrer Mitbürger vor Raub in Schutz genommen hatte, betrachtete noch 1181 den Seeraub bei Nicht-Venezianern mit Nachsicht.115 Die Gestalt des Feudalherrn, Kaufmanns und Seeräubers in einer Person erscheint im früheren Mittelalter überall in Europa.116 Bei den Forschungen Snorri Sturlesson, Heimskringla. Deutsch in: Thüle, Altnordische Dichtung und Prosa, 2. Reihe, Bd. 14-16, Jena 1922, Teil i , S. 251. 113 Ebenda, S. 251 und 260. 114 Die Prüfeninger Vita des Bischofs Otto von Bamberg, hrsg. v. A. HOFMEISTER Greifswald 1924, lib. III, c. 10; Ebbonis vita Ottonis episcopi Bambergensis, hrsg. v. R. KÖPKE, MGH, SS. Bd. 12, lib. I I I , c. 15. 112
« 5 COKOJIOB, H . P., a. a. O., S. 230. 116
Vgl. die Bemerkungen von MARX, K., Das Kapital, Bd. 3, in: MARX/ENGELS, Werke, Bd. 25, Berlin 1964, S. 343, über die enge Verbindung des Handels mit dem Seeraub in der anfänglichen Entwicklungsperiode.
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Patriziati
zur Genesis der Kaufmannschaft, des Handelskapitals, des Patriziats muß auch sie — neben anderen Typen der mittelalterlichen Kaufleute und Wucherer — im Zentrum der Aufmerksamkeit der Forscher stehen.
Zur Beachtung: Die Daten bei den Namen bezeichnen das Erscheinen in den Urkunden + bedeutet Ehe Otto Platen 1255-1291 Ministeriale des Klosters Kolbatz dann herzoglicher Bitter
Wessel Ratsherr + Grete von Stettin 1280-1312 1266-1282
Johannes von Wussow Ratsherr 1285-1317
Johannes (Henning) Ratsherr, ab 1334 Schultheiss von Stettin 1317-1343 Peter seit 1343
Jakob 1300-1302
Rudolf 1298
Lambert 1285/6
Heinrich (Heinemann) 1286-1294
Peter, Ritter ab 1334 Schultheiss von Stettin 1317-1352 + Mathilde Santporten
Otto 1300-1303
Tochter + Reinecke Ratsherr von Stettin
ZUR G E W E R B L I C H E N P R O D U K T I O N D E R HANSESTADT STRALSUND AM AUSGANG D E S M I T T E L A L T E R S von Klaus-Peter
Zoellner
Probleme der gewerblichen Produktion in den wendischen Hansestädten wurden in den letzten Jahren von der marxistischen Hansegeschichtsforschung verstärkt aufgegriffen und durch wertvolle Einzeluntersuchungen in ihrer Grundtendenz einer Lösung zugeführt. Als richtungweisend muß hierbei die Arbeit von K. Fritze über die erste Hälfte des 15. Jh. angesehen werden, während für die spätere Zeit, besonders die erste Hälfte des 17. Jh., H. Langer und K. F. Olechnowitz aufschlußreiche Ergebnisse vorlegen konnten. 1 Anhand einiger bisher nicht ausgewerteter Quellen sollen die gewonnenen Erkenntnisse am Beispiel Stralsunds im ausgehenden Mittelalter (1550-1600) untermauert und erweitert werden. Wir wissen seit längerem aus einer Vielzahl von Untersuchungen, daß sich die gewerbliche Produktion in den mittelalterlichen Städten des 13. bis 15. J h . fast ausschließlich auf das Zunfthandwerk beschränkte. Nach der endgültigen Trennung von der feudalen Grundherrschaft ergab sich für den städtischen Handwerker die Notwendigkeit, das Verhältnis zu seinen Berufskollegen zu regeln und die Konkurrenz untereinander einzudämmen. In der Zunft hatte er das Instrument, welches ihn durch seine Bestimmungen sowohl vor der Konkurrenz von innen als auch von außen schützte und bei persönlichen Notständen Hilfe leistete. Durch die Zünfte wurden die Produktion, der Absatz der Waren, die Festlegung der Preise, die Rohstoffzuteilung und die Art und Weise der Produktion geregelt. In Gestalt seiner Wohnung, den Handwerkszeugen und „der naturwüchsigen, erblichen Kundschaft" besaß der Zunfthandwerker ein „naturwüchsiges Kapital", welches nicht in Geld abzuschätzen war, „sondern ein unmittelbar mit der bestimmten Art des Besitzers zusammen1
FRITZE, K., Am Wendepunkt der Hanse. Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 'wendischer Hansestädte in der ersten Hälfte des 15. Jh., Berlin 1967 (Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, hrsg. v. J. SCHILDHAUER, Bd. 3); LANGER, H., Wirtschaft und Politik in Stralsund v o n 1 6 0 0 - 1 6 3 0 , phil. D i s s . Greifswald 1965 (MS); OLECHNOWITZ, K . - F . , H a n d e l u n d
Seeschiffahrt der späten Hanse, Weimar 1965 (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte, Bd. 6). 2 MARX, K./ENGELS, F., Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, 3. Aufl., Berlin 1962, S. 52.
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K . - P . ZOELLKER
hängendes, von ihr gar nicht zu trennendes, und insofern ständisches Kapital" darstellte.2 Doch auch in einer Zeit wie der zweiten Hälfte des 16. Jh., wo der Kaufmann durch die Warenzirkulation über ein mobiles, sich ständig vermehrendes Kapital verfügte, welches er entsprechend anlegen konnte, blieb das naturwüchsige Kapital stabil, da der Charakter der Zunft „keinen Stimulus zur erweiterten Produktion" gestattete. 3 Die Zunft mußte somit zwangsläufig zu einem Hemmschuh für die Entwicklung der Produktivkräfte und damit für den gesellschaftlichen Fortschritt überhaupt werden. Kennzeichnend dafür war das starre Festhalten an den althergebrachten Satzungen. Die ständige Kontrolle der Produktion eines jeden Meisters zur Ausschaltung der Konkurrenz verhinderte eine Verbesserung der Arbeitsinstrumente, die Spezialisierung innerhalb der Zunft und eine Erweiterung der Produktion. Charakteristisch für die zweite Hälfte des 16. J h . war, daß verschiedene Ämter sich ihre alten Satzungen erneut bestätigen ließen.4 Die Anzahl der Gesellen, die ein Meister aufnehmen durfte, war genau festgelegt. Für das Verhalten auf öffentlichen Märkten gab es bestimmte Richtlinien. Der Standort des Feilhaltens der Waren war vorgeschrieben, desgleichen die Zeit, in der die Erzeugnisse ausgelegt werden durften. Mit der Weiterentwicklung der Produktionstechnik machte sich eine Spezialisierung der verschiedenen Arbeitsgänge erforderlich. Neue Berufe bildeten sich heraus. Die Zunftgesetze ließen es jedoch nicht zu, daß sich eine solche Arbeitsteilung innerhalb des Gewerks vollziehen konnte, so daß eine Spezialisierung außerhalb der Zunft einsetzte. „Riefen äußere Umstände eine fortschreitende Teilung der Arbeit hervor," stellte Karl Marx treffend fest, „so spalteten sich bestehende Zünfte in Unterarten oder lagerten sich neue Zünfte neben die alten hin, jedoch ohne Zusammenfassung verschiedener Handwerke in einer Werkstatt." 5 Die bunte Vielfalt der in Stralsund vorhandenen Handwerke legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Für die Jahre von 1588 bis 1600 sind im Pfundkammer buch die Kopfgeldregister der einzelnen Ämter verzeichnet. Da die Höhe des Kopfgeldes von der Zahl der Mitglieder einer Zunft abhing, erhalten wir für die personelle Stärke einzelner Handwerksgruppen wichtige Anhaltspunkte . 6 Durchschnittliehe Hohe des Kopfgeldes 1—4 Mark
Perlensticker, Haarmaoher, Kammacher, Maler, Büchsenlademacher, Zwillichmacher, Bürstenbinder, Senkeler, Pergament- und Trommelmacher, Deckenmacher, Leimsieder, Siebmacher, Bildenschneider, Gordeler, Kupferschmiede, Rotgerber
3 Ebenda, S. 57. Stadtarchiv Stralsund, H A I b 61: Töpfer 1581; Rep. I / W 1 2 , 1 : Leineweber 1583; Rep. II/G 5 , 1 3 : Kannen- und Grapengießer 1586; Rep. IV/H 2 , 1 : Kleintuchmacher 1588; Rep. IV/H 2 , 1 : Tuchmacher 1593; H A I b 304: Sohiffszimmerleute 1595. 3 MARX, K., Das Kapital, Bd. I, in: MABX/ENGELS, Werke, Bd. 23, 1. Aufl., Berlin 1962, 4
S. 3 8 0 .
6 Stadtarchiv Stralsund, Rep. I / P 25, 3.
Gewerbliche Produktion Stralsunds
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5—9 Mark
Kotgießer, Sattler, Hüllen- und Barettmacher, Buchbinder, Badstüber, Schwertfeger, Butkenmacher, Petink-, Korb- und Karrenmacher, Tuchscherer, Leuchtenmacher, Bleker, Bremeismacher, Kleinmacher, Pelzer
10—19 Mark
Spinnradmacher, Garbreder, Ziegeler, Badmacher, Drechsler, Ältlepper, Altschneider, Glaser, Hutmacher, Nadeler, Grobweber
20—29 Mark
Altbinder, Maurer, Balbierer, Töpfer, Buntmacher, Kannen- und Grapengießer
30—39 Mark
Hauszimmerleute, Wind- und Wassermüller, Goldschmiede, macher, Budeler und Riemenscheider, Knochenhauer
40—49 Mark
Schiffszimmerleute, Tischler
80—89 Mark
Klein- und Grobschmiede
über 100 Mark
Schneider, Leineweber, Böttcher, Schuster.
Grütz-
In der Regel zahlten diese Handwerke nur das Kopfgeld, da sie keinen Handel mit ihren Waren trieben, sondern nur auf Bestellung arbeiteten und einen entsprechenden Lohn dafür bekamen. Einige Zünfte dagegen trieben gleichzeitig Handel mit ihren Erzeugnissen und mußten vom Gewinn eine Abgabe an die Pfundkammer entrichten. Dafür entfiel aber das Kopfgeld. Je nach Absatzmöglichkeiten zahlten solche Ämter entweder eine jährliche Summe für ihre verkauften Produkte oder ließen sich in die Kopfgeldregister eintragen. Zahlenmäßig an der Spitze der Stralsunder Zünfte standen die Schuster, Böttcher, Leineweber und Schneider, die über 100 Mark Kopfgeld zahlten und sicherlich ein quantitativ hohes Produktionsvolumen aufweisen konnten. Die Bäcker und Haken zahlten in gleicher Höhe eine Abgabe für ihre verkauften Waren und fehlen daher in den Kopfgeldregistern. Böttcher und Schuster handelten zum Teil ebenfalls mit ihren selbsthergestellten Produkten. Zahlenmäßig heben sich auch die Schmiede heraus. Aus dieser Gruppe gingen die vier mächtigsten Gewerke hervor, nämlich die Bäcker, Schuster, Schneider und Schmiede. Diese „Viergewerke" traten als Sprecher aller Ämter der Stadt auf und stellten einen politischen Machtfaktor dar.7 Die Bedeutung solcher Handwerke wie der Schiffszimmerleute, Tischler, Wind- und Wassermüller wird durch ihre personelle Stärke hervorgehoben. Zu dieser Gruppe müssen wir auch die Rieper zählen, die ihre Waren verhandelten, während die Budeler und Riemenschneider sowie die Knochenhauer ebenfalls zum Teil ihre eigenen Erzeugnisse profitabel verkauften und dafür Abgaben zahlten. Die durch die Spezialisierung entstandenen Handwerke finden wir in den unteren Gruppen der Kopfgeldbesteuerung. An handeltreibenden Berufen werden in dieser Kategorie Weiß- und Rotgerber, Kupferschmiede, Bremeismacher und Wandmacher genannt. Ohne Geldabgabe sind weiterhin Kesselflicker, Platten7
KBATZ, G., Die Städte der Provinz Pommern, Berlin 1865, S. 482; vgl. ZOELLNER, K.-P., Soziale Auseinandersetzungen 1566/67 in der Altstadt Brandenburg, in: Märkische Heimat 4/1962, S. 328-336.
11 Neue Hansische Studien
144
K.-P. ZOELLNER
schläger, Schopenbrauer, Hausschlächter und Steinbrecher verzeichnet. Diese Handwerke waren zum größten Teil noch nicht stark genug, um eigene Ämter zu bilden. Außerdem versuchten die bestehenden Zünfte, diese Entwicklung zu hemmen, um jeden fremden Wettbewerb auszuschalten. Da sich die Spezialisierung auf Grund der starren Zunftgesetze hauptsächlich außerhalb eines Amtes vollzog, wurde es immer schwieriger, die Einflußsphären der einzelnen Zünfte abzugrenzen. Die Streitigkeiten über das Eindringen in fremde Amtsgerechtigkeiten nahmen zu. Aus der Fülle der Beispiele sollen nur einige genannt sein. Die Schuster klagten 1562 gegen die Altlepper, daß sie bei diesen zum Schaden ihrer Gerechtigkeit neue Schuhe vorgefunden hätten. 8 1576 kam es zu einem Streit zwischen den Balbierern und Badstübern: letztere hätten sich unterstanden, wider die Gerechtigkeit der Balbierer Haare zu schneiden und frische Wunden zu heilen. 9 Die Budeler wurden von den Tuchscherern wegen zugeschnittener Felle verklagt. 10 Die Riemenschneider nahmen sich auf Kosten der Lohgerber das Recht heraus, das Lohgerben zu betreiben. Sogar Lübeck wurde von den Klägern um Unterstützung gebeten. 11 Die Buntmacher (Kürschner) verklagten 1598 die Schneider, weil diese es gewagt hatten, Wildwaren für die Fütterung ihrer „Hüllen" zu verwenden. Auch die Hüllenmacher unterstanden sich, Wildwaren zu verarbeiten und sogar zu verkaufen. 12 Der zunehmenden Konkurrenz als Folge der Spezialisierung wollten die Zünfte durch völlige Abschließung entgegentreten. Verschiedene Ämter gingen dazu über, die Zahl der Meister festzulegen und keine neuen mehr anzunehmen. Die Töpfer etwa bestimmten eine Höchstzahl von 8 Meistern.13 Andere Ämter legten den Gesellen, die selbst Meister werden wollten, immer neue Hindernisse in den Weg. Die Erschwerung der Zulassung als Meister wurde im 16. J h . zum Hauptinhalt aller Zunftordnungen. 14 Eine althergebrachte Voraussetzung zum Erwerb der Meisterschaft war das Bürgerrecht sowie die Vorlage des Geburtsund Lehrbriefes. Die Leineweber setzten hinzu, daß der Meisterkandidat deutscher und nicht wendischer Herkunft sein müsse. Außerdem verlangten die Ämter eine ein- bis zweijährige Arbeitszeit als Geselle in der Stadt, die Schiffszimmerleute dagegen eine dreijährige Wanderschaft. Neue erschwerende Bedingungen kamen hinzu. Töpfer, Kannen- und Grapengießer forderten vom Meisteranwärter 3 „Eschungen" in einem Vierteljahr, wobei jeweils eine Abgabe entrichtet werden mußte. Für den Gesellen fast unerschwinglich waren die Geldforderungen der Zunft zur Erringung der Meisterschaft. 8 Stadtarchiv Stralsund, Hs VII a/4, Bl. 12. 9 Ebenda, Hs VII d/2, Bl. 46. i» Ebenda, Hs VII a/8, Bl. 87. " Ebenda, Rep. I/L 43, 3. « Ebenda, Hs VIIe/2. « Ebenda, H A I b 51: Töpfer 1581. 14 Vgl. Z o e l l n e r , K.-P., Die Lage der Handwerksgesellen in Brandenburg a. d. Havel am Ausgang des Mittelalters, in: Märkische Heimat 3/1961, S. 153—160.
Gewerbliche Produktion Stralsunds
145
Beispiele Leineweber 1583 Kannen- und Grapengießer 1586 Kleintuchmacher 1588 Tuchmacher 1593
12 Lot Silber dem Amt, 8 Mark Harnischgeld, 4 Mark den Alterleuten; 12 Lot Silber, 4 Gulden dem Amt, 2 Gulden für den Meisterbrief, 4 Mark Harnischgeld; 12 Lot Silber dem Amt, 3 Mark Harnischgeld; 8 Lot Silber dem Amt, 2 Mark Harnischgeld, 1 Mark für die Lade.
Ähnliche Forderungen stellten auch die übrigen Zünfte. Hinzu kam noch die Anfertigung des Meisterstückes, dessen Kosten der Geselle selbst tragen mußte. Einige Zünfte gingen dazu über, mehrere Stücke zu verlangen. Ein Töpfergeselle hatte zum Beispiel folgende Meisterstücke vorzulegen: Einen „orpott" „drey Quartier hoch", ein Faß „drey Quartier breit" und einen „Ehrenen Kruk" von 16 „Pötten". Ein Meisterkandidat der Kannengießer mußte ein Faß, eine Weinflasche und eine „Bierpottkanne" formen. Mit diesen kaum zu erfüllenden Forderungen mußte sich selbst die Versammlung der Hansestädte beschäftigen. 1572 beschloß der Hansetag „betreffs der ganz übermäßigen und vielfältigen Amtskosten zum Verderb der neu ankommenden Meister", daß die „Amtskosten" nicht höher sein sollten als vor 30 oder 40 Jahren. 15 Diese Beispiele zeigen, daß die überholten Zunftgesetze immer mehr zu einem Hemmnis für die Entwicklung der Produktivkräfte wurden. Die Zünfte wehrten sich gegen jeden, der ihr Handwerk ausübte, ohne dem Amt anzugehören. Solche nichtzünftigen Handwerker, die man bekanntlich als Störer, Pfuscher oder Bönhasen bezeichnete, wurden von den Ämtern mit allen Mitteln bekämpft. Die Art und Weise der zunfthandwerklichen Produktion gestattete es nicht, zu einer höheren Produktionsform, der Manufaktur, überzugehen. „Statt innerhalb der Werkstatt wird die Arbeit zwischen den Zünften geteilt." 16 Selbst in einem für die Seestädte so bedeutungsvollen Handwerk wie dem Schiffbau war der „zünftlerische Charakter" ausgeprägt.17 Das Amt setzte dem Streben des Schiffszimmermanns, „sein Können im freien Wettbewerb der Kräfte anderen Meistern gegenüber auszuspielen", enge Grenzen.18 Die einzige Möglichkeit für den Kaufmann, sein durch Handel und Wucher erworbenes Kapital in die Sphäre der zünftlerischen Produktion einfließen zu lassen, bestand darin, daß er als „Verleger der Handwerkerprodukte"19 aufStadtarchiv Stralsund, nr. 3/115, Hanserezeß 1572. F., Brief an Karl Marx vom 15. Dezember 1882, in: MARX/ENGELS, Werke, Bd. 35, Berlin 1967, S. 128. 1 7 OLECHNOWITZ, K . - F . , Der Schiffbau der hansischen Spätzeit, Weimar 1 9 6 0 , S. 9 7 (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte, Bd. 3). 18 Ebenda, S. 64. 19 M A R X , K., Das Kapital, Bd. I, a. a. 0., S. 380.
15 16
ENGELS,
n*
146
K . - P . ZOELLNER
treten konnte; aber auch hier fehlt es uns an Belegen. Für Stralsund deutet sich im Schiffbau eine Art Übergangsform an, die nicht mehr mit einer ursprünglichen zunfthandwerklichen Produktion gleichzusetzen ist. Im Sinne von H. Mottek haben wir es nämlich schon mit einer Zwischenstufe des Verlagswesens zu tun, „wenn der Handwerker nicht von einem bestimmten Kaufmann oder wohlhabenden Handwerksmeister Material zur Weiterverarbeitung erhielt, sondern noch mit verschiedenen in Verbindung treten konnte" 20 . Nach den hansischen Ordnungen und Statuten für Schiffer und Schiffsvolk von 1572 und 1591 mußte sich zum Bau eines Schiffes der Schiffer mit seinen „Schepes frunden", den Partenreedern, zusammenfinden, und sie hatten gemeinsam die Ausmaße desselben festzulegen. 21 Als nächsten Schritt hatte der Schiffer das entsprechende Baumaterial zu besorgen, wobei ihn ein oder zwei Schiffsfreunde unterstützen sollten. Diese „buwheren" übergaben dem Schiffszimmermann, der den Bau des Schiffes ausführte, das Rohmaterial zur weiteren Verarbeitung. Wie Olechnowitz feststellt, schob die Zunft dem Schiffer bei der Auswahl eines tüchtigen Schiffszimmermeisters einen Riegel vor, indem die Alterleute des Schiffbaueramtes ihm einen Meister zuwiesen.22 Das gleiche traf für die Ausbesserung der Schiffe zu. 23 Für Stralsund läßt sich dieser Tatbestand nicht nachweisen. Da in der Regel Großkaufleute als Partenreeder auftraten, die gleichzeitig im Rat oder als Ratsverwandte Anteil an der politischen Macht in der Stadt hatten, dürfte eine solche Reglementierung durch die Zunft kaum anzunehmen sein. Die Rolle der Stralsunder Schiffszimmerleute von 1595 betont lediglich, daß bei Streitigkeiten zwischen Meister und Bauherrn bei Schuld des letzteren kein anderer Meister die Arbeit ausführen soll. Bei Verzögerungen des Baus „tho ungelegenheit unnd Schaden der Schepes frunde" läßt die Rolle sogar eine gewisse Lockerung des Zunftzwanges zu, indem Fremde angenommen werden können. Der Einfluß des Amtes auf Schiffsreparaturen war auch eingeschränkt, da „etliche Schipper" eigene, nicht zur Zunft gehörende Zimmerleute „glikest andern boßvolcke" in die Heuer nahmen, deren Aufgabe darin bestand, auftretende Reparaturen selbst auszuführen, und zwar nicht nur auf See. 14 Tage vor Anheuerung der Mannschaft durften sie mit Billigung des Amtes der Schiffszimmerleute das Schiff zur Abfahrt vorbereiten („ohne Menninglickes Verhinderung woll arbeiden") 24 , so daß nur die größeren Schiffsreparaturen in den Kompetenzbereich der Zunft fielen. Insgesamt kann man jedoch feststellen, daß trotz dieser sich andeutenden Übergangsform keine Weiterentwicklung zur Manufaktur einsetzte. Der Kaufmann hatte kaum eine Möglichkeit, sein Kapital in dieser Sphäre profitabel 20 MOTTEK, H., Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. 1, 4. Aufl., Berlin 1964, S. 208. 21 Stadtarchiv Stralsund, nr. 3/115, Hanserezeß 1572, und nr. 4/129, Hanserezeß 1591. Vgl. OLECHNOWITZ, K.-F., Schiffbau, a. a. O., S. 44f. 22 Ebenda, S. 97. 23 Ebenda. 24 Stadtarchiv Stralsund, H A I b 304: Schiffazimmerleute 1595.
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anzulegen. Die feudalen Zunftgesetze als alleinige Ursache hierfür heranzuziehen, reicht jedoch nicht aus. Vielmehr bestand für den Kaufmann auf Grund des Charakters der zum Handel notwendigen Handelsprodukte gar nicht das Bedürfnis dazu.25 Hätte sich diese Anlage gelohnt, so würden auch die Zunftbestimmungen keine Schranken dargestellt haben, denn „es ist ja aus unzähligen Beispielen bekannt, daß der Drang nach höherem Profit ganz andere Hindernisse hinweggefegt hat, und in den Hansestädten hatten zudem die Kaufleute die absolute politische Vorherrschaft, vermittels derer sie den Zünften ihren Willen aufzwingen konnten." 26 Der Kaufmann legte sein Kapital in solchen gewerblichen Produktionszweigen an, die unmittelbar dem Handel und damit der Kapitalerweiterung dienten. Dazu gehörte vor allem das Brauereiwesen. Der Bier- und Malzexport nahm eine führende Rolle in der gesamten Warenausfuhr ein. Bekannt ist F. Techens Untersuchung über das Wismarer Brauwerk, in der die Art und Weise sowie der Umfang der Bierproduktion dieser Seestadt anschaulich dargestellt werden.27 Doch auch in den anderen wendischen Hansestädten, wie Lübeck und Rostock, nahm das Brauereiwesen einen hervorragenden Platz in der gewerblichen Produktion ein.28 Erst in jüngster Zeit wies Olechnowitz nach, daß die Rostocker Bierbrauerei ein ausgesprochenes Exportgewerbe war, welches für die Bedürfnisse eines internationalen Marktes produzierte.29 Für Stralsund liegt keine entsprechende Untersuchung vor, wenn wir von Formazins Arbeit über das Brauwesen in Pommern absehen.30 H. Langer wertet hauptsächlich die Literatur aus und stellt nicht zu Unrecht fest, daß es über das Stralsunder Braugewerbe so wenig Quellen gibt, daß jeder Versuch, Ausmaß, Organisation und Technik der Brauereien näher zu bestimmen, scheitern muß.31 Für die zweite Hälfte des 16. Jh. sieht es in dieser Hinsicht etwas günstiger aus. Da die technische Seite des Brauvorganges von Techen und Formazin ausführlich beschrieben wurde und hier kaum größere Unterschiede zwischen den Städten bestehen dürften, sollen Ausmaß und Organisation des Stralsunder Brauereiwesens in dieser Zeit besondere Berücksichtigung finden. Die Bedeutung des Bierexports für den Handel veranlaßte den Kaufmann, Teile seines Handelskapitals im Brauereiwesen anzulegen, um über ausreichende Einrichtungen für die Bierherstellung zu verfügen. Voraussetzung dafür war 25
Vgl. ZOELLNER, K . - P . , Der Stralsunder Seehandel am Ausgang des Mittelalters, in: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch 9/1969 (im Druck).
26 FKITZE, K . , a . a . 0 . , S . 1 0 5 .
27
TECHEN, F., Das Brauwerk in Wismar, in: Hansische Geschichtsblätter 21/1915, S. 263 - 353, und 22/1916, S. 145-224. 28 ALBRECHT, H., Das Lübecker Braugewerbe bis zur Aufhebung der Brauerzunft, in: Zeitschrift für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 17/1915, S. 205—266; OLECHNOWITZ, K.-F., Handel und Seeschiffahrt, a. a. O . , S. 86f. » Ebenda, S. 86. 30 FORMAZIN, W . , Das Brauwesen in Pommern bis zum Beginn des 17. Jh., Greifswald 1937. 31
LANGER, H . , a . a . 0 . , S . 1 1 4 .
148
K . - P . ZOELLNER
der Besitz eines Brauhauses. Die Stadtbücher teilen eine ganze Reihe von Käufen solcher Produktionsstätten mit, von denen nur einige genannt sein sollen 3 2 : Jahr 1544 1545 1545 1546 1549 1551 1552 1555 1555 1581 1585 1591 1592 1593 1596
Lage des Objekts
Name des Käufers Asmus Kloytzke Ratsverwandter Hans Ketel Ratsherr Peter Bavemann Henning Tastke Claus Vlerayng Hans Spotelth Altermann der Gewandschneider und Ratsverwandter Oloff Lorber Ratsverwandter Peter Grubbe Ratsverwandter Jakob Schwarte Paul Piel Ernst Sternhagen Johan Pawe Hermann Rutze Marx Heidemann Joachim Wichmann
Brauhaus in der Heilgeiststraße „ j> « » »
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in der Frankenstraße in der Langenstraße in der Ossenreyerstraße
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Langenstraße Breitschmiedstraße Mühlenstraße Fischerstraße Mönchstraße Frankenstraße Langenstraße
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In einem Register über gelagertes Malz v o m 13. September 1594 sind die Namen Stralsunder Brauer straßenweise aufgeführt 33, darunter auch v o n solchen, die zu diesem Zeitpunkt über kein Malz verfügten. Die Vermutung, daß es sich hier u m die Gesamtzahl aller Braustätten handelt, wird durch die Tatsache untermauert, daß die in der Tabelle ab 1581 als nachweisbare Besitzer von Brauhäusern genannten Bürger Paul Piel, Ernst Sternhagen, Hermann Rutze und Marx Heidemann in dem Verzeichnis unter der Straße aufgeführt sind, in welcher ihre Braustätte lag. Demnach ergibt sich folgende straßenweise Aufgliederung der B r a u h ä u s e r 3 4 : Langenstraße Frankenstraße Heilgeiststraße Mönchstraße Badenstraße Ossenreyerstraße Tribseerstraße Fährstraße Semlowerstraße
„
40 Brauhäuser 23 16 5, 14 12 »» 12 ,1 12 » 11 » 10 »,
5 Brauhäuser Mühlenstraße Fischerstraße 4 Huxer 4 Breitschmiedstraße 3 Fryelandt 2 1 Brauhaus Böttcherstraße Schlorwedem 1 171 Brauhäuser Gesamt
32 Stadtarchiv Stralsund, Hs 1/8, Stadtbuch 1533-1552, Bl. 45, 103, 109, 129, 198, 367; Hs 1/9, Stadtbuch 1552-1559, Bl. 18, 49, 60; Hs 1/11, Stadtbuch 1578-1594, Bl. 38, 98, 168, 227; Hs. 1/12, Stadtbuch 1594-1608, Bl. 35. 33 Ebenda, Rep. II/B 5, 2. 34 Ebenda.
Gewerbliche Produktion Stralsunds
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Die Zahl der Brauhäuser nahm Anfang des 17. Jh. etwas zu. Für das Jahr 1617 gibt Formazin 213 Braustätten an.35 Danach ging die Zahl der Brauer zurück: 1628 werden nur noch 137 Brauer genannt.36 Da das Bier im Mittelalter ein wichtiges Nahrungsmittel für die Bevölkerung darstellte, diente die Brauerei nicht allein dem Export. Für Stralsund lassen sich zwei Gruppen von Brauern feststellen. Ein Ausfuhrverbot für Getreide, Malz und Bier 1551 nennt einmal die „Sehebruwer" (Seebrauer) und zum anderen die Brauer, „so alleyne hyrbinnen In die Kroge ock int Landt tho Rügen . . . auerst doch thor sehewart nicht bruwen . . ."37. Eine ähnliche Unterteilung bestand auch in Wismar.38 Die Seebrauer deckten also in erster Linie den Bedarf an Bier für die seewärtige Ausfuhr, während die übrigen — nennen wir sie Krugbrauer — die städtischen Krüge und die ländliche Umgebung mit Bier versorgten. Auch in der Art des Bieres bestand ein Unterschied. Im Pfundkammerbuch werden zwei Biersorten gesondert aufgeführt, nämlich das vorrangig für den Export über See bestimmte Starkbier und das sicherlich etwas „dünnere" Krugbier.39 Neben der seewärtigen Bierausfuhr und der Versorgung der städtischen Krüge galt besonders die Insel Rügen als Absatzgebiet für Stralsunder Bier. Dieses Recht wurde zwischen der Stadt und der rügenschen Ritterschaft 1544 gesetzlich fixiert.40 Doch traten im Laufe der Zeit Absatzschwierigkeiten ein, da der Adel sein gebrautes Bier nicht nur für den Eigenbedarf verwandte, sondern auch den Bauern verkaufte und sich damit eine profitable Einnahmequelle erschloß. So klagte der Rat 1576 gegen den Herrn von Putbus, daß dieser dazu übergegangen sei, die Krüge auf Rügen zu zwingen, nur sein eigenes Bier auszuschenken.41 Der fürstliche Landvogt H. Normann legte 1581 in Bergen eine Brauerei an und befahl allen Krügern, kein Stralsunder Bier auszuschenken.42 Da sein selbstgebrautes Bier jedoch in der Qualität schlechter als das Stralsunder war, durfte später auch sundisches Gebräu verkauft werden.43 Doch die Stralsunder Klagen wegen Behinderung des Bierabsatzes rissen nicht ab.44 Unternehmen wir nun den Versuch, das Produktionsvolumen von Bier und Malz in der Stadt zu erfassen. Beide Produkte wurden in der Regel von den Brauern hergestellt, wobei das gedorrte Malz zum Schroten in die Mühle gebracht wurde.45 Eine spezielle Arbeitsteilung zwischen Brauern und Mälzern 35
FORMAZIN, W . , a . a . O . , S . 4 8 .
36
LANGER, H . , a . a . O . , S . 1 5 9 .
3' Stadtarchiv Stralsund, Hs. VI a/i, Bl. 118. 3« TECHEN, F . , a . a . O . , S . 1 5 2 f .
39 Stadtarchiv Stralsund, Rep. I / P 25, 3. 40
FORMAZIN, W . , a . a . O . , S . 1 4 4 .
41
Stadtarchiv Stralsund, Hs VI a/2, Bl. 84. Die Stralsunder Memorial-Bücher Joachim Lindemanns und Gerhard Hannemanns (1531—1611), hrsg. v. E. ZOBER, Stralsund 1843, S. 58f. 44 Ebenda. FORMAZIN, W . , a. a. O . , S. 1 4 4 .
42
43 45
TECHEN, F . , a . a . 0 . , S . 3 3 6 .
150
K . - P . ZOELLNER
scheint in Stralsund nicht ausgeprägt gewesen zu sein, da beide auch in einer Kompanie vertreten waren. Jeder Brauer hielt sich zum Brauen und zur direkten Ausfuhr einen bestimmten Malzvorrat.46 Das Produktionsvolumen von Malz und Bier geben die Register der Pfundkammer an. Da diese Institution bekanntlich von den in der Stadt erzeugten Waren eine Geldabgabe beanspruchte, gehen wir sicherlich nicht fehl in der Annahme, daß wir es hier mit der Gesamtproduktion zu tun haben. 47 Zu Beginn der jährlichen Eintragungen der Pfundkammer befindet sich eine ausführliche Abrechnung des Bieres, welches in Stark- und Krugbier aufgegliedert ist. Es werden hierin nur Geldsummen angegeben; einleitend heißt es jedoch, daß von jeder Tonne Bier eine Mark sundisch zu entrichten sei, so daß wir Mark und Tonne Bier gleichsetzen können. Rechnen wir nun 12 Tonnen für die Last 4 8 , so ergibt sich die Gesamtmenge in Last. Die Höhe der Abgabe (pro Tonne Bier eine Mark sundisch) geht auch aus einem Ratsbeschluß vom 10. Januar 1592 hervor.49 Beim Malz sind für den Zeitraum von 1594 bis 1600 die produzierten Mengen in Sackel angegeben. In dem schon genannten Ausfuhrverbot für Getreide und Malz 1551 heißt es, daß ein jeder „up Michaelis noch zwei Last edder eyn Sackelies Molth up synem Bhone beholden" muß, so daß wir 1 Sackel mit 2 Last gleichsetzen können. 50 Danach ergeben sich folgende Produktionszahlen: Malz- und Bierproduktion in Stralsund 1588—1600 Jahr 1588 1589 1590 1591 1592 1593 1594 1595 1596 1597 1598 1599 1600
Malz (Last) Starkbier (Last) Kragbier (Last) fehlt 55 >5
78972 972 984
28 32
55
888V2
55 5> 2440
9281/2 728
36I/2 39
2258 2476 2064
1104 1013 1055I/ 2
35
201/2 33 29
fehlt
8O41/2 680
24 20 22
2046 2194
702 827
30I/ 2
26
Das Recht, Bier zu brauen, hatte jeder Bürger, der ein Brauhaus besaß beziehungsweise über das Geld verfügte, um sich ein solches zu errichten. Mit dem Besitz einer Braustätte war in der Regel auch die Braugerechtigkeit « Stadtarchiv Stralsund, Rep. I I / B 5, 2 ; Rep. I I / B 5 , 1 ; Rep. I/G 19,1. « Ebenda, Rep. I / P 25, 3. « FORMAZIN, W . , a. a. O., S. 180.
« Stadtarchiv Stralsund, Hs VI a/4. so Ebenda, Hs. VI a/1, Bl. 118.
Gewerbliche Produktion Stralsunds
151
verbunden.51 Im Gegensatz zum Handwerk, das „nur auf Grund einer erlernten technischen Fähigkeit betrieben werden konnte, war der Brauerberaf in dieser Hinsicht voraussetzungslos."52 Die Brauer als Besitzer von Produktionsstätten waren meist hauptberuflich als Kaufleute tätig und verstanden oftmals nur sehr wenig vom eigentlichen Brauvorgang. Dafür hielten sie sich Brauerknechte, denen wohl ein Meisterbrauer vorstand.53 Diese Schopenbrauer besorgten für den Brauherrn das Mälzen und Brauen. Der größte Teil von ihnen wurde zu Lohnarbeitern.54 Die in den Städten bestehenden Brauerkompanien strebten nach und nach eine Monopolisierung des Braugewerbes an. Sie waren keine Zünfte im eigentlichen Sinne, sondern trugen mehr den Charakter kaufmännischer Vereinigungen.55 Die Gründung einer solchen Kompanie in Stralsund, die alle Brauer und Mälzer erfaßte, nahm erst gegen Ende des 16. Jh. konkrete Formen an. Auf Initiative des Rates und der Alterleute der Brauerkompanie wurde 1594 eine Brauordnung vorgelegt, die für alle Brauer und Mälzer verbindlich sein sollte. Im einzelnen war hier unter anderem festgelegt 56 : 1. Künftig soll die Brauerkompanie nur mit Erlaubnis des Bürgermeisters im König-Artus-Hof zusammenkommen. 2. Der Kompanie stehen 4 Alterleute vor, davon 2 aus dem Rat und 2 von den Brauern. 3. Nach Verkündung dieser Ordnung werden alle Brauer und Mälzer verpflichtet, ihre Brau- und Malzhäuser namenkundig zu machen, wobei 6 Mark als Annehmungsgeld zu entrichten sind. Bei Nichteinhaltung erfolgt der Verlust der Braugerechtigkeit. Neue Brau- oder Malzhäuser sollen nicht zugelassen werden. 4. Jeder Brauer darf im Jahr 12 Sackel zu je 2 Last ( = 24 Last) Malz verbrauen. 6. Zum Bierwraken sollen 4 Brauer verordnet werden. Diese Ordnung fand nicht die Zustimmung der Brauer und Mälzer. Am 12. Dezember 1597 wurde in Verhandlungen zwischen den Alterleuten der Kompanie, den Ratsherren Johann Sinneke und Heinrich Hagemeister, und dem Rat lediglich die Festlegung getroffen, daß kein Brauer mehr als 12 Sackel Malz im Jahr verbrauen darf. Außerdem soll keiner dem anderen seine „bruwelse" verkaufen oder in zwei Brauhäusern zugleich brauen.57 Der Grund für die Ablehnung der Brauordnung von 1594 wird uns einige Jahre später mitgeteilt, als 152 Brauer sich 1612 zwecks Konfirmierung ihrer Ordnung an den 51
TECHEN, F . , a. a. 0 . , S. 282.
52
ALBRECHT, H . , a . a . O., S . 76.
53 T E C H E N , F . , a . a . O . , S . 3 3 6 . 54
ALBRECHT, H . , a . a . O., S . 2 1 9 .
Ebenda. Stadtarchiv Stralsund, Rep. IV/H 2,1. w Ebenda, Hs VI a/5. 55 56
152
K . - P . ZOELLNER
Herzog wandten. 58 Der Rat sei nicht bereit, die Forderungen der Brauer zu respektieren und eine entsprechende Ordnung zu bestätigen, klagen sie dem Fürsten. Es sei für sie unzumutbar, daß der Rat ihrer Kompanie Ratsverwandte als Alterleute aufdrängen wolle, „da doch sonst jeder Compagnie und Zunft der Election und wähl ihrer alterleute freystehen, inmaßen dan die Gewandschneider Compagnie und andern Zünften solche freye Election haben und keine Rathsverwandten zu Alterleuten ihnen auffgedrungen werden . . ." 59 . Diese Forderung läßt auf eine breite Mitgliedschaft aus der mittleren Kaufmannschaft schließen, die sich dem Ratsdiktat nicht fügen wollte. In die gleiche Richtung zielte auch die zweite Klage der Brauer. Daß sie nur mit Erlaubnis des Bürgermeisters zusammenkommen dürften, verstoße gegen die Libertät, die andere Kompanien und Zünfte hätten, und bedeute nichts anderes als die Erhaltung des „affectirten Dominats" des Rates. Herzog Philipp Julius, der, um seinen Einfluß auf die Stadt zu vergrößern, keine Gelegenheit zur Schwächung der patrizischen Herrschaft ungenutzt lassen wollte, stellte sich auf die Seite der Brauer, erklärte die Forderungen des Rates für null und nichtig und konfirmierte die Brauer- und Mälzer Ordnung 1613 60, welche dann auch wohl vom Rat anerkannt wurde. Im Vergleich zu 1594 sind hier einige Änderungen und Ergänzungen enthalten. Der Kompanie sollen 6 gewählte Alterleute vorstehen, nämlich 5 von den Brauern und einer von den Mälzern. Bei Neuerrichtung einer Braustätte muß der Kompanie eine Summe von 400 Mark gezahlt werden. Es ist nicht gestattet, neben dem Brauen und Mälzen noch ein anderes Handwerk auszuüben. Auch die Tendenz der Abgeschlossenheit deutet sich an. Während Söhne von Kompanieverwandten sowie Fremde, die durch Einheirat Mitglieder der Kompanie wurden, nur ein geringes Annehmungsgeld in Höhe von 18 Mark zahlen mußten, steigerte sich die Höhe der Summe bei Fremden, die sich schon vorher in einer anderen Stadt verehelicht hatten, bis auf 800 Mark. Vom ausgeführten Bier über See wird eine gute Qualität verlangt, „und solch zur Seewerts gebrautes Bier mag der Brauer so theuer verkauffen alß er kann". Zum Bierwraken werden 9 Personen verordnet, 6 von den Brauern und 3 von den Mälzern. Die Forderungen nach Angabe der einzelnen Brauhäuser bei der Kompanie und der Entrichtung eines Aufnahmebeitrages von 6 Mark sowie nach Einhaltung der vorgeschriebenen 12 Sackel Malz wurden aus der Ordnung von 1594 übernommen. Neben dem Brauereiwesen arbeiteten weitere Produktionszweige für den Export, wobei vor allem das Mühlengewerbe zu nennen ist. Die Mehlausfuhr Stralsunder Kaufleute nahm in der Gesamtausfuhr des Hafens einen bedeutenden Platz ein. In städtischem Besitz befanden sich drei Mühlen, die durch Wasserkraft angetrieben wurden. Einmal handelte es sich um die unmittelbar vor dem Kniepertor liegende Kniepermühle („Knepes mole"). 61 Im Winkel 58 Ebenda, Hs XIV/13. 59 Ebenda. « Ebenda. 61 Dr. Nicolaus Gentzkows Tagebuch (1558—1597) in Auszügen, hrsg. v. E. ZOBER, in: Vereinsschrift der Greifswalder Abtheilung der Gesellschaft für Pommersche Geschichte
Gewerbliche Produktion Stralsunds
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zwischen Knieper Teich und Moorteich an der Abzweigung des Weges nach Kedingshagen lag die „Neddermole".62 Als dritte städtische Mühle wird die neue Mühle („Nyenmole") genannt, die 1618/19 für 800 Mark an die Bäcker verpachtet wurde.63 Der Bürgermeister Nicolaus Gentzkow erhielt von den drei städtischen Mühlen in der Regel zum neuen Jahr das „niejahrsmehl". 64 Erheblich größer als der städtische war der Privatbesitz an Mühlen. Um über eine regelmäßige Mehlausfuhr verfügen zu können, steckte der Kaufmann einen Teil seines Handelskapitals in das Mühlengewerbe. Bürgermeister Nicolaus Gentzkow besaß 1564 die „dieckmole" 65 ; die Voigdehäger Mühle, eine Windmühle, gehörte dem Ratsherrn Bavemann 66 . Besonders begehrt war die „Olde mole" auf dem Frankendamm, die der Bürger Heyne Seytze als „Brutschatt" von seiner Frau 1543 erhielt.67 1578 kaufte Joachim Glebe diese Mühle von Claus Tode und zahlte der Kämmerei davon eine jährliche Abgabe von 16 Mark.68 1595 wird der Bürger Jakob Schwineman als Besitzer genannt, der die Mühle mit 800 Mark „beschwerte", welche er für eine sechsprozentige Rente im Jahr von den Vorstehern des Gotteshauses St. Johannes erhalten hatte. 69 Vier Jahre später (1599) gehörten die „Olde Mole" und der Mühlenkaten den Provisoren des St. Johannes-Gotteshauses, nämlich den Ratsherren Niclas Dinnies und Peter Grubbe.70 Eine weitere Windmühle auf dem Frankendamm nahe dem „Zingel" kaufte 1579 der Bürger Marten Kadow, der sie 1581 an Jürgen Bandelin weiterveräußerte.71 Die „Kerckmole" hatte ab 1549 der Ratsverwandte Joachim Picht von dem Heilgeistkloster für eine jährliche Abgabe von 8 Schiffspfund Roggenmehl gepachtet.72 Bürgermeister Joachim Klinckow kaufte sich 1559 die halbe Mühle, „stratmole" genannt.73 Die Windmühle am „Spittalschen bohme" wechselte mehrmals den Besitzer.74 1597 erwarben sie die Bürger Hans Götzke und Hans Uthstim, 1599 ging sie in den Besitz von Peter Hane über, der im gleichen Jahre die Hälfte der Mühle dem Kämmerer Martin Andrea verkaufte. 75 Die „kleine mole" auf dem Frankendamm gehörte 1595 Hans und und Altertumskunde, Greifswald 1870, S. 30, 130, 212, 333; CTTRSCHMANN, F., Matrikelkarten von Vorpommern, 1692-1698, Karten und Texte, I. Teil, Rostock 1944, S. 196. 62 Gentzkows Tagebuch, a. a. O., S. 130 und 133; CURSCHMANN, F., a. a. O. S. 195. 63 Gentzkows Tagebuch, a. a. O . , S. 30,130, 1 5 4 , 333; LANGER, H . , a. a. O . , S. 119. « Gentzkows Tagebuch, a. a. O., S. 30, 130, 212, 333. 6 5 Ebenda, S. 281 und 323. 66
CUBSCHMANN, F . , a . a . O . , S . 2 0 5 .
Stadtarchiv Stralsund, Hs 1/8, Bl. 327. 6 8 Ebenda, Rep. I I / K 1, 3. 69 Ebenda, Hs 1/12, Bl. 17. 7 Ebenda, Bl. 77. 71 Ebenda, Hs. I / l i , Bl. 12, 36. 72 Ebenda, Hs 1/8, Bl. 194. '3 Ebenda, Hs 1/10, Bl. 3. 7« Ebenda, Hs I / l i , Bl. 147. 7» Ebenda, Hs 1/12, Bl. 53, 85, 86. 67
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K . - P . ZOELLNER
Michel Uthstim sowie Paul Retzlaff.76 Ratsverwandter Jakob Schwarte erwarb 1571 durch Kauf eine Windmühle, die noch 1584 in seinem Besitz war.77 1581 wird der Ratsherr Jürgen Schmiterlow als Besitzer einer Windmühle auf dem Frankendamm erwähnt.78 Von den 13 nachweisbaren Mühlen gehörten drei der Stadt, während zehn Privat- oder Pachtbesitz einzelner Bürger waren. Fünf von diesen gehörten Stralsunder Ratsherren oder Ratsverwandten. Gegen Ende des 16. Jh. kam als sechste die „olde mole" hinzu. An weiteren zwei Mühlen waren patrizische Vertreter zur Hälfte beteiligt, während der Rest auf die mittleren Bevölkerungsschichten entfiel. Neben den eigentlichen Kornmühlen gab es auch eine Kupfer- und eine Walkmühle.79 Die Ratsverwandten Oloff und Zabel Lorber kauften 1564 die Kupfermühle in Devin als Pachtbesitz mit dem dazugehörigen Mühlenhaus.80 Eine gewisse Bedeutung für die gewerbliche Produktion und für die Ausfuhr hatten auch die Stralsunder Ziegeleien, über deren Anzahl und Besitz Verhältnisse wir leider aus den Quellen nichts erfahren. Dafür kann aber die Produktionskapazität eingeschätzt werden. Am 27. Januar 1585 bat der dänische König Friedrich II. Stralsund um Lieferung von Mauersteinen für den Aufbau von Kronenburg, da er selbst eine solche Anzahl von Steinen in seinem Lande nicht brennen lassen könne.81 Die Stadt versprach dem König daraufhin, 100000 Mauersteine zu liefern, und schrieb in ihrer Antwort, daß „unsere Ziegelmeister hinfüro anderß nichts dan Mauersteine, biß so lange solch Summa verfertigt, brennen . . . " würden.82 Ein Verzeichnis der mit Steinen beladenen Schiffe, die den Stralsunder Hafen in Richtung Helsingör verließen, gibt einen Einblick in das Produktionsvolumen83: 14. März 1585 = 27000 Steine 18. Mai „ = 21000 „ 14. Juli „ = 8000 „ 21. Juli „ = 10000 „ 29. Juli „ = 4000 „ 30. Juli „ = 7000 „ 19. August „ = 4000 „ 26. August „ = 12000 „ 7. Oktober „ = 7000 „ Gesamt 100000 Steine 7«
Ebenda, Bl. 26. Ebenda, Hs 1/10, Bl. 181. Memorial-Bücher Lindemanns und Hannemanns, a. a. O., S. 190. 78 Ebenda, S. 185. 79 Stadtarchiv Stralsund, Hs 1/10, Bl. 78; Memorial-Bücher Lindemanns und Hannemanns, a. a. O., S. 339. 80 Stadtarchiv Stralsund, Hs 1/10, Bl. 78. 81 Ebenda, Eep. II/D 1, 2. 82 Ebenda. » Ebenda, Bep. II/D 1, 2. 77
Gewerbliche Produktion
Stralsunds
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Die Jahresproduktion betrug also über 100000 Mauersteine. Ein Jahr später lieferten die Ziegeleien von April bis Juni nochmals 50000 Steine an den dänischen König.84 Ansonsten hatten die Ziegelhöfe in erster Linie die Aufgabe, „sich jeder zeitt mitt kalck und Stein dermassen (zu) versehen, das sie die notturft vor die stat und derselben burger und Einwohner halben auch den Kalck woll zugerichtet und Stein fest und woll außgebackt sein möge."85 Die Existenz weiterer für die Wirtschaft der Stadt bedeutender Produktionszweige kann nicht nachgewiesen werden, was sicherlich nicht allein auf die Ungunst der Quellen zurückzuführen ist. Vielmehr war es durch den Charakter der Warenzirkulation des Kaufmanns nicht erforderlich, zur Sicherung beziehungsweise Erhöhung des Handelsprofits als der eigentlichen Triebkraft Kapital in größerem Maße in der gewerblichen Produktionssphäre anzulegen. Am wenigsten bot das städtische Zunfthandwerk entsprechende Anlagemöglichkeiten. Die Ursachen dafür lagen sowohl an den starren Zunftgesetzen selbst als auch an der Tatsache, daß auf Grund der im Handel gefragten Produkte eine solche Notwendigkeit für den Kaufmann nicht bestand. Teile des Handelskapitals flössen in solche Produktionszweige, die unmittelbar der Realisierung des Handelsprofits dienten, so etwa in das Brauereigewerbe. Der Gesamtumfang dieser Kapitalanlage in der Produktionssphäre reichte aber nicht aus, um den gesetzmäßig notwendigen Weg zur Umgestaltung der Produktionsverhältnisse zu beschreiten. Das Kaufmannskapital dominierte nach wie vor und diente nicht der allgemeinen ökonomischen Entwicklung, sondern im Gegenteil, „wo es vorherrscht, herrschen veraltete Zustände."86 Ebenda. «5 Ebenda, Hs VII d/7, Bl. 52. 8« MARX, K., Das Kapital, Bd. III, in: MARX/ENGELS, Werke, Bd. 25, 1. Aufl., Berlin
1964, S. 339.
NICOLAUS R U T Z E UND D I E V E R B R E I T U N G H U S S I T I S C H E R G E D A N K E N IM HANSERAUM von Siegfried Hoyer
Unter den Anhängern hussitischer Gedanken in Deutschland nimmt der Rostocker Magister Nikolaus Rutze eine besondere Stellung ein: zeitlich, lokal und hinsichtlich dessen, was er verbreitet. Seine Geschichte führt uns, betrachtet man die Chronologie, von den revolutionären Ereignissen in Böhmen weg zum Ende des 15. Jh., da sich im Anwachsen revolutionärer Kämpfe der Bauern, Handwerker und Stadtarmut sowie in der Zunahme apokalyptischer Prophezeiungen die Vorboten einer gesellschaftlichen Krise des herrschenden Feudalsystems in Deutschland ankündigten. Rutzes Wirken besitzt bei einer Säkularbetrachtung der Reformation den Reiz, gleichsam eine Brücke in die Vergangenheit, von Luther zu Hus, herzustellen. Von Rutze kennen wir als einzigen von den Verfechtern des Hussitismus in den wendischen Hansestädten Einzelheiten zur Person und den Anschauungen; aus seinem Nachlaß ist der älteste Druck einer Schrift von Jan Hus, als merkwürdiger Zufall nicht im Original, sondern in niederdeutscher Übersetzung überliefert. Seit J . Wiggers 1850 die oberdeutsche Übertragung dieses Codex veröffentlichte 1 , trug die Forschung Stein auf Stein über das Leben des Rostocker Magisters zusammen. Der Weg der historischen Erkenntnis war nicht geradlinig; zäh hielten sich Irrtümer und Mißdeutungen, so daß es geboten erscheint, zunächst kritisch die Quelle zu betrachten und immer wieder zum Vergleich heranzuziehen, die bis 1850 das Wissen über Rutze allein bestimmte: Matthias Flacius Illyricus 2 . Die frühen Lebensdaten des Nikolaus Rutze liegen durch die Matrikeleintragungen an der Rostocker Universität einigermaßen fest. Aus dem Immatrikulationsdatum (1477) läßt sich das Geburtsjahr ungefähr mit 1460 bestimmen.3 Hinter dem Namen findet sich in der Matrikel die Bemerkung 1
2 3
WIGGERS, J., Nikolaus Russ und sein Buch von den drei Strängen, in: Zeitschrift für historische Theologie, Neue Folge 14/1850, S. 171-237. Flacius Matthias, Catalogus testium veritatis, Basel 1556, S. 1014f. Matrikel der Universität Rostock, Teil i, hrsg. v. A. HOFMEISTER, Rostock 1889, S. 204. KRAUSE, K . E. H., Magister Nikolaus Rutze, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 30, 1890, S. 60, meint, er sei „frühestens Anfang der fünfziger Jahre geboren", was ein relativ spätes Immatrikulationsdatum bedeuten würde. Es gibt über das Geburtsdatum nur Vermutungen.
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S. HOYEB
„intraneus"4; als solcher war Rutze frei von Gebühren bei der Inskription. Auf die Vermögensverhältnisse seiner Eltern läßt sich hieraus nicht schließen. Allerdings taucht der Name Rutze in den aus dieser Zeit mehrfach überlieferten Schoßregistern Rostocks unter den führenden Geschlechtern der Stadt nicht auf.5 Der Erwerb des Baccalauréats und der Magisterwürde (1485) an der Artistenfakultät sind ebenfalls belegt, nicht jedoch ein weiteres Studium des Magisters an der theologischen Fakultät und der Erwerb des baccalaureus formatus theologiae, von dem Flacius, allerdings unter Vorbehalt (ut vocant), spricht6. Der im spätmittelalterlichen Universitätsleben häufige Vorgang, daß ein Magister neben seiner Lehrtätigkeit an einer der drei höheren Fakultäten weiter studierte, hätte für Rutze ein tieferes Eindringen in die Theologie, eine größere Kenntnis der theologischen Überlieferung zur Folge gehabt. Folgen wir Flacius weiter. Rutze hinterließ eine gedruckte Schrift in sächsischer (d. h. niederdeutscher) Sprache unter dem (ins Latein übertragenen) Titel „De triplici funiculo". Sie enthält außerdem eine Erläuterung der apostolischen Symbole, der zehn Gebote und anderes. Flacius kannte ferner aus dem Nachlaß eine handschriftliche Evangelienharmonie und kündigte an, daß er die niederdeutsche Schrift ins „Meißnische" (d. h. ins Hochdeutsche) übertragen wolle, wozu er aber offenbar nicht mehr gekommen ist. Damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir etwas verweilen müssen, da sich hier in der historischen Darstellung die Fäden zu verwirren beginnen. Wie erwähnt, entdeckte Wiggers den von Flacius erwähnten Codex in der Universitätsbibliothek Rostock und gab eine Übersetzung ins Hochdeutsche heraus. Nerger folgte 1886 mit der Edition des ersten Teiles des Codex in der überlieferten niederdeutschen Fassung — des Teiles, der den Titel für Flacius 4
5
6
„intraneus hostis, qui intra muros urbis vel castri obsessus est" (Du CANGE, Glossarium, Teil 4 , 1 8 8 6 , S. 4 0 4 ) . In den Statuten der Universität ( H O F M E I S T E R , a. a. O . , S. 1 4 ) heißt es: „Item filii incolarum opidi Rozstokoensis nichil dabunt pro intitulatura nisi cursoribus dumtaxat". — Die Praxis der Gebührenbefreiung für Rostocker begann offenbar erst einige Jahre nach der Gründung der Universität. Der erste Beleg findet sich zum Jahre 1423 (ebenda, S. 16). SCHILDHATTER, J., Soziale, politische und religiöse Auseinandersetzungen in den Hansestädten Stralsund, Rostock und Wismar im ersten Drittel des 16. Jh., Weimar 1959, S. 218f. (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte, hrsg. im Auftrage des Hansischen Geschichtsvereins, Bd. 2). — Die Universitätsmatrikel nennen Ende des 15. Jh. mehrere Rutzes, die sämtlich auch als „intranei" bezeichnet werden: Matthäus Rutze 1458, Martinus Rutze 1473, Mattheus Rutze 1480, bacc. art. 1484/85 (HOFMEISTER, a. a. O., S. 117, 181, 219, 241). Inwieweit verwandtschaftliche Verhältnisse zu dem Magister Nikolaus Rutze bestanden, müßte eine familiengeschichtliche Studie klären. M. Flacius, a. a. O., S. 1014: „ . . . sacerdos Rostochiensis. magister et baccalaureus (ut vocant) formatus theologiae". — Leider ist das Dekanatsbuch der theologischen Fakultät aus der Zeit vor der Mitte des 16. Jh. verloren, so daß sich der Erwerb des bacc. theol. nicht exakt belegen läßt.
Nikolaus
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abgab: „De triplici funiculo" oder Bôkeken van dren Rêpe.7 Im Vorwort kündigte er an, auch den zweiten Teil zu edieren ; doch dies kam nicht zustande. Nerger wie Wiggers hielten Rutze für den Verfasser der zwei Schriften. Im Jahre 1896 machte jedoch J. Müller darauf aufmerksam8, daß sie beide niederdeutsche Übersetzungen des „Proväzek triprameny" und des „Vyklad viery, desatera a patere" des Johannes Hus aus dem Jahre 1412 waren9. Damit wechselte Rutze vom Verfasser zum Übersetzer. Außerdem wies Müller die waldensische Bearbeitung dieser Husschen Schriften nach, worauf wir noch zurückkommen werden. Kehren wir zunächst zu den beiden Übersetzungen und dem Verhältnis Rutzes dazu zurück. Die Version einer Übersetzerrolle des Magisters hielt sich zu Unrecht zäh bis in die Gegenwart, obwohl sie durch drei verschiedene Faktoren widerlegt wird. 1924konnteBr. ClaussenEntstehungszeit, OrtundDrucker des Codex der Rostocker Bibliothek bestimmen10, wozu Flacius nur ausgesagt hatte, er wisse nicht, ob das Buch vor oder nach dem Tode Rutzes gedruckt sei. Claussen bezeichnete Johann Snell in Lübeck Ende 1482 als den Drucker des Codex, nahm aber Rutze noch als den Übersetzer an, da sich beide wohl von der Universität her kennen mußten. Snell wurde vier Jahre nach Rutze an der Rostocker Artistenfakultät immatrikuliert, soll aber schon im Jahr zuvor als Drucker der Michaelisbrüder in der Hansestadt gewesen sein.11 Wäre die Übersetzung von Rutze, so hätte er sie während seines Studiums vor dem Baccalaureatsexamen ausführen müssen, was unwahrscheinlich ist. Der tschechische Historiker F. M. Bartos bezweifelte mit Recht, daß ein junger Mann, der in Rostock aufgewachsen und noch nicht in Böhmen gewesen war, so gut tschechisch konnte, um jene beiden in dieser Sprache verfaßten Schriften des Hus zu übersetzen.12 Er lenkte die Aufmerksamkeit auf eine andere Person, die 7
8
9
10
NERGER, K., Des Magisters Nikolaus Rutze Bokeken van dren Rêpe, Rostocker Gymnasialprogramm 1886, S. 1—16. MÜLLER, J., ZU den Schriften des Magisters Nikolaus Rutze in Rostock, in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Bärchengeschichte 1/1896, S. 173—189. Zur Überlieferung der beiden Husschen Schriften BARTO§, F. M., Literarni öinnost M. J. Husi, Prag 1948, S. 103f. und 106f. - Edition des Proväzek triprameny: Jan Hus, Sebrané spisy ôeské, vyd. K . J. ERBEN, Prag 1868, S. 152—169. CLAUSSEN, B., Nikolaus Russ' Boek van dren Strenghen, der Calderinus Drucker und Johann Snell, in: Nordisk Tidskrift för Bok- och Biblioteksväsen 1924, S. 118-126. Ein zweites Exemplar befindet sich in der Universitätsbibliothek von Uppsala: COLLIJN, I., Katalog der Inkunabeln der kgl. Universitätsbibliothek Uppsala, Uppsala und Leipzig 1907, S. 338 (nr. 1319).
11
MELTZ, C., Die Drucke der Michaelisbrüder zu Rostock 1476—1530, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 1955/56, Sonderheft, S. 232. — Zu den wahrscheinlich für die Michaelisbrüder ausgeführten Drucken Snells gehörten aber nicht die Übersetzungen der beiden Husschen Schriften, die MELTZ (ebenda, S. 248) fälschlich unter der Verfasserschaft Rutzes (Russ') aufführt.
12
BABTOS, F. M., Nëmecky husita na Karlovë université a nejstari tisk Husova dila, in: Jihoëeske Sbornik historicky 1940, S. 54 f.
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S. HOYER
ebenfalls Verbindung zur Universität Rostock und zum hansischen Baum hatte: auf den 1467 nach Prag übergewechselten Johann von Lübeck. Dieser hatte sich bei seiner Aufnahme in die Prager Universität zum Utraquismus bekannt.13 Sein Weg dorthin erfolgte zu einer Zeit, da sich die Gegensätze zwischen dem Kaiser und seinen katholischen Verbündeten einerseits und dem Hussitenkönig Georg von Podebrad auf der anderen Seite zum offenen Konflikt zuspitzten, im Gegensatz dazu aber viele Stimmen in Deutschland diesen Krieg als unrechtmäßig ansahen.14 Johann von Lübeck blieb bis zu seinem Tode (1496 ist er das letzte Mal bezeugt) in Prag. Bartoi konnte seine Übersetzertätigkeit allerdings nur vermuten. Er schloß sie aus niederdeutschen Randbemerkungen (einem im böhmischen Raum seltenen philologischen Phänomen) in einem theologischen Codex aus dem Nachlaß des Lübeckers, der sich heute in Prag befindet. Von Bartos einleuchtend begründet erscheint uns, daß Rutze nicht als Übersetzer in Frage kommt. In der deutschsprachigen Forschung hat nur H. Raab darauf aufmerksam gemacht.15 Allerdings möchte er Rutze wenigstens „eine redaktionelle Rolle" zugestehen, da ja die Schrift im waldensischen Sinne bearbeitet sei. Wir werden sehen, daß diese waldensische Verbindung, die auf eine Nachricht des Flacius zurückgeht, viel Unheil angerichtet hat. Beweisbar ist lediglich die Existenz des Codex bei Rutze — dieser wird also vom Übersetzer zum Eigentümer des Codex, den er wahrscheinlich durch seine Verbindung oder Bekanntschaft mit Snell erworben hat, und sicher zum Verbreiter der Husschen Gedanken. Mit der Zuweisung der Übersetzung an Johann von Lübeck ist allerdings nicht geklärt, wie die Übersetzung nach Lübeck zum Druck kam. Solange Rutze noch als Übersetzer angenommen wurde, mußte die Verbindungslinie über ihn führen. Als Vermittler der Schrift zu Rutze sollten Waldenser gedient haben. Flacius sagt, es seien einige Leute von Böhmen nach Rostock gekommen, ohne Zweifel Waldenser, die mit ihm (Rutze) und anderen Anhängern dieser Auffassung einige Zusammenkünfte (conventiculi) hatten.16 Wie wir schon ausführten, fügte Müller den Kontakten zu den Waldensern einen neuen Akzent hinzu, indem er auf eine Überarbeitung der beiden Schriften 13 TOMEK, W. W., Döjepis mSsta Prahy, Tom 9, Prag 1893, S. 225. - Der Name eines Johann aus Lübeck kommt in den Rostocker Matrikeln mehrfach vor. Da kein Beiname des Prager Professors bekannt ist, läßt sich auch sein Immatrikulationsdatum in Rostock nicht näher bestimmen. 14 HEYMANN, F. G., George of Bohemia. King of heretics, Princeton 1965, S. 437; Handbuch der Geschichte der Böhmischen Länder, hrsg. v. K. BOSL, Bd. 1, Stuttgart 1967, S. 550f. is R A A B , H., Die Anfänge der slawistischen Studien im deutschen Ostseeraum, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1955/56, gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, nr. 4/5, S. 355. 16 M. Flacius, a. a. O., S. 1014: „Soliti enim sunt Rostochium ex Bohemia venire certi homines, haud dubie Vualdensium concionatores, qui cum ipso et aliis suae doctrinae hominibus proprios conuentos habuerunt."
Nikolaus
Rutze
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des Hus im waldensischen Sinne hinwies.17 Die Argumente sind auf den ersten Blick überzeugend begründet: in der kleinen Schrift von den drei Strängen fehlt an zwei Stellen, die zugleich Verkürzungen des tschechischen Textes darstellen, die Erwähnung des Fegefeuers und der Anbetung von Heiligen; in der Auslegung der zehn Gebote fehlt ein ganzer Abschnitt, in dem Hus die verschiedenen Formen des Eides behandelt. Leugnung des Fegefeuers im Glaubensbekenntnis, Verweigerung des Eides und der Anbetung der Heiligen sind typische Gedanken der waldensischen Häresie; folglich scheint sich die Beweiskette zu schließen. Dennoch sind die waldensische Verbindung Rutzes und die Überarbeitung der Husschen Schriften im Sinne der Sektenideologie nicht so eindeutig, wie es scheint. Zwei nicht unwesentliche Widersprüche bemerkte schon die ältere Forschung. Müller konnte das Fehlen des Fegefeuers nur im ersten der beiden Traktate nachweisen; im zweiten erscheint es im orthodoxen Sinne. Wäre der Übersetzer tatsächlich konsequenter Gegner dieser Glaubensformel, hätte er sich unmöglich an anderer Stelle mit ihr abgefunden. Besieht man sich den betreffenden Satz in der ersten Schrift genauer, so bemerkt man eine starke Kürzung des Textes bei der Übersetzung, der offenbar eine sprachliche Unsicherheit zugrunde lag. Dabei gingen mehrere Gedanken des Originals verloren.18 Da die Leugnung des Fegefeuers in der Übersetzung nicht konsequent durchgeführt wird, müssen wir dieses Kriterium fallen lassen. Es bleibt die Ablehnung des Eides und der Anbetung von Heiligen — Lehren, die ohne Zweifel beide bei den Waldensern lebendig waren. Einen weiteren Einwand brachte H. Raab vor, zunächst auf den mutmaßlichen Übersetzer Johann von Lübeck bezogen19 — mutatis mutandis gilt er ebenso für Rutze. Beide sind Universitätsmagister. Daß ein Theologe an der utraquistischen Universität Prag Anhänger der erbittert verfolgten Waldenser war, erschien Raab unwahrscheinlich. Deshalb wies er Rutze, von dem Flacius ja die Verbindung zu den Waldensern überliefert, die Rolle eines Redakteurs an der von Johann von Lübeck ausgeführten Übersetzung zu. Damit ist die Angelegenheit vollends verwirrt, zumal ja Rutze ebenfalls einer mittelalterlichen Universität angehörte. Merkwürdigerweise unterließ es die Forschung seit Wiggers, zwei Fragen zu beantworten: in welcher Lage sich Mitte der achtziger Jahre des 15. Jh. die Waldenser in Böhmen befanden; was wir über sie, die ja laut Flacius die Kontakte zu Rostock aufrechterhielten, wissen und ob wir die erwähnten Abweichungen von der Orthodoxie in der niederdeutschen Übersetzung etwa auch bei anderen religiösen Strömungen finden. Schon die Antwort auf die erste der beiden Fragen veranlaßt uns, hinter die Waldensergeschichte des Flacius ein kritisches Fragezeichen zu setzen. Nach der Mitte des 15. Jh. vollzog sich innerhalb der böhmischen Waldenser, deren " MÜLLER, J . , a . a . O., S . 1 8 5 f f .
18 Vgl. die Beispiele ebenda, S. 180ff. » RAAB, H . , a . a . O., S . 3 5 4 f . 12»
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Gedankengut am Vorabend der hussitischen Revolution als konstruktiver Bestandteil in die hussitische Ideologie eingegangen war20, ein tiefgreifender Wandel. Die Wurzeln dafür lagen in der Niederlage des revolutionären Flügels der Hussiten bei Lipany (1434) und dem Fall der letzten Bastion der Linken, Tabor (1452), das sich ähnliche Vorstellungen einer „ecclesia primitiva" bewahrt hatte wie sie die Waldenser verfochten.21 Wenige Jahre nach dem endgültigen Sieg der gemäßigten Rechten, politisch repräsentiert durch Georg von Podebrad, kirchenpolitisch durch den Utraquismus unter dem Erzbischof Jan Rokyczana, begann 1458 die Abspaltung des linken Flügels der utraquistischen Kirche und die Formierung der Brüdergemeinde.22 Die sich im Bereich der religiösen Vorstellungen manifestierenden Gegensätze zwischen dem vermögenden Bürgertum und den Handwerkern drängten unter den postrevolutionären Verhältnissen erneut zum Durchbruch. Bei der Herausbildung vor allem der Wahl eigener Priester (1467/68), mit der die definitive Trennung vom Utraquismus vollzogen wird, spielte der waldensische Einfluß eine bedeutende Rolle.23 Ein Teil der Waldenser ging in den sechziger und siebziger Jahren des 15. Jh. in der Brüderunität auf, während der konservative Teil ein Zusammengehen verweigerte, da er nicht die äußerliche Gemeinschaft zur römischen Kirche aufgeben wollte.24 Dieser konservative Rest hörte damit auf, eine historische Rolle zu spielen, und verschwand vom Schauplatz der Geschichte. Der Vollständigkeit halber muß erwähnt werden, daß sich die innere Umwandlung und Differenzierung der böhmischen Waldenser im Schatten einer brutal handelnden Inquisition vollzog, die zuschlug, wenn sich — wie im Falle des 1467 in Wien verbrannten letzten waldensischen Bischofs Böhmens, Stephans von Basel — die Möglichkeit dazu bot.25 In den achtziger Jahren des 15. Jh. gab es also keine böhmischen Waldenser mehr, die in der Lage waren, eine weitgreifende Mission ihrer Gedanken über Hunderte von Kilometern hinweg zu entfalten. Aber unterstellen wir Flacius eine terminologische Unsicherheit in der Unterscheidung der einzelnen häretischen Gemeinschaften, daß er mit den „valdenses" die Böhmischen Brüder meinte. Ein durchaus verzeihlicher Irrtum! Auch Luther besaß bis 1520 keine W KAT.TVODA, R., Husitska ideologie, Prag 1961, S. 292 ff. ; KAMINSKY, H., A history of the Hussite Revolution, Berkeley und Los Angeles 1967, S. 171 ff. DERSELBE, The Religion of Hussite Tabor, in: The Cechoslowak Contribution to world culture, ed. by M. RECHCIGL, The Hague 1964, S. 215ff.; BOSL, K., a. a. O., 8. 556ff. 22 ÜIÖAN, R., Die Böhmischen Brüder. Mit einem Kapitel über die Theologie der Brüder von Amadeo Molnar, Berlin 1961, S. 24f. 23 Ebenda, S. 30; GÖNNET, G., Nature et limites de L'épiscopat vaudois au moyen âge, in: Communio viatorum 1959, S. 312 ff. 24 GÖLL, J., Quellen und Untersuchungen zur Geschichte der Böhmischen Brüder, Teil 1, Prag 1878, 8. 22ff.;FILÖAN,R., a. a. O., S. 21. 25 MÜLLER, J. T., Der Waldenserbischof Stephan und die Weihe der ersten Brüderpriester, in: Zeitschrift für Brüdergeschichte 1916, 8.128ff.; BARTOS, F. M., Husitstvi a cizina, Prag 1931, S. 248ff. 21
Nikolaus Rutze
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klare Vorstellung über die verschiedenen Häresien; die Brüderunität kannte er nur aus der polemischen Literatur der katholischen Gegner und subsumierte sie unter dem durchaus unzutreffenden Begriff „Pikardi".26 Zudem setzte die Brüderunität die engen Kontakte von Böhmen zu den um die Mitte des 15. Jh. noch beträchtlichen Waldensergemeinden in der Mark Brandenburg und der Neumark fort. Beauftragte der Böhmischen Brüder bereiteten nach 1478 die Übersiedlung der von neuerlicher Verfolgung bedrohten brandenburgischen Waldenser nach Ostböhmen in die Gegend von Landskron vor.27 In diesem Zusammenhang erwähnen Quellen der Brüderunität den zweimaligen Besuch einer Delegation in der Mark. Wir müssen uns diese Quellen genau betrachten, weil die zeitliche Nähe (1480—1482) zum Druck der niederdeutschen Übersetzung bei Snell zu der Annahme verführen könnte und einige verführt hat, als wäre die Gesandtschaft in die Mark mit derjenigen identisch, welche Flacius im Zusammenhang mit Rostock und Rutze nennt.28 Die zwei mit der deutschen Sprache vertrauten Brüder kommen auf Bitten der märkischen Waldenser. Daß sie mehrere hundert Kilometer weiter bis zur Ostseeküste bei Rostock vordrangen, ist unwahrscheinlich, da weder im Inquisitionsprozeß gegen die pommersehen Waldenser (1391 ff.) noch in dem gegen die märkischen Ketzer 1457 die örtliche Ausdehnung bis in die Gegend von Rostock nachgewiesen wird.29 Der sozialen Zusammensetzung nach sind die Waldenser jener Gebiete Bauern, Tagelöhner und Fischer; ein gewisser Einfluß in den Städten tritt nur in Stettin (1397) und in Angermünde (1458) in Erscheinung, sonst nirgendwo. Nikolaus von Schlan, der Chronist der Brüderunität über diesen Vorfall, vermerkt, daß einige Waldenser in der Mark zurückblieben und späteren Verfolgungen zum Opfer fielen.30 Doch wird man diese nicht im Gebiet von Rostock suchen und mit Rutze in Verbindung bringen dürfen! Im Gegenteil, neben dem quellenmäßig gut belegten Abzug der märkischen Waldenser nach Böhmen und den Beziehungen dieser Gemeinde mit der Brüderunität hängt die Mitteilung des Flacius völlig in der Luft. Aus der weiteren Geschichte der Böhmischen Brüder wissen wir, daß die Delegation in die Mark die einzige Gesandtschaft 26
HOYER, S., Luther und die Häresien des Mittelalters, in: 450 Jahre Reformation, hrsg. v . L . STERN u n d M . STEINMETZ, B e r l i n 1967, S. 89 f.
27
GÖLL, J . , a. a. O . , S. 123; ß I Ö A N , R . , a. a. 0 . , S. 3 6 f . ; KÖPSTEIN, H . , Ü b e r die T e i l n a h m e
von Deutschen an der hussitischen revolutionären Bewegung — speziell in Böhmen, in: ZfG. 11/1963, S. 122, Anm. 77. 28
Zum Beispiel RAAB, H., a. a. O., S. 353, der sich völlig zu Unrecht auf den Bericht des Nikolaus von Schlan (GÖLL, J., a. a. O., S. 121) bezieht, in welchem lediglich von der „Mark" die Rede ist. Noch weiter ging HEIDEMANN, J., Die Reformation in der Mark Brandenburg, Berlin 1889, S. 63, indem er Rutze zum Haupt der zurückgebliebenen Waldenser Mecklenburgs (!) erhob.
29
WATTENBACH, W., Über die Inquisition gegen die Waldenser in Pommern und in der Mark Brandenburg, in: Sitzungsberichte der kgl. Akademie der Wissenschaften, Berlin 1886, S. 20f. und 71 f.
30
„Caeteri autem, qui in Marchia remanserunt, perierunt in istis persecutionibus." (GÖLL, J.,
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nach Norden bis 1519 blieb, zu welchem Zeitpunkt eine Gruppe Erasmus von Rotterdam aufsuchte und ihm ihr Glaubensbekenntnis überbrachte.31 Wir müssen also bezweifeln, was Flacius über die Beziehungen der Rostocker Waldenser zu Böhmen schrieb. Daß es mit der Kenntnis des Chronisten über die Waldenser nicht gut stand, zeigen die übrigen Sätze der Nachricht. Sie wärmen die Geschichte von den nächtlichen Zusammenkünften der Sektenmitglieder mit sexuellen Orgien auf.32 Hierbei handelt es sich um nichts weiter als um ein altes Verleumdungsmotiv der katholischen Orthodoxie33 von phantasiebegabten Chronisten gelegentlich dahin abgewandelt, daß sie Tiere in diese Orgien einbezogen. Die kritische Überprüfung der Nachricht des Flacius soll nun auf die Beziehungen Rutzes zu den Waldensern ausgedehnt werden. Das Ungewöhnliche der Verbindung eines Universitätsmagisters mit den im Verborgenen lebenden, verfolgten Sektierern deutete schon Raab an. Auch anderen blieb dieser Widerspruch nicht verborgen. Sie halfen sich meist damit, daß sie ängstliche Geheimhaltung durch Rutze annahmen34 oder ihn einer Verfolgung aussetzten. Wie wollen an dieses Problem von einem anderen Aspekt aus herangehen. Welche Haltung nahmen die Waldenser zu Priestern der katholischen Kirche ein? Wie setzte sich ihre eigene Priesterschicht zusammen? Prüfen wir alle uns überlieferten Angaben über waldensische Priester des 15. Jh., so findet sich unter diesen kein einziger Universitätsmagister; es waren vornehmlich Handwerker, Reiser war Kaufmannssohn. Immer wieder betonen die Inquisitionsprotokolle, ihre Delinquenten seien „illiterati" und „indocti" (indoctissimi) gewesen, welche sich allerdings in der Bibel hervorragend auskannten. In eigenen Herbergen (scholae) bildeten die Waldenser ihre Priester heran. Diese durchliefen einen ziemlich langwierigen Entwicklungsweg unter der Devise „eundi de terra ad terram"; sie hatten eine Bewährungszeit in der Fremde zu bestehen, wie die Lebensbeschreibung des bedeutendsten Waldenserbischofs im 15. Jh., Friedrich Reiser, ausführlich bezeugt.35 Tauchten tatsächlich Gelehrte in waldensischen Gemeinden nördlich der Alpen auf, so waren sie von der herrschenden Klasse Verfolgte und aus ihren Universitätsämtern verdrängte Außenseiter, wie etwa a. a. O., S. 121). Eine Ketzerverfolgung danach ist 1483 aus der Gegend von Königsberg (Bistum Lebus) bekannt; vgl. WATTENBACH, W., a. a. O., S. 91f. 31 BARTO§, F. M., Erasmus und die böhmische Reformation, in: Communio viatorum 1958, S. 116ff. und 246ff. 32 „Nam praeter alia, etiam illud contra eos commenti sunt, solere illos noctu conuenire et in illis suis conuenticulis promiscuas libidines exercere. Quare vulgo dictitatum est conuenire eos in Kuskeller, id est osculorum celarix": M. Flacius, a. a. O., S. 1074. 33 Im 15. Jh. taucht er z. B. im Prozeß gegen die taboritisch beeinflußten Waldenser im Aischgrund und im Taubertal auf (BEYSCHLAG, E., Zur kirchlichen Geschichte der Würzburger Diözese im 15. Jh., in: Beiträge zur bayrischen Kirchengeschichte 15/1909, S. 85). 34
SCHILDHAUER, J., a. a. O., S. 87.
35
JUNO, A., Friedrich Reiser, neu hrsg. v. W . E. SCHMIDT, Herrenhut o. J.
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Butze
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der aus Oxford kommende Peter Payne.36 Zudem gehören sie in die Zeit der heranreifenden hussitischen Revolution, als sich die Waldenser unter dem Druck der gesellschaftlichen Ereignisse aktivierten und ihre Isoliertheit überwanden. Die sonst im 15. Jh. anzutreffende Erstarrung der waldensischen Häresie, die Verkirchlichung der Sekte zu einer Art Gegenkirche standen einer Aufnahme gelehrter Theologen im Wege. Von der inneren Struktur der waldensischen Führungsschicht her ist Rutze als Haupt einer Rostocker Ketzergemeinde sehr unwahrscheinlich. Flacius wollte diese Verbindung unter anderem dadurch glaubhaft machen, daß er Rutze einer Verfolgung aussetzte, die ihn zuerst zur Flucht nach Wismar und nach einer Rückkehr in die Universitätsstadt wiederum nach Livland zwang. Auch manche seiner Anhänger (multi cives) seien deshalb vertrieben worden.37 Relativ früh konnte der in diesen Gedankengängen enthaltene Hinweis auf Rutzes Tod im livländischen Exil widerlegt werden. Die Lösung dieses Problems erfordert natürlich Kenntnisse über Rutzes späteres Leben, mit denen es leider spärlich bestellt ist — aber doch wiederum nicht so spärlich, daß wir alle Hoffnungen aufgeben müßten. Einige Anhaltspunkte, deren Konsequenzen in den neueren Arbeiten zu gering veranschlagt wurden, machte der frühere Rostocker Archivar K. Koppmann der Öffentlichkeit bekannt. Rutze hinterließ ein um 1510 abgefaßtes Testament, in dem er Immobilien (einen Hopfenhof) einer geistlichen Kommende vermachte.38 Das Testament wurde ordnungsgemäß vom damaligen Rektor Peter Boye und einem anderen führenden Juristen, Nikolaus Lowe, bestätigt. Beide humanistisch gebildeten Professoren gehörten beim Herannahen der Schon Geistliche und „literati" begegnen uns unter den Waldensern äußerst selten; unter den von BÖHMER, H . , Waldenser, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 20, 3. Aufl., Leipzig 1908, S. 825, zusammengestellten Beispielen ist kein einziger Graduierter an einer Universität. Auch Peter Payne hatte ja nur vorübergehend (in Nürnberg) Kontakt zu einer waldensischen Gemeinde (JUNG, A., a. a. O., S. 8ff.), ehe er sich dem linken Flügel der Hussiten anschloß. 37 „Ipse Nicolaus Butze primum ob persequutionem coactus est Rostochi Vuismariam secedere, ubi circiter sesquiannum vixit, unde reversus, denuo Bostochium, rursus ob novam persecutionem in Liuoniam abiit, ibique diem suum obiit." (M. Flacius, a. a. O., S. 1 0 3 4 ) . Der Widerspruch zwischen den bekannten Tatsachen über Butzes späteres Leben und der Nachricht bei Flacius beschäftigte schon früher die Historiker. So nahm K R A U S E , K. E. H., a. a. O . , S. 6 1 , an, die Legende sei „zum Teil so entstanden, daß er mit der Universität nach Wismar (in der Domfehde) auswich, nachher aber . . . unangefochten lehrte." Einen Hinweis darauf, wie die Mitteilung bei Flacius entstanden sein könnte, gibt auch das spätere Schicksal Hans Kaffmeisters, der offenbar im Zusammenhang mit der Reformation aus Rostock vertrieben wurde, 1527 in Riga auftauchte, dort in den Bann getan wurde. Danach verlieren sich die Spuren seines Lebensweges. 3 8 KOPPMANN, K . , Magister Nikolaus Rutze, in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock, Bd. 1, Heft 4, 1895, S. 89. 36
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Reformation zum konservativen Teil der Universitätslehrer.39 Rutze muß während seiner Tätigkeit als Magister ein bescheidenes Vermögen erworben haben — vielleicht durch Erbschaft aus seiner Familie; wir wissen es nicht. Einige Jahre vor der Abfassung des Testaments (1505) erwarb er gegen 100 Mark eine Leibrente von 5V2 Mark.40 Das Testament und seine Beglaubigung weisen auf eine relativ gesicherte wirtschaftliche Lage und eine angesehene Stellung innerhalb der Universität an seinem Lebensende hin, was mit einer Verfolgung durch geistliche Gerichte, wie sie Flacius schildert, unvereinbar ist.41 Fragen wir nun nach der Rolle, die wir Rutze und den von ihm verbreiteten Gedanken in der Gesellschaft des beginnenden 16. Jh. beimessen. Wir nehmen mit Flacius an, daß Rutze nicht wenige Menschen um sich hatte, denen er seine Ansichten vortrug.42 Wie wir sehen, hinderte dies nicht daran, daß er sein Leben lang Universitätslehrer blieb und mit einem gewissen Vermögen am Lebensende dastand. Die beiden Traktate, die der Codex aus seinem Besitz enthält, sind nicht zufällig zu einem Buch vereint. Ihre tschechischen Originale entstanden kurz hintereinander am Ende des Jahres 1412; im später Geschriebenen, in der Auslegung der 10 Gebote, findet sich ein Bezug auf das Vorhergehende, so daß man das „Provázek tfiprameny" als eine Art Vorspann zu dem „Vyklad desatera" ansehen kann.43 Kritik an der Kirche enthält das „Provázek" aber wenig. Es variiert ein verbreitetes scholastisches Thema, das der drei Symbole des heiligen Lebens.44 Für unseren Zweck müssen wir es fast gänzlich beiseite lassen45, zumal die Auslassung des Fegefeuers in der Übersetzung auf sprachlicher Unsicherheit beruht. Um so interessanter ist der voller kirchenkritischer Gedanken steckende zweite Traktat, die Auslegung der zehn Gebote. Hinsichtlich der theoretischen Verdichtung erreichte es zwar nicht den Grad der zur selben Zeit (Ende 1412) entstandenen bedeutendsten Spätschrift des Prager Magisters „De ecclesia"46, 39
Zur Bolle dieser beiden Professoren an der Universität Rostock SCHNITZLE», E., Das geistige und religiöse Leben Rostocks am Ausgang des Mittelalters, phil. Dies., Münster 1940, S. 94 und 113.
40
KOPPMANN, K . , a. a. O., S. 89, nach dem Leibrentenbuch 1480/1572. N a c h DEMSELBEN,
Geschichte der Stadt Rostock, T. 1, 1887, S. 123 (ohne Quellenbeleg), wird Rutze 1504 als dominus und 1505 als magister erwähnt. 41 Es besteht allerdings ein „weißer Fleck" in der überlieferten Vita des Magisters, nämlich zwischen 1485 und 1505, den wir mit unseren gegenwärtigen Kenntnissen nicht zu beseitigen vermögen. In diese Zeit eine Verfolgung durch die geistlichen Gerichte zu legen, gleitet in Spekulationen ab, da uns jeglicher Nachweis dafür fehlt. 42 „Habuit etiam suos auditores, eosque non paucos": M. Flacius, S. 1014. « NOVOTNY, V., M. Jan Hus. Zivot a uöeni. D 1, 6 2, Praha 1921, S. 213 ff. 44 WIEGAND, FB., Das apostolische Symbol im Mittelalter, 1904, S. 31. 45 Schon KRAUSE, K. E. H., a. a. O., S. 61, wies auf den Unterschied zwischen beiden hin; der Traktat „Van dren repe" sei durchaus rechtgläubig. 46 J. Hus, De ecclesia, ed. S. H. THOMSON, Praha 1958.
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zählt aber zu dessen wichtigsten tschechischen Arbeiten. Bekanntlich bildete die von Luther empfohlene Drucklegung von „De ecclesia" in Deutschland einen wesentlichen Baustein zum theoretischen Selbstverständnis der lutherischen Reformation. 47 Luther schrieb nach deren Erscheinen im Februar 1520 den häufig zitierten Satz an Spalatin: Wir alle sind unbewußt Hussiten; auch Paulus und Augustinus sind es dem Worte (Gottes) nach. 48 Eine Systematisierung der in der Auslegung der zehn Gebote enthaltenen Kirchenkritik läßt als erstes Thema die scharfen Angriffe auf die Mißstände in der gegenwärtigen Priesterschaft erkennen: ihre maßlose Geldgier, wenn sie Gebühren für geistliche Leistungen (Sakramentspendung, Messe usw.) fordern, den Zehnt zu ihrem Nutzen verwenden, ihr Wohlleben als Kontrast zu den Armen, denen sie dienen sollen.49 Unvereinbar mit der Funktion des Priesters seien das Streben nach weltlicher Macht und der Anspruch der geistlichen Gerichte über Zivilpersonen. Hiermit wird ein zweiter Gedankenkreis berührt: der Antipapalismus, die Ablehnung des weltlichen Machtanspruchs der gegenwärtigen Päpste und überhaupt ihres Anspruchs auf die Nachfolgerschaft Petri. 50 Wiclif hatte das schärfer in der Gleichung Papst = Antichrist ausgedrückt — eine Vorstellung, die 1519 von Luther wieder aufgegriffen wurde. 51 Die Sätze aus der Auslegung der zehn Gebote: ein armer Bauer sei vor Gott größer als ein unkeuscher Bischof 52 , oder: Fürsten, Herren und reiche Bürger seien überaus schuldig an dem üblen Zustand der Priester und in ihrem Wohlleben und Wucher nicht besser als die Pfaffen 53 , dürfen nicht zu dem Mißverständnis verführen, daß die Schrift einen vordergründig Sozialrevolutionären Inhalt besitzt. Manche orthodoxe Theologen, etwa Berthold von Regensburg in seiner sozialkritischen Predigt (13. Jh.), kannten ähnliche Formulierungen; das Entscheidende sind die hieraus abgeleiteten Schlußfolgerungen. Hus bejahte einen in der Nachfolge Christi lebenden Papst („hält er die Gesetze Gottes und die Werke nachfolgend Jesu und seinen Aposteln, so ist er heilig" 54 ) und ausdrücklich den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit in drei Abstufungen: den geistlichen Gehorsam (vollkommene Bewahrung der Gesetze Gottes), den weltlichen Gehorsam den Gesetzen des Staates gegenüber und den priesterliehen. „Der treue Mensch soll fleißig sein bis zum Tode im ersten Gehorsam, aber in den anderen beiden nicht also, sondern nur sofern sie übereinstimmen mit dem ersten Gebote." 55 « HOYEB, S . , a . a . 0 . , S . 9 4 f . 48
Luther, M., Werke. Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel, Bd. 2, Weimar 1931, S. 42. 49 WIGGERS, J . , a. a. O . , S . 213f. und 226f. a> Ebenda, S. 184. 51 SCHMIDT, M., John Wiclifs Kirchenbegriff, in: Gedenkschrift für W. Eiert, Berlin 1955, S . 96f.; MÜHLHATIPT, E., Vergängliches und Unvergängliches an Luthers Papstkritik, in: Luther-Jahrbuch 1959, S. 71ff. 52 WIGGERS, J . , a . a . O . , S . 1 0 0 .
53 Ebenda, S. 214f.
54 Ebenda, S. 185.
55 Ebenda, S. 212.
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In die bisher geschilderten Züge der Kirchenkritik fügen sich die Polemik gegen die Praxis des Ablasses und die Warnung vor einer übertriebenen Bilderverehrung (Anbetung) ein. Praglich erscheint uns, ob Rutze den in der Auslegung der zehn Gebote enthaltenen Husschen Kirchenbegriff, die jede Hierarchie nivellierende Definition der ecclesia als Gemeinde aller Auserwählten56 voll erfaßte. In dieser von Wiclif übernommenen Konzeption der Kirche steckt eine wesentlich größere Sprengkraft als in der Kritik vieler Mißstände. Ehe wir nach dem gesellschaftlichen Bezug dieser Gedanken und ihrer Bedeutung für das hansische Bürgertum fragen, kehren wir noch einmal zur Präge der Überarbeitung des Textes bei der Übersetzung und den dabei hineingetragenen Akzenten zurück, die in beiden Fällen (Ablehnung des Eides und der Heiligenverehrung) über Hus hinausgehen. Um es vorwegzunehmen: beide Ansichten lassen sich der breiten Strömung des tschechischen Utraquismus in der zweiten Hälfte des 15. Jh. zuordnen und damit der Nähe des mutmaßlichen Übersetzers Johann von Lübeck. Von einer Ablehnung beziehungsweise von starkem Zweifel an der Heiligenverehrung war Rokyzana selbst erfüllt 57 ; die politisch gewichtigtere Frage des Eides führt uns in den Gedankenkreis des Peter Chelcitzky, dessen Person und Lehre eine gewisse Sonderstellung einnahmen, aber mit der utraquistischen Kirche tangierten58, so daß es nicht ausgeschlossen ist, daß ein utraquistischer Theologe Auffassungen des Kreises um Chelcitzky vertrat. Die Überarbeitung der beiden Husschen Schriften kann also von einem utraquistischen Theologen erfolgt sein. Die skizzierten Abweichungen von der katholischen Glaubenslehre bedurften keiner waldensischen Überarbeitung. Damit sind wir bei der entscheidenden Frage der gesellschaftlichen Bedeutung der Gedanken angelangt, die sich in dem von uns behandelten Codex befinden und die Rutze verbreitete. Ausgangspunkt ist die Wertung der Lehre von Hus, obwohl wir nicht meinen, daß Rutze das ganze Lehrgebäude des tschechischen Reformators kannte. Ohne näher auf die bis zur Gegenwart heftig diskutierte Frage einzugehen, ob Hus ein Reformer (im Sinne der mittelalterlichen Kirchenreform) oder ein Reformator sei, schließen wir uns der von R. Kalivoda vorgetragenen Auffassung an, daß die Kirchenkritik von Jan Hus gesellschaftlich die Interessen des tschechischen Bürgertums zum Ausdruck brachte.59 Die böhmischen Städte, deren bedeutsame Rolle in der hussitischen Revolution von der neueren Forschung herausgearbeitet worden ist60, waren in erster Linie Träger der Gedanken von Hus. Wir finden dieses gesellschaftliche Interesse 56
57
WEBNER, E., Der Kirchenbegriff bei Jan Hus, Jakoubek von Mies, Jan Zelivsky und den linken Taboriten, Berlin 1967, S. 11 ff. HEYMANN, F. G., The Hussite-Utraquist Church in the 15th and 16th Centuries, in: Archiv für Reformationsgeschichte 1/1961, S. 4.
58 foöAN, R., a. a. O., S. 18f. 59 60
KALIVODA, R., a. a. O., S. 183ff. HEYMANN, F. G., The Role of the Towns in the Bohemia of the Later Middle Ages, in: Journal of World History 2/1954, S. 326ff.
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auch beim Rostocker Bürgertum. Während der Rostocker Domfehde (1487 bis 1491)61 War es zu kräftigen antiklerikalen Aktionen gekommen; eine ideologische Begründung derselben ist zwar nicht überliefert, aber die jahrelangen Auseinandersetzungen bereiteten zweifellos einen günstigen Boden für eine Kritik der Papstkirche vor, wie sie in den Husschen „Vyklad desatera" formuliert war. Zu den verborgenen Anhängern der neuen Lehre dürfte auch Hans Kaffmeister gehört haben, der 1520 den Büchernachlaß Rutzes dem von einer reformatorischen Mission am Hofe Christians II. von Kopenhagen zurückgekehrten Karlstadt-Anhänger Martin Reinhard62 übergab. Ein Jahr später (1521) wurde beim Ausbruch der Reformation in der Hansestadt deutlich, daß vor allem das niedere Bürgertum und die Plebejer den reformatorischen Predigten folgten. Damit waren die von Rutze vorgetragenen Gedanken auf einer höheren Ebene gesellschaftliche Praxis geworden. Die zeitgenössischen, vorreformatorischen Parallelen zu der von Rutze verbreiteten Kirchen- und Gesellschaftskritik finden wir im radikalen Flügel der Reformtheologie der zweiten Hälfte des 15. Jh., etwa bei Johann von Wesel. Dieser hatte längere Zeit an der mit Rostock eng verbundenen Universität Erfurt gelehrt. Zu ihm bestanden vor allem Beziehungen hinsichtlich der scharfen Angriffe auf die Ablaßtheorie und -praxis. Parallelen sind auch zur Reformatio Sigismundi, in erster Linie hinsichtlich der Kritik am moralischen Verfall der Geistlichkeit, zu bemerken. Allerdings brachten die Husschen Gedanken der rationalistischen, auf einer äußersten Zuspitzung des philosophischen Realismus beruhenden Kirchenauffassung, eine Theorie in die breite Reformbewegung, die geeignet war, das ganze Gebäude der scholastischen Tradition von innen her zu sprengen. Bisher kannten die Rostocker Magister die Wiclifsche und Hussche Konzeption der Kirche nur aus Auszügen, meist Zusammenstellungen von „errores", die für die scholastische Disputation und die kirchliche Gerichtsbarkeit bestimmt waren.63 Nun lag das erste Mal eine Hussche Originalschrift in der Volkssprache vor und wurde über den Universitätsrahmen hinaus verbreitet. Als ihr Besitzer und Verbreiter gehört Rutze zu den vorreformatorischen Kräften; zu den Anhängern der mittelalterlichen Häresie besaß er, wie wir sahen, keine Verbindung. Wenn der kanadische Historiker F. G. Heymann in Polemik gegen eine unter deutschen Historikern weit verbreitete Auffassung feststellt, daß die Nachwirkungen der hussitischen Kirche zu Beginn der Reformation in Deutschland 61
OLECHNOWITZ, K.-F., Rostock. Von der Stadtrechtsbestätigung im Jahre 1218 bis zur bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49, Rostock 1968, S. lOOff. «2 Über die Verbreitung weiterer hussitischer Schriften aus dem Nachlaß Rutzes durch Martin Reinhard: BARTOS, F. M., Neznämy manifest husitsky z r. 1430, in: Jihoöesk6 Sbornik historick^ 13/1940, S. 129F.; ferner HOYER, S., Martin Reinhard und der erste Druck hussitischer Artikel in Deutschland, demnächst in: ZfG. 63 Solche „articuli" fanden sich im Nachlaß des 1419 nach Rostock gekommenen früheren Prager Magisters theol. Heinrich Gheysmar; bei Hermann Hamme der Wiclifsche Tractatus de communi sophistria.
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durchaus spürbar waren64, so bildet Rutze ein wichtiges Glied in der Beweiskette. Das hansische Bürgertum, speziell das der Stadt Bostock, kann für sich in Anspruch nehmen, die historische Grundlage für dieses bedeutende ideologische Ereignis im Emanzipationskampf der progressiven, kapitalistischen Klassenkräfte zu bilden. 64
HEYMANN,
F. 6., The Hussite-Utraquist Church, a. a. O., S. 2.
D I E U N T E R D R Ü C K U N G D E R VOLKSBEWEGUNG UND DIE ERRICHTUNG EINES OBRIGKEITLICHEN KIRCHENREGIMENTS ZUR Z E I T D E R REFORMATION I N D E N OSTBALTISCHEN H A N S E S T Ä D T E N von Joachim Kühles
Die Reformation stellt sich uns in der Geschichte der Hansestädte als bedeutende Etappe in den innerstädtischen Auseinandersetzungen dar. Der religiöse Zündstoff der Reformation verstärkte das ohnehin schon mit wirtschaftlich-sozialen und politischen Gegensätzen geladene Spannungsfeld der hansischen Kommunen. Diese Tatsache gilt sowohl für die norddeutschen Hansestädte 1 als auch für ihre ostbaltischen Schwesterkommunen 2 . Da die Stellung des ostbaltischen Bürgertums in der reformatorischen Bewegung unter dem Aspekt der Frage nach dem sozialen Inhalt der Reformation im Ostbaltikum, der Entwicklung des Bürgertums unter den Bedingungen der Gutsherrschaft und überhaupt der Genesis kapitalistischer Elemente in diesem Raum bereits untersucht worden ist 3 , soll sich der folgende Beitrag speziell mit den Aktionen der konservativen Ratsgeschlechter gegen die von der Reformation ausgelöste Volksbewegung befassen. Im Gegensatz zu den konservativen patrizischen Räten der norddeutschen Hansestädte, die aus Furcht vor Unruhen unter der Bürgerschaft zunächst die Reformation unterdrückten 4 , waren die Magistrate der ostbaltischen Metropolen Riga, Reval und Dorpat ohne längeres Zögern zur neuen Lehre übergegangen. Das rasche Eindringen der Reformation erklärt sich hier wohl in hohem Maße aus den starken Emanzipationsbestrebungen der Räte gegenüber den katholischen Landesgewalten von Erzbischof und Orden. Der livländische 1
2
3
4
Vgl. SCHILDHAUER, J., Soziale, politische und religiöse Auseinandersetzungen in den Hansestädten Stralsund, Rostock und Wismar im ersten Drittel des 16. Jh., Weimar 1959, S. 82 ff. (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte, Bd. 2). Vgl. KÜHLES, J . , Studien zur sozialen Lage der Volksmassen und zu den Volksbewegungen zur Zeit der Reformation in Livland, phil. Diss. Leipzig 1966 (MS), S. 81 ff. Vgl. KÜHLES, J . / K Ü T T L E B , W., Bürgertum und Reformation in den ostbaltischen Ländern, in: 450 Jahre Reformation, hrsg. v. L. STERN, und M . STEINMETZ, Berlin 1 9 6 7 , S. 186—200; RÜTTLER, W., Sozialer Inhalt und politische Triebkräfte der Reformation im Ostbaltikum, in: Weltwirkung der Reformation. Referate und Diskussionen, hrsg. von M . STEINMETZ und G . B R E N D L E R , Bd. 2 , Berlin 1 9 6 9 , S . 3 6 7 - 3 7 6 . Vgl. hierzu SCHILDHAUER, J., a. a. O., S . U l f .
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J. KUKLES
Ordensmeister Wolter von Plettenberg brachte in einem Mahnschreiben an den Revaler Rat die Situation treffend zum Ausdruck. Hier heißt es, „. . . dath dorch allen Dutzschen landen in keiner Stadt negest Wittenberch der Lutt er schen lere so schwinde alse hir im Lande angehangen."5 Trotzdem hielten sich die ostbaltischen Hansestädte an den Beschluß des Hansetages zu Lübeck vom 7.-29. Juli 1525, wonach zwar jeder Stadt das Recht zugestanden wu; de, sich „myt gutten predigers" zu versorgen, ihr aber gleichzeitig zur Pflicht gemacht wurde, dafür zu sorgen, daß keine „entporungk wydder dy obyrkeyt folget czu vorterbe der stede."6 Die herrschenden deutschen Kreise der ostbaltischen Hansestädte, die eine Volksbewegung im Gefolge der Reformation von vornherein zu vermeiden suchten, gingen bei der Einführung der neuen Lehre äußerst vorsichtig und mit gemäßigten Aktionen gegen den Katholizismus vor. So wandte sich in Riga der Rat mehrmals an den Erzbischof Caspar Linde mit der Bitte um Abstellung der kirchlichen Mißstände, damit die Bürgerschaft keine Veranlassung zur Ergreifung anderer Mittel hätte.7 Die Vorstellungen der Ratspartei von einer reformierten Kirche entsprachen der Lehrauffassung des ersten rigischen Reformators Andreas Knopken8, der in der zweiten Hälfte des Jahres 1521 nach einem Studium bei Johannes Bugenhagen im pommerschen Prämonstratenserkloster Belbuck bei Treptow/Rega vom Rat als Prediger an der Peterskirche eingesetzt wurde. In seinen Thesen zum Römerbrief9, die Knopken zu der am 12. Juni 1522 in der Peterskirche stattfindenden Disputation aufstellte, verwarf er die katholische Werkgerechtigkeit und vertrat Luthers Auffassung von der Rechtfertigung allein durch den Glauben.10 Des weiteren griff er die weltliche Herrschaft der Papstkirche an11 und trat gegen ihren Reichtum und Prunk sowie gegen das parasitäre Leben des katholischen Klerus auf12. Vernichtung der geistlichen Gewalt in der Stadt 5
Archiv für die Geschichte LIV-, Est- und Curlands, 3. Folge, Bd. 4: Revaler Stadtbücher, Reval 1895, S. 57 f.
6
Hanserezesse von 1477—1530, 3. Abteilung, B d . 9, bearb. v . D . SCHÄFER und F . TECHEN,
München und Leipzig 1913, nr. 132, §§ 120 und 121. 7 Vgl. ARNDT, J. G., Der Liefländischen Chronik anderer Teil (Teil 2), Halle 1753, S. 186; GREFENTHAL, B., Livländische Chronik, hrsg. v. F. G. v. BUNGE in: Monumenta Livoniae Antiquae, Bd. 5, Riga und Leipzig 1887, S. 49: „Indes haben der Bath der Stadt Riga, damit sie nicht vor aufrürisch wieder ihre Obrigkeit angesehen undt gehalten werden möchten, ihrem Erzbischof Casparum Linden unterthenig gebeten, das er ihnen Gott zu lob undt ehren, Gemeiner Stadt und Burgerschaft zu nuz, Wohlfahrt und solchem heil undt Seligkeit reine Luterische Prediger beruffen undt zu ihnen erforderte" 8 Zu Andreas Knopken siehe HOERSCHELMANN, F., Andreas Knopken, der Reformator Rigas, Leipzig 1896; DSIRNE, F., Knopken, Tegetmeyer und Lohmüller, in: Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche, Heft 2/3, 1859. 9 Vgl. die 24 Thesen, abgedruckt bei POHRT, O., Reformationsgeschichte Livlands. Ein Überblick, Leipzig 1928, S. 114—125 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 46/2, nr. 145). »o Vgl. ebenda These 1, S. 115; These 14, S. 122. » Vgl. ebenda These 20, S. 124; These 17, S. 122f.
Kirchenregiment
ostbaltischer
Hansestädte
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und Säkularisierung des Kirchen- und Klosterguts auf städtischem Territorium waren die notwendigen Schlußfolgerungen, die sich für den Rat aus Knopkens Lehre ergeben mußten. Der rigische Ratssekretär Johannes Lohmüller ließ im Juli 1524 im Auftrage des Rates eine Denkschrift unter dem Titel „Daß Papst, Bischöfe und geistlicher Stand kein Land und Leute besitzen, vorstehen und regieren mögen, aus der heiligen Schrift verfasset" erscheinen.13 Der Rat forderte eine wohlfeile Kirche, die den politischen und ökonomischen Interessen der herrschenden städtischen Kreise Rechnung trug. So erschien im November 1524 in Riga, von Rat und Gilden unterzeichnet, eine Verordnung zur Auflösung aller gottesdienstlichen Stiftungen und geistlichen Bruderschaften, zur Abführung aller geistlichen Renten an den „gemeinen Kasten" und zur Einziehung der gottesdienstlichen Inventare von gestifteten Altären und Vikarien.14 Der Revaler Rat verlangte von Dekan und Kapitel die Herabsetzung der Zahl der kirchlichen Feiertage, damit das Volk nicht in der Ausübung seiner täglichen Arbeitspflicht gehindert würde.15 Die acht Befehle des Revaler Rates, die am 9. April 1524 dem Dominikanerprior Johann Buxstrup bekanntgegeben wurden, sind Ausdruck bürgerlicher Säkularisierungsbestrebungen.16 Trotz der eindeutigen Absage an den katholischen Glauben, die aus Knopkens Thesen spricht, predigte dieser „. . . doch bescheidentlich wider die päpstliche Abgötterei, Ablaßkrämerei und Verehrung der Bilder . . ." und verhielt sich in der Frage der Abschaffung des katholischen Kirchenkultes äußerst besonnen. „Er hielte es mit seinem Präceptore Luthero dafür, daß der Götze müsse erst aus der Menschen Herz und hernach aus den Kirchen geräumt werden"17, und ist „an diesem weit und gefehrlichen ort mit der reformation der Religion (1522) sanft und gelinde gefahren, mit allein den Artikeln von der Rechtfertigung des armen Sünders vor Gott einfeltige seinen Zuhörern eingebildet, die Ceremonien undt alten kirchen gebreuch nicht alsbaldt geendert..." 1 8 . Die rigische Agende gestattete, zunächst auch weiterhin das katholische Amtsgewand zu tragen und einige Zeremonien beizubehalten.19 Deshalb genoß Knopken auch das Wohl12 13
14
15 18 17
Vgl. ebenda These 24, S. 123 f. Vgl. die Schrift im Auszug bei TATTBENHEIM, G . R . , Einiges aus dem Leben Magister Johannes Lohmüllers. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte Livlands, GymnasialProgramm Riga 1830, S. 15f. Vgl. ABBTJSOW, L. (jun.), Die Einführung der Reformation in Livland, Estland und Kurland, Leipzig 1921, S. 399, Anm. 1 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 3). Vgl. LEMMENS, L . , Die Franziskanerkustodie in Livland und Preußen, Düsseldorf 1912, S. 179. Vgl. ARBUSOW, L . (jun.), a. a. O., S . 2 8 8 . KELCH, CH., Liefländische Historia oder Kurtze Beschreibung der Denkwürdigsten Kriegs- und Friedensgeschichte Esth-, Lief- und Lettlands . . . in fünff Büchern abgefaßt, Reval 1695, S. 167.
18
GREFENTHAL, B . , a . a . 0 . , S . 4 8 .
19
Vgl. DALTON, H., Verfassungsgeschichte der evangelisch-lutherischen Kirche in Rußland, Bd. 1, Gotha 1887, S. 189.
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wollen des Domherrn Hildebrand Lutkens, der in den dreißiger Jahren in Riga für einen Kompromiß zwischen alter und neuer Lehre eintrat.20 An all dem wird deutlich, daß Knopken jegliche Radikalisierung der reformatorischen Bewegung zu vermeiden bestrebt war. Der rigische Rat, der unter allen Umständen Unruhen unter der Bürgerschaft verhindern wollte, hatte aus diesem Grunde einen abgefangenen Brief des Franziskanermönchs Andreas Bomhower, der im Auftrag des neuen Erzbischofs Johannes Blankenfeld in Rom ein päpstliches Strafmandat gegen das Luthertum in Livland erwirken sollte, geheimgehalten.21 Als der Brief am 6. März 1524 dennoch bekannt wurde, war ein Volksaufstand, der sich gegen das Franziskanerkloster richtete, nicht mehr zu verhindern.22 Um die Ruhe unter der Bürgerschaft möglichst rasch wiederherzustellen, wies der Rat die Franziskaner aus der Stadt und verbot allen Mönchen das Läuten der Glocken und die öffentliche Predigt. Eine im September 1524 für Reval von Johann Lange entworfene Kirchenordnung sah vor: „Man schließe ihnen die Kirche und verbiete ihnen das Läuten als zu Riga geschehen."23 Auch hier war der Rat darauf bedacht, daß aus dem religiösen Hader mit dem katholischen Klerus keine Unruhe in der Gemeinde entstand. Deshalb wies er die Dominikaner Anfang des Jahres 1525 aus der Stadt aus.24 Bald zeigte es sich jedoch, daß trotz aller Vorsichtsmaßnahmen sich die Reformation in den ostbaltischen Städten sich über die Ziele, die die Räte mit ihr verfolgten, hinaus entwickelte. Dies fand in Riga seinen Ausdruck im evangelischen Radikalismus Sylvester Tegetmeyers, dessen Predigten einen allgemeinen Volksaufstand gegen den katholischen Klerus in der Stadt auslösten und zum Sturm der Bürgerschaft auf Kirchen und Klöster führten. Im Gegensatz zu Knopken ist dieser „etwas harter gefahren, undt der Papisten Abgötterey gestraft, die bilder gesturmet, doruber der gemeine man stuzigk gemacht, . . ."25 Wie Tegetmeyer in Riga und Hermann Marsow in Reval stammten die neuen Prediger zum Teil aus dem Kleinbürgertum und der mittleren Kaufmannschaft, die den Kampf gegen den Katholizismus zugleich mit dem Kampf um die Demokratisierung der städtischen Verfassung verbanden. Die Gilden verliehen ihrer Opposition gegen das Ratsregiment unter anderem auch dadurch Ausdruck, daß sie sich hinter die Prediger stellten, deren Lehrauffassung sich nicht mit der der Ratspartei deckte. So ging es hinter der 20
Vgl. ARBUSOW, L. (jun.), a. a. O., S. 197 u n d 198, Anm. 2.
21 Vgl. ebenda, S. 292 f. 22 V g l . POHKT, O . , a . a . O . , S . 4 2 .
23 BIENEMANN, F., Aus Livlands Luthertagen. Ein Scherflein zur 400jährigen Gedenkfeier der Geburt der Reformation, Reval 1883, Quellenanhang, S. 68, nr. 2. 2/ ' Vgl. ARBUSOW, L. (jun.), a. a. O., S. 367£f. 25 GREFENTHAL, B., a. a. O., S. 49. Zum Radikalismus Tegetmeyers siehe auch CHYTRÄTJS, D., Saxonia ab Anno Christi 1500 usque ad MDXCIX. Recognita et aliquot annorum successione, et aliis Historiis aucto, Leipzig 1599, S. 256; KELCH, CH., a. a. O., S. 168; ARNDT, J . G., a. a. O . , S. 189.
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Kulisse verschiedener Auffassungen von der Reformation um Auseinandersetzungen zwischen Rat und Gilden, das heißt zwischen Patriziat und Bürgeropposition, um Fragen des innerstädtischen Handels, der Wirtschaftspolitik, der Verwaltung und Verwendung des durch die Reformation in die Verfügung der Städte übergegangenen Kirchen- und Klosterbesitzes.26 In den plebejischen Schichten der deutschen und nichtdeutschen Bevölkerungskreise, vor allem in den Letten und Esten der Stadt, fand die bürgerliche Opposition eine breite Massenbasis. Die ökonomisch entwickelten Hansestädte des Ostbaltikums, in denen der Prozeß der sozialen Differenzierung ein zahlenmäßig starkes Plebejertum entstehen ließ, waren ein fruchtbarer Boden für eine breite Volksbewegung. Auf Grund der großen Zahl der Letten und Esten, die fast ausnahmslos den untersten städtischen Bevölkerungsschichten angehörten, wurde hier das soziale Spannungsfeld durch den bestehenden nationalen Gegensatz zwischen herrschender deutscher Oberschicht und dem sowohl politisch als auch weitestgehend ökonomisch rechtlosen nichtdeutschen Bevölkerungselement noch verstärkt.27 Die plebejischen Schichten unterstützten deshalb wesentlich diejenigen reformatorischen Richtungen, welche über die gemäßigte bürgerliche Reformation hinausgingen. Diese Möglichkeit war vor allem dadurch gegeben, daß in den drei Städten anfangs die reformatorischen Bestrebungen noch nicht einheitlich lutherisch waren.28 Das entschiedene Auftreten solcher Prediger wie Tegetmeyer ließ die plebejische Schicht auf Erfüllung mancher sozialer und politischer Forderung hoffen. Außer der lutherischen Lehre fanden aber auch wiedertäuferische und zwinglianische Anschauungen in den ostbaltischen Hansestädten Aufnahme, ohne daß von vornherein die verschiedenen religiösen Strömungen eine scharfe Abgrenzung erfuhren. Die plebejischen Schichten mußten besonders von den sozialreligiösen Ideen des späteren Täuferführerfc von Münster, Melchior Hofmann, und zahlreicher anderer dem Namen nach meist unbekannter Laienprediger, die aus Süd- und Mitteldeutschland vertrieben und ins Ostbaltikum gekommen waren, angesprochen werden. In zehn Kirchen- und Klosterstürmen vom März 1524 bis zum März 1526 entluden sich die sozialen und religiösen Spannungen in den ostbaltischen Städten.29 Die gegen den Willen der Räte auftretende radikale Fraktion der reformatorischen Bewegung, die oppositionelle bürgerliche und plebejische Kreise in sich vereinigte — inwieweit die plebejischen Kräfte eine selbständige Rolle gespielt haben, läßt sich anhand der schwachen Quellenbasis schwer erkennen —, 26
Vgl. KÜTTLER, W., Patriziat, Bürgeropposition und Volksbewegung in Riga in der zweiten Hälfte des 16. Jh., phil. Diss. Leipzig 1966 (MS), Teil 1, S. 198-218. 27 Vgl. NHTEMAA, V., Die undeutsche Frage in der Politik der livländischen Städte im Mittelalter, Helsinki 1949 (Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Bd. 64). 28 Vgl. KÜHLES, J . , Zur ideologischen Differenzierung der reformatorischen Bewegung im Ostbaltikum, in: Weltwirkung der Reformation, a. a. O., S. 377—390. ® Vgl. POHRT, 0 . , a. a. O., S. 67. 13 Neue Hansische Studien
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konnte nur allzu leicht, wie die Vorgänge in Pernau zeigten, eine gezielte Richtung gegen die autonome Ratsherrschaft nehmen. Hier wandte sich der Bürgermeister Johann Lynthem entschieden gegen die demokratischen Tendenzen in der Gemeinde, die ihren Prediger selbst wählen wollte; er verhehlte nicht seinen Unwillen über den „opruer und verenderinge der stende in den kircken, wo nun dy gemeyne den kirckhern gesaßet, offenbar durch ingebinge erer predicers"30 und brachte seine Entrüstung darüber zum Ausdruck, daß sich „ . . . dy buerger myth den geßellen vast ungehoerßaeme unordentlicke dynge an tho richten jegen beyde buergermeyster . . unterstanden hatten 31 . Deshalb schritten die Stadtobrigkeiten jetzt energisch gegen die Volksbewegung ein. Die Forderung nach Demokratisierung der Kirchenverfassung mußte den Widerstand der Räte gegen solche Tendenzen hervorrufen, da diese erbitterte Gegner jeglicher Gemeindeautonomie waren. In dieser Frage gerieten die Räte auch mit solchen Predigern wie Tegetmeyer und Marsow aneinander, die als Sprecher der bürgerlichen Opposition auftraten. Auch die gleichmacherischen Tendenzen und die chiliastischen Hoffnungen, die in den Predigten der Laien anklangen, stellten eine potentielle Gefahr für die gesellschaftliche Machtposition der Räte dar. Somit werden die wahren Gründe für die Unterdrückungspolitik der Räte gegenüber den Laienpredigern an der sozialen Struktur ihrer Anhängerschaft klar. Die Räte mußten diesen um so mehr Aufmerksamkeit widmen, als ihnen auch die städtischen Nichtdeutschen folgten. Nachweislich wurde während des Dorpater Volksaufstandes Hofmann auch von Esten Gefolgschaft geleistet32, und es besteht kein Grund zu der Annahme, daß die nichtdeutschen Bevölkerungskreise in den anderen ostbaltischen Städten nicht von der Volksbewegung ergriffen worden wären33. Am entschlossensten erfolgten die Gegenmaßnahmen des Rates in Reval, wo das nichtdeutsche Bevölkerungselement am stärksten vertreten34 und die Gefahr einer Beseitigung der deutschen Fremdherrschaft somit am größten war. Deshalb hatte auch der Ordensmeister Wolter von Plettenberg den Revaler Rat ermahnt, die Stadt nicht in die Hände der Nichtdeutschen zu überliefern.3^ Schon am nächsten Tag nach dem Kirchensturm vom 15. September 1524 30
Johann Lynthems Denkwürdigkeiten (1519—1526), abgedruckt in: HAUSMANN, R., Studien zur Geschichte der Stadt Pernau, Dorpat 1906, S. 172. 31 Ebenda, S. 173. 32 Vgl. Sylvester Tegetmeyers Tagebuch. Mitgeteilt von F. BIENEMANN in: Mitteilungen aus der livländischen Geschichte 1880/12, S. 503: „ . . . quemen de borgere und jungen gesellen sick des vagedes tho wehren, dat van der borger syden iiij doth bleven, ij Dudeschken und ij Undudeschken." 33 Vgl. NHTEMAA, V . , a. a. O., S. 2 3 6 ; ABBTJSOW, L. (jun.), a. a. 0 . , S. 728 u n d 3 3 6 - 3 5 8 .
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Vgl. ZTJR MÜHLEN, H. V., Versuch einer soziologischen Erfassung der Bevölkerung Revals im Spätmittelalter, in: Hansische Geschichtsblätter 75/1957, S. 68. 35 Vgl. JOHANSEN, P., Deutsch und Undeutsch im mittelalterlichen Reval, in: Volksforschung. Vierteljahresschrift des Deutschen Auslandsinstituts 1/1939, S. 49.
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verbot der Rat bei Strafe die Fortsetzung solcher Aktionen und erließ Bestimmungen zur Auslieferung des vom Volke in Besitz genommenen Kirchengutes: „Anno 1524 donnerstags nach Kreuzeserhöhung (15. September) hat ein ehrsamer Rat allen und jeden . . . gebieten lassen, daß ein jeder von denen, die am nächstvergangenen Mittwoch (14. September) bei der Zerstörung der abgötterischen Bilder und Altäre zum Heiligen Geist, zu St. Olaf und zu den Mönchen irgendweich Kirchengut und Kleinodien . . . herausgetragen und weggebracht haben, daß dieselben also mit dem allerersten je eher je lieber solches hierbeibringen und wieder einstellen. Sonst will man dieselben für Diebe halten und ernstlich richten überall und bei wem auch solcherlei angetroffen wird." Jeder weitere Kirchensturm wurde untersagt und vor neuen Angriffen auf die Klöster gewarnt: „Auch soll sich niemand, er sei deutsch oder undeutsch, jung oder alt, erdreisten, hier in der Süsternkirche, im Dom oder zu St. Klaus, auch St. Antonius irgend Störung und Überfall im Antasten und Abbrechen der Bilder daselbst anzurichten. Hiernach wisse sich ein jeder zu richten."36 Eine ähnliche Verordnung erließ der Revaler Rat zur Auslieferung der Gegenstände aus dem Schwarzen Kloster.37 Um weiteren Volksunruhen vorzubeugen, wurde durch ein Ratsmandat vom 28. Oktober 1524 deutschen und nichtdeutschen Bürgern strengstens untersagt, sich verächtlich über die evangelische Lehre zu äußern, was sich so wohl gegen die Anhänger der katholischen Partei als auch gegen diejenigen richten mußte, die abweichende Auffassungen von den Vorstellungen des Rates über die Reformation vertraten. Mutwillige Anfechter der göttlichen Wahrheit und Gotteslästerer sollten zur Rechenschaft gezogen werden.38 Bereits in seinem Rechtfertigungsschreiben an den Ordensmeister vom 19. April 1524 hatte der Revaler Rat gegen jede Radikalisierung der Reformation durch eine Volksbewegung Stellung genommen. Hier heißt es: „Wenn sie aber die evangelische Wahrheit irgendwie mißbrauchen sollten, so würde der Rat solches wegen der Seelen Seligkeit ebensowenig dulden wie der Meister, sondern es unverweilt abzustellen bestrebt sein."39 Am 19. März 1525 gebot der Revaler Rat, „einen guten Mund zu haben auf Fürsten, Herren, Gutemannen, Räte und Städte . . . bei ganz ernstlicher Strafe, die der Rat sich nach Ermessen vorbehält."40 In einer Revaler Ratswillkür vom 18. Juli 1525 heißt es, daß alle Bürger, die Hausknechte hätten, diesen kundtun sollten, daß Aufruhr bestraft würde.41 Das galt besonders der nichtdeutschen Bevölkerung in der Stadt. 36
BIENEMANN, F., a. a. O., Quellenanhang, S. 65, nr. 1.
Vgl. ebenda, S. 71, nr. 5. Vgl. ebenda, S. 70, nr. 4. 39 Archiv für die Geschichte Liv-, Est- und Curlands. 3. Folge, Bd. 4, Revaler Stadtbücher, Reval 1895, S. 57f., nr. 246. 38
40 BIENEMANN, F . , a. a. O., Quellenanhang, S. 72, nr. 8. 41
Vgl. Akten und Rezesse der Livländischen Ständetage, hrsg. von der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Bußlands zu Riga, Bd. 3 (1494 bis 1535), bearb. v. L. ARBUSOW (im folgenden zitiert: AR 3), Riga 1910, nr. 210: Gut-
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Gegen die demokratischen Tendenzen in Kirchenfragen ging der Revaler Rat vor, indem er Marsow seines Amtes als Prediger enthob. Dieser hatte heftige Angriffe gegen den Oberpastor Johann Lange und den Rat, der sich hinter Lange stellte, gerichtet. 42 Die Autorität Luthers, auf die sich der Rat berief, erkannte Marsow nicht an43, bestritt die kirchliche Jurisdiktion der städtischen Obrigkeit und bestand auf dem Recht der Gemeinde als alleinigem Richter in Religionsfragen 44 . In Dorpat, wo unter Einfluß der Predigten Melchior Hofmanns sich die Bewegung der Bürgerschaft zu einem großen Volksaufstand gegen den erzbischöflichen Vogt Stackelberg entwickelt hatte, mußte der Rat besonders Aufruhr gegen sich und Umsturz der städtischen Verfassung fürchten. So ist es durchaus möglich, daß gerade die Dorpater Ratssendeboten die Anweisung erhielten, auf dem Landtag zu Wolmar im Jahre 1525 bei den Schwesterkommunen die Erneuerung der bekannten hansischen Dekrete gegen Aufruhr wider den Rat anzuregen. Unmittelbar nach dem großen Volksaufstand richtete der Dorpater Rat an den Ordensmeister die Bitte, seinen Einfluß beim Erzbischof geltend zu machen, damit es zu keinem weiteren Aufruhr in der Stadt käme. 45 Durch die spontane Reaktion der Bürgerschaft auf seine Predigten hatte Hofmann das Mißtrauen des Dorpater Rates erregt. Der Kürschner, der die Auffassung verfocht, daß auch weissagende und predigende Laien Priester sein könnten 46 , erwies sich mit seiner Forderung nach einer Kirchenverfassung, wonach der Prediger aus der Gemeinde der Laien und von diesen gewählt werden sollte 47 , als Gegner der sich formierenden obrigkeitlichen städtischen Kirchenorgane. Hinzu kommt, daß seine sozial-religiösen Anschauungen 48 , auch wenn sie auf der Grundlage eines täuferischen Pazifismus beruhten, in der konkreten gesellschaftlichen Situation der Umbruchszeit der Reformation, die mit revolutionären Potenzen geladen war, objektiv obrigkeitsfeindlich sein mußten, weil sie nicht nur die Unzufriedenheit breitester Volksschichten mit ihrer sozialen Lage rechtfertigten, sondern gleichzeitig auch deren Hoffnung achten der Ratssendeboten in Sachen der Münze, aufgestellt auf dem Landtag zu Wolmar am 9. Juli 1525, Anm. 1, 3: Revaler Ratswillkür vom 18. Juli 1525. « Vgl. ABBITSOW, L. (jun.), a. a. 0 . , S. 644.
« Vgl. ebenda, S. 695. 44 Vgl. ebenda, S. 696. 45 Vgl. F. Nyenstädt, Livländische Chronik, nebst dessen Handbuch, hrsg. v. G. TIELEMANN in: Monumenta Livoniae Antiquae, Bd. 2, Riga und Leipzig 1839, S. 41. 46 Vgl. M. HOFMANN, Das 12. Capitel des propheten Danielis ausgelegt... 1525. Im Auszug abgedruckt in: KROHN, B. N., Geschichte der Fanatischen und Enthusiastischen Wiedertäufer vornehmlich in Niederdeutschland. Melchior Hofmann und die Secte der Hofmannianer, Leipzig 1758, S. 134. Hier bringt Hofmann, der sich in dieser Schrift von Schweden aus an seine Gemeinde in Livland wendet, die theologische Beweisführung, daß Laien Prediger sein sollen (§§ 211—222). 47 Vgl. ZTJR L I N D E N , O . , Melchior Hofmann, ein Prophet der Wiedertäufer, Haarlem 1 8 8 5 . 48 Dazu siehe KAWERATJ, P. W., Melchior Hof mann als religiöser Denker, Haarlem 1954.
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auf eine baldige Veränderung der sozialen Verhältnisse wachhielten. Der Pazifismus hob den Charakter als gesellschaftliche Opposition keinesfalls auf. Wie leicht diese pazifistischen Neigungen ins Kämpferische umschlagen konnten, zeigt Hofmanns Auftreten während des Dorpater Volksaufstandes.49 Gerhard Zschäbitz weist auf die Tatsache hin, „daß die Wirkung der Predigt in der Frühzeit des Täufertums sowohl Möglichkeiten für eine friedlich-pazifistische als auch für eine kämpferisch-aktive Entwicklung auf chiliastischer Grundlage in sich barg." 50 Der Gegensatz zwischen den gemäßigt reformatorischen Auffassungen des Rates und Hofmanns radikalen Ideen fand im Streit des Laienpredigers mit den vom Rat ordinierten lutherischen Prädikanten, die sich nach 1524 in Dorpat eingefunden hatten, seinen deutlichen Ausdruck. Der Rat betraute Hof mann, der von seinen theologischen Widersachern der Abweichung von Luthers Lehre bezichtigt wurde, nicht mit der Organisation des Dorpater evangelischen Kirchenwesens und forderte für eine weitere Predigterlaubnis von ihm ein Zeugnis bekannter theologischer Autoritäten über die Echtheit seiner Lehre. Wenn Hofmann auch von Luther, der sich zu dieser Zeit der Tatsache noch nicht bewußt war, daß die eschatologischen Spekulationen des Kürschners seine Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben bereits verdrängt hatten, das gewünschte Zeugnis erhielt, so bedeutete das keinesfalls, daß dieser nach seiner Rückkehr nach Dorpat als überzeugter Lutheraner auftrat. Der Streit mit den Prädikanten, die den Kürschner bei Luther denunzierten, brach erneut in aller Schärfe aus. Der Kampf der neuen Prediger war trotz unterschiedlicher religiöser Auffassungen so lange gemeinsam, als es galt, sich gegenüber der katholischen Kirche durchzusetzen. Erst nach dem Sieg der Reformation begann die Auseinandersetzung um die „reine Lehre" und die Verfolgung der Prediger, die abweichende Ansichten vertraten. Jetzt entschloß sich der Rat, den unruhigen Geist Hofmanns aus der Gemeinde zu verbannen. Anlaß dazu bot die öffentliche Kritik, die Hofmann an einem der Dorpater Bürgermeister übte, weil dieser sich aus einer vom Rat eingezogenen Monstranz Schmuck für Frau und Tochter anfertigen ließ. Nach seiner Meinung sollten die eingezogenen Kirchenschätze an die Armen verteilt werden. Der Rat legte die Kritik als öffentliche Beleidigung aus und vertrieb Hofmann aus der Stadt.51 In Reval, wohin sich Hofmann begab, erhielt er, bereits im 49
Vgl. KÜHLES, J., a . a . O . , S. 118ff.; MÜHLPFORDT, G., Deutsche Täufer in östlichen Ländern, in: Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland, Berlin 1961, S. 240, bezeichnet ihn als gemeinsamen ideologischen Stammvater sowohl des revolutionären Münsterschen als auch des pazifistischen mennonitischen Täufertums; BREDENBACH, T., Historia Belli Livonici. Origo et Principium Belli, Neiße 1555, S. 8, berichtet auf Grund der Nachrichten des Dorpater Domherrn Philipp Olmen, daß Hofmann zur Vertreibung der Domherren aufgerufen habe.
50
ZSCHÄBITZ, G., Zur mitteldeutschen Wiedertäuferbewegung nach dem Großen Bauernkrieg, Berlin 1958, S. 63 (Leipziger Übersetzungen und Abhandlungen zum Mittelalter, Reihe B, Bd. 1).
51
Vgl. BREDENBACH, T., a. a. O. S. 20f.
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Ruf eines Irrlehrers stehend, keine Anstellung als Prediger. Weiterhin ging der Dorpater Rat gegen den Laienprediger Jonas Prezel vor, der in seinen Predigten die Obrigkeit und ordinierte evangelische Prädikanten angegriffen und die Bürgerschaft unruhig gemacht hatte. Er hatte „ . . . so vhele angericht, dath de rath verorsackt, demsulvigen dey stadt tho vorbeiden . . ,"52. In einem gewissen Melchior, der „graculum" genannt wurde, also den armen Bevölkerungskreisen angehörte53, besaß er einen eifrigen Fürsprecher und Verteidiger. Als der Rat Prezel den Aufenthalt in der Stadt verbot, hatten sich mehrere Bürger für ihn eingesetzt, besonders Joachim Sasse, der harte Drohungen gegen den Rat ausstieß.54 In Riga traten vor allem Knopken, der den Radikalismus Tegetmeyers bekämpfte, mit anderen vom Rat berufenen Predigern wie Moller und Sterbeil der Volksbewegung entgegen, indem sie in ihren Predigten zur Mäßigung mahnten.55 Schon am Tag nach dem Sturm des Volkes auf die Peterskirche hatte auch der Rigaer Rat das Kircheninventar eingezogen.56 Die Städte gingen gemeinsam gegen die Volksbewegung vor. Bereits auf dem Landtag zu Wolmar im Juli 1525 wurde „des uprors halven yn den Stedten wedder den rath" beschlossen, „dat szodan upror na den recessen der anszen sollen gerichtet und gestraffet werden, darto yn dyssen dry Steden nergen entegen genamen und geleden werden."57 In Reval wurde dieser Beschluß durch ein Ratsmandat der Bürgerschaft bekanntgemacht.58 Auf dem Städtetag zu Pernau waren die Unruhen in den Gemeinden erneut Gegenstand der Verhandlungen. Hier forderten Riga und Reval, offensichtlich unter dem Eindruck des Volksaufstandes unter Führung Melchior Hofmanns gegen den erzbischöflichen Vogt Stackelberg, Dorpat auf, dafür Sorge zu tragen, daß „kein anderinge nach upror" in der Stadt entstünde59. Der Rigaer Bürger Wilm Borgentrick, dessen Familie der mittleren Kaufmannschaft der Großen Gilde entstammte und während des 16. Jh. führend in der Rigaer Bürgeropposition gewesen ist60, mischte sich in die Dorpater Händel um Jonas Prezel ein und mußte sich deshalb vor den Städten auf dem Wolmarer Landtag im Juli 1530 verantworten.61 AR 3, nr. 322: Zweiter Bericht über die Städteverhandlungen betreffs der kirchlichen Einrichtungen auf dem Landtag zu Wolmar vom 31. Januar 1533, § 3. 53 gracilis, e (lat.) = ärmlich. 54 Vgl. AR 3, nr. 329: Klagen des Dorpater Rates auf dem Landtag zu Fellin 1534, § 10. ® Vgl. Nyenstädt, F. a. a. 0., S. 41. 86 Vgl. Beuihinok, H. v., Messe und kanonisches Stundengebet nach dem Brauche der Rigaschen Kirche im späteren Mittelalter, in: Mitteilungen aus dem Gebiet der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands 19/1924, S. 251. 87 Vgl. AR 3, nr. 207: Rezeß des Landtags zu Wolmar vom 2.-10. Juli 1525, § 10. 58 Vgl. Anm. 40. 59 Vgl. AR 3, nr. 248: Rezeß des Städtetages zu Pernau vom Dezember 1527, § 7. «o Vgl. R ü t t l e r , W., a. a. O., Teil 2, Anhang 5, nr. 98, S. 118. 61 Vgl. AR 3, nr. 282: Verhandlungen der Städte auf dem Landtag zu Wolmar vom Juli 1530, § 3. 52
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Angesichts der wachsenden Unruhen der Bürgerschaft, die sich Anfang der dreißiger Jahre in den ostbaltischen Hansestädten wiederum bemerkbar machten, beschlossen die Räte auf dem Landtag zu Wolmar im Januar 1533, ihre Maßnahmen gegen Aufruhr in den Gemeinden zu verstärken. Man forderte, „dat men dey stiffter des uprors edder bye wem dey schult gefunden ane alle gnade ant hogste straffen und richten solle." 62 Ein Bürger, der „dey gemeine kegen den radt tho vorschunden seck understunde, darut dan ein groter jhamer und vorderben einer gantzen stadt komen mocht . . . schal am live gestrafft werden".63 In den Jahren 1530—1535 war es in Riga in Verbindung mit dem Ringen zwischen dem Orden und Herzog Albrecht von Preußen 64 um die Oberherrschaft über die Stadt zu einer außerordentlich gespannten Situation in der Gemeinde gekommen. Diese Ereignisse standen sowohl unter dem Einfluß des Sieges der oppositionellen Bürgerschaft unter Führung Jürgen Wullenwebers65 über das konservative Ratsregiment in Lübeck als auch radikaler Prädikanten, die in Tegetmeyer einen temperamentvollen Vorkämpfer hatten 66 . In der Berufung des Markgrafen Wilhelm von Brandenburg zum Koadjutor des Rigaer Erzbischofs Thomas Schöning sah ein Teil des Rigaer Patriziats, vor allem der aus Danzig stammende Ratssekretär Johannes Lohmüller, eine aussichtsreiche Möglichkeit, mit der Schaffung eines protestantischen Fürstentums in Livland durch Anschluß an Preußen mehrere Ziele mit einem Schlage zu realisieren. Neben der Vereinigung mit einem wirtschaftlichen Hinterland und der Festigung der eigenen Position gegenüber den katholisch gebliebenen livländischen Feudalständen hoffte man vor allem, in einem stark zentralisierten Staatswesen einen Rückhalt gegen die oppositionellen Kräfte in der Stadt zu gewinnen.67 Die Rigaer Bürgeropposition befürchtete von einer solchen Entwicklung Gefahr für ihre dem Rat abgetrotzten Verfassungsrechte68 und schloß sich zu einer wirksamen, sehr aggressiven Opposition unter Kersten Schloßmacher zur AK 3, nr. 321: Verhandlungen der Städte auf dem Landtag zu Wolmar vom 31. Januar 1533, § 12. 63 AR 3, nr. 322: Zweiter Bericht über die Städteverhandlungen betreffs der kirchlichen Einrichtungen auf dem Landtag zu Wolmar vom 31. Januar 1533, § 7. 64 Siehe dazu QUEDNAU, H., Livland im politischen Wollen Herzog Albrechts von Preußen. Ein Beitrag zur Geschichte des Herzogtums Preußen und des preußisch-livländischen Verhältnisses 1525—1540, Leipzig 1939 (Deutschland und der Osten, Quellen und Forschungen zur Geschichte ihrer Beziehungen, Bd. 12). 6 5 Allgemein über Wullenwebers Bewegung siehe STEINMETZ, M., Deutschland von 1476 bis 1535, in: Deutsche Geschichte, Bd. 1, Berlin 1965, S. 545f.; zum Einfluß auf Biga KARGE, P . , Die religiösen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strömungen in Biga 1530—1535, in: Mitteilungen aus der livländischen Geschichte 23/1924—1926, S. 316ff. und 333ff. «« Vgl. ebenda, S. 296-300 und 319. 6 7 Vgl. ebenda, S. 301; ABBUSOW, L. (jun.), a. a. O., S. 768. 6 8 Vgl. RÜTTLER, W., a. a. O., Teil 1, S. 226. 62
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Abwehr des preußisch-erzbischöflichen Zentralisierungsversuchs zusammen69, welche in der Vertreibung Lohmüllers und der Eidaufkündigung an den Hohenzollern Wilhelm von Brandenburg ihre erste größere Schlacht gegen den Rat bestand70. Auch in anderen ostbaltischen Städten kam es unter dem Einfluß der Rigaer Bewegung zu einer Verschärfung der Gegensätze zwischen Rat und Bürgerschaft.71 Die Ratssendeboten Rigas protestierten auf dem Hansetag in Lübeck 1535 scharf gegen WullenWebers Politik, in der sie ein gefährliches Beispiel für die Bürgerschaften der ostbaltischen Kommunen sahen.72 Die Rigaer Ereignisse zu Beginn der dreißiger Jahre hatten erneut gezeigt, daß zwischen Volksbewegung und evangelischem Radikalismus ein enger Zusammenhang bestand. Deshalb gingen die städtischen Obrigkeiten gegen alle die Lehrauffassungen von einer reformierten Kirche energisch vor, welche der offiziellen, vom Rat gebilligten Lehre entgegenstanden und die Möglichkeit in sich bargen, Unzufriedenheit unter der Bürgerschaft hervorzurufen. Theologische Streitigkeiten unter den neuen Predigern und vor allem die sozialreligiösen Lehren der Laienprediger erwiesen sich als Quelle ständiger Unruhen in den Gemeinden. Die neuen Ketzereien konnten in einer Zeit noch unklarer kirchlicher Verhältnisse relativ offen auftreten. Sie schufen die religiöse Begründung für viele unklare Wünsche der Unterschichten der Gesellschaft, die den Resonanzboden aller reformierten Ketzerei, gewissermaßen das Sammelbecken aller sozialen Unzufriedenheit bildeten. Unter Einfluß Hofmanns und anderer aus Deutschland nach dem Bauernkrieg ausgewiesener Laienprediger formierte sich als religiös-soziale Sekte eine Bewegung, die in Livland zwar keine festumrissene Lehrmeinung und Organisation entwickelte, die aber eine besondere Anziehungskraft auf die städtischen Unterschichten ausübte. Hofmann und seine Anhänger, die Melchioriten, die sich als Sekte zuerst in Livland ent69 Kersten Schloßmacher war seinem Grundbesitz nach zu urteilen ein typischer Vertreter der mittleren Kaufmannschaft der Großen Gilde. Vgl. dazu ebenda, Teil 2, Anhang 5, Erg. 30, Tab. 2, nr. 71, 3, nr. 121; Anhang 1, 311, 322. 1528-1532 und 1534-1536 war Schloßmacher Ältermann der Großen Gilde und wird noch 1543 als deren Mitglied erwähnt. ™ Vgl. ebenda, Teil 1, S. 225ff.; K a r g e , P., a. a. O., S. 297-299 und 318-321. Neben der Außenpolitik spielte auch die Finanzpolitik eine bedeutende Bolle (vgl. ebenda, S. 321). Die Gilden traten bereits gemeinsam gegen den Rat auf (vgl. ebenda, S. 297 und 319) Der hartnäckige Kampf der bürgerlichen Opposition hatte auch handelspolitische Ursachen; vgl. Niitemaa, V., Der Binnenhandel in der Politik der livländischen Städte im Mittelalter, Helsinki 1952 (Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Bd. 76, 2). 71 Vgl. ebenda, S. 92 und 115; Istorija Estonskoj SSR, Bd. 1, Bedaktion A. Vassab und G. Naana, Tallinn 1961, S. 325; Laakmann, H., Geschichte der Stadt Pernau in der Deutsch-Ordenszeit (bis 1558), Marburg/Lahn 1956, S. 128 ff. (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ost-Mitteleuropas, hrsg. vom Gottfried-HerderInstitut, Bd. 23). 72 Vgl. Kölner Inventar, bearb. v. K . Höhlbatjm unter Mitwirkung von H. v. Keussen, Bd. 1, Anhang nr. 1, S. 314.
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wickelt hatten73, verweigerten den vom Rat ordinierten Predigern ihre Anerkennung, weil sie diese als Beamte der Obrigkeit ansahen, welche nach ihrer Meinung in erster Linie nicht um Gottes, sondern ihrer persönlichen Bereicherung willen predigten74. Die städtischen Obrigkeiten waren bestrebt, die Prediger ihrer Aufsicht zu unterstellen, im Sinne des gemäßigten Luthertums eine einheitliche, für die ganze Gemeinde bindende Kirchenideologie durchzusetzen und obrigkeitliche Kirchenorgane als Stütze ihrer Alleinherrschaft zu formieren. Dabei kam der Ratspartei der Umstand entgegen, daß auch solche Vertreter der bürgerlichen Opposition wie der radikal predigende Tegetmeyer, der nachweislich zu den Kreisen des Rigaer Besitzbürgertums gehörte 75, Hofmanns Lehren bekämpften und sich scharf von diesem distanzierten. Bereits 1525 war es zum offenen Bruch zwischen Tegetmeyer und Hofmann gekommen.76 Auch Tegetmeyers Vorrede zur 3. Ausgabe der Kirchendienstordnung von 1547/48 ist ein Beweis für seine Rückwendung zur bürgerlich-gemäßigten Reformation.77 Die in Bewegung geratenen unteren Schichten sowie die nichtdeutschen Bevölkerungskreise zwangen mehr und mehr zum Anschluß an die Ratspartei, auch wenn die Widersprüche zwischen bürgerlicher Opposition und Rat immer wieder zum Durchbruch kamen, wie die Rigaer Ereignisse zu Beginn der dreißiger Jahre zeigten. Der Revaler Rat konnte mit Marsow, der gegen den Laienprediger Johann Ossenbrugge scharf Stellung bezogen hatte, eine Aussöhnung herbeiführen78, und auch Tegetmeyer glich seine Auffassungen von der Reformation denen der Rigaer Ratspartei an. Hier hatte Lohmüller, der zum Syndikus und Superattendenten über die äußeren kirchlichen Verhältnisse und Predigerangelegenheiten vom Rat ernannt worden war, mit seiner ersten Amtshandlung in dem Streit zwischen Tegetmeyer und Knopken über die Kirchenordnung zusammen mit den Bürgermeistern Patroculus Klocke, Johann Butte und Cordt Durkop eine Entscheidung zugunsten des Rates herbeigeführt.79 Von Schweden aus wandte sich Hofmann mit einer Schrift an seine livländischen Anhänger. Vgl. HOFFMANN' M., An de gelöfigen vorsambling inn Lieflandt, ein körte formaninghe . . . 1526, hrsg. v. A. BXJOHHOLTZ, Riga 1856. 74 Vgl. hierzu HOFFMANN, M., Die Ordonnantie Godts . . . 1530, abgedruckt in: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, 1909, Bd. 5, S. 159; RÖHRICH, T. W., Zur Geschichte der straßburgischen Wiedertäufer in den Jahren 1527—1543, in: Zeitschrift für historische Theologie, Bd. 24, Gotha 1860, S. 70. 75 Vgl. KÜTTLEB, W., a. a. O., Teil 2, Anhang 5, S. 250. 76 AEBTJSOW, L. (jun.), a. a. O., S. 624 und 618 nimmt an, daß Tegetmeyer mit Hofmann in Livland vor allem einen Streit wegen der Ohrenbeichte hatte. Vgl. dazu auch ZUR 73
LINDEN, O., a. a. 0 . , S. 48; HOERSCHELMANN, F . , a. a. O., S. 61. 77
V g l . POHRT, O., a. a. O., S. 107, A n m . 1.
7«
Vgl. ARBTJSOW, L. (jun.), a. a. O., S. 565 und 701. Vgl. NAPIERSKY, C. E., Ältere Geschichte Rigas, in: Monumenta Livoniae Antiquae, Bd. 4, S. 127: Ordenunge twusschen den beiden Pastoren Tegetmeyer und Andreas Knopken vom Tage Luciae Anno 1532.
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Den Hauptschlag führten die städtischen Obrigkeiten gegen die Laienprediger, deren sozial-religiöse Lehren in Riga der vom Rat berufene Superintendent Johannes Brießmann bekämpfte, weil sie in der vom Rat gewünschten Ordnung des Kirchenkultes ein Hemmnis für das „freie Wirken des Geistes" sahen. In der Präambel der von ihm und Knopken verfaßten Kirchenordnung wandte sich Brießmann gegen „Schwärmer" und Sakramentsschänder, die „freventlich die heilsame Gegenwärtigkeit des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl verleugnen".80 Da die katholische Seite häufig den Vorwurf erhob, daß der Protestantismus die Entfaltung des Täufertums begünstige und sogar dessen eigentliche Ursache sei, begründete Brießmann sein Vorgehen gegen die „Schwärmer" damit, daß „das päpstliche Heuchelvolk keine Ursache habe, uns verdächtlich zu halten, als wären wir den obgemeldeten Schwärmern hierin abhängig und verachteten das Sakrament des Leibes und Blutes Christi." Hier wird deutlich, daß der Abendmahlsstreit auch im Ostbaltikum geführt wurde. Fabricius berichtet, daß ein Gehilfe Hofmanns, der als Laienprediger unter den estnischen Bauern wirkte, das Abendmahl ohne Oblaten erteilte und auch die Beichte mißachtete.81 In ihrer Unterdrückungspolitik gegen das Schwärmertum wurden die Räte durch eindringliche Mahnungen von Seiten der hansischen Schwesterkommunen bestärkt. So richteten Lübeck, Lüneburg und Hamburg von einem Hansetag im Juni 1525 aus an den Rigaer Rat ein ernstes Mahnschreiben mit der Forderung, sich vor falscher Lehre zu hüten und das Exempel, das an Mühlhausen statuiert worden sei, zu beherzigen.82 Der Bauernkrieg in Deutschland erregte angesichts der Unruhen unter den ostbaltischen Bauern, zu denen es im Gefolge der Reformation auch hier gekommen war, verständlicherweise die Furcht der städtischen Obrigkeiten. Als die Städte auf dem Landtag zu Wolmar 1525 beschlossen, nach den Dekreten der Hanse jeden gegen den Rat gewendeten Aufruhr zu richten und die Aufrührer auszuweisen, hatten sie deshalb auch die Klagen der Feudalherren über gewisse Prediger und junge Kaufgesellen, die die Bauern gegen ihre Herren aufwiegelten83, in ihrem eigenen Interesse berücksichtigt. Die herrschenden deutschen Kreise der Städte distanzierten sich von der bäuerlichen Bewegung, die durch eine mögliche Verbindung mit den nichtGEFFCKEN, J., Kirchendienstordnung und Gesangbuch der Stadt ßiga, Hannover 1862, S. 11. 81 Vgl. den Bericht des Dionysius Fabricius: Livonicae historiae compendiosa series, edito secundo, hrsg. v. 6. BERGMANN in: Scriptores Berum Livonicarum, Bd. 2, Biga und Leipzig 1884, S. 469f.; AMELUNG, F., Melchior Hofmann in Livland und die Einführung der Reformation in den Landkirchenspielen Dorpat und Nüggen im Jahre 1525, in: Sitzungsberichte der Gelehrten Estnischen Gesellschaft, Dorpat 1901/02, S. 208 ff. 82 Vgl. A B 3, nr. 235: Instruktionen des Ordensmeisters für seine Gesandten an die harrisch•wierische Bitterschaft und die Stadt Beval, Ende April 1526, § 10; ARBUSOW, L . (jun.), a. a. 0., S. 417; TAXTBENHEIM, G. B., Einiges aus dem Leben Magister Johannes Lohmüllers, a. a. O., S. 18. 83 Vgl. A B 3, nr. 242, § 8: Plettenbergs Schreiben vom 8. März 1524 an den Bevaler Bat wegen Bedrückung der Katholischen und Aufhetzung der Bauern. Veröffentlicht von G. v. 80
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deutschen städtischen Bevölkerungskreisen leicht den Charakter einer umfassenden nationalen Bewegung gegen die deutsche Fremdherrschaft im Ostbaltikum überhaupt annehmen konnte. Die Städte verwarnten die Prediger und forderten die Kaufgesellen auf, die Kirche auf dem Lande unbehelligt zu lassen und die Bauern nicht gegen die Feudalherren aufzuwiegeln. Weiter verboten sie auch allen Bürgern und Kaufgesellen, beim Handelsverkehr mit dem Landvolk gefährliche Ideen zu verbreiten.84 Aus dem Bericht des Landtags zu Wolmar vom 10. Juni 1526 geht hervor, daß sich auf Aufforderung des Erzbischofs die Schwarzhäupter vor dem Dorpater Rat „der brekung halven der kercken vor Dorpte tho anthwort bedagen laten" mußten.85 Als die Bauern während des großen Estenaufstandes 1560 den Revaler Rat gegen die Feudalherren zu gewinnen suchten, ermahnte sie der Rat, sich zu versöhnen und von ihrem Vorhaben abzulassen.86 Infolge der Ereignisse von Münster verstärkten die Räte in den ostbaltischen Hansestädten ihre Sicherheitsmaßnahmen, denn besonders nach dem Fall Münsters suchten eine Reihe von Wiedertäufern Zuflucht in den Hansestädten, deren soziales Spannungsfeld ein fruchtbarer Boden für ihre sozial-religiösen Lehren war. So wurde nach den Revaler Ratsprotokollen vom April 1535 „eyn ieder gewarnet vor de ankumpst der wedderdoeper und Munsterschen rottengeister, sick, so hir schepe anquemen, dar vor to wachtende etc."87 Auf dem am 15. April 1535 zu Hamburg abgehaltenen Hansetag wurde nämlich beschlossen, schärfste Maßnahmen gegen die Wiedertäufer zu ergreifen.88 Eine Stadt aber, die sich diesem Beschluß nicht fügen wollte und somit wiedertäuferischer und zwinglianischer Lehren verdächtig sei, sollte aus dem Bund der Hanse ausgeschlossen werden.89 Neben diesen ratspolizeilichen Maßnahmen betrachteten die Räte die Durchsetzung und Festigung der lutherischen Kirchenideologie in der Bürgerschaft und die Errichtung eines ratsobrigkeitlichen Kirchenregiments als erstrangige Aufgabe. Auf diese Weise kam dem Luthertum ein gewichtiger Anteil an der ideologischen Festigung der Ratsherrschaft zu. Luther selbst hatte seinen Einfluß auf die Entwicklung der Reformation im Ostbaltikum geltend gemacht.90 Durch seine engen Beziehungen zu den ost-
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H A N S E N in: Miscellaneen. Aus baltischer Vergangenheit, Reval 1894, S. 123—125; Tegetmeyers Tagebuch, a. a. O., S. 505: Die harrisch-wierischen Vasallen warfen Tegetmeyer auf dem Landtag zu Wolmar 1525 vor: „Du vorreder, du betreger, du wult uns drade umme landt unde lüde bringen." Vgl. A R 3, nr. 2 0 7 , § § 5 3 - 5 5 ; BIENEMANN, F . , a. a. O . , Quellenanhang, S . 75f., nr. 1 2 . Vgl. AR 3, nr. 237: Rezeß des Landtages zu Wolmar vom 10. Juni 1526, § 35. Vgl. Archiv für die Geschichte Liv-, Esth- und Kurlandes, hrsg. v. F . G. v. B U N G E , Bd. 1, Dorpat und Reval 1842, S. 33, nr. 51. EBEL, W., Das Revaler Ratsurteilsbuch 1515—1554. Register van affsproken, Göttingen 1952, S. 46, nr. 446. Vgl. SCHRÖDER, M. D., Kirchen-Historie des Evangelischen Mecklenburgs vom Jahre 1518-1742, Teil 1, Rostock 1788, S. 3 0 i f . , 304, 306. Vgl. ebenda, S. 302. Vgl. RUTHENBERG, R., Die Beziehungen Luthers und der Wittenberger Reformatoren
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baltischen Hansestädten trug er dort entscheidend mit zur Herausbildung des obrigkeitlichen Kirchenregiments bei. Zuerst hatte der Rigaer Ratssekretär Lohmüller Beziehungen zu Luther angeknüpft und diesen über den Fortgang der Reformation in Riga in einem Schreiben vom 10. Oktober 1522 unterrichtet.91 Am 13. August 1523 erfolgte in einem ausführlichen Sendschreiben die Antwort Luthers an den Rigaer Rat. 92 1524 widmete Luther den Rigensern in seinem zweiten Sendschreiben die Auslegung des 127. Psalms.93 Am nachdrücklichsten hat Luther im Sommer 1525 in die Reformation im Ostbaltikum eingegriffen, als er Hofmann ein Zeugnis über die Echtheit seiner Lehre ausstellte und in einem dritten Sendschreiben vor Uneinigkeiten in der Lehre und Vielfältigkeit in der äußeren Form warnte.94 Mit dem gleichen Anliegen wandte sich auch Johannes Bugenhagen an die evangelischen Gemeinden in Livland. Dieser war ungeschminkter als Luther, indem er betonte, „das viel, die sich heuts tages rümen Evangelische prediger, nicht das Evangelium odder Christum predigen, sonder unter dem namen yhre eygene ehre suchen, das das gemeyne volck viel von yhn halte und andern predigern abefalle."95 Als jedoch immer deutlicher wurde, daß Hofmann nicht nur in der äußeren Form, sondern bereits in grundsätzlichen Fragen vom Kern der lutherischen Lehre, der Rechtfertigung allein durch den Glauben, abgewichen war, sagte ihm Luther den Kampf an. 1527 schrieb er an Amsdorf: „Ich habe ein ernstes Schreiben erhalten wegen meines Zeugnisses, das ich töricht und getäuscht jenem (Hofmann; J. K.) gegeben habe."96 Im August 1529 wurde Luther ein zweites Mal zur Entscheidung in den livländischen Lehrstreitigkeiten aufgefordert. In Reval war Marsow mit Johann Ossenbrugge in theologischen Fragen, deren Inhalt uns nicht bekannt ist, aneinandergeraten.97 Luther bezog gegen Ossenbrugge folgendermaßen Stellung: „Noch immer hält er nicht Ruhe jener wilde Geist in Ossenbrugge. Ich glaubte, sein Ungestüm wäre gebrochen und habe nachgelassen, aber ich sehe, daß ich falsch geurteilt habe." Dabei brachte er die religiösen Auffassungen Ossenbrugges unmittelbar mit der Lehre Hofmanns in Verbindung: „Melchior Hofmann, der muß seinen Samen dort noch haben, der solche Wunder zuwege bringt".98 An der Formierung der obrigkeitlichen zu Livland, in: Baltische Kirchengeschichte, hrsg. v. R. WITTRAM, Göttingen 1956, S. 56-76. 91
V g l . TAUBENHEIM, G . R . , a . a . O . , S . 6 - 8 .
92
Vgl. Luthers Werke, Weimarer Ausgabe, Bd. 12, S. 77-80. 93 Vgl. ebenda, Bd. 15, S. 360-378. 9 « Vgl. ebenda, Bd. 18, S. 417-421. 93 Johannes Bugenhagen, Unnsern herrnn und lieben Brüdern Predigern yn Lieffland . . ., in: ebenda, S. 422. 96 Vgl. Luthers Brief an Amsdorf vom 17. Mai 1527, in: ebenda, Bd. 4, S. 202; zu Luthers Haltung gegenüber den Täufern vgl. ZSCHÄBITZ, G., a. a. O., S. 152f. 97
Vgl. ARBFSOW, L. (jun.), a. a. 0 . , S. 679.
98
Vgl. Luthers Brief an Brießmann vom 2. August 1529, in: Luthers Werke, Bd. 5, S. 124-127.
Kirchenregimewt ostbaltischer Hansestädte
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Kirchenorgane in den ostbaltischen Hansestädten war Luther direkt beteiligt. 1531 schickte er für das Amt des Superintendenten Nikolaus Glossenus nach Reval, dem 1540 Heinrich Bock folgte. Infolge der engen Beziehungen zu Brießmann" fand Luthers Lehrauffassung in der Rigaer Kirchenordnung, die auch für Reval und Dorpat verbindlich gemacht wurde, ihren Niederschlag. Die Einführung der Kirchenordnung bedeutete eine fortschreitende Konfessionalisierung im Sinne des orthodoxen Luthertums, auf dessen Grundlage die herrschenden Kreise der ostbaltischen Hansestädte daran gingen, Kirchenorganisation und Gottesdienst entsprechend ihren gesellschaftlichen Interessen zu ordnen. Der erste Entwurf einer evangelischen Kirchenordnung in Livland stammt aus dem Jahre 1524 von dem lutherischen Prediger und Oberpastor Johann Lange aus Reval.100 Abgesandte der Räte Rigas, Dorpats und Revals kamen 1526 zuerst in Rujen, dann in Wolmar zusammen, um mit den Predigern über eine einheitliche Ordnung des Kirchenwesens zu verhandeln.101 Auf dem Städtetag zu Walk im Februar 1529 forderte der Revaler Rat eine einheitliche Kirchenordnung für alle drei Städte.102 Im April 1529 wurde die von Brießmann und Knopken ausgearbeitete Kirchenordnung vom Rigaer Rat nach Reval zur Begutachtung übersandt.103 1533 wurde auf dem Landtag zu Wolmar auf gemeinsamen Beschluß Rigas, Revals und Dorpats die Brießmannsche Kirchenordnung für alle drei Städte verbindlich gemacht.104 Jede öffentliche Verkündung einer vom Bekenntnis der Ratspartei abweichenden Lehre war als Anlaß zu Aufruhr und Zwietracht in der Gemeinde gefährlich. Deshalb mußte die lutherische Reformation lehrhaft verfestigt und nach allen Seiten hin abgegrenzt werden. Man distanzierte sich entschieden von jeglicher Abweichung in der lutherischen Lehre und verurteilte besonders die Laienprediger. Im ersten Bericht über die Verhandlungen der Städte heißt es: „Der ehrwürdige und hochgeehrte Herr Dr. Martin Luther, . . . und auch viele andere bewährte Lehrer des reinen Wortes weisen klagend darauf hin, daß fortwährend allerhand eigenbrödlerische, spitzfindige, schwärmerische Lehrer und Hirten gegen das lautere Wort auftreten, woraus sich schon vielerorts unendlicher Nachteil und Verderb an Leib, Seele und zeitlicher Wohlfahrt ergeben hat. Jene rechten '•*> Vgl. Luthers Briefwechsel mit Brießmann, ebenda, Bd. 3, S. 26, 245, 314, 418, 433, 554; Bd. 4, S. 200. 100 Vgl. BIENEMANN, F., a. a. O., Quellenanhang, S. 65-68, nr. 2; S. 73f., nr. 10; S. 74f., nr. 11; S. 76, nr. 14. wi Vgl. AR 3, nr. 231 und 236. 10 2 Vgl. AR 3, nr. 256: Rezeß des Städtetages zu Walk vom 21.-24. Februar 1529, § 28. »14 Vgl. ARBUSOW, L. (jun.), a. a. O., S. 833.
"5 Vgl. ebenda, S. 677. « 6 V g l . JOHANSEN, P . , a . a . O . , S . 4 9 . 117
Vgl. ABBTJSOW, L. (jun.), Studien, S. 95. Siehe hierzu ABBTJSOW, L. (jun.), a. a. O., S. 731 ff.; POHET, 0 . , a. a. 0., S. 104f. 119 Vgl. BIENEMANN, F . , a. a. O., Quellenanhang, S. 74, nr. 10; S. 75, nr. 11. 120 Ebenda, S. 70, nr. 3. 121 Vgl. ARBUSOW, L. (jun.), a. a. O., S. 300f. «2 Vgl. ebenda, S. 599f. 118
V g l . SCHILDHATTEB, J . , a . a . O . , S . 194FF.
O.,
Kirchenregiment
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gerufenen Volksbewegung auf der Grundlage des konservativen Luthertums ein obrigkeitlich reguliertes und intolerantes Zwangskirchentum entwickelt, das neben der Kirchenherrschaft der Gutsherren, die nach Abebben der sozialen Unruhen sich zur lutherischen Reformation bekannten, ein wesentlicher Bestandteil der reaktionären deutschen Ständeherrschaft im Ostbaltikum war. Das Bürgertum konnte dadurch nicht zur entscheidenden Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung werden wie in den Niederlanden, und auch eine so mächtige revolutionäre Volksbewegung wie der deutsche Bauernkrieg mußte ausbleiben.
14 Neue Hansische Studien
EINIGE PROBLEME DER POLITISCHEN UND SOZIALEN AUSEINANDERSETZUNGEN IN DANZIG IN DER MITTE DES 18. JAHRHUNDERTS von Edmund CieSlak
I
Die inneren politischen und sozialen Kämpfe, die ähnlich wie andere Städte auch Danzig von Zeit zu Zeit erschütterten, reichen bis tief in die hansische Zeit der Stadt zurück. Schon in der zweiten Hälfte des 14. Jh. kam es zu Gewerksunruhen, über die wir durch die Quellen nur ziemlich dürftig unterrichtet sind.1 Die sozialen Spannungen in Danzig und anderen preußischen Städten gegen Ende des 14. Jh. hatten ihre Parallelen in den „Gewerksaufständen" in anderen hansischen Städten.2 Eine neue Welle innerpolitischer Auseinandersetzungen erfaßte Anfang des 15. Jh. die hansischen Städte und führte in einigen zum zeitweiligen Sturz der Patriziatsregierungen. Solche inneren Kämpfe spielten sich sogar in Lübeck, der inoffiziellen Hauptstadt der Hanse, ab. Sie hatten eine vorübergehende Schwächung des hansischen Bundes und die Intervention feudaler Gewalten in die inneren Angelegenheiten der Stadt zur Folge, was auch bei ähnlichen Gelegenheiten in anderen hansischen Städten zu dieser Zeit der Fall war.3 Um die historische Entwicklung dieser Kämpfe zu zeigen, soll hier aus den politischen Auseinandersetzungen vom Jahre 1456 in Danzig nur hervorgehoben werden, daß die radikale Gruppe unter Führung des Kaufmanns 1
2
Siehe die neueste Untersuchung von BINEROWSKI, Z., Sprawa krwawego tumultu w Gdansku w X I V wieku, in: Rocznik Gdanski 15-16/1966, S. 78ff. DAENELL, E., Die Blütezeit der Deutschen Hanse. Hansische Geschichte von der zweiten Hälfte des 14. bis zum letzten Viertel des 15. Jh., Bd. 2, Berlin 1906, S. 504ff.; DOLLINGER, PH., La Hanse ( X I I e - X V I I e siècle), Paris 1964, S. 171ff.; CZOK, K . , Zum Braunschweiger Aufstand 1374—1386, in: Hansische Studien, Berlin 1961, S. 34ff.; DERSELBE, Zur Volksbewegung in den deutschen Städten des 14. Jh., in: Deutsche HistorikerGesellschaft, Städtische Volksbewegung im 14. Jh., Berlin 1960, S. 157 ff.
E., a.a.O., Bd. 2, S. 511ff.;CIESLAK, E., Walki ustrojowe w Gdaäsku i Toruniu oraz w niektörych miastach hanzeatyckich w X V w., Gdansk 1960, S. 187ff.; DERSELBE, Rewolta w Lubece 1408—1416, in: Przeglqd Zachodni 3—4/1954, S. 3ff.; DERSELBE, Rewolty gdanskie w X V w. (1416—1456), in: KwartalnikHistoryczny, Bd. L X I , nr. 3, 1954, S. llOff. f ü r die Auseinandersetzungen in den wendischen Städten in den zwanziger und dreißiger Jahren des 15. Jh. siehe FRITZE, K . , Am Wendepunkt der Hanse. Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der wendischen Hansestädte in der ersten Hälfte des 15. Jh., Berlin 1967, S. 200ff.
3 DAENELL,
14*
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Martin Kogge einen Plan zu einer grundsätzlichen Änderung der Regierungsform verfolgte. Diese Gruppe wollte nicht nur eine Verbesserung der Ratsregierung und eine Schwächung der Macht des Patriziats erreichen, worin sonst meist das Hauptziel der bürgerlichen Opposition bestand, sondern sie erstrebte die Übernahme der Macht durch die Kaufleute und Handwerker und eine Form städtischer Regierung, in der einer von Kaufleuten und Handwerkern gewählten Repräsentation die Hauptrolle zufallen sollte, während dem Rat nur eine untergeordnete Rolle zugedacht wurde. Martin Kogge und seine Anhänger mußten für ihre zu weitgehenden politischen Pläne mit dem Leben bezahlen.4 Die Versuche, diese Ideen zu verwirklichen, wurden jedoch von Zeit zu Zeit erneuert. Die religiösen, politischen und sozialen Kämpfe, die sich wie in vielen anderen Städten am Anfang des 16. Jh. auch in Danzig abspielten, brachten trotz der Unterdrückung durch den polnischen König Sigismund I. neben anderem das Resultat, daß mit den sogenannten „centum viri" oder „Hundertmännern" eine scheinbare Repräsentation der Bürgerschaft, die „Dritte Ordnung", gebildet wurde. Diese war anfangs völlig vom Rat abhängig, der das Recht der Ernennung ihrer Mitglieder ausübte, die Sitzungen einberief und die zu beratenden Fragen festsetzte. Es wurden jedoch von der Dritten Ordnung selbst — und unabhängig von dieser von den Gewerken — sich über lange Zeit hinziehende, zeitweilig heftige Versuche unternommen, dieses Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem Rat zu schwächen und zu verändern.5 In dieser Beziehung brachten die sozialen und politischen Kämpfe von 1674 bis 1678 in Danzig eine radikale Änderung. In dem Dekret König Johanns III. Sobieski vom 12. Februar 1678 und in den „Concordata Ordinum" des gleichen Jahres wurden neben vielen anderen Reformen auch Veränderungen eingeführt, die grundlegend das bisherige Abhängigkeitsverhältnis der Dritten Ordnung vom Rat abschwächten. Unter diesen bestand die wichtigste Bestimmung darin, daß von nun an die neuen Mitglieder von der Dritten Ordnung selbst gewählt wurden, indem sie für jede freigewordene Stelle dem Rat zwei Kandidaten zur Auswahl vorschlug. Im Grunde genommen wurde durch die Reform König Johanns für die Wahlen zur Dritten Ordnung ein unvollkommenes Kooptationssystem eingeführt.6 Doch verstärkten diese und andere Reformen 4
SIMSON, P., Geschichte der Stadt Danzig, Bd. 1, Danzig 1913, S. 242ff.; CIESLAK, E. Walki ustrojowe, a. a. O., S. 288ff., 5 SIMSON, P., a . a . O . , Bd. 2, Danzig 1918, S. 92ff.; BOGUCKA, M., Walki spoleczne w Gdansku w XVI wieku, in: Szkice z dziejöw Pomorza, unter der Redaktion von LABUDA, G., Bd. 1, Warszawa 1958, S. 369ff.; CIESLAK, T., Postulaty rewolty pospölstwa gdariskiego W r. 1525, in: Czasopismo Prawno-Historyczne 6/1954, Heft 1, S. 130ff. Für andere Städte siehe z. B. SOHILDHATJER, J., Soziale, politische und religiöse Auseinandersetzungen in den Hansestädten Stralsund, Rostock und Wismar im ersten Drittel des 16. Jh., Weimar 1959. 6 CIESLAK, E . , Walki spoleczno-polityczne W Gdansku w drugiej polowie XVII wieku. Interwencja Jana III Sobieskiego, Gdansk 1962, S. 210ff.
Auseinandersetzungen in Danzig
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aus derselben Zeit die Verbindungen zwischen Dritter Ordnung und Gemeinde sehr und verwandelten in hohem Maße die Dritte Ordnimg in eine Repräsentation der Kaufleute und Handwerker. Auf diese historische Entwicklung mußte hier eingegangen werden, um die führende Rolle der Dritten Ordnung in der Opposition gegen den Rat in der Mitte des 18. J h . verständlich werden zu lassen. Zu den politischen und sozialen Auseinandersetzungen um die Mitte des 18. J h . haben auch verschiedene andere, vor allem ökonomische Ursachen geführt. Im Getreideexport Danzigs herrschte vor dem Ausbruch jener Auseinandersetzungen ungefähr zwanzig Jahre lang eine schwache Konjunktur. Während in den Jahren 1721-1725 im Jahresdurchschnitt 39865 und 1726-1730 noch 33504 Lasten seewärts ausgeführt wurden, ging die durchschnittliche jährliche Getreideausfuhr 1731-1735 auf 18065 Lasten, 1736-1740 auf 14817 Lasten, 1741-1745 auf 14400 Lasten und 1746-1750 auf 19627 Lasten zurück.7 Es erhebt sich hier die Frage nach der Bedeutung, welche die Umsätze im Getreideexport für die gesamte wirtschaftliche Lage der Stadt hatten. Die Historiker sind sich darin einig, daß die Getreideumsätze die Hauptrolle in Danzigs Handel spielten und daß sie für die wirtschaftliche Gesamtlage der Stadt ausschlaggebend waren.8 Diese Feststellung gründet sich bisher allerdings nur auf die Kenntnis der umgeschlagenen Quantitäten, nicht auf genauere Angaben für den Wertanteil des Getreides am Gesamtwert der Danziger seewärtigen Ausfuhr. Hierfür können wir jedoch gewisse Aufschlüsse aus den jährlichen Zusammenstellungen der Warenumsätze (mit Wertangabe) Danzigs in der zweiten Hälfte des 18. J h . gewinnen, die in den Pariser Archiven erhalten geblieben sind. Nach diesen Unterlagen kann errechnet werden, daß im Jahre 1775 die Getreideausfuhr 57 v. H. des Wertes der Gesamtausfuhr repräsentierte, im Jahre 1776 50 v. H., im Jahre 1777 52 v. H., im Jahre 1782 16,6 v. H., im Jahre 1783 67 v. H., im Jahre 1784 66,6 v. H., im Jahre 1790 52,5 v. H. und im Jahre 1791 70 v. H. 9 Sieht man von der außergewöhnlich niedrigen Getreideausfuhr des Jahres 1782 ab, so ergibt sich, daß zwischen 50 und 70 v. H. des Wertes der Gesamtausfuhr des Danziger Hafens auf Getreide entfielen. Nach diesen Zahlen kann angenommen werden, daß auch in früherer Zeit die Getreideausfuhr eine ähnliche Rolle in der Gesamtausfuhr Danzigs spielte und für die wirtschaftliche Gesamtlage der Stadt ausschlaggebend war. 7
BIERNAT, GZ., Statystyka obrotu towarowego Gdanska w latach 1 6 5 1 — 1 8 1 5 , 2rödla do dziejôw handlu i zeglugi Gdanska I, unter der Redaktion von S. HOSZOWSKI, Warszawa 1 9 6 2 , S. 2 8 7 .
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Z. B. RYBABSKI. R . , Handel i polityka handlowa Polski w XVI stuleciu, Bd. 1, Warszawa 1958, S. 247f.; HOSZOWSKI, S., Handel Gdanska w okresie XV—XVIII wieku, in: Zeszyty Naukowe Wyzszej Szkoly Ekonomicznej w Krakowie, nr. 11,1960, S. 13 und 17 f. Berechnet nach: Archives nationales, Paris, Affaires Étrangères B 1 , Correspondance politique nr. 480, Dantzig 1760-1783, fol. 207, 211, 232f., 371 ; nr. 481, Dantzig 1784 bis 1786, fol. 12, 54f.; nr. 482, Dantzig 1787-1792, fol. 266f., 291 f.
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II. Wie schon erwähnt, brachen in Danzig am Ende einer fast zwanzigjährigen schlechten wirtschaftlichen Konjunktur innere Auseinandersetzungen aus, die sich gegen den Rat und die Schöffen richteten. Im Vergleich zu den politischen und sozialen Kämpfen in der zweiten Hälfte des 17. Jh., in denen die Grewerke die Hauptkraft der Opposition bildeten, waren es jetzt die Kaufleute, die die wichtigste Rolle spielten, während den Gewerken nur eine zweitrangige Rolle zufiel. Die Kaufleute — Delegierte der Kramer-Zunft und der Speicherkaufleute — schickten als erste eine Delegation nach Warschau zu König August III. mit einer Anklageschrift gegen den Rat. 10 Dieser Schritt hat der königlichen Intervention in die inneren Auseinandersetzungen in Danzig den Weg geöffnet. In den Anklageschriften der Opposition bezeichnete man die Regierungsgruppe der Ratsherren und Schöffen nicht mehr als Patriziat, sondern als „Gelehrte" oder „litterati". Man erhob den Vorwurf, daß als Ratsherren und Schöffen nicht Kaufleute, die in der Dritten Ordnung zwanzig und sogar dreißig Jahre tätig gewesen waren, gewählt wurden, „wohl aber junge Leuthe, die vor wenigen Jahren von der hohen Sehlde gekommen und entweder ihre Verwandten gewesen, oder in einer Familie von obrigkeitlichen Persohnen geheurathet, von hiesiger Regierung aber und denen Rechten dieser Stadt nicht das Geringste gewust. . . . die beyden ersten Ordnungen aus eitel Literatis bestehen".11 Wir können feststellen, inwieweit der letzte Vorwurf berechtigt war und der Wirklichkeit entsprach. In der ersten Hälfte des 18. Jh. gehörten in der Rechtstadt Danzig von 74 Ratsherren 62, d. h. 84 Prozent, zu den „Gelehrten", in der Altstadt von 21 Ratsherren 15, d. h. 71 Prozent; die anderen, also eine starke Minderheit, waren Kaufleute, welche jedoch meistens auch mit „Gelehrten" verwandt waren. Die Situation in den SchöfFenbänken gestaltete sich ähnlich.12 Diese Zahlen beweisen, daß sich in der ersten Hälfte des 18. Jh. in Danzig eine hochausgebildete Regierungsgruppe entwickelt hatte. Sie bestand aus Männern, die sich beruflich mit der Regierung in der Stadt beschäftigten und ihre Studien als Vorbereitung auf diese Tätigkeit betrachteten. Diese Leute standen, wie es ihnen vorgeworfen wurde, den Handelsfragen und dem prak10
Siehe Copie des königl. Schutzbriefes für die in Warschau gewesene Deputierte der Kramer-Zunft und der Speicher-Kaufleute — Wojewödzkie Archiwum Panstwowe, Gdansk (im folgenden: WAP Gd) 300, 10/81, fol. 16ff.; Sächsisches Landeshauptarchiv Dresden (im folgenden: SLHA) loc. 3654, vol. I, fol. 250ff. 11 SLHA loc. 3371, Beilagen, Bd. I, fol. 26. 12 SLHA loc. 3371/11, fol. 176ff., 483; CIESLAK, E . , Spoleczne podstawy SciSlejszego zespolenia Gdanska z Polskq, w XVII i XVIII wieku, in: Zapiski Historyczne 31/1966, Heft 3, S. 203.
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tischen Wirtschaftsleben der Stadt ziemlich fern.13 Wie die Patrizier in vorigen Jahrhunderten waren auch die „Gelehrten" meist untereinander verwandt. All diese Erscheinungen riefen seit langem den Unmut der Bürger hervor. Die verschiedenen Gründe für die Unzufriedenheit der Danziger Bürgerschaft kamen nur teilweise in der Klage zum Ausdruck, die in Warschau von der Delegation der Krämer und Speicherkaufleute dem König überreicht wurde. Eine viel umfangreichere Klageschrift wurde durch die Dritte Ordnung zur Vorlage bei den angesagten königlichen Kommissaren in Danzig vorbereitet.14 Die Kommissare — der Bischof Grabowski von Ermland und der Kammerherr von Leubnitz — kamen Ende Februar wirklich nach Danzig. Der königlichen Instruktion gemäß nahmen sie eine der Opposition günstige Stellung ein und unterstützten deren wirtschaftliche, soziale und politische Forderungen. Die königlichen Kommissare sollten jedoch keine Entscheidung des Konfliktes fällen, sondern einen Ausgleich zwischen den streitenden Parteien herbeizuführen versuchen. Bei einem Mißerfolg ihrer Mission wollte der König selbst eine Entscheidung treffen.15 Trotz eines neunmonatigen Aufenthalts in Danzig, trotz zahlreicher Verhandlungen und fast endloser Beratungen in den Ordnungen wurde der Vergleich nicht erreicht. Deswegen entschlossen sich Bischof Grabowski und Hofrat von Leubnitz, die Stadt zu verlassen, um König August III. Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.16 Vor ihrer Abreise kam es zu einer Initiative, die nur scheinbar mit der alten Tradition der Stadt im Einklang stand. Es handelte sich um Geldgeschenke für die königlichen Kommissare und um das Versprechen einer bedeutenden Geldsumme für den König. Die Umstände dieser Initiative zeigten, wie verschieden von früheren Zeiten sich in Danzig in der Mitte des 18. Jh. die Verhältnisse gestaltet hatten. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Stadt nämlich ging der Vorschlag, den königlichen Kommissaren und dem König selbst Geldgeschenke zu offerieren, nicht vom Rat, sondern von der Opposition aus. Am 13. November 1750 brachten die Delegierten der Dritten Ordnung in einer Kommission der Ordnungen einen entsprechenden Vorschlag ein; die überraschten Delegierten des Rats und der Schöffen erklärten, daß sie keine Vollmacht hätten, um hierüber zu diskutieren und zu entscheiden.17 Durch diese Initiative wurde dem Rat das Geld als mächtiges Mittel zur Regelung und Gestaltung der Verhältnisse zwischen Danzig und den Königen von Polen aus der Hand geschlagen. 13 Diese Entwicklung hat vielleicht schon gegen Ende des 17. Jh. begonnen; siehe NADOLSKI, B., Wyjazdy mlodziezy gdanskiej na studia zagraniczne w XVII wieku, in: Rocznik Gdariski 24/1965, S. 185 ff. 14 SLHA loc. 3371, Beilagen, Bd. I, fol. 21 ff. Die Klagen der Dritten Ordnung wurden durch die königlichen Kommissare dem Hat allmählich zur Beratung in den Ordnungen übergeben: WAP Gd 300, 10/81 passim. 15 SLHA loc. 3371, Beilagen, Bd. I, fol. 93 ff. 16 Relatio generalis — SLHA loc. 3371, fol. 1 ff. Siehe die Ordnungsrecesse aus dem Jahre 1749: WAP Gd 300, 10/81. " WAP Gd 300, 10/81, fol. 519f.
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Es ist sehr gut bekannt, daß das Geld in der ganzen Feudalperiode in der Politik der Städte als mächtiges Mittel verwendet wurde. Mit welchem Erfolg dies geschah, kann am Beispiel des Königs Johann III. Sobieski gezeigt werden. Die Geldversprechungen der Danziger Behörden gehörten zu den Hauptmotiven, die den König zur Abänderung des Dekrets vom 25. Januar 167818 und zur Promulgierung eines neuen Dekrets vom 12. Februar 1678 bestimmten, in welchem von einer Erweiterung der königlichen Rechte in Danzig schon keine Rede mehr war.19 Der König gab also der Stadt gegenüber wichtige Punkte seines politischen Programms auf, um unter anderem auch Geldvorteile zu erreichen.20 Anscheinend hat das Geld eine ähnliche Rolle in den Danziger Auseinandersetzungen in der Mitte des 18. Jh. gespielt. Wie schon erwähnt wurde, war die Initiative zu Geldgeschenken für König und Kommissare von der Opposition ausgegangen; der Rat und die Schöffen wagten nicht, sich dem Projekt zu widersetzen. Diese Entwicklung war nur möglich, weil die Dritte Ordnung — ein Organ der Stadtregierung — zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt als Führerin der Opposition gegen den Rat auftrat. Dadurch erhielt diese das Mitbestimmungsrecht über die Stadtgelder und nutzte es sehr schnell und klug aus. Es muß dabei noch ein Umstand besonders hervorgehoben werden; daß nämlich diese Gelder aus der Stadtkasse gezahlt wurden21 nicht um die Politik des Rates durchzusetzen, nicht um den König zur Abtretung von seinen Forderungen zu bewegen, von der Opposition zu entfernen oder um den Kommissaren ihre für den Rat vorteilhafte Einstellung zu vergüten — so wie es bis jetzt immer gewesen war —, sondern im Grunde genommen, um dem König und den Kommissaren für die Unterstützung der Opposition zu danken. Dieses Dekret sah unter anderem vor, daß jede Bestandsänderung der Garnison in der Stadt nur mit Vorwissen und Erlaubnis des Königs geschehen konnte und daß die höheren Offiziere der Garnison und die höheren Beamten der Stadt (Syndicus, Subsyndicus, Sekretäre) dem König den Eid der Treue und des Gehorsams leisten sollten: WAP Gd 300, 10/93, fol. 176ff.; 300, 53/489, nr. 24 G 2 ; Biblioteka Gdaiiska PAN, Ms. 131, fol. 12ff.; CIE6LAK, E., Walki spoleczno-polityczne, a. a. O., S. 198ff. 19 WAP Gd 300, 53/489, nr. 30a. 2 0 CIESLAE, E . , Walki spoleczno-polityczne, a. a. O., S. 206ff.; siehe auch BAHR, V . , Die Stadt Danzig und Johann III. Sobieski, König von Polen, Marburg/Lahn 1961, passim; dazu meine Polemik: Jan III Sobieski a Gdansk (Na marginesie pracy V. Bahr, Die Stadt Danzig und Johann III Sobieski, König von Polen), in: Zapiski Historyczne 28/1963, Heft 4, S. 607 ff. 21 Die Kommissare erhielten ihr Geld gleich: Grabowski 32395 Gulden und v. Leubnitz 16214 Gulden. Der König erhielt es ratenweise, wobei die Zahlung auf verschiedene Schwierigkeiten stieß und sich verzögerte. Der letzte Teil des Geschenkes wurde erst im Dezember 1752 bezahlt. Für die Verspätung mußte die Stadt dem König 8% geben, was zusätzlich 47266 Gulden ausmachte. Im ganzen hat August III. von der Stadt 447266 Gulden erhalten. - WAP Gd 300,12/522 S. 5; 300, 12/644, S. 184, 189, 250, 271; SLHA loc. 3654, vol. I, fol. 44; vol. IV, fol. 346f., 355; vol. V. fol. 8f„ 13, 103, 113; WAP Gd 300,10/84, fol. 190. 18
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Der Bericht, den Bischof Grabowski und Hofrat von Leubnitz dem König vorlegten, diente als Grundlage für die Stellungnahme Augusts III. zu den Danziger Auseinandersetzungen. Diese erfolgte am 10. Februar 1750 in Form einer Deklaration, in welcher der König jeden Vorwurf und jede Forderung der Opposition dem Rat gegenüber erwähnte und zu ihr Stellung nahm.22 Er verlieh ihr jedoch nicht die Kraft einer rechtlichen Entscheidung. Der königliche Hof glaubte noch immer, das Danziger Problem durch einen Vergleich der streitenden Parteien zu erledigen. Erst als alle Versuche, einen solchen herbeizuführen, auf den hartnäckigen Widerstand des Rates stießen, entschied sich der Hof zum nächsten Schritt: König August erließ die Ordination vom 20. Juli 1750. Sie hatte die Kraft einer rechtlichen Entscheidung, und die Nichtausführung ihrer Bestimmungen wurde mit Strafen bedroht.23 Es mußte jedoch noch ein langer, fast zwei Jahre andauernder Kampf geführt werden, um den Rat und die Zweite Ordnung zu bedingungsloser Annahme und Ausführung der königlichen Ordination zu zwingen. III Bevor wir zur Darstellung des politischen Spieles übergehen, das zur bedingungslosen Annahme der königlichen Ordination durch den Rat führte, muß noch einiges über das Programm der Opposition gesagt werden. Es fand umfassenden Ausdruck in der Denkschrift, die von der Dritten Ordnung vorbereitet und den königlichen Kommissaren nach ihrer Ankunft in Danzig überreicht wurde. Sie bildete die Grundlage aller folgenden Verhandlungen und der königlichen Deklaration und Ordination. Die wirtschaftlichen Forderungen spielten im Programm der Opposition eine sehr wichtige Rolle. Das Hauptziel dieser Forderungen und Klagen kann als ein Versuch bezeichnet werden, die aus dem Mittelalter stammenden Monopol- und Sonderrechte der Danziger Bürger — der Kaufleute und Handwerker — zu schützen und durchzusetzen. Der Gedanke einer wirtschaftlichen Liberalisierung, die Ideen der Handelsfreiheit, der Toleranz und der Angleichung der Rechte der Fremden an die Rechte der Bürger waren der Opposition ganz fremd. Sie wollte im Gegenteil die Konkurrenz der Fremden mit außerökonomischen, hauptsächlich administrativen Mitteln bekämpfen und beschränken. So forderte die Opposition zum Beispiel und setzte es auch durch, daß den Juden, die sich vorübergehend in Danzig aufhalten durften, weitere Beschränkungen ihrer ökonomischen Aktivität und hohe Taxen für die Einlaßzettel auferlegt wurden24; ebenso wurden den Menno22 W A P Gd 300, 10/82, fol. 142ff.; 300, 10/226, fol. 521 ff.; S L H A loc. 3654, vol. I, fol. 250 ff. » W A P Gd 300, 10/82, fol. 302ff.; 300, 10/227, fol. 261 ff. 24 Z. B. Verordnung wegen der Juden-Geleite, aus: Schluß sämtlicher Ordnungen der Stadt Dantzig beliebet und publiciret den 23. JuniiAo. 1752: Biblioteka Gdanska P A N ,
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niten Sondersteuern und wirtschaftliche Beschränkungen auferlegt. Man beschränkte auch die Handels- und Gewerbstätigkeit der übrigen Fremden auf verschiedene Weise. Auf Verlangen der Dritten Ordnung und der Gewerke faßten die Ordnungen den Beschluß, daß in den Vorstädten und in den zur Stadt gehörenden Dörfern die Werkstätten, soweit sie über die bestimmte Anzahl und die festgesetzten Gewerbszweige hinausgingen, aufgehoben werden sollten. 25 Es sind das nur einige Beispiele für Beschlüsse der Danziger Ordnungen, welche unter dem Druck der Opposition zustande kamen. Diese verlangte, daß die der Stadtregierung zur Verfügung stehenden rechtlichen und administrativen Mittel besser zum Schutz der Sonderrechte und Interessen Danziger Kaufleute und Handwerker genutzt würden. Unter ihren wirtschaftlichen Forderungen fanden sich auch einige, die eine Verminderung der Steuerlast für die Bürger bezweckten. E s handelte sich darum, die indirekten Steuern zu vermindern, aufzuheben oder durch direkte zu ersetzen, was für die mittleren und armen Schichten der Bevölkerung wichtig und vorteilhaft war. 26 Dies wurde mit Unterstützung und Hilfe des Königs verwirklicht.27 Es muß jedoch unterstrichen werden, daß die Opposition die Verminderung ihrer Steuerlast auch durch die Vergrößerung der Steuerleistungen der Bauern auf dem städtischen Landbesitz, der Juden und der Mennoniten erstrebte und erreichte — ein Beweis egoistischer Einstellung der Bürgerschaft in der Lösung dieses Problems. Das Programm der Opposition umfaßte auch einige Verfassungsreformen, deren Hauptziel die Erweiterung der Kompetenzen der Dritten Ordnung bildete. Unter anderem erhielt diese Ordnung jetzt das sogenannte ius proponendi, d. h. das Vorschlagsrecht für die Beratungsprobleme auf jeder Sitzung der Ordnungen, nicht mehr nur einmal im Jahre, wie es das Dekret des Königs Johann III. Sobieski vorgesehen hatte. 28 Die wichtigste und folgenreichste unter den durchOd 5711 nr. 39. Siehe frühere Verordnungen vom 10. Februar 1740, 27. Januar 1745, 9. April 1745: WAP Gd 300, 10/76, fol. 577ff.; 300, 10/79, fol. 32ff., 105ff. 25 Verordnung des Rates vom 10. November 1749: WAP Gd 300, 10/81, fol. 503ff.; siehe Ordnungsrezesse aus den Jahren 1 7 4 9 — 1 7 5 2 : W A P Gd 3 0 0 , 1 0 / 8 1 — 8 3 ; Mannhardt, H. G., Die Danziger Mennonitengemeinde. Ihre Entstehung und ihre Geschichte von 1 5 6 9 - 1 9 1 9 , Danzig 1919, S. 83 ff.
Die Danziger Bürger waren sich der Ungerechtigkeit des damaligen Steuersystems voll bewußt; vgl. z. B.: „ . . . daß die Einwohner, insonderheit die mittlem und geringen Standes, es empfinden, wenn die unentbehrlichen Lebens-Mittel durch die Accisen steigen, weil alles was teuer ist dem der wenig hat und des Zukauffenden nicht entbehren kan, zur Beschwerde gereichet.": WAP Gd 300, 10/81, fol. 264; „Anjetzo, da die Accisen gehen, traget eine solche' arme Wittib, wenn sie viel Kinder hat, mehr als eine reiche mit wenigen Kindern oder die ohne Kinder ist": WAP Gd 300,10/81, fol. 267. 27 Königliches Reskript vom 9. August 1749: WAP Gd 300,10/81, fol. 366f.; Goldmann, S., Danziger Verfassungskämpfe, S. lOOff. M CieSlak, E., Walki spoleczno-polityczne, a. a. O., S. 202f.; Königliche Ordination vom 20. Juli 1750, § 4: WAP Gd 300, 10/82, fol. 304. 26
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gesetzten Verfassungsreformen war die Bestimmung, daß nach der königlichen Ordination vom 20. Juli 1750 ein Drittel der Plätze in der Zweiten Ordnung und im Rate den Kaufleuten vorbehalten wurde.29 Auf dieses Problem soll im folgenden noch näher eingegangen werden. Nicht alle von der Opposition vorgeschlagenen Verfassungsreformen fanden den königlichen Beifall. So wurde etwa das Projekt, die Stimmen in der Dritten Ordnung nicht nach Quartieren, sondern nach der Mehrheit aller Mitglieder dieser Ordnung zu rechnen, verworfen.30 Die Zusammenarbeit zwischen dem königlichen Hofe und der Opposition in Danzig hatte ihre Grundlage vor allem in den politischen Vorteilen, die dem König zugesichert wurden; besonders in der Erweiterung seiner Rechte in Danzig. Dieses geschah in verschiedenen Formen, von denen die Einmischung des Königs in militärische Angelegenheiten der Stadt die wichtigste war. Jede Vergrößerung der Stadtgarnison konnte nur mit königlicher Einwilligung geschehen, und die Besetzung der hohen Offiziersposten mußte zu bestimmten Terminen stattfinden. 31 August I I I . hatte somit teilweise das erreicht, was schon in den Konstitutionen des Bischofs Karnkowski von 1570 und später im Dekret König Johanns I I I . Sobieski vom 25. Januar 1678 vorgesehen, aber nicht durchgeführt wurde.32 Die königliche Ordination vom 20. Juli 1750 sah auch andere Formen einmaliger Verstärkung der königlichen Rechte in Danzig vor, wie etwa die Verpflichtung, die neue Willkür der Stadt und einige neue Verordnungen, die von den Ordnungen vorbereitet werden sollten, vor ihrer Bekanntgabe dem König zur Approbation vorzulegen. In Wirklichkeit wurde dies später nur teilweise ausgeführt.33 All diese Beispiele zeigen, daß der königliche Hof bei der Einmischung in die inneren Auseinandersetzungen Danzigs die Möglichkeit hatte, einige wichtige politische Ziele durchzusetzen. Damit wurde die Grundlage für eine enge Zusammenarbeit zwischen dem königlichen Hof und der Opposition in Danzig geschaffen. IV Den Forderungen der Opposition und des königlichen Hofes widersetzten sich der Rat und die Zweite Ordnung. Sie wollten die königliche Ordination nicht als 29 Ebenda, § 1, fol. 303; siehe fol. 112ff. 30 WAP Gd 300, 10/82, fol. 163. In der Dritten Ordnung waren vier Quartiere mit je 27 Mitgliedern. Es genügte, wenn die Mehrheit in zwei Quartieren für den Rat stimmte: LENGNICH, G., IUS publicum civitatis Gedanensis, hrsg. v. O. GÜNTHER, Danzig 1900, S. 304f. 31 Königliche Ordination vom 20. Juli 1750, § 54: WAP Gd 300, 10/82, fol. 320. 32 SIMSON, P., Geschichte der Stadt Danzig, Bd. 4, S. 187f.; LENGNICH, G., IUS publicum, a. a. 0., S. 463; CIESLAK, E., Walki spoleczno-polityczne, a. a. O., S. 199ff. ss WAP Gd 300, 10/82, fol. 305, 312f. Die neue Willkür wurde im Jahre 1761 ohne königliche Genehmigung und Bestätigung veröffentlicht und eingeführt; siehe SIMSON, P., Geschichte der Danziger Willkür, Danzig 1904, S. 150.
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eine rechtliche Entscheidung anerkennen, die keiner Diskussion und Änderungsmöglichkeit unterlag. Der Rat vertrat die Ansicht, daß die Ordination Punkt für Punkt diskutiert werden sollte und alles, was den Privilegien der Stadt zuwiderlief, geändert oder sogar ganz fortgelassen werden müßte. Die Opposition, hauptsächlich die Dritte Ordnung, vertrat den entgegengesetzten Standpunkt : daß die königliche Ordination im Ganzen, ohne Abänderungen anzuerkennen und auszuführen sei. So begann ein langdauernder Streit 34 , dessen Hauptetappen hier nur abrißartig dargestellt werden können. Er verlief völlig anders als alle bisherigen in der Danziger Geschichte zwischen dem Rate und der Opposition, die Hilfe und Unterstützung beim König suchte. In der zweiten Hälfte des 17. J h . hatten die Gewerke versucht, in politischem Zusammenwirken mit König Johann III. Sobieski gegen den Patrizierrat und die Zweite Ordnung aufzutreten. Nach dem Verhalten des Königs kann man zu der Vermutung kommen, daß er Bedenken trug, sich mit den aufsässigen Handwerkern zu verbinden und gegen die legale Regierung der Stadt aufzutreten. 35 Der sächsische Königshof aber hatte keinen Grund zu derartigen Bedenken, da die Opposition von einem Organ der Stadtregierung, der Dritten Ordnung, geführt wurde. Im 17. J h . gelang es im Grunde genommen dem Rat, die Solidarität der Danziger Ordnungen den königlichen Forderungen gegenüber zu erhalten, wenn diese auch mit verschiedenen Zugeständnissen und inneren Reformen bezahlt werden mußte. 36 Mitte des 18. J h . war diese Solidarität der Ordnungen von Anfang an zerbrochen und verschwunden. Deswegen wurde unter anderem das Geheimnis der Beratungen der Ordnungen nicht mehr gewahrt, und der königliche Hof erhielt von seinem Generalkommissar Kopien der Ordnungsrezesse und anderer Schriften, die Gegenstand der Diskussion in den Ordnungen waren. 37 Dem königlichen Hof und der Opposition gelang es auch, die Mauer des strengen Geheimnisses um die Beratungen des Rates selbst zu durchbrechen und so von den Plänen und Vorhaben des Gegners Kenntnis zu erhalten. Dies konnte nur dadurch geschehen, daß unter dem Druck der Opposition und auf Anordnung des Königs eine Verfassungsreform in Danzig stattfand. Zuerst wurden drei freie Plätze in der Zweiten Ordnung und vier im Rate mit Kaufleuten besetzt, die der Rat aus einer vierzehnköpfigen, von der Dritten Ordnung vorgeschlagenen Gruppe wählen mußte. 38 Diese Reform, die anfangs nur den Charakter einer einmaligen Korrektur der Zusammensetzung des Rates und der Zweiten Ordnung trug, wurde durch die Ordination vom 20. Juli 1750 in eine dauernde Verfassungsreform umgewandelt, welche den Kaufleuten ein Drittel aller Plätze in der Ersten und Zweiten Ordnung sicherte. 39 WAP Gd 300, 10/82, fol. 298ff.; 300, 10/83 passim. CieSlak, E., Walki spoleczno-polityczne, a. a. O., S. 175ff. 36 Ebenda, S. 139ff. 37 SLHA loc. 3654, vol. I I - I I I , passim. 3« WAP Gd 300, 10/82, fol. 114, 130f., 190. 39 WAP Gd 300, 10/82, fol. 303 ff.
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Die Kaufleute, die in den Rat und in die Zweite Ordnung eintraten, begegneten einer feindlichen, wenn nicht haßvollen Einstellung der Ratsherren und Schöffen aus der Schicht der „Gelehrten".40 Die Reform hatte die soziale Homogenität des Rates und der Zweiten Ordnung zerstört.41 Die neuen kaufmännischen Ratsherren und Schöffen repräsentierten nicht mehr den vorherigen Typ des Rats- oder Schöffenmitglieds, das die Interessen dieser Regierungsorgane (und, was fast gleich war, die der ,,Gelehrten"-Gruppe) als höchstes Ideal und Handlungsprinzip betrachtete. Im Gegensatz dazu fühlten sie sich, durch die Opposition und durch königliche Gunst aufgestiegen, mit dieser Opposition und mit dem König enger verbunden als mit der regierenden Schicht der „Gelehrten". Die feindselige Einstellung der alten Ratsherren und Schöffen zu den neuen vertiefte bestimmt noch die Kluft zwischen den beiden Gruppen. Durch die geschilderte Einführung von Kaufleuten in den Rat und in die Zweite Ordnung schuf man in diesen Regierungsorganen Gruppen, die mit der Opposition und mit dem königlichen Hof zusammenarbeiteten. Nur durch diese Zusammenarbeit kann die Tatsache erklärt werden, daß die Opposition und der königliche Generalkommissar und durch ihn der königliche Hof Informationen über die geheimsten Beratungen des Rats erhielten. So konnte zum Beispiel, als im Rat die Abstimmung über Annahme oder Ablehnung der königlichen Ordination stattfand, der königliche Generalkommissar von Leubnitz seinem Rapport eine Namensliste der Ratsherren mit Anmerkungen über die Art der Abstimmung beifügen.42 Selbstverständlich hatte der Danziger Rat in dieser Situation ein viel schwierigeres politisches Spiel zu führen als all seine Vorgänger in ähnlicher Lage. Dies hatte jedoch nicht zur Folge, daß er den Widerstand aufgab. Er wollte im Gegenteil unter Führung der Bürgermeister Johann Wahl und Gabriel von Schröder die königliche Ordination nicht ohne Diskussion anerkennen. Ferner trachtete er danach, die Zusammenarbeit zwischen dem königlichen Hof und der Opposition durch Kompromißversuche zu schwächen, welche jedoch von der Dritten Ordnung und den Gewerken abgelehnt wurden. Die Opposition änderte ihre unversöhnliche Einstellung sogar dann nicht, als der königliche Hof zu einem Kompromiß mit dem Rat geneigt war und der königliche Generalkommissar in Danzig, von Leubnitz, in diesem Sinne einen Druck auf die kaufmännisch-handwerkliche Opposition ausübte.43 Die Versuche des Rates, in den Ordnungen eine Diskussion über die einzelnen Punkte der Ordination zu beginnen, wurden durch die Dritte Ordnung und die 40
Z. B. SLHA loc. 3654, vol. I, fol. 227. Zwar saßen früher auch einige Kaufleute im Bäte und in der Zweiten Ordnung, aber sie bildeten eine schwache Minderheit und waren meist mit den „Gelehrten" verwandt: SLHA loc. 337i, Beilagen, Bd. II, fol. 717ff. 42 Leubnitz an Brühl vom 23. Dezember 1760: SLHA loc. 3654, vol. I, fol. 230: Liste des personnes qui ont votées dans l'assemblée du Magistrat tenue le 21e et 22e Dec. pour ou contre l'ordination. « Z. B. SLHA loc. 3654, vol. I, fol. 233 und 235f. 41
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Gewerke mit bei den königlichen Notaren in Danzig eingelegten Protestationen beantwortet.44 Mitte Dezember 1750 beschloß die Dritte Ordnung: „Die Consilia vor diese Zeit abzubrechen, die Kassen zu schließen, wozu sie ihre Assessores bey den Hülffgeldern, Zulage und Accise-Kammer instruiret, keine Gelder auszufolgen und alles so lange zu hemmen, bis ein generaler Schluß nach dem Sinn der beyden nachsitzenden löblichen Ordnungen, daß nämlich die königliche Ordinationes vollständig angenommen und als ein immer währendes Gesetz ohne Veränderung vollzogen werden sollen, erfolget . . ." 45 Die Dritte Ordnung begann, diesen Entschluß zu verwirklichen.46 Im Grunde genommen bedeutete dies, daß ein städtisches Regierungsorgan in den Streik trat — ein unerhörtes Ereignis in der Geschichte der Stadt. Es dauerte aber nicht lange, bis der Generalkommissar von Leubnitz die Delegation der Dritten Ordnung von der Notwendigkeit überzeugte, diesen Streik zu beenden. Der königliche Hof fürchtete nämlich, daß die Zahlung der zweiten Bate des Geldgeschenks für den König durch ihn verzögert werden könnte.47 Es ließen sich noch viele andere Beweise für die enge Zusammenarbeit zwischen der kaufmännisch-gewerklichen Opposition und dem Generalkommissar von Leubnitz anführen. Selbstverständlich führte Leubnitz nur die vom königlichen Hof erhaltenen Anordnungen und Instruktionen aus. Die Bezeichnung „königlicher Hof" muß hier ziemlich elastisch verstanden werden, weil nicht ein Würdenträger der polnischen Krone, sondern der erste Minister Sachsens, von Brühl, die Hauptrolle bei der Leitung der königlichen Politik Danzig gegenüber spielte. An ihn schickte von Leubnitz alle seine Rapporte; von ihm erhielt er auch die Instruktionen.48 August III. befand sich in dieser Beziehung in einer viel günstigeren Lage als alle seine Vorgänger auf dem polnischen Thron. Für die Durchführung seiner Politik gegenüber Danzig standen ihm nicht nur die Würdenträger der polnischen Krone zur Verfügung, die, auf Lebenszeit berufen und unabsetzbar, gegenüber der Krone in hohem Grade selbständig waren und sich daher wenig für eine energische Durchführung der königlichen Absichten eigneten. Er konnte sich vielmehr auch auf die sächsischen Minister und Beamten stützen, die in der Schule der absolutistischen sächsischen Politik ausgebildet wurden. Schließlich mußte er aber doch auf die polnischen Institutionen zurückgreifen. Als im Laufe des Jahres 1751 die Ratsherren und Schöffen ihre Ein« Z. B. 4. November 1750: WAP Gd 300, 10/82, fol. 465f.; SLHA loc. 3654, vol. I, fol. 154f. und 217ff. Die Reprotestation des Rates vom 11. November 1750: WAP Gd 300, 10/82, fol. 467 ff. « WAP Gd 300, 10/82, fol. 550. « Leubnitz an Brühl vom 19. Dezember 1750: SLHA loc. 3654, vol. I, fol. 206: „ . . . il suspend les déliberations et ferme les caisses publiques, tant qu'il différe le conolusum moienant lequel l'ordination est acceptée et reconnue pour une loi fondamentale de cette ville". « SLHA loc. 3654, vol. I, fol. 232. 48 Siehe die Korrespondenz zwischen Brühl und Leubnitz: SLHA loc. 3654, vol. I—V.
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Stellung der königlichen Ordination gegenüber nicht ändern wollten, wurde von der Dritten Ordnung und den Gewerken eine offizielle Klage beim Assessorialgericht eingereicht. Trotz verschiedener Bedenken des Königs und Brühls wurde die Session jenes Gerichts in Danzig Ende 1751 einberufen. Es fällte sein Urteil am 4. Februar 1752.49 V Das Gericht ordnete Anfang Januar 1752 die Veröffentlichung der königlichen Ordination in der Stadt an, welche Forderung vom Rat ohne Widerstand erfüllt wurde. Es nahm auch den Text der königlichen Ordination in sein Urteil auf und klärte noch zusätzlich einige Punkte. Das Urteil zwang den Rat auch zur Veröffentlichung eines Dekrets mit der Erklärung, daß er die königliche Ordination als ewiges und verbindliches Recht anerkenne. Dem Rat drohte noch nach dem Urteil ein neues Gerichtsverfahren vor dem königlichen Relationsgericht wegen seines Widerstandes bei der Annahme der königlichen Ordination. Die Session des Assessorialgerichts in Danzig endete also mit einer vollen Niederlage des Rates. Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß die Vorschläge der Opposition, dem Rat weitere Strafen aufzuerlegen, vom königlichen Hof und vom Gericht nicht angenommen wurden. Dabei handelte es sich besonders um die Forderung, die Bürgermeister und Ratsherren sowie den Syndikus Gottfried Lengnich wegen ihres Widerstandes bei der Annahme der königlichen Ordination und wegen ihres Ungehorsams dem König gegenüber ihrer Posten zu entheben.50 Die kaufmännisch-handwerkliche Opposition drängte während der Gerichtssitzung in Danzig jedoch nicht sehr auf die Ausführung dieses Verlangens. Die Ursachen für diese Änderung in der Einstellung waren verschiedener Natur; die wichtigste war jedoch die Angst vor den Unruhen der Handwerker. Mitte des Jahres 1751 begann es unter den Danziger Handwerksgesellen unruhig zu werden. Es kam zu Konflikten mit den Schuhmachermeistern; die Maurergesellen verlangten eine Lohnerhöhung, die auch den Zeug- und Saigesellen gewährt werden mußte. Bei all diesen Bewegungen kam es zu Solidaritätsaktionen der Gesellen verschiedener Gewerke.51 Im Juli 1751 traten die Hauszimmerergesellen auf und erzwangen die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen.52 Zur gleichen Zeit fingen die Unruhen bei den Tischlergesellen an, die in 49
Decretum inter Honoratum Tertium Ordinem totamque Communitatem Civitatis Gedanensis atque Nobilem et Spectabilem Magistratum eiusdem Civitatis Gedanensis: WAP Gd 300, 10/83, fol. 51 ff. K> Siehe z. B. WAP Gd 300, 10/83, fol. 62; SLHA loc. 3652, fol. 387 ff. 51 WAP Gd 300, 10/80, fol. 10; 300, 1/145, fol. 58ff.; Löschin, G., Geschichte Danzigs von der ältesten bis zur neuesten Zeit, 2. Ausg., Danzig 1828, II. Theil, S. 169. 52 WAP Gd 300, 1/145, fol. 64ff.
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ihren Forderungen und beim Streik von über zwanzig Bruderschaften unterstützt wurden.53 Im Oktober kam es zu Streiks und Unruhen der Brettschneidergesellen.54 Die Interventionen der Danziger Behörden, die Veröffentlichung von Edikten durch den Rat gegen die Unruhen, Gerichtsurteile und Veröffentlichung der königlichen Reskripte gegen die Unruhen der Handwerker (wie des Reskripts vom 29. August 1751), auch das Eingreifen der hohen königlichen Würdenträger, die zu dieser Zeit in Danzig weilten, fruchteten nichts; die Unruhen dauerten an.55 Wie stark sie zu Anfang des Jahres 1752 — also zur Zeit der Tätigkeit des Assessorialgerichts in Danzig — angewachsen waren, zeigen am besten die Vorgänge am 10. April 1752 und in der folgenden Zeit. Hier fand ein Aufstand der Gesellen statt, an dem zahlreiche Bruderschaften teilnahmen und der die ganze Stadt in Schrecken versetzte. An den Aufzügen der Handwerksgesellen nahmen auch breite Schichten der armen Bevölkerung teil. Die ganze Stadtgarnison wurde in Bereitschaft versetzt und Soldaten gegen die Handwerksgesellen eingesetzt. Es wurden 113 Gesellen verhaftet, ein Gerichtsverfahren gegen sie eingeleitet und harte Urteile gefällt. Weitere Unruhen wurden mit schweren Strafen bis hin zur Todesstrafe bedroht.56 Dieses Beispiel zeigt zur Genüge wie mächtig die Bewegung der Handwerksgesellen und der armen Bevölkerung zu dieser Zeit in Danzig war. Sie beunruhigten nicht nur den Rat und die Opposition, sondern auch den königlichen Hof57 und machten alle drei Parteien zur Regelung der gegenseitigen Streitfragen geneigt. Zur Wiederherstellung der inneren Ruhe und zum Schutz der Interessen der Handwerker und Kaufleute war eine wieder gut funktionierende Regierung in der Stadt erforderlich geworden. Zur gleichen Zeit wurde der Widerstandswille der Ratsherren immer schwächer. Verschiedene Ereignisse trugen hierzu bei. Mitte des Jahres 1751 beorderte der 53 CiEâLAK, E., Tumult gdanskich czeladników traczy w roku 1751, in: Prace z dziejów Polski feudalnej oflarowane Romanowi Grodeckiemu w 70 rocznice urodzin, Warszawa 1960, S. 542 fr. 54 Ebenda, S. 533ff. 55 Ebenda, S. 535f. Für die Einstellung des Krongroßkanzlers Malachowski gegenüber den Unruhen der Handwerksgesellen sind einige Bemerkungen in seinen Briefen an Brühl (vom 20. Februar und vom 6. März 1752) bezeichnend: „Cette ramasse de touttes les villes de l'Europe. . .", „.. . je les ai amusé par bien des paroles de mon mauvais allemand, en attendant j'ai ordonné au Magistrat d'envoyer la garde et d'enfoncer la porte et prendre par force le dépôt, ce qu'il a étoit executé"; „. . . de quelle manière j'ai appaisé cette multitude de gens qui ressemblent à de bêtes farouches". SLHA loc. 3652, fol. 345, 349, 358. 56 Edikt vom 12. April 1752: WAP Gd 300 C/1573; Cieslak, E., Tumult, a. a. O., S. 543ff.; Loschi n, G., Geschichte, a. a. O., S. 173ff. 57 Siehe die Danziger Ordnungsrezesse und die Korrespondenz zwischen Brühl und Leubnitz aus den Jahren 1751 und 1752: WAP Gd 300, 10/82, 83; SLHA loc. 3654, vol. II, III.
Auseinandersetzungen in Danzig
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König eine Abordnung des Rates nach Dresden, um über die Danziger Angelegenheiten zu beraten. Von dieser Delegation wurden zwei Bürgermeister — Johann Wahl und Christian Gabriel von Schröder, die Hauptführer der Ratsund Schöffenpartei — im Hausarrest in Dresden zurückgehalten.58 Das Urteil des Assessorialgerichts nahm den Ratsherren und Schöffen jede Hoffnung, ihren Standpunkt durchsetzen zu können. Von nun an strebten sie danach, wieder beim König in Gnade zu kommen und die Rückkehr der beiden in Dresden zurückgehaltenen Bürgermeister zu bewerkstelligen. Sie erreichten durch die Zahlung einer größeren Summe die Wiederaufnahme in die Huld des Königs59, auch zeigten sie nun größeren Eifer bei der Regelung der zweiten Rate des Geldgeschenks an den König, als ihn die Dritte Ordnung gezeigt hatte.60 Durch das Reskript vom 8. Juni 1752 erlaubte König August III. daher die Rückkehr der beiden Bürgermeister nach Danzig, nahm den Rat wieder zu Gnaden an und befreite ihn von der Zitierung vor das Relationsgericht.61 Dieser Akt bildete den eigentlichen Ausklang der großen politischen Auseinandersetzungen in Danzig um die Mitte des 18. Jh. Bei ihnen handelte es sich um die letzten, die in Danzig während der Feudalperiode ausgebrochen sind. Auf den ersten Blick scheinen die politischen Kämpfe, die in Danzig zu verschiedenen Zeiten stattfanden, einzelne, abgesonderte Aktionen zu bilden. Eine nähere Betrachtung muß aber zu der Feststellung führen, daß sie doch eng miteinander verbunden waren, daß die vorigen eine Stufe, einen Ausgangspunkt für die folgenden darstellen und daß sie wie Glieder einer Kette vom 14. bis zum 18. Jh. zusammenhingen. In der Mitte des 18. Jh. gelang es der Opposition, ihr Programm für die Dauer und nicht nur zeitweilig durchzusetzen, wie das etwa am Anfang des 16. Jh., zur Zeit der Reformation, noch der Fall war. Ihr Erfolg wurde durch verschiedene Faktoren bedingt. Vor allem war sie zu einer Stärke erwachsen wie noch nie zuvor in der Geschichte der Stadt. Das ist darauf zurückzuführen, daß sie auf einer breiten Grundlage ruhte — sie wurde getragen von Kaufleuten und Handwerkern, die früher nie so eng und so dauerhaft zusammengewirkt hatten. Zwei Hauptgruppen der Danziger Bevölkerung waren gegen die regierende Schicht der „Gelehrten" aufgetreten, wobei die wirtschaftlich stärkste 58
SLHA loc. 3652, fol. 30 ff. Der Rat sollte auf diese Weise die zu hoch kalkulierten und aus der Stadtkasse entnommenen Kosten des Streites mit der Opposition zurückzahlen. Die Summe wurde endlich auf 300000 Gulden festgesetzt, zahlbar in zwei Raten. Nur die Ratsherren aus dem Kreise der „Gelehrten" sollten diese Summe bezahlen. Nach dem ausdrücklichen Vorbehalt des Königsund Brühls wurden die neu eingeführten Räte aus dem Kreise der Kaufleute von der Verpflichtung dieser Zahlung ausgenommen und befreit: SLHA loc. 3654, vol. IV, fol. 21 ff., 399. Für die Verspätung bei der Bezahlung der zweiten Rate mußte der Rat noch zusätzlich 4500 Gulden zahlen: SLHA loc. 3654, vol. V, fol. 136f. Die Angaben von GOLDMANN, S., Danziger Verfassungskämpfe, S. 117, sind unrichtig. 60 Siehe oben Anm. 21. 61 WAP Gd 300, 10/83, fol. 259f.
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15 Heue Hansische Studien
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Guppe, die der Kaufleute, die Führung übernahm. Das fand vor allem in der leitenden Rolle der Dritten Ordnung seinen Ausdruck. Zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt übernahm ein Organ der Stadtregierung die Führung der Opposition, welche dadurch eine viel größere Handlungsmöglichkeit als je zuvor erhielt — nicht nur gegen den Rat und die Zweite Ordnung, sondern auch beim Zustandekommen einer Zusammenarbeit, wenn nicht eines Bündnisses mit dem königlichen Hof. August III., der schwächste aller polnischen Könige, hatte es doch verstanden, mit Hilfe nicht nur polnischer, sondern vor allem sächsischer Mitarbeiter die konsequenteste und erfolgreichste Politik in der Geschichte der polnischen Krone Danzig gegenüber durchzuführen.
DER ROSTOCKER ERBVERTRAG VON 1788 Zu einigen Problemen der Geschichte einer spätfeudalen Stadt von Helga
Schultz
Der neue Erb vertrag, der 1788 zwischen dem Rostocker Rat und dem Herzog Friedrich Franz von Mecklenburg-Schwerin geschlossen wurde, war das Ergebnis eines vierzigjährigen erbitterten Machtkampfes. Zwei Generationen von Ratsherren, Herzögen und Rostocker Bürgern hatten miteinander um die Macht in der Stadt gestritten, und der Streit wurde durch den Erbvertrag mehr beendet als entschieden. Der Vertrag blieb formal die Grundlage der Rostocker Verfassung bis zur Novemberrevolution. Aber nicht seiner langen Geltungsdauer wegen dürfen er und vor allem seine Vorgeschichte noch heute unser Interesse beanspruchen, sondern weil diese Auseinandersetzungen von zwei Grundproblemen der Stadtgeschichte in der Periode des Spätfeudalismus bestimmt werden: Es geht einmal um das Verhältnis der weitgehend autonomen Stadt zum Staat in der Periode des territorialstaatlichen Absolutismus, zum anderen um die Verteilung der Macht innerhalb der Stadt zwischen der handelskapitalistischen Oberschicht und der großen Mehrzahl der Bürger. Beide Problemkreise waren eng miteinander verflochten, sollen hier aber der besseren Übersichtlichkeit wegen gesondert dargestellt werden. Im Machtkampf mit dem Herzog wollte der Rostocker Rat seine Machtvollkommenheit behaupten, die er in Gestalt eines ganzen Bündels wichtiger Privilegien während des 13. und 14. Jh. den mecklenburgischen Fürsten regelrecht abgekauft hatte. 1 In diesem Zusammenhang erlangte eine Abhandlung des Rostocker Bürgermeisters Heinrich Nettelbladt große Bedeutung: die 1757 erschienene „Historisch-diplomatische Abhandlung von dem Ursprünge der Stadt Rostock Gerechtsame" 2. Sie wurde zur Programmschrift des Rates während der 1
OLECHNOWITZ, K . F . , R o s t o c k 1 2 1 8 - 1 8 4 8 , R o s t o c k 1 9 6 8 , S . 2 0 f . ; MEYER, P . , Die R o -
stocker Stadtverfassung bis zur Ausbildung der bürgerlichen Selbstverwaltung (um 1325), phil. Diss. Rostock 1928, Schwerin 1929. 2 NETTELBLADT, H., Historisch-diplomatische Abhandlung von dem Ursprünge der Stadt Rostock Gerechtsame und derselben ersteren Verfassung in weltlichen Sachen bis ans Jahr 1358 . . R o s t o c k 1757. — Die wichtigste der zahlreichen Gegenschriften von landesherrlicher Seite: Baron v. DITMAR, Der Landesfürst in Rostock. Aus Macht- und Gnadenbriefen der Drei- und Vierzehnten Jahrhunderten, gegen die unnatürliche Verleugnung des dasigen erbuntertänigen Stadt-Rats behauptet, [Rostock] 1762. 15»
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H . SCHULTZ
ganzen Auseinandersetzungen und zum unerträglichen Stein des Anstoßes für die herzogliche Partei. Der Rat mußte sich später im Erbvertrag ausdrücklich von dieser Schrift distanzieren. Nettelbladt malt in seiner Abhandlung ein Bild des mittelalterlichen Rostock, das für landesherrliche Macht oder Gnade keinen Raum läßt. Er legt die umfangreichen Rechte des Rostocker Rates in der Blütezeit der Hansestadt dar, die ihn zum eigentlichen Herrn der Stadt machten, und kommt zu dem Schluß, daß der Landesherr zwar Herr des Landes, nicht aber Herr der Stadt gewesen sei. Der Herzog habe im mittelalterlichen Rostock weiter keine Rechte gehabt als die, die sich aus der Lage der Stadt in seinem Lande ergaben und die nach dem Erwerb der vollen Gerichtsbarkeit durch den Rat nur noch die Schutzherrschaft bewirkten. Die Stadt habe dem Landesherrn als ihrem Schutzherrn zwar gehuldigt, sei darum aber nicht untertänig gewesen. Nettelbladt gibt zwar in der Einleitung seiner Schrift die Versicherung ab, daß der Rat des i8. Jh. die Erbuntertänigkeit der Stadt, wie sie in den Erbverträgen des 16. Jh. festgelegt sei, anerkennt; aber das konnte die fürstliche Partei keineswegs beruhigen. Diese Einschränkung entschärft tatsächlich die Darlegungen des Bürgermeisters nicht, und seine Gegner hatten nur formal unrecht, wenn sie ihm vorwarfen, er erkläre den Rat auch für die Gegenwart zum eigentlichen Fürsten der Stadt und beanspruche für Rostock die Freiheit einer Reichsstadt. Denn in dieser Schrift wie in der praktischen Politik war es der ausgesprochene Grundsatz des Rates, daß der Landesherr keine anderen Hoheits- und Obrigkeitsrechte in der Stadt zu fordern habe, als in den Erbverträgen des 16. Jh. zugestanden worden seien.3 Der Erbvertrag von 1573, der 1584 durch einen weiteren Vertrag ergänzt wurde, war das Ergebnis langjähriger erbitterter Auseinandersetzungen zwischen Rat und Herzog gewesen, die der Landesherr nur unter Einsatz militärischer Gewalt für sich entscheiden konnte.4 Er erreichte in diesen Verträgen die Anerkennung der Erbuntertänigkeit durch den Rat, die Wiedereingliederung der Stadt in den mecklenburgischen Ständestaat und in wesentlichen Punkten die Durchsetzung der Rechte in der Stadt, die sich aus seiner oberbischöflichen Stellung ergaben.5 Aber diese Erbverträge bedeuteten keinesfalls eine Unter3
Besonders aufschlußreich ist ein Memorandum des Bürgermeisters Burgmann aus dem Jahre 1771, das die Generallinie des Rates für die Erbvertragsverhandlungen festlegt (Stadtarchiv Rost., Rep. 1024/6, nr. 150a, Recurs, Bd. 27).
4
OLECHNOWITZ, K . F . , a . A . O . , S . 125—142; KRAUSE, H . , S y s t e m d e r l a n d s t ä n d i s c h e n
Verfassung Mecklenburgs in der zweiten Hälfte des 16. Jh., Rostock 1927, S. 16 (Rostocker Abhandlungen, hrsg. von den Mitgliedern der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der mecklenburgischen Landesuniversität, Heft 2). 5 Erbvertrag der Herzöge Hans Albrecht und Ulrich mit der Stadt Rostock vom 21. September 1573; Erb vertrag der Herzöge Ulrich und Johannes mit der Stadt Rostock vom 28. Februar 1584, abgedruckt in: Sammlung der Rostockschen Gesetzgebung aus den Jahren von 1783—1844 incl. nebst den älteren Erbverträgen und einigen anderen Erlassen, hrsg. v. J. F. BLANCK, Rostock 1846, S. 1—28.
Der Rostocker Erbvertrag
1788
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werfung, die etwa mit der Braunschweigs rund hundert Jahre später vergleichbar gewesen wäre. Das Braunschweiger Ereignis gehört einfach in eine andere Periode. Zur Zeit der Rostocker Erb Verträge waren in Mecklenburg wie in anderen deutschen Territorien die Bedingungen für die Errichtung des territorialstaatlichen Absolutismus noch nicht vorhanden. Diese Verträge stellen also nicht das Ende der Selbstregierung des Rostocker Rates dar, sondern nur das Scheitern seiner Bestrebungen, die Reichsunmittelbarkeit zu erlangen. Indem nun der Rostocker Rat auch in der Mitte des 18. Jh. noch auf dem Standpunkt dieser Verträge beharrte, versuchte er also, die staatsrechtlichen Grundsätze des territorialstaatlichen Absolutismus einfach zu ignorieren und seine Position aus der Stellung des 16. Jh. heraus zu verteidigen. Konkret ging es hier um das Oberaufsichtsrecht des Landesherrn, um das Recht, in das Stadtregiment des Rates unmittelbar, auch reformierend, einzugreifen. Von einem solchen Recht war in den älteren Erbverträgen nicht die Rede gewesen, ohne dieses mußte jedoch die Erbuntertänigkeit der Stadt vom Standpunkt des 18. Jh. aus zur leeren Formel werden. Da der Rat dem Landesherrn im wesentlichen nichts weiter als diese Erbuntertänigkeit zugestehen wollte, machte er Anspruch auf eine Unabhängigkeit, die mit dem Begriff der Landeshoheit in der Periode des Absolutismus unvereinbar war.6 Das Problem war kein speziell Rostockisches, sondern ein allgemeines für die deutschen Städte dieser Periode. Im Westfälischen Frieden hatten die Fürsten den vollständigen Sieg über die Zentralgewalt und damit die faktische Souveränität und Landesherrschaft errungen und errichteten nun den Absolutismus in ihren Territorien. Der Kampf gegen die Selbstregierung der städtischen Räte war ein Teil dieses Prozesses.7 Der durch den Krieg unendlich gesteigerte ökono6
Vgl. das Gutachten des Reichskammergerichtsassessors Baron von Cramer zu der Rostocker Streitfrage. Er vertritt den Standpunkt des Absolutismus, daß das mit der Landeshoheit untrennbar verbundene Oberaufsichtsrecht von allen Privilegienverleihungen unberührt bleibe und den eigentlichen Unterschied zwischen Municipalstädten und Reichsstädten ausmache. Rostock sei also nach wie vor eine — zwar ungewöhnlich privilegierte — mecklenburgische L a n d s t a d t (CRAMER, J . U. FREIHERR VON,
Wetzlarische Nebenstunden, worinnen auserlesene beim höchstpreislichen Kammergericht entschiedene Rechtshändel zur Erweiter- und Erläuterung der deutschen . . . Rechtsgelehrsamkeit angewendet werden, 7. Teil, Ulm 1757, S. 2—91). 7 Charakter und Auswirkungen der Städtepolitik des deutschen territorialstaatlichen Absolutismus sind von der marxistischen Geschichtswissenschaft leider noch nicht gründlich untersucht worden. In der älteren bürgerlichen Literatur vertreten SCHMOLLER, G., Das Städtewesen unter Friedrich Wilhelm I., in: Deutsches Städtewesen in älterer Zeit, Bonn und Leipzig 1922 (zuerst erschienen in: Zeitschrift für preußische Geschichte u n d L a n d e s k u n d e 8/1871—12/1875) u n d PREUSS, H . , Die E n t w i c k l u n g des deutschen
Städtewesens, Bd. 1: Die Entwicklung der deutschen Städteverfassung, Leipzig 1906, die beiden extremen Seiten der Fragestellung. Schmoller behauptet die Berechtigung und Notwendigkeit der absolutistischen, speziell der preußischen Städtepolitik. Preuß vertritt aus einer antipreußischen Grundgesinnung heraus den entgegengesetzten Standpunkt und kommt dabei zu einer Überschätzung des bürgerlich-demokratischen Gehalts
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H . SCHULTZ
mische Verfall der Städte, die tiefe innere Zerrissenheit und die äußere politische Isoliertheit infolge des Zerfalls der Städtebünde boten den Fürsten eine breite Angriffsfläche. Das führte dazu, daß die Autonomie der Städte fast durchweg schon im 17. J h . gebrochen wurde und daß ihre Unterwerfung im Laufe des 18. J h . vielfach auch in den Territorien gelang, wo das Fürstentum die Errichtung einer absolutistischen Diktatur nicht vollbrachte.8 Die Autonomie der Bäte hatte während des Spätmittelalters in den bedeutenderen Städten tatsächlich einen solchen Umfang erreicht, daß man mit Brunner 9 in diesem Zusammenhang eher von Selbstregierung als von Selbstverwaltung sprechen muß. Die Bäte bedeutenderer Städte, so auch der Bostocker Bat, verfügten im allgemeinen über das gesamte Instrumentarium staatlicher Gewalt. Daß diejenigen Städte, welche nicht Beichsstädte waren, durchweg bei Begierungsantritt dem Landesherrn huldigten und sich ihre Privilegien bestätigen ließen, war unter diesen Umständen ein formalrechtlicher Akt ohne praktische Konsequenzen. Diese praktisch vollkommene Autonomie erklärt es, daß die meisten bedeutenden norddeutschen Städte während ihrer Blütezeit keine ernsthaften Versuche unternahmen, ihre Selbständigkeit durch die Erlangung der Beichsunmittelbarkeit auch formal abzusichern. Im 16./ 17. J h . mußten die dahingehenden Bemühungen einer ganzen Beihe norddeutscher Städte an der veränderten Macht läge scheitern. Es seien hier nur Magdeburg, Erfurt, Osnabrück, Münster, Minden und auch Bostock genannt. Erfolgreich waren schließlich nur Hamburg und Bremen, und sie dankten dies in erster Linie dem Interesse ausländischer Mächte. 10 Nun nutzten die Fürsten auch ihr Privilegienbestätigungsrecht und die Huldigungspflicht der Städte zum Angriff auf deren Autonomie. Die Städte wehrten sich im allgemeinen mit der auch vom Bostocker Bürgermeister Nettelbladt benutzten Taktik. Sie versuchten geltend zu machen, daß die Fürsten nur durch ausdrückliche Unterwerfung Bechte in ihnen erlangen
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der feudalen Ratsverfassung. Die Thesen von Schmoller versuchten später S T E I N B A C H , F . , und BECKER, E., Geschichtliche Grundlagen der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland, in: Rheinisches Archiv 20/1932, zu stützen. Das trifft z. B. auf Sachsen zu (WUTTKE, R., Die Einführung der Land-Akzise und der Generalkonsumtionsakzise in Kursachsen, Leipzig 1890, SCHLECHTE, H., Die Staatsreform in Kursachsen 1762—1763. Quellen zum kursächsischen R&ablissement nach dem Siebenjährigen Kriege, Berlin 1958); ebenso auf das Verhältnis des Landesherrn zu den mecklenburgischen Landstädten im 18. Jh. (STRUCK, W. H., Städtepolitik im Ständestaat. Die mecklenburgische Steuer-, Polizei- und Kämmereikommission und ihre Tätigkeit 1763-1827, in: Ostdeutsche Wissenschaft 5/1959, S. 310-343). BRTJNNER, O., Städtische Selbstregierung und neuzeitlicher Verwaltungsstaat in Österreich, in: österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, N. F., Bd. 4, Heft 2, 1954, S. 221-249. SCHMIDT, H., Zur politischen Vorstellungswelt deutscher Städte im 17. Jh., in: Festschrift für K. G. Hugelmann, hrsg. v. W. WEGENER, Bd. 2, Aalen 1959, S. 5 0 1 - 5 2 1 ; QUERFURTH, H. J . , Die Unterwerfung der Stadt Braunschweig, Braunschweig 1953, Einleitung.
Der Bostocker Erbvertrag 1788
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könnten. Die Fürsten verlangten im Gegenteil, daß die Städte jedes Privileg urkundlich erweisen müßten, und beanspruchten schließlich das Recht, gegebene Privilegien unbeschränkt widerrufen zu können. Die staatsrechtlichen Theorien wandelten sich unter dem Einfluß des territorialstaatlichen Absolutismus und kamen ebenfalls den Fürsten gegen die Städte zu Hilfe. Aus dem römischen Recht schlußfolgerte man, daß die Städte Korporationen und als solche Minderjährigen gleichzusetzen seien; sie müßten also unter die vollständige Aufsicht und Bevormundung der Fürsten gestellt werden.11 Doch nicht nur mit juristischen Mitteln wurde die Autonomie der Städte eingeschränkt und beseitigt. So mächtigen Städten wie Braunschweig, Magdeburg, Erfurt oder Königsberg war nur mit Gewalt beizukommen. Besonderes Aufsehen erregte unter den Zeitgenossen das militärische Vorgehen der Fürsten gegen Braunschweig und Erfurt. Das Besatzungsrecht der Städte zu brechen, sie mit landesherrlicher Garnison zu belegen, war daher vielfach die erste Maßnahme zur Stabilisierung der fürstlichen Macht in der Stadt. Aber das Bestreben der Fürsten, Hoheitsrechte in den Städten zu erlangen, war keineswegs Selbstzweck. Das wesentliche Ziel lag in der Erschließung dauernder, sicherer und von der ständischen Bewilligung unabhängiger Finanzquellen. Ohne diese Geldquellen wäre der Ausbau der absolutistischen Macht unmöglich gewesen, denn die beiden wichtigsten Stützen dieser Macht, das stehende Heer und der zentralisierte Beamtenapparat, verschlangen regelmäßig bedeutende Summen. Das beste Mittel, sich in den Besitz dieser Summen zu setzen, waren Abschaffung des Besteuerungsrechtes der Räte und Einführung der landesherrlichen Akzise. Auch in diesen Fragen, wie in allen anderen der Städtepolitik und des territorialstaatlichen Absolutismus überhaupt, ging Brandenburg-Preußen voran. Im Zusammenhang mit der Einführung der Akzise wurde vom preußischen Absolutismus ein System zur vollständigen Beseitigung der städtischen Selbständigkeit errichtet, das in dieser Vollkommenheit von keinem anderen deutschen Territorialstaat erreicht worden ist. Es ist oft genug, am ausführlichsten von Schmoller12, beschrieben worden. Da nach der Ansicht des Absolutismus die Städte den Domänen gleichzusetzen waren, war ihr Eigentum also Eigentum des Staates, und an die Stelle der Schlamperei und der Korruption unter den bisherigen Ratsoligarchien mußten bis ins kleinste gehende Staatsaufsicht und äußerste Sparsamkeit treten — natürlich nicht zugunsten des Stadt-, sondern des Staatssäckels. Es erhebt sich die Frage nach der Berechtigung des Vorgehens der Fürsten. Der Absolutismus war zweifellos in der Rolle des Okkupanten gegenüber den Privilegien der Magistrate. Aber hatten die Räte darum „Recht", wenn sie sich den Bestrebungen der Fürsten entgegenstemmten ? Ihre Position war historisch überholt. Die Zersplitterung der staatlichen Gewalt auf einzelne feudale Obrigkeiten, seien es feudale Grundeigentümer oder städtische Magistrate, entsprach einer Periode mit viel niedrigerem Entwicklungsstand der Produktivkräfte und 11
Siehe auch S c h m o l l e r , G., a. a. O., S. 370ff.
12 Ebenda, S. 397 ff.
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dementsprechend naturalwirtschaftlicher Grundlage. Für die Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, in der sich auch in Deutschland Elemente und Formen der kapitalistischen Produktionsweise herausbildeten, war dieser Standpunkt unhaltbar, ein offensichtliches Hemmnis für die weitere Entwicklung der Gesellschaft. Man kann also hier Schmoller beipflichten, ohne seine Wertung der preußischen Städtepolitik deshalb im geringsten zu teilen, wenn er feststellt: „Wenn der Historiker die Partei der untergehenden städtischen Autonomie ergreift, so tut er ganz dasselbe, wie wenn er sich für 1806—1820 auf die Seite der Reaktion gegen die Stein-Hardenbergschen Reformen, wie wenn er sich für 1848—50 auf die Seite des Beamten- und Ständetums gegen die Verfassungspartei stellt." 13 Die Frage kann also nicht von formaljuristischen Gesichtspunkten her beantwortet werden, sondern nur, indem man von den objektiven Erfordernissen der historischen Entwicklung ausgeht. Aber gerade unter diesem Aspekt muß auch die Städtepolitik des territorialstaatlichen Absolutismus zumindest als sehr fragwürdig erscheinen. Es existieren inzwischen eine ganze Reihe von Untersuchungen über die Wirtschaftspolitik des Absolutismus, sowohl in bezug auf ganze Territorien, als auch auf einzelne Städte. 14 Bei aller Differenziertheit der historischen Entwicklung im einzelnen steht das Ergebnis doch im großen und ganzen überall in Übereinstimmung mit dem Urteil von Krüger, das er nach einer gründlichen Analyse der preußischen merkantilistischen Politik in den mittleren Provinzen fällt: die staatliche Wirtschaftspolitik habe die Herausbildung und Entfaltung der kapitalistischen Produktionsformen in der Endkonsequenz mehr gehemmt als gefördert. Die Integration in die Territorien bot also den deutschen Städten keine echte Perspektive. Denn der Absolutismus setzte sich in Deutschland zu einer Zeit durch, als er im europäischen Maßstab schon eindeutig reaktionär war. Die 13 14
SCHMOLLER, S . 4 1 4 .
H., Zur Geschichte der Manufakturen und der Manufakturarbeiter in Preußen, Berlin 1958; H O F F M A N N , H . , Die gewerbliche Produktion Preußens im Jahre 1769 auf Grund des statistischen Taschenbuches des Dodo Heinrich Frhr. v. Knyphausen . . wirtschaftswiss. Diss. Berlin 1957 (MS); F I S C H E R , E., Magdeburg zwischen Spätabsolutismus und bürgerlicher Revolution. Untersuchungen zur Wirtschafts-, Bevölkerungs- und Sozialstruktur einer preußischen Festungs- und Provinzhauptstadt in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jh., phil. Diss. Halle-Wittenberg 1966 (MS); F O R B E R G E R , R., Die Manufaktur in Sachsen vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jh., Berlin 1958; Z I E K U R S C H , J . , Das Ergebnis der friderizianischen Städteverwaltung und die Städteordnung Steins, am Beispiel der schlesischen Städte dargestellt, Jena 1908; H E I N I C K E , E., Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Halle unter brandenburgpreußischer Wirtschaftspolitik von 1680-1806, jur. Diss. Halle-Wittenberg 1927, Halberstadt 1929; E N N E N , E., Grundzüge der Entwicklung einer rheinischen Residenzstadt im 17. und 18. Jh., dargestellt am Beispiel Bonns, in: Aus Geschichte und Landeskunde, Festschrift für F . Steinbach, Bonn 1960; F L O R I N , W., Der fürstliche Absolutismus in seinen Auswirkungen auf Verfassung, Verwaltung und Wirtschaft der Stadt Hannover, in: Hannoversche Geschichtsblätter, N. F. 7/1954. KRÜGER,
Der Rostocker Erbvertrag 1788
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progressive, die Entwicklung der Produktivkräfte fördernde Rolle des Merkantilsystems wurde in der verkrüppelten Ausprägung des deutschen Kameralismus kaum wirksam. Im Gegenteil: der Absolutismus bildete sich in Deutschland in den einzelnen Territorien heraus, er festigte so die Zersplitterung und trug antinationalen Charakter. Unter diesen Umständen stellte die Integration der Städte in die Territorien ebenfalls keinen echten Fortschritt dar, keine progressive Überwindung der mittelalterlichen Zersplitterung, sondern sie führte die Städte gleichsam in eine Sackgasse. Das galt für Rostocks Verhältnis zu Mecklenburg in noch viel stärkerem Maße als für andere vergleichbare deutsche Städte. Von einem Landesherrn, der gerade erst im Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich von 1755 vor der Ritterschaft endgültig kapituliert hatte 15 , waren keinerlei wirksame Maßnahmen zur Förderung von Handel und Gewerbe zu erwarten. Die vollständige Unterwerfung der Stadt unter die landesherrliche Gewalt hätte einseitig dem Landesherrn Vorteile gebracht, der seine immer leeren Kassen durch die ungehinderte Inanspruchnahme der Rostocker Finanzkraft hätte füllen können. Darüber hinaus war zu fürchten, daß die Ritterschaft ein noch stärkeres ökonomisches Übergewicht gewinnen würde, wenn die Sonderstellung der Stadt abgebaut und ihre umfangreichen Handelsprivilegien eingeschränkt würden. Die Ritterschaft hatte durch den Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich ohnehin schon ihre Möglichkeiten, den Handelsprofit der Rostocker Kaufleute zu schmälern, beträchtlich erweitert. Die Ansprüche des Rostocker Rates, wie sie von Bürgermeister Nettelbladt vorgetragen wurden, stellten also unter den Bedingungen des 18. Jh. einen Anachronismus dar. Aber auch die vollständige Eingliederung der Stadt in den mecklenburgischen Ständestaat, in dem die Ritterschaft die ökonomische und politische Vormachtstellung innehatte, die rechtliche und politische Gleichstellung Rostocks mit den mecklenburgischen Landstädten boten der Stadt keine echte Perspektive. Wie also der Machtkampf zwischen dem Herzog und dem Rat auch ausgehen mochte, er konnte keinen positiven Impuls für die weitere Entwicklung Rostocks geben. Trotzdem lohnt es, den Verlauf der Auseinandersetzungen zu betrachten, da man so interessante Einblicke in den Funktionsmechanismus des Ständestaates gewinnen kann. Die Stellung Rostocks im mecklenburgischen Ständestaat war seit jeher recht kompliziert und widersprüchlich. Seit dem Erbvertrag von 1573 war die Stadt zwar ein festes Glied der Stände; sie nahm aber vor allem durch ihre Berechtigung, bei entgegenstehenden Privilegien einem Landtagsschluß nicht beitreten zu müssen, eine Sonderstellung ein. Sie zählte zum Korps der Städte, also zur Landschaft, war aber in die Kreiseinteilung nicht mit einbegriffen, wurde durch die Vorderstädte natürlich nicht mit vertreten, sondern trat selbständig auf.16 15
16
Siehe auch WICK, P., Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jh., Berlin 1965, S. 257ff. K R A U S E , H . , a . a . O . , S. 14FF.; HAGEMEISTEE, E. F., Versuch einer Einleitung in das mecklenburgische Staatsrecht, Rostock und Leipzig 1793, S. 51 ff.
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H. Schultz
Die ökonomischen Interessen der Stadt wichen sehr oft von denen der Landstädte ab, ja waren ihnen entgegengerichtet. Die Rostocker Kaufleute gingen zum Beispiel so weit, vom Herzog zu verlangen, er solle den Kaufleuten der kleinen Landstädte verbieten, anderswo als in Rostock, etwa bei Lübecker Kaufleuten, einzukaufen.17 Auch die Grundlinie der ständischen Politik Rostocks lief der der kleinen Landstädte entgegen. Diese fügten sich den Ansprüchen des Herzogs; sie vereinbarten mit Friedrich Wilhelm eine Akzise und entgingen damit der ständigen Übervorteilung in Steuerfragen durch die Ritterschaft. Sie lösten aus diesem Anlaß sogar die Union mit dieser. Auch in dem großen Kampf mit Carl Leopold hielten die Landstädte zum Herzog, während Rostock fest an der Seite der Ritterschaft im Lager der ständischen Opposition stand.18 Rostock handelte also nicht als Mitglied der Landschaft, sondern wie ein eigener, dritter Stand. Auch das Verhältnis der Stadt zur Ritterschaft war widersprüchlich. Der Rostocker Rat und diese waren natürliche Bundesgenossen, wenn es um die Behauptung der obrigkeitlichen Stellung des Rates gegenüber seinen Bürgern oder der Ritterschaft gegenüber ihren Untertanen ging. Vor allem aber war das Bündnis für beide Seiten von großem Interesse im Kampf gegen die absolutistischen Bestrebungen des Landesherrn. Auf diesen festen Pfeilern ruhte die beständige und mehrfach erneuerte Union des Rostocker Rates mit der Ritterschaft. Andererseits gab es aber stets ernsthafte Differenzen, wenn der Rat die ökonomischen Interessen der Rostocker handelskapitalistischen Oberschicht zu vertreten hatte. Das betraf vor allem das Handelsmonopol, das die Rostocker Kaufleute anstrebten. Sie führten sei jeher einen beharrlichen und ziemlich erfolglosen Kampf um die Behauptung des Marktzwanges und gegen die Klipphäfen. Im Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich wurden diese Fragen zugunsten der Ritterschaft entschieden. Immerhin mußte der Landesherr bei seiner Politik gegenüber der Stadt auf das Bündnis mit der Ritterschaft Rücksicht nehmen. Herzog Friedrich machte also, als er 1763 mit der Ernennung einer Lokaluntersuchungskommission zum Frontalangriff gegen den Rat überging, einen Landrat zum Vorsitzenden, um die Ritterschaft zu besänftigen. Alle Herzöge, die vor ihm im 18. Jh. die Regierung in MecklenburgSchwerin führten, hatten schon den Versuch unternommen, die Stadt zu unterwerfen; aber sie waren sämtlich erfolglos. Herzog Friedrich Wilhelm schloß 1702 einen Vertrag mit dem Rat, in dem er versprach, seine Residenz nach Rostock zu verlegen, um den Wohlstand der Stadt zu heben. Dafür bat er sich zu seinem größeren Vergnügen die Jagd in der Heide und zu seiner größeren Sicherheit das Mitbesatzungsrecht aus. Der Vertrag wurde jedoch nicht erfüllt, die Residenz blieb in Schwerin, und der Rat legte später großen Wert darauf, ihn zu annullieren.19 Friedrich Wilhelms Nachfolger und Bruder Carl Leopold ging 17
Stadtarchiv Rost., Erbverträge, Konvention 1748, Hauptaktenb, vol. XI,fasc. 4, ad Bl. 233. is Wick, P.) a. a. O.; Struck, W. H., Städtepolitik im Ständestaat, a. a. O. 19 Stadtarchiv Rost., Erbverträge, nr. 178, Acta betr. Vertrag mit Herzg. Friedrich Wilhelm 1702.
Der Rostocker Erbvertrag
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dann auf sehr drastische Art gegen den Rat vor. 20 Der letzte der drei Brüder und Herzöge, Christian Ludwig, versuchte durch die Konvention von 1748 mit geeigneteren Mitteln zum Erfolg zu gelangen, mußte aber bei diesem Erfolg rein finanziell draufzahlen, so daß die Konvention von den Zeitgenossen mehr für einen Sieg des Rates als des Herzogs angesehen wurde. 21 Die Einsetzung einer Lokaluntersuchungskommission war dagegen ein sehr energischer und zweckmäßiger Schritt. Der Herzog hatte damit die komplette Oberaufsicht über den Rat in der Hand. Die Kommission saß mehr als dreißig Jahre, von 1753—1785, in der Stadt, untersuchte die städtische Verfassung, die Verwaltung der Stadt- und Hospitalgüter sowie der Heide und ließ sogar die städtischen Rechnungen etlicher Jahre revidieren. Wir verdanken dieser Kommissionstätigkeit ein reiches, bisher in keiner Beziehung ausgewertetes Material über die Zustände der Stadt in der zweiten Hälfte des 18. Jh. Aber am Aufwand gemessen waren die Erfolge der Kommission gering. Als wichtigstes Ergebnis ist das 1770 dem Rat aufgezwungene neue Hundertmännerregulativ zu nennen. Der Rat vereitelte jede Maßnahme der Kommission, indem er an das Reichskammergericht appellierte und damit die Durchführung auf Jahre hinaus bis zum Urteilsspruch, oft sogar ganz, verhinderte. Es ist interessant,' daß die Reichsorgane, die gegenüber den bedeutenden Reichsständen wie Preußen völlig machtlos waren, für ein Territorium wie Mecklenburg noch beträchtliche Bedeutung und einen erheblichen Spielraum für direkte Eingriffe hatten. 22 Das äußerte sich während der ersten Hälfte des 18. Jh. besonders in der Absetzung des Herzogs und der Einsetzung der kaiserlichen Kommission. Mit der Beendigung dieser Konflikte hörte aber der Einfluß der Reichsorgane auf die mecklenburgischen Verhältnisse keineswegs auf. Durch die Einigung über den Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich kamen zwar Landesherr und Stände einem erneuten direkten Eingreifen zuvor, aber die Appellation an die Reichsgerichte, Reichskammergericht und Reichshofrat, stellte bis zum Zusammenbruch des Reiches die Spitze der landständischen Verfassung Mecklenburgs dar.23 Mit ihrer Hilfe konnten vor allem Ritterschaft und Rostocker Rat die Exekution aller landesherrlichen Maßnahmen verzögern und häufig verhindern, die gegen ihre Privilegien oder auch nur gegen ihre 20
Die Ereignisse und das Fiasko dieser Politik sind eingehend dargestellt von WICK, P., a. a. O. 21 Für die Vorgänge um die Konvention von 1748, die spätere landesherrliche Untersuchungskommission und den Erbvertrag von 1788 s. SCHULTZ, H., Die Krise der feudalen Ratsverfassung, dargestellt am Beispiel Rostocks 1748—1788. phil. Diss. Rostock 1969 (MS). 22 WICK, P., a. a. 0 . ; siehe auch FEINE, H.-E., Zur Verfassungsentwicklung des Heiligen Römischen Reiches nach dem Westfälischen Frieden, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, germanist. Abteiig., 52/1932, S. 65—104. 23 BÖHLAU, H . H . A., Mecklenburgisches Landrecht, Bd. 1, Weimar 1871, S. 171f.; HAGEMEISTER, E. F., a. a. O., §§ 183—188; BtrsiNG, 0., Das Staatsrecht der Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin undMecklenburg-Strelitz, in: Handbuch des öffentlichen Rechts, Bd. 3/2, 1884, S. 13f.
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Interessen gerichtet waren. Das Reichskammergericht war bei allen Streitfragen zwischen Rostock und dem Herzog die durch den Erbvertrag bestimmte erste Instanz. Der Landesherr versuchte nun, durch die Erlangung des Privilegium de non appellando illimitatum diese Spitze der landständischen Verfassung gewissermaßen abzubrechen. Er war diesem Ziel nahe, als im Teschener Frieden den mecklenburgischen Herzögen jenes Privilegium zugesprochen wurde. Die Rostocker Kommission richtete hierauf alle ihre Hoffnungen, endlich dem Teufelskreis der Appellationen zu entrinnen und zu echter Tätigkeit zu kommen. Aber die mecklenburgischen Stände, und daneben noch besonders die Seestadt Rostock, protestierten bei Kaiser und Reichstag. Sie erreichten tatsächlich 1781 ein entsprechendes Reichshofratsdekret. Den Herzögen wurde hiernach das Privilegium nur unter der Bedingung gewährt, daß sie eine Oberappellationsinstanz errichteten (was aber erst nach dem Zusammenbruch des Reiches geschah). Außerdem wurde der entscheidende Zusatz gemacht, daß die Appellation an die Reichsgerichte bei allen Streitigkeiten über den Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich und die Rostockschen Erbverträge gestattet bleiben sollte. 24 Bei so stabilisierten Machtverhältnissen blieb dem neuen Herzog Friedrich Franz nichts übrig, als mit dem Rat so oder so zum Ausgleich zu kommen. Der neue Erbvertrag 25 hatte den stattlichen Umfang von 300 Paragraphen. Der Rat mußte in ihm die Erbuntertänigkeit nochmals ausdrücklich anerkennen und sich von der Nettelbladtschen Historisch-diplomatischen Abhandlung distanzieren. Es wurde dem Herzog auch in einigen weniger wichtigen Punkten, wie der Kirchenhoheit, nachgegeben. Vor allem aber erklärte der Rat, künftig die Landeshoheit in dem Umfang anerkennen zu wollen, wie sie den Fürsten in den kaiserlichen Wahlkapitulationen und im Westfälischen Frieden gegeben war. Er gestand dem Herzog auch ausdrücklich das Oberaufsichtsrecht zu. Aber die Ausübung dieses Rechtes wurde auf den Mißbrauchsfall beschränkt und dem Rat die vorherige Rechtfertigung zugestanden. Außerdem sollte die Durchführung der vom Landesherrn gegen den Mißbrauch verordneten Maßnahmen allein in den Händen des Rates liegen. Da diesem obendrein noch die Appellation an die Reichsgerichte freistand, da das freie Stadtregiment im Erbvertrag ebenso wie alle anderen Privilegien des Rates voll garantiert wurde, sicherte dieser Vertrag also bei genauerem Hinsehen in erstaunlichem Maße den Status quo. Der Landesherr war im Grunde nicht wesentlich über den Zustand hinausgekommen, über den sich Herzog Friedrich 1763 so bitter beim Kaiser beklagt hatte: „ . . . gar keine Landeshoheit haben, oder eine solche haben, bei welcher in jedem besondern Fall, ehe es noch zur Erörterung und Entscheidung desselben kommt, durch vieljährige Prozesse ausgemacht werden muß, ob die Ausübung der Landeshoheit statt habe, oder nicht, sind nicht 24 25
Ebenda. Erbvertrag zwischen Herzog Friedrich Franz und der Stadt Rostock vom 13. Mai 1788, abgedruckt in: Sammlung der Rostockschen Gesetzgebung, hrsg. v. J. F. B L A N C K , a. a. 0., S. 50-112.
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weiter unterschieden, als daß diese verächtlicher ist, als ein gänzlicher Mangel . . ."26 Der Erb vertrag, der isoliert betrachtet als ein Kompromiß, als ein Erringen von Zugeständnissen durch den Landesherrn erscheinen könnte, ist am Ende des 18. Jh. ein einzig dastehender Sieg der längst historisch überlebten feudalen Ratsverfassung. Solch ein Sieg war nur im mecklenburgischen Ständestaat möglich. Der Rostocker Rat konnte seine große Machtvollkommenheit nur darum in eine Zeit hinüberretten, in der andere, ehemals sogar mächtigere Städte sie längst eingebüßt hatten, weil es in Mecklenburg nicht zur Herausbildung des territorialstaatlichen Absolutismus kam. Hatte die Machtvollkommenheit des Rates früher auf dem sicheren Fundament der wirtschaftlichen Blüte und des daraus resultierenden politischen Einflusses der Stadt geruht, so gründete sie sich jetzt auf die Schwäche des Landesherrn. Die im Erbvertrag noch einmal fixierten Privilegien der Stadt wurden folgerichtig mit der Reichseinigung von oben Stück für Stück hinfällig und annulliert. 27 Formal war der Vertrag noch bis zum Jahre 1918, bis zur Novemberrevolution, die Grundlage der Rostocker Verfassung. Mit dem Konflikt zwischen Landesherrn und Rat ist aber nur die eine Seite der Vorgeschichte des Rostocker Erbvertrages von 1788 berührt. Der tiefe Eingriff in die Rechte des Magistrats, die Errichtung einer langjährigen Oberaufsicht in der Stadt durch die Einsetzung einer Kommission waren dem Herzog nur möglich durch die Bewegung der Tausende. Die Tausende stellten im Prinzip einen Zusammenschluß aller Rostocker Bürger unterhalb der handelskapitalistischen Oberschicht dar. Ihren Kern und das bestimmende Element der Bewegung machten jedoch die Gewerker aus, die Angehörigen der Handwerksämter. Diese Einrichtung rührte mindestens aus dem 17., wenn nicht gar aus dem 16. Jh. her. Die Tausende waren eine Institution außerhalb der offiziellen Stadtverfassung. Offensichtlich gibt es zu ihnen in den anderen deutschen Städten keine Parallele. Schon der Name deutet auf den bewußten Gegensatz zu den Hundertmännern hin. Das Hundertmännerkollegium war in Rostock wie in zahlreichen anderen Hansestädten im Ergebnis der innerstädtischen Auseinandersetzungen des 16. Jh. entstanden. Es war sehr bald infolge der realen Machtverhältnisse zu einem Organ der handelskapitalistischen Oberschicht geworden, in dem die Stimmen und die Interessen der Masse der Rostocker Bürger kein Gewicht hatten. Der Zusammenschluß der Masse der Bürger als Tausende hatte von Anfang an einen deutlich gegen diese Oberschicht gerichteten Akzent. Die Tausende waren durch Prozesse entstanden, die im 16. und 17. Jh. die Gewerker im 2fi
Abgedruckt in: Vollständige Sammlung der in den gegenwärtigen Irrungen zwischen den Vier Gewerken . . . und Bürgermeister und Rat der Stadt Rostock . . . verhandelten Akten (im folgenden zitiert: Vollständige Sammlung), Bd. 1, Rostock 1764, S. 116. 27 ROTTKE, H.-J., Die Privilegien der Stadt Rostock 1788-1918, phil. Diss. Rostock 1 9 2 5 (MS).
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Namen aller einfachen Bürger gegen die Kaufleute und gegen den Rat führten und in denen sie das Recht des Eigenbrauens und des Eigenhandels für jeden Rostocker Bürger forderten. Und um die Wahrung dieser Rechte hatten sich die Tausende bis um die Mitte des 18. J h . ausschließlich gekümmert.28 1748 setzt jedoch in direktem Zusammenhang mit dem Angriff des Landesherrn auf die Privilegien des Rates eine starke Politisierung der Tausende ein. Eine führende Rolle spielt fortan der Advokat Dr. Weber. Zweifellos unter seinem Einfluß ist jetzt nicht mehr nur die Behauptung der ökonomischen Position der Gewerker, sondern der direkte Angriff auf die Ratsoligarchie und die feudale Ratsverfassung Inhalt der Bewegung. Die Tausende bringen, anfangs ermuntert von der landesherrlichen Seite, massive Angriffe und Beschwerden gegen den Rat vor. Sie fordern seine Absetzung und die Einsetzung einer Untersuchungskommission. Doch nachdem sie mit recht turbulenten Aktionen den Rat in nachhaltigen Schrecken versetzt und zum Abschluß der neuen Konvention mit dem Herzog gezwungen hatten, waren sie nicht mehr von Interesse für die landesherrliche Politik. Sie wandten sich auch nach 1748 mehrfach mit bitteren Klagen über die ökonomische und politische Vormachtstellung der Kaufleute und über das selbstherrliche und willkürliche Stadtregiment des Rates an den Herzog. Die Gewerker forderten entsprechend ihren in den älteren Erbverträgen verankerten Rechten 29 die Eröffnung des Recurses und die Untersuchung ihrer Beschwerden, aber der Herzog wies sie immer wieder ab. 1763 hatte dann das Zerwürfnis zwischen Landesherr und Rat einen solchen Grad erreicht, daß man stärkste Mittel einzusetzen bereit war. Der Herzog nahm den Recurs der Gewerker gegen den Rat an. Er machte sich damit zum Richter in den innerstädtischen Auseinandersetzungen und konnte mit der landesherrlichen Untersuchungskommission den Rat über lange Zeit unter massiven Druck setzen.30 Es ist auf den ersten Blick eine überraschende Tatsache, daß sich der Herzog in seinem Machtkampf mit dem Rostocker Rat auf eine kräftige innerstädtische Volksbewegung stützen und sie für seine Zwecke ausnutzen konnte. Es handelt sich hierbei aber um eine in jeder Beziehung überlokale Erscheinung. Und erst durch den Blick auf die allgemeine Verbreitung dieser Erscheinung gewinnt die Rostocker Gewerkerbewegung ihre volle Bedeutung; erst unter diesem Aspekt wird es gänzlich unmöglich, sie auf die Initiative eines rachsüchtigen oder geldgierigen Advokaten zurückzuführen, wie es der Rat immer wieder versucht hat. Die Volksbewegungen sind in den deutschen Städten seit dem Ende des 16. J h . oder des Dreißigjährigen Krieges nicht zur Ruhe gekommen. Das weist 28 Stadtarchiv Rost., Bep. 1006/1, Konvention 1748A, Hauptakten b, vol. VIII, fasc. 6, Bl. 146: Gewettsprotokoll über das Verhör der Deputierten der Tausende am 30. Juli 1748. 29 Im Erbvertrag von 1573 („Trügen sich aber . . .") war der sogenannte Rostocksche Recurs als ein besonderes Vorrecht der Rostocker Bürger festgelegt, sich bei Beschwerden gegen den Rat unter Umgehung der höchsten Landesgerichte direkt an den Herzog wenden zu dürfen. 3 0 Siehe oben Anm. 21.
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eine inzwischen recht zahlreiche Literatur aus.31 Sie dauerten während der ganzen spätfeudalen Periode, solange die feudale Ratsverfassung in den Städten herrschte, mit unverminderter Heftigkeit an. J a es scheint sogar in der zweiten Hälfte des 18. Jh., als sich alle Widersprüche infolge der allgemeinen Krise des Feudalismus verschärften, zu einer besonderen Häufung solcher innerstädtischen Konflikte gekommen zu sein. Charakteristisch für diese Konflikte ist es, daß sie überwiegend in Form von Bürgerprozessen ausgetragen wurden. J . J . Moser berichtet schon 1772, daß 30 von 52 Reichsstädten solche Bürgerprozesse vor den Reichsgerichten erlebt hätten.32 In eine Reihe mit diesen sind beispielsweise auch die Bewegung der Tausende in Rostock, die zeitlich parallele Gewerkerbewegung in Stralsund33 und die gleichzeitigen heftigen Unruhen in Wismar34 zu stellen. Die Prozeßform, also der Appell an die überlokale feudale Staatsgewalt, ist kennzeichnend für die Unreife dieser Bewegungen. Sie waren überwiegend von Handwerkern getragen, und es standen darum neben politischen Forderungen, die gegen die feudale Ratsverfassung gerichtet waren, zünftierisch beschränkte ökonomische Zielsetzungen. Am besten wird diesen Bewegungen das Urteil von Heinrich Scheel gerecht, zu dem er nach der Analyse von Ereignissen in einigen süddeutschen Reichsstädten nach 1789 kommt: „Bei aller Beschränktheit in ihren Möglichkeiten und Zielen, die nicht selten reaktionär zünftlerischen Charakter trugen, wirkten diese Unruhen fortschrittlich, indem sie die bestehende Feudalordnung erschüttern halfen." 35 31
Zusammenfassend über die Volksbewegungen in norddeutschen Städten in der ersten Hälfte des 17. Jh.: LANGER, H., Wirtschaft und Politik in Stralsund von 1600-1630, phil. Diss. Greifswald 1964 (MS). - Für die Periode von 1648-1789: MAUERSBERG, H., Wirtschafts- und Sozialgeschichte zentraleuropäischer Städte in neuerer Zeit, Göttingen 1960,
S. 1 1 3 — 1 2 8 ; BRUNNER, O., S o u v e r ä n i t ä t s p r o b l e m u n d S o z i a l s t r u k t u r in
den
deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 5 0 / 1 9 6 3 ; ASCH, J . , R a t u n d B ü r g e r s c h a f t i n L ü b e c k
1598—1669,
Lübeck 1961; REICHE, K., Verfassungsstreitigkeiten in der Stadt Stralsund 1764—1771, phil. Diss. Greifswald 1922 (MS); QTJERFURTH, H. J., Die Unterwerfung der Stadt Braunschweig, a. a. O.; WEINGÄRTNER, G., Zur Geschichte der Kölner Zunftunruhen am Ende des 18. Jh. Geschichte der bürgerlichen Deputatschaft, phil. Diss. Münster 1913; GOLDMANN, S., Danziger Verfassungskämpfe unter polnischer Herrschaft, Leipzig 1901 (Leipziger Studien auf dem Gebiet der Geschichte, Bd. 7, Heft 2); STREECK, S., Verfassung und Verwaltung der Stadt Halle in der Zeit von 1478—1807, Diss. HalleWittenberg 1953 (MS); GÄNSSLEN, G., Die Ratsadvokaten und Ratskonsulenten der Freien Reichsstadt Ulm, insbesondere ihr Wirken in den Bürgerprozessen am Ende des 18. Jh., Diss. Tübingen 1956 (MS); SCHMOLZ, H., Die Reichsstadt Eßlingen am Ende des Alten Reiches, Diss. Tübingen 1953 (MS). 32 MOSER, J. J., Von der Reichsstädtischen Regimentsverfassung, Frankfurt und Leipzig 1 7 7 2 , S. 293. 34 35
33
REICHE, K . , a. a. O.
TECHEN, F., Geschichte der Seestadt Wismar, Wismar 1929, S. 187ff. und 266FF. SCHEEL, H., Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden am Ende des 18. Jh., Berlin 1962, S. 61.
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Die Ursachen dieser Bewegungen können hier nur gestreift werden. Die primären ökonomischen und sozialen sind in den Grundproblemen der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus zu suchen. H. Krüger weist auf den starken Differenzierungsprozeß im Handwerk gerade während der zweiten Hälfte des 18. Jh. und auf die massenweise Verelendung der kleinen Produzenten hin. Leider liegen für die Städte in dieser Periode kaum soeialökonomische Untersuchungen vor.36 In Rostock, das zweifellos nicht typisch ist, da hier die ManufakturentWicklung völlig fehlte, lebten jedenfalls nach einer von mir vorgenommenen Analyse der Billettgeldregister und Bürgerbücher im Jahre 1769 rund zwei Drittel der Einwohner am oder unter dem Existenzminimum.37 Das Handelskapital spielte in dem Verelendungsprozeß der Kleinproduzenten eine wichtige Rolle. In engem Zusammenhang mit den ökonomischen und sozialen Widersprüchen standen die politischen Konflikte in den Städten. Die Kaufleute bildeten die Spitze der städtischen Gesellschaftspyramide wie eh und je. In ihren Händen konzentrierte sich die ökonomische Macht und daher auch der politische Einfluß. Sie bildeten gemeinsam mit akademisch gebildeten Juristen, die häufig Kaufmannsfamilien entstammten, die Oberschicht der Städte. Diese dünne Schicht allein war in den Städten lübischen Rechts ratsfähig; sie beherrschte auch die Bürgerausschüsse. Im Interesse dieser handelskapitalistischen Oberschicht übte der Rat die Macht aus. Zwischen den Kaufleuten einerseits sowie den Lohnarbeitern, die ja in den meisten norddeutschen Städten Bürger waren, und den Handwerkern andererseits bestand eine tiefe soziale Kluft. Es war also nicht der Gegensatz Rat—Bürgerschaft in den Städten dominierend, sondern der Riß ging mitten durch die Bürgerschaft. Die Bürgergemeinde ist spätestens in dieser Zeit eine Illusion geworden. Die Ratsoligarchien übten die Herrschaft über die Masse der städtischen Bürger und Einwohner, die Handwerker und Lohnarbeiter, mittels eines reichen Instrumentariums staatlicher Zwangsmittel aus. Die Grundlagen der außenpolitischen Autonomie der Räte hatten ihre innenpolitische (oder sagen wir hier innerstädtische) Kehrseite. Die Herrschaft der Ratsoligarchien trug dementsprechend zahlreiche Züge feudaler Herrschaft. Das Verhältnis von Rat und Handwerker oder Arbeitsmann war ein echtes Obrigkeit-Untertanen-Verhältnis. Der Anspruch der Rostocker Tausende, sie seien die Auftraggeber des Rates und der Rat nur ihr Mandatarius oder gar nur der Administrator des Willens 36
37
Die in Anm. 31 genannten Arbeiten sind mit Ausnahme der von Langer verfassungsgeschichtlich orientiert und vernachlässigen diesen Aspekt fast ganz. Zur sozialökonomischen Struktur deutscher Städte in der Periode von 1648—1789 sind zu nennen: FISCHER, E., Magdeburg zwischen Spätabsolutismus und bürgerlicher Revolution, a. a. O. (siehe Anm. 14); NEUSS, E., Entstehung und Entwicklung der Klasse der besitzlosen Lohnarbeiter in Halle, Berlin 1958; KRAUS, A., Die Unterschichten Hamburgs in der ersten Hälfte des 19. Jh., Stuttgart 1965; ENNEN, E., Grundzüge der Entwicklung einer rheinischen Residenzstadt, a. a. O. (siehe Anm. 14); HEIDEMANN, H., Bevölkerungszahl und berufliche Gliederung Münsters i. W. am Ende des 17. Jh., phil. Diss. Münster 1917. Für die Beweisführung verweise ich auf meine Dissertation; siehe Anm. 21.
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der Bürger, stellt dementsprechend einen grundsätzlichen Angriff auf die bestehenden Verhältnisse dar. Der Rat weist sie denn auch mit überlegener Ignoranz zurück: die Handwerker hätten nicht das geringste Recht, sich zu versammeln, über Stadtangelegenheiten zu beraten und darüber Prozesse zu führen. Da der Magistrat nicht mit ihnen zu Rathaus gehe, könne er auch keine Irrungen mit ihnen haben.38 Die starken politischen Spannungen, die ohnehin durch die obrigkeitliche Stellung des Rates gegeben waren, wurden durch Willkür und zahlreiche Mißbräuche der Gewalt noch verschärft. Es ist darum nur zu erklärlich, daß die unterdrückten städtischen Schichten die allerdings ganz irreale Hoffnung hegten, unter landesherrlicher Herrschaft geringerem Steuerdruck ausgesetzt zu sein, eine gerechtere Justiz und allgemein weniger Willkür zu finden. Die Fürsten hatten somit in den Klagen der Bürger einen glänzenden Vorwand für die Aufrichtung ihres absoluten Regiments. Geradezu zum Prinzip gemacht wurde dieses Verfahren in BrandenburgPreußen.39 Der Kurfürst Friedrich Wilhelm nutzte nicht nur die kräftigen Oppositionsbewegungen in den großen Städten Halle, Königsberg und Frankfurt/Oder zur straffen Unterstellung der Magistrate; auch die Rathäuslichen Reglements kleinerer Städte waren durchweg das Ergebnis kommissarischer Untersuchungen, die auf Klagen der Bürger über Mängel im Ratsregiment angeordnet wurden. Bei der Einführung der Akzise in Kursachsen ging man den gleichen Weg.40 Dieses „Bündnis" zwischen den zum Absolutismus strebenden Territorialgewalten und der städtischen Opposition zeigt sich auch bei der Unterwerfung Braunschweigs41; es zeigt sich in der Stralsunder Gewerkerbewegung42 und wurde auch in Wismar von den schwedischen Behörden praktiziert.43 Es hat dazu geführt, daß die bürgerliche Forschung44 die Städtepolitik des deutschen territorialstaatlichen Absolutismus als eine ausgesprochen demokratische, bürgerfreundliche charakterisiert hat. Das entspricht jedoch nicht den Tatsachen. Schon Preuß hat sich in seiner Abhandlung über die Entwicklung des deutschen Städtewesens entschieden gegen eine solche Verfälschung besonders der preußischen Politik gewandt. Von Seiten der Fürsten war es ein reines Zweckbündnis. Nach dem Sieg über die Ratsoligarchien ist keine Beteiligung der unteren bürgerlichen Schichten am Stadtregiment eingeführt worden, 38
39
Schreiben des Rates an den Herzog, abgedruckt in: Vollständige Sammlung, Bd. 1 a. a. O., S. 70 ff. Eine detaillierte Darstellung dieses Verfahrens gibt schon SCHMOLLER, G., a. a. 0 . ,
S. 263 ff.
40 WIJTTKE, B., Die Einführung der Land-Akzise, a. a. 0 . 41
QUERFURTH, H . J . , a . a. O.
42
REICHE, K . , a. a. O.
43
TECHEN, F . , a. a. O.
44
MAURER, G. L. V., Geschichte der Städteverfassung in Deutsehland, Bd. 4, Erlangen 1 8 7 1 , S. 2 3 5 ; SCHMOLLER, G . , a. a. 0 . ; STEINBACH, F./BECKER, E . , a . a . O.
16 Neue Hansische Studien
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sondern die Früchte des Sieges sind einseitig dem Fürstentum zugute gekommen. Die neu eingesetzten Magistrate waren so wenig wie die früheren Organe der Bürgerschaft, sie waren Unterbeamte des Staates. 45 Diese allgemeine Tendenz bestimmte auch das Schicksal der Rostocker Gewerkerbewegung. Sie wurde letzten Endes im Machtkampf zwischen Herzog und Rat zerrieben. Die Forderungen und Beschwerden der Tausende waren auf einen Abbau der ökonomischen, sozialen und politischen Widersprüche in der Stadt gerichtet, vor allem der zwischen den Gewerkern und der städtischen Oberschicht.46 Unter den gegebenen Machtverhältnissen in der Stadt waren die Aussichten, dieses Ziel zu erreichen, gering. Vor allem mußte sich das Hauptmittel der Gewerker in diesem Kampf, der Recurs an den Landesherrn, als untauglich erweisen. Letztlich hatten Rat und Landesherr ja gemeinsame obrigkeitliche Interessen. Die Gewerker errangen allerdings einen einzigen wesentlichen Erfolg: das schon erwähnte neue Hundertmännerregulativ von 1770. Mit diesem setzten sie es durch, daß das Hundertmännerkollegium nicht mehr einseitig eine Interessenvertretung der Kaufleute blieb. Sie erreichten die zahlenmäßige Parität von Handwerkern und Kaufleuten in diesem Kollegium und die Einrichtung eines separaten Handwerkerquartiers. Bisher gab es nur gemischte Quartiere, in denen die Handwerker regelmäßig überstimmt werden konnten. Die Deputierten der Gewerker im Kollegium wurden fortan von den Handwerkerämtern selbst gewählt. Das war unter den Bedingungen des 18. J h . ein bemerkenswerter Erfolg. In Territorien mit stärkerer landesherrlicher Position waren so weitgehende Zugeständnisse an die unteren bürgerlichen Schichten überflüssig. Schließlich jedoch gelang die Niederschlagung der Bewegung, eine Vorbedingung für den ungestörten Verlauf der Schlußverhandlungen zum Erbvertrag. Zu diesem Zweck wurde der Führer der Gewerker, Advokat Dr. Weber, in völligem Einvernehmen von Landesherrn und Rat hinwegintrigiert. Dr. Weber war 37 Jahre lang, von 1748 bis 1785, der Sachwalter der Tausende. Er hat praktisch sein ganzes Leben dem Kampf gegen die Allmacht des Rates und der Kaufleute in der Stadt und der Verteidigung der Interessen der unterdrückten Schichten gewidmet. Seine Zielbewußtheit und Hartnäckigkeit, seine Prinzipienfestigkeit haben zweifellos viel zu der Kontinuität und relativ großen Stabilität der Bewegung beigetragen. Nachdem er ausgeschaltet war, konnten sich Landesherr und Rat über den Erb vertrag einigen, ohne auf die Interessen der Gewerker irgendwelche Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil: es wurden in den Vertrag die härtesten Strafandrohungen gegen diejenigen gebracht, die sich etwa künftig noch einmal unterstehen sollten, einen die Stadtverfassung zerrüttenden Prozeß anzustrengen. 45
ZIEKURSCH, J . , a. a. O., S. 74—76 und 106; RHODE, P., Königsbergs Stadtverwaltung
einst und jetzt, Königsberg 1908, S. 100; STREECK, S., a. a. O., S. 110f.; QUERFURTH, H . J . , a . a . O., S. 2 7 4 - 2 7 7 .
46 Die 42 Gravamina der Tausende sind abgedruckt in: Vollständige Sammlung, Bd. 1, a. a. O.
Der Rostocker Erbvertrag 1788
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Die Gewerkerbewegung hat ihr wichtigstes Ziel, den Umsturz der feudalen Ratsverfassung und die Errichtung eines wirklich demokratischen Stadtregiments unter Teilnahme aller Bürger, nicht erreichen können. Dies war unter den bestehenden Verhältnissen utopisch, konnte doch selbst die formale bürgerliche Demokratie in der Rostocker Stadtverfassung erst nach der Beseitigung des mecklenburgischen Ständestaates im Ergebnis der Novemberrevolution verwirklicht werden. Dennoch gehört diese antifeudale demokratische Volksbewegung zu den progressiven Traditionen der Rostocker Geschichte.
16»
ZU DEN URSACHEN FÜR DAS EINDRINGEN DER HOLLÄNDER IN DAS HANSISCHE ZWISCHENHANDELSMONOPOL IM 15. JAHRHUNDERT von Klaus Spading
Nach den bedeutenden historischen Leistungen der Hanse im 13. und 14. Jh. sind vom beginnenden 15. Jh. an Erscheinungen der Stagnation und eine zunehmende Anfälligkeit des hansischen Handels nicht zu übersehen. Seit dem letzten Viertel des 15. Jh. treten sie so deutlich zutage, daß vom Beginn der Niedergangsphase dieser Vereinigung gesprochen werden muß, obwohl es ihr auch jetzt noch mehrfach gelingt, ihre politische Macht den Gegnern gegenüber zu dokumentieren. Sucht man nach Gründen für diese Entwicklung, stößt man auf eine ganze Reihe von Faktoren. Unter diesen sind jedoch das Auftreten der großen Konkurrenten wie der englischen und holländischen Kaufleute und deren Vordringen in das von der Hanse bisher vollkommen beherrschte Wirtschaftsgebiet von hervorragender Bedeutung. Insbesondere die Holländer überflügelten seit dem Ende des 15. Jh. die Hansen Schritt um Schritt, und ihr Vordringen trug wesentlich zum Zerfall des Zwischenhandelsmonopols der wendischen Städte bei. Eine umfassende Behandlung dieses für unsere Nationalgeschichte wie für die gesellschaftliche Entwicklung in Europa bedeutenden Prozesses erfordert noch eingehende Einzeluntersuchungen; dennoch soll im folgenden auf einige Aspekte vorwiegend im Bereich von Handel und Frachtfahrt aufmerksam gemacht werden. Der Handel war das bestimmende Element im wirtschaftlichen Leben Hollands. Seine Förderung zur Erzielung des größtmöglichen Handelsprofits bildete die Grundlage für fast alle wesentlichen Maßnahmen der Wirtschaftspolitik, die die Kaufleute, die Magistrate der Städte und die Regierung beschlossen und durchsetzten. Es gab nur wenige größere politische Aktionen, in denen die Belange von Handel und Verkehr die Entscheidung nicht maßgeblich beeinflußt hätten. Und wo man diesen Gesichtspunkt unterschätzte, trat bald Stagnation und Rückgang an die Stelle von „welvaart" und Konjunktur. Auf den ersten Blick unterschieden sich Handel und Verkehr der Holländer in ihrem Charakter kaum von dem der wendischen Städte, von einzelnen unterschiedlichen Handelsrichtungen abgesehen. Alle Formen und Erscheinungen, wie sie den Handel der wendischen Städte charakterisierten, kennzeichneten im
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15. Jh. auch, teils gleichzeitig, teils im zeitlichen Nacheinander, Handel und Verkehr der Holländer. Handelsverträge, Geleitszusicherungen oder Privilegien, das Vorgehen bei Schuldeneintreibungen, bei Arrestierungen oder die Anwendung betrügerischer Mittel unterschieden sich kaum, häufig nicht einmal im Wortlaut des Schriftverkehrs, voneinander. In der zweiten Hälfte des 15. Jh. trieben die Holländer aktiv wie passiv Handel und kannten sich wie die Hansekaufleute in dem üblichen Handelsgebaren aus. Doch obwohl sich die Kaufleute aus den wendischen Städten auf die Erfahrungen einer weitaus längeren und intensiveren Handelspraxis stützen konnten, wird allgemein für das 16. Jh. eine Überlegenheit der Holländer auf wichtigen ursprünglich hansischen Handelslinien festgestellt. Was im 16. Jh. mit Sicherheit konstatiert werden kann, war das Ergebnis eines Prozesses, der in der zweiten Hälfte des 15. Jh. schon wesentliche Züge der späteren Entwicklung erkennen läßt. Die Ursachen hierfür werden teils in sehr allgemeinen Kriterien, wie der unbedingten Ordnung und Zuverlässigkeit im Geschäftsbetrieb, der größeren Energie und ähnlichem, in der Regel aber im Bereich der Frachtfahrt gesucht, weil sich dort einige greifbare Punkte anzubieten scheinen. Zunächst sind es auch hier die prompte Erledigung der Aufträge, größere Schiffe und damit zusammenhängende niedrigere Frachtsätze, die in vielen Darstellungen wiederkehren.1 Nun mag die holländische Frachtfahrt ihre Rentabilität im 16. Jh. auch durch den Einsatz größerer Schiffe gesichert haben. In der zweiten Hälfte des 15. Jh., in den Jahrzehnten also, in denen sie sich gegenüber der wendischen Konkurrenz durchzusetzen begann, kann der Beweis hierfür kaum geführt werden. Umfassende genaue Unterlagen für die exakte Berechnung der Durchschnittsgroße der Schiffe von den verschiedenen Handelsflotten fehlen. Dennoch kann eine Schätzung, gespeist aus den verschiedensten Quellen, einen Vergleich von relativ hohem Wahrscheinlichkeitswert ermöglichen. Für die zweite Hälfte des 15. Jh. schätzt Vogel die mittlere Tragfähigkeit eines Schiffes der hansischen Baienflotte auf etwa 100 Last. Da in diesen Flotten auch kleinere Baiensalzschiffe segelten, glaubt er eine durchschnittliche Größe aller den Sund passierenden Salzschiffe von 75 Last annehmen zu können.2 Die Größe der preußischen Baiensalzschiffe setzt er etwas höher an.3 Diese Größenordnungen werden auch durch die Angaben der Schadenersatzlisten bestätigt, die die Danziger Kaufleute nach dem Raub ihrer Baiensalzschiffe im Jahre 1438 auf der Trade den Holländern zustellten. Von 22 Hulken, V o l l b e h r , F., Die Holländer und die deutsche Hanse, Lübeck 1930, S. 24 (Pfingstblätter des Hansischen Geschichtsvereins 21); D o l l i n g e r , Ph., Die Hanse, Stuttgart 1966, S. 256; auch K u u s c h e b , J., Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, 2. Aufl., Bd. 2, Berlin 1958, S. 256. 2 V o g e l , W., Zur Größe der europäischen Handelsflotten im 15., 16. und 17. Jh., in: Festschrift für D. Schäfer, Jena 1915, S. 272 f. 3 Ebenda. 1
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die in der Aufstellung aufgeführt werden, war keine von einer Größe unter 50 Last; drei Schiffe hatten einen Schiffsraum von 50 bis 100 Last, fünfzehn einen Schiffsraum von 100 bis 150 Last, vier einen Schiffsraum von 150 bis 200 Last. 4 Das kleinste Schiff hatte 63, das größte 189 Last Salz geladen. Die Durchschnittsgröße betrug etwa 127 Last. Die Schiffe segelten mit einer Besatzung von insgesamt 760 Mann, hatten also mit einem Besatzungsmitglied auf 3,7 Last Ladung noch relativ viel Schiffsvolk an Bord.5 Die die Durchschnittsgröße der übrigen hansischen Baienfahrer um fast ein Drittel übersteigenden Baienschiffe der Flotte von 1438 aus Preußen und Livland waren keine Einzelerscheinungen. Wie aus einer Baukostenaufstellung der Jahre 1402-1416 für Schiffe des deutschen Ordens hervorgeht, hatten 22 Hulke und Koggen — Kreier und Schuten wurden bei der Berechnung ausgenommen — eine durchschnittliche Größe von etwa 128 Last.6 Mit 90 Last waren nur zwei Schiffe kleiner als 100 Last; sechzehn Schiffe waren 100—149, drei Schiffe 150 und ein Schiff 200 Last groß.7 Die von den wendischen Städten in der Bergenfahrt eingesetzten Fahrzeuge sollen nach Bruns etwa 40 Last 8 getragen und die Schiffe, die nach Island fuhren, eine Größe von 60 Last gehabt haben.9 Es gibt für das 15. Jh. keine Untersuchungen und auch keine ausdrücklichen Hinweise, die eine höhere durchschnittliche Tragfähigkeit der holländischen Handelsschiffe bestätigten. Für die holländische Ost -Westfahrt nimmt Vogel eine mittlere Schiffsgröße von 75 Last an.10 Nach einer Schadenliste aus dem Jahre 1510/1511 berechnet er bei 42 holländischen Kauffahrern eine Durchschnittsgröße von 100 Last.11 Einem Verzeichnis der Stadt Enkhuizen aus dem Jahre 1473 zufolge wird die Größe der Handelsschiffe dieser Stadt mit 60 Last angegeben; die gleiche Durchschnittsgröße meldete die „Enqueste" von 1514 für die Schiffe der waterländischen Dörfer.12 4
Bronnen tot de geschiedenis van den Oostzeehandel, I. d. 1122—1499, 1. u. 2. st., hrsg. v. H. A . POELMAN (im folgenden z i t i e r t : POELMAN, H. A . , B r o n n e n ) , 's-Gravenhage 1 9 1 7 ,
nr. 2205. Da diese und die folgenden Angaben auf der Grundlage der Salzladung berechnet wurden, kann die wirkliche Tragfähigkeit der Schiffe noch größer gewesen sein. Unter Schiffslast sind hier 2 Tonnen im Gewicht von annähernd 1000 kg zu verstehen. 5 Um die Mitte des 16. Jh. rechnete man pro Mann der Schiffsbesatzung 5, auf holländischen Schiffen schon etwa 7 Last. Siehe hierzu VOGEL, W., a. a. O., S. 306. 6 Berechnet nach VOGEL, W., Geschichte der deutschen Seeschiffahrt, Bd. 1, Berlin 1915, S. 420, Tabelle 2. 7 Ebenda. 8 BRUNS, F., Die Lübecker Bergenfahrer und ihre Chronistik (Hansische Geschichtsquellen, N. F., Bd. 2), Berlin 1900, S. 30f. und 91 f. Vogel hält diese Schätzung für zu hoch. 9 BAASCH, E., Die Islandfahrt der Deutschen, namentlich der Hamburger, vom 15. bis 17. Jh., Hamburg 1889, S. 101. 10 VOGEL, W., Zur Größe der europäischen Handelsflotten, a. a. O., S. 303. 11 Ebenda; vgl. auch Hanserecesse, 3. Abt., Bd. 9, München und Leipzig 1913, nr. 363. 12 VOGEL, W., Zur Größe der europäischen Handelsflotten, a. a. O., S. 305.
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75 Last für die größeren Kauffahrer und 30 Last für die Boyer und Büsen als mittlerer Wert für die Tragfähigkeit der Schiffe stellen eine untere Grenze dar, die den realen Verhältnissen sicher sehr nahe kam. Bei der Einstufung der Schiffe für die Zahlung eines Pfundgeldes durch die Räte des Herzogs von Burgund wurden 1477 folgende Größengruppen festgelegt: Schiffe bis zu 60 Last, von 60 bis 100 Last, von 100 bis 150 Last und über 150 Last. Bei der erneuten Vorlage im Jahre 1479 gab es eine Gruppe von 100 bis 200 Last und eine bis zu 250 Last. 13 Sicher hat es vereinzelt schon Koggen oder Hulke von 200 Last und vielleicht sogar mehr im Frachtverkehr gegeben. Rentabilitätsbestimmend für die gesamte holländische Handelsflotte können sie kaum gewirkt haben. Diese Größenangaben decken sich auch mit den Untersuchungen anderer holländischer Historiker. De Jonge weist nach, daß die Schiffe, welche für den Schutz von holländischen Handelsflotten eingesetzt wurden, in der 2. Hälfte des 15. J h . 80, 90 und 100 Last groß waren. Erst von der ersten Hälfte des 16. J h . an nahm ihre Größe merklich zu und erreichte 150, 200 und 250 Last. 14 Mollema schließt sich dieser Auffassung an. 15 Die Anzahl der Besatzungsmitglieder von den 1475 durch die Franzosen aufgebrachten siebzig bis achtzig holländischen Schiffen, über deren Größe keine Weiteren Angaben zu ermitteln waren, gibt er mit 25 an. 16 Die nach Danzig segelnden Schiffe konnten aber noch bedeutend kleiner sein. 1456 hatten ein Ewer und ein Kreier aus Hoorn, deren Schiffer in Danzig Geschäfte betrieben, nur 7 beziehungsweise 9 Mann Besatzung.17 Schiffskäufe in anderen Städten, der Bau von Schiffen für holländische Rechnung (wie in Danzig) 18 , gemeinsamer Partenbesitz und anderes mehr haben sicher ausgleichend gewirkt. Außer Zweifel aber steht, daß die Frachtfahrt bei der Suche nach den Ursachen in den Vordergrund der Betrachtungen gerückt werden muß — nicht nur, weil sie wesentlich zur Entwicklung und zum Erfolg des holländischen Handels beitrug, sondern weil sie als eine der wichtigsten Stützen beim wirtschaftlichen Vorstoß der Holländer in die Ostsee zu werten ist. Ihren Ausgang nahm die Frachtfahrt von der Binnenschiffahrt, welche, bedingt durch die zahlreichen Wasserläufe, seit den frühesten Zeiten bei wachsendem Warenverkehr eine wirtschaftliche Notwendigkeit darstellte. Gefördert durch die geographische Lage des Landes als Durchgangsgebiet für den wichi 3
14
15
POSTUMUS, N. W., De Oosterse handel te Amsterdam, Leiden 1953, S. 102f.;vgl. auch PO ELM AN, H. A., Bronnen, nr. 1857. JONOE, I. C. DE, Geschiedenis van het nederlandsche zeewesen, 1. und 2. Teil, 's-Gravenhage 1833/1845, 2. Teil, 1. St., S. 88. MOLLEMA, J . C., Geschiedenis van Nederland ter zee, Amsterdam 1939/1942, Bd. 1, S. 1 0 1 .
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Siehe hierzu auch Hansisches Urkundenbuch, Bd. 10, bearb. v. W. STEIN, Leipzig 1907, nr. 402. Hansisches UB., Bd. 8, bearb. v. W. STEIN, Leipzig 1899, nr. 487. POELMAN, H. A., Bronnen, nr.1853; Hansisches UB., Bd. 8, a. a. O., nr., 225 und nr. 233.
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tigen Ost-West-Handelsverkehr wie für den in nord-südlicher Richtung, wuchs sie bald über ihren Wirkungsbereich als Vermittlerin des noch unbedeutenden Warenaustausches unter den holländischen Städten und Landgebieten hinaus und übernahm ihre wichtige Funktion im Durchgangshandel der Grafschaften Holland, Seeland und Westfriesland. Die holländischen Binnenlandfahrer transportierten Güter der spanischen und portugiesischen Kaufleute (wie Südweine, Früchte, Eisen, Alaun, Wolle und Waid) von deren Niederlassung in Middelburg in alle Gebiete der Niederlande, ebenso wie die Fracht der englischen Kaufleute. Von Dordrecht holten sie für die nordholländischen Städte Waren, die aus dem Rheinland, aus Jülich, Berg oder Köln, kamen. In großer Menge wurden auf diesen Wasserwegen die Güter des Ost-West-Verkehrs von holländischen Binnenschiffern verfrachtet. 19 Den Aufschwung der Binnenlandfahrt spiegeln neben einer steigenden Zahl von Rheinschiffen, Schuten und Kähnen auch qualitative Veränderungen in der Organisation des Verkehrs wider. Im 15. Jh. noch in bescheidenem Maße, im 16. Jh. dann ausgeprägt entwickelte sich ein Linienverkehr moderner Form, die Beurtschiffahrt. Hierbei handelte es sich um einen Liniendienst mit regelmäßigen Fahrten ohne Rücksicht auf das Ladungsangebot. Von Amsterdam gingen im 16. Jh. solche „beurtveeren" nach Dordrecht, Antwerpen, Seeland, Gent, Brüssel, Deventer, Middelburg, Arnheim, Hoorn, Enkhuizen und Utrecht. 20 Die wirtschaftliche und handelspolitische Bedeutung derartiger stabiler Verkehrsverbindungen war groß. Schon früh, im 13. Jh., dehnten holländische Frachtfahrer ihre Fahrten auf das Küstengebiet aus, lösten sich auch von der Küste und wandten sich im 14. Jh. den bekannten Verkehrsrichtungen über See zu, in welchen sie sich im 15. Jh. gegenüber starken Konkurrenten behaupten mußten. Die Bedeutung der holländische Schiffahrt geht weit über den Transport der ständig wachsenden Warenmengen hinaus. Auf die wechselseitig anregenden Beziehungen zu anderen Wirtschaftszweigen, wie etwa dem Heringsfang oder dem Schiffbau, kann in diesem Rahmen nur hingewiesen werden. Mit der Schiffahrt der Holländer, deren Kern die Flotte der großen Kauffahrerschiffe bildete, entwickelte sich eine ausschlaggebende Kraft für die später überragende ökonomische, politische und militärische Stellung ihres Landes in Europa. Im 15. Jh. müssen jedoch noch einige andere Momente auf dem Gebiet der Frachtfahrt berücksichtigt werden. Mit der Produktion und dem Handel von Massengütern wurde die Frage des Transports, die bei dem mengenmäßig geringen Handel mit Luxusgütern für eine nur kleine Schicht der herrschenden 19
20
KEINER, F., Handel en scheepvaart van Amsterdam in de vijftiende eeuw, Leiden 1946 S. 1 9 1 ff. BAASCH, E., Holländische Wirtschaftsgeschichte, J e n a 1927, S. 171. Diese Schiffe, in der Regel Schuten und Kähne, die sich von Pferden gezogen oder in der Zuidersee und im Wattenmeer durch Segelkraft fortbewegten, transportierten sowohl Güter als auch Personen.
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Klasse von untergeordnetem Belang gewesen war, zu einem Problem von vordringlicher Wichtigkeit. Der kostspielige Transportweg konnte den Handelsprofit empfindlich schmälern. Der Seetransport setzte zu diesen Zeiten nicht nur vielfältige technische Perfektion voraus, sondern er war etwa bis zur industriellen Revolution auch die schnellste und zugleich billigste Art der Warenbeförderung. Um die Zeit Karls des Kühnen fuhren in der holländischen Frachtfahrt 230—240 größere Kauffahrer, Hulke und MarsschifFe, dazu 60 Boyer im Küstenverkehr nach Hamburg, Frankreich und England.21 Die Größe der gesamten Handelsflotte der Grafschaften Holland und Seeland muß mit 30000 Last angenommen werden.22 Gegen Ende des 15. Jh. kann nach Angaben in den Sundzollisten mit 300 niederländischen Ost-Westfahrern und einer Gesamttragfähigkeit von etwa 20000 Last auf dieser Route gerechnet werden.23 Den gegen Ende des 15. Jh. in der Baien- und Ost-Westfahrt eingesetzten hansischen Schiffsraum schätzt Vogel auf insgesamt 10000 Last.24 Sicherlich sind bei den Zahlenangaben Unsicherheitsfaktoren zu berücksichtigen. Dennoch wird deutlich, daß die Holländer schon im 15. Jh. auf dem Gebiet der technisch fortgeschrittensten Form des Warentransportes, der Umlandfahrt, mit einem beachtlichen Frachtangebot in Erscheinung treten konnten. Der Erfolg und die Rentabilität dieses Erwerbszweiges lagen nicht so sehr in der Größe der Schiffe, sondern in der Masse des Frachtraumes, der den differenzierten Erfordernissen des Ostseeverkehrs entsprach. Der Einsatz von Schiffen großer Tragfähigkeit war im 15. Jh. noch in besonderem Maße von Gegebenheiten abhängig, die nicht oder nur sehr mittelbar durch das Einwirken der Frachtfahrer beeinflußt werden konnten: von der Tiefe des Fahrwassers, dem technischen Stand der Ein- und Ausladevorrichtungen und anderem mehr. Der Besuch von Klipphäfen, der Handel in den kleineren Ostseehäfen und das Vordringen bis zu den Produzenten der Handelsgüter war nur mit beweglichen kleineren Fahrzeugen geringen Tiefgangs möglich. Die entscheidenden Anforderungen an die Frachtfahrt waren in der zweiten Hälfte des 15. Jh. andere als ein Jahrhundert später. Nun war die Umlandfahrt nicht ausschließlich den holländischen Schiffern vorbehalten; auch die Schiffe des Ordens, der livländischen Küste und der 21
VOGEL, W., Zur Größe der europäischen Handelsflotten, a. a. O., S. 304. Vogel nimmt die „Informacie" zur Grundlage seiner Berechnungen. 22 Ebenda. Hierunter rechnet Vogel auch etwa 9000 Last für die rund 300 Heringsbüsen. Diese sollte man nicht unbedingt aus dem Prachtraumangebot ausklammern, da die Herginsbüsen außerhalb der Fangzeiten häufig im Frachtgeschäft zu finden waren. 23 Ebenda, S. 303. 24 Ebenda, S. 280. Der gesamte Frachtraum der Hansestädte war nach dieser Berechnung mit 30000 Last größer als der holländische. Von dieser Zahl entfielen jedoch 2000 Last auf die Island- und Bergenfahrt, 7500 Last auf den inneren Nordseeverkehr und 10000 Last auf den inneren Ostseeverkehr.
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wendischen Städte umfuhren Jütland in größerer Zahl. Dennoch konnten von den wendischen Städten, insbesondere von Lübeck und Hamburg, kaum nachhaltige Impulse für diesen Handelsweg ausgehen. Die ängstlich gewahrte und immer wieder erbittert verteidigte monopolistische Konzentration des Handelsverkehrs auf den traditionellen Landweg mußte sich über lange Zeit hinweg hemmend auswirken. Der Schiffahrtsweg durch den Sund wurde nicht nur für den Transport der Massengüter wie Holz, Getreide und Salz benutzt. Holländer wie Engländer hatten keine Bedenken, ihre Tuche und andere wertvolle Waren in beträchtlichen Mengen dem Seeverkehr anzuvertrauen. Die Holländer konnten sich außerdem auf eine gut organisierte, weiterführende Binnenschiffahrt stützen, deren Wasserstraßen bis in wichtige Produktionszentren des hansischen Handels führten. Der Umlandweg als zukunftsträchtige Frachtstraße trug so wesentlich zur Ausbildung eines allgemeinen Marktes bei. Die Frachtfahrt — die Binnenlandfahrt wie die Überseefahrt — war nicht zuletzt Grundlage für die Entwicklung des holländischen Handels. Mit der Benutzung der holländischen Binnenlandwege durch Kaufleute aus den Ländern der Ost- und Nordseeküste, Westeuropas und der südlich von Holland gelegenen Gebiete entwickelten sich nach und nach Stapel- und Umschlagplätze, die einen großen Teil des Durchgangshandels auf sich zu ziehen vermochten. Neben Brielle, Dordrecht und Amsterdam, die für das 14. J h . als Beispiele dieser Entwicklung gelten können, entstand eine Reihe weiterer Handelsplätze und Umschlaghäfen.25 In der ersten Hälfte des 15. J h . vermittelt das Kamper Pfundzollregister einen Eindruck von der Zahl der am Durchfuhrhandel beteiligten Städte und Ortschaften wie vom Umfang der Waren. 26 Die Aufwärtsentwicklung setzte sich, unterbrochen zwar von vorübergehender Stagnation und selbst wirtschaftlichem Rückgang, bis ins 16. J h . fort. 27 Wirtschaftlich hemmend wirkten sich die binnenländischen Zölle aus, die immer wieder Anlaß zu Klagen gaben und nicht selten zu Gegenmaßnahmen der geschädigten Kaufleute führten.28 Der Aufschwung von Binnenfahrt und Durchgangshandel muß in engem Zusammenhang mit dem Anwachsen der holländischen Schiffahrt im Kanal, in der Nord- und Ostsee gesehen werden. Die weitere Zunahme des wirtschaftlichen Potentials wie der damit verbundenen Konkurrenz gegenüber den wendischen Städten war in besonderem 25 Vgl. hierzu KETNER, F., a. a. 0 . , S. 133ff. 26 Vgl. hierzu ebenda, Tab. 1-12, S. 27-59. 27 Die Verlegungen des Hansekontors im 14. Jh. von Brügge nach Dordrecht (1358/60 und 1389/90) und die bekannten Stapelverlegungen im 15. Jh. trugen zweifellos zur Vermehrung des Durchgangsverkehrs bei. 28 POELMAN, H. A., Bronnen, nr. 1837 (1446); Hanserecesse, 3. Abt., Bd. 1, Leipzig 1881, nr. 222 § 13, nr. 223 § 6, nr. 224 § 9. Bekannte Zollstellen waren Gervliet, Gouda, Sparendam, Jersekerord.
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Maße auf den Entwicklungsprozeß vom Frachtfahrer zum Kaufmann zurückzuführen. Ähnlich wie in der Englandfahrt überwog auch im beginnenden Ost-Westverkehr des 14. Jh. der Frachtfahrer noch völlig. Zwar können im Hamburger Bierhandel mit Amsterdam um die Mitte des 14. Jh. fünfzehn holländische Kaufleute festgestellt werden, die in der Mehrzahl zugleich Schiffer waren; jedoch waren weder ihre Anzahl noch die von ihnen umgesetzte Menge wirtschaftlich bemerkenswert. In der zweiten Hälfte des 14. Jh. zeichnete sich deutlich das Aufkommen einer holländischen Kaufmannschaft in verschiedenen Städten ab, ohne daß die Kaufleute schon eine exponierte Stellung im städtischen Leben einnahmen oder nachdrücklich anstrebten. Im 15. Jh. wuchsen mit der Zahl der Angehörigen des Kaufmannsstandes ihr Geldvermögen, ihre wirtschaftliche Bedeutung wie ihr Wirkungskreis. In den Kamper Pfundzollisten stehen neben vierundzwanzig Namen von Amsterdamer Bürgern, die eindeutig nur als Frachtfahrer nach Deventer kamen, weitere vierunddreißig, die Schiffer und Kaufleute zugleich waren.29 Daneben meldet das Register eine große Anzahl von „Comans", die sich darin unterschieden, daß die einen mit einem bunten Sortiment von Waren, andere mit nur einer Warenart Handel trieben oder daß sie ausschließlich als Großoder als Kleinhändler ihren Geschäften nachgingen.30 Die Bezeichnung Schifferkaufmann findet sich mehrfach in den Quellen, und die gemeinsame Nennung von Schiffern und Kaufleuten im Schriftverkehr, in Handelsvereinbarungen und Verträgen fixierte eine ökonomische Realität.31 Der holländische Eigenhandel gewann einen Teil des erforderlichen Kapitals aus der Frachtfahrt, einem Gewerbe, das dem damals höchsten technischen Stand entsprach. Sowohl die Wattenfahrt wie die später wichtigere Umlandfahrt setzten gute Fahreigenschaften der Schiffe und hervorragendes seemännisches Können voraus. Wenn vom Übergang vom Frachtfahrer zum Kaufmann gesprochen wurde, sollte hierbei der Bedeutungsschwerpunkt nicht so sehr in der kausalen Folge, als vielmehr in den strukturellen Veränderungen des Systems Handel—Frachtfahrt gesehen werden. Der Handel entwickelte sich zu einem wesentlichen Teil 29
KETSTER, F . , a. a. 0 . , S. 9 8 f .
30
Ebenda. Wojewödzkie Archivum Panstwowe Gdansk, Signum 300 D/19, 79. Etwa um dieselbe Zeit bieten Danziger Bürgerschaftslisten ein ähnliches Bild. Mit der Flotte von 40 Baiensalzschiffen und 80 kleineren, in der Regel wohl mit Heringen beladenen Fahrzeugen kam eine große Anzahl von Kaufleuten, welche die Schiffe befrachtet hatten, nach Danzig. Daneben war eine Reihe von Schiffern Eigentümer eines Teils der Ladung.
31 POELMAN, H . A . , B r o n n e n , n r . 2129 (9. J u l i 1425), nr. 1512, nr. 1992, nr. 2257, nr. 2319.
Hansisches ÜB., Bd. 10, a. a. O., nr. 926. W A P Gdansk 300 D/19, 156. Auch MAIOWIST, M., Über die Frage der Handelspolitik des Adels in den Ostseeländern im 15. u. 16. Jh., in: Hansische Geschichtsblätter 75/1957. S. 37.
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mit und neben der Frachtfahrt, ohne daß diese in ihrer Bedeutung eingeschränkt worden wäre.32 Im 15. und in den folgenden Jahrhunderten wurde hieraus ein sich wiederholender dynamischer Prozeß: Frachtfahrer wurden Kaufleute, und Kaufleute legten ihr Kapital im Frachtgeschäft an. Trennende Faktoren traten auf dieser Ebene nicht zuletzt dadurch zurück, daß in der Frachtfahrt des 15. Jh. in enger Wechselwirkung mit dem Handel ebenfalls Elemente der neuen Produktionsweise sichtbar wurden: der kapitalistische Reeder nämlich, der sich außerdem wie ein Teil der Handelskaufleute mit der Anlage seines Kapitals in der Produktion spürbar engagierte.33 Die enge Verbindung eines hochentwickelten Frachtfahrtensystems mit einem durch die geographische Lage begünstigten Handel konnte zu einem schnelleren Umschlag des investierten Kaufmannskapitals sowohl im Handel wie in der Frachtfahrt führen.34 Frachtfahrt und Handel und ihre wechselseitigen Beziehungen weisen zwar den Weg, reichen aber allein noch nicht aus, den wirtschaftlichen Aufschwung wie die expansive Kraft des Landes zu erklären. Erst die aufblühenden holländischen Gewerbezentren mit ihrer Warenproduktion für einen großen internationalen Markt vollendeten den Bund. Auch in der gewerblichen Produktion begann sich eine progressive Entwicklung durchzusetzen. So war in der holländischen Tuchproduktion des 15. Jh. die kapitalistische Produktionsweise mit ihren für die Übergangsphase charakteristischen Formen ausgeprägt. Der kleine Warenproduzent wurde vom Drapenier verlegt, von ihm ökonomisch abhängig, wurde zum Lohnarbeiter. In vielen holländischen Städten und zum Teil auf dem Lande entwickelte sich das Verlagswesen, in dem die ersten Anfänge der kapitalistischen Mehrwertsbildung zu sehen sind, schon zu einer höheren Form, zur dezentralisierten Manufaktur. Jedoch müssen wir uns von abstrakten Vorstellungen über diese Vorgänge lösen. Typisch für die holländische Tuchindustrie des 15. Jh. war eine Fülle von Die reine Frachtfahrt für ausländische Kaufleute, auch für die wendischen Städte, blieb nach wie vor eine wichtige holländische Erwerbsquelle. Vgl. SNELLER, Z. W./ UNGER, W. S., Bronnen tot de geschiedenis van den handel met Frankrijk, 's-Gravenhage, nr. 119 und 120; POELMAN, H.A., Bronnen, nr. 1945; Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 5, nr. 2 5 1 , u. a. 3:! POSTHUMUS, N. W., De Oosterse handel, a. a. O., S. 92. Posthumus sieht diesen Prozeß im Übergang des Eigentums an Schiffen auf Bürger der Städte, im Eindringen des Schiffspartenwesens in die Frachtfahrt, in dem damit verbundenen Aufkommen von „zetschipperi" und in der zunehmenden Enteignung und Proletarisierung der Masse der Schiffsbesatzung. Den ökonomisch stets schwächer werdenden Schiffern traten zunehmend kapitalkräftigere Personen gegenüber, die ihre Macht über die Schiffahrt ausbreiteten. 34 Vgl. hierzu auch HROCH, M., Üloha zapadoevropskeno kapitalu ve zprostred kovani obchodu s vychodni Evropou, in: Acta universitatis Carolinae 1964, Philosophica et historica 2, S. 17. ;l2
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Mischformen und Teilbeziehungen, in denen Elemente des Verlages, der dezentralisierten und selbst der zentralisierten Manufaktur nebeneinander bestanden und oft selbst im gleichen Betrieb zu finden waren. Beide von Marx charakterisierten Wege zum kapitalistischen Unternehmer können wir antreffen. Zum Beispiel steht in Leiden neben dem Drapenier, der als Kaufmann über ein großes Geldvermögen verfügt und sich dadurch die Produktion unterwerfen kann, der Produzent, der den „wirklich revolutionierenden Weg" 35 ging, der vom Handwerksmeister zum Drapenier wurde. Die zentralisierte Manufaktur, wie sie in ihrer klassischen Struktur etwa in den folgenden Jahrhunderten das Gesicht der englischen Tuchproduktion bestimmte, suchen wir im 15. Jh. in Holland vergeblich.36 Trotz ihrer erst keimhaften Ausbildung und ihres Übergangsstadiums war die neue Produktionsweise Voraussetzung für die beachtlichen Produktionsleistungen der holländischen Tuchindustrie. Somit konnten im Verlauf des 15. Jh. die Erzeugnisse der holländischen Tuchproduktion in vielen Gebieten Europas einen Platz neben denen der traditionellen flandrischen Tuchmacherstädte erwerben. Die Zahl der auf den Märkten gehandelten Laken nahm sich zunächst häufig noch recht bescheiden gegenüber den flandrischen und Brabanter Tuchen aus, aber auf vielen Absatzmärkten ist eine positive Entwicklungstendenz festzustellen. Während bei flandrischen und Brabanter Tuchmacherorten ein gewisser Rückgang zu verzeichnen war, gewann das holländische Tuch ständig an Boden.37 Das gilt besonders vom hansischen Kerngebiet, von Niedersachsen und den wendischen Städten, von Bußland und Skandinavien. Überall tauchten hier im Verlauf des 15. Jh. die Namen der holländischen Städte Leiden, Amsterdam, Haarlem, Delft, Naarden, Rotterdam, Schiedam, Hoorn und anderer auf.38 In Preußen finden sich die ersten Hinweise auf holländische Tuche schon um 1400. Als Herstellungsorte werden sehr früh Leiden, etwas später Amsterdam und Dordrecht genannt.39 Außer auf den Handelsplätzen im Ostseegebiet und den Holland benachbarten Märkten und Messen war das holländische Tuch in der ersten Hälfte des 15. Jh. nur spärlich verbreitet.40 35
MARX/ENGELS, Werke, Bd. 25, Berlin 1964, S. 347. Siehe hierzu SPADING, K., Holland und die Hanse im 15. Jh., phil. Diss. Greifswald 1968 (MS), S. 152ff. 37 AMMANN, H., Deutschland und die Tuchindustrie Westeuropas im Mittelalter, in: Hansische Geschichtsblätter 72/1954, S. l f . 38 Hansisches ÜB., Bd. 9, bearb. v. W. STEIN, Leipzig 1903, nr. 558. Die Verlustmeldung über ein Schiff, das 1469 von Lübeck nach Reval gehen sollte, vermittelt, ähnlich wie eine Reihe von Zollrechnungen, ein Bild von der Fülle der verschiedenen Tucharten. 2400 Stück Tuch gingen mit diesem Schiff verloren. Davon kamen 360 aus Poperinge, 300 aus Aalst, 200 aus Commines, 100 aus Leiden, 300 aus Naarden, und 200 waren 39 AMMANN, H., a. a. O., S. 52. englischer Herkunft. 40 Ebenda, S. 53 f. Ammann weist holländische Tuche 1441 in Erfurt, 1450 in Görlitz und Spandau nach.
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Das änderte sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Auf den Wasserstraßen Rhein und Donau — die Tuche wurden in größeren Mengen auf der Frankfurter Messe gehandelt — erreichten die holländischen Erzeugnisse viele Orte in Mittel- und Süddeutschland. Sie sind 1467 in Leipzig, 1471 in Zwickau, 1487 in Arnstadt und 1490 am Bodensee nachzuweisen.41 In Schwaben und Franken war der Absatz gegenüber flandrischen, Brabanter und englischen Tuchen nur gering; er ist jedoch in Augsburg, Nürnberg und Regensburg und zur gleichen Zeit auch in Kassel, Marburg und Eschwege belegt.42 In den elsässischen Quellen werden zu Beginn des 15. Jh. nur flandrische und Brabanter Herkunftsorte für gehandelte Tuche genannt; ab Mitte des Jahrhunderts finden sich daneben Leiden, Delft und Amsterdam.43 Aber auch auf Märkten der Schweiz und in Österreich waren seit dieser Zeit holländische Tuche anzutreffen.44 Der Überblick über die Ausweitung des Absatzgebietes wird durch die Importziffern holländischer Waren nach Danzig noch instruktiver. Im Jahre 1498 kamen nicht weniger als circa 40% aller nach Danzig gebrachten Tuche aus holländischen Städten. 1506 stieg der holländische Anteil am Import dieser Tuche auf 45«/0.45 Diese Entwicklung führt unmittelbar zu der Frage nach den Beziehungen zwischen Produktion und Handel im holländischen Tuchgewerbe. In Leiden, wo diesem Problem am ehesten nachgegangen werden kann, zeigen sich beide in sehr enger Verbindung. Schon bei der Einfuhr der Wolle und anderer für die Tuchproduktion notwendiger Rohstoffe waren die Drapeniers mit Erfolg bemüht, den Zwischenhandel auszuschalten. Sie kauften, in der Regel in Gesellschaft mit mehreren Tuchproduzenten und geschützt durch städtische Verordnungen, Wolle und Rohstoffe unmittelbar vom Stapel in Calais oder auf anderen Märkten.46 Ebenso versuchten die holländischen Tuchproduzenten, beim Verkauf der fertigen Produkte jeden Zwischenhändler, insbesondere die hansischen Kaufleute, auszuschalten. Bei der Einfuhr der Tuche in das Ostseegebiet nahmen letztere in den ersten Jahrzehnten fast noch eine monopolartige Stellung ein. Das ist verständlich, da sie, als die holländischen Tuche nach Menge und Qualität marktfähig » Ebenda, S. 55. « Ebenda. « Ebenda, S. 56. So in Straßburg 1471 und 1478, Schlettstadt 1463, Kloster Salem am Bodensee 1490, Colmar 1456, Masmünster 1481. 44 In Bern, Basel und Zürich wurden seit 1478 Tuche aus Amsterdam, Leiden, Haarlem und Delft gehandelt. In Wien und Salzburg kamen holländische Tuche gegen Ende des 15. Jh. auf den Markt. 45 SAMSONOWICZ, H., Handel zagraniczny Gdariska W drugiej polowie X V wieku, in: Przeglfid Historyczny, Bd. 47, Heft 1, Warschau 1956, S. 233f. 46 POSTHTJMUS, N. W., Geschiedenis van de Leidsche lakenindustrie, 1: De Middeleeuwen (XIV« tot XVI e eeuw), S. 233f.
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wurden, neben dem erforderlichen Kaufmannskapital schon durch den Handel mit den flandrischen Erzeugnissen über einen organisierten Absatzmarkt verfügten.47 Erst seit den fünfziger Jahren des 15. J h . konnten die holländischen Drapeniers mehr und mehr dazu übergehen, die Tuche in den Hansestädten wie in anderen Orten selbst zu verkaufen und damit einen Teil des Handelsgewinns für sich verbuchen. Die ständigen Auseinandersetzungen zwischen den Holländern und den wendischen Städten in den ersten Jahrzehnten des 15. J h . , aber auch danach, erschwerten die Entwicklung des holländischen Eigenhandels. Hatten die holländischen Drapeniers sich vorher darauf beschränkt, ihre Tuche auf die bekannten Märkte nach Kampen, Zwolle, Deventer, Zutpfen, Bergen op Zoom, Brügge, Antwerpen und Amsterdam zu bringen, so begannen sie jetzt, den Kontakt mit den Abnehmern in den Städten des Auslandes direkt herzustellen. Den Erfolg dieser Bemühungen spiegelt ein Teil der holländischwendischen Verhandlungen zu Utrecht in den Jahren 1471—1474 wider. Hier stand der aktive Handel der holländischen Kaufleute mit den Waren ihrer Produktion wiederholt im Mittelpunkt langandauernder Auseinandersetzungen. Leidener Kaufleute, gegen die sich der Widerstand der wendischen Städte in besonderem Maße richtete, erklärten, „dat dat waer is, da te koplude van Leyden erstwerff ere laken sulven hebben begunnen so veel unde so stark in Ostlant to bringen unde de kopmansoop daraff sulven to hanteren, alse se dese naeste jaeren gedaen hebben . . . " 4 8 Nichts mußte den Kaufleuten der wendischen Städte bei der Sicherung ihres Handelsprofits nachteiliger erscheinen als die Konkurrenz der mit der Produktion der Waren eng verbundenen Leidener Kaufleute in ihrem traditionellen Handelsgebiet. Deshalb antworteten sie den Leidenern, und sie wiederholten es mehrfach, „dat se vortan nicht liden en wyllen, dat de van Leyden in ere stede unde lande de Leydsche laken bringen unde andere guder darumme kopen . . ." 4 9 Schlaglichtartig werden Vorteile und Möglichkeiten, die der Handel mit eigenen Tuchen bot, durch das Vorgehen einer Leidener Handelsgesellschaft beleuchtet, deren Geschäftsgebaren Gegenstand mehrerer Verhandlungen in Utrecht war. Es hatten sich in Leiden mehrere Bürger zusammengetan, die Großhandel mit den begehrten Tuchen dieser Stadt betrieben. Ihre Gesellschaft kaufte die Tuche bei den Drapeniers auf, wobei sie danach strebte, die gesamte 47
48
49
Auf den benachbarten Märkten setzte sich der holländische Eigenhandel schon in der ersten Hälfte des 15. Jh. durch. Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 7, Leipzig .1892, nr. 80, S. 182. Interessant war auch ihre Begründung für die in diesen Jahrzehnten wachsende Handelsaktivität. Sie hätten, so heißt es, keine Bezahlung für Laken erhalten, die sie „den Osterschen kopmanne uthborgheden", also auf Kredit lieferten, und dabei im Laufe der Jahre einen Verlust von 15000 rh. Gulden erlitten. Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 7, a. a. O., nr. 80, S. 181 f.
Holländer im hansischen Zwischenhandelsmonopol
239
Produktion oder doch den größten Teil in die Hände zu bekommen.50 Von dieser Position aus verkauften sie die Laken zu einem Teil an Hansekaufleute ; den anderen Teil sandten sie nach Lübeck, Hamburg und in andere Städte „an ere vrunde, selschop edder knechte", welche sie gegen Bargeld — dieser Faktor scheint nach den Berichten eine besondere Rolle gespielt zu haben — zu einem niedrigeren Preis, als die Hansekaufleute ihn fordern konnten, verkauften. 51 Noch nachdrücklicher wird die Monopolstellung der Gesellschaft betont, wenn es heißt : „wente de dar weren in dersulven selschop, kofften alle lakene to Leyden, so dat de kopman, de de Leydsche lakene wolde voren, moste se van en kopen, so duer en beleve, unde dan, wan de kopman de lakene brachte to Hamborch edder in ander stede, so volgeden se ute dersulven selschop myt Leydsche lakene, de se myn geven, dan de kopman ute den Steden de tugen konde ; dadorch in deme se trecken van Steden to Steden myt den lakenen deme kopman volgende, de kopman lyk en den market myt den laken nicht holden konde . . ." 5 2 Es kam vor, daß selbst Schneider die Lakenhändler begleiteten, „umme den lesten pennynk sulven an eren lakenen to verdenende".53 Noch konnten die wendischen Städte mit ihren Mitteln einer so gefährlichen Konkurrenz erfolgreich entgegentreten. Sie forderten von der Stadt Leiden die Auflösung dieser Gesellschaft und drohten bei Weigerung, jeden Handel mit Leidener Tuchen in ihrem Gebiet zu verbieten.54 Nach langen Verhandlungen, in deren Verlauf die Vertreter Leidens unter anderem erklärten, nichts von einer solchen Gesellschaft zu wissen, setzten die wendischen Städte ihre Forderungen offensichtlich durch, denn wir erfahren später nichts mehr vom Auftreten der Handelsgesellschaft. Dieses Beispiel ist deshalb bemerkenswert, weil hier die Holländer mit ihrem Handel als gefährliche Konkurrenten in den wendischen Städten und deren unmittelbarer Umgebung auftraten. Trotz der erzwungenen Auflösung der Gesellschaft wird an ihrem Vorgehen die Überlegenheit eines eng mit der Produktion verknüpften Handels gegenüber einem Zwischenhandel, wie ihn die wendischen Städte betrieben, deutlich. Auf der anderen Seite regte der ausgedehnte Fernhandel die Warenproduktion ungemein an. Er erforderte von den Produzenten die Fähigkeit, sich auf die Bedürfnisse des Marktes einzustellen, und trug damit zur Herausbildung spekulativer Tendenzen in Produktion, Handel und Frachtfahrt wesentlich bei. Daß die notwendige Beweglichkeit in der Produktionssphäre und das rücksichtslose Streben nach Profit gleichzeitig zum Einsatz betrügerischer, die Ebenda, nr. 79, S. 170. Zur großen Handelsgesellschaft in Leiden siehe auch N. W., Leidsche lakenindustrie, a. a. O., S. 255ff. 51 Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 7, nr. 40, S. 114. 52 Ebenda, nr. 139, S.279f. « Ebenda. 54 Ebenda, nr. 154, S. 367.
50
17 Neue Hansische Studien
POSTHUMUS,
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K.
SPADING
Qualität der Erzeugnisse mindernder Mittel führen konnten, sei nur am Bande erwähnt.55 Ahnlich wie im Handel mit Tuchen drangen die holländischen Kaufleute im Verlauf des 15. Jh. mit von holländischen Fangflotten angelandetem und in Holland verarbeitetem Fisch überall auf den Markt in Europa vor. Der Export von Bier ging stärker in die Nachbarstädte Hollands; dieses Nahrungsmittel erschien auf den entfernteren Märkten seltener. Dennoch ist es in seiner Bedeutung für die Belebung des holländischen Handels den anderen Ausfuhrerzeugnissen durchaus beizuordnen.56 Nicht zuletzt waren Erzeugnisse der holländischen landwirtschaftlichen Produktion wie Butter und Käse zu allen Zeiten auf vielen Märkten des Ostseegebietes zu finden.57 Der Durchfuhr- und Ausfuhrhandel mit im Lande gefertigter Produktion war nur die eine Seite. Im gleichen Maße muß die Einfuhr von Grundnahrungsmitteln und Rohstoffen, die für die Bevölkerung der Grafschaften Holland und Seeland lebensnotwendig war, als stark aktivierendes Moment bei der Realisierung des Handelsprofits angesehen werden.58 Abschließend sei festgestellt: Mit der Organisation des Handels allein sind die Ursachen für eine Überlegenheit der Holländer gegenüber den wendischen Städten kaum zu erklären. Wie schon angedeutet, gab es keine Form der Organisation des holländischen Ostseehandels, welche nicht in den wendischen Städten bekannt und zum Teil dort schon früher angewandt worden wäre. Das trifft für alle gegen Ende des 15. Jh. in Amsterdam, der führenden Handelsstadt, belegten Organisationsformen zu: vom Kaufmann, der seine Waren begleitete, bis zum ausgebildeten Faktoreisystem. Der holländische Eigenhandel muß auch noch im 15. Jh., zumindest in dessen erster Hälfte, als ein Handel mit geringen Quantitäten angesehen werden. Es ist offensichtlich, daß die holländischen Kaufleute noch fast ausschließlich ihre Waren begleiteten, als die Form eines ausgebildeten Kontor- oder Niederlassungssystems den Handel der wendischen Städte schon entscheidend bestimmte. Erst dem Anwachsen des holländischen WarenVolumens konnte eine qualitative Veränderung folgen, und jetzt vermochte das Faktorsystem, da es 65
56 57 68
POSTHUMUS, N. W., Leidsche lakenindustrie, a. a. 0 . S. 68 ff. In der Regel waren die Städte an einer gleichbleibenden Qualität der ausgeführten Tuche unbedingt interessiert und gingen gegen Verfälschungen und Betrügereien scharf vor. POELMAN, H. A., Bronnen, a. a. O., nr. 2094, 2095, 354; Hansisches ÜB., Bd. 8, a. a. 0 . , nr. 1041; Bd. 9, a. a. O., nr. 280, 290, 312, 437, 785; Bd. 10, a. a. O., nr. 507 (3. September 1467), 541, 542; Bd. 11, bearb. v. W. STEIN, München und Leipzig 1916, nr. 700. Bier wurde auch nach Danzig geführt. WAP Gdansk 300 D 19/134 (7. August 1465). Siehe hierzu SAMSONOWICZ, H., a. a. O., S. 330. POSTHTTMTTS, N. W., De Oosterse handel, a. a. O., S. 71. Posthumus berechnet für das Jahr 1507 allein für Amsterdam eine Einfuhrmenge aus dem Ostseegebiet von 12000 bis 15000 Last Roggen, 200-225 Last Weizen, 3000-4000 Last Asche, 800-1000 Last Pech, 400-500 Hundert Klappholz, 600-800 Hundert Wagenschoß.
Holländer im hansischen
Zivischenhandelsmonopol
241
überwiegend auf dem Eigenhandel basierte, überlegene Momente wirksam werden zu lassen.59 Dagegen absorbierten in den wendischen Städten konservierte Relikte aus der mittelalterlichen Handelspolitik wie Stapelordnungen und Gästepolitik die progressiven Züge jenes Systems, so daß diese in ihrer Wirkung auf die Gesamtentwicklung gering blieben. In Holland kulminierten eine äußerst flexible Gästepolitik, die Ablehnung jeder hindernden Stapelordnung und weitere Faktoren in einem sich ständig stärker herauskristallisierenden Streben nach ungehindertem, von allen Reglementierungen freien Handel. Weder die Tendenz zu freieren Formen des Handels noch die holländische Schiffahrt mit ihren technisch gut ausgerüsteten und seemännisch erfahren geführten Fahrzeugen noch die frühkapitalistisch betriebene Produktion von Exportgütern reichen, betrachtet man die einzelnen Gewerbezweige isoliert, für eine Erklärung der erfolgreichen Konkurrenz der Holländer gegenüber einer so mächtigen Städteverbindung wie der Hanse aus. Erst in der Synthese aller drei Faktoren wird man einen Schlüssel für die Lösung der Frage finden; weniger in einem summarischen, zufällig gleichzeitigen Nebeneinander als vielmehr in ihren engeren inneren Beziehungen miteinander. Die Frachtfahrt — aus chronologischen Prioritätsgründen scheint es berechtigt, mit ihr zu beginnen — nahm ihren entscheidenden Aufschwung mit der holländischen Produktion von Massengütern und dem damit wachsenden Handel. Dieser konnte in großem Umfang nur durch einen hohen Entwicklungsstand der Frachtfahrt und der Produktion erfolgreich sein. Handel und Frachtfahrt erschlossen der Produktion erst den Absatzmarkt und die Rohstoffbasis. Mit diesen zunächst vordergründig erscheinenden Verbindungen wird noch nicht der Kern der Beziehungen bloßgelegt. Wie nachgewiesen, bildeten sich innerhalb einer noch feudalen Umwelt neue, kapitalistische Produktionsverhältnisse heraus. Das war die Ebene, auf der sich die Interessen der einzelnen Wirtschaftszweige über viele Verbindungsfäden miteinander verwoben. Aus der Frachtfahrt gewannen die Holländer einen bedeutenden Teil des Kaufmannskapitals, das in den Handel einfloß.60 Gleichzeitig drang es mittel59
Ebenda, S. 28ff. Posthumus entwickelte aus Amsterdamer Quellen 10 differenzierte Organisationsformen des Handels. Er betonte, daß dazu Zwischenlösungen und häufig Verbindungen zwischen einzelnen Formen auftraten. Im Faktorsystem sah er den Schritt zum kapitalistischen Handel: ebenda, S. 34. Dieser Auffassung schließt sich Christensen an, wenn er vom Faktorsystem sagt: „This capitalistic development inevitable must knock out the old shipmaster trade" (CHRISTENSEN, A. E., Dutch trade to the Baltic about 1600, Kopenhagen 1941, S. 182f.). Er sieht den Beginn dieser Entwicklung erst im 16. Jh.; Posthumus weist das Faktorsystem — und auch hansische Quellen bestätigen diese Auffassung als durchaus nicht vereinzelte Erscheinung — bereits in der 2. Hälfte des 15. Jh. nach.
17»
242
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oder unmittelbar in den Schiffbau wie in die Exportproduktion, also in die Produktionssphäre, ein. Wichtiger erscheint jedoch, daß das investierte Kapital dazu beitrug, die Ausbildung der neuen Produktionsweise wie den sozialen Differenzierungsprozeß zu fördern und durch die engen inneren Beziehungen von Frachtfahrt, Handel und Produktion den Umschlag dieses Kapitals in jedem der Wirtschaftszweige beträchtlich zu beschleunigen. Damit waren die Holländer in der Lage, bei einer geringeren Menge an Kaufmannskapital, als es die wendischen Städte aufzubringen vermochten, gleich große oder gar größere wirtschaftliche Unternehmungen zu realisieren. Noch ein anderer Gesichtspunkt ist zu beachten. Der wertmäßig größte Teil der aus Holland exportierten Eigenprodukte wurde in Verlags- oder manufakturähnlichen Produktionsstätten mit relativ hoher Arbeitsproduktivität hergestellt. Das Produkt ist für die Konsumtion erst fertig, wenn es auch den Transportweg zum Verbraucher vollendet hat. 61 Bei diesem in die Zirkulationssphäre verlängerten Produktionsprozeß wird den Produkten Wert durch Wertübertragung von den Transportmitteln und durch Transportarbeit hinzugesetzt. Je größer nun die Produktivität der beanspruchten Transportindustrie ist, desto geringer gestalten sich die Kosten. Wenn die holländische Frachtfahrt rentabler und wohlfeiler als andere die Güter transportierte, konnte der holländische Kaufmann auf dem Markt variabler in der Preisgestaltung seiner Produkte auftreten. Der Profit für den Kaufmann wie für den Unternehmer konnte sich erhöhen. Die so gewonnene zusätzliche Kapitalmenge stand wiederum für die Erweiterung der Exportproduktion zur Verfügung, für eine Produktion, in welcher zum Teil schon in echt kapitalistischer Manier ein spekulativ angenommenes Bedürfnis des Absatzmarktes vorausgenommen wurde. Frachtfahrt Unternehmer, Städte und Kaufleute konnten den höheren Gewinn zur Vervollkommnung der Organisation des Verkehrs verwenden und den Schiffbau auf eine höhere Stufe heben.62 Dieser gesamte Entwicklungsprozeß in Holland ist zeitlich nicht auf das Jahrzehnt genau einzugrenzen. Er vollzog sich ausgeprägt im 16. Jh., ist im 17. Jh. keineswegs abgeklungen, seinen Anfang aber nahm er im 15. Jahrhundert. Diese Entwicklung vom kleinen Eigentümer des wichtigsten Produktionsmittels in der Zirkulationssphäre zum Händler, zum Unternehmer oder auch zum Reeder ist sicher in einigen Charakterzügen dem progressiven Weg vom Handwerksmeister zum Unternehmer, zum Kaufmann, vergleichbar, «I MARX/ENGELS, Werke, Bd. 24, Berlin 1963, S. 144F. 60
62 Vgl. hierzu HROCH, M., a. a. O., S. 35.
DER LÜBECKER PREUSSENHANDELSEINE STRUKTUR UND STELLUNG IM SYSTEM DES LÜBECKER OSTSEEHANDELS AM ENDE DES 15. JAHRHUNDERTS von Walter
Stark
In der hansegeschichtlichen Literatur wird seit langem als eine der den Zerfall der Hanse begleitenden Erscheinungen der seit dem Ausgang des 14. Jh. heranwachsende und im Verlaufe des 15. Jh. deutlicher zutage tretende „Separatismus" einzelner Städte und Städtegruppen genannt.1 In ihm drückten sich handelspolitische Interessengegensätze aus, die sich im 15. Jh., betrachtet man das Verhältnis der wendischen und preußischen Städte, unter anderem in der unterschiedlichen Haltung zum Vordringen der Holländer in die Ostsee, zum Flandernstapel und zur Politik des dänischen Königtums äußerten. Während die Erhaltung des „Travestapels" das zentrale Anliegen der Lübecker Politik darstellte, begannen Danzigs Kaufleute in zunehmendem Maße für die Verfrachtung der von ihnen gehandelten Massengüter den Weg durch Sund oder Belt, den „Umlandweg", in die Nordsee zu benutzen.2 Die bisherige Forschung hat sich darauf beschränkt, diese Entwicklung — im wesentlichen unter Berufung auf Singulärquellen — zu konstatieren und zu kommentieren. Es fehlt aber an speziellen Untersuchungen über die Handelsbeziehungen zwischen den wendischen und den preußischen Hansestädten, wie sie zum Beispiel für den Lübecker Stockholmhandel im 14. Jh. 3 oder den Nürnberghandel im 15. Jh. 4 erarbeitet worden sind. Auch die Arbeiten von Bruns5, Lauffer 6 und neuerdings Samsonowicz7 behandeln den Lübecker Preußenhandel nur in der Weise, daß sie die Zahl 1
2 3 4
5
Zuletzt FRITZE, K., Am Wendepunkt der Hanse. Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der wendischen Hansestädte in der ersten Hälfte des 15. Jh., Berlin 1 9 6 7 , S. 7 4 . Ebenda. KOPPE, W., Lübeck-Stockholmer Handelsgeschichte im 14. Jh., Neumünster 1933. NORDMANN, C., Nürnberger Großhändler im spätmittelalterlichen Lübeck, Nürnberg 1933. BRUNS, F., Die lübeckischen Pfundzollbücher von 1492—1496, in: Hansische Geschichtsb l ä t t e r 1 1 / 1 9 0 4 - 0 5 , S. 1 0 7 - 1 3 1 ; 13/1907, S. 4 5 7 - 4 9 9 ; 14/1908, S . 3 5 7 ^ 0 7 .
6
7
LAOTTBR, V., Danzigs Schiffs- und Warenverkehr am Ende des 15. Jh., in: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 33/1894, S. 1—44. SAMSONOWICZ, H., Handel zagraniczny Gdariska w drugiej polowie XV wieku, in: Frzegl%d Historyczny 42,1, Warszawa 1956, S. 283.
244
W . STARK
der Schiffsfahrten und die Menge der beförderten Güter nach den Hafenzollbüchern Lübecks und Danzigs angeben oder ihn — wie Samsonowicz — unter dem Aspekt des Danziger Überseehandels analysieren. Der vorliegende Artikel, in dem Untersuchungsergebnisse über die Struktur des Handels zwischen Lübeck und Danzig in beiden Richtungen und die Stellung des Preußenhandels im Gesamtgefüge des Lübecker Ostseehandels am Ende des 15. Jh. dargelegt werden sollen, will einen Beitrag zu der Diskussion um Strukturprobleme des Ostseehandels dieser Zeit darstellen und für die Erörterung des Verhältnisses zwischen den führenden Städten des wendischen und des preußischen Quartiers, Lübeck und Danzig, eine wirtschaftsgeschichtliche Grundlage schaffen. Aus den Beständen des Lübecker Archivs haben sich die Hafenzollbücher aus den Jahren 1492—1496 erhalten 8 , welche seit ihrer Bearbeitung durch Friedrich Bruns den nicht ganz zutreffenden Namen „Pfundzollbücher" tragen. Die Räubereien dänischer Auslieger in der westlichen und mittleren Ostsee während des Jahres 1491 und zuvor veranlaßten Lübeck zur Seebefriedung, deren Kosten nach vergeblichen anderweitigen Versuchen seit dem Frühjahr 1492 dem über Lübeck im Ostseegebiet Handel treibenden Kaufmann in Form eines Zolles auferlegt wurden, der als das sogenannte „rutergelt" bis zur Aufbringung der von Lübeck verausgabten Summe von dem aus- und eingehenden Gut und den Schiffen zu zahlen war. Es handelte sich um einen Wertzoll von 1/192 des Warenwertes ( = 1 den. von der m. lüb.), dessen Erhebung am 1. Juli 1496 eingestellt wurde, nachdem die verauslagte Summe und die bei der Erhebung entstandenen Verwaltungskosten eingekommen waren. Die beiden für Ein- und Ausgang getrennt geführten Bücher verzeichneten in der Regel für jede Fahrt den Namen des Schiffers und seiner Befrachter sowie die von diesen abgesandten oder empfangenen Waren; außerdem wurden der Abgangs- oder Zielhafen vermerkt, wenn es sich um entfernter gelegene Häfen wie Reval, Riga, Pernau, Königsberg, Danzig oder Stockholm handelte, während der Verkehr mit den näheren Gebieten mehr pauschal erfaßt wurde (zum Beispiel Schönen-Dänemark, Wismar-RostockStralsund, Stettin und Pommern oder auch einfach „int gemene ut velen klenen schepen"). Dadurch ist es möglich, den Lübecker Ostseehandel am Ende des 15. J h . nach seinen wichtigsten Verkehrsrichtungen zu gruppieren und die Anteile der einzelnen Verkehrsrichtungen miteinander zu vergleichen.9 Es muß dabei allerdings in Kauf genommen werden, daß Getreide und Mehl, wahrscheinlich auch Butter und Dorsch (Frischfisch?) als Grundnahrungsmittel zollfrei waren und deshalb auch nur ausnahmsweise — und dann ohne Wert- oder Zollangabe — in den Zollbüchern vermerkt wurden. 8
9
Archiv der Hansestadt Lübeck. Pfundzollbücher 1492—1496 (zur Zeit im Deutschen Zentralarchiv Potsdam). B R U N S , F., Pfundzollbücher, in: Hans. Gesch.bll. 1904-05, S . 109ff.
Lübecker Preußerihandd
245
In den Danziger Pfahlkammerbüchern des 15. Jh. 1 0 wurden die Zielhäfen der auslaufenden Schiffe nur ausnahmsweise, die Abgangshäfen der einlaufenden Schiffe nur in einigen Jahren verzeichnet.11 Aus ihnen läßt sich daher die für das Verhältnis der beiden Städte Lübeck und Danzig im 15. Jh. so wichtige Frage nach dem Anteil der Umland- und der Überlandfahrt am Danziger Westhandel nicht einwandfrei beantworten. Um so wertvoller sind deshalb die Aufschlüsse, die sich aus den Lübecker Hafenzollbüchern über die Struktur des über Lübeck gehenden Handels von und nach Preußen und über die Stellung des Preußenhandels im System des Lübecker Ostseehandels gewinnen lassen. I Der Wertzoll des „rutergeldes" wurde auf der Grundlage von Taxpreisen erhoben, die stark spezifiert waren und auch häufig verändert wurden, wobei der jeweilige Lübecker Marktwert zugrundegelegt wurde.12 Dies bot im Prinzip die Möglichkeit, den Anteil der einzelnen Warenarten am Gesamtwert des Lübecker Preußenhandels zu ermitteln. Die Berechnung der Wertanteile wurde allerdings dadurch erschwert, daß oft mehrere Warensendungen für einen Kaufmann zusammengefaßt gebucht wurden, wobei ganz unterschiedliche Waren dann unter einer Zollsumme erschienen, die erst auseinanderzurechnen waren. Dies gelang jedoch nicht immer, so daß in einigen Fällen der ganze, aus zwei oder mehreren Waren verschiedener Art bestehende Posten unaufgeschlüsselt bleiben mußte. Wenn im folgenden also ein Teil der Lübecker Ein- oder Ausfuhr im Preußenhandel als „Rest" bezeichnet wird, so sind unter diesem Begriff zusammengefaßt: 1. die nur in kleinen Mengen gehandelten Waren geringeren Wertes, 2. die nicht auseinanderrechenbaren Warenposten und 3. die ohne Warenbezeichnung, nur allein nach der Verpackungsart angegebenen Warensendungen (1 Tonne, 1 „bereven vate", 1 Kiste u. ä.). Hierdurch sowie durch das Fehlen von Getreide in den Zollbüchern und die Benutzung von Taxpreisen ergeben sich Unsicherheitsfaktoren, die aber nach Lage der Dinge in Kauf genommen werden müssen, um überhaupt zu einer Aussage über die Anteile der einzelnen Warenarten im Lübecker Preußenhandel zu kommen. Es kann sich demnach bei den einzelnen Werten lediglich um Annäherungswerte handeln. Wojewödzkie Archivum Panstwowe Gdansk (im folgenden zitiert: WAP Gdansk), Kamera palowa 300. 19. 1, 3, 4, 5, 5a, 7, 8. 11 SAMSONOWICZ, H., Handel zagraniczny, a.a.O., S. 285f.; STARK, W., Die Danziger Pfahlkammerbücher (1468—1476) als Quelle für den Schiffs- und Warenverkehr zwischen den wendischen Hansestädten und Danzig, in: Rostocker Beiträge, N. F., Bd. 1, Rostock 1967, S. 57f. 12 BRUNS, F . , Pfundzollbücher, in: Hans. Gesch.bll. 1 9 0 8 , S . 385ff.
10
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Die Aufschlüsselung erfolgte für die Jahre 1492 und 1493 beziehungsweise 1492 bis 1494, von denen das Jahr 1492 durch eine besondere handelspolitische Situation gekennzeichnet war. Die Räubereien dänischer Auslieger in der westlichen und mittleren Ostsee hatten Lübecks und vor allem Danzigs Kaufleuten im Sommer 1491 große Verluste gebracht, während andererseits die Kriegswirren in der Nordsee und im Kanal die Kaufleute und Schiffer Danzigs im Herbst 1491 zur Einstellung der dortigen Schiffahrt veranlaßt hatten 13 , so daß Ende 1491/Anfang 1492 der Sundverkehr nach den Niederlanden und England sowie die Baienfahrt fast vollständig zum Erliegen gekommen waren. Diese Verhältnisse widerspiegeln sich deutlich in der Umsatzhöhe des Lübecker Ostseehandels des Jahres 1492, das uns noch einmal den „Travestapel" Lübecks in voller Blüte zeigt, während der Ostseehandel dieser Stadt, so wie er sich in den Aufzeichnungen der Jahre 1493 und 1494 in den Zollbüchern niedergeschlagen hat, den tatsächlichen Verhältnissen in der Mehrzahl der Jahre in der 2. Hälfte des 15. J h . entsprochen haben wird. Gerade durch diese Gegenüberstellung der Jahre 1492 und 1493/94 ergaben sich aber interessante Vergleichsmöglichkeiten für die handelspolitische Bedeutung Lübecks im Verhältnis zu den übrigen Ostseestädten einst und jetzt. In den Jahren von 1492 bis 1496 stand Lübeck in Preußen nur mit den beiden Häfen Danzig und Königsberg im Warenaustausch (wenn wir von dem geringfügigen Verkehr des Jahres 1495 von und nach Braunsberg 14 absehen wollen). Andere preußische Hafenstädte wie Elbing und Memel werden in den Lübecker Hafenzollbüchern nicht mehr genannt; Königsberg aber tritt völlig hinter Danzig zurück, wie die folgende Aufstellung über die Umsatzhöhen des Preußenhandels erkennen läßt: Die Umsatzhöhen des Lübecker Preußenhandels 1492—149415 (in m. lüb.) nach 1492 1493 1494
Danzig von gesamt
nach
Königsberg von £gesamt
158482 53530 38830
23083 28224 17044
181565 81754 55874
13419 3047 5651
6106 1877 2942
19525 4924 8593
250842
68351
319193
22117
10925
33042
Die Anteile der beiden großen Häfen am Wert der Lübecker Ausfuhr nach Preußen standen demnach im Verhältnis 9,2 : 0,8, während sie am Wert der Einfuhr aus Preußen im Verhältnis 8,6: 1,4 beteiligt waren. Dieses VerHanserecesse, 3. Abt., Bd. 3, Leipzig 1888, nr. 10; Caspar Weinreichs Danziger Chronik, hrsg. v. TH. HIRSCH, in: Scriptores rerum Prussicaium IV, Leipzig 1870, S. 783. « BRUNS, F., Pfundzollbücher, in: Hans. Gesch.bll. 1907, S. 469; 1908, S. 365. 15 Alle Werte im folgenden, wenn nicht anders vermerkt, nach eigener Auszählung der Lübecker Pfundzollbücher. 13
247
Lübecker Preußenhandel
hältnis drückt die Tatsache aus, daß Danzig nach der Wiedervereinigung mit dem Königreich Polen 1454/1466, gestützt auf seine privilegierte Stellung in diesem Reich, die Vorteile seiner günstigen geographischen Lage an der Weichselmündung voll zur Geltung gebracht und dabei auch an Königsberg vorbei seinen Handel nach Litauen bis Kowno und Wilna ausgedehnt hatte. Die Ausfuhr Lübecks nach Preußen gliederte sich, auf die einzelnen Waren gruppen aufgeschlüsselt, wie folgt: Der Anteil der Warenarten am, Wert der Lübecker Ausfuhr nach Preußen 1492/93 1492 m. lüb.
%
1493 m. lüb.
1492/93 m. lüb.
%
nach Danzig Tuch Salz Heringe Getränke (Wein, Bier) Felle/ Schimesen/ Häute Südfrüchte Best
119715 21007 1321 3886 2270 681 9602
75,5 13,3 0,8 2,5 1,4 0,4 6,1
29650 5768 9268 2810 1402 209 4423
55,4 10,8 17,3 5,2 2,6 0,4 8,3
Gesamtwert
158482 100,0
53530
100,0
1962
64,4
nach Königsberg Salz Tuch Heringe Getränke Best Gesamtwert
7056 5282 108 417 556
52,6 39,3 0,8 3,1 4,1
13419 100,0
—
—
276 423 386
9,0 13,9 12,7
3047
100,0
149365 26775 10589 6696 3672 890 14025
% 70,5 12,6 5,0 3,2 1,7 0,4 6,6
212012 100,0
9018 5282 384 840 942
54,8 32,1 2,3 5,1 5,7
16466 100,0
Wertmäßig stand das Tuch in der Ausfuhr nach Danzig weit vor den anderen Waren an der Spitze, während es in der nach Königsberg 1492 hinter Salz die zweite Stelle einnahm und 1493 ganz fehlte. Es ist dies meines Erachtens als Ausdruck der Vormachtstellung Danzigs zu werten, welche es damals gegenüber den anderen preußischen Städten behauptete. Für eine Betätigung im Tuchfernhandel waren eben verhältnismäßig große Kapitalien erforderlich, über die in Preußen in erster Linie Danzigs Kaufleute verfügten. Nach Ausweis des Lübecker Pfundzollbuches waren 1492 insgesamt 68 Kaufleute und Schiffer, 1493 dagegen — entsprechend dem niedrigeren Umsatz — nur 25 Kaufleute am Tuchhandel nach Preußen beteiligt. Allein 16 von ihnen aber traten in beiden Jahren im Tuchhandel in Erscheinung; unter diesen vornehmlich haben wir die eigentlichen Tuchhändler nach Preußen zu suchen, während die übrigen zumeist nur durch die Konjunktur des Jahres 1492 ins Geschäft gekommen waren. Der Tuchhandel nach Preußen wies einen relativ
248
W . STARK
hohen Konzentrationsgrad auf, denn 1492 gingen fast 72% der Tuchausfuhr dorthin durch die Hand von nur 12 Kaufleuten, die bis auf einen auch im nächsten Jahr als Tuchexporteure auftraten, wobei sie wiederum rd. 79% des Jahresumsatzes auf sich konzentrierten: Die größten, Tuchexporteure Lübecks nach Preußen 1492/93 (Wert der Tuchausfuhr in m. lüb.; Anteil am Wert der Tuchausfuhr nach Preußen in %) Name Possik, Peter Stoppekalk, Gert Kniip, Godert Petershagen, Hinrich Schulte, Hans
1492 m. lüb.
1492/93
1493
% m. lüb.
% m. lüb.
36312 15076 6290 6468 5264
29,0 12,1 5,0 5,2 4,2
Witte, Hinrich Jagehorn, Arnd
5028 3100
4,0 2,5
1350 1800
4,6 6,1
6378 4900
Hutterok, Hermen Divessz, David Hulscher, Dirk Timmerman, Evert van der Lucht, Joh.
4394 1746 2268 2192 1800
3,5 1,4 1,8 1,8 1,4
450 2910 1980 696 846
1,5 9,8 6,7 2,3 2,9
4844 4656 4248 2888 2646
89938
71,9
23464
79,1
113404
gesamt
6200 4432 1600 —
1200
20,9 42512 14,91 19508 5,4 7890 — 6468 4,0 6464
Lübecker Bürger
% nach 27,6 HR III, 3, nr. 10 12,7 Ebenda. 5,1 — 4,2 HR III, 3, nr. 10 4,2 Ratsurteile16, I, nr. 525 4,1 Ebd., nr. 553 3,2 HUB XI, nr. 288 17 3,1 Ebd., nr. 1036 3,0 Ebd., nr. 167 2,8 Ebd., nr. 1221 1,9 Ebd., nr. 1036 1,7 HR III, 3, nr. 10 73,7
Wollte man nun allein nach den Namen der Tuchexporteure gehen, wie sie das Lübecker Pfundzollbuch verzeichnet, so könnte man zu dem Schluß kommen, daß Lübecks Kaufleute den Tuchhandel nach Preußen fest in der Hand hatten. Wir dürfen dabei aber nicht übersehen, daß die Lübecker Zollbücher die Namen derjenigen Kaufleute verzeichneten, die für das exportierte Tuch den Zoll entrichteten, nicht aber die Namen der Eigentümer des Tuches. Aus anderen Quellen aber wissen wir, daß dies durchaus nicht immer die Lübecker Kaufleute selbst waren. So wurde zum Beispiel 1476 in Lübeck einem Hans Wolf, der „to Lubeke mit Hansz Greveraden to husz" saß, aus unbekanntem Anlaß (Konkurs?) ein Terling Laken arrestiert, den die Danziger Albert Brambeke und Johann vam Holte als ihr Eigentum beanspruchten. Letzterer hatte den Terling englischer Laken aus dem Westen nach Lübeck an Hans Wolf zur Weiterleitung an Albert Brambeke gesandt, der nun ihr gemeinsames Eigentum durch eine vor den Danziger Schöffen beschworene und an Lübeck übersandte Erklärung zu freien 16 17
Lübecker Ratsurteile, hrsg. v. W. EBEL, Bd. 1 ( 1 4 2 1 - 1 5 0 0 ) , Göttingen 1 9 5 5 . Hansisches Urkundenbuch, Bd. 8—11, bearb. v. W. STEIN, Leipzig 1899—1916.
Lübecker Preußenhandel
249
suchte.18 Dasselbe war der Fall, als 1480 zwei Terling Laken, die den Danziger Bürgern Hans Barenbrock und Anthonius Bokelman gehörten, in die Konkursmasse des Lübecker Bürgers Berndt Bodecker hineingeraten waren.19 Besonders deutlich wird die Tatsache, daß Lübecker Kaufleute vielfach nur als Spediteure Danzigern gehörendes Tuch über Lübeck weiterleiteten, am Beispiel der Ladungen der 1491 durch dänische Seeräuber zwischen Reval und Lübeck und zwischen Lübeck und Danzig genommenen Schiffe. Nach Aussage des Danziger Chronisten Caspar Weinreich erlitten „die von Dantzke an laken und guttern auf 14000 Reinisch gülden und die von Lubke auf 5000 Reinisch gülden" Schaden dabei.20 Ein uns erhalten gebliebenes Lübecker Schadenszertifikat21 bestätigt nicht nur, was die Höhe des Lübecker Gesamtschadens anbelangt, den Danziger Chronisten vollkommen, sondern macht es uns auch möglich, den Wert der Lübecker Bürgern gehörenden Ladungsteile in den vier auf der Fahrt zwischen Lübeck und Danzig genommenen Schiffen genau anzugeben: er betrug rd. 1609 rh. fl. Da kaum anzunehmen ist, daß Danziger Kaufleute in dem zwischen Reval und Lübeck genommenen Schiff Ladungswerte besaßen und da keines der zwischen Lübeck und Danzig genommenen Schiffe nach Danzig gehörte, entfielen die als Danziger Schaden angegebenen 14000 rh. fl. in vollem Umfang auf die Ladungsanteile der zwischen Lübeck und Danzig geraubten vier Schiffe. In ihnen bestand also die Ladung, als deren ersten und wertvollsten Bestandteil der Chronist ausdrücklich Tuch nennt, zu 14000 rh. fl. aus Danziger und nur zu 1609 rh. fl. aus Lübecker Eigentum. Im einzelnen werden dabei in dem Lübecker (!) Schadensverzeichnis an Tuchsendungen aufgezählt: 3 Terling Laken, 1 droges Faß im Werte von zusammen 1997 m. 8 ß lüb., je zur Hälfte nach Lübeck und nach Danzig gehörend; 1 Packen Laken im Werte von 601 m. lüb., von dem Lübecker Arnd Schinkel an den Danziger Hermen Lubbingk als Eigentum des letzteren abgeschickt; 1 Ballen Ulmer Sardoke im Werte von 138 m. lüb., dem Lübecker Bürger Hans Dreyer gehörend; 1 Terling Laken im Werte von 700 m. lüb., einem Campener Bürger gehörend und für diesen durch den Lübecker Bürger Wolter van Lennep nach Danzig versandt. Von diesen hier genannten Tuchsendungen im Werte von zusammen 3435 m. 8 ß lüb. gehörten also nur l l / 2 Terling Laken und 1 Ballen Sardoke im Werte von zusammen 998 m. 12 ß lüb. Lübecker Bürgern als Eigentum. Wir sind somit berechtigt zu der Feststellung, daß die Lübecker Vermittlung im Tuchhandel von Westeuropa nach dem Osten, soweit dieser den Weg über is WAP Gdaüsk, Ksiegi lawnicze, 300. 43, 196, S. 222. 19 Ebenda, 300. 43. 197, S. 22; zu Bodecker siehe Lübecker Ratsurteile, Bd. 1, a . a . O . , nr. 240, 268, 861. 20 Scriptores rerum Prussicarum IV, a. a. O., S. 783. 21 Hanserecesse, 3. Abt., Bd. 3, a. a. O., nr. 10.
250
W . STABE
Lübeck nahm, nicht mehr in erster Linie darin bestand, daß der Lübecker Kaufmann im Westen das Tuch einkaufte, um es in seiner Heimatstadt oder in einem anderen Ostseehafen selbst wieder zu verkaufen, sondern vielmehr darin, daß er das Tuch der Kaufleute aus dem Westen oder aus dem Osten an seinen Bestimmungsort weiterleitete, ohne in irgendeinem Augenblick an ihm Eigentumsrecht erworben zu haben. Nur in wenigen Fällen waren die Lübecker Tuchexporteure am Ende des 15. Jh. noch, einzeln oder in Gesellschaft mit Danziger Kaufleuten handelnd, Eigentümer des von ihnen nach Preußen exportierten Tuches. Die Entwicklung des durch den Sund gehenden Massengutverkehrs zwischen Preußen sowie den Niederlanden und England hatte längst dazu geführt, daß die im Gegenverkehr eingeführten Tuche aus Westeuropa dort entweder durch Danziger Kaufleute oder deren Beauftragte eingekauft und über Lübeck nach dem Osten geschickt wurden, wenn sie nicht gar die Kaufleute aus dem Westen selbst über Lübeck nach dem Osten versandten oder brachten. Zwar wurde in Lübeck auch gegenüber hansischen Kaufleuten eine ganze Reihe von beschränkenden Praktiken geübt; doch bestand in Lübeck kein Durchfuhrverbot, sondern nur ein Verbot des Gästehandels, so daß hansischen Kaufleuten im Prinzip immer die freie Durchfuhr ihrer Waren zustand. 22 Nur aus dieser spezifischen Vermittlungsfunktion ist es auch zu erklären, daß ein einzelner Lübecker Kaufmann wie Peter Possik im Jahre 1492 für rund 36000 m. lüb. Tuch nach Danzig versenden konnte. Es kann sich hierbei nur zu einem geringen Teil um Eigengut gehandelt haben, denn außerdem führte Possik im gleichen Jahre noch Waren im Werte von 11052 m. lüb. (wiederum vor allem Tuch) nach Reval und Riga aus. Seiner Ausfuhr im Werte von insgesamt 47690 m. lüb. stand dabei nur eine Einfuhr im Werte von 1875 m. lüb. gegenüber. Eine so ausgedehnte Handelstätigkeit konnte er — selbst unter äußerster Anspannung seines Kredites — nicht mit eigenem Kapital bestritten haben. Nach dem Tuch folgt auf dem zweiten Platz, deutlich abgesetzt, das Salz. Das aus Lübeck nach Preußen exportierte Salz war ausschließlich „Travensalz", das aus der Lüneburger Saline stammte, wie sich aus dem für Salz in allen Jahren zwischen 1492 und 1496 für die Verzollung in Lübeck festgesetzten Taxpreis von 18 m. lüb. je Last ergibt. Die Bedeutung des über Lübeck in den Ostseeraum gelangenden Lüneburger Salzes ging seit dem Ende des 14. Jh. unaufhaltsam zurück, seitdem Baiensalz und schottisches Salz in Massen durch den Sund in die Ostsee eingeführt wurden, so daß die starke Nachfrage des Ostens zum größten Teil damit befriedigt werden konnte. Das Travensalz behauptete nur durch seine höhere Qualität und als Lückenbüßer für die Deckung eines Mindestbedarfes bei zeitweilig völligem oder teilweisen Ausbleiben der Baiensalzzufuhr einen bescheidenen Platz auf dem Danziger Salzmarkt. Diese Feststellung wird durch die starke Salzausfuhr des Jahres 1492 nicht widerlegt, 22
GÖNNENWEIN,
O., Das Stapel- und Niederlagsrecht, Weimar 1939, S. 69f.
Lübecker
Preußenhandel
251
sondern nur bestätigt, wenn wir berücksichtigen, daß eben in diesem Jahre die Salzzufuhr aus Westeuropa ins Stocken geraten war.23 Als dritter der wichtigeren Ausfuhrartikel Lübecks nach Preußen wird gewöhnlich der Hering genannt.24 Es mag das bis zur Mitte des 15. Jh. auch für den Verkehr von Lübeck nach Danzig seine Geltung gehabt haben; für den Ausgang des Jahrhunderts muß diese Reihenfolge jedoch schon aufgegeben werden. In den hier untersuchten Jahren 1492 und 1493 betrug der Anteil der Heringsausfuhr an der Gesamtausfuhr Lübecks nach Danzig nur 5%. Nach den Danziger Pfahlkammerbüchern für die Jahre 1468—1472 und 1474—1476 kamen im Jahresdurchschnitt rund 129 Last Hering, nach den Lübecker Pfundzollbüchern für 1492-1496 jährlich durchschnittlich rund 82 Last von Lübeck nach Danzig.25 Mit zusammen rund 319 Last lagen die beiden Jahre 1492 und 1493 also noch erheblich über dem Durchschnitt der übrigen Jahre in der zweiten Hälfte des 15. Jh. Dies ist vor allem auf das Ansteigen des Heringshandels zwischen Lübeck und Danzig im Jahre 1493 (rund 272 Last) zurückzuführen, wofür vorerst keine Erklärung gegeben werden kann. Danzig verwaltete seit 1466 die den preußischen Städten 1368 auf Schonen verliehene Fitte als sein Eigentum, nachdem sich seine Nachbarstädte schon Jahrzehnte vorher aus Schonen zurückgezogen hatten.26 Wie die Ausfuhrzahlen für 1494 zeigen, hatte es bis zum Ende des 15. Jh. die eigene Heringsverarbeitung auf Schonen so weit entwickelt, daß es in diesem Jahr mit seiner Heringsausfuhr hinter Lübeck und knapp vor Stettin an zweiter Stelle stand.27 Ebenso hatte es den unmittelbaren Austausch mit Aalborg entwickelt und war zu einem Großabnehmer für den aus den Niederlanden durch den Sund eingeführten Nordseehering geworden, wie aus der folgenden Zusammenstellung seiner Heringseinfuhren in den Jahren 1474/75 hervorgeht (siehe S. 252). Danzig erscheint also am Ende des 15. Jh. als bedeutender Handelsplatz für Hering an der südlichen Ostseeküste. Es bezog diesen größtenteils direkt aus den Produktions- und Fanggebieten, unter denen Schonen, Aalborg und die Niederlande als die wichtigsten in dieser Zeit anzusehen sind. Nur ein geringer Teil seiner Heringseinfuhren gelangte noch durch den Lübecker Zwischenhandel nach Danzig. An die drei im nachstehenden genannten Güter Tuch, Salz und Hering schloß sich ein reichhaltiger Katalog der verschiedensten Waren an, die jedoch zu23
Ausführlicher zum Salzhandel zwischen Lübeck und Preußen STARK, W., Der Salzhandel von Lübeck nach Preußen am Ende des 15. Jh., in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe (im Druck).
24
LATJFFER, V . , a . a . O . , S. 23; SAMSONOWICZ, H . , H a n d e l z a g r a n i c z n y , a. a. O., S. 347.
25
STARK, W . , D a n z i g e r P f a h l k a m m e r b ü c h e r , a . a . O . , S. 6 6 ; B R U N S , F . , P f u n d z o l l b ü c h e r ,
in: Hans. Gesch.bll. 1907, S. 464. 26 SCHÄFER, D., Das Buch des Lübeckischen Vogtes auf Schonen (Hansische Geschichtsquellen, hrsg. vom Hansischen Geschichtsverein, Bd. 4, 2. Aufl., Lübeck 1927, S. 110. 27 Ebenda, S. 111.
252
W . STARK Danzigs
Heringseinfuhr
nach den Herkunftshäfen
1474/75^
1474
1475
1474/75
%
Aalborg Niederlande Schonen Lübeck Sonstige Häfen
312 147 117 161 32
251 110 90 28 18
Last Last Last Last Last
563 Last 257 Last 207 Last 189 Last 50 Last
44,5 20,3 16,3 14,9 4,0
Gesamt
769 Last
497 Last
1266 Last
100,0
Last Last Last Last Last
meist in so geringen Mengen gehandelt wurden, daß sie im einzelnen nicht spürbar ins Gewicht fielen.29 Hierzu zählen auch die ohne nähere Bezeichnung, lediglich nach der Verpackungsart benannten Warensendungen. All diese Restposten machten, zusammengerechnet für die Jahre 1492/93, wertmäßig nur 11,9% der Lübecker Ausfuhr nach Danzig aus. Als größere Gruppen zeichneten sich dabei nur Getränke (Einbecker und Hamburger Bier, Weine) sowie Häute und Felle ab, dazu Südfrüchte und Gewürze. Größtenteils waren es also Luxuswaren (Getränke; Südfrüchte) beziehungsweise Waren, die auch auf anderen Wegen zu beschaffen waren (Häute). II Auch bei der Einfuhr nach Lübeck übertraf Danzig seine Nachbarstadt Königsberg bei weitem. Der Anteil Königsbergs an der Lübecker Einfuhr aus Preußen würde sich sicher noch verringern, wenn wir über genauere Unterlagen für den Getreidehandel zwischen Preußen und Lübeck verfügen würden. Ihr Fehlen für die hier untersuchte Zeit ist auch bei der wertmäßigen Aufschlüsselung der Lübecker Einfuhr aus Preußen nach Warenarten in Rechnung zu setzen (siehe S. 253). Bei der Einfuhr aus Preußen sind gegenüber den starken Schwankungen in der Gegenrichtung zunächst die relative Beständigkeit, aber auch die niedrigere Umsatzhöhe hervorzuheben. Es wird dies unter anderem auch darauf zurückzuführen sein, daß bei der Einfuhr nicht eine einzelne Warenart so eindeutig vorherrschte wie in der Ausfuhr das Tuch. Während die Einfuhr Lübecks aus Königsberg sich fast ausschließlich aus land- und forstwirtschaftlichen Produkten zusammensetzte, bestimmten in der aus Danzig Stapelwaren wie Wachs, Fisch, Kupfer, Blei und Eisen mit einem Anteil von zusammen 60,6% des Wertes in den Jahren 1492/93 das Bild. Danzigs Kaufleute leiteten diese Güter auch am Ende des 15. Jh. noch zu einem Teil über Lübeck, ohne daß wir 28 Zusammengestellt nach den Angaben bei LAUFFER, V., a. a. O., S. 12 ff. Siehe die Zusammenstellung bei BRTTNS, F., Pfundzollbücher, in: Hans. Gesch.bll. 1907, S. 463 ff.
29
Lübecker Preußenhandel
253
Der Anteil der Warenarten am Wert der Lübecker Einfuhr aus Preußen 1492/93 1492 m. lüb. aus Danzig Wachs Fische Holz Kupfer Blei Flachs Pech Asche Teer Eisen Best Gesamtwert aus Königsberg Flachs Holz Fische Asche Pech Teer Best Gesamtwert
5002 3001 1640 3513 4277 829 642 1094 357 142 2586
% 21,5 13,2 7,1 15,3 18,5 3,6 2,8 4,7 1,5 0,6 11,2
23083 100,0
4640 75,9 530 8,8 383 6,3 165 2,7 69,5 1,1 74 1,2 244,5 4,0 6106 100,0
1493 m. lüb.
%
1492/93 m. lüb.
%
6731 4006 5464 2633 1549 959 1242 198 209 195 5038
23,8 14,2 19,6 9,3 5,4 3,3 4,3 0,7 0,8 0,7 17,9
11733 7007 7104 6146 5826 1788 1884 1292 566 337 7624
22,9 13,8 13,9 12,0 11,3 3,4 3,7 2,3 1,1 0,6 14,8
28224 100,0
51307
100,0
720 736 110 200 15 72 24
38,3 39,3 5,8 10,7 0,8 3,8 1,3
1 877 100,0
5360 67,1 15,8 1266 493 6,2 4,6 365 84,5 1.1 146 1,8 268,5 3,4 7 983 100,0
genau sagen könnten, in welchen Formen sich der Handel mit ihnen im einzelnen vollzog. Das von Danzig in großen Mengen über See exportierte Wachs stammte in der Mehrzahl aus Litauen30, daneben auch aus Podiasien und dem nordöstlichen Masowien31 und nur zu einem kleinen Teil aus der überseeischen Einfuhr aus 30
31
HIRSCH, TH., Danzigs Handels- und Gewerbsgeschichte unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, Leipzig 1858, S. 166; Hansisches UB., Bd. 9, a. a. O., nr. 688, § 7; Bd. 11, a. a. O., nr. 1020 und 1030. Zum zeitweiligen Rückgang das Wachshandels mit Litauen siehe ebenda, Bd. 9, nr. 300; nach Beendigung des dreizehnjährigen Krieges 1454—1466 scheint Danzig den Handel mit litauischen Waren aber wieder vollständig an sich gezogen zu haben, wofür nicht zuletzt das Fehlen aller Wachseinfuhren Lübecks aus Königsberg am Ende des 15. Jh. spricht. B I S K O T , M . , Z problematyki handlu polsko-gdariskiego w I I polowie X V wieku, in: Przeglqd Historyczny 45, 2/3, Warszawa 1954, S. 393ff.; DERSELBE, Handel wiSlany w latach 1454—1466, in: Eoczniki Dziejöw Spolecznych i Gospodarczych 14, Poznan 1953, S. 181.
254
W . STARK
Livland 32 . 1492 machte die Wachsausfuhr nach Lübeck ungefähr ein Zehntel der gesamten seewärtigen Ausfuhr Danzigs aus.33 Das Wachs wurde entweder von Lübecker Kaufleuten in Danzig aufgekauft 34 oder kam als Kommissionsgut von Danzigern nach Lübeck35. Da für den Wachshandel relativ große Kapitalien erforderlich waren, war er in Lübeck ziemlich stark konzentriert. In den Jahren 1492/93 führte allein der spätere Lübecker Ratmann und Bürgermeister David Divessen (Divitz)36 für 5989 m. lüb. Wachs aus Danzig ein (= 51% der von dort kommenden Wachseinfuhr). Er und drei weitere Lübecker Großhändler konzentrierten in diesen beiden Jahren fast zwei Drittel (64,8%) der Wachseinfuhren aus Danzig auf sich. Insgesamt traten im gleichen Zeitraum im Lübecker Pfundzollbuch 22 verschiedene Importeure von Wachs aus Danzig auf, von denen 17 gleichzeitig auch als Tuchexporteure dorthin feststellbar waren, was auf einen engeren Zusammenhang zwischen Tuch- und Wachshandel hindeutet. Kupfer und Blei der Danziger Ausfuhr nach Lübeck stammten aus der Slowakei beziehungsweise aus Kleinpolen 37, während das in nur geringen Mengen ausgeführte Eisen schwedischer Herkunft war. 38 Das Verhältnis zwischen der Kupfer- und Bleiausfuhr Danzigs nach Lübeck und der durch den Sund westwärts gehenden läßt sich aus hier nicht näher zu erörternden Gründen nicht wie bei Wachs bestimmen. Dagegen ergibt ein Vergleich der Kupfereinfuhren Lübecks aus Schweden mit der aus Danzig, daß das slowakische Kupfer auf dem Lübecker Metallmarkt nur eine ziemlich untergeordnete Rolle spielte.39 Für einen über Lübeck hinausgehenden Kupferhandel der Danziger Kaufleute lassen sich kaum Zeugnisse erbringen. Offenbar zogen Lübecks Kupferhändler, die auf der Route Stockholm-Lübeck handelten, spätestens in ihrer Heimatstadt das slowakische Kupfer an sich und vertrieben es von hier aus zusammen mit dem schwedischen Kupfer westwärts und auch in die Ostsee.40 Darauf 32
LAUFFER, V., a. a. O., S. 14f. und 37; SAMSONOWICZ, H., Handel zagraniczny, a. a. O.;
S. 343. Siehe die Angaben über Danzigs seewärtige Ausfuhr bei LAUFFER, V., a. a. O., S. 37, und über Lübecks Einfuhr aus Danzig bei BRUNS, F., Pfundzollbücher, in: Hans. Gesch.bll. 1908, S. 364f. Hansisches UB., Bd. 10, a. a. O., nr. 315. 35 WAP Gdarisk 300. 43. 197, S. 45. 36 FEHLING, E. F., Lübeckische Ratslinie von den Anfängen der Stadt bis auf die Gegenwart, Lübeck 1925, nr. 581, S. 85. 37 HALAGA, 0 . R., Kaufleute und Handelsgüter der Hanse im Karpatengebiet, in: Han33
sische Geschichtsblätter 8 5 / 1 9 6 7 , S . 59—84; ZIENTARA, B./M^-CZAK, A . U. a., Dzieje
gospodarcze Polski do 1939 r., Warszawa 1965, S. 119. In der Lübecker Einfuhr findet sich nur Osemund, also schwedisches Eisen; siehe BRUNS, F., Pfundzollbücher, in: Hans. Gesch.bll. 1908, S. 361 ff. 39 Ebenda, S. 362f. und 379 ff. Ebenda, Beilage. 71 Ebenda. '2 Ebenda.
Hansekontore
337
daß „des denischen underthanen zu Bergen, so wol als andere orter Inn Hansestedten zu hantiren, Ire waren aus und einzufuren, verbotten sein sollte . . 7 3 Der Altermann des Kontors entgegnete darauf, daß man laut Odense-Vertrag von 1560 den Handel dänischer Untertanen in den Hansestädten nicht verbieten könne. Es müsse aber verhindert werden, daß hansische Schiffe Waren dänischer Kaufleute transportieren, und jegliche „Maschoppie" mit diesen sei auszuschließen. 74 „ . . . Wenn man den Bergischen zuviel vertrauen und die Libera Commercia hinc eide mit den uberstrandischen" durchgehen lasse, „wurde solches zu undergank des gantzen Cunthors gereichen . . . dan es wurden die Bergischen, denen es freistünde nach Norden (zu) segeln und alle Ire der Normander wahren, damit sie den Teutschen Kaufman bezahlen solten, an sich bringen, und alß die wahren Ihres gefallens widerumb vereussern, zu mercklichen nachteil . . f ü r den Hansekaufmann werden. 75 Der Hansetag stellte fest, daß der Schiffer hart zu bestrafen sei.76 Nach Bekanntwerden dieses Beschlusses aber blieb Nicolaus de Fruit, ein Holländer, der das Bergener Bürgerrecht besaß, nicht untätig: er beschwerte sich beim dänischen König Friedrich II. 7 7 Zusammen mit einer Schilderung des Vorfalls betonte er, die Kontoralterleute hätten gegenüber dem Bergener Rat zugesichert, daß Hans Babe kein Schaden entstehen würde. Ungeachtet dessen sei der Schiffer jetzt doch zu 100 Reichstalern Strafe verurteilt und ihm die Schiffahrt nach Bergen gänzlich untersagt worden. 78 Während seines Aufenthaltes in Stralsund schrieb de Frint außerdem am 30. April 1585 einen Brief an den Rat und forderte von diesem völlige Straffreiheit für Hans Babe. 79 Am 5. Mai traf in Stralsund auch ein Brief des dänischen Königs ein, welcher am 17. April geschrieben worden war. 80 In ihm wurde gefordert, daß die „peen" des Schiffers aufzuheben und es das gute Recht des dänischen Kaufmanns sei, seine in Stralsund „wollerkauften gutter" auch ungehindert auszuführen. Drohend wird hinzugefügt: „. . . darmitt wir nicht zu ander mittell unnd wegen und kegen Verordnungen, die Euch und den Euren nicht weniger ungelegen . . sind, werden greifen müssen. 81 Als Beilage zu dem königlichen Schreiben fungierte ein weiterer Brief de Frints, in welchem dieser betonte, daß aus dem Odense-Vertrag, der die Gleichberechtigung der dänisch-norwegischen Untertanen garantiere, auch „unweddersprechlich erfolgert, datt ock tho glick der kon. Mat. underthan In der dutschen Schepe allenthalben mitt andern kopluden thoschepen thogelaten syn moth" 8 2 . 73
Ebenda, nr. 4/125: Hanserezeß 1584. « Ebenda. 75 Ebenda. 76 Ebenda. 77 Ebenda, Beilage. 78 Ebenda, Beilage. 79 Ebenda, Beilage. «> Ebenda, Beilage. 81 Ebenda. 82 Ebenda, Beilage. 23*
338
K . - P . ZOELLNER
Daraufhin beeilte sich der Stralsunder Rat, in einem Brief vom 17. Mai dem dänischen König mitzuteilen, daß Hans Babe die Strafe erlassen wurde und es Nicolaus de Fruit gestattet sei, „seine alhier bei uns wollerkaufte gutter in eigenem oder darzu gefrachten schiff unverhindert abzuschiffen"83. Zum Zeichen seines guten Willens gab er gleichzeitig bekannt, daß er seinem Mitbürger, dem Schiffer Jaspar Timmerman, erlaubt habe, „von gemelten de Frindts gutter zwo last tonnen mehl einzunehmen und mit sich gen Bergen zufhuren"84. Mit diesem Beschluß hatte der Stralsunder Rat die hansischen Handelsbestimmungen offiziell durchbrochen; die „butenhansische Maschoppie" wurde praktisch als legale Handelsform anerkannt. Für Bergen bedeutete diese Tatsache gleichzeitig eine offizielle Billigung des Handelsverkehrs außerhalb des Hansekontors („über Strandes"). Man kann den Beschluß als logische Folge der bereits bestehenden Realitäten ansehen. Die Stadt Stralsund hatte sich mit ihm zwar in Gegensatz zu den hansischen Handelsbestimmungen, vor allem zum Bergener Kontorstatut, gestellt; für einen gewinnbringenden Handel war dieser Schritt aber unbedingt notwendig. Wir sehen hieran, daß selbst im engsten Kreise der Hansestädte, dem lübischen Quartier, das System des hansischen Handelsverkehrs immer stärker verletzt wurde. Diese Entwicklung trug dazu bei, daß sich auch in Bergen ein selbstbewußtes Bürgertum herausbildete, „das nicht nur mehr geduldet sein wollte, sondern auch bald das ihm zustehende Recht der freien Handelsausübung forderte."85 Die Bergener Bürger errichteten sich außerhalb der Deutschen Brücke ein Bollwerk, um bessere Voraussetzungen für den Handel mit ausländischen Kaufleuten zu schaffen.86 Daß sie dabei von der dänischen Zentralgewalt unterstützt wurden, ergab sich aus den Wünschen des Königtums, den hansischen Einfluß zurückzudrängen und eine eigene Kaufmannschaft zu entwickeln. So wurde durch verschiedene staatliche Maßnahmen der dominierende Einfluß des Kontors eingeschränkt.87 Der „Überstrandhandel" der Kaufleute aus den Hansestädten nahm immer größere Ausmaße an. So mußte das Bergener Kontor 1584 feststellen, daß „in Summa nun woll so viele Schiffe am Strande alß ans Cunthor ankommen".88 Es bildete sich die Praxis heraus, daß hansische Schiffe nur noch halb beladen zum Kontor liefen, während sie die andere Hälfte der Ladung bereits „über Strandes" verkauft hatten. So kam es schließlich, daß in den folgenden Jahrzehnten „das Cunthor zu Bergen in Norwegen beinahe (von) alle(n) und jeden . . . entblößet" worden war.89 Diese Beispiele sollten zeigen, daß in der zweiten Hälfte des 16. Jh. der Widerspruch zwischen dem System des hansischen Handels und den Interessen 83
Ebenda, Beilage.
84
Ebenda.
85 RÖHLK, O . , a . a . O . , S . 4 3 . 86 87
88 89
Stadtarchiv Stralsund, nr. 4/122: Hanserezeß 1579. Über die Organisation und die Urkunden des hansischen Kontors zu Bergen bis 1580, in: Bergens Historiske Forenings Skrifter, nr. 38, Bergen 1932, S. 249. Stadtarchiv Stralsund, nr. 4/124: Wendischer Rezeß 1584. Ebenda, Rep. II/D 1 , 1 : Rezeß Rostocker Kaufleute vom 10. März 1621. BRATTEGABD, O . ,
Hansekontore
339
einzelner Hansekaufleute immer größer wurde und mehr oder weniger schnell zum Zerfall der Eckpfeiler der Hanse, der Kontore, führte. Es war so weit gekommen, daß, wie die Hanseversammlung selbst feststellte, „man das eine Cunthor nach dem Andern zum undergang kohmen lasset und dagegen nit repariret oder auch von neuen aufgebawett der entliche Zersteurung der gantzen Societet zu Verderb der narung, abnemung der Segelation, schwechung der Stedte freyheitt und libertett". 90 Wo sind nun die Ursachen für diese Entwicklung zu suchen? Mit dem Eindringen ausländischer Konkurrenten in den hansischen Wirtschaftsraum ging das Handelsmonopol der Hanse in zunehmendem Maße verloren, wodurch gleichzeitig die Erringung des mehr oder weniger gleichbleibenden Handelsprofits gefährdet wurde. Das Aufeinandertreffen verschiedener Handelsgenossenschaften führte dazu, daß es zu einem Ausgleich der unterschiedlichen Profitraten kommen mußte. Dieses geschah aber, wie Friedrich Engels feststellte, „auf dem entgegengesetzten Weg, durch die Konkurrenz". 91 Von den aufeinandertreffenden verschiedenen Handelsgenossenschaften war nun die Hanse am wenigsten befähigt, diesem Konkurrenzkampf standzuhalten. Ihre Lage verschlechterte sich noch dadurch, daß sie nicht den gesetzmäßig notwendigen Weg der freien Konkurrenz mit den anderen Partnern* suchte, sondern an ihren überholten Handelsbestimmungen festhielt. Hinzu kam, daß unter den veränderten ökonomischen Bedingungen der genossenschaftliche Handel überhaupt hinter dem des einzelnen Kaufmanns zurücktrat, so daß die Ausgleichung der Profitrate mehr und mehr ausschließlich Sache der Konkurrenz wurde.92 Somit konnte das hansische Handelssystem dem einzelnen Kaufmann bei der Erringung des höchstmöglichen Handelsprofits immer weniger dienlich sein und mußte für ihn zu einer Belastung werden. Deshalb zog er es vor, sich außerhalb des Hansekontors niederzulassen und hier Handelsverbindungen mit den fremden Kaufleuten auf der Grundlage der Gleichberechtigung anzuknüpfen, um gewinnbringende Handelsgeschäfte tätigen zu können. Da in der Regel die reiche Kaufmannschaft auch die politischen Geschicke einer Hansestadt bestimmte, kam es zu einem Bruch zwischen dem vor allem durch Lübeck vertretenen hansischen Wirtschaftssystem und den wirtschaftlichen Interessen einzelner Hansestädte, was in entscheidendem Maße dazu beitrug, den inneren Zerfall der Hanse zu beschleunigen. Auf Grund der veränderten Verhältnisse im Charakter des Handels zeigten die Kaufleute und die hinter ihnen stehenden Städte nur noch wenig Interesse an den von ihnen selbst geschaffenen Einrichtungen. Ebenda, nr. 3/115: Hanserezeß 1572. Ergänzung und Nachtrag zum Werke, Bd. 25, Berlin 1964, S. 913. 92 Ebenda. 90
91
ENGELS, F . ,
3.
Bd. des ,Kapital', in:
MARX/ENGELS,
DAS R E I C H , D I E W E N D I S C H E H A N S E UND D I E P R E U S S I S C H E F R A G E UM D I E M I T T E D E S 15. J A H R H U N D E R T S von Marian Bishup
Die preußische Frage war mit der gesamthansischen Problematik des 15. J h . aufs engste verbunden, denn aus zwei wichtigen Gründen berührten preußische Probleme die gesamte Hanse: 1. Formell gehörten das ganze Land Preußen, faktisch allerdings nur die 6 großen Städte (Danzig, Thorn, Elbing, Kulm, Braunsberg, Königsberg) zur Hanse. 2. Zwischen dieser und den Herrschern Preußens — den Hochmeistern des Deutschen Ordens — bestanden wirtschaftliche und politische Verbindungen. Die Hochmeister betrachteten sich um die Mitte des 15. Jh. sogar als „eyn haupt der Henzen". 1 Die politischen und militärischen Ereignisse, die sich in Preußen im Verlaufe des sogenannten Dreizehnjährigen Krieges (1454—1466) abspielten und im Jahre 1466 im Thorner Frieden zur Begrenzung der staatlichen Selbständigkeit des Deutschen Ordens bei gleichzeitigem Übergang der meisten großen Städte in die unmittelbare Herrschaft des polnischen Königs führten, konnten deshalb die anderen Mitglieder der Hanse, mit Lübeck an der Spitze, nicht gleichgültig lassen. Den Kampf führten an der Seite Polens die preußischen Stände, die im Jahre 1440 den sogenannten Preußischen Bund gegründet hatten. In ihm spielten die großen Städte eine entscheidende Rolle, welche hofften, eine größere innere Selbständigkeit, auch auf dem Gebiet des Handels, im Rahmen des polnischen Staates zu erlangen. Polen war bereits seit Anfang des 15. J h . zu einem unentbehrlichen Hinterland für den Handel der meisten großen preußischen Städte geworden. Die polnische Krone erstrebte aus wirtschaftlichen und politischen Gründen die Wiedergewinnung ihrer früheren Länder, des Kulmerlandes und Pommerellens mit der Weichselmündung. Der Kampf um sie spielte sich zu Lande wie auch zur See ab, was die Hanse direkt zu einer Stellungnahme zwang. Derselbe Kampf absorbierte auch andere politisch-soziale Kräfte im 1
STEIN, W., Die Hansestädte, in: Hansische Geschichtsblätter 21/1915, S. 151; vgl. auch S A T T L E B , C . , Die Hanse und der Deutsche Orden in Preußen bis zu dessen Verfall, in: ebenda 4/1882, S. 69ff.; RUNDSTEDT, H.-G. V., Die Hanse und der Deutsche Orden in Preußen bis zur Schlacht bei Tannenberg (1410), Weimar 1937.
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Reiche, insbesondere Kaiser Friedrich III. von Habsburg und die Fürsten. Es wurden weiter die an der Ostsee gelegenen Länder Dänemark, Schweden, Pommern, Livland sowie Böhmen und Ungarn in ihn verwickelt. Natürlich mußte auch das Papsttum als formeller Oberherr Preußens eine bedeutende Bolle spielen. Eine ausführliche Analyse dieser komplizierten Problematik erfolgte schon anderenorts.2 Es sei hier nur auf solche Fragen eingegangen, welche den Hanseforscher besonders interessieren, etwa die Stellung der wendischen Hanse zum Kampf um Preußen3, wobei aber auch die politischen Kräfte im Reiche in ihren Verhältnissen zueinander berücksichtigt werden sollen. Wegen der Rolle des Reiches als eines sozialen und politischen Hinterlandes für den preußischen Zweig des Ordens sind beide genannten Probleme in gewissem Grade verbunden. Die Stellung der einzelnen Kräfte im Reich übte auch einen großen Einfluß auf die Haltung der Hanse aus. Deshalb macht es nur die gemeinsame Betrachtung beider Probleme möglich, die Einstellung der niederdeutschen Hanse mit Lübeck an der Spitze besser zu verstehen. Die Frage der livländischen Städte, welche unter dem Druck ihres geistlichen Herrschers, des livländischen Ordensmeisters, eine andere Haltung einnehmen mußten, kann hier nur angedeutet werden.4 II. Die Lage des Reiches um die Mitte des 15. Jh. ist dadurch gekennzeichnet, daß das Rittertum an Bedeutung verlor und verarmte, während gleichzeitig der Einfluß der Territorialfürsten wuchs, was auch die Städte deutlich zu spüren bekamen. Die wirtschaftliche Dezentralisation des Reiches erleichterte und vertiefte die politische Zersplitterung und führte zur Herabsetzung der der kaiserlichen Gewalt zukommenden Bedeutung. Die Territorialfürsten, wie die Hohenzollern in Brandenburg und die Wettiner in Sachsen, waren fast selbständige Gewalten geworden; sie betrieben eine eigene Politik, die darauf BISKUP, M., Trzynastoletnia wojna z Zakonem Krzyzackim 1464—1466, Warszawa 1967. Vgl. dazu die Rezension dieser Arbeit von NOWAK, Z., in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 16/1968, S. 651—653. — In der Arbeit von Biskup befindet sich die umfassende Darstellung und Beweisführung der im folgenden in großen Zügen umrissenen Vorgänge. 3 Zur Einstellung der Hanse im Dreizehnjährigen Krieg besonders SIMSON, P., Danzig im 13jährigen Kriege von 1454—1466, in: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 29/1891; DAENELL, E., Die Blütezeit der deutschen Hanse, Bd. 2, Berlin 1906, S. 146ff.; am ausführlichsten CIESLAK, E., Stosunek Zwiqzku Miast Hanzeatyckich do Polski w okresie wojny trzynastoletniej 1454—1466, in: Zapiski Historyczne 21/1956, S. 7 ff. 4 Auf die Notwendigkeit, die Einstellung und die Interessen der einzelnen Städtegruppen zu berücksichtigen, hat besonders BBANDT, A. V., Die Hanse und die nordischen Mächte im Mittelalter, Köln 1962, S. 8f., verwiesen.
2
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abzielte, die Bedeutung ihrer Territorien zu erhöhen. Für Brandenburg etwa bedeutete die Erwerbung der Neumark das Hauptziel, in der seit dem Jahre 1402 der Deutsche Orden herrschte.5 Die Ohnmacht des Kaisers wie auch die politische Zersplitterung des Reiches würden wohl kaum eine gemeinsame militärische Aktion ermöglicht haben, wenn der Deutsche Orden eine solche erbeten hätte. Dessen Besitzungen außerhalb Preußens und Livlands lagen besonders in den mittleren und südwestlichen Gebieten des Reiches; sie bildeten sogenannte Balleien, welche sich schon damals überwiegend unter dem Einfluß der Territorialfürsten befanden. Der Oberherr des deutschen Zweiges des Ordens, der Deutschmeister, wurde schon um die Mitte des 15. Jh. gewissermaßen als Reichsfürst angesehen; er strebte die Selbständigkeit gegenüber dem Hochmeister in Preußen an. Aus diesem Grunde konnte nur geringe finanzielle oder militärische Hilfe aus den deutschen Balleien kommen. Außerdem befanden sich diese seit dem Ende des 14. Jh. in einer schwierigen finanziellen Lage.6 Als Bundesgenossen des Ordens kamen in erster Linie die Fürsten Brandenburgs und Sachsens in Frage, für die der Gedanke der Solidarität mit der preußischen Ordensherrschaft wegen ihres Kampfes mit den eigenen aufrührerischen Untertanen, vor allen Dingen mit den Städten, eine Rolle spielte. Ihre Hilfe aber war von den finanziellen Mitteln des Ordens und im Falle Brandenburgs von territorialen Zugeständnissen abhängig. Auf die Stellung der wendischen Städtegruppe mit Lübeck als Hauptort mußte deren damalige wirtschaftlich-soziale Lage einwirken. Die frühere alleinige Handelsvermittlung zwischen dem nordöstlichen und dem westlichen Europa ließ sich schon damals nicht mehr behaupten, und die Hanse befand sich um die Mitte des 15. Jb. nach der treffenden Bezeichnung von K. Fritze am „Wendepunkt" ihrer Geschichte.7 Die ungenügende Entwicklung einer eigenen handwerklichen Produktion und die Begrenzung des lokalen Marktes zwangen darüber hinaus die wendischen Städte zum Handel mit fremden Waren, wodurch der Konservatismus ihrer Politik geprägt und ihre Wirksamkeit eingeschränkt wurde. Auf dem Gebiet des Handels war ihnen in den niederländischen Kaufleuten eine bedrohliche Konkurrenz erwachsen. Sich auf die Entwicklung eines eigenen Tuchhandels, der Fischerei und einer Flotte stützend und gleichzeitig als Aufklärer nicht nur von Wald-, sondern auch von landwirtschaftlichen Produkten des Ostseegebietes auftretend, durchbrachen diese das alte Monopol der Hansen in Handel und Schiffahrt. Dazu zeigten sich 5
LÜTGE, F., Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 2. Aufl., Berlin/Göttingen/ Heidelberg 1960, S. 177ff.; HÄUTUNG, F., Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jh. bis zur Gegenwart, Leipzig 1938, S. 6FF.; Deutsche Geschichte, hrsg. v. H. J . BARTMUSS,
6
VOIGT, J., Geschichte des Deutschen Ritter-Ordens in seinen zwölf Balleien in Deutschland, Bd. 1, Berlin 1857, S. 552ff.; TUN HAAF, R., Deutschordensstaat und Deutschordensballeien, Göttingen 1954, S. 27 ff. FRITZE, K., Am Wendepunkt der Hanse. Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte wendischer Hansestädte in der ersten Hälfte des 15. Jh., Berlin 1967, S. 19 ff.
ST. DOERNBERG, u. a., B d . 1 , B e r l i n 1 9 6 5 , S . 379FF.
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zwischen den einzelnen Städtegruppen innerhalb der Hanse bedeutende Interessengegensätze. Die meisten preußischen Städte mit Danzig und Thorn an der Spitze verbanden sich immer enger mi' ihrem natürlichen Hinterlande, den polnischen Gebieten; 8 sie waren auch stark an der Entwicklung von Handelskontakten mit den niederländischen Kaufleuten interessiert. Dazu kamen in den wendischen Städten selbst die inneren Auseinandersetzungen mit der bürgerlichen, teilweise auch mit der plebejischen Opposition, welche gegen die Herrschaft des Patriziats, einer immer stärker konservativ werdenden sozialen Gruppe, auftrat. 9 Außerdem gestalteten der Druck der Fürsten und die wachsende Selbständigkeit der beiden skandinavischen Reiche Dänemark und Schweden die Lage für die wendischen Hansestädte immer ungünstiger. Immerhin aber repräsentierten sie noch eine bedeutende wirtschaftlichfinanzielle und politische Macht im Ostseegebiet, und ihr Verhältnis zum preußischen Konflikt mußte beiden kämpfenden Seiten wichtig erscheinen. Die Stellung der wendischen Hansen war kompliziert. Einerseits fühlten sie sich infolge der wachsenden Handelsbeziehungen und aus hansischer Solidarität mit den preußischen Städten verbunden; andererseits hatte besonders Lübeck seit langer Zeit vieles mit dem Orden als Protektor der Hanse gemeinsam, welcher auch bei der Abwicklung seines Eigenhandels sich besonders in Flandern hansischer Privilegien bedienen durfte. Der Orden nahm zwar schon zu dieser Zeit keine Bürgersöhne mehr auf und war eigentlich schon eine Art Versorgungsanstalt (Hospital) ausschließlich für den verarmten Adel geworden;10 doch konnten die alten Bande, welche auf Grund beiderseitiger Interessen und Vorteile erwachsen waren, nicht sofort zerrissen werden. Diese Umstände mußten sich — neben dem Streben nach finanziellem Gewinn - während des preußischen Konflikts in einer zweideutigen Haltung der wendischen Hansen gegenüber Polen und den preußischen Städten sowie gegenüber dem Orden widerspiegeln. Von Bedeutung war dabei auch, daß das Verhalten der preußischen Städte, die nach dem 6. Februar 1454 mit Waffengewalt die Ordensherrschaft abgeworfen und sich dem polnischen König Kasimir dem Jagellonen als ihrem neuen Herrscher unterstellt hatten, bei dem konservativen Lübecker Rat nicht sofort Zustimmung finden konnte. Dieser fürchtete bekanntlich jede größere Ausschreitung gegenüber den herrschenden Gewalten, und die Lübecker konnten auch überzeugt sein, daß der Ausgang des bewaffneten Kampfes um Preußen trotz der anfänglichen Siege der preußischen 8
MAIOWIST, M . , Podstawy gospodarcze przywröcenia jednosci paAstwowej Pomorza Gdanskiego z Polsk^ wXVw., in: Przeglqd Historyczny45/1954, S. 141-187; BISKUP, M. Preußisch-polnische Handelsbeziehungen in der ersten Hälfte des 15. Jh., in: Hansische Studien, H. Sproemberg zum 70. Geburtstag, hrsg. v. G. HEITZ, und M. UNGEB, Berlin 1961, S. 2 - 6 .
9 FRITZE, K . , a . a . O . , S . LLÖFF.; CIESLAK, E . , a . a . O . , S . 21FF. 10
Die inneren Wandlungen des Deutschen Ritterordens, in: Geschichte und Gegenwartsbewußtsein, Festschrift für H. Rothfels zum 70. Geburtstag, Göttingen 1963, S. 249 ff.
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Stände noch nicht entschieden war. Es unterliegt keinem Zweifel, daß auf diese Überzeugung im Frühjahr 1454 die allgemeine Meinung im Reiche, die durch die Agitation der Ordensmitglieder beeinflußt wurde, eingewirkt hatte.
III. Die Eroberung der überwiegenden Zahl der Ordensschlösser im Februar 1454 durch die preußischen Stände hatte zur Folge gehabt, daß dem Hochmeister Ludwig von Erlichhausen anfangs neben Stuhm nur sein Hauptsitz Marienburg geblieben war. Von hier aus unternahm er fieberhaft diplomatische Aktionen; im Reiche in erster Linie unter Mithilfe der Beamten aus den deutschen Balleien. Ihr Hauptresultat war bereits am 22. Februar 1454 die Übergabe der Neumark an den Kurfürsten von Brandenburg, Friedrich II., als Pfand gegen eine recht niedrige Summe. Hierdurch wurde die Mark in die preußischen Auseinandersetzungen hineingezogen. Seit dieser Zeit nämlich zielte ihre Politik darauf ab, Polen nicht als endgültigen Sieger in Preußen hervorgehen zu lassen; andererseits aber war sie auch nicht an einer vollkommenen Restitution der Ordensherrschaft interessiert, da dann die Neumark wieder in Gefahr gewesen wäre verlorenzugehen. Diese Umstände verliehen der Politik des Kurfürsten einen zweideutigen Charakter.11 Er unternahm zwar schon Anfang März 1454 einen Vermittlungsversuch, doch wurde dieser durch den Preußischen Bund, dessen Vertreter gerade die Verhandlungen mit Polen in Krakau abgeschlossen hatten, abgelehnt. Am 6. März 1454 wurde der Inkorporationsakt Preußens durch den polnischen König ausgestellt. Das Resultat einer breiteren Aktion, die die Ordensbeamten im Frühjahr 1454 im Reiche unternommen hatten, sollte ein gemeinsamer Feldzug der Fürsten und des Adels sein — im Interesse „der Christenheit" und weil Preußen ein „Hospital" für den deutschen Adel sei und nunmehr die Gefahr seines Erwerbs durch Polen bestehe. 12 Diese mit religiösen und sozial-nationalen Argumenten operierende Agitation fand anfangs besonders bei den Fürsten positiven Widerhall, vor allem bei Markgraf Albrecht Achilles von Hohenzollern. Ihre Versprechungen, einen gemeinsamen Feldzug nach Preußen zu organisieren, erwiesen sich jedoch bald als trügerisch. Sie hatten einzig eine Diskussion über die preußische Frage auf dem Reichstage zur Regei.sburg (April—Mai 1454) hervorgerufen; und diese wiederum verursachte nur einen ergebnislosen Vermittlungsversuch der deutschen Fürsten in Thorn im Sommer 1454. Eine Waffenhilfe dagegen machten die Fürsten Sachsens und Brandenburgs ebenso wie der tschechische König Ladislaus Posthumus von 11
12
Die Sfcaatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jh., hrsg. v. E. WEISE, Bd. 2, Marburg 1955, nr. 287; VOIGT, J., Die Erwerbung der Neumark. Ziel und Erfolg der Brandenburgischen Politik, Berlin 1863, S. 340ff.; SCHULTZE, J., Die Mark Brandenburg, Bd. 3, Berlin 1963, S. 77. Deutschordenszentralarchiv Wien (im folgenden zitiert: DOZA), Abt. Preußen, Kart. 4 0 9 / 5 , K . 44V—Á5; BISKUF, M . , T r z y n a s t o l e t n i a w o j n a , a. a. O . , S . 219FF.
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bedeutenden Geldzuschüssen seitens des Ordens abhängig. Der für den Sommer geplante Feldzug des Reiches nach Preußen wurde somit nicht verwirklicht; allein daß der Deutschmeister Jost von Venningen und andere Ordensbeamte Ende August eine Söldnerarmee aus dem Reichsgebiet und aus dem Gebiet der böhmischen Krone aufbringen konnten. Das war allerdings eine Art von Hilfe, die die frühere Konzeption eines allgemeinen Aufgebotes aus dem ganzen Reich durchkreuzte und eine tiefe Veränderung der politisch-sozialen Verhältnisse in Deutschland ebenso wie die gesunkene Bedeutung des Ritterordens offenbarte. Die politische Aktion im Frühling 1454 hatte jedoch Einfluß auf die Haltung Lübecks ausgeübt. Um die Gunst der Travestadt bewarben sich seit Beginn des Krieges der Preußische Bund wie der Orden gleichermaßen. Der Lübecker Rat sandte im März 1454 zwar an Danzig ein Gratulationsschreiben wegen der Erfolge des Aufstandes gegen den Orden13, hatte aber schon früher die Bitte der preußischen Stände, eine Geldanleihe für Danzig oder den Bund zu gewähren, abgelehnt. Unter nichtigen Vorwänden wurde auch die Bitte um Werbung von 300 Söldnern für Danzig zurückgewiesen. Der Danziger Gesandte Marquard Knake konnte im Frühjahr 1454 nur auf eigene Faust die Werbung von Söldnern durchführen, während der Lübecker Rat weiterhin eine Geldanleihe (auch von seiten einzelner Bürger) sowie den Ankauf von Salpeter verweigerte.14 Dieses recht unfreundliche Verhalten Lübecks war durch die schon oben genannten sozial-politischen Faktoren und durch die Agitation der Ordensritter, welche auf der Flucht aus Preußen sich in die Travestadt begeben hatten, verursacht worden. Auch die übertriebenen Nachrichten über die Pläne des Fürstenfeldzuges nach Preußen hatten ihren Einfluß ausgeübt. Infolge der Ordensaktion hatte Kaiser Friedrich III. als formaler Oberherr Lübecks der Stadt am 6. Mai 1454 befohlen, in Preußen zu vermitteln und mindestens einen Waffenstillstand zustande zu bringen; jede Hilfe für die revoltierenden Ordensuntertanen wurde von ihm untersagt.15 Der Lübecker Rat, der sich hinter diesem kaiserlichen Mandat verstecken konnte, schickte an Danzig eine Abschrift desselben und bot seine Vermittlung an.16 Sie wurde durch Danzig, das eben um jene Zeit (Mitte Juni 1454) das erste seiner großen Privilegien vom polnischen Herrscher erworben hatte, gänzlich ignoriert. Wenn daher die Lübecker auch weiterhin Handelsbeziehungen mit den preußischen Städten unterhielten und sogar versuchten, diese in eine gemeinsame Aktion gegen Christian von Dänemark und seinen Bruder Gerhard (Gerd) von Oldenburg einzubeziehen, welche die Freiheit der Schiffahrt auf der Ostsee nicht nur für die preußischen Schiffe bedrohten — wesentlich war doch die ablehnende Haltung, die Lübeck den preußischen Ständen gegenüber einnahm. Sie wird nur im Rahmen der oben gezeigten Verhältnisse, die zwischen dem Reich, dem Orden und den wendischen Hansestädten bestanden, begreiflich. 13
Hanserecesse,
14
Ebenda, nr. 230 u n d 2 7 6 ; CIESLAK, E., a. a. O., S. 25.
15
Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 4, a. a. 0., nr. 231. Ebenda, nr. 233.
16
2.
Abt., Bd. 4, hrsg.
V. G . FREIHERR V. D. ROPP,
Leipzig 1883, nr. 221.
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IV. Das Verhältnis der politischen Kräfte im Reich zur preußischen Frage erfuhr eine Änderung nach dem Siege, den das Heer der Ordenssöldner über die polnisch-preußischen Truppen in der Schlacht bei Könitz am 18. September 1454 errang. Er ermöglichte den Ordensstreitkräften den Vormarsch nach Marienburg sowie die Eroberung einzelner Städte und Burgen an der unteren Weichsel. Dem Hochmeister jedoch fehlten die Geldmittel, um das große Söldnerheer zu bezahlen; daher war er gezwungen, den Rottmeistern am 9. Oktober 1454 sämtliche Schlösser und Städte zu verpfänden und ihnen das Recht zu erteilen, sie in Zukunft auch verkaufen zu dürfen.17 Nur die finanzielle und militärische Hilfe seitens des Reiches oder Livlands konnte dies verhüten. Aber die politisch entscheidenden Kräfte im Reich waren der Ansicht, daß der Konitzer Sieg die Lage des Ordens wesentlich gebessert hätte. Zwar appellierte auf dem Frankfurter Reichstage vom 29. September 1454 der Deutschmeister weiterhin um Unterstützung für Preußen mit der Warnung, daß nach dessen Fall das Schicksal Livlands auch besiegelt wäre und die „Ungläubigen", d. h. die Tataren und Russen, bis zum Rhein vorstoßen könnten 18 ; seine Hilferufe blieben aber wirkungslos. Venningen unternahm dann auf eigene Faust einen erneuten Versuch, hauptsächlich mit Hilfe des Adels einen Reichsfeldzug nach Preußen zu organisieren. Am 12. Oktober 1454 wandte er sich in einem Manifest an die Herren und den Adel und bat um Teilnahme; die Truppen sollten sich am 24. November in Leipzig versammeln19. Auch dieser Plan wurde nicht verwirklicht; nach Preußen marschierten Ende 1454 nur geringe Abteilungen, welche fast ausschließlich aus von den deutschen Balleien geworbenen Söldnern bestanden. Der Kurfürst von Brandenburg unternahm um diese Zeit unter dem Druck der Sendboten des Hochmeisters einen weiteren Versuch zur Friedensvermittlung zwischen Polen und dem Orden. Er erklärte auch seine Bereitschaft, einen Feldzug nach Preußen zu unternehmen, machte diesen aber von weiteren territorialen Konzessionen des Ordens in der Neumark, nämlich der Abtretung der Städte Schivelbein und Driesen, sowie von finanziellen Zuschüssen abhängig. Der Orden konnte hierzu jedoch seine Zustimmung nicht geben.20 Den einzigen Erfolg im Reich errang er somit in Wiener Neustadt am 24. März 1455, als Kaiser Friedrich III. die preußischen Stände in die Acht tat. Dies geschah unter dem Einfluß der österreichischen Ordensbeamten und der Fürsten 21 trotz der Einwendungen des polnischen Sendboten Johannes Lutko von Brzezie. Dieser machte insgeheim einen Vorschlag zur Erledigung der preußischen Frage, und zwar durch Überführung des Ordens in die südöstlichen Gebiete Polens, die in der Nähe der Tataren lagen: nach Podolien. Dies wurde 17
Staatsverträge des Deutschen Ordens, Bd. 2, a. a. O., nr. 307. 19 « DOZA, Abt. Preußen, Kart. 409/4, K. 49. Ebenda, Kart. 409/5, K. 53. 20 VOIGT, J., Erwerbung der Neumark, a. a. 0 . , S. 354. 21 ISRAEL, O., Das Verhältnis des Hochmeisters des Deutschen Ordens zum Reich im 15. Jh., Marburg 1952, S. 125; Staatsverträge des Deutschen Ordens, Bd. 2, a. a. 0., nr. 314.
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aber von der kaiserlichen Umgebung abgelehnt, welche noch der Ansicht war, daß das ganze Gebiet Preußens dem Orden zurückgegeben werden sollte. 22 Die kaiserliche Acht stellte für diesen hauptsächlich einen moralischen Erfolg dar. Sie mußte aber auch auf die wendischen Hansestädte Einfluß ausüben und deren frühere Einstellung gegenüber den preußischen Ständen festigen. Auch der Bann, mit dem Papst Calixt III. am 24. September 1455 die preußischen Stände belegte, dürfte auf die niederdeutschen Hansen in demselben Sinne eingewirkt haben. Eine wesentliche Rolle spielte schließlich die Einstellung Dänemarks: die Annäherung König Christians I. an den Deutschen Orden, besonders an dessen livländischen Zweig. Angeblich wollte Christian dem Hochmeister helfen; in Wahrheit aber rechnete er nur auf Geldzuschüsse aus Livland und sogar auf den Erhalt einzelner Burgen an der livländischen Küste, um den Kampf mit Karl Knutson um Schweden fortsetzen zu können. Die ersten Abmachungen mit dem livländischen Meister, durch Vermittlung des brandenburgischen Kurfürsten, des Schwagers Christians I., angeknüpft, wurden formell schon im Herbst 1454 geschlossen; da der Orden aber die zugesagten Gelder nicht liefern konnte, wurde der Vertrag nicht realisiert. 23 Im Frühjahr 1455 wandte sich Christian, um den Kampf mit Knutson erneuern zu können, an die wendischen Hansestädte und schloß mit ihnen in Flensburg am 16. Mai einen Vertrag, der ihnen Handelsfreiheit in Norwegen und freien Hering&fang auf Schonen zusicherte. Dagegen versprachen ihm die Städte, die Feinde Dänemarks, das heißt Knutson, aber wohl auch die preußischen Stände, nicht zu unterstützen. Auf diese Weise machten sie dem Oldenburger bedeutende Zugeständnisse und opferten die Interessen der preußischen Städte, um die eigenen zu sichern.24 Der Flensburger Vertrag, welchen die dänische Seite im antischwedischen und antipreußischen Geiste auslegte, verstärkte die reservierte Haltung der wendischen Hansestädte gegenüber den preußischen Bundesgenossen. Lübeck informierte nur Danzig loyal über die Gefahr einer Ausliegeraktion seitens der Oldenburger.25 Christian nämlich hatte am 1. Juni 1455 formell eine Kriegserklärung an Polen und den Preußischen Bund ergehen lassen. In leicht abgeänderter Form erneuerte er dieselbe am 5. Oktober 1455 im Zusammenhang mit dem Abschluß eines neuen Vertrages mit dem livländischen Orden (7. Oktober) und dem Erhalt der ersten Geldrate; die Rolle des Vermittlers spielten dabei wiederum die brandenburgischen Gesandten. 26 Christian unternahm jedoch keine 22
23
24
Staatliches Archivlager Göttingen, Ordensbriefarchiv (im folgenden zitiert: OBA), nr. 13633 und 13721. LÖGDBERG, G. A., De nordiske konungarna och tyska orden (1441—1457), Uppsala 1935, S. 258 ff. Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 4, a. a. O., nr. 373, 374, 376. Vgl. DAENELL, E., a. a. O., B d . 2 , S. 1 7 1 ; CIE6LAK, E . , a. a. 0 . , S . 2 7 f.
25 26
Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 4, a. a. 0., nr. 246. Staatsverträge des Deutschen Ordens, Bd. 2, a. a. 0., nr. 315 und 316; LÖGDBEBG, G. A., a. a. 0 . , S. 2 7 8 .
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wesentliche Aktion auf der Ostsee im Ordensinteresse, weil ihn der Kampf um Schweden zur Genüge in Anspruch nahm. Immerhin war die preußische Schifffahrt von Seiten der Dänen bedroht. Außerdem mußten auch die livländischen Städte mit Riga an der Spitze unter dem Druck des livländischen Ordensmeisters ihre Handelsbeziehungen zu den preußischen Städten abbrechen; sie versuchten vergeblich eine Friedensvermittlung Lübecks zustandezubringen. 27 Somit übte die Separierung der wendischen Hansestädte, die eine Sicherung der eigenen Interessen anstrebten, auf die Verschlechterung der Lage der preußischen Städte einen bedeutenden Einfluß aus. Auch die Haltung der anderen Kräfte im Reich, die offenbar in der Mehrzahl dem Orden günstig gesonnen waren, beeinflußte die Politik besonders des Lübecker Rates. Das letzte Moment schließlich stellten die bedeutenden Waffenerfolge des Ordens im östlichen Teile Preußens von Frühjahr bis Herbst 1455 dar, die Königsberg und Memel wieder unter die Ordensherrcohaft brachten. Der Orden verfügte damit wieder über Ostseehäfen, was einen bedeutenden Einfluß auf die weitere Gestaltung des Verhältnisses der wendischen Hansestädte zum preußischen Krieg ausüben sollte, und zwar in einer für Polen und die preußischen Städte recht ungünstigen Richtung. Die durch den Orden angeregten Versuche zu Friedensverhandlungen im September 1455 unter Vermittlung des brandenburgischen Kurfürsten zeitigten dagegen keine Erfolge. Eine volle Restituierung der Ordensherrschaft war für die meisten der preußischen Stände, besonders für die großen Städte, unannehmbar. Der Kurfürst handelte während seines Aufenthalts in Preußen nur den endgültigen Verzicht des Ordens auf die Neumark ohne konkrete Gegenleistungen aus — einzig daß die Ordensbrüder und ihre Söldner weiterhin das Gebiet der Neumark durchziehen durften. 28 Brandenburg erntete also die Früchte des preußischen Konflikts zuerst für sich. Anfang 1456 unternahm sein Km fürst eine diplomatische Aktion im Reich zugunsten des Ordens, dem wegen des fehlenden Geldes für seine Söldner der Verkauf seiner Schlösser drohte. Friedrich II. fürchtete, daß in einem solchen Falle die Neumark verloren gehen könnte. Er versuchte auch, die preußischen Rottmeister zu beeinflussen und ihnen vorzutäuschen, daß vom Reich Geldzuschüsse kommen würden. Ja er beabsichtigte sogar, einen Feldzug der Fürsten nach Preußen zu organisieren. Jedoch blieb sein Vorgehen erfolglos, trotz der fieberhaften Bemühungen des bedrohten Hochmeisters. Die Balleien konnten von den Fürsten und Grafen, welche sich schon als Beschützer sahen, keine Zustimmung zum Verkauf der Ordensgüter erlangen.29 Auch wandte sich der neue Deutschmeister Ulrich von Lentersheim Mitte 1456 an den Kaiser und bat um den Schutz für die Besitzungen des Ordens im Reich, der ihm auch versprochen wurde. Dies durchkreuzte die Möglichkeiten einer finanziellen Hilfe für 27 28 29
Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 4, a. a. O., nr. 326, 327, 370, 377, 378. Staatsverträge des Deutschen Ordens, Bd. 2, a. a. O., nr. 333. OBA, nr. 14357 und 14389.
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den Hochmeister. Auch die livländischen Zuschüsse blieben ungenügend. Diese Umstände verursachten den Abschluß eines Vertrages durch einen Teil der unbezahlten Ordenssöldner mit Polen und den preußischen Ständen am 16. August 1456 in Thorn, welcher die Auslieferung vor allem der Marienburg an Polen gegen die Zahlung einer hohen Geldsumme bis Mitte 1457 vorsah. In diesem Zusammenhang wurde die preußische Frage zum letzten Male ernsthaft auf einem Reichstag behandelt. In Nürnberg erwog man Ende November 1456 auf Initiative des brandenburgischen Kurfürsten jetzt in großem Rahmen den Plan eines gemeinsamen Feldzuges gegen Polen. Der endgültige Beschluß hierzu sollte auf dem Frankfurter Reichstag vom 13. März 1457 gefaßt werden. Drei Kurfürsten mit dem von Brandenburg an der Spitze richteten am 19. Dezember 1456 einen Aufruf an die Fürsten und Herren des Reiches, in dem der Kampf zur Verteidigung Preußens propagiert wurde.30 Der Frankfurter Reichstag vom März 1457 beschloß wirklich, einen größeren Feldzug aller Reichskräfte gegen Polen zu organisieren; gleichzeitig aber wurde ein neuer Reichstag für den 22. Mai 1457, wiederum nach Frankfurt am Main, einberufen, um die Einzelheiten zu erörtern. Dieser letzte Reichstag aber zeigte, daß die Projekte nur auf dem Papier geblieben waren. Das Reich mit den Balleien und die wendischen Hansestädte, worüber noch zu sprechen sein wird, gaben dem Orden keine effektive Hilfe. Dieser mußte am 6. Juni 1457 seinen Hauptsitz, die Marienburg, die Hauptstütze seiner Herrschaft an der unteren Weichsel, an Polen übergeben. Dieses Ereignis lähmte faktisch das Interesse der wichtigsten politischen Mächte im Reich für Preußen. Es festigte sich die Ansicht, daß ein Weiterbestehen des ehemals unabhängigen geistlichen Ordensstaates nicht mehr real sei und daß man andere Auswege suchen müsse. Sie wurde sogar vom Deutschmeister Lentersheim geteilt, welcher Ende 1457 forderte, der Hochmeister solle sich einen „Oberherrn" aussuchen, der dem Orden bei der Erhaltung Preußens wirklich zu helfen imstande sei; ein solcher könne etwa Markgraf Albrecht Achilles von Hohenzollern sein. Hierin offenbarte sich eine Konzeption, derzufolge die Hohenzollern neben der Neumark auch Preußen übernehmen sollten.31 Sie konnte damals nicht verwirklicht werden, war aber eine charakteristische Ankündigung des Gedankens, daß die Hohenzollern sich auch in Preußen festsetzen sollten — eines Gedankens, der rund ein halbes Jahrhundert später mit der Wahl Albrechts von Hohenzollern zum Hochmeister im Jahre 1511 realisiert wurde. Die Haltung der wendischen Hanse in der entscheidenden Phase des Krieges in Preußen (1455—1457) blieb weiterhin zweideutig. Sie brach die Handelsbeziehungen mit Danzig nicht ab und respektierte auch nicht die kaiserliche 30
ISRAEL, O., a. a. O., S. 128f.; MÜLLES, J . J., Reichstags-Theatrum, wie selbiges unter Friedrich V von 1440-1493 gestanden, Jena 1713, S. 586 £f.
31
O B A , nr. 1 4 9 6 0 u n d 1 4 9 7 5 ; BISKUP, M., T r z y n a s t o l e t n i a wojna, a . a . 0 . , S. 5 1 7 .
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Acht. Eine gewisse Bolle mochte dabei die ernste Warnung des polnischen Königs vom 8. Januar 1456 gespielt haben, der unter anderem Lübeck aufforderte, von der Exekution der Acht Abstand zu nehmen, da die kaiserliche Herrschaft seine Untertanen nicht beträfe, und der auch mit Gegenmaßnahmen drohte. 32 Die wendischen Hansestädte ließen auch dem Orden keine unmittelbare Hilfe zuteil werden, trotz der Bitte aus Preußen und Livland um Friedensvermittlung — es wurde an die früheren Verdienste Lübecks um den Orden erinnert — und trotz der Hinweise auf die „drohenden Verluste", die die hansischen Kaufleute angeblich erleiden würden, falls Preußen unter die Herrschaft der „polnischen Zunge" käme. 33 Der Hansetag in Lübeck sandte zwar am 17. Juli 1456 den preußischen Städten einen Vermittlungsvorschlag zu, doch wurde dieser nicht angenommen. Andererseits lehnte Lübeck im August eine nochmalige Bitte Danzigs um eine Geldanleihe für die Bezahlung der Ordenssöldner ab. Vor allen Dingen aber unterhielten neben den niederländischen die Kaufleute der wendischen Städte seit dem Sommer 1455 rege Handelsbeziehungen mit dem Ordenshafen Königsberg. Obwohl der polnische König und die preußischen Stände vor dem Besuch Königsbergs, Memels und der livländischen Häfen, die polnischerseits als feindliche angesehen wurden, in mehreren Schreiben warnten, wurden diese ständig fortgesetzt. Daher begann Danzig im Frühjahr 1456, seine Auslieger in die See zu schicken. Diese Aktion sollte bis zum Ende des Krieges fortdauern. 34 Sie wurde mit Zustimmung des polnischen Königs geführt und war anfangs auch gegen Dänemark gerichtet. Im Frühjahr 1457 nämlich verließ Karl Knutson Schweden und kam nach Danzig; später ließ er sich in Putzig nieder. Knutson unterstützte Polen und die preußischen Stände mit Geld; auch stand er gegen Christian im Kampf, der zum schwedischen König gekrönt worden war. 35 In dieser Situation unternahmen sowohl der schwedische Reichsrat wie Lübeck Anfang 1458 Schritte, um zwischen Christian und Polen zu vermitteln. Auf die Bestrebungen der wendischen Hansen wirkten die schweren Verluste ein, die ihnen die Danziger Auslieger zufügten. Deren Wirkung war besonders im Frühjahr 1458 stark; sie drangen bis in den Sund und an die norwegische Küste und so natürlich auch zu manchen wendischen Häfen wie Stralsund, Rostock und Greifswald vor, wo sie plünderten. Das rief die lebhaften Proteste der geschädigten wendischen Städte, besonders Lübecks, hervor. Der Lübecker Rat versuchte vergeblich, die Tätigkeit der Auslieger zu unterbinden und Friedensverhandlungen zwischen dem Orden und Polen anzuknüpfen.36 Der einHanserecesse, 2. Abt., Bd. 4, a.a.O., nr. 409; Urkundenbuch der Stadt Lübeck (im folgenden zitiert: LUB.), Bd. 9, Lübeck 1893, nr. 299. 33 Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 4, a. a. O., nr. 456—458 und 465. 34 Bisktjt, M., Gdariska flota kaperska w okresie wojny trzynastoletniej, Gdansk 1953, S. 21 ff. 35 Kumlien, K., Karl Knutsson i Preußen 1457-1464, Stockholm 1940, S. 15 ff. 36 Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 4, a. a. O., nr. 608; Hansisches Urkundenbuch, Bd. 8, hrsg. v. W. Stein, Leipzig 1899, nr. 693-695, 697, 701, 709, 712. 32
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jährige Waffenstillstand zwischen Christian einerseits sowie Polen und den preußischen Ständen andererseits, der in Danzig unter Lübecks Vermittlung am 28. Juli 1458 abgeschlossen wurde, war nur ein mittelbarer Erfolg dieser Bemühungen Lübecks. Die weiteren Verhandlungen sollten am 1. Mai 1459 in dieser Stadt selbst stattfinden, wobei zwei Vertreter wendischer Städte als Vermittler von der polnischen Seite sowie Herzog Adolf von Schleswig und die Lübecker für die dänische Seite mitwirken sollten.37 Die Aktionen der Danziger Auslieger wurden danach nicht nur gegen die Dänen eingestellt. Anfang Oktober 1458 trat eine Waffenruhe zwischen Polen und dem Orden ein, welche bis Mitte Juli 1459 andauern sollte. Die im März jenes Jahres in Kulm unter Beteiligung von Vertretern der deutschen Fürsten geführten Friedensverhandlungen blieben jedoch völlig erfolglos, ebenso wie die Bemühungen eines Schiedsgerichtes und eine Vermittlung des Herzogs Albrecht von Österreich (Sommer und Herbst 1459). Dagegen gelang die hansische Vermittlung zwischen Dänemark und Polen sowie den preußischen Ständen. Im Mai 1459 wurden in Lübeck die geplanten Verhandlungen durchgeführt: unter Beteiligung von Vertretern Wismars und Stralsunds als Vermittler für die polnisch-preußische Seite, während Herzog Adolf von Schleswig und die Stadt Lübeck die dänische Seite repräsentierten. Da die Umtriebe Knutsons die Lage komplizierten, wurde am 5. Mai nur ein polnisch-dänischer Waffenstillstand auf weitere vier Jahre bis zum 23. August 1463 abgeschlossen. Im Sommer 1462 wollte man jedoch die Verhandlungen in Lübeck wiederaufnehmen. Sie kamen auch wirklich zustande und führten am 6. August 1462 zu einer neuerlichen Verlängerung der Waffenruhe für jeweils ein Jahr bis auf Widerruf.38 Dieser Stillstand wurde faktisch zu einem Friedensvertrag, der dank der Vermittlung und Hilfe der wendischen Hansestädte zustande gekommen war. Er war für Polen und die preußischen Stände günstig, weil er dem Orden seinen dänischen Verbündeten entzog; gleichzeitig aber war er auch für die wendischen Hansestädte selbst von Vorteil, da er zu einer teilweisen Beruhigung in der westlichen Ostsee beitrug. Um dies zu erreichen, hatten die Städte ja eigentlich im dänischpolnischen Konflikt mitgewirkt, während sie weiterhin mit den Ordenshäfen gewinnbringende Handelsbeziehungen unterhielten.39 Daher trat schon im Frühjahr 1460 der Lübecker Rat mit einem scharfen Protest gegen die angekündigte erneute Aussendung Danziger Auslieger hervor. Er verlangte die Zusicherung der freien Seefahrt für seine eigenen Schiffe. Der Danziger Rat wies diesen Protest zurück und unterstrich in den „Kaperbriefen" 37
Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 4, a. a. O., nr. 612 und 614; Hansisches UB., Bd. 8, a. a. O., nr. 725. 3« Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 4, a. a. 0., nr. 692 und 693; Bd. 5, hrsg. v. G. FREIHERR v. D. ROPP, Leipzig 1888, nr. 255, 257, 258, 261; Hansisches UB., Bd. 8, a. a. 0., nr. 792 und
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Zu den hohen Gewinnen im Handel mit Königsberg siehe STEIN, W., Handelsbriefe aus Riga und Königsberg von 1458 und 1461, in: Hansische Geschichtsblätter 8/1898, S. 71: 1 Last Salz kostete danach in Biga 21—22 Mark, iik Königsberg dagegen 70—80 Mark.
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von diesem Zeitpunkt an ausdrücklich, daß die Auslieger im Auftrage des polnischen Königs ausgesandt wurden.40 Die Lübecker dagegen sandten im Sommer einige „Friedeschiffe" aus, um die eigene Schiffahrt zu sichern. Diese Schiffe ergriffen den Danziger Auslieger Matthäus Schulte, der vorher ein aus Livland kommendes Lübecker Schiff aufgebracht hatte. Schulte wurde trotz scharfer Proteste des Danziger Rates, der sich auf die Rechtsmäßigkeit seiner Aktion und den Befehl des polnischen Herrschers berief, im August 1460 zusammen mit seinen Schiffsleuten in Lübeck hingerichtet. 41 Die Lübecker „Friedeschiffe" griffen übrigens auch drei Kaperschiffe des Ordens auf. Die Schiffer derselben mußten versichern, daß sie allein die Feinde des Ordens angreifen würden.42 Diese Maßnahmen beweisen, daß das Hauptziel Lübecks in der Sicherung der eigenen Schiffahrt auf der Ostsee lag — ohne Rücksicht auf die Interessen der preußischen Hansemitglieder oder des Ordens. Seine Aktionen begünstigten in der Endkonsequenz aber den Orden, da trotz der Fortsetzung der Blockade durch die Danziger Auslieger weitere Schiffsladungen in den Königsberger Hafen gelangten. Diese trugen mit dazu bei, dem Orden nicht nur weiteren Widerstand, sondern in den Jahren 1460/1461 sogar den Übergang zur Offensive im östlichen Teil Preußens, in Pommerellen und sogar in der Nähe Danzigs zu ermöglichen. V. Die schwierige Lage Polens und der preußischen Stände begann sich erst seit Ende 1461 zu bessern infolge des umfassenden Einsatzes von Söldnern, welche den weiteren Vormarsch des Ordens an der unteren Weichsel zum Stillstand brachten. Gleichzeitig erfolgte auch vom Reiche her eine Annäherung an Polen, und zwar von Seiten der bayrischen Wittelsbacher und Albrechts von Habsburg. Diese waren gegen den von den Hohenzollern unterstützten schwachen Kaiser sowie gegen die Einmischungspolitik und den Fiskalismus der päpstlichen Kurie eingestellt. Die antikaiserliche und antikuriale Opposition fand auch in dem utraquistischen nationalen böhmischen Herrscher Georg von Podiebrad einen Verbündeten. Bereits am 3. September 1460 wurde zwischen Polen und Bayern ein Freundschaftsvertrag abgeschlossen, in dem auch die Rechte Polens auf Preußen akzentuiert wurden; Ende Mai 1462 kam dann in Glogau ein polnisch-böhmisches Bündnis zustande, das gegen die Kurie und den Orden gerichtet war. Das letzte Glied bildete der Pakt zwischen Polen und Albrecht 40
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Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 4, a. a. O., nr. 701; Hansisches UB., Bd. 8, a. a. O., nr. 873; LUB., Bd. 9, a. a. 0., nr. 838. Hanserecesse, Abt. 2, Bd. 6, a. a. O,, nr. 24, 29, 31; LUB., Bd. 10, Lübeck 1898, nr. 20; Die (Lübecker) Ratschronik von 1438—1482 (Dritte Fortsetzung der Detmar-Chronik, zweiter Teil), 1: 1438—1465, hrsg. v. F. BRÜNS, in: Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 30: Lübeck, 4. Bd., Leipzig 1910, nr. 1826, S. 278. LUB., Bd. 9, a. a. O., nr. 867; Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 5, a. a. O., nr. 26.
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von Österreich vom 20. September 1462, worin letzterer den polnischen König auch als „Herrscher Preußens" anerkannte.43 Diese Ereignisse zeigten, daß nach acht Jahren die Meinungen im Reich sehr geteilt waren und daß manche politischen Kreise sich mit der veränderten Lage in Preußen abgefunden hatten, obwohl der Orden weiterhin Widerstand leistete und die volle Unterstätzung des Papsttums, besonders Pius' II. (1458—1464), besaß. Dieser versuchte vergeblich, mit wiederholten Bannflüchen Polen und die preußischen Stände zur Kapitulation zu zwingen. Unter den geschilderten Verhältnissen sollte es zu einem weiteren — und dem bedeutendsten — Versuch einer Friedensvermittlung seitens der wendischen Hansestädte, das heißt hauptsächlich Lübecks, kommen, den auch die livländischen Städte unterstützten. Die Hansestädte versuchten, den Krieg in Preußen zu einem Ende zu führen, um vor allen Dingen für die Ostseeschiffahrt die nötige Sicherheit zu schaffen. Eine gewisse Rolle spielte auch das Bestreben, die Position des merklich geschwächten Ordens zu retten. 44 Erste Sondierungen unternahm der Lübecker Sekretär Johannes Bracht schon im Frühjahr 1463 bei beiden kämpfenden Seiten, wobei er positive Aufnahme fand. Doch mußte noch das Ergebnis eines im Interesse des Ordens unternommenen päpstlichen Vermittlungsversuches abgewartet werden, so daß erst nach dessen Scheitern der Beginn der Verhandlungen auf das Frühjahr 1464 festgesetzt werden konnte. Außer Lübeck und den livländischen Städten waren in der Vermittlungsgesandtschaft auch Rostock, Wismar und Lüneburg durch ihre Ratssendeboten vertreten. Die Hauptrolle jedoch spielten die Lübecker mit ihrem erfahrenen Bürgermeister Hinrich Kastorp und Bischof Arnold an der Spitze. Ihr Bestreben war es anfangs, den Abschluß eines „Ewigen Friedens" oder wenigstens eines fünf- bis sechsjährigen Waffenstillstandes zu erreichen, um den Konflikt auf dem Wege des Rechtes oder der Freundschaft mit Hilfe einer Kommission zu erledigen, in der auch Lübeck vertreten sein sollte. Der Stillstand sollte für den Kaufmann zu Lande und zu Wasser bedingungslose Sicherheit gewähren. Es hat also den Anschein, als wenn in dieser Phase das Hauptziel die Wiederherstellung der Freiheit des Handels, wenn auch nur für einige Jahre, gewesen ist. Eine Waffenruhe und die Möglichkeit eines Ausgleichs auf dem Rechtswege, ohne Berücksichtigung des Willens der Mehrheit der preußischen Stände, wären aber auch für den Orden von Nutzen gewesen.45 Die hansischen Sendeboten trafen im Juni 1464 in Thorn ein, das schließlich zum Verhandlungsort gewählt worden war. Die eigentlichen Verhandlungen begannen am 3. Juli im altstädtischen Rathaus, wo sich die polnisch-preußische 43
44 45
Codex diplomaticus Regni Poloniae et Magni Ducatus Lithuaniae, ed. M. D O G I E L , Bd. 1, Wilno 1758, S. 161f. und 383f.; H E C K , R., Zjazd glogowski w 1462 r., Warszawa/ Wroclaw 1962, S. 50ff. Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 5, a. a. O., nr. 410. Ebenda, nr. 442.
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Frage
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und die Ordensdelegation einfanden.46 Die hansischen Vertreter beschränkten sich völlig auf die Rolle von Vermittlern, welche kein Urteil fällen und nur den Frieden erreichen wollten. Daher brachen sie die rechtshistorischen Diskussionen, die Polen und nach ihm auch der Orden begannen, kurzerhand ab. Sie veranlaßten stattdessen die Einsetzung einer gemischten Kommission, welche 19 Personen, darunter sechs aus den Reihen der hansischen Vermittler, umfaßte und nur konkrete Friedensprojekte erwägen sollte. Am 8. Juli lehnte die Ordensdelegation den polnischen Vorschlag ab, Preußen zu verlassen und ein anderes Gebiet, etwa Podolien, zu übernehmen. Um einen Abbruch der Verhandlungen zu verhüten, schlugen die hansischen Vermittler vor, daß beide Seiten für die Dauer eines zwanzigjährigen Waffenstillstandes alle Gebiete behalten sollten, welche sie augenblicklich besaßen. Während dieses Waffenstillstandes sollten von jeder Seite vier Vermittler die strittigen Angelegenheiten der beiden Parteien untersuchen und ein endgültiges Urteil fällen.47 Dieser Vorschlag war wiederum für den Orden günstig, da er zu einer Festigung von dessen schon unsicherer Stellung in Preußen führen konnte und die Lösung des Streites auf den Rechtsweg verlagerte, was den Ordensbehörden die Durchsetzung ihres Standpunktes erleichtern mußte. Die Rolle und die Stellung der preußischen Stände, die doch einen entscheidenden Faktor im Kampf um Preußen darstellten, wurden wieder unberücksichtigt gelassen. Der Vorschlag wurde denn auch durch die polnische Seite abgelehnt. Dagegen war diese schließlich bereit, den östlichen Teil Preußens ohne Elbing und Marienburg dem Orden zu überlassen, jedoch nur als Lehen. Dieses Zugeständnis wies wiederum die Ordensdelegation zurück, welche den polnischen Herrscher lediglich als Protektor zu akzeptieren bereit war. Am 14. Juli wurden die Verhandlungen faktisch abgebrochen, und die Ordensdelegierten reisten nach Kulm ab. Weitere Bemühungen der hansischen Vermittler, welche noch einige Tage hindurch mit beiden Seiten in Thorn und Kulm verhandelten, blieben erfolglos. Die polnischen Vertreter lehnten den nochmaligen Vorschlag eines zwanzigjährigen Stillstandes und die Überweisung des Streites an Vermittler ab; der Orden wollte sich mit der Abtretung der Marienburg und Pommerellens (ohne Danzig) noch nicht abfinden. Außerdem forderte er weiterhin, daß der polnische König nur als „Beschützer" des Ordens anerkannt werden sollte. Bei dem Vorgehen der hansischen Vermittlungsgesandtschaft trat deutlich das Bestreben zutage, die preußische Frage wenigstens provisorisch abzuschließen und eine endgültige Regelung auf die fernere Zukunft zu verschieben, um nur den Krieg zunächst zu unterbrechen. Diese Verzögerungsaktion mußte aber letzten Endes, wie schon angedeutet, den Interessen des Ordens zum 46
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Siehe das ausführliche Protokoll der lübeckischen Gesandten über die Thorner Verhandlungen in: ebenda, nr. 443. Ebenda, § 103.
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Nutzen gereichen, da sie ihm den Wiederaufbau seiner Kräfte ermöglichte.48 Über die Interessen der preußischen Stände mit Danzig und Thorn an der Spitze, welche die Rückkehr unter die straffe Ordensherrschaft als für sie gänzlich unannehmbar ansahen, setzte man sich einfach hinweg. Der hansische Vorschlag überging auch die Möglichkeit einer polnischen Oberhoheit in dieser oder jener Form über den Orden mit Stillschweigen. Die hansische Vermittlung in Thorn 1464 war somit zwar erfolglos geblieben, trug jedoch dazu bei, daß sich eine Gesamtkonzeption zur territorialen und verfassungsrechtlichen Lösung der preußischen Frage herauskristallisierte. Mit gewissen Änderungen nämlich wurden die genannten Vermittlungsvorschläge mehr als zwei Jahre später während der Verhandlungen vom Herbst 1466, die wiederum in Thorn stattfanden, angenommen. Die Bestrebungen der wendischen Hansestädte, in Thorn 1464 wenigstens die Einstellung der Danziger Ausliegeraktionen zu erreichen, blieben ebenfalls ohne Erfolg. Die Danziger Vertreter lehnten diesen Vorschlag mit der Begründung ab, daß die Versorgung des Ordens durch die hansischen Kaufleute nur zu einer Verlängerung des Krieges führen konnte. Die Antwort der wendischen Sendeboten war recht charakteristisch: sie hätten Mitleid mit den preußischen Bürgern, die eine so schwere Kriegslast zu tragen hätten, könnten aber nicht damit einverstanden sein, daß die wendischen Kaufleute, die vom Handel lebten, diesen nicht weiter treiben sollten.49 Auf das Argument der Danziger, daß sie selbst während des Krieges der Hanse mit Dänemark (1427—1435) das Verbot der Sundfahrt durch die wendischen Städte befolgt hätten, entgegneten die Lübecker Gesandten, daß die damaligen Beschränkungen im Interesse aller Kaufleute durchgeführt worden seien. Den damaligen Krieg könne man als gesamthansischen mit dem preußischen Krieg nicht gleichsetzen.50 Diese Polemik zeigt noch einmal die scharfe Divergenz der wirtschaftlichen wie auch der politischen Interessen der einzelnen hansischen Städtegruppen um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Der Thorner Vertrag, welcher am 19. Oktober 1466 zwischen Polen und dem Orden abgeschlossen wurde, stellte die alten polnischen Gebiete Pommerellen und Kulmerland, einen Teil Preußens an der unteren Weichsel mit Marienburg und Elbing sowie das Ermland unter unmittelbare polnische Herrschaft. Da der restliche Teil Preußens ebenfalls dem polnischen Staat eingegliedert und der Hochmeister von polnischer Seite als Lehnsmann betrachtet wurde, büßte der Orden seine Selbständigkeit ein. Der Vertrag stellte somit einen offenbaren Erfolg Polens und der mit ihm verbündeten preußischen Stände dar. Es ist recht charakteristisch, daß er im Reich vielerorts eine nachteilige Aufnahme fand, im Lübecker Kreis aber mit einer gewissen Genugtuung « CIESLAK, E . , a . a . O., S. 6 5 f f . 49
50
Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 5, nr. 443, § 158; BISKUP, M., Gdanska flota kaperska, a. a. 0 . , S. 45. Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 5, a. a. O., nr. 443, § 160.
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zur Kenntnis genommen wurde. Der Umstand, daß der Orden „halfif egen" des polnischen Königs wurde und nur den kleineren Teil Preußens behielt, wurde durch den Lübecker Chronisten Johannes Hertze als eine Strafe für den Hochmut des Ordens und die Unterdrückung, die derselbe seinen Städten gegenüber ausgeübt hatte, sowie für dessen Konkurrenz mit der eigenen preußischen Kaufmannschaft angesehen.51 Dies beweist, daß trotz der früheren offiziellen Schritte des Lübecker Rates, die teilweise auch im Interesse des Ordens erfolgt waren, unter den Kaufleuten jener Stadt ein Gefühl der Solidarität mit dem Kampf des preußischen Bürgertums vorhanden war. War dieser doch schließlich ein Kampf der Bürger um die Abschüttelung einer ritterlichen Herrschaft, die noch dazu auf dem Gebiete des Handels, der Hauptbeschäftigung der Hansen, mit den eigenen Untertanen konkurriert hatte. Im ganzen aber hatte sich während des Kampfes um Preußen die offenkundige Widersprüchlichkeit in der Politik der Hanse gezeigt. Das unaufhaltsame Voranschreiten dieser Widersprüchlichkeit war hauptsächlich durch die wachsende Verschiedenheit der wirtschaftlichen Interessen bedingt, wenn auch die politischen Veränderungen an der südlichen Ostseeküste mitgespielt haben mögen. Die Einstellung der wendischen Hansestädte zur preußischen Frage war so außerordentlich verwickelt und zweideutig, was sich für die preußischen Städte als recht ungünstig erwies. Es läßt sich zwar nicht leugnen, daß die wendischen Städte zur Wiederherstellung des Friedens in Preußen und auf der Ostsee ihren Beitrag geleistet zu haben, was sich in der Beilegung des Konflikts zwischen Polen und Dänemark und in den Thorner Verhandlungen von 1464 deutlich zeigt. Im Grunde aber hätten die führenden Kräfte der wendischen Hanse die Wiederherstellung der früheren politischen Verhältnisse in Preußen, sogar auf Kosten und gegen den deutlichen Widerspruch der meisten preußischen Hansestädte, lieber gesehen. Auch in dieser Haltung drückte sich der Konservatismus der Räte der wendischen Hanse aus, der sich auf sämtlichen Gebieten ihrer Wirksamkeit um die Mitte des 15. Jh. offenbarte. 51
Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 31, Leipzig 1911, nr. 1908, S. 15. —MASCHKE.E., Der Ordensstaat Preußen in seinen deutschen und europäischen Beziehungen, in: Ostdeutsche Wissenschaft 8/1961, S. 203, verkennt die tieferen Gründe für diese Anschauung, wenn er sie als lediglich durch subjektive und einseitige Informationen preußischer Herkunft entstanden erklärt.
KÖNIGLICH-PREUSSEN*, POLEN UND DIE HANSE Ein Beitrag zu ihrer Geschichte an der Wende des 15. und 16. Jahrhunderts von Karol Qoralci
Vom 25. bis 28. November 1493 fand in Elbing eine Tagfahrt der Stände Königlich-Preußens statt. Am 28. November hielt der Marienburger Wojewode Niclis von Baysen (Bazynski) eine Rede, in der er auch die Stellung des Landes zur Hanse berührte. Zwar steht sein Name nicht am Anfang des entsprechenden Abschnittes im Rezeß; die vorhergehende Passage jedoch ist ausdrücklich als seine Rede gekennzeichnet worden. So glaube ich, daß der uns interessierende Abschnitt zu dieser gehört, zumal der Redner eine in jeder Beziehung feindliche Stellung zur Stadt Danzig einnahm, was zu der damaligen Einstellung von Niclis gut paßte. Als königlicher „Anwalde" bemühte er sich um die Schafifang einer Landesordnung, deren Annahme aber an dem hartnäckigen Widerstand der großen Weichselstadt zu scheitern drohte. Wohl wurde am Ende des Jahres 1494 oder zu Beginn des Jahres 1495 dem König Johann Albrecht ein Entwurf der Stände vorgelegt, jedoch die Danziger wollten sich dessen Satzungen nicht fügen. Der Bruch zwischen ihnen und den anderen Mitgliedern der Stände führte in den folgenden Jahren zur Ausschließung der Stadt aus dem Preußischen Landesrat.1 Die Rede des Niclis von Baysen ist mit folgenden Worten im Rezeß wiedergegeben : „Item vonner Hansze. Nochdeme dere here hoemeister vormols eynn houpt derselbigen gewest ist, nuh ist abere ensotann ann das landt gefallenn, wollen dorumbe gerne wissenn, nochdeme ire hernn vonn Dannczike itzundere alleyne dorczu geheischenn werdet, inn was ere, ab yre ouch alsz eynn houpt der Ansze do gehaldenn werdet, adire wy dy sachenn do zcu gheen". Die Danziger gaben keine Antwort. Es war klar, daß sie nicht als „Haupt der Hanse" auf den Hansetagen hervortraten, aber auch ihren Sitz den „Landen" nicht abtreten wollten.2 Während der nächsten Tagfahrt der Preußischen Stände zu Graudenz am 29. April 1494 verhandelte man wieder über diese Angelegenheiten. * Königlich-Preußen = Polnisch-Preußen zwischen 1466 und 1772. 1 Acta Statuum Terrarum Prussiae Regalis, ed. C. GÖRSKI und M. BISKUP, Bd. 3, Teil 1, Torun 1961, nr. 129—184, besonders nr. 177 (Societas Scientiarum Toruniensis, Fontes 50). 2 Ebenda, S. 96.
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„Insz erste wart gedocht der privilegie der Ansze unnd gefroget, welch sy weren. Item worumbe de stete unnd nicht das landt, dass doch eynn houpt der Ansze were, nicht vorschreben wurden, unnd wy bvorhynn szotanne resze unnd mit was kost uszgericht were, wenn vorne pfundtczoll. Item nochdeme sich der ko. ma; zcukunft nohet, app wire schonn geschickt weren zcuschicken, ap unns das hindere unnszerm hernn zoemete". Man beratschlagte weiter in Abwesenheit der Danziger, die aus dem Rate „ausgeweiset" wurden, erzielte aber keine Einigung. Am 30. April „wart up dy vorschreben sache geantwert dorch her Niclis also: Liebenn hernn, wyr habenn swerlich in denn sachen zu roten, wenn wire wissenn der sachenn gelegenheit nicht, ouch nicht seynn vorscreben, sundere können wol mercken, das das denn koufmanne merclich antrith unnd vonn nothenn isz, das menn musz szenden, vort alleyne, das yrs szo macht, yre nicht unwillenn kriget vonn unnszerem gnedigen hernn. Dorumbe irkanten dy hernn vonn denn landen, menn szendenn muste, sunder das enszotans der ko. ma. vorkuntschaft wurde, ufdas nymands hindere euch derhalben vor ko. ma. uff euch sprechenn mochte. — Sunder dy hernn vonn denn stetenn, nochdeme das derhalben nichts entlich ist geslossenn, enszotans an yre eldtstenn zcubrenghenn, zcu sich habenn genomenn, dy denne ufserste derhalben denn hernn vonn Danczike yre mhenungh sullenn vorstehenn laeszenn."3 Wir wollen die Frage nicht weiter verfolgen: König Kasimir I I I . hatte den preußischen Städten stillschweigend das Recht, an den Hansetagen teilzunehmen, zugestanden; nur die Kriegs- und Friedensangelegenheiten bedurften seiner Genehmigung.4 Eine Wendung trat während der Regierung König Sigismunds I. (1506—1548) ein, der eine aktive Ostseepolitik betrieb. Das Problem, das uns hier interessiert, ist die rechtliche Stellung des Landes Königlich-Preußen innerhalb der Hanse, wie sie sich in oben angeführten Texten widerspiegelt. Es ist zu fragen, ob hier ein allgemein anerkanntes Recht oder nur ein Anspruch der Stände, besonders des Adels, vorlag. Bis zum Jahre 1493 hören wir von diesem angeblichen Recht Königlich-Preußens überhaupt nichts. Man darf weiter fragen, wie der Anführer der Lande, Niclis von Baysen, auf die Gedanken gekommen ist, welche er auf den beiden Tagfahrten entwickelte. Es sei daran erinnert, daß Niclis der Sohn des Stibor von Baysen war, welcher in den Jahren 1459—1467 Gubernator (Reichsverweser) von Preußen und später Generalstarost (capitaneus generalis) Königlich-Preußens war. Stibors Bruder Hans war im Auftrage des Königs von Polen während der Jahre 1454-1459 Gubernator von Preußen; zuvor hatte er 1412 als Mitglied einer Gesandtschaft des Ordens in England fungiert und 1431 an den Verhandlungen um den Beifrieden von Gedser zwischen der Hanse und König Erich von Pommern als Mitglied der Abordnung des Hochmeisters teil3
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Ebenda, S. 116f. Im Jahre 1497 schrieb Niclis von Baysen an Danzig, er fürchte, daß „ausz zottaner eynung, dy dann dy hanze hoth, nicht qweme diesz landt, doinne isz langhe gewest ist": Hanserecesse, 3. Abt., Bd. 4, hrsg. v. D. SCHÄFER, Leipzig 1890, nr. 30; STEIN, W., Die Hansestädte, in: Hansische Geschichtsblätter 21/1915, S. 149ff. GÖRSKI, K., Z dziejöw ustroju Pomorza, in: Rocznik Gdanski 7—8, Gdansk 1935, S. 139.
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genommen. 1432 war er in den Geheimen Rat des Hochmeisters berufen worden und beteiligte sich an den Staatsgeschäften, mußte also mit den Fragen der Ostseepolitik des Ordens und dessen Rechtsstellung innerhalb der Hanse vertraut gewesen sein.5 Konnte Niclis von Baysen in seinen Reden einer Familientradition folgen ? Als 1434 eine Abordnung der Hansestädte nach Preußen kam und am 4. Juli in Marienburg vom Hochmeister in einer Audienz empfangen wurde, legten die hansischen Ratssendeboten ihre Ansicht über die rechtliche Stellung des Ordens zur Hanse dar: „Unde na deme male, dat des heren homysters unde synes ordens lande unde stete mede in de henze behoren unde sulker vryheid und gerechticheid, also de Dudesche copman in den vorscreven koningriiken, landen unde Steden (heft), allewege mede gebruked unde der genoten hebben, unde de orde van olden vorgangenen tyden alleweghe eyn hulper unde beschermer der henze unde des copmannes gerechticheid geweset were . . . " 6 Der Hochmeister Paul von Russdorf nahm zu dieser Äußerung Stellung, indem er bereitwillig der Hanse seine Hilfe zusagte. Er hielt es kaum für nötig, die Ausführungen der hansischen Abordnung zu kommentieren. Offensichtlich akzeptierte er die Kennzeichnung des Ordens als „eyn hulper unde beschermer der henze unde des copmannes gerechticheid". Hans von Baysen nahm zwar an den Verhandlungen nicht teil — unter den Zeugen der Audienz fehlt sein Name 7 - , jedoch als Mitglied des Geheimen Rates des Hochmeisters konnte er über den Inhalt der Verhandlungen nicht in Unwissenheit geblieben sein. 1451 bezeichnete sich der Hochmeister Ludwig von Erlichshausen selbst als „eyn haupt der Henzen" 8 . So kann man in den Familienüberlieferungen derer von Baysen einen Anhaltspunkt für die Ansichten des Niclis aus dem Jahre 1493 finden. Ihr Familienarchiv ist spurlos verschwunden, und wir müssen auf einen voll und ganz überzeugenden Beweis für obige Behauptung daher verzichten. Niclis von Baysen konnte sich auch auf andere Nachrichten stützen. Vielleicht waren es englische oder niederländische Kaufleute, die ihm seine Gedanken eingaben, da man eben in England den Orden als „caput Hansae" bezeichnet hatte ; auch in den Niederlanden trat der Hochmeister manchmal als Beschirmer der Hanse auf. 9 Jedenfalls ist die Behauptung, das Anrecht des Ordens sei auf die Stände von Königlich-Preußen übergegangen, reine Konstruktion; regierte doch der Hochmeister auch im Jahre 1493 in Königsberg, und KöniglichPreußen stand unter der Hoheit des Königs von Polen. Niclis hat absichtlich 5
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GRIESER, R., Hans von Baysen. Ein Staatsmann aus der Zeit des Niederganges der Ordensherrschaft in Preußen, Leipzig 1936, S. 15. Hanserecesse, 2. Abt., Bd. 1, hrsg. v. G. FREIHERR v. D. ROPP, Leipzig 1876, nr. 355 § 4, nr. 356 § 1. Ebenda, nr. 356 § 3. STEIN, W., a. a. O., S. 151 ; ebenda, S. 150 : „ . . . wie einzelne leitende Städte der Hanse als, Häupter der Hanse Ansehen genossen, auch der Hochmeister ein Haupt der Hanse sei." DOLLINGER, PH., La Hanse (12.-17. siècles), Paris 1964, S. 117.
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die Theorie der Devolution des angeblichen Anrechts zugunsten der Stände aufgestellt — ein höchst merkwürdiges Vorgehen, das jedoch nicht ohne Parallelen in seiner politischen Tätigkeit bleibt. Er hat den Ständen und dem König öfter logische Folgerungen als positives Recht offeriert. Seine Interpretationen sollten neue Rechtssatzungen schaffen und den Wortlaut bestimmter Privilegien ergänzen. Seine Vorhaben sind ihm auch manchmal gelungen; hier aber stieß er auf den Widerstand der Städte. Man kann den Sinn des Begriffes „Haupt der Hanse" anhand der zeitgenössischen Aussagen erklären. Im 13. Jh. hat man als Haupt eine regierende Person bezeichnet, so etwa den Papst als Haupt der Kirche.10 Im Fall der Hanse bedeutete dieser Begriff den „ehrenhalben Vorsitz", der den Abgeordneten Lübecks auf den Hansetagen zuteil wurde.11 Am Ende des 15. Jh. hatte die Bedeutung des Wortes ohne Zweifel eine Wandlung erlebt. Im Wahlprotokoll des Ermländischen Kapitels von 1489, als Lucas Watzenrode zum Bischof postuliert wurde, heißt es: „dominus prepositus tamquam ipse ecclesie sive capituli post episcopum caput".12 Der Bischof war Haupt der Kirche, d. h. der Diözese ; ihm nachgeordnet aber steht als „caput ipse ecclesie sive capituli" der Dompropst. Ich meine, daß man hier den Einfluß des genossenschaftlichen Wesens des Spätmittelalters spüren kann: der Vorsitzende, der älteste der Genossenschaft wird als Haupt bezeichnet. Man kann diese Interpretation mit weiteren Belegen stützen. Während der Verhandlungen der Stände Königlich-Preußens mit den königlichen Abgeordneten unter Vorsitz des Erzbischofs von Gniezno (Gnesen), Andreas Rôza Boryszowski, in Marienburg am 26. August 1506 sagten die polnischen Herren, „seyne veterliche gnade were eyn haupt der Cronen"13, wobei unter Krone hier das polnische Reich zu verstehen ist14. Die Aussage kann zweifach gedeutet werden. Erstens : der Erzbischof von Gniezno hatte den ersten Platz im Reichsrat und gab bei Verhandlungen als erster seine Meinung kund; auch war er Vorsitzender des Senats (Reichsrats) in Abwesenheit des Königs. Zweitens: nach dem Tode des Königs übernahm er das Amt eines Regenten und ReichsA., Représentation et bien commun, in: X. Congrès International des Sciences Historiques, Paris 1950, Bd. 11. 11 BRANDT, A. V., Die Hanse als mittelalterliche Wirtschaftsorganisation — Entstehung, Daseinsformen, Aufgaben, in: Die Deutsche Hanse als Mittler zwischen Ost und West, Köln/Opladen 1963, S. 24 und 27 (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Bd. 27). Die Hanse wollte kein „corpus" sein; siehe STEIN, W., Die Hansestädte, in: Hansische Geschichtsblätter 19/1913, S. 273. 12 Archivum Diecezji Warminskiej w Olsztynie, Ms. D 1, fol. 67. 13 Acta Statuum, a. a. O., Bd. 4, Teil 2, Toruri 1968, S. 272. 14 DABBOWSKI, J., Die Krone des polnischen Königtums im 14. Jh. Eine Studie aus der Geschichte der Entwicklung der polnischen ständischen Monarchie, in: Studien über die Krone als Symbol des Staates im späteren Mittelalter, hrsg. v. M. HELLMANN, Weimar 1961, S. 502. 10
DABQTJENNES,
Preußen, Polen und die Hanse
363
Verwesers bis zur neuen Königswahl. Seit dem Ende des 16. Jh. wurde er als
„interrex" bezeichnet. Dieser Sinn erschließt sich zum Beispiel aus dem Briefe des Danziger Rates an den Herzog von Pommern vom 15. September 150615 : „Der herre erczbischoff von Gnysen sam gubernator und die anderen szam mergliche der Cronen mit vuller macht rethe" hätten von ihnen verlangt, sie sollten die bereits festgesetzte Tagfahrt mit den Abgeordneten des Herzogs auf eine andere Zeit verschieben. Die Danziger schrieben: „Nochdeme abir, irlauchter fürst, gnadiger herre, wir eyn gelithmasz des Reichs und der Cronen und sie (der Reichsrat, K. G.) of diszmal unszer haupt seynn unnd gelithmasz dem houpte musz folgen", könnten sie zu der verabredeten Tagfahrt nicht kommen. Da König Alexander kurz zuvor (am 19. August) gestorben war, verwaltete der Erzbischof mit dem Reichsrate das polnische Reich. Er ist als Gubernator bezeichnet — dieser Titel entspricht dem Amte eines Reichsverwesers, Vizekönigs oder Regenten. Mit ihm wurden auch die Reichsverweser Schwedens, Ungarns und Böhmens bezeichnet. 16 Wenn wir jetzt zum oben zitierten Text vom 26. August zurückkehren, ergibt sich, daß die Nachricht vom Tode König Alexanders soeben nach Marienburg gelangt sein dürfte und die polnischen Herren daher den Erzbischof als ein „Haupt der Cronen" im Sinne eines Reichsverwesers bezeichnen konnten. Eine andere Deutung des Wortes „Haupt" ergibt sich aus einer Aussage des Lucas Watzenrode, Bischof von Ermland, vom 19. Juli 1506. Während der Verhandlungen mit dem Danziger Bürgermeister Jürgen Manth in Braunsberg sagte der Abgesandte der Stadt: „So ist dach ewre veterliche gnade in dissem lande eyn houpt und das merglichste gelithmose des roths". Lucas konnte aber keineswegs als Gubernator von Königlich-Preußen bezeichnet werden, da dieses Amt, welches er begehrt hatte, ihm nicht zuletzt auf Betreiben der Stände im Jahre 1504 verweigert worden war. Es gab damals in KöniglichPreußen einen Generalstarost, den Marienburger Hauptmann Ambrosius von Pampow (Pampowski), welcher im Namen des Königs das Land regierte. So konnte es sich nur um die Stellung des Bischofs innerhalb des Preußischen Rats handeln. Tatsächlich antwortete Lucas Watzenrode: „Wie ir denne spricht, wir eyn houpt disses landes weren, seyn wir binnen des Landesrate gleich wie ir und können alleyne die dinge noch willen nicht treiben" 17 . Er bezeichnete sich selbst nur als Mitglied des Landesrates, in welchem er aber den ersten Platz einnahm. Wenn wir jetzt nochmals auf die Äußerung des Niclis von Baysen aus dem Jahre 1493 zurückkommen, um sie zu deuten, so müssen wir annehmen, daß der richtige Sinn der Worte „Haupt der Hanse" sich nur auf den ersten Platz in einem Rate oder bei der Führung einer Gesandtschaft oder Abordnung beziehen konnte. Nur in England beziehungsweise in den Niederlanden konnte « Acta Statuum, a. a. O., Bd. 4, Teil 2, S. 238. GÖRSKI, K . , La fonction de „Gubernator" en Prusse et son évolution, in: Anciens Pays et Assemblées d'Etats XIX, Louvain/Paris 1960. 17 Acta Statuum,a. a. O., Bd. 4, Teil 2, S. 220f. 16
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K . GÖBSKI
man den Hochmeister als „Haupt der Hanse" bezeichnen; dies war nicht die Ansicht, die die Hanse von sich selbst hatte oder haben konnte. Eine weitere Quellenstelle, welche auf die uns interessierende Frage ein neues Licht werfen kann, finden wir in der politischen Korrespondenz des Königs Alexander von Polen (1501—1506), die als „Acta Alexandri" von Fr. Papee gesammelt und veröffentlicht wurde. Im März 1503 richtete Alexander, der in Wilna weilte, an den polnischen Sejm eine Botschaft, in welcher er seine Meinung zu aktuellen politischen Fragen erörterte und Weisungen zu ihrer Entscheidung gab.18 Unter anderem nahm er Stellung zu einem politischen Plan, der offensichtlich von englischer Seite dem ungarischen Hofe vorgelegt worden war und von dort an den polnischen Hof gelangte (wie bekannt, war Ladislaus, der älteste Bruder Alexanders, König von Ungarn und Böhmen). Der Vorschlag betraf die Frage einer großen Koalition sämtlicher europäischer Fürsten gegen die Türken. Das Originalschreiben Heinrichs VII. liegt uns nicht vor; seinen Inhalt kennen wir nur aus dem Schriftstück, das Alexander an den polnischen Reichsrat richtete. Der König war dem vorgeschlagenen Bündnis gegenüber höchst mißtrauisch und meinte, daß aus ihm nur Vorteile für den Seehandel der Engländer und Niederländer erwachsen würden, welche unter dem Vorwand eines gemeinsamen Vorgehens gegen die Türken auch eine Art Schirmherrschaft über die Hanse ausüben wollten, deren Städte eben den Krieg mit Dänemark begonnen hatten. Der königliche Brief stellt folgendes fest: „Item non approbat (Maiestas Regia, K. G.), quia ut aliquando verum erat, Maiestas Regia ratione terrarum Prussiae superior dux fuerit Hansae, prout quondam magister Prussiae superior dux Hansae fieri consueverat, et quia magister Prussiae ratione Gedanensis civitatis ut verisimiliter illam superioritatem habuit. Non licet ergo Maiestati Regiae deteriorem sibi ascribere conditionem ad civitates Hansae, quarum nunc necessaria esset Maiestati Regiae assistentia in quantum Ordo vellet insanire et pro aliis tractatibus contra ducem Moscoviae cum Suecia habendis, ut infra dicetur". Der Sinn der Äußerung des Königs ist unzweideutig: es stimme nicht, daß der König von Polen jemals ein „superior dux Hansae" gewesen sei wie zuvor der Hochmeister des Deutschen Ordens; auch sei es nicht richtig, daß letzterer diese Stellung „wahrscheinlich" als Landesherr der Stadt Danzig innegehabt habe. Eine solche Position könne dem König keinen Vorteil bringen, da er der Vermittlung der Hanse in seinen Streitigkeiten mit dem Orden und bei Verhandlungen mit Schweden über ein Bündnis gegen Moskau bedürfe. So lautete die grundsätzliche Stellungnahme des Königs zum englischen Vorschlag. Falls aber sein ungarischer Bruder auf einer Antwort bestände, sollte man ihm schreiben: „Item diceretur quod Hansa Regiae Maiestatis superioritatem habet, non licet ergo per novam colligationem facere deteriorem conditionem Regni que sequeretur, dum Rex Angliae promoveret suo nomine pacem, amicitiam, praerogativas et libertates, quae in confoederationem includerentur pro Hansa"19. 18
Acta Alexandri regis Poloniae , ed. FB. PAPÄE, Kraköw 1927, nr. 164, S. 229.
Preußen, Polen und die Hanse
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Das hieß, daß der König nicht auf die „superioritas Hansae" verzichten wollte; er sagte aber nicht, was damit gemeint sei. Ich bin der Ansicht, daß diese zweite Äußerung der ersten widerspricht und nur eine diplomatische Ausflucht ist, da sich in den beiden Fällen die gleiche negative Haltung zum englischen Vorschlag widerspiegelt. Wie soll man die Worte „dux superior Hansae" deuten? Sie stammen sicher aus dem heute verschollenen Originalschreiben Heinrichs VII., das sich im Reichsarchiv zu Ofen befand. Wenn diese Worte nach dem mittellateinischen Sprachgebrauch niedergeschrieben wären, könnte man von einer fürstlichen Oberhoheit des Hochmeisters der Hanse gegenüber sprechen. Das wäre jedoch unsinnig. So muß man annehmen, daß der Begriff „dux" im klassischen Sinne gebraucht wurde und bei einer Übersetzung als „Anführer" wiedergegeben werden muß. In diesem Sinne ist es sicher, daß der Hochmeister in England als der „Anführer" der Hanse galt, weil der Orden als Beschirmer des deutschen Kaufmanns bekannt war. Welche Absicht die englische Diplomatie verfolgte, wenn sie den König von Polen als „obersten Anführer" der Hanse auf der politischen Bühne erscheinen lassen wollte, ist nicht klar. Der polnische Hof meinte, daß hierbei wirtschaftliche Vorteile und die gemeinsame Verteidigung der Hanse, welche von König Johann von Dänemark bedroht war, mitspielten. Der dänisch-schwedische Krieg, der 1501 ausgebrochen war20, störte den Handelsverkehr auf der Ostsee, und die Engländer gedachten durch Heranziehen des Königs von Polen die Stellung der Hanse zu festigen. Vielleicht wollte man auch im Jahre 1493, als man das erste Mal vom „Haupt der Hanse" in Königlich-Preußen hörte — in diesem Falle im Zusammenhang mit den Ständen, nicht mit dem König — von englischer Seite der Kriegsgefahr in der Ostsee vorbeugen, da eben der König von Dänemark einen Feldzug gegen Schweden beabsichtigte.21 Man darf mit der Entdeckung weiterer Quellen rechnen, die die Bemühungen um einen Anteil Polens an der Beschirmung der Hanse im zweiten Jahrzehnt des 16. Jh. klarer zu erkennen geben werden. Die uns bereits bekannten Versuche, die Stellung der Hanse in Anlehnung an Polen zu festigen, bedürfen einer eingehenden Behandlung auf Grund einer Gesamtdarstellung der Beziehungen Polens zur Hanse in der ersten Hälfte des 16. Jh. Der leider zu früh verstorbene St. Bodniak hat am 27. Januar 1937 in der Historischen Kommission der Posener Wissenschaftlichen Gesellschaft einen aufschlußreichen Vortrag unter dem Titel „Polen und die Hanse im 16. Jahrhundert" gehalten 22 . Leider wurde diese meines Wissens nach erste Bearbeitung dieses Themas nicht veröffentlicht; auch sind die gesammelten Quellen bis jetzt unbearbeitet geblieben. So müssen wir uns auf diese Andeutung beschränken. 19 Ebenda, S. 229f. 20 Schultz, Danmarks Historie, Bd. 2, Kebenhavn 1941, S. 319-321. 21 Ebenda, S. 317f. 22 BodNiAK, ST., Polska a Hanza w XVI w., in: Sprawozdania Tow. Przyjaciöl Nauk, Poznan 1937, Zesz. 1.
RUSSLANDS AUSSENHANDEL UND INTERNATIONALE POLITIK AN DER SCHWELLE DER NEUZEIT1 von Erich Donnert
I Die Entwicklung der Produktivkräfte in Rußland am Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jh. führte zu erkennbaren Fortschritten in der Warenproduktion und besonders sichtbar zur Belebung des Außenhandels. Im 16. Jh. entstanden erste Umrisse eines Weltmarktes und Welthandels. Rußland hat, wie die anderen großen Staaten auch, Anteil an diesen beiden bedeutenden Erscheinungen der beginnenden Neuzeit. Ebenso verhält es sich mit der Stellung Rußlands in der Geschichte des frühneuzeitlichen Europa. Die gelehrt-konventionelle These von der Europäisierung Rußlands seit dem 17. Jh. ist eine Oberflächenerkenntnis; in Wirklichkeit hat Rußland das, was man das neuzeitliche Europa nennt, selbst mit geschaffen. Wichtig für die gesellschaftliche Aufwärtsentwicklung Rußlands wurden neue Erscheinungen, die sich im Gefüge des inneren Marktes zeigten. In ihnen widerspiegelte sich das Ringen zwischen Neuem und Altem bereits erkennbar. Dabei blieb der charakteristische Zug der russischen Entwicklung nach wie vor, daß die feudale Grundlage des gesellschaftlichen Lebens nicht zum Wanken gebracht werden und die Ansätze bürgerlicher Bindungen sich nur in ersten Keimformen durchsetzen konnten. Die bislang noch immer unzulängliche Erforschung der neuen Phänomene im Wirtschaftsleben und in den inneren Marktbeziehungen Rußlands in der Zeit Ivans III. und Vasilijs III. läßt eine eindeutige Beantwortung der Frage nach der Intensität der Anfänge bürgerlicher Marktbindungen nicht zu.2 Kennzeichnend für die neuen Marktbeziehungen wurden die zunehmenden Verflechtungen der bis dahin recht isolierten Lokalmärkte Rußlands. Den Haupthebel bildete hierbei der feudale Einheitsstaat. Aus dieser Sachlage wird der historische Fortschritt sichtbar, den die Errichtung des russischen Einheitsstaates im Vergleich zur alten Udelordnung bedeutete. Wichtig für die neue Warenproduktion, die im Unterschied zu früheren Erscheinungen erste 1
2
Beim vorstehenden Aufsatz handelt es sich um einen Teilabschnitt einer in Vorbereitung befindlichen größeren Arbeit. Die Anmerkungen werden auf ein Mindestmaß beschränkt. Auf diese Fragen gehe ich näher ein in meiner demnächst erscheinenden Abhandlung: „Vorstufen und Frühformen des Kapitalismus in Bußland."
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E . DONNEBT
"Voraussetzungen für die bürgerlich-kapitalistische Waren- und Geldwirtschaft schuf, wurde die weitergehende Arbeitsteilung, vor allem die immer tiefgreifendere Trennung der Gewerbe und Industriezweige von der Landwirtschaft. Im Zuge der Warenproduktion und Warenzirkulation bildeten sich nicht selten aus ehemaligen Kirchdörfern und kleinen Flecken größere Handelsund Handwerkersiedlungen, die von ihrem Typus her zwischen Dorf und Stadt standen. Aus solchen Siedlungen entwickelten sich in den meisten Fällen Städte.3 Die neue, der späteren bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung dienende Warenproduktion faßte dabei vor allem in der extraktiven Industrie, so in der Eisengewinnung, im Fischereigewerbe und in der Salzsiederei, stärker Fuß. Dabei war ihre Entwicklung in den einzelnen Gegenden Rußlands recht unterschiedlich. Die um Serpuchov und Tula gelegenen Eisenerzgruben und Eisenhütten versorgten beide Städte ausgiebig mit Eisen; ähnliches ließ sich von der Stadt Kasira sagen. Die einheimischen Eisenhütten waren einfache frühe Manufakturbetriebe, deren Erzeugnisse als Waren auf die verschiedenen Märkte flössen. Die in den genannten Gegenden beheimatete Eisen- und Metallwarenindustrie war mit einem immer lebhafter werdenden Handel verknüpft. Faßbarer werden die neuen Erscheinungen im Marktwesen Rußlands am Beispiel der Fischereientwicklung. Aus Urkunden des beginnenden 16. Jh. läßt sich der Warencharakter der in verschiedenen Gegenden Rußlands beheimateten Fischerei deutlich nachweisen. Die Warenproduktion drang vor allem stärker in das Fischereigewerbe an den Ufern der Neva, des Ladogasees, des Volchov und des Ilmensees ein. Dieser Erscheinung lag ebenfalls die immer stärker werdende gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Loslösung der Fischerei vom Ackerbau zugrunde. Begünstigt wurde sie auch durch die siedlungsgeographischen Gegebenheiten dieser Gebiete. Es entstanden nach und nach ausgesprochene Fischersiedlungen, die ein bereits recht ausgedehntes Netz von Handelskontakten mit ihrer Umgegend knüpften. >. Besonders augenscheinlich entwickelte sich die Warenproduktion aber in der Salzsiederei. In Osteuropa vollzog sich die Salzgewinnung gewöhnlich in drei Formen: durch Verdampfen von Meersalz, Sieden von Solequellen und Gewinnung aus Steinsalz. Salz gewann man am Weißmeer, im nordöstlichen Galic, in der Umgegend von Novgorod, so in Staraja Russa und an der Selon und anderenorts. Wichtige Belege hierfür enthalten die zeitgenössischen Rußlandschilderungen des kaiserlichen Diplomaten Siegmund von Herberstein. So heißt es von Staraja Russa: „Es hat einen salzigen Fluß, den die Bürger 3
V g l . z u m folgenden OqepKii HCTOPHH C C C P . ILEPHOÄ $eoAajiH3Ma Konei; X V
B.-Haiajio
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Hbift JI. T., u. a., Moskau 1966, S. 105 ff. und 142 ff.
Bußlands Außenhandel und internationale
Politik
369
in einer Grube stauen wie einen Teich; von da lassen sie das Wasser durch Röhren in ihre Häuser und sieden das Salz." 4 Welche Bedeutung der Salzgewinnung im System der Warenwirtschaft Rußlands zukam, wird daraus deutlich, daß in diesem Industriezweig besonders große Unternehmen entstanden. So entwickelte sich bereits damals ein ausgesprochener Konkurrenzkampf zwischen größeren und kleineren Salzunternehmen. Häufig taten sich mehrere kleinere Stätten zu einer Art Artel zusammen, um so den großen Salzsiedereien wirksamere Konkurrenz entgegensetzen zu können. Als Salzgroßunternehmer trat frühzeitig das bekannte Soloveckij-Kloster hervor, das fast die gesamte Salzgewinnung am Weißmeer in seiner Hand monopolisierte. Der Prototyp des frühen Unternehmers in Rußland wurde indes die nachmals berühmt gewordene Familie der Stroganov. 5 Ihre Tätigkeit datiert seit dem letzten Viertel des 15. Jh.; ihr Ausgangsbereich war der Ort Sol' Vycegodskaja (Sol'vyöegodsk). Aus mehreren Quellen wird deutlich, wie es Anika Stroganov gelang, zum ersten Großsalzindustriellen der russischen Geschichte emporzusteigen. Er verstand es, die benachbarten Salzindustriellen niederzukonkurrieren und deren Besitzungen seinen Unternehmen anzuschließen. Unter denen, die sich der Allgewalt Anika Stroganovs beugen mußten, befanden sich auch bis dahin mächtige und kapitalkräftige Unternehmer. Stroganov konnte seine Konkurrenten schon deshalb aus dem Felde schlagen, weil er die Unterstützung der Moskauer Regierung genoß, welche ihm die zum Betrieb großer Salzunternehmen nötigen staatlichen Konzessionen und Zuschüsse zukommen ließ. Als er im Jahre 1570 starb, hinterließ er seiner Familie mehrere für die damalige Zeit technisch hervorragend ausgestattete große Salzsiedereien. Anika Stroganov und seine Söhne waren indessen nicht nur Salzindustrielle, sondern betätigten sich ebenso als Eisenhüttenunternehmer und Besitzer großer Schmiede Werkstätten. Zugleich waren sie bekannte Großkaufleute, die sich vor allem auf den Salzhandel und das Rauchwarengeschäft verlegt hatten. Auch als Schiffsreeder und in anderen Unternehmerbranchen machten sie von sich reden. Die Tätigkeit der russischen Stroganov bildete ein Musterbeispiel frühen Unternehmertums im Europa der beginnenden Neuzeit. 4
5
Moscovia von Herrn Sigmund Freiherrn zu Herberstein, Neyperg und Guettenhag übertr. v. W. v. D. STEINEN, eingeleitet u. hrsg. v. H. KATJDERS, Erlangen 1926, S. 145. Arbeiten über die Stroganov sind weit verstreut; im ganzen ist deren Geschichte viel zu wenig bekannt. Dies gilt vor allem für die ausländische Bußlandforschung. Auf dieses Thema komme ich demnächst ausführlicher zurück. Vgl. das nicht ganz befriedigende Standardwerk: BBEHEHCKHÄ, A. A., ROM CTporaHOBLix B XVI—XVII BeKax, Moskau 1962. Zur russischen Salzindustrie und den Stroganov im 17. Jh. vgl. im übrigen das ausgezeichnete Werk des erst unlängst verstorbenen YcTioroB, H. B., ConeBapeHHaH npoMtmijieHHocTb COJIH KaMCKoft B XVII Bene. K Bonpocy o reHe3Hce KanirrajmcTHHecKHX OTHOineHHit B pyccKoü npoMHimieHHOCTH, Moskau 1957.
25*
370
E . DONNERT
II Die Landeseinigung und die Errichtung des Einheitsstaates stimulierten die Erweiterung des Außenhandels Rußlands6 beträchtlich. Zu den bereits traditionellen auswärtigen Handelsbeziehungen Moskaus kamen jetzt diejenigen Novgorods und TVers, Pskovs und Rjazans hinzu. Die westlichen Handelspartner des geeinten russischen Reiches waren das Großfürstentum Litauen, das Königreich Polen, der livländische Ordens- und Bischofsstaat, die deutsche Hanse und mehrere Länder Mittel-, West-, Süd- und Südoste'uropas. Im Osten und Südosten bestanden Handelsbeziehungen zu den tatarischen Chanaten, zu Mittelasien, Transkaukasien und der Türkei. Außenhanldel und Entwicklung der Warenproduktion des Landes waren engstens miteinander verknüpft. Die bedeutende Erhöhung des prozentualen Anteils von Erzeugnissen der handwerklichen Produktion am gesamtrussischen Export und die Tätigkeit von zahlreichen Außenhandelsexperten beruhten auf der beträchtlichen Erweiterung der Warenproduktion. Umgekehrt hatte der russische Außenhandel besonders mit den Ländern des Ostens, in denen eine große Nachfrage nach russischen Fertigwaren bestand, der handwerklichen Produktion starke Impulse gegeben. Gewichtige Handelspartner Rußlands im Westen waren seit jeher Polen und besonders das Großfürstentum Litauen. Moskau wie auch Novgorod und Tver zählten zu dessen ältesten Handelspartnern. Ein beachtenswerter Umstand bestand darin, daß die Tvefer Kaufleute auch nach der Einverleibung ihrer Stammterritorien in den gesamtrussischen Staat den bis dahin mit Litauen gepflogenen Handel weiter in den hergebrachten Formen, nämlich weitgehend unabhängig von der Moskauer Zentralregierung, abwickelten. Dies war jedoch eine Ausnahmeerscheinung. Im ganzen brachte die Wiedervereinigung der Fürstentümer Vjazma, Gomel', Cernigov, Starodub und Smolensk mit dem russischen Staat nicht nur die Beseitigung der bisher gültigen politischen Staatsgrenzen, sondern auch den Wegfall zahlreicher Steuerbarrieren und Mauten, über welche die russischen Kaufleute immer wieder geklagt hatten. Das Resultat der Landeseinigung war eine beträchtliche Erweiterung des Außenhandels mit Litauen und Polen. Traditionelle russische Ausfuhrartikel nach Litauen und Polen waren Pelzwerk, Wachs, Fischzähne, Flachs, Hanf, Honig und Wildgeflügel; dazu trat das Salz. Bis zum Beginn der zwanziger Jahre des 16. Jh. hatte Litauen Salz aus Mittel- und Westeuropa bezogen, jetzt importierte man es im Zusammenhang mit den Unsicherheiten, die das Kapereiwesen mit sich brachte, aus 6
Vgl. jetzt KIRCHNER, W., Commercial Relations between Russia and Europe 1400 to 1800. Collected Essays, Indiana University, Bloomington 1966 (Indiana University Publications. Russian and East European Series 33); XOPOIHKEBHH, A. JL, BHEIIIHHH ToproBJifl pycH XIV—XVI BB. B OCßEMEHHH coBpeMeHHoit 6ypatya3Hoö HCTopnorpami, in: BonpoCH HCTopHH 2/1960, S. 1 0 4 - 1 2 9 ; OnepKH, a. a. O., S . 86FF.
Rußlands Außenhandel und internationale Politik
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Rußland. Wichtig wurde, daß der russische Litauenhandel sich in vieler Hinsicht als europäischer Transithandel vollzog, das heißt: Rußland bezog zahlreiche Handelsartikel aus Mittel- und Westeuropa durch litauisch-polnische Vermittlung und exportierte umgekehrt seine eigenen Waren über die gleiche Vermittlung nach dem Westen. Ebenso geartet waren seine Handelsbeziehungen mit Livland und der deutschen Hanse. Haupteinfuhrartikel aus dem Westen war das Tuch. Die über ihr Novgoroder Kontor handelnden Hansekaufleute suchten den gesamten westlichen Rußlandhandel in ihren Händen als eine Art Kolonialhandel zu monopolisieren. Die Obrigkeiten von Novgorod hatten sich den hansischen Ambitionen immer wieder energisch widersetzt; indes gelang eine Aufhebung der Privilegierung der in der Stadt tätigen ausländischen Hansekaufleute bis zum Jahre 1478 nicht. Erst die Vereinigung Novgorods mit dem Moskauer Staat bahnte hier Änderungen an. Ivan I I I . ließ 1494 das Novgoroder Hansekontor schließen, und er scheute auch nicht vor Repressalien gegen Novgoroder Hansekaufleute zurück. Es war verständlich, daß diese Maßnahme in hansischen Kreisen Panik hervorrief. Ivan I I I . hatte den Schlag gegen die hansische Politik der Übervorteilung der russischen Kaufleute und des russischen Staates mit aller Umsicht vorbereitet und dabei sehr geschickt die Interessengegensätze im hansischen Lager ausgenutzt. 1492 hatte er an der deutschen Grenze unmittelbar gegenüber dem livländischen Narva, welches nicht zur Hanse gehörte, das „russische Narva", die Festung Ivangorod, errichten lassen. Dessen ökonomische Aufgabe war zweifach: einmal sollte es die ausländischen Kaufleute, unter ihnen zahlreiche schwedische Händler, von Narva abziehen; zum anderen war es als eine ernste Bedrohung der bisherigen Monopolstellung der Hanse im Rußlandhandel gedacht. Zwei Jahre später schlug nun, wie bemerkt, der russische Herrscher vollends zu und schloß das Novgoroder Hansekontor. Gleichzeitig mußten reiche Hansekaufleute mitsamt ihren Familien den Weg in russische Gefangenschaft antreten. Die Expulsion der hansischen Kaufleute aus dem russischen Staat war freilich keine endgültige. Bereits 1544 wurde der deutschen Hanse wieder zugestanden, in Rußland Handel zu treiben. Jedoch vermochte diese ihre frühere Monopolstellung auch nicht annähernd mehr wiederzuerlangen. Die Handelspolitik Ivans I I I . , welche auf die Sicherung eines unabhängigen westlichen Außenhandels abzielte, war bereits zur Maxime der internationalen Beziehungen und des Außenhandels geworden. Im Süden und Südosten unterhielt der russische Staat vornehmlich Handelsbeziehungen zu den Tatarenchanaten, besonders zur Krim und zu Kazan. Die einst gewichtige Rolle der Goldenen Horde im System des russischen Osthandels war bereits zu Beginn des 15. J h . im Zusammenhang mit den Eroberungen Timurs verlorengegangen. Die auf den Trümmern der alten Horde entstandenen Tatarenchanate legten alles darauf an, den russischen Handel mit Transkaukasien und Mittelasien zu stören und zu beeinträchtigen. Erst
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E . DONNERT
im letzten Drittel des 15. Jh. gelang es der Regierung Ivans III. und russischen Kaufleuten, dauerhafte Handelskontakte zu den Ländern und Gebieten des Vorderen Orients und des Nahen und Mittleren Ostens zu knüpfen; sie wurden häufig durch Vermittlung der Krimtataren hergestellt. Die Krim erreichten die russischen Kaufleute vornehmlich auf dem Wasserweg, und zwar über den Don. Der bedeutendste Handelsplatz der Krim war Kaffa, eine italienische Kolonie, welche zwar 1475 in die Hände der Türken gefallen war, jedoch ihre wirtschaftliche Bedeutung nicht verloren hatte. In Kaffa saß der russische Kaufmann Chozja Kokos, der als Handelsagent Ivans III. den russischen Handel mit der Krim und den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens leitete. Russische Handelsartikel im tatarisch-türkischen Bereich waren vor allem die gefragten Pelze, dazu Fischzähne, Wildgeflügel und zahlreiche Erzeugnisse des Handwerks. Dem Bericht des bereits genannten Siegmund von Herberstein zufolge wurden „nach der Tatarei Sättel, Zaumzeug, Kleider . . . Messer, Beile, Nadeln, Spiegel, Geldbörsen und andres der Art" 7 ausgeführt. In offiziellen Schreiben des Krimchans Mengli Girej an Ivan III. wurde häufig die Zusendung von russischen Harnischen und Juwelierwaren erbeten. Die Krim lieferte dafür Zuchtpferde und weißen Filz. Die übrigen nach Rußland fließenden Waren kamen aus mehreren weitentfernten östlichen Ländern. Es waren dies meist Seide, orientalische Webstoffe, sowie Gewürze, mitunter auch Edelsteine. Wie bereits angedeutet, machte sich die Moskauer Zentralregierung in ihrer Außenhandelspolitik die früheren Kontakte der ehemaligen Teilfürstentümer zunutze. Auch im östlichen und südlichen Bereich waren es wieder Tvefer Kaufleute, die hier seit alters Handel trieben. Ihre Wege verliefen dabei über die Ukraine, später auch über Wolga und Don. Die Rolle der Tvefer Kaufleute im Ost- und Südosthandel Rußlands war eine recht bedeutende. Beispielgebend hierfür wurde die große Reise des bekannten Tvefer Kaufmanns Afanasij Nikitin, des „russischen Vasco da Gama"8, in den Jahren 1466 bis 1472 nach Persien und Indien, über die dieser in seiner Schrift „Reise über die drei Meere" 9 eindrucksvoll berichtet hat. Einige Jahre nach ihm gelangte der Moskauer Kaufmann Mark nach Schirwan. Er kam von dort aus in Begleitung einer großen Kaufmannskarawane nach Moskau zurück. 1499 schickte der Schirwanschah an Ivan III. einen Gesandten und entbot ihm „Freundschaft und Liebe" 10 , 7 8
9
Moscovia, a. a. O., S. 117 f. GREKOW, B. D., Die Bauern in der Rus von den ältesten Zeiten bis zum 17. Jh., Bd. 2, Berlin 1959, S. 4. A$aHacHft HHKHTHH, XO>KAEHHE AA Tpu Mopn 1466—1472, hrsg. v. B. fl. FPEKOB/B. I I . AHPHAHOBA-IIEPETC, Moskau/Leningrad 1948; deutsche Ausgabe: Die Fahrt des Athanasius Nikitin über die drei Meere, hrsg. v. H. Meyer, Leipzig 1920 (Quellen und Aufsätze zur russischen Geschichte 2).
OqepKH, a. a. O., S. 90.
Bußlands
Außenhandel
und internationale
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und 1490 war bereits ein anderer Händler aus Mittelasien mit dem gleichen Anliegen am Moskauer Hof erschienen.11 Der Umfang des östlichen und südöstlichen Außenhandels Rußlands war recht beträchtlich: große Kaufmannskarawanen gingen hin und her. Es war wiederum Herberstein, der darauf aufmerksam gemacht hat. Er schrieb: „ . . . wenn der Moskowiter Botschafter schickt, ziehen ebenso ihre Kaufleute mit, so daß oft achthundert, tausend, zwölfhundert Pferde mit einer Botschaft kommen."12 Interessant war, daß sich die russischen Kaufleute seit dem Ende des 15. Jh. immer häufiger zu größeren Korporationen zusammenschlössen. Es waren dies nichts anderes als die bekannten Kaufmannsgilden13, welche es in anderen Ländern ebenfalls gab. Sie existierten auch in Novgorod und Pskov sowie anderen russischen Städten. Zusammengeschlossen in Korporationen war es den russischen Kaufleuten im Ausland eher möglich, eine privilegierte Stellung einzunehmen und diese auch zu behaupten. Ausdruck dieser Sachlage waren häufig russisch-orthodoxe Kirchen, welche in zahlreichen ausländischen Städten entstanden und dort das Refugium und den Sammelplatz der russischen Kaufleute darstellten. Der gesamtstaatliche Außenhandel Rußlands unterschied sich vom auswärtigen Handel einzelner Fürstentümer und Landesteile nicht nur quantitativ. Die Vereinigung des riesigen Territoriums vom Weißmeer bis zur mittleren Wolga unter dem Zepter des Moskauer Großfürsten und Zaren mußte, auch wenn hier und da noch vereinzelte Zollschranken bestanden, die Herausbildung und den Gang des Handels in der Welt der frühen Neuzeit spürbar beeinflussen. Diese Fragestellung ist von der bisherigen Forschung noch viel zu wenig beachtet worden. Bekannt ist — und die ausländischen Rußlandreisenden haben darauf übereinstimmend hingewiesen —, daß der Handel mit dem weiten und großen „Moskowien" für viele Länder der damaligen Welt einen besonderen Reiz ausübte und zahlreiche Kaufleute, Reiselustige und Abenteurer anlockte. Auch in dieser Hinsicht fügte sich Rußland in den mit der frühen Neuzeit allerorts ansteigenden Wissens- und Betätigungsdrang der Völker und Staaten Europas und Asiens organisch ein. Die Rolle Rußlands im damaligen Welthandel gründete sich vor allem auf die natürlichen Reichtümer dieses riesigen Staates, auf eine bereits recht entwickelte frühe Industrie, zudem auf die reichen Möglichkeiten des Transitverkehrs, der vom Orient nach Mittel- und Westeuropa und umgekehrt über russisches Territorium abgewickelt wurde. Die deutschen Hansekaufleute, die Ebenda. !2 Moscovia, a. a. O., S. 117. 13 Vgl. neuestens auch HEPEIIHHH, JI. B., O $opMax o6te,n,HHeHnii peMecneHHHKOB B pyccKHX roponax XIV—XV BB., in: Bonpocu ncTopnn H HCTOEOFLAJIHBMA B POCCHH. CöopHHK CTaTett K 70 jieTHio A . A . HoBoceJibCKoro, Moskau 1961, S. 19—24. Zur Geschichte des russischen Großkaufmanns AMBUROER, E., Zur Geschichte des Großhandels in Rußland: die gosti, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 11
46/1959, S. 2 4 8 - 2 6 1 .
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mit Novgorod Handel trieben, exportierten aus Rußland nicht nur Landesartikel, sondern in ebenso großem Umfange Waren orientalischer Herkunft, so etwa die berühmten Seidenstoffe. Auf der anderen Seite boten russische Kaufleute auf der Krim westeuropäische Tuche zum Verkauf an. Die Regierung in Moskau achtete streng darauf, daß die im Transithandel erzielten beträchtlichen Gewinne in den Säckel des Fiskus und der russischen Kaufleute flössen.14 Die mittel- und westeuropäischen Kaufleute wußten um die Bedeutung der Handelswege, die über Rußland nach dem Orient führten. Das Zeitalter der Entdeckungen äußerte seinen neuzeitlichen Geist im Hinblick auf Rußland ebenfalls in der Suche nach neuen Wegen und Handelsstraßen. Unternehmungslustige und tüchtige Kaufleute, Diplomaten, Gelehrte und Abenteurer aus allen Ländern Europas und Asiens suchten die lohnendsten und günstigsten Wege zu erkunden, um auch über das märchenhafte „Moskowien" nach China und Indien zu gelangen. Bekannt wurde in dieser Hinsicht der Genuese Paolo Centurione, welcher im Jahre 1520 in Moskau erschien und Anstalten traf, auf große Entdeckungsfahrt zu gehen. Jedoch aus seinem Vorhaben wurde nichts. Immerhin hatten seine Pläne und Projekte das Interesse maßgeblicher Kreise und Regierungen mittel- und westeuropäischer Länder an Rußland und am russischen Handel erneut geweckt und verstärkt. Aber nicht nur um den Transithandel ging es; denn die Hauptartikel des russischen Exports waren weder orientalische Stoffe noch mittel- und westeuropäische Tuche, sondern Waren russischer Provenienz, wie die berühmten russischen Pelze bezeugen. Diese gingen zu Beginn des 16. Jh. bis in das ferne Spanien, ebenso nach England. Der Entfaltung des russischen Außenhandels zu Beginn der Neuzeit standen allerdings starke Hemmnisse im Wege. Im Osten war es vor allem das Tatarenchanat Kazan, das ihn erheblich beeinträchtigte. Die Moskauer Regierung war mehr oder weniger vom guten Willen der Kazaner Herrscher abhängig. Russische Kaufleute konnten von den Kazanern jederzeit angehalten, zurückgeschickt, gefangengesetzt oder beraubt werden. So war ihre Tätigkeit, sofern ihr Weg über Kazaner Gebiet führte, nicht ungefährlich; häufig wurden sie sogar umgebracht. Unter Vasilij III. versuchte man von russischer Seite, gegen die Machthaber von Kazan Druck auszuüben, indem man die russische Salzzufuhr für das Chanat zeitweilig sperrte. Jedoch solche Maßnahmen halfen, wie sich rasch zeigte, nicht allzu viel. Auch der Boykott des berühmten Kazaner Marktes führte nicht weiter. Es war klar, daß die russische Politik andere Wege und Mittel finden und einsetzen mußte, wollte sie diesem Zustand ein wirkliches Ende setzen. Auf empfindliche Behinderung stieß der russische Außenhandel auch im Westen. Ansonsten keineswegs einmütig, wehrten sich Litauen, Polen, der livländische Ordensstaat und die deutsche Hanse gleichermaßen gegen jeden russischen Versuch, mit dem übrigen Europa in direkten Handelsverkehr zu treten. Alle achteten dabei mit besonderer Strenge darauf, daß dem russischen « OqepKH, a. a. O., S. 91 f.
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Staat aus Mittel- und Westeuropa keine „verbotenen Waren" zugeführt wurden, worunter sie vor allem Metallerzeugnisse, Kriegsgerät und Militärfachleute verstanden. Noch 1548 endete ein Versuch Ivans IV., in Deutschland mit Zustimmung Kaiser Karls V. für russische Dienste angeworbene Wissenschaftler, Techniker und Militärs nach dem Zarenreich zu bringen, mit einem Fiasko. Auch westlichen und nordwestlichen Nachbarn gegenüber mußte die russische Regierung daher andere, durchschlagendere Mittel einsetzen, wollte sie diesen für das Land unhaltbaren Zustand ein für allemal beseitigen. Um als vollwertiges Mitglied im europäischen Konzert der Staaten der frühen Neuzeit mitzuwirken, war es für Rußland eine Existenzfrage, die direkte Verbindung mit dem übrigen Europa herzustellen. Hierfür bildete die Gewinnung des lebenswichtigen Zugangs zur Ostsee eine unumstößliche Aufgabe. Das starke Rußland mußte aus dem zugebundenen Sack heraus, in dem es sich befand. Dazu bedurfte es freilich militärischer Entscheidungssiege — gegen die Tataren im Süden und Osten wie gegen die benachbarten Reiche und Ostseeanliegerstaaten im Westen und Nordwesten. III Um die Wende vom 15. zum 16. Jh. zeichnete sich die Teilnahme Rußlands an den Belangen und Bestrebungen der frühneuzeitlichen Staatenwelt immer erkennbarer ab. Die zwischenstaatlichen Beziehungen der Länder Europas, darunter auch Rußlands, verdichteten sich beträchtlich; die Diplomatie der Neuzeit hub an. Die auswärtige Politik des Moskauer Rußlands bekam bereits ein sichtbares internationales Gepräge. Es vollzog sich auf dem Gebiet der Außenpolitik der gleiche Prozeß, der im Außenhandel des russischen Reiches vor sich ging. Die gesamte damalige Staatenwelt, vor allem die Europas, geriet in sichtliche Bewegung. Das starke Moskauer Rußland, das sich von den Tataren befreit hatte, sah sich urplötzlich von allen Seiten stürmisch umworben. Zahlreiche Staaten und Herrscher suchten die Gunst Ivans III. und Vasilijs III. zu erlangen; Pläne und Projekte wurden geschmiedet, wie man die wirtschafliche und militärpolitische Stärke des großen osteuropäischen Reiches für die eigenen Belange nutzen konnte. In dieser Hinsicht stellte man mit besonderem Eifer auch an der Kurie Überlegungen an, um den russischen Staat im Rahmen einer großen katholischen Liga zum Kampf gegen die Türken zu bewegen. Recht lebhafte Westbeziehungen unterhielten Moskau und andere russische Fürstentümer bereits seit den sechziger Jahren des 15. Jh., und zwar besonders zur Republik Venedig, die mit der Türkei in langwierige Auseinandersetzungen um ihre Mittelmeer- und Schwarzmeerkolonien verwickelt war. Es handelte sich hierbei um recht vielseitige Beziehungen: sie betrafen die wirtschaftlichen und handelspolitischen Belange Rußlands und ebenso seine geistig-kulturellen, wie die Tätigkeit italienischer Baumeister, Techniker, Künstler, Handwerker,
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Gelehrter und Kaufleute in Rußland besonders verdeutlichte. Hierher gehört auch die 1472 geschlossene Eheverbindung Ivans III. mit Zoe-Sof'ja, einer Tochter des Despoten Thomas Palailogos von Morea und Nichte des letzten Kaisers Konstantin XI. Palailogos von Byzanz. Wie die Betrachtung des Außenhandels zwischen dem Westen und Rußland gezeigt hat, war dessen Wirtschaft bereits in das frühe Weltwirtschaftssystem einbezogen. Es galt jetzt für die russische Regierung, mit politischen, diplomatischen und militärischen Mitteln jene Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die dem notwendigen weiteren Aufstieg des neuen Rußlands im Wege standen. Ivans III. Regentschaftszeit stand im Zeichen des ausgehenden Mittelalters. Als Herrscher erhob er sich hoch über seine Vorgänger aus der Teilfürstenzeit: er wurde der große Einiger und Befreier Rußlands vom Tatarenjoch. Seine Regierungsära trug deutlich den Charakter des Beginnens und des Übergangs; Ivan III. steht am Eingang, an der Schwelle der Neuzeit. Er hat als kluger und weitblickender Staatsmann und Politiker die Erfordernisse des neuen Zeitalters erkannt und mit starker Hand zu verwirklichen gesucht. Er war es, der die großen Linien der imperialen Machtpolitik des neuen Rußlands vorgezeichnet hat. Schon Nikolaj Karamzin hat diesen Tatbestand in seiner großen „Geschichte des Russischen Reichs" treffend umrissen, als er schrieb: „Von nun an (d. h. seit Ivan III.; E. D.) erhält die Geschichte Rußlands die Würde einer wahren Staatsgeschichte; denn sie schildert schon nicht mehr die törichten Streitigkeiten der Fürsten, sondern die Taten eines Unabhängigkeit und Größe erlangenden Reiches. Die Udelherrschaft verschwindet zugleich mit unserer Botmäßigkeit; es bildet sich ein mächtiger Staat, gleichsam neu für Europa und Asien, die, selbigen mit Erstaunen gewahrend, ihm einen ausgezeichneten Platz in ihrem politischen System zuweisen . . ," 15 In ähnliche Worte faßte Karl Marx die an der Wende vom 15. zum 16. Jh. in Osteuropa entstandene Sachlage: „Das erstaunte Europa, das zu Beginn der Herrschaft Ivans III. das zwischen Tataren und Litauern eingezwängte Moskowien kaum bemerkte, war überrascht, als plötzlich an seinen Ostgrenzen ein riesiger Staat auftrat, und selbst Sultan Bajasid, vor dem Europa zitterte, hörte zum erstenmal die stolzen Reden des Moskowiters."16 Besonderes Augenmerk legten Ivan III. und Vasilij III. auf außenpolitische Kontakte zu den Staaten des übrigen Europa. Ivan suchte Bündnisse mit dem Krimchan, dem Hospodar der Moldau, dem Ungarnkönig und dem König von Dänemark. Es kam zu einem regen gegenseitigen Gesandtenaustausch. Die 15 16
KARAMSIN, N., Geschichte des Bussischen Reichs, Bd. 6, Riga 1823, S. 1. Marx, K., Secret Diplomatie History, London 1899, S. 80 f; vgl. auch BEYGANG, F., Die Außenpolitik des russischen zentralisierten Staates während der Regierung Ivans III. (1462—1505), phil. Staatsexamensarbeit (MS), Leipzig 1955, S. 1. Wichtige Auszüge aus russischen Quellen zur Geschichte des neuen Rußlands in deutscher Ausgabe jetzt: Der Aufstieg Moskaus. Auszüge aus einer russischen Chronik, 2 Bde., übers, eingeleitet u. erklärt v. P. NITSCHE, Graz/Wien/Köln 1966—1967 (Slavische Gesichtsschreiber, hrsg. v. G. STÖKL, 4/5). In der Folge vgl. auch OnepKH, a. a. O., S. 147ff.
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Verhandlungen mit König Matthias Corvinus von Ungarn und dem Hospodaren Stephan von der Moldau führte in den achtziger Jahren der begabte Unterhändler Ivans III. D'jak Fedor Kuricyn. Sie standen in engem Zusammenhang mit dem kriegerischen Vorgehen Rußlands gegen Litauen-Polen und damit mit dem Kampf um die Wiedererlangung der von den Jagiellonen entrissenen westrussischen, weißrussischen und ukrainischen Gebiete. Ivan III. suchte eine Kriegskoalition gegen König Kasimir von Polen zustandezubringen. Die Beziehungen zu Ungarn und zur Moldau waren freundschaftlicher Art. Da die in Polen regierenden Jagiellonen gleichzeitig Gegner der von den Habsburgern betriebenen Politik waren, suchte auch der deutsche Kaiser das Bündnis mit Rußland. Beziehungen zwischen den deutschen Landen und Rußland bestanden bereits seit den ältesten Zeiten. Sie waren auch während der Tatarenherrschaft, welche sich ja nicht über das gesamte Rußland erstreckte, nicht abgerissen, wenn auch die politischen Kontakte längere Zeit hindurch loser und seltener geworden waren. Recht enge Beziehungen zu deutschen Landen unterhielt in der Tatarenzeit der nordwestliche Teil Rußlands, Novgorod und Pskov, wie es die regen Kontakte zur Hanse und zu deutschen Hansestädten verdeutlichen. Im Süden und Südwesten bestand zudem ein ständiger Konnex vor allem zu den italienischen Stadtstaaten und den Mittelmeer- und Schwarzmeerkolonien. Von einer Isolierung Rußlands gegenüber dem Westen konnte keine Rede sein. Unter Kaiser Albrechts II. kurzer Regierung war im Jahre 1438 der russische Metropolit Isidor mit einem prächtigen Gefolge von Moskau kommend durch Lübeck, Erfurt, Nürnberg über Tirol nach Florenz zum kirchlichen Unionskonzil gezogen und hatte den deutschen Landen ein Schauspiel geliefert. In einem von russischer Hand verfaßten, nun auch in deutscher Ausgabe vorliegenden Bericht ist die Reise der russischen Abordnung eindrucksvoll festgehalten. 17 Es wird angenommen, daß sich hinter dem kunstsinnigen anonymen Reiseberichterstatter ein weltlicher Beamter des Bischofs von Suzdal' verbirgt. Ursprünglich handelt es sich bei dieser nüchternen Reisebeschreibung wohl um Tagebuchaufzeichnungen, welche, sehr im Unterschied zur gleichzeitigen offiziellen Schrift des Suzdaler Mönchs Simeon über das Kirchenkonzil selbst, auf jedwede konfessionelle Polemik verzichteten. Im ganzen stellt die Quelle ein 17
Reisebericht eines unbekannten Bussen, übers, u. eingeleitet v. G. STÖKL, Graz/Wien/ Köln 1954, S. 150-189 (Byzantinische Geschichtsschreiber, Bd. 2). Vgl. auch L U D A T , H., Lübeck in einem Reisebericht des Spätmittelalters, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 35/1955, S . 7 1 - 8 4 ; M Ü L L E R , L., Ein Russe bereist 1438 die Salzstraße, in: Lauenburgische Heimat, N. F., Dezember 1955, Heft 9, S. 31—35; D E R S E L B E in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 80/1956, S. 274—276; R A A B , H., Germanoslawisches im Ostseeraum an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald, gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 6/1956 - 1957, nr. 1/2, S. 58.
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äußerst wertvolles Zeugnis für die russische Auslandskunde um die Mitte des 15. Jh. dar.18 1486 erschien der schlesische Ritter Nikolaus Poppel am Hofe Ivans III. in Moskau und überreichte ein Empfehlungsschreiben Kaiser Friedrichs III. Vollmachten besaß er allem Anschein nach nicht; er war wohl mehr auf eigene Faust nach Rußland gereist.19 Ungeachtet dessen leitete er Verhandlungen großen Stils ein und brachte Heiratsprojekte zwischen dem Kaiserhaus und der Zarenfamilie vor. Da er jedoch über keine kaiserliche Legitimation für seine bei Ivan III. entwickelten Vorstellungen verfügte, kamen auch keinerlei Abmachungen zustande. Man kann annehmen, daß Nikolaus 1487 wieder in Deutschland eintraf, wo er bei Kaiser Friedrich III., der sich gerade auf einem Reichstag in Nürnberg befand, vorstellig wurde. Hier berichtete er vor der staunenden Reichsversammlung von der Größe und der Macht des russischen Reiches Ivans III. Kaiser und Reichsstände nahmen die Gelegenheit wahr, um mit dem russischen Herrscher in offizielle Beziehung zu treten. Zu diesem Zwecke wurde Poppel abermals nach Moskau abgeordnet, jetzt jedoch versehen mit ausdrücklichen kaiserlichen Vollmachten. Das war im Dezember 1488. Diese offizielle Mission Poppeis am Moskauer Hofe blieb indes ohne wirkliche Resultate. Als Unterhändler Ivans fungierte wiederum der D'jak Fedor Kuricyn. Was zustande kam, war lediglich 1491 ein unverbindliches Schutz- und Trutzbündnis, in dem von „Freundschaft, Liebe, Brüderlichkeit und Eintracht" zwischen dem russischen Herrscher und dem Kaiser gesprochen wurde. Poppeis Bericht zufolge lehnte Ivan III. zudem das Anerbieten der Königskrone durch den Kaiser ab mit dem Bemerken: „Wir seyen, wie unsere Vorahnen in Gottes Gnaden von aller Anfang in unsrem Land, wie unsere Urahnen, dazu von Gott berufen. Item, wir eine solche Berufung nimmer und von niemand anders haben wollten, brauchen wir sie auch jetzo nicht."20 Das Heiratsprojekt des neuen Kaisers Maximilian, welcher seinen Neffen, den Markgrafen Albrecht von Baden, mit einer Tochter Ivans III., vermählen wollte, scheiterte ebenfalls. Das russisch-deutsche Bündnis von 1491 blieb auf dem Papier und trat nicht in Aktion. Maximilian schlug Ivan III. vielmehr vor, die russischen Kriegshandlungen gegen Litauen-Polen einzustellen und an ihrer Stelle den Kampf 18
Vgl. auch Reisebericht, a. a. O., Einleitung, S. 151. Interessante Stellen aus Chroniken deutscher Städte über die russische Reisegesellschaft führt an: LTJDAT, H., a. a. O., S. 83. 19 Dazu und zum folgenden vgl. immer noch als grundlegend UEBERSBERGER, H., Österreich und Rußland seit dem Ende des 15. Jh., 1. Bd.: 1488-1605, Wien/Leipzig 1906, S. 4ff.; hier ist auch die ältere Literatur verzeichnet. Wichtig auch WINTER, E., Rußland und das Papsttum, Teil 1, Berlin I 9 6 0 , S . 181 ff., und BASHJIEBHH, K . B., BHeiiiHHH noJiimiKa pyccKoro i;eHTpaJiH30BaHH0r0 rocynapcTBa, Moskau 1952; russische Quellenstelle: Der Aufstieg Moskaus, Bd. 2, a. a. O., S. 197. Zu Einzelfragen vgl. jetzt HÖSCH, E., Die Stellung Moskoviens in den Kreuzzugsplänen des Abendlandes. Bemerkungen zur griechischen Emigration im Moskau des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jh., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 15/1967, S. 321-340. 20 üaMHTBHKH HHIIJIOMaTHHeCKHX CHOIIieHHÖ RpeBHeft PoCCHH CflepjKaBaMHHHOCTpaHHHMH, Bd. 1, St. Petersburg 1851, S. lOf. Vgl. auch: Der Aufstieg Moskaus, Bd. 2, a. a. 0 . , S. 198f.
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gegen die Türken zu eröffnen. Dieses Anliegen des Kaisers erlangte, auf die Dauer gesehen, große Bedeutung. Neben den habsburgischen Kaisern waren es vornehmlich die Päpste, welche derartige Vorstellungen mit Nachdruck vorbrachten und unterstützten. Die Kurie beabsichtigte durch Verwirklichung dieses Konzepts auch die Feindseligkeiten, welche zwischen Litauen-Polen und Rußland bestanden, aus der Welt zu schaffen. Denn es war vorgesehen, daß auch das Reich der Litauer und Polen am Kampf gegen die Türken teilnehmen sollte. Die Werbungen der Habsburger für die Schaffung einer großen mittel- und osteuropäischen Antitürkenliga waren nur allzu verständlich; bedrohten doch die Osmanen seit langer Zeit ihre Besitzungen unmittelbar. Jedoch die russischen Herrscher waren, wie sich zeigte, das gesamte 16. J h . hindurch nicht bereit, sich auf eine derartige Politik einzulassen. Interessengegensätze zwischen der russischen und der habsburgischen Außenpolitik gab es freilich nicht nur in der Türkenfrage, sondern auch in anderen Bereichen. Hierbei ging es in erster Linie um das lebenswichtige Anliegen Rußlands, den Zugang zur Ostsee zu erkämpfen. Um dieses Ziel zu erreichen, suchten die russischen Herrscher auch den König von Dänemark zu benutzen, mit dem sie Vereinbarungen gegen Schweden, Livland und die Hanse trafen. Das Vorgehen Ivans I I I . gegen letztere, welches, wie bemerkt, 1494 zur Schließung des Novgoroder Hansehofes führte, versetzte die kaiserliche Diplomatie in panischen Schrecken. Die Habsburger sahen bereits deutlieh das Gespenst einer Neuordnung der Machtverhältnisse im baltischen Raum vor sich auftauchen. Das strittige Ostseeproblem und die Maßnahmen der russischen Regierung gegen die Hanse und Livland führten zu fast gänzlichem Stillstand in dem so hoffnungsvoll begonnenen Aneinanderrücken Rußlands und des Reiches. Daran änderten auch die Verhandlungen der zwischen Kaiser Maximilian und Ivan I I I . abgeordneten zahlreichen Gesandtschaften nur wenig; ihre Tätigkeit führte zu keinerlei nennenswerten Resultaten. Man gelangte nun einmal über gegenseitige höfisch-diplomatische Unverbindlichkeiten nicht hinaus. So blieb es im Grunde bis zum Tode Ivans, und auch im ersten Jahrzehnt der Herrschaft Vasilijs I I I . änderte sich in dieser Hinsicht nicht allzu viel. Die neuerliche Aktivierung im russisch-deutschen Verhältnis, welche von habsburgischer Seite ausging, hing mit den sich erneut verschärfenden habsburgisch-jagiellonischen Gegensätzen zusammen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Rußland und Litauen-Polen hatten eine bedeutende Zuspitzung erfahren und waren in ein entscheidendes Stadium getreten. Russische Truppen führten schwere Kämpfe um Smolensk, dessen Einnahme ihnen schließlich im Juni 1514 gelang. Jedoch mußten sie unmittelbar darauf, im September des gleichen Jahres, bei Orsa eine empfindliche Niederlage hinnehmen. Es war daher nur verständlich, daß angesichts dieser Sachlage auch von russischer Seite das Interesse an einem erneuten Zusammengehen mit den Habsburgern stärker wurde. In dieser Situation erschien im Februar 1514 der kaiserliche Gesandte Georg Schnitzenpaumer Ritter von Sonnegg in Moskau mit dem Auftrag, ein deutsch-
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russisch-dänisches Bündnis gegen Litauen-Polen zu schließen. In Schnitzenpaumers Instruktion hieß es: „Daz wir (d. h. Kaiser Maximilian und Vasilij III.; E. D.) ein Tractat, vnd verainigung, mit dem Kunig zu Tenmarckht, Herzogen zu Sachsen vnd Marggrauen zu Brandenburg, mit Ime, vnd dessgleichen mit dem Hochmaister des Teutschen Ordens . . . machen vnd auffrichten sollen ainmutigklichen, wider den . . . Kunig zu Pollan."21 Die beiderseitigen Verhandlungen verliefen recht erfolgreich, und im Sommer 1514 kam es zum Abschluß eines russisch-deutschen Allianzvertrags. Bei ihm handelte es sich um ein Defensivbündnis gegen die beiderseitigen Feinde und um ein Offensivbündnis gegen den König von Polen. Der Kaiser wurde verpflichtet, die russischen Kriegshandlungen gegen Polen umgehend zu unterstützen und sofort mit der Rückeroberung von Polnisch-Preußen zu beginnen. Der Vertrag sollte für die Lebenszeit der beiden Herrscher Gültigkeit besitzen. Seine Unterzeichnung legte Zeugnis ab von der Geschicklichkeit und Wendigkeit der russischen Diplomaten. Die kaiserlichen Unterhändler waren mit ihren Vorstellungen gegen die Berater des russischen Herrschers nicht durchgedrungen. Von großer Tragweite sollte werden, daß es der russischen Seite gelungen war, im Vertrag die Anerkennung des Zaren von Rußland als von „Gottes Gnaden Kayser unnd Herrscher aller Rewssen", als „Großer Herr Kayser unnd aller Rewssen unnd Großfürste" 22 durchzusetzen. Diese Sachlage konnte selbst durch eine nachträgliche Redaktion der Urkunde, zu welcher Kaiser Maximilian den berühmten deutschen Humanisten Konrad Peutinger, beider Rechte Doktor, bemühte, nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Die russische Diplomatie bemühte sich seit dem Regierungsantritt Ivans III., welcher sich erstmalig in einem Vertrag mit Livland vom Jahre 1473 „Zar" genannt hatte, im politischen Verkehr mit ausländischen Mächten sowohl des Westens wie des Ostens die Anerkennung dieses russischen Titels durchzusetzen. Der Begriff eines eigenen russischen Kaisertums oder Kaiserreiches23 — denn beides bedeutet „Carstvo" — gab es spätestens seit der 1492 erfolgten Krönung Dmitrijs, des Sohnes Ivans III., zum Zaren von ganz Rußland. Die zweite offizielle Zarenkrönung fand im Jahre 1547 statt, als der junge Ivan IV. den Herrscherthron bestieg. Die Urkunde von 1514 bildete in der Folge einen wichtigen Präzedenzfall der auswärtigen Politik Rußlands, das unschätzbare 21 FIEDLEB, J., Die Allianz zwischen Kaiser Maximilian I. und Vasilij Ivanoviö, Großfürsten von Rußland, von dem Jahre 1514, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Classe 43/1863, Juli-Heft, S. 185. 22 Ebenda, S. 244ff. Der russische Originaltext des Bündnisvertrages von 1514 ist neu ediert mit Übersetzung und Kommentar von G. Stökl, in: 1100 Jahre österreichische und europäische Geschichte in Urkunden und Dokumenten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, hrsg. v. L. SANTIFALLER, Wien 1949, S. 53-56. 23 STÖKL, G . , Die Begriffe Reich, Herrschaft und Staat bei den orthodoxen Slawen, in: Saeculum 5/1954, S. 104-118.
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und unwiderlegbare Beweisstück des russischen Zaren von seiner Ebenbürtigkeit auch mit dem römischen Kaiser. Die habsburgische Diplomatie hat sich nach 1514 starrköpfig geweigert, den russischen Zaren als Kaiser anzuerkennen. Schon der kaiserliche Freiherr Siegmund von Herberstein, welcher erstmals 1517 nach Moskau kam, sah sich dem russischen Anspruch auf Gleichberechtigung gegenüber. Er hat es in seinem Rußlandbuch ausdrücklich vermieden, die Titulatur „Zar" mit Kaiser wiederzugeben; statt dessen erging er sich bei ihrer Erklärung in weitschweifigen Ausführungen und setzte dann das Zartum mit dem Königtum gleich. Dabei behauptete er den russischen Unterhändlern gegenüber, welche ihn auf die Urkunde von 1514 aufmerksam machten, von ihr nichts zu wissen 24 , was völlig unglaubhaft erscheint. Im Gegensatz zu den Gepflogenheiten der Habsburger stand die Haltung der Engländer. 25 Die Briten des Zeitalters Elisabeths und Shakespeares, Cromwells und Miltons haben den Zaren von Rußland stets mit dem Titel „Emperor", das heißt mit der Benennung Imperator (Kaiser) bedacht. Neben dem russischdeutschen Bündnisvertrag von 1514 existiert auch ein aus der gleichen Zeit stammendes Schreiben des Sultans Suleiman I., in dem Großfürst Vasilij III. von Rußland ebenfalls Kaiser genannt wird. Im übrigen findet sich bereits einige Jahre vorher in dem livländischen Geschichtswerk der „Schönnen Hysthorie", einer antirussischen Tendenzschrift, die 1508 von Christian Bomhower, dem Sekretär des livländischen Ordensmeisters Wolter von Plettenberg, verfaßt wurde, als Bezeichnung für Vasilij gleichfalls der Kaisertitel. 26 Nur wenig später, in den Jahren 1555 und 1557, begrüßten Königin Maria von England und ihr Gemahl Philipp II. von Spanien in offiziellen Botschaften den jungen Zaren Ivan IV. als „Emperor of all Russia" beziehungsweise als „Imperator totius Russiae", also als Kaiser. Königin Elisabeth hat dieselbe Anrede des Zaren übernommen und während ihrer gesamten Regierungszeit angewendet. Das gleiche taten die Stuarts, die den russischen Herrscher ebenso selbstverständlich mit „Imperor" betitelten. Auch Oliver Cromwell hat später in einem von seinem Sekretär John Milton konzipierten Schreiben aus dem Jahre 1657 den russischen Zaren Aleksej „Imperor and Great Duke of Russia" genannt. Der englische „Imperor"-Titel für die russischen Herrscher war keineswegs eine diplomatische Höflichkeitsbezeugung, sondern findet sich allgemein in der englischen Reiseliteratur über Rußland im 16. und 17. Jh. wie überhaupt in der gesamten damaligen Publizistik und Dichtung Englands. So haben William Shakespeare und John Milton als die hervorragendsten Vertreter des englischen 24 25
26
Moscovia, a. a. 0 . , S. 55 ff. R u f f m a n n , K. H., England und der russische Zaren- und Kaiser-Titel, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 3/1955, S. 217-224. B e n n i n g h o v e n , F., Rußland im Spiegel der livländischen Schönnen Hystorie von 1508, in: Rossica Externa.Festgabe fürP. Johansen zum 60. Geburtstag, Marburg 1963, S. 15f.
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Geisteslebens jener Zeit die Bezeichnung „Emperor ofRussia" und „Emperor of Muscovy" ebenso selbstverständlich verwendet wie die berühmten englischen Rußlandschriftsteller Richard Chancellor, Anthony Jenkinson, Jerome Horsey und Giles Fletcher. Das gesamte englische Rußlandschrifttum des 16. und 17. Jh. beweist dabei eindeutig, daß die Engländer die Worte „Car" und „Emperor" beziehungsweise „Zar" und „Kaiser" stets synonym gebrauchten. Das russische Kaisertum ist somit ein Produkt der beginnenden Neuzeit, der Zeit Ivans III., Vasilijs III. und Ivans IV. Freilich mußte diese Errungenschaft im folgenden immer wieder und von neuem erkämpft werden. So weigerte sich Kaiser Leopold I. im Jahre 1661 erneut, im offiziellen politisch-diplomatischen Verkehr den russischen Zaren mit „Majestät" zu betiteln.27 Indessen, die Entwicklung Rußlands zu einem der stärksten Kaiserreiche der neueren Geschichte ließ sich nicht aufhalten. Es war Peter der Große, der Repräsentant einer bereits fortgeschritteneren Periode der Geschichte Rußland, welcher im Jahre 1718 die Urkunde des russisch-deutschen Bündnisvertrages von 1514 drucken ließ, um vor aller Welt den eindeutigen Nachweis zu führen, daß der russische Kaisertitel bereits in die Anfänge der Neuzeit der russischen Geschichte Europas zurückreichte. Und als ihm nach Beendignug des siegreichen Nordischen Krieges durch den Kanzler Golovkin am 22. Oktober (2. November) 1721 der Titel „Imperator Vserossijskij" (Kaiser von ganz Rußland) angetragen wurde, berief sich der russische Herrscher wiederum und ausdrücklich auf das russisch-deutsche Vertragswerk von 1514. Was die in diesem festgehaltenen konkreten Verpflichtungen der beiden Herrscher anging, so wurden selbige von habsburgischer Seite freilich wenig ernst genommen. Durch Abgeordnete Albrechts von Brandenburg, des Hochmeisters des Deutschen Ordens, erfuhr Vasilij III. bald, daß der Kaiser eine Aussöhnung mit dem Polenkönig anstrebte und keineswegs geneigt war, die russischen Kampfhandlungen gegen die Jagiellonen zu unterstützen. Es zeigte sich immer mehr, daß die Habsburger ein russisches Übergewicht in Osteuropa und im Ostseeraum befürchteten. In dieser Hinsicht suchten sie auch den Polenkönig einzuschüchtern und zu Zugeständnissen gegenüber der kaiserlichen Politik zu veranlassen. Die Beziehungen und Verhandlungen mit Rußland dienten ihnen somit in erster Linie als Druckmittel gegen die widerspenstigen Jagiellonen. Das kaiserliche Vorhaben sollte auch gelingen. Maximilian traf im Jahre 1515 mit den Königen Sigismund I. von Polen und Wladislaw von Ungarn und Böhmen auf dem sogenannten Wiener Kongreß zusammen. Gegen den Verzicht auf eine antihabsburgische Politik in Ungarn, was die Preisgabe des Strebens nach dem Erwerb der Länder der ungarischen Jagiellonenlinie und die Förderung der habsburgischen Absichten auf sie bedeutete, erlangte der Polenkönig Sigismund ein Friedens- und Freundschaftsbündnis mit dem Kaiser. 27
„Kayserliche grossmächtigkeit". Titularfragen bei den Verhandlungen zwischen Kaiser und Zar 1661/62, in: ebenda, S. 115—124.
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Mit dem Wiener Kongreß von 1515 hatte Maximilian die deutsch-russische Allianz von 1514 gebrochen. Er erkannte jetzt den Thorner Frieden von 1466 als rechtsgültig an und verzichtete ausdrücklich darauf, dem russischen Herrscher künftig direkt oder indirekt Beistand in seinem Kampf gegen LitauenPolen zu leisten. Sigismund von Polen selbst hatte in den Wiener Vertrag von 1515 hochgeschraubte Forderungen gegenüber Bußland aufnehmen lassen, welche in der Rückgabe der von den Moskauer Herrschern wiedereroberten westrussischen, weißrussischen und ukrainischen Gebiete gipfelten. Diese Anmaßungen standen in keinem Verhältnis zu der militärischen Situation, in der sich Polen damals befand, das vor den russischen Truppen immer weiter zurückweichen mußte. Die kaiserliche Diplomatie befand sich nach dem Wiener Kongreß Kußland gegenüber in einer nicht leichten Lage, hatte sie doch den Bündnispartner von 1514 hintergangen. Ansatzmöglichkeiten zu einer erneuten Annäherung suchte der Kaiser wiederum dadurch zu gewinnen, daß er die Türkenfrage in den Vordergrund spielte. Die Potenzen Litauen-Polens sollten jetzt ebenfalls dem habsburgischen Kampf gegen die Türken nutzbar gemacht werden. Zu diesem Zweck schien es vor allem notwendig, zunächst den langwierigen polnisch-russischen Krieg zu beenden. So boten sich die Habsburger beiden Seiten als Friedensunterhändler und Vermittler an. Mit der Mission wurde der kaiserliche Freiherr Siegmund von Herberstein beauftragt. Er sollte Vasilij I I I . zu bewegen suchen, mit Litauen-Polen Frieden zu schließen und sich mit König Sigismund auszusöhnen, Smolensk an die Jagiellonen zurückzugeben und ein russisch-polnisches Kriegsbündnis gegen die Türken einzugehen. Dieses Unterfangen des Kaisers erwies sich als völlig irreal und hatte demzufolge nicht die geringsten Erfolgsaussichten. Es war daher verständlich, daß dem 1517 in Moskau eintreffenden Freiherrn eine eisige Atmosphäre entgegenschlug, in der an die Erzielung handgreiflicher Resultate bei den Verhandlungen mit den Beratern des russischen Herrschers nicht zu denken war. So scheiterte denn die große und prachtvolle siebenmonatige Mission Herbersteins vollständig. Der kaiserliche Freiherr, der in den Jahren 1526/27 ein zweites Mal nach Moskau kam, hat in einem Buch vom Jahre 1549, den berühmten „Commentarii rerum Moscoviticarum" 28, seine Tätigkeit in Rußland eindrucksvoll geschildert. Vasilij I I I . war nicht bereit, den von seinem Vater Ivan I I I . vorgezeichneten Weg einer selbständigen Außenpolitik Rußlands zu verlassen. Wie sein Vorgänger, so steuerte auch er unentwegt und mit sicherem Blick auf die Lösung der vor Rußland stehenden und dringend zu lösenden nationalen und internationalen Aufgaben zu. In dieser Hinsicht wurde immer deutlicher, daß eine sklavische Kettung an die habsburgische Politik den Interessen Rußlands 28
DONNERT, E., Siegmund von Herberstein. Zur deutschen Bußlandkunde des 16. Jh., in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 7/1957-58, Heft 1, S. 78ff.
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großen Abbruch getan hätte. Es galt somit wie ehedem, den klaren Blick zu behalten und sich in der auswärtigen Politik weiterhin offensiv, umsichtig und realistisch zu orientieren. Nach der Lockerung des russisch-deutschen Verhältnisses ging die Moskauer Regierung vor allem daran, wieder intensiver Kontakt mit Dänemark zu pflegen und das bereits bestehende Militärbündnis zu aktivieren. Gleichzeitig mit der Abkühlung des russisch-deutschen Verhältnisses und der Annäherung der Habsburger an die Jagiellonen kam es im Reich zu Auseinandersetzungen um die Kaisernachfolge. Es rivalisierten Maximilians Enkel, König Karl I. von Spanien, der kaiserliche und zugleich der aussichtsreichste Prätendent, und König Franz I. von Prankreich, der jedoch unter den deutschen Fürsten nur wenig Anhang hatte. Albrecht von Brandenburg, der Hochmeister des Deutschen Ordens, unternahm in dieser Situation den Versuch, auch den russischen Herrscher in die Auseinandersetzungen um die Kaisernachfolge in Deutschland einzubeziehen.29 Kontakte in dieser Frage wurden zwischen ihm und Vasiiij I I I . im Jahre 1516 angebahnt. Im Februar des darauffolgenden Jahres erschien als Beauftragter des Hochmeisters dessen engster Berater Dietrich von Schönberg in Moskau. Offizieller Anlaß zu seiner Reise waren Bestrebungen Albrechts auf Abschluß eines Kriegsbündnisses mit Rußland gegen Litauen-Polen. Jedoch verfolgte der Hochmeister als Gegner der kaiserlichen Politik auch andere, weitreichendere Pläne. So suchte er Vasiiij I I I . mit der antihabsburgischen Opposition in Deutschland zu verbinden. Auf diesem Feld betätigte sich auch Schönbergs Bruder Nikolaus, welcher ebenfalls nach Moskau kam und hier seine Vorstellungen vortrug. Zu den einflußreichsten, die einer Kaiserkandidatur des spanischen Königs Karl ablehnend gegenüberstanden, gehörte Papst Leo X . Es war im ganzen ein recht undurchsichtiges, buntes Knäuel diplomatischer Winkelzüge, die der Hochmeister und seine Parteigänger spannen. Schließlich wurden sogar Kontakte zwischen Vasilij I I I . und dem französischen König Franz I. angebahnt. Sie gingen so weit, daß der russische Herrscher sich bereit fand, an Franz ein Schreiben zu richten, in dem er der französischen Kaiserkandidatur seine Unterstützung in Aussicht stellte. Jedoch die Bestrebungen des Hochmeisters Albrecht und anderer Gegner des Hauses Österreich in Deutschland erwiesen sich als nicht tragfähig und erlitten daher völligen Schiffbruch. Albrecht selbst mußte Vasilij I I I . im Jahre 1519 die Thronbesteigung Karls I. von Spanien mitteilen. Wie sich bald zeigte, war der neue Kaiser, der als Karl V. sein Amt in einer recht schwierigen Lage übernahm, an einem freundschaftlichen Verhältnis zu Rußland nachdrücklich interessiert. In der Tat hinterließen bereits die ersten russisch-deutschen Verhandlungen zwischen ihm und Vasilij I I I . einen denkbar guten Eindruck. Beide Seiten 29
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agierten mit größter Sachlichkeit; übermäßige Forderungen wurden vermieden. In der leidigen Türkenfrage kam es wie schon vordem zu keinerlei Fortschritten, obwohl das russisch-türkische Verhältnis sich im Jahre 1521 recht zugespitzt hatte. Der Gesandtschaftsverkehr zwischen Rußland und Karl war überaus rege. Viermal, nämlich 1523, 1525, 1527 und 1528, legten russische Gesandtschaften den weiten Weg nach Spanien zurück. Im letztgenannten Jahre erreichten Gesandte Vasilijs vom Kaiser in Toledo die Erneuerung des russisch-deutschen Bündnisvertrages von 1514. Dieser neue Pakt erlangte bereits unmittelbar nach seinem Abschluß größte Bedeutung. Als die Türken 1529 Wien belagerten, waren es seine Festlegungen über eine russische Waffenhilfe für den Kaiser, welche die Feinde Karls V. davon abhielten, den Sultan militärisch zu unterstützen.30 Ivan III., Vasilij III. und ihre Diplomaten verstanden es, die internationalen Beziehungen Rußlands bedeutend zu erweitern und eine imperiale Außenpolitik zu betreiben.31 Russische Gesandte und Diplomaten wurden dabei häufig auch zu richtiggehenden Entdeckern. So umfuhr der Diplomat Grigorij Istoma, als er zu Schiff nach Dänemark reiste, zum ersten Male die Nordspitze Europas, das Nordkap. Mit dem fernen Spanien wurden, wie bemerkt, diplomatische Beziehungen geknüpft. Auch England erlebte den Besuch russischer Reisender und Diplomaten, so den von Fürst Ivan Zasekin- Jaroslavskij und D'jak S. B. Trofimov, die 1524 über die Insel nach Spanien reisten. Drei Jahre später weilten russische Gesandte auch in den Niederlanden. Durch die immer enger werdenden Bindungen zwischen dem osteuropäischen Rußland und dem übrigen Europa der frühen Neuzeit intensivierte sich die im russischen Staat vorhandene Kenntnis von der gesellschaftlichen Entwicklung Mittel- und Westeuropas beträchtlich. So wurden der Ausbruch der Reformation und das Auftreten Martin Luthers in Deutschland unmittelbar darauf in Rußland bekannt.32 Auch die Berichte über ein so weittragendes Ereignis wie die Schlacht bei Moh&cs vom Jahre 1526 erlangten dort rasche Verbreitung. Ausländische Diplomaten, die nach Rußland kamen, brachten zudem zahllose Neuigkeiten und Kenntnisse mit.33 Russische Diplomaten wiederum vermittelten im Ausland wichtige Aufschlüsse über ihr Land und Osteuropa sowie die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse. So hat Siegmund von Herberstein umfangreiche Nachrichten und Berichte, die er von den russischen Diplomaten Istoma und Vlasij erhalten hatte, mit größtem Gewinn in sein Rußlandbuch einarbeiten können. Der Italiener Paolo Giovio schließlich faßte seinen Rußland» Ebenda, S. 161 f. 31 b ö d i g , W., Der auswärtige Dienst unter Ivan III. (1462—1503). Die Anfänge der russischen Diplomatie, phil. Diss. (MS), Göttingen 1949. 3 2 d o n n e b t , E., Reformationsbewegung und Anfänge des Protestantismus in Bußland, in: Weltwirkung der Reformation, Bd. 2, Berlin 1969, S. 345. 3 3 h ö s c h , E., Die Stellung Moscoviens, a. a. O., S. 321 ff.
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bericht fast gänzlich nach Erzählungen des russischen Diplomaten Dmitrij Gerasimov ab.34 Alles in allem spielte der russische Staat unter Ivan III. und Vasilij III. in den internationalen Beziehungen der Welt des entstehenden Kapitalismus eine beachtenswerte Bolle. Rußland war bereits zu einem Eckpfeiler des europäischen Staatengebäudes, einem aktiven Mitgestalter der europäischen Politik geworden. Auch im östlichen Teil der Welt war es bekannt, und es wurde mit ihm gerechnet, wie das Erscheinen zahlreicher orientalischer Gesandtschaften am Hofe der russischen Herrscher zeigte. E., Bemerkungen zur ausländischen Bußlandkunde am Beginn der Neuzeit, in: Zeitschrift für Slawistik, Jg. 1969, Heft 1, S. 39.
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