Natur, Herrschaft, Recht: Das Recht der ersten Natur in der zweiten: Zum Begriff eines negativen Naturrechts bei Theodor Wiesengrund Adorno [1 ed.] 9783428486816, 9783428086818

Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Frage, ob sich in der kritischen Gesellschaftstheorie Adornos, die zugleich immer

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German Pages 243 Year 1997

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Natur, Herrschaft, Recht: Das Recht der ersten Natur in der zweiten: Zum Begriff eines negativen Naturrechts bei Theodor Wiesengrund Adorno [1 ed.]
 9783428486816, 9783428086818

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Mathias Becker · Natur, Herrschaft, Recht

Schriften zur Rechtstheorie Heft 177

Natur, Herrschaft, Recht Das Recht der ersten Natur in der zweiten: Zum Begriff eines negativen Naturrechts bei Theodor Wiesengrund Adorno

Von Mathias Becker

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Becker, Mathias: Natur, Herrschaft, Recht : das Recht der ersten Natur in der zweiten: zum Begriff eines negativen Naturrechts bei Theodor Wiesengrund Adorno / von Mathias Becker. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 177) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08681-3 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-08681-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Meinem Vater und meiner Mutter

Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die von der juristischen Fakultät der AlbertLudwigs-Universität Freiburg im Sommersemester 1994 angenommen wurde. Die Thematik betrifft die Grundlagen dessen, was als Rechtsdenken Theodor Wiesengrund Adornos bezeichnet werden kann. Adorno hat eine Rechtsphilosophie selbst weder entwickelt noch ausgeführt. Insofern ist die Arbeit auch ein Entwurf aus dem vielen Einzelnen, das von Adorno ausgesprochen, angesprochen oder mitgedacht wurde, soweit es rechts- und staatsphilosophische Fragen überhaupt berührt. Das Manuskript wurde im Sommer 1993 abgeschlossen. Soweit zugänglich wurde die Literatur bis Mitte 1994 eingearbeitet. Danken möchte ich zuallererst meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Alexander Hollerbach, der das schwierige Projekt von Beginn an sehr großzügig und klug unterstützt hat und mir durch seine Doktorandenseminare ein sehr wichtiges Diskussionsforum schuf. Mein Dank gilt auch Frau Professorin Dr. Ute Guzzoni, die im Rahmen des Promotionsverfahrens das Zweitgutachten übernommen hat. Ihre Kritik hat, so hoffe ich, geholfen, manche Unklarheit zu beseitigen. Danken möchte ich an dieser Stelle auch sehr herzlich Prof. Dr. Ernst W. Böckenförde, an dessen Lehrstuhl ich eine, das Entstehen dieser Arbeit ermöglichende und befruchtende Tätigkeit ausüben durfte und an dessen - zusammen mit Prof Dr. Rainer Wahl abgehaltenen - Lehrstuhlrunde ich immer wieder Impulse für meine wissenschaftliche Entwicklung erfahren habe. Ich danke sehr herzlich meinen Eltern, die die erste Lektüre übernahmen und großen Anteil am Gelingen der Arbeit wie dem Verlauf meines ganzen Studiums haben. Schließlich möchte ich meinen ganz besonderen Dank Kimiko aussprechen. Ohne ihre große Unterstützung wäre die Arbeit wahrscheinlich nie entstanden.

Mathias R. Becker

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung

15

Allgemeiner Teil 1. Vorbemerkung

17

1.1. Adorno im Spiegel der Rechtsphilosophie

17

1.2. Die Rechtsphilosophie Adornos im Spiegel der philosophischen Literatur

17

2. Einführung

19

2.1. Schwierigkeit des Fragens 2.2. Kurzabriß der philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen des Denkens Adornos

19 . . . 20

3. Kritik der Ursprungs- bzw. Identitätsphilosophie

22

3.1. Stellung der Identitätsphilosophie im Denken Adornos

22

3.2. Hauptvorwurf: Erstbegriff und Ableitung

23

3.3. Probleme der Qualität der philosophischen Erkenntnis 3.3.1.

Erkenntnis als System

24 24

3.3.2.

Subjektivismus aus Nichtlösung des Subjekt/Objekt-Problems.

25

3.3.3.

Dialektik im System

26

3.3.4.

Zum Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem in der Identitätsphilosophie

26

3.3.5.

Abstraktion und Tautologie

27

3.3.6.

Totalität

27

3.3.7.

Dogmatismus

28

3.3.8.

Vermittlung

28

3.4. Adornos Konsequenz: Negative Dialektik

29

3.5. Zusammenfassende Übersicht der Kritik Adornos an der Identitätsphilosophie

32

4. Der abstrakte Entwurf der Geschichtsphilosophie Adornos und sein Verhältnis zur Erkenntnisphilosophie

33

4.1. Doppelte Orientierung aus der Ontologie und der Geschichtsphilosophie

34

4.2. Natur und Geschichtsbegriff

34

4.3. Zielsetzung

35

4.4. Argumentation aus der Ontologie

35

4.5. Argumentation aus der Geschichtsphilosophie

37

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts: Geschichte der Gesellschaft - als falsche: Identität und Nichtidentität von Besonderem und Allgemeinem

41

10

Inhaltsverzeichnis

5.1. Dialektik der Aufklärung: Geschichtsphilosophische Erklärung für die Gesellschaft als arbeitsteiliges Subjekt der Selbsterhaltung und transzendentallogisches Subjekt der Erkenntnis. 5.1.1.

Überblick

45 45

5.1.2.

Die mythische Phase

48

5.1.2.1.

Die drohende Macht der Natur

48

5.1.2.2.

Die Entstehung des Mythos aus der Angst des Menschen vor Natur und Dasein

51

5.1.2.3.

Das Wesen der Natur-Herrschaft im Mythos: Einheit von Mythos und Natur . 53

5.1.2.3.1.

Dreifache Bedeutung des Mythos

53

5.1.2.3.2.

Verdoppelung von Herrschaft im Begriff des Mythos

54

5.1.2.3.3.

Mythos als Aufklärung: Ratio und Herrschaft: Funktion der Selbsterhaltung . 56

5.1.2.3.4.

Mythos als Zusammenhang von Natur und Gesellschaft: Dialektik von Natur und Arbeit: Einheit von Philosophie und Arbeitsteilung unter dem Gesichtspunkt selbsterhaltender Herrschaft 60

5.1.3.

Das Entstehen der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung als Struktur und ihre Übertragung auf die Gesellschaft

5.1.3.1.

Entstehung partikularer Rationalität der Selbsterhaltung

70

5.1.3.1.1.

Partikularität der Selbsterhaltung bei Odysseus

70

5.1.3.1.2.

Partikulare Raionalität der Selbsterhaltung als Struktur.

75

70

5.1.3.1.2.1. Identität und Nichtidentität des Selbst: Selbstverleugnung und Selbsterhaltung; Subjekt und Nichtsubjekt

75

5.1.3.1.2.2. Verdinglichung, Mechanisierung, Verselbständigung der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung

79

5.1.3.1.2.3. Totalität der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung in der Gesellschaft. 82 5.2. Das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft - Die Prinzipien der Entwicklung von Selbst und Gesellschaft: Identität, Tausch, Selbst

83

5.2.1.

Historizität oder Vorgängigkeit der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung in der Gesellschaft

83

5.2.2.

Die Prinzipien der Entwicklung von Selbst und Gesellschaft: Identität, Tausch, Selbst

86

5.2.3.

Die erkenntniskritische Begründung gegen Kant

86

5.2.4.

Die erkenntniskritische Begründung gegen Hegel

88

5.2.4.1.

Das Vermittlungsproblem, Identität und Nichtidentität

88

5.2.4.2.

Constituens und Constitutum; Gesellschaft und Geist

89

5.2.4.3.

Gesellschaftliche Arbeit; Radikalität der Vermittlung

91

5.2.4.4.

Gesellschaft als Transzendentalsubjekt

94

5.2.4.4.1.

Vermittlung der Gesellschaft durch die "Subjekt"-Monaden

96

5.2.4.4.2.

Tauschprinzip als Prinzip des mit sich selbst identischen Transzendentalsubjekts

98

5.2.4.4.2.1. Gesellschaft als Begriff (Tausch)

98

5.2.4.4.2.2. Tauschbegriff: Nichtstoffliches in der Objektivität: Geist objektiv; real vollzogen

100

5.2.4.4.2.3. Subjektivität als Objektivität (Tausch)

101

5.2.4.4.2.4. Objektivität als Prozeß verdinglichter Subjektivität (Tausch)

102

Inhaltsverzeichnis

5.2.4.4.2.5. Prozeß als Verwirklichung des Identitätsprinzips (Identität) 5.3. Die Gesellschaft als System

103 105

5.3.1.

Nichtidentität: Einheit von Erkenntnis- und Sozialphilosophie; Wahrheit und Unwahrheit des Tauschprinzips

105

5.3.2.

Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen als Ausdruck von Identität und Nichtidentität

108

5.3.3.

Totalität der nichtidentischen Identität: Zweite Natur - Das System der Gesellschaft als Totalität des schlecht Allgemeinen

109

Besonderer Teil Negatives Naturrecht 1. Einführung

114

1.1. Staatsphilosophie

115

1.2. Rechtsphilosophie

115

2. Ethik, Staats- und Rechtsphilosophie: Einheit in der Bestimmung der Unwahrheit des Ganzen am Begriff des Besonderen: Der Begriff von Wahrheit und Unwahrheit in seinem Zusammenhang mit dem Begriff von Staat, Recht, Unrecht und Ungerechtigkeit

117

3. Freiheit der Person: Kritik der Reduktion bürgerlicher Ethik und Rechtsphilosophie auf die Annahme individueller Freiheit und des Begriffes des Individuums

121

3.1. Freiheitsfiktion: Voraussetzung der Begründung, Rechtfertigung und Legitimation von Moral, Recht (Strafrecht) und Staat

121

3.2. Kritik bürgerlicher Freiheitsphilosophie: Kant, Hegel und Marx 3.2.1.

122

Kritik der Identitätsphilosophie: Kant, Hegel und Marx

122

3.2.2.

Freiheit bei Kant

129

3.2.2.1.

Nichtidentität von Bewußtsein und Freiheit

129

3.2.2.2.

Einheit persönlichen Selbstbewußtseins und die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit

130

3.2.2.3.

Nichtbestimmbarkeit von Freiheit durch Bewußtsein

132

3.2.2.4.

Kausalität als Wirkung der Freiheit in die Empirie

132

3.2.2.5.

Unmöglichkeit moralischer Einzelhandlung

134

3.2.2.6.

Repression: Funktion nichtdialektischer Freiheitslehre

134

3.3. Wirklichkeit und Freiheit

135

3.3.1.

Reale Freiheit als Grenze der Begründung, Rechtfertigung und Legitimation von Recht und Staat, Strafrecht und Moral

3.3.2.

Freiheit des Besonderen im Allgemeinen der Unfreiheit: Dialektische Doppelhelix der Freiheit; Vermittlung von Freiheit und Unfreiheit, Ich und Nichtich, Geist und Wirklichkeit im Innen und Außen der Person - Zur Psychosomatik der Philosophie der Freiheit als Kritik an Kant, Hegel und Marx 136

3.3.2.1.

Das Ich als Organon der Freiheit, und Freiheit als Prozeß; das Hinzutretende

140

3.3.2.2.

Tauschgesellschaft, Moral und Versöhnung

143

3.3.2.2.1.

Unmöglichkeit einer wahren Moral des Sollens: Modell der Unmöglichkeit eines wahren "Rechts" 145

135

12

Inhaltsverzeichnis 3.3.2.2.2.

Moral als Utopie: Zur Möglichkeit von Versöhnung; Utopie als negative Minimalethik

4. Dialektik der Aufklärung: Natur, Freiheit und Recht - Kritik gesellschaftlich realer Unfreiheit aus der Naturgeschichte als Kritik der Philosophie der Freiheit, des Rechts und der Rechtsphilosophie 4.1. Rechtsgenese aus Naturherrschaft, nicht aus Freiheit

149

152 152

4.1.1.

Die bürgerlich mythische Phase

152

4.1.2.

Die bürgerlich industrielle Phase

156

4.2. Exkurs: Rechtsbegriff und Mythos in der Dialektik der Aufklärung bei Cochetti

. . .

5. Unrecht als unwahres Ganzes: Das historisch gesellschaftlich Allgemeine als allgemeines Unrecht

159 163

5.1. Der Begriff des Unrechts: Unrecht in und aus der Sphäre des Allgemeinen gegen das Besondere

165

5.1.1.

Das Identitätsprinzip

165

5.1.2. 5.1.3.

Das Tauschprinzip Der Staat: Übergang des Verhältnisses von Staat und Recht in das Verhältnis von Tauschprinzip und materialer Gerechtigkeit

170 173

5.1.3.1.

Staat, Gesellschaft, Trend; Vermittlungsvorrang der Gesellschaft vor dem Staat; Auflösung eines unabhängigen Sein des Staates

173

5.1.3.1.1.

Einheit von Wahrheit und Recht im Ganzen; Schein der Unmittelbarkeit des Staates; Vermitteltheit

173

5.1.3.1.2.

Verwechslung von Staat und Gesellschaft

175

5.1.3.1.3.

Staatszweck Selbsterhaltung und Individuum; Identität und Nichtidentität; Recht und Unrecht des Staates

176

5.1.3.1.3.1. Selbsterhaltung, Identität, Rationalität und Recht

176

5.1.3.1.3.2. Naturbeherrschung, Irrationalität, Herrschaft und Unrecht

177

5.1.3.1.3.3. Wahrheit und Unwahrheit, Recht und Unrecht

178

5.1.3.1.3.4. Recht und Unrecht des Individuums

179

5.1.3.1.4.

Staat als repräsentative Ausprägung des Tauschprinzips, damit des Trends

181

5.1.3.1.5.

Zu Adornos Kritik des Verhältnisses von Gesellschafts- und Staatsdialektik bei Hegel

182

5.1.3.1.6.

Entmächtigung des Einzelnen im Staat der Sittlichkeit bei Hegel

. . . .

5.1.3.2. 5.1.3.2.1.

Staat und das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem bei Adorno als Kritik an Hegel 184 Zum Zusammenhang zwischen der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, von Subjekt und Objekt sowie der Identitätsphilosophie im Hinblick auf das Problem von Staat und Freiheit; Kritik an Hegel . . . 185

183

5.1.3.2.2.

Nation, Integration und Unterwerfung

187

5.1.3.2.3.

Geistphilosophie und Ideologie

189

5.1.3.3.

Staatsentstehung - Fiktion und Unfreiheit

190

5.1.3.4.

Staatsidealismus, Stillstandsdialektik und Sittlichkeitsideologie

191

5.1.3.5.

Vorrang der Gesellschaft vor dem Recht - Absolute Vermittlung : Zum Verhältnis von Staat und Recht im Hinblick auf das Problem der Rechtsbegründung

193

5.1.3.6.

Perspektiven für das Verhältnis von Individuum und Staat

194

Inhaltsverzeichnis 5.1.4.

Das Abstrakte Recht: Person und Freiheit

195

5.1.4.1.

Principium individuationis

197

5.1.4.2.

Exkurs: Zu Hegels Begriff des abstrakten Rechts und zum Recht der Person in seiner Philosophie

199

5.1.4.3.

Das abstrakte Unrecht der Person, Kritik an Hegel: Naturreproduktion und Noch-Nicht des Rechts; Gesellschaftsnatur und Negation des Rechts der Natur

202

5.1.5.

Das Positive Recht

205

5.1.5.1.

Recht als zweite Natur; Vermittlung durch verdinglichtes Bewußtsein, Selbsterhaltung: positive Funktion von Recht

205

5.1.5.2.

Positives Recht im Zeichen der Vormacht des Allgemeinen vor dem Besonderen

207

5.1.5.3.

Positives Recht: Identität im Zeichen der Nichtidentität

209

5.1.5.4.

Der Formalismus der Konsequenzlogik, Abstraktion gegen das Leben angesichts des bleibenden Antagonismus; Subsumtion

210

5.1.5.5.

Recht als Gewalt

211

5.1.5.6.

Unwahrheit positiven Rechts: Recht als Unrecht - Das Schlechte in der Form des abstrakt Allgemeinen

213

Strafjustiz und Gesellschaft

213

5.1.5.7. 5.1.5.7.1.

Selbsterhaltung und Schuld der Schwäche

213

5.1.5.7.2.

Vernunft von Justiz

215

5.2. Der Begriff des Unrechts: Unrecht in und aus der Sphäre des Besonderen gegen Leib, Impuls und Umgebung 5.2.1.

217

Widerstreit des Identitätszwangs des Ich, der konkret historischen Subjektivität des Subjekts selbst, mit dem Vorbegrifflichen, dem Nichtidentischen, dem Substrat der ersten Natur

218

Kollision des Ichs mit der Möglichkeit des eigenen Lebens

221

5.2.2.

5.3. Der Begriff der Ungerechtigkeit: Einheit von Unrecht, Unwahrheit und Ungerechtigkeit aus dem Identitätsprinzip und der Konsequenzlogik

223

6. Positives Naturrecht

227

7. Negatives Naturrecht

228

7.1. Negative Dialektik des Besonderen

229

7.2. Utopie des Besonderen

229

7.3. Utopie des Lebens als Utopie des Allgemeinen

230

7.4. Versöhnung

231

7.5. Bilderverbot

232

8. Schlußbemerkung

234

Literaturverzeichnis 1. Grundlagenliteratur

236

2. Sekundärliteratur

238

Verzeichnis der Siglen GS

Bd. 1 bis 20 Π: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main 1970 ff.

DdA

Bd. 3 der GS - Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente 1981 (Erstauflage 1944)

MM

Bd. 4 der GS-Minima Moralia 1980 (1. Aufl. 1951)

Mk

Bd. 5 der GS - Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel (2. Aufl. 1975).

ND

Bd. 6 der GS - Negative Dialektik, Jargon der Eigentlichkeit (2. Aufl. 1977)

Vorbemerkung Unter den kaum zu zählenden Abhandlungen zum Werk Theodor Wiesengrund Adornos fehlt bislang eine Untersuchung zu seinen rechtsphilosophischen Gedanken. Dies mag schon darin begründet sein, daß Adorno selbst kein größeres Werk und nur wenige Aufsätze auf den Gegenstand der Rechtsphilosophie konzentriert hat. Erstaunlich mutet es jedoch angesichts der Tatsache an, daß gerade in den wichtigsten Werken Adornos, der "Dialektik der Aufklärung" und der "Negativen Dialektik", in erheblichem Maße Recht und Rechtsphilosophie unmittelbar und mittelbar angesprochen sind. Die vorliegende Arbeit möchte die bestehende Forschungslücke schließen. Dabei sieht sie sich der Schwierigkeit ausgesetzt, einerseits kaum auf Literatur zum direkten Forschungsgegenstand, der Rechtsphilosophie Adornos, zurückgreifen zu können, andererseits aber mit einer nicht zu überschauenden Fülle von Betrachtungen zu Adorno in anderen Bezügen konfrontiert zu sein, die nicht alle in der Arbeit bedacht werden konnten und sollten. Das Bemühen der Arbeit geht dahin, im Wege einer Interpretation der Schriften Adornos aus seinem Gesamtwerk den Begriff eines negativen Naturrechts, einer negativ kritischen Rechtsphilosophie, abzuleiten und zu begründen. Dabei ist ein erheblicher Rückgriff auf solche Argumentationsstrukturen in der Philosophie Adornos erforderlich, die von ihm zum Zwecke der Kritik des Deutschen Idealismus und der Neuontologie im allgemeinen erarbeitet wurden. Diese allgemeinen philosophischen Begründungsstrukturen werden in einem allgemeinen Teil der Arbeit entwickelt. Die rechtsphilosophischen Betrachtungen im besonderen Teil bauen wesentlich auf diesem allgemeinen Teil auf. Die Arbeit stützt sich primär auf die Schriften Adornos selbst. Soweit sie notwendigerweise interpretativ angelegt ist, soll ein weitgehender Rückgriff auf den Primärtext ermöglicht werden. Es geht der Untersuchung nicht vor allem um die Kritik, sondern um die interpretativ hermeneutische Darstellung der rechtsphilosophischen Gedanken Adornos. Als negatives Naturrecht werden diese nicht aus einer analytisch teilbaren Einheit von Erkenntnis-, Geschichts- und Sozialphilosophie entwickelt, sondern aus dem diese Momente ständig berührenden Aufbegehren Adornos' gegen den philosophischen Vorrang der Identität, des Systems, des Allgemeinen vor dem Besonderen. In der Absicht, die Entwicklung der Idee eines nega-

16

Vorbemerkung

tiven Naturrechts aus Adornos' Denken verständlich darzustellen, vollzieht die Arbeit einen hermeneutischen Zirkel, der in zwei großen Schritten vom Allgemeinen zum Besonderen führt.

Allgemeiner Teil

1. Vorbemerkung 1.1. Adorno im Spiegel der Rechtsphilosophie Obwohl es neben Heidegger kaum einen deutschsprachigen Autor dieses Jahrhunderts gibt, der eine solche Resonanz hatte, wie dies bei Adorno der Fall war und in manchen Gebieten immer noch ist, fand und findet eine umfassende Diskussion Adornos im Kreise der Rechtsphilosophen nicht statt. Entweder wird Adorno einfach ignoriert 1 oder pauschal als Repräsentant der Frankfurter Schule dem Neo-Marxismus zugeordnet. 2 Insoweit erübrigt sich dann jede weitere Auseinandersetzung: "Auf die "Kritische Theorie" (Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas) hier einzugehen, ist weder Raum noch Anlaß; sie hat zur Zeit der Studentenbewegung die Gemüter erhitzt, ist inzwischen aber nahezu vergessen."3

1.2. Die Rechtsphilosophie Adornos im Spiegel der philosophischen Literatur Aber auch in der philosophischen Literatur gibt es keine Untersuchung, die sich überhaupt eingehend mit den rechtsphilosophischen Aspekten der Philosophie Adornos beschäftigt, bzw. gar den Versuch unternimmt, das Verhältnis Adornos zu Recht und Staat begrifflich zu entwickeln. Begründet wird dies entweder gar nicht oder damit, daß Adorno kein Rechtsphilosoph sei, da er keine Rechtsphilosophie geschrieben habe,4 bzw. sich aus seiner Philosophie eine inhaltliche Ablehnung dieses Gebietes als Reflexionsraum aufdränge. 5 1

9

Z.B. bei Zippelius 1989; Ryffel 1969.

Vgl. z.B. Coing 1984, S. 85 "Die Lehre von Marx ... bildet auch die Basis für einflußreiche sozialphilosophische Theorien, Beispiele in Deutschland bieten die von der sogenannten Frankfurter Schule entwickelte "Kritische Theorie". 3 Kaufmann/Hassemer 1989, S. 129. 4 Vgl. nur Siep 1992, S. 292: "Horkheimer, Adorno, Marcuse - sie alle haben Gesellschaftskritik ohne Rechtsphilosophie betrieben." 5 Dies gipfelt z.B. bei Geyer in der Bemerkung: "Festzuhalten bleibt, daß die geschichtsphilosophischen Prämissen der Kritischen Theorie es nicht mehr zulassen, die traditionellen Felder praktischer Philosophie, Staat, Gesellschaft, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse weiterhin als solche zu propagieren." Vgl. Geyer 1982, S. 128.

2 M. Becker

18

Allgemeiner Teil

Von den wenigen Beiträgen abgesehen, bei denen das Verhältnis von praktischer zu theoretischer Philosophie im Denken Adornos überhaupt nicht berührt wird 6 , vermeiden dehalb auch fast alle Beiträge, die sich mit der TheoriePraxis-Problematik bei Adorno zumindest stellenweise beschäftigen 7, eine explizite Reflexion auf Recht und Staat im diesem Kontext. 8 Explizit, allerdings ohne Bemühung um Ausschöpfung des Themas, werden Aspekte der Rechtsphilosophie Adornos nur in ganz wenigen Arbeiten überhaupt angesprochen. Wenn dabei nicht eher allgemeine Erörterungen der Dialektik der Freiheit bzw. der Herr-Knecht Dialektik im Vordergrund stehen,9 beschränkt sich die Erörterung entweder auf Einzelaspekte,10 oder zieht die Kritik der Ergebnisse oder Konsequenzen des Rechtsdenkens Adornos in schlaglichtartiger Weise der mühevollen Rekonstruktion aus dem Ganzen vor. 1 1 Eine Ausnahme macht zwar die Arbeit zum Mythosbegriff der Dialektik der Aufklärung von Cochetti, die sich in einem eigenen Abschnitt dem Rechtsbegriff der "Dialektik der Aufklärung" zuwendet 12 , diesen aber verfehlt und deshalb im Zusammenhang mit dem geschichtsphilosophischen Rechtsbegriff Adornos zu besprechen ist. 1 3

6 So Poos 1989, Die Nichtrepräsentierbarkeit des ganz Anderen und Link, Thomas 1986, Zum Begriff der Natur in der Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos.

η

Dies ist wegen der Natur des Gegenstandes bei nahezu allen Untersuchungen der Fall, wenngleich auch nur marginal z.B. mit einer knappen Erläuterung des Arbeitsbegriffes von Adorno bei Tichy 1977, S. 37 bis S. 39, mit einer Beobachtung zum Zusammenhang von ErfahrungsVerlust und kritischer Praxis bei Heider 1979, S. 66 bis 69, mit einem kurzen Hinweis auf den Zusammenhang von Erkenntnis und gesellschaftlicher Praxis Horkheimers bei Wagner 1981, S. 51, Fn 1, mit einer kritischen Bemerkung zum Praxisdefizit der Kritischen Theorie bei Kalkowski 1988, S. 355 mit einem Satz zum Zusammenhang von Identitätsprinzip und gesellschaftlicher Praxis bei Többicke 1992, S. 121, oder einem Hinweis auf den hermeneutischen Charakter des gesellschaftlich Transzendentalen Adornos bei Müller 1988, S. 177; etwas ausführlicher sind dagegen die Beiträge von Schweppenhäuser 1971, S. 91 f., Beier 1977, ab S. 126, Heinz 1977, S. 157 bis 161, Stresius 1982,Q S. 200 bis 205, Kimmerle 1986, S. 15 ff., Schlüter 1990, S. 63. bis 80. Das gilt insbesondere auch für diejenigen wissenschaftlichen Beiträge, die sich in ihrer Bezugnahme auf das Theorie-Praxis-Problem auf die unter dem Stichwort Wertfreiheitsstreit der Sozialwissenschaften bekannt gewordene Problematik beschränken. Vgl. zu diesem Problem Beier 1977, S. 158 ff. Q Vgl. z.B. Brunkhorst 1990, Theodor W. Adorno, Dialektik der Moderne, mit einem Hinweis auf die Freiheitsproblematik auf S. 299., Früchtli 1986, zur Herr-Knecht-Dialektik bei Hegel und Adorno, ab S. 43ff. 1 0 So z.B. bei Düttmann 1991, S. 27 ff mit einem Hinweis auf die Problematik des Rechtsbegriffs Walter Benjamins. 11

So z.B. Birzele 1977, S. 123.

1 2

Vgl. Cochetti 1985, S. 342 f.

1 3

Vgl. hierzu unten BT. 4.2.

2. Einführung

19

2. Einführung 2.1. Schwierigkeit des Fragens Das Verhältnis von Geschichte, Wirklichkeit und Idee sowie das diesem Verhältnis zugeordnete Verständnis ist das Grundproblem nicht nur der Philosophie überhaupt, sondern gerade auch der Rechts- und Staatsphilosophie, die in ihrem Objektbereich begriffslogisch nur einen Teil der mit philosophischen Mitteln zu erörternden "Wirklichkeit" abbildet, in diesem Teil aber den grundlegenden und allgemeinen Problemen der Philosophie verhaftet bleibt. Wirklichkeit und philosophisches Denken über Wirklichkeit scheinen geschichtlich zu sein, sind ständigem Wandel unterworfen. Selbst das Wesen der Wirklichkeit mag der Geschichte zukommen, historisch sein, nicht nur wenn man es in der Geschichte seiner Idee betrachtet. Die Verschränkung von Geist und Wirklichkeit mag als deren Wesen oder deren Geschichte erscheinen. Wie auch immer Philosophie sich dazu verhält, bezieht sie sich doch notwendig auch als Element ihrer eigenen Geschichte, ihrer Wurzel und ihrer potentiellen Triebe, in Vergangenheit und Zukunft auf die Zeit, aus der sie erwächst. So mag eine philosophische Auffassung, die die Wahrheit und ihre Erkennbarkeit durch den oder im Begriff als historischen Prozeß der Entfaltung seiner Bestimmungen versteht, zwar eine Perspektive einnehmen, aus der sie das Absolute zu erkennen glaubt. Gerade dieses jedoch muß sie, wie sich bei Hegel zeigt, auch in den Gegensätzlichkeiten der Geschichte finden. Umgekehrt wäre eine Auffassung, die das Geschichtliche zur Wahrheit selbst erhebt, wie das im Ausprägungen des Historismus der Fall ist, in gerade dieser Annahme zwar essentialistisch, nicht aber im wirklichen Sinne historisch. Denn das historische Ereignis konzipierte sich immer schon nur in dem vorweg erfolgenden Einverstehen in den das Wesen des Ganzen erfassenden Zusammenhang. Genauso wie eine Auffassung aber, die die historische Dimension des Denkens, des Begriffes, der Methode oder ihrer Sprache absolut leugnet, könnte doch jene Position nur aus einer Kritik der Philosophiegeschichte selbst in ihrem Verhältnis zu Wirklichkeit und Wahrheit begründet werden. Dies ist einer der Gründe, warum sich Philosophie von ihrer Problemgeschichte so wenig trennen läßt wie ein Gespräch von der Sprache, in der es stattfindet. Diese Überlegung sei der Frage vorangestellt, an welchem Aspekt eine Betrachtung der Philosophie Adornos ansetzen kann. Beginnt sie beim Subjekt des Denkens, des Handelns, seinem Begriff, so stößt sie auf dessen gesellschaftliche Vermittlung. Beginnt sie bei der Gesellschaft, erfährt sie, daß diese

20

Allgemeiner Teil

nur durch Subjekte hergestellt sei. Beginnt sie beim Geist, so findet sie diesen in Subjekten, die ohne ihre Gesellschaft so nicht wären, oder sie findet ihn als gesellschaftliche Struktur, jedoch findet sie ihn nicht unmittelbar. Fragt sie nach dem Prozeß, in dem Subjekt, Gesellschaft, Geist sich bilden, muß sie auch beantworten, wann dieser Prozeß und mit welchem geschichtlichen Phänomen er begann. Ein auch nur denkbares geschichtliches Phänomen, an dem der philosophisch relevante Prozeß anhebt, ist jedoch nicht als solches zu haben: Wie es konzipiert wird und warum, ist bereits Geschichtsphilosophie, hängt vom Geschichts- und Philosophiebegriff ab. Es ist deshalb die Frage nach der Wesentlichkeit der philosophiegeschichtlichen Aspekte für die Philosophie Adornos gestellt. Die philosophiegeschichtliche Einbettung einer Darstellung Adornos muß insofern wenigstens auf den groben Umriß seiner Philosophie selbst vorausgreifen, um wiederum dessen Verständnis zu unterfüttern. 14

2.2. Kurzabriß der philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen des Denkens Adornos Adornos Philosophie vermittelt die Aspekte der Erkenntnis, Geschichtsund Sozialphilosophie in einem Ansatz negativer Dialektik. Zur Erläuterung der philosophiegeschichtlichen Wurzeln sei hier mit der Erkenntnisphilosophie begonnen. Die Grundfrage aller Erkenntnisphilosophie, wie und was das Subjekt, das erkennende Ich, am Objekt erkennt oder erkennen kann, wurde in der vorkantischen Philosophie teilweise naiv, d.h. ohne Rücksicht auf eine Betrachtung der Möglichkeit des Erkenntnisvermögens des Subjekts im Verhältnis zum Objekt beantwortet. Folgte darauf eine Phase dogmatischer Erkenntisphilosophie, die durch die Voranstellung bestimmter, nicht an der Empirie überprüfter Grundsätze der Vernunft vor die Erkenntnis gekennzeichnet war, oder eine die Erfah-

Hegel hatte darin, daß er die Zirkularität nicht nur als Formproblem der Philosophie verstand, sondern als deren materielles Problem erkannte, recht: "Die Philosophie bildet einen Kreis: sie hat ein Erstes, Unmittelbares, da sie überhaupt anfangen muß, ein nicht Erwiesenes, das kein Resultat ist. Aber womit die Philosophie anfängt, ist unmittelbar relativ, indem es an einem anderen Punkt als Resultat erscheinen muß. Sie ist eine Folge, die nicht in der Luft hängt, nicht ein unmittelbar Anfangendes, sondern sie ist sich rundend." Zusatz 2 zu § 2 der Rechtsphilosophie, ThWS, Bd. 7. Obwohl dieser Ausspruch materiell auch für die Philosophie Adornos volle Gültigkeit hat, führen Gründe der Darstellungslogik auch hier zumindest zu einer vorausgehenden groben Einordnung des Denkens Adornos in historischer und systematischer Sicht. Dem soll hier durch den Beginn mit den geschichtlichen Spuren Tribut gezollt werden.

2. Einführung

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rung absolut transzendierende bzw. auf reine Erfahrung reduzierte Erkenntnisphilosophie, so trat diese mit Kant in ihre kritische Phase.15 In der Konzeption der transzendentallogischen Voraussetzungen der Bedingung von Erkenntnis überhaupt begründete Kant die konstitutive Bedeutung der Vernunft im Erkenntnisakt. Er konnte dabei jedoch weder das Problem der Subjekt- Objekttrennung noch das Problem der Geschichtlichkeit des Erkenntnisprozesses und seine Subjekt und Objekt verändernde Dynamik lösen, sondern trieb vielmehr die Erkenntnisphilosophie in eine Dichotomie von empirischer und intelligibler Welt, die zu einer Konzentration der Kräfte der erkennenden Vernunft auf sich selbst unter weitestgehendem Verzicht auf eine Reflexion der historischen Ebene führte. Gerade diese wurde von Hegel berücksichtigt. Sein Versuch, Ontologie und Erkenntnisphilosophie als dialektischen Prozeß der Entwicklung des Geistes in der Geschichte zu verstehen, also einerseits die unüberwindbare Trennung von Ich und Objekt (bzw. Natur), und andererseits die von Erkenntnisakt und Prozeß der Entfaltung des Begriffes aufzuheben, ist auch das Ziel der Philosophie Adornos. Dieser kritisiert am Ansatz Hegels jedoch den in der Geistdialektik liegenden Vorrang des Subjekts über den Gegenstand (Subjektivismusvorwurf), sowie den daraus folgenden Vorrang des Allgemeinen über das Besondere in Philosophie und Wirklichkeit. (Harmonisierungs-Idealisierungsvorwurf) Beide Kritikpunkte sind Adorno zufolge jedoch Auswüchse einer gemeinsamen Fehlerquelle, die zudem nicht nur typisch ist für die Philosophie Hegels: der Ableitung aller philosophischen Erwägungen und Folgerungen aus einer übergeordneten Grundannahme, die für die Ableitungen Identität des vorrangigen Bezugspunktes vorverordnet. (Identitäts- bzw. Ursprungsvorwurf) Der Versuch Adornos, die erkenntnisphilosophische Subjekt- ObjektSpaltung zu überwinden und eine Ontologisierung der Philosophie herbeizuführen, steht im doppelten Bezug der Hegeischen geschichtsphilosophischen Dialektik sowie der Reontologisierung der Erkenntnisphilosophie seitens Heideggers. Beide kritisiert er unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt der Dominanz des Identitätsdenkens. Deshalb soll hier der Aspekt der Identitätsphilosophie in der Kritik Adornos vorangestellt werden.

1 5

Vgl. zur historischen Einbettung der Kantischen Philosophie nur Störig 1992, S. 392.

22

Allgemeiner Teil

3. Kritik der Ursprungs- bzw. Identitätsphilosophie 3.1. Stellung der Identitätsphilosophie im Denken Adornos Die Stellung der Kritik Adornos an Identitätsphilosophie bzw. Ursprungsphilosophie in seinem Denken ist mehrschichtig. Erkenntnisphilosophisch ist sie zunächst eine notwendige Voraussetzung seiner Konzeption einer negativen Dialektik als eines eigenen erkenntnisphilosophischen Ansatzes. Zugleich ist diese Kritik jedoch auch schon eine Folge dieses Ansatzes, also bereits mit Hilfe negativer Dialektik ausgetragen und begrifflich entwickelt. Das Verhältnis seiner identitätsphilosophischen Kritik zu dem eigenen Ansatz läßt sich dahin bestimmen, daß einerseits aus dieser Kritik der Identitätsphilosophie das spezifische Verständnis Adornos für Erkenntnisphilosophie als negativ geschichtsphilsophische Dialektik überhaupt erst entstehen kann und andererseits seine negative Dialektik in ihrer Einheit als Ontologie und Geschichtsphilosophie die geistige Bewegung darstellt, in der jene Kritk erfolgt. Es handelt sich dabei nicht nur um eine formale Kennzeichnung der Beziehung von Adornos Philosophie zu ihrem kritisierten Ausgangspunkt. Daß die Kritik von Ursprungs- bzw. Identitätsphilosophie Ergebnis sowie Grundlage des Denkens von Adorno ist, ist auch inhaltlich höchst relevant; denn in den von ihm kritisierten Punkten findet sich inhaltlich auch das wieder, was Adorno überhaupt philosophisch sagen will und was auch für das Verständnis der rechtsphilsophischen Konsequenzen als unentbehrlich erscheint. Mit der Identitätsphilosophie, Ursprungsphilosophie bzw. prima philosophia kritisiert Adorno - unabhängig von einer inhaltlichen Kennzeichnung der jeweiligen Grundannahmen dieser Denkrichtungen - solche philosophischen Ansätze, die von einem begrifflich Ersten, einem identitätssetzenden Prinzip ausgingen und alles weitere aus der Setzung dieses Begriffes oder dieses Prinzips ableiteten. Seine Kritik richtete sich insbesondere gegen den Deutschen Idealismus in seinen Hauptvertretern Kant und Hegel, sowie moderne Versuche der ontologischen (Heidegger) oder phänomenologischen (Husserl) Neuorientierung der Philosophie zur Lösung des Subjekt-Objekt-Problems. 16 Adorno kritisiert an der Identitäts- bzw. Ursprungs-Philosophie Aspekte, die sich danach unterscheiden lassen, ob sie sich unmittelbar auf den ihnen zu1 6 "Daß der Inhalt dessen, was als Erstes behauptet wird, unwesentlicher sei als die Frage nach dem ersten als solchem; daß etwa der Streit über einen dialektischen oder ontologischen Beginn irrelevant bleibt gegenüber der Kritik der Vorstellung, es sei überhaupt mit einem Urprinzip, dem des Seins oder des Geistes, zu beginnen, impliziert einen emphatischen Gebrauch des Begriffs vom Ersten selber. Nämlich den der Setzung von Identität... In dem als philosophisch Ersten behaupteten Prinzip soll schlechthin alles aufgehen, gleichgültig, ob dies Prinzip Sein heißt oder Denken, Subjekt oder Objekt, Wesen oder Faktizität." Mk 15.

3. Kritik der Ursprungs- bzw. Identitätsphilosophie

23

grundeliegenden Grundbegriff, bzw. die Tatsache beziehen, daß es in diesen Philosophien einen Grundbegriff gibt, oder ob sie sich auf die Folgen beziehen, die sich daraus ergeben.

3.2. Hauptvorwurf: Erstbegriff und Ableitung Der Hauptvorwurf besteht darin, daß in den kritisierten Ansätzen die philosophische Erkenntnis von einem absolut ersten Begriff abgeleitet wird. Dies garantiere zwar die formallogische Ableitbarkeit des Erkannten, führe aber keinesfalls zur Erkenntnis, die selber denkmöglich über die Begrifflichkeit hinausreichen könne, welche durch den absolut ersten Begriff vorgegeben wurde. 17 So bedeutet dies nicht nur den Widerspruch, "daß eine aller Subjektivität vorgeordnete und über ihre Kritik erhabene Lehre vom Sein, offen oder verkappt, im Rückgang auf eben jene Subjektivität gefunden werden soll, welche die Lehre vom Sein als dogmatisch aufgelöst hat." 1 8 Es bedeutet auch, daß der Versuch, das ganz Andere, nicht mit dem Subjekt Identische zu denken und also zu erkennen, in einer solchen Philosophie von vornherein unmöglich ist. Denn "der Feind, das Andere, Nichtidentische ist immer zugleich das von seiner Allgemeinheit Unterschiedene, Differenziertere" 1 9 Insoweit führt Philosophie nicht nur dazu, daß das Nichtidentische, "die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikationen" 20 , das gegenüber dem 17 "Die Identität des Geistes mit sich selber, die nachmalige synthetische Einheit der Apperzeption, wird durchs bloße Verfahren auf die Sache projiziert und zwar desto rücksichtsloser, je sauberer und stringenter es sein möchte." Mk 18. Zur Auswirkung dieser Problematik auf die Rechtsphilosophie vgl. BT 3.2.2.4. (Kausalität als Wirkung der Freiheit in die Empirie). 1 8 Mk 14. 1 9

20

Mk 27.

N D 164. Das Nichtidentische ist für Adorno selbst nicht zu bestimmen, da es das wäre, was "erst hervorträte, nachdem der Identifikationszwang verging" ND 398. Es ist deshalb "keineswegs Denkprodukt; ... keine Idee; aber ein Zugehängtes" ND 189, vgl. dazu auch Többicke 1992 S. 109 ff.; Guzzoni 1981, S. 47, S. 105; Stahl 1991, S. 179, 221 ff. weist daraufhin, daß Adorno mit dem Begriff des Nichtidentischen die Kantische Problematik des "Ding an sich" wiederaufgenommen und unter Stärkung des empirischen Subjekts sowie Absetzung von der Hegeischen Philosopie des absoluten Geistes in einen Prozeß reflexionsgeleiteter Erfahrung fortentwickelt habe. Der Vorschlag von Thyen 1989, S. 204, Nichtidentität als Grenzbegriff des Begrifflichen zu verstehen, ist insofern problematisch, als er zugunsten formaler Korrektheit auf das verzichtet, was für Adorno am Nichtidentischen im emphatischen Sinne Wahrheit des Objekts meint. Auch identifiziert Thyen den Begriff des Nichtidentischen mit Nichtidentität. Der Terminus Nichtidentität wird aber von Adorno auch als kritisch formallogischer im Sinne des "Nicht-identisch-mit" verwendet, (bei dieser bloß negativen Bedeutung möchte ja auch Thyen nicht stehenbleiben, ebd., S. 204) während der Begriff des Nichtidentischen auf das Wesen der Sache zielt. Das Nichtidentische ist daher bei Adorno mehr als nur ein "Grenzbegriff des Begrifflichen", es ist die Substanz dessen, um das sich die Begriffe mühen: "Das erfahrende Subjekt arbeitet darauf hin, in ihr (der Sache A.d.V.) zu verschwinden. Wahrheit wäre sein Untergang." ND 189. Es indiziert "die äußerste Möglichkeit erfüllten Lebens", Poos 1989, S. 69.

24

Allgemeiner Teil

Subjekt ganz Andere, gar nicht erkannt wird. Es wird zudem der Schein erweckt, als sei das Erkannte das Nichtidentische, obwohl es als aus dem begrifflich Abgeleiteten ein lediglich Identisches sein könne, ein vollständig auf die Grundannahme Zurückführbares. Die prima philosophia lebt folglich mit einem eingebauten Widerspruch. Diese Fehlkonzeption hat aber weitreichende Konsequenzen: 3.3. Probleme der Qualität der philosophischen Erkenntnis21 Die folgenden Gesichtspunkte sind von großer Relevanz für die rechtsphilosophischen Konsequenzen, die sich aus dem Denken Adornos entwickeln lassen. Hier werden sie zunächst als Aspekte Adornoscher Basiskritik an der Erkenntnisphilosophie dargelegt. Adorno versammelt mit diesen Überlegungen jedoch schon die wesentlichen Gesichtspunkte einer kritischen dialektischen Rechtsphilosophie, die sich analog zum System- und Identitätsvorwurf bezogen auf die Erkenntnisphilosophie als Ideologie des geschlossenen Rechtsdenkens erweisen.

3.3.1. Erkenntnis als System Erkenntnis wird in dem von Adorno kritisierten Grundansatz lediglich im System eingelöst. Die Verwirklichung dessen, was Erkenntnis ist oder sein könnte, setzt Immanenz des Gedankens in einer gedanklichen Struktur voraus, führt aber, entgegen der ursprünglichen Absicht, über sich selbst auf Nichtgedachtes, nicht im System Verfangenes hinzuweisen, nur zur Totalität der Struktur, in der Erkenntnis sein soll, zum System: "Der Immanenzzusammenhang als absolut in sich geschlossener, nichts auslassender ist notwendig immer bereits System, gleichgültig, ob er sich ausdrücklich aus der Einheit des Bewußtseins deduziert oder nicht." 2 2 So wird "als Sein und Geschehen..von der Aufklärung vorweg nur anerkannt, was durch Einheit sich erfassen läßt; ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt ... Die Vielheit der Gestalten wird auf Lage und Anordnung, die Geschichte aufs Faktum, die Dinge auf Materie abgezogen ... Die formale Logik 21

Zwischenbemerkung: Die folgenden Gesichtspunkte sind von großer Relevanz für die rechtsphilosophischen Konsequenzen, die sich aus dem Denken Adornos entwickeln lassen. Hier werden sie zunächst als Aspekte Adornoscher Basiskritik an der Erkenntnisphilosophie dargelegt. Adorno versammelt mit diesen Überlegungen jedoch schon die wesentlichen Gesichtspunkte einer kritischen dialektischen Rechtsphilosophie, die sich analog zum System- und Identitätsvorwurf bezogen auf die Erkenntnisphilosophie als Ideologiefunktion des geschlossen hermetischen Rechtsdenkens erweisen. Vgl. BT 3.2. und 5.2.5. 2

M k

5.

3. Kritik der Ursprungs- bzw. Identitätsphilosophie

25

war die große Schule der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema der Berechenbarkeit der Welt." 2 3

3.3.2. Subjektivismus aus Nichtlösung des Subjekt/Objekt-Problems Die Folge des Systemcharakters von Erkenntnis ist, daß Philosophie, die angetreten ist, das Subjekt/ Objekt - Problem zu lösen, indem sie die Bedingungen, unter denen das Subjekt das Objekt wirklich erkennen kann, kritisch reflektiert, dieses Problem nicht löst, sondern es im Sinne einer Verdoppelung der subjektiven Welt präformiert; denn die "Ordnung, welche die Welt zum verfügbaren Eigentum ummodelt, wird für die Welt selber ausgegeben."24 Diese Ordnung ist in der von Adorno kritisierten Ursprungsphilosophie immer eine begriffsphilosophische Konzeption, die unabhängig von jedem Inhalt, ob sie Sein, Wesen etc. beinhalte, Ausdruck subjektiver Ratio ist. Das heißt: das Subjekt erhöht sich über sich selbst: "Die Idee des Ersten zehrt in ihrer Entfaltung sich selber auf, und das ist ihre Wahrheit, die ohne Philosophie des Ersten nicht sich hätte gewinnen lassen. Indem das Subjekt das Prinzip abgibt, aus dem ein jegliches Sein hervorgehe, erhöht es sich selber." 25 Es handelt sich bei diesem Gesichtspunkt um einen besonders wichtigen Gedanken in der Argumentation Adornos, weil die Verdoppelung der Welt als Ausdruck subjektiver Ratio selbst dialektischer Natur ist und ein bemerkenswertes Ergebnis hat: Philosophie entsteht einerseits unter Bedingungen der Wirklichkeit, welche diese Philosophie prägt. Andererseits stellt Philosophie, d.h. ihr Material, die Rationalität, eben jene von der Philosophie betrachtete Welt selber her. 2 6 Das Ergebnis der Verdoppelung ist Verdoppelung des Falschen. Denn sowohl in der Welt als auch in ihrer Philosophie besteht Identität partikularer Rationalität mit sich selbst, 27 Nichtidentität, das Zu- sichKommen des gegenüber dem Subjekt ganz Anderen, findet nicht statt. 28

2 3

DdA 23.

2 4

Mk 25.

2 5

Mk 22.

2 6

Vgl. dazu unten AT 5.1.3.

27 28

Vgl. dazu unten insbesondere AT 5.1.4.

Vgl. dazu unten insbesondere AT 5.3.3. Ab AT 5.2. wird gezeigt, in welchem Medium und in welcher Weise sich die Verdoppelung der Welt tatsächlich vollzieht: Tausch erscheint als Ausdruck der subjektiv und objektiv partikularen Rationalität der Selbsterhaltung.

26

Allgemeiner Teil

3.3.3. Dialektik im System Die Unlösbarkeit des erkenntnisphilosophischen Problèmes der Subjekt/Objekt-Spaltung wird von Adorno jedoch nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Systemphilosophie als solcher betrachtet. Im weiteren wird diese Fragestellung auf das Problem ausgedehnt, ob dialektische Philosophie, so wie sie als System von Hegel entwickelt wurde, tatsächlich Nichtidentität zuläßt. Soweit das Nichtidentische nämlich ins System eingefühlt wird, komme es darauf an, ob es als ganz Anderes Berücksichtigung finde oder nur als Gedanke, als bloß Identisches. 29

3.3.4. Zum Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem in der Identitätsphilosophie Schon in der Kritik Adornos an der Identitätsphilosophie angelegt ist auch ein weiterer Gesichtspunkt, der für die rechtsphilosophische Dimension Adornoscher Philosophie als zentraler einzuschätzen ist. In der Identitätsphilosophie findet nicht nur exemplarisch, nicht nur repräsentativ, sondern konstitutiv die Zuordnung von Besonderem zu Allgemeinem statt, die von Adorno als Leitgesichtspunkt seiner Zivilisations- und Philosophiekritik entwickelt wird: Gemäß der Struktur der Ursprungsphilosophie, alle Erkenntnis von einem zentralem Ausgangspunkt abzuleiten, wird das Besondere notwendig dem Allgemeinen, und das höher entwickelte Einzelne dem Abstrakten, Inhaltsleeren untergeordnet, 3 0 denn: "ein jegliches allgemeines Prinzip eines Ersten, wäre es auch das der Faktizität im radikalen Empirismus, enthält in sich Abstraktion." 31 Der Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen ist aber nicht nur das Leitmotiv der Identitätsphilosophie überhaupt. In diesem Gesichtspunkt kommt Adorno zufolge gerade die Identität der Identitätsphilosophie mit der Gesellschaft, der sie entstammt und die sie "zurichtet", zum Ausdruck; 32 denn sowohl im Identitätsdenken als auch in der Gesellschaft gelangt das Allgemeine nur in der Form des Vorranges des Allgemeinen vor dem Besonderen zum Aus-

29 Vgl. ND 175. Der Auseinandersetzung mit diesem Grundproblem der Kritik Adornos an der Philosophie Hegels wird unten wegen ihrer Wichtigkeit ein besonderer Abschnitt AT 5.2.4. gewidmet. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Gesellschaft werden in AT 5.3. entwickelt. 3 0 Vgl. Mk 28. Ol

Vgl. Mk 16. Dieser Aspekt erweist sich für den kritischen Rechtsbegriff Adornos unten BT 5.2.4. "Das abstrakte Recht" und BT 5.2.5. "Das Positive Recht" als relevant. Vgl. zum Verhältnis von Allgemeinem zu Besonderem insbesondere auch BT 5.2.3. "Der Staat". 3 2 Vgl. hierzu Tichy 1977, S. 10, unten ab AT 5.1.3.

3. Kritik der Ursprungs- bzw. Identitätsphilosophie

27

druck. 33 Die sich auf den Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen beziehende Identität zwischen Philosophie und Gesellschaft hat deshalb notwendig eine erkenntnisphilosophische und eine sozialphilosophische Seite. Beide Seiten sind miteinander im Begriff des Tauschs vermittelt: Identität, die die Bestimmung einer Vormacht der Philosophie über die Gesellschaft genausowenig zulasse wie umgekehrt und die als index falsi, Programm vermittelter Unwahrheit erscheint. 34 3.3.5. Abstraktion und Tautologie Mit dem Verhältnis von Identität und Nichtidentität im philosophischen System sehr eng zusammen wird von Adorno die Problematik der Abstraktion des Erkenntnisinhaltes jeglicher Identitätsphilosophie beobachtet. Das Erste, allen Ableitungen Vorangehende werde immer abstrakter, so daß sich Erkenntnis potentiell der Tautologie annähere. 35 Wichtig ist dabei gerade im Hinblick auf die rechtsphilosophische Konsequenz, daß es sich hier um Kritik am Begriff überhaupt handelt: "Der Begriff selbst ist Subsumtion und enthält damit ein Zahlenverhältnis. Die Zahlen sind Veranstaltungen, das Nichtidentische unter dem Namen des Vielen dem Subjekt kommensurabel zu machen, dem Vorbild von Einheit ... Die Idee der Einheit der Welt gehört einer späten Stufe an, der identitätsphilosophischen ... Die Identität des Geistes mit sich selber ... wird durchs bloße Verfahren auf die Sache projiziert ..." 3 6

3.3.6. Totalität Dies bedeutet einen weitgehenden Totalitätsanspruch der Erkenntnistheorie, "die Anstrengung, das Identitätsprinzip durch lückenlose Reduktion auf subjektive Immanenz rein durchzuführen ... Zu tilgen ist der Wahn, diese Widerspruchslosigkeit, die Totalität des Bewußtseins sei die Welt, nicht aber die

3 3

Vgl. hierzu Tichy 1977, S. 32 f. "Nur ist diese Logizität, der Primat des Allgemeinen in der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, index falsi. So wenig wie Freiheit, Individualität, all' das, was Hegel mit dem Allgemeinem in Identität setzt, ist auch jene Identität. In der Totale des Allgemeinen spricht dessen eigenes Mißlingen sich aus." ND 311 Vgl. zur Erläuterung des Zusammenhangs von Erkenntnis- und Sozialphilosophie im Begriff des Tauschs, unten AT 5.2.4.4.2. Vgl. zur Genese der totalen Identität von Philosophie und Gesellschaft als Prozeß und Ergebnis der Dialektik der Aufklärung insgesamt unten AT 5. -2C "Das Erste muß der Ursprungsphilosophie immer abstrakter werden; je abstrakter aber es wird, desto weniger erklärt es mehr, desto weniger taugt es zur Begründung. Bei vollkommener Konsequenz nähert das Erste unmittelbar dem analytischen Urteil sich an, in das es die Welt verwandeln will, der Tautologie, und sagt am Ende überhaupt nichts mehr." Mk 22. 3 4

3

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.

28

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Selbstbesinnung der Erkenntnis." 37 Nichts darf mehr durch die Maschen. 38 Das ins System nicht Passende wird weggekürzt: "Das ist die Erbsünde der prima philosophia. Um nur ja Kontinuität und Vollständigkeit durchzusetzen, muß sie an dem, worüber sie urteilt, alles wegschneiden, was nicht hineinpaßt." 39 3.3.7. Dogmatismus Ein Vorwurf, der sich vor allem auch gegen die Ontologie richtet, ist der des Dogmatismus, welcher zugleich Erkenntnisleere bedeute,da Setzung des Ursprunges den Preis von Erkenntnis selbst habe: "Mit der zugleich dogmatischen und leeren Setzung von Sein meldet die auf die Erkenntnis des Ursprungs abzielende Denkbewegung den eigenen Bankrott an. Sie feiert den Ursprung um den Preis von Erkenntnis." 40 3.3.8. Vermittlung Abgesehen von den bisher aufgeführten Punkten, die sich auf das potentielle Ergebnis des Erkenntnisprozesses beziehen, kritisiert Adorno auch das Zustandekommen dieser Ergebnisse als fehlerhaft und problematisch. Dabei besteht der wesentliche Einwand darin, daß der Erstbegriff selbst in keinem Falle unmittelbar, sondern vermittelt sei, also nicht das Erste, nicht originär. So sind "die vorgeblich originären Begriffe, zumal die der Erkenntnistheorie, als welche sie bei Husserl auftreten, allesamt und notwendig in sich vermittelt oder - nach hergebracht wissenschaftlicher Redeweise - "voraussetzungsvoll". Zur Kritik steht der Begriff des absolut Ersten selber." 41 "Das Erste der Philosophen erhebt totalen Anspruch: es sei unvermittelt, unmittelbar ... Aber ein jegliches Prinzip, auf welches Philosophie als auf ihr Erstes reflektieren kann, muß allgemein sein, wenn es nicht seiner Zufälligkeit überführt werden will. Und ein jegliches allgemeines Prinzip eines Ersten, wäre es auch das der Faktizität im radikalen Empirismus, enthält in sich Abstraktion ... Als Begriff ist das Erste und Unmittelbare allemal vermittelt und darum nicht das Erste. Keine Unmittelbarkeit... denn durch den Gedanken." 42

3 7

Mk 34.

3 8

Mk 17. Mk 18.

3 9 4 0

Mk29.

4 1

Vgl. Mk 14 und 29 "Vielmehr ist ihr (der Ontologie, A.d.V.) Absolutes an sich nur die absolute Verblendung gegen die eigene subjektive Vermitteltheit, die der Seinsfrage selber immanent ist." 4 2

Mk 15/16.

3. Kritik der Ursprungs- bzw. Identitätsphilosophie

29

Grundsätzlich folgt daraus, daß Subjekt und Objekt gleich untauglich zu Urprinzipien sind. 43 Das philosophische Problem stellt sich für Adorno damit folgendermaßen dar: Es gilt mit den Mitteln der Vernunft Erkenntnisphilosophie voranzutragen; jedoch mit einer Vernunft, die sich nicht unter Zugrundelegung von Prinzipien auf sich selbst reduziert, sondern ihre Mittel entwickelt, um das Objekt, Natur, das Andere zu erkennen. Die Entwicklung gerade dieser Vernunft ist für Adorno nur in der konkreten Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, auf den seine Erkenntnis zielt, möglich, und erst im Fortgang zeigt sich die gegenseitige Vermitteltheit von Subjekt und Objekt, unter der beide stehen. Vermittlung ist deshalb ein zentraler Begriff der Erkenntnisphilosophie Adornos. Vermitteltheit versteht Adorno jedoch gerade nicht als Substanzsondern als Relationsbegriff: "Wollte indessen einer in solchem Vermitteltsein selber das Urprinzip entdecken, so verwechselte er einen Relations- mit einem Substanzbegriff und reklamierte als Ursprung den flatus vocis. Vermitteltheit ist keine positive Aussage über das Sein, sondern eine Anweisung für die Erkenntnis, sich nicht bei solcher Positivität zu beruhigen, eigentlich die Forderung, Dialektik konkret auszutragen." 44 Die Beziehung des Vorrangs von Allgemeinem vor dem Besonderen, von Identität über Nichtidentität, zwischen Philosophie und Gesellschaft, Subjektivität und Objektivität verwirklicht nach Adorno das Tauschprinzip. Es stellt nicht nur kategorial den Zusammenhang zwischen der Strukturgleichheit von Gesellschaft und Philosophie unter dem Gesichtspunkt von Identität und Vorrang des Allgemeinen her, sondern begründet damit auch zugleich die Undurchführbarkeit einer Trennung von Gesellschafts- und Erkenntnisphilosophie. Denn prinzipiell sichert es die Subjektivität des Identitätsdenkens und die Objektivität seiner sich durchsetzenden Vormacht immer schon durch die Vermittlung von Geist und Wirklichkeit, Subjektivität und Objektivität. 45

3.4. Adornos Konsequenz: Negative Dialektik Für das Verständnis der Philosophie Adornos ist dies zunächst nur ein negativer Ausgangspunkt. Die Abgrenzung zur Ursprungsphilosophie weist jeden Beginn mit einem Substanzbegriff zurück und entwickelt die Notwendigkeit, die Spannung zwischen Subjekt und Objekt als Aspekt einer Dialektik zu ent4 3 "Daß Subjekt und Objekt wesentlich durcheinander vermittelt sind, macht beide zu Urprinzipien gleich untauglich." Mk 32. 4 4

Mk 32.

4 5

Vgl. hierzu ausführlich AT 5.2.

Allgemeiner Teil

30

falten, in deren konzeptioneller Mitte, jedoch nicht als substantieller Ausgangspunkt, sondern eher als allgegenwärtiger Bezugspunkt der Begriff der Vermittlung steht. Den Widerspruch zwischen der Bemühung um eine an der Ontologie orienterten Transsubjektivität und der Tatsache, daß diese "im Rückgang auf eben jene Subjektivität gefunden werden soll, ... läßt aber der dialektische Gedanke nicht abstrakt stehen, sondern nutzt ihn als Motor der begrifflichen Bewegung bis zur bündigen Entscheidung über das phänomenologisch Behauptete." 46 Die Idee der Dialektik wird von Adorno negativ 47 am systematischen Grundtypus einer zentralen Begriffsphilosophie fortentwickelt: der Dialektik Hegels. Wie für Husserl gilt für die Auseinandersetzung mit Hegel zunächst auch der Vermittlungseinwand, der Einwand der Voraussetzungshaftigkeit der originären Begriffe. Die Differenz zum Hegeischen dialektischen System ist für das Verständnis der Philosophie Adornos aber aus einem anderem Grunde von zentraler Bedeutung. Sie beruht nämlich zunächst auf einem gemeinsamen Anliegen, das dann nur bewußt und in Ablehnung des Hegeischen Systems anders durchgeführt wird: Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt in der Entwicklung des philosophischen Begriffs durch den dialektischen Erkenntnisprozeß. Adornos Vorwürfe bauen auf dieser Gemeinsamkeit wesentlich auf, führen dann aber zu besonders krassen Differenzen: Hegel betreibe tatsächlich nur eine Scheindialektik zwischen Identität und Nichtidentität, d.h. der Aspekt der Nichtidentität sei in Wirklichkeit untergegangen, denn Nichtidentität erscheine gerade im Hegeischen Denken nicht als Anderes des Denkens, sondern als im System begrifflich eingeordneter Unteraspekt vorverordneter Identität. Während sich Dialektik bei Hegel nur als ein Element eines in sich geschlossenen Systems der Identität des Systems mit sich selbst erweise, sei Nichtidentität nur als Begriff, als Gedanke zugelassen.48 Dadurch habe sich

4 6

Mk 24.

4 7

Negative Dialektik und Philosophie der Nichtidentität erweisen sich als aufeinander bezogene Begriffe in dem Sinne, daß das Denken des Nichtidentischen für Adorno nur durch eine nicht positive, eine negative Dialektik von Begriff und Gegenstand ausgetragen werden kann, die, gerade dadurch und nur indem sie sich der Instrumentalität ihres Ursprungs (in der DdA) vergewissert, die Instrumentalität selbstreflexiv zu übersteigen vermöge. Vgl. zur Korrespondenz der Begriffe Thyen 1989, insbes. S. 109 ff., 113; Guzzoni 1981, insbes. S. 105 ff. 4 8 "Ich möchte die Frage aufwerfen, ob nicht unser Ansatz vom Hegeischen wirklich ontologisch verschieden ist, nämlich ob nicht bei Hegel der Begriff des Faktischen bereits eine ganz andere Bedeutung hat als bei uns, ob nicht bereits die Elemente der Hegeischen Philosophie so präformiert vom Ganzen sind, daß bei ihm der faktische Gegenpart von Anbeginn im Bann des Identi-

3. Kritik der Ursprungs- bzw. Identitätsphilosophie

31

auch Dialektik aufgehoben und ihr erkenntnisphilosophisches Programm verfehlt: "Sophistisch wird die hegelsche Dialektik, wo sie mißlingt. Was das Besondere zum dialektischen Anstoß macht, seine Unauflöslichkeit im Oberbegriff, das handelt sie als universalen Sachverhalt ab, wie wenn das Besondere selbst sein eigener Oberbegriff wäre und dadurch unauflöslich. Eben damit wird die Dialektik von Nichtidentität und Identität scheinhaft: Sieg der Identität über Identisches. Die Unzulänglichkeit der Erkenntnis, die keines Besonderen sich versichern kann ohne den Begriff, der keineswegs das Besondere ist, gereicht taschenspielerhaft dem Geist zum Vorteil, der über das Besondere sich erhebt und von dem es reinigt, was dem Begriff sich entgegenstemmt. Der allgemeine Begriff von Besonderheit hat keine Macht über das Besondere, das er abstrahierend meint." 4 9 Im Gegensatz zu Hegel ist wirkliche Dialektik bei Adorno deshalb negative Dialektik, die "den Gegenstand auch dort, wo er den Denkregeln nicht willfahrt", 5 0 denkend respektiert. "Ihre Logik ist eine des Zerfalls; der zugerüsteten und vergegenständlichten Gestalt der Begriffe, die zunächst das erkennende Subjekt unmittelbar sich gegenüber hat. Deren Identität mit dem Subjekt ist die Unwahrheit. Mit ihr schiebt sich die subjektive Präformation des Phänomens vor das Nichtidentische daran, vors Individuum ineffabile". 51 Dialektik hat deshalb ihren Erfahrungsgehalt "am Widerstand des Anderen gegen die Identität", 52 Es ist ein Denken, "welches Mensch und Welt nicht als feindliche Brüder hinstellt, deren einer gegenüber dem anderen das Recht der Erstgeburt um jeden Preis zu behaupten hat, sondern sie als wechselseitig sich produzierende und auseinandertretende Momente des Ganzen entwickelt." 53

tätsprinzips steht. Wenn wir vom Unmittelbaren sprechen, dann ist es wirklich nicht identisch. Bei Hegel ist es nur insoweit nicht identisch, als nicht der ganze Prozeß im Unmittelbaren bereits entfaltet ist. Der ganze Unterschied zu Hegel liegt noch eine Schicht tiefer als die Unterscheidung von Totalität und Unabgeschlossenheit, nämlich ob alles, was in den Kreis des Denkens hereinfallt, als nur Gedanke erscheint oder ob es als wirklich etwas angesehen wird, was nicht hereinfällt, was aber zugleich doch nur in der Relation auf den Gedanken verstanden werden kann." Horkheimer, Ges. Schriften 12, 488; zu der sich daran anschließenden rechtsphilosophischen Kritik vgl. BT 5.2.3.1.5. und insbesondere 5.2.3.2. sowie 5.2.3.4. 4 9

N D 175.

5 0

N D 144.

5 1

ND 148.

5 2

N D 163.

53

Mk 97 ff.

32

Allgemeiner Teil

Aus der Kritik des Subjektivismus in ihren idealistischen oder ontologischen Formen mittels der Neubesinnung auf die Möglichkeit, das Problem der Subjekt-Objekt-Spaltung durch Einbezug, nicht Verdrängung des Nichtidentischen dialektisch zu entfalten, folgt für Adorno notwendig der Versuch, Ontologie transsubjektiv geschichtsphilosophisch zu verankern. Denn Erkenntnisphilosophie ist gerade nicht unabhängig von ihren geschichts - und sozialphilosophischen Kontingenzen möglich. Aus der Kritik der Identitätsphilosophie folgt bereits, daß Erkenntnisphilosophie gerade auch Geschichts- und Sozialphilosophie sein muß. Denn nur dies sichert die Relevanz des Nichtidentischen, oder anders - des Objektiven in seiner jeweils historischen Form. So kann Dialektik nicht mehr als System entwickelt werden, sondern muß am Objekt und in seiner Beziehung zu Subjekt und Ganzem aus der Kritik am Identischen, Vorgängigen, und dem Vorrang der allgemeinen Idee festgemacht werden.

3.5. Zusammenfassende Übersicht der Kritik Adornos an der Identitätsphilosophie Die genannten Aspekte lassen sich als Schema darstellen: Kritik an Konzeption und Wirkung der Identitätsphilosophie/das Gegenmodell

Kritik an der Konzeption der Identitätsphilosophie Vermitteltheit des ursprünglichen Begriffs "Subjektivität der Ratio" Erhöhung des Subjekts Totalität Steigende Abstraktion Subjekt/ Objekttrennung untauglich als Urprinzip

Kritik an der Wirkung der Identitätsphilosophie Dominanz des Allgemeinen über das Besondere Sieg der Identität über die Nichtidentität Preisgabe von Erkenntnis

Vermitteltheit als - nichtsubstanzieller Ausgangspunkt - negative Dialektik als Versöhnung von Erkenntnis und - Geschichtsphilosophie in der Kritik der Vorherrschaft des Identischen in Geist und Wirklichkeit

4. Geschichtsphilosophie und Erkenntnisphilosophie

33

4. Der abstrakte Entwurf der Geschichtsphilosophie Adornos und sein Verhältnis zur Erkenntnisphilosophie Es war schon angemerkt worden, daß sich die Philosophie Adornos als eine besondere Variante einer dialektischen Antwort auf eine erkenntnistheoretische Fragestellung lesen läßt, deren Kernpunkt die Subjekt- Objekt - Beziehung unter dem Gesichtspunkt der Identität war. Die Geschichtsphilosophie Adornos hat deshalb, da sie sich als Versuch versteht, das Problem der Subjekt- Objekt Spaltung durch Einbezug des Nichtidentischen dialektisch zu lösen, indem sie Ontologie transsubjektiv geschichtsphilosophisch verankert, von vornherein einen erkenntnistheoretischen Bezug. Auch in dieser Hinsicht erweist sich Adorno als zwar radikal kritischer, aber konsequenter Schüler Hegels. Die Subjekt- Objektdialektik aus dem erkenntnistheoretischen Zusammenhang muß wesentlich den geschichtsphilosophischen Ansatz prägen, weil ohne Reflexion auf den historischen Zusammenhang der Erkenntnisvoraussetzungen, insbesondere die Geschichte des Geistes in ihrem Zusammenhang zur Geschichte der Natur, überhaupt keine philosophische Erkenntnis möglich ist. Umgekehrt stellt sich notwendig das geschichtsphilosophische Verständnis als konzeptionelles Element der Erkenntnisphilosophie dar. Sind dergestalt Geschichts- und Erkenntnisphilosophie miteinander vermittelt, so muß angesichts der Weigerung Adornos, mit einem Substanzbegriff zu beginnen, sowohl aus erkenntnisphilosophischen als auch aus geschichtsphilosophischen Gründen ein Begriff der Vermittlung eingeführt werden, der notwendig nicht nur eine erkenntnistheoretische subjektive, sondern auch eine wirklichkeitsbezogen objektive Seite hat. 5 4 Wenn auch Erkenntnisphilosophie nicht unabhängig von ihren geschichts und sozialphilosophischen Kontingenzen erfolgen kann, sondern bereits aus der Kritik der Identitätsphilosophie heraus gerade auch Geschichts- und Sozialphilosophie sein muß, so erschöpft sich die Geschichtsphilosophie Adornos doch andererseits nicht in diesem erkenntnisphilosophischen Interesse. Da aber beide Momente aufeinander bezogen und miteinander vermittelt sind, muß der Zusammenhang von Geschichts- und Erkenntnisphilosophie, so wie er sich bei Adorno findet, gerade auch für das Verständnis seiner dialektischen Rechtsphilosophie, die sich als integriertes Element seines gesamten Denkens erweist, dargelegt werden.

Im Vorgriff auf die Erläuterung dieses Vermittlungsbegriffes war er als Tausch zwar schon bezeichnet, aber noch nicht näher bestimmt worden. Dies soll weiter unten in Ausführung der konkreten geschichtsphilosophischen Dimension der Philosophie Adornos geschehen. Vgl. dazu unten AT 5.2.4.4.2. 3 M. Becker

34

Allgemeiner Teil

Bevor der Zusammenhang, der in der Konzeption eines Systemes der Gesellschaft (AT 5.3.) als Transzendentalsubjekt totaler Vermittlung (AT 5.2.4.4.) mündet, in seiner erkenntnisphilosophischen Begründung dargestellt werden kann, soll zunächst abstrakt, dann konkret dargelegt werden, von welchen geschichtsphilosophischen Betrachtungen Adornos Modell eines gesellschaftlichen "Bannes" über die Möglichkeit von Subjektivität, Freiheit und damit gerade auch rechtsphilosophischer Versöhnung seinen Ausgang nimmt. Die Geschichtsphilosophie Adornos wurde abstrakt bereits in dem Aufsatz "Die Idee der Naturgeschichte" entwickelt. Ihre konkrete Ausgestaltung erfuhr sie in der Dialektik der Aufklärung als Konzeption der Aufhebung der Differenz von Natur und Geschichte in einer Dialektik von Natur und Geist, die als Entstehungsgeschichte des Subjekts erzählt wird.

4.1. Doppelte Orientierung aus der Ontologie und der Geschichtsphilosophie In der Absicht, "die übliche Antithesis von Natur und Geschichte aufzuheben", versucht Adorno in der "Idee der Naturgeschichte" 55 durch eine doppelte "Wendung ... die ontologische Problematik auf die geschichtliche Formel" zu bringen, "zu zeigen ..., in welcher Weise"..jene.."konkret geschichtlich zu radikalisieren ist. Auf der anderen Seite...unter dem Zeichen der Vergänglichkeit" ... zu erläutern, "wie die Geschichte selber hindrängt zu einer in gewissem Sinn ontologischen Wendung." 56

4.2. Natur und Geschichtsbegriff Natur ist bei Adorno "das Mythische, das, was von je da ist, was als schicksalhaft gefügtes vorgegebenes Sein die menschliche Geschichte trägt, in ihr erscheint, was substanziell ist in ihr," 5 7 während er unter Geschichte "jene Verhaltensweise der Menschen versteht, "jene tradierte Verhaltensweise, die charakterisiert wird vor allem dadurch, daß in ihr qualitativ Neues erscheint, daß sie eine Bewegung ist, die sich nicht abspielt in purer Identität, purer Reproduktion von solchem, was schon immer da war, sondern in der Neues vorkommt und die ihren wahren Charakter durch das in ihr als Neues Erscheinende gewinnt." 58 5 5

"Die Idee der Naturgeschichte", GS Bd. 1, S. 345.

5 6

Ebd., S. 362.

5 7

Ebd., S. 345.

5 8

Ebd., S. 346.

4. Geschichtsphilosophie und Erkenntnisphilosophie

35

4.3. Zielsetzung Weil es Adorno darum geht, "die geschichtliche Faktizität in ihrer Geschichtlichkeit selbst als naturgeschichtlich einzusehen," 59 muß er Bestrebungen als halbherzig und unwahr erkennen, die einer auf ihre Seinsvoraussetzungen reflektierten Geschichtsphilosophie lediglich eine ontologische Note hinzufügen oder eine althergebrachte oder "neue" Ontologie historisieren. So sei in der "neu-ontologischen Fragestellung das Problem der Versöhnung von Natur und Geschichte nur scheinbar in der Struktur der Geschichtlichkeit" gelöst worden, "weil hier zwar anerkannt wird, daß es ein Grundphänomen Geschichte gibt, weil aber nun die ontologische Bestimmung dieses Grundphänomens Geschichte oder die ontologische Auslegung dieses Grundphänomens Geschichte dadurch vereitelt wird, daß es selbst zur Ontologie verklärt wird." 6 0 Andererseits war für Adorno auch die historistische Ontologie Diltheys, "der Versuch, einen Zusammenhang historischer Tatbestände herauszugreifen und ontologisch zu hypostasieren, die als Sinn oder Grundstruktur einer Epoche das Ganze umfassen sollen ... gestrandet, weil er mit der Faktizität nicht ernst genug gemacht hat, verblieben ist im Bereich der Geistesgeschichte und ... die material erfüllte Realität überhaupt nicht ergriffen hat." 6 1

4.4. Argumentation aus der Ontologie Adorno nähert sich der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Ontologie und Geschichtsphilosophie von beiden Seiten: Von der Ontologie aus sei die berechtigte Ausgangsfrage die der "Überwindung des subjektivistischen Standpunktes der Philosophie", des Versuches, eine "transsubjektive ontische Seinsregion" zu gewinnen, ohne "alle Seinsbestimmungen ... in Denkbestimmungen aufzulösen; und alle Objektivität in bestimmten Grundstrukturen der Subjektivität" gründen zu müssen. 62 Dies könne jedoch nicht mit eben der subjektiven Ratio geschehen, "die zuvor das Gefüge des kritischen Idealismus zustande gebracht hat", wie dies in den "phänomeno-

Ebd., S. 361. Hervorhebung vom Verfasser. 6 0

A.a.O., S. 351. Die Kritik bezieht sich insbesondere auf Heidegger, der das "Stehenbleiben der Phänomene" selbst in einen Allgemeinbegriff verwandele und ihm z.B. im Begriff der Geschichtlichkeit bloß "ontologische Würde" aufpräge. Ebd., S. 351. 6 1

A.a.O., S. 361 Hervorhebungen vom Verfasser.

6 2

A.a.O., S. 346/347.

36

Allgemeiner Teil

logisch-ontologischen Bemühungen" "mit den Mitteln der autonomen ratio und mit der Sprache der ratio" erfolgt sei. 63 Das neuontologische Denken 64 habe die "idealistische Ausgangsposition hinsichtlich der ihr innewohnenden Totalität und Identität nicht verlassen, denn es sei gekennzeichnet durch Totalität, der "Bestimmung der umfassenden Ganzheit gegenüber den darunter befaßten Einzelheiten" als "Anspruch, das unter diese Struktur zusammengefaßte Seiende ... an sich adäquat zu erkennen und in die Form aufzunehmen" auch wo es sich um irrationale Momente handelt. 6 5 Ontologisches Denken betone infolgedessen die Möglichkeit gegenüber der Wirklichkeit, das idealistische Moment "des kategorialen subjektiven Gefüges gegenüber der empirischen Mannigfaltigkeit". Dies erkläre "das Problem der Tautologie ... durch das alte idealistische Motiv der Identität. Sie entsteht dadurch, daß ein Sein, das geschichtlich ist, gebracht wird unter eine subjektive Kategorie Geschichtlichkeit. Das unter der subjektiven Kategorie Geschichtlichkeit befaßte geschichtliche Sein soll mit Geschichte identisch sein. Es soll sich den Bestimmungen fügen, die von Geschichtlichkeit ihm aufgeprägt werden." 6 6 In der Tautologie werde aber lediglich die klassische These der Identität von Subjekt und Objekt verdeckt. 67 Dagegen müsse das "Auseinanderfallen der Welt in Natur- und Geistsein oder Natur- und Geschichtesein aufgehoben werden.." und "an seine Stelle eine Fragestellung.. " treten, "die die konkrete Einheit von Natur und Geschichte in sich bewirkt..", "eine Einheit, die nicht orientiert.." sei " an dem Gegensatz von möglichem Sein und wirklichem Sein", sondern die geschöpft werde "aus den

6 3

A.a.O., S. 347.

6 4

Adorno kennzeichnet insbesondere zwei Phasen ontologischen Denkens, deren erste bei Scheler die Ausgangsposition der autonomen Ratio inne hatte: "Nur dort nämlich, wo die Ratio die Wirklichkeit, die ihr gegenüber liegt, als ein ihr Fremdes, ihr Verlorenes, Dinghaftes anerkennt, nur dort wo sie nicht mehr unmittelbar zugänglich ist und wo der Wirklichkeit und ratio der Sinn nicht mehr gemeinsam ist, nur dort kann die Frage nach dem Sinn von Sein ... gestellt werden." Ebd. Die Sinnfrage sei aber "nichts anderes als ein Einlegen von subjektiven Bedeutungen in das Seiende" Ebd. S. 347 In einer zweiten Phase sei diese Zweiheit korrigiert und "die pure Antithesis beseitigt", denn die Frage nach dem Sein habe hier "nicht mehr die Bedeutung einer platonischen Frage nach dem Umfang statischer und qualitativ differenter Ideen, die dem Seienden gegenüber ... in einem normativen oder Spannungsverhältnis standen." Geschichte selber sei jedoch in dieser Phase "in ihrer äußersten Bewegtheit zur ontologischen Grundstruktur geworden", dagegen das geschichtiche Denken selbst reduziert "auf eine philosophisch es tragende Struktur von Geschichtlichkeit als einer Grundbestimmung von Dasein." Ebd., S. 350. 6 5

A.a.O., S. 352.

6 6

A.a.O., S. 353.

6 7

Vgl. a.a.O., S. 353/354.

4. Geschichtsphilosophie und Erkenntnisphilosophie

37

Bestimmungen des wirklichen Seins selber." 68 Der Entwurf der Geschichte müsse sich deshalb, um zur "wirklichen Auslegung des Seins" und ontologischer Würde zu gelangen, auf das Seiende als solches in seiner konkreten innergeschichtlichen Bestimmtheit richten. 69 Um die Sonderung von Wirklichkeit und Möglichkeit von der Wirklichkeit her zu kritisieren, 70 müsse es gelingen, "das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein zu begreifen, oder wenn es gelänge, die Natur da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, zu begreifen als ein geschichtliches Sein." 11 Die Rückverwandlung der konkreten Geschichte in dialektische Natur ist die Aufgabe der ontologischen Umorientierung der Geschichtsphilosophie: die Idee der Naturgeschichte. 72

4.5. Argumentation aus der Geschichtsphilosophie Natur als geschichtliches Sein zu erkennen ermöglicht Adorno eine Konzeption der Deutung konkreter Geschichte, die er aus den Ideen von Lukacs und Benjamin entwickelt. Im Begriff der Konstellation, der das Verschränktsein von gegensätzlichen Momenten in Geschichte und Mythos zulasse, ohne es unter die Vormacht eines Erstbegriffes zu stellen, entwickelt er den gemeinsamen Aspekt der Vergänglichkeit von Natur und Geschichte. Im Begriff der zweiten Natur bei Lukacs 73 stelle sich das Problem der geschichtsphilosophischen Deutbarkeit der entfremdeten Welt, der Welt der Ware, als der vom Menschen geschaffenen und ihm verlorenen Dinge, der Welt der Konvention. 74 68 A.a.O., S. 353. Heraushebungen vom Verfasser. A.a.O., s. S. 353. Abgelehnt werden deshalb die Aussonderung naturhafter Statik aus der historischen Dynamik, falsche Verabsolutierungen, jede Absonderung der historischen Dynamik von dem in ihr unaufhebbar gesetzten Naturalen, die Vorstellung einer umfassenden Ganzheit. 6 9

7 0

71 7 2

73

A.a.O., S. 354. Ebd., S. 354. Hervorhebungen vom Verfasser. A.a.O., S. 355.

Lukacs, Die Theorie des Romans 1920, S. 55. Zweite Natur bei Lukacs ist "ein erstarrter fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr erweckender Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten..." 7 4 Es sind die "Gebilde, die die Seele bei ihrer Menschwerdung am Schauplatz und Substrat iher Tätigkeit unter den Menschen vorfindet." Sie verlieren "ihr evidentes Wurzeln in überpersönlichen, seinsollenden Notwendigkeiten; sie sind etwas einfach Seiendes, vielleicht Machtvolles, vielleicht Morsches, tragen aber weder die Weihe des Absoluten an sich.. Sie sind die Welt der Konvention, eine Welt, deren Allgewalt nur das Innerste der Seele entzogen ist;... die ... überall gegenwärtig ist, deren strenge Gesetzlichkeit sowohl im Werden wie im Sein für das erkennende Subjekt notwendig evident wird, die aber..sich weder als Sinn für das zielsuchende Subjekt noch in sinnlicher Unmittelbarkeit als Stoff für das handelnde darstellt. Sie ist eine zweite Natur; wie die erste." Lukacs, ebd., S. 53.

38

Allgemeiner Teil

Für Adorno stellt sich die Frage, " wie es möglich ist, diese entfremdete, dinghafte, gestorbene Welt zu erkennen, zu deuten" als Problem der Naturgeschichte nun nicht in Folge einer "Synthese natürlicher und geschichtlicher Methoden", sondern als "Perspektivenänderung". 75 Es ist, wie Lukacs richtig gesehen habe, "das Problem, das ausmacht, was hier unter Naturgeschichte verstanden wird", 7 6 daß diese zweite Natur "nur durch den metaphysischen Akt einer Wiedererweckung des Seelischen, das sie in ihrem früheren oder sollenden Dasein erschuf oder erhielt, erweckbar, nie aber von einer anderen Innerlichkeit erlebbar" sei. 7 7 Gesichtet sei "von Lukacs die Verwandlung des Historischen als des Gewesenen in die Natur, die erstarrte Geschichte ist Natur, oder das erstarrt Lebendige der Natur ist bloße geschichtliche Gewordenheit". 78 Dieser Lukacssche Gedanke sollte für das gesamte Denken Adornos bestimmend sein, einerseits hinsichtlich der Idee der Erstarrung des Historischen in Natur, andererseits hinsichtlich der Erweckungsvorstellung als Programm philosophischer Deutung und schließlich auch hinsichtlich des Inhalts des Zeichenhaften, des Bedeutenden, der Chiffre der Schädelstätte.79 Indem Adorno mit Benjamin, der "auf dem Antlitz der Natur" die "Geschichte in der Zeichenschrift der Vergängnis" erblickte, Geschichte "als Schrift" lesen möchte, bedeutet Vergänglichkeit nun den tiefsten "Punkt, in dem Geschichte und Natur konvergieren." 80 So entsteht aus der Kombination des Gedankens Lukacs' und Benjamins- Geschichte ist erstarrt in Natur. Natur ist Vergängnis und damit Geschichte- Adornos spezifische Variante der NaturGeschichtsdialektik. In ihr ist der Grundstein für Adornos gesamte Philosophie gelegt: Die Ablehnung der Ontologisierung statischer Momente aus dem Vergänglichkeitsprozeß, der Idealisierung des objektiv naturhistorischen Zusammenhanges zwischen Wesen und Phänomen, die Entwicklung eines Begriffes von Wesen und Wahrheit, der nur "naturhistorisch", also dialektisch als Prozeß seiner Entfaltung in jeweiliger Verschränkung von Natur und Geschichte, Sein und Bedeu7 5

Frühschriften, GS, Bd. 1, S. 356.

7 6

A.a.O., S. 357.

7 7

Lukacs, a.a.O., S. 55.

78

GS, Bd. 1, S. 357 "Natur selber" stellt als "vergängliche Natur, als Geschichte sich dar." A.a.O., 79 S. 358. Ist die Bedeutung allerdings aus der Chiffre erst herauszuholen und vollzieht Lukacs diese Erweckung "unter dem eschatologischen Horizont" der heilsgeschichtlichen Erwartung, möchte Adorno sie mit Benjamin "in die unendliche Nähe" holen "und zum Gegenstand philosophischwer Interpretation" machen. Ebd., S. 357.

.a.O., S. 3 5 / 3 5 .

4. Geschichtsphilosophie und Erkenntnisphilosophie

39

tung entwickelt werden möge, ohne Vorrang des Subjekts und herrschaftlicher Prägung des Objektiven im geistigen Gehalt. 81 Aus diesem Ansatz erwächst das Bild eines Zusammenseins im Entstehen und Vergehen, im Erkennen und Erkanntwerden, in dem das einzelne Moment sich nicht erheben lassen darf über das andere, dem es Gewalt antäte, und es resultiert daraus die Haltung des Protests gegen die Falschheit, die in solcher Überhebung, insbesondere der des Subjekts über Natur (bzw. Objekt) oder Geschichte bestünde. Es ist der Wunsch, durch den Begriff der Vermitteltheit von Natur und Geschichte aufzubrechen in die Bemühung des Denkens, den Zirkel eigener Selbstbezüglichkeit und Herrschaft vorbestimmt rationaler Begrifflichkeit zu verlassen, um in der Erfahrung der Verschränkung von Begriff und Sache durch Anstrengung des Subjekts geschichtliche, gesellschaftliche und erkenntnisphilosophische Objektivität begreifen zu können. Aus dem geschichtsphilosophischen Deutungsansatz im Vollzug der Erstarrungs- und Vergängnisidee Lukacs' und Benjamins entwickelt Adorno sowohl das Paradigma der Konstellation, das als programmatisches Bündel von Ideen zur Geschichtsdeutung angesehen werden kann, als auch die Dialektik der Aufklärung, die sich als Konkretisierung dieses Programmbündels lesen läßt. 82 Konstellation meint dabei Konstellation von Ideen, der Vergänglichkeit, des Bedeutens, der Natur und der Geschichte, die sich um die konkrete historische Faktizität versammeln. Diese erschließe sich im Zusammenhang jener Momente in ihrer Einmaligkeit. Natur habe wegen ihrer Vergänglichkeit den Aspekt von Geschichtlichkeit, während Geschichtliches zurückweise "auf das Natürliche, das in ihm vergeht". Auch die Bedeutung der zweiten Natur sei deshalb, "daß sie vergehe." 83 Alles Sein oder alles Seiende sei zu fassen nur als "Verschränkung von geschichtlichem und naturhaftem Sein" in dem Sinne, daß "das Natürliche auftritt als Zeichen für Geschichte und Geschichte, wo sie sich am geschichtlichsten gibt, als Zeichen für Natur". 8 4 Alles Sein ... verwandelt sich in dieser Sichtweise in Allegorie und impliziert die "Ahnung eines Verfahrens, dem es gelingen könnte,

ο1 Hieraus läßt sich verstehen, warum Adorno Identitätsphilosophie und Idealismus, Ontologie und klassische Geschichtsphilosophie, Systemphilosophie und Begriffsphilosophie ablehnt: Sie erscheinen im Verhältnis zum Seienden als Herrschaftsversuch subjektiver ratio, als Stehenbleiben des Gedankens angesichts des Geschichtlichen von Natur und des Naturhaften von Geschichte, in dem 82 sich der Prozeß des Seienden vollziehe. 8 3

Zusammen mit Horkheimer, vgl. unten AT 5. A.a.O., S. 359.

A.a.O., S. 3 6 .

40

Allgemeiner Teil

die konkrete Geschichte in ihren Zügen als Natur auszulegen und die Natur im Zeichen der Geschichte dialektisch zu machen." 85 Gewinnt deshalb die Geschichtsphilosophie die Aufgabe der intentionalen Auslegung der so bestimmten Allegorie 86 und ist die Ausführung dieser Konzeption "wiederum die Idee der Naturgeschichte" 87, dann bedeutet dies bereits Dialektik: "Zur Naturgeschichte zu kommen, ohrie Naturgeschichte als Einheit vorwegzunehmen", verlange, "daß man diese beiden ... unbestimmten Strukturen in ihrer Gegensätzlichkeit, wie sie in der Sprache der Philosophie vorkommen, zunächst annimmt und hinnimmt". 88 So liegt die wesentliche Erkenntnis Adornos' "Idee der Naturgeschichte" in der zentralen Aussage: "Die Geschichte ist dort am mythischsten, wo sie am geschichtlichsten ist" 8 9 Der Zusammenhang zwischen Wirklichkeitsbegriff, Begriffsphilosophie und Dialektik, der das Denken Adornos durchzieht, wird bereits sichtbar. Aufgehoben werden sollen im Begriff der Konstellation als Deutungsparameter der Natur und Geschichtsdialektik die Differenzen von Sinn bzw. Wert und Sein, Idealismus und Materialismus. Gebrochen werden soll die identitätsphilosophische Vormacht subjektiver Ratio durch die Lösung des Identitäts/Nichtidentitätsproblems in der Überwindung der Subjekt/Objekt-Spaltung. Angelegt ist wegen der Verschränkung von Geschichte und Natur im Begriff der Vergängnis auch bereits die Einheit von Erkenntnis - und Gesellschaftstheorie, die wiederum nur durch die zumindest in Aussicht gestellte Überwindung des Subjekt/ Objekt-Problems ermöglicht scheint. Der Gedanke der Konstellation als Zugangsparadigma einer dialektischen Philosophie, der dem dialektischen Geschichts- und Naturverständnis eignende Wirklichkeitsbegriff, sowie die diesem Begriff vorausliegende Verschränkung von Geschichte und Natur in Vergängnis offenbaren Adornos im Kern metaphysische Anlage einer Lebensphilosophie des Besonderen, die zugunsten der Nichtaufgabe eines aufs Wesen gehenden Wahrheitsbegriffes 90 das Verschränktsein von Wirklichkeit und Denken als Dialektik von Leben und Tod deutlich macht. Während sich Adorno auf der Ebene des philosophischen Telos, das Nichtidentische, das ganz Andere, das Leben, auf einer religionsphilooc Ebd. Die konkrete Ausgestaltung dieser Idee ist in der Dialektik der Aufklärung vorgenommen Q/r worden und wird unten AT 5. ausführlich dargestellt. Die Allegorie, in die sich unter dem radikalen naturgeschichtlichen Denken alles Seiende verwandelt, ist die von Trümmern und Bruchstücken, einer "Schädelstätte, in der die Bedeutung aufgefunden wird, in der sich Natur und Geschichte verschränken." Vgl. ebd. 8 7 Ebd. 8 8

A.a.O., S. 362.

8 9

A.a.O., S. 364.

9 0

Vgl. z.B. "Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie", 1972, S. 31, 39, 40 und näher unten BT 2.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

41

sophischen Ebene gesehen die unbegriffene Möglichkeit Gottes philosophisch zu bedenken nicht ausreden lassen will, gerät das Deutungsmotiv, die Allegorie des Todes, zum materiellen Bezugspunkt einer Philosophie, die um das Leben ringt. Um das Leben nicht dem Gedanken, der Erstarrung des Stehengebliebenen zu unterwerfen, um zugleich Philosophie nicht unter das Votum der Idee zu drücken, der Herrschaft subjektiver Ratio, komponiert Adorno das Denken über die Wirklichkeit mit dem Bild des Todes in Form von Vergehen und Erstarren. Der Begriff der Dialektik steht in diesem abstrakten Entwurf seiner Idee der Naturgeschichte im Spannungsfeld wesentlich dieses einzigen Gegensatzpaares der Erstarrung und des Vergehens. 91 In der konkreten Deutung der Naturgeschichte als Dialektik der Aufklärung wird zu zeigen sein, wie sich die Dialektik, die im abstrakten Entwurf als mythische Kreisbewegung um dieses Gegensatzpaar konzipiert wurde, ohne eine historisch- dialektische Synthesis und Aufhebung des Gegensatzes zu realisieren, als Kreisbewegung fortsetzt. 92 Der Preis, der für die Einlösung der Vormacht der allgemeinen Idee bei Adorno gezahlt wird, stellt sich als Verfallenheit an den Mythos, zuletzt an die Idee der Unentrinnbarkeit aus dem Zyklus des Vergehens und der Herrschaft heraus.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts: Geschichte der Gesellschaft - als falsche: Identität und Nichtidentität von Besonderem und Allgemeinem In diesem Abschnitt wird gezeigt, wie Adorno aus der doppelten Ausgangsthese der abstrakten Geschichtsphilosophie eine Dialektik konkreter Verschränkung von Natur und Geschichte entwickelt: Aus der ursprünglichen Verschränkung von Natur und Mythos zeichnet er den dialektischen Begriff einer Gesellschaft, in dem diese ursprüngliche Verschränkung als System strukturell, aber zur Totalität gesteigert wiederkehrt. Die dialektische Konzeption von Natur und Geschichtsphilosophie führt dabei zu einem Begriff von Identität und Nichtidentität des "Subjekts" der Aufklärung. Die Philosophie von Adorno hat insofern ein strukturelles Ergebnis, das die Funktion und den Begriff dessen Q1

Dies zeugt sich in der Dialektik der Aufklärung fort: Der zentrale Naturbegriff erweist sich als ausschließliche Kombination der Begriffselemente Vergängnis und Herrschaft, vgl. unten AT 5.1.2.1. Ausführlich dazu AT 5.1.2.3.4. Daraus resultiert eine erstaunlich pessimistische Perspektive des Rechtsdenkens (vgl. dazu insbesondere BT 4. und BT 5.), die wesentlich durch das Gegensatzpaar von Leben und Vergehen, das sich in den Varianten von Nichtherrschaft/Herrschaft, Nichtidentität/Identität durch das gesamte Werk Adornos zieht, bestimmt ist.

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Allgemeiner Teil

prägt, was für ihn als Recht erscheint: Strukturaspekt eines gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses zu sein, dem die Subjekte im Prozeß und als Ergebnis der Aufklärung unterworfen sind. 93 Die zusammen mit Horkheimer verfaßte "Dialektik der Aufklärung" bezeugt die Entstehungsgeschichte des abendländischen Subjekts als Geschichte der Gesellschaft aus einer Dialektik von Geist und Natur. Die Geschichte erzählt die Verstrickung des Menschen in Natur, Geist und Gesellschaft. Ihr Ergebnis ist aber gerade nicht bloße Anthropologie, sondern wesentlich der Aufweis einer erkenntnisphilosophischen Pointe aus einer geschichtsphilosophischen Erklärung: Das Subjekt Mensch ist so sehr der Natur, dann im Kampf mit dieser dem aus ihr stammenden Geist verfallen, daß sich in der Transformation seines Überlebenskampfes in das konventionelle, zivilisatorische Leben der Gesellschaft, das sich als zweite Natur reproduziert, nur die allgemeine Struktur partikularer Rationalität der Selbsterhaltung 94 übersetzt, die sein Überleben sichert. Während sich von ihm dadurch nur das Allgemeine als Partikulares, der spirit of struggle for survive, in der Gesellschaft einprägt, geht alles, was ihn hätte zum Subjekt machen können, verloren. 95 Die Gesellschaft wird Geist und Maschine. Sie entsteht entgegen der idealistischen Programmatik, welche Freiheit dem Individualsubjekt zuweist, als eigentliches transzendentallogisches Subjekt. 96 In ihr herrscht die partikulare Rationalität der Selbsterhaltung als Allgemeines: 97 Nichts, was nicht von ihr käme, nichts, was nicht durch sie hindurch müßte, nichts, was nicht auf sie zu liefe. Die Struktur dieses Allgemeinen ist die der Totalität jeder Beziehung: zu dem Besonderen, das sie verschlingt, zu Wahrnehmung, Denken und Handeln. 93 Der Rechtsbegriff bei Adorno muß, weil er im Erklärungszusammenhang der Dialektik der Aufklärung erscheint, eine historische Dimension haben. Diese wird im BT 4.1. dargestellt. Dieser Erklärungsdimension nachgelagert erhält er einen systematischen Zug, erscheint Recht als Moment einer Struktur, die eben das Ergebnis der Dialektik der Aufklärung darstellt. Dieser systematisch strukturelle Zug wird im BT 5. exponiert. Das Verständnis des Zusammenhanges der geschichtsphilosophischen und der strukturell gesellschaftsphilosophischen Dimension setzt ein eingehendes Verständnis der konkreten Geschichtsphilosophie Adornos - überhaupt - voraus. Das Kapitel AT.5.(Entstehungsgeschichte des Subjekts) ist insofern für das Verständnis des BT grundlegend. 94 Zu diesem Zentralbegriff vgl. unten AT. 5.1.3., zum Pro-lem der Transformation der Partikularen Rationalität der Selbsterhaltung in das Bewegungsgesetz der Gesellschaft vgl. unten AT 5.2., insbesondere AT 5.2.1. 9 5 Vgl. zur Totalität der Partikularen Rationalität der Selbsterhaltung unten AT 5.1.3.1.2.2., vgl. zum Problem der Selbstverleugnung bzw. der Nichtidentität des "Subjekts" mit sich selbst AT 5.1.3.1.2.1. vgl. zum Strukturgesichtspunkt der Nichtidentität der Gesellschaft als System AT 5.3.1. 9 6

Vgl. dazu unten AT 5.2.4.4.

9 7

Vgl. dazu unten AT 5.2. und 5.3. insbesondere AT 5.3.3.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

43

In der Vorherrschaft des Allgemeinen etabliert sich Natur in ihrer vergeistigten Form über Soziales, Wahrheit und Moral. Die Beziehung des Allgemeinen zum Besonderen verschlingt alle anderen. Das führt bei Adorno gerade auch dahin, daß aus einer geschichtsphilosophischen Relation des Allgemeinen zum Besonderen zugleich eine sozial- und erkenntnisphilosophische Dimension wird. 9 8 Der Sinn von Adornos konkreter Geschichtsphilosophie erweist sich damit als Strukturmodell der Gesellschaft. Dieses Strukturmodell umfaßt den Zusammenhang von Geist und Wirklichkeit, Allgemeinem und Besonderem, Wesen und Schein. Seine Besonderheit besteht darin, daß es einerseits abgeleitetes Ergebnis von Adornos konkreter Geschichtsphilosophie ist und andererseits zugleich erkenntnnisphilosophisches und abstrakt-geschichtsphilosophisches Begründungs- bzw. Kritikmodell. 99 Der Zusammenhang von Adornos Erkenntnis- Sozial und Geschichtsphilosophie kann hier deshalb folgendermaßen bestimmt werden: Einerseits stellt seine konkrete Geschichtsphilosophie die konkret historische Grundlegung und Interpretation des geschichtlichen Zusammenhanges von Geist und Natur (Wirklichkeit) d a r 1 0 0 , der in einem erkenntnisphilosophischen M o d e l l 1 0 1 der Gesellschaft als Struktur bzw. System 1 0 2 mündet. Andererseits verweist so die erkenntnistheoretische Prämisse der objektiven Vorgängigkeit des arbeitsteiligen Selbsterhaltungssubjekts Gesellschaft als transzendentales Subjekt der Erkenntnis auf die dialektische Beziehung zwischen Erkenntnis- und Geschichtsphilosophie: Während die objektive Vorgängigkeit der Gesellschaft durch die Totalität des Tauschprinzips geschichtsphilosophisch erklärt wird, liegt sie dieser Geschichtsphilosophie erkenntnisphilosophisch immer bereits zugrunde 103 und QQ

In diesem Gesichtspunkt liegt das zentrale erkenntnistheoretische Problem der Philosophie Adornos. Da es für das Gesamtverständis zugleich unabdingbar ist, widmet sich der AT. dieser Problematik in den Gliederungspunkten AT 5.1.3. bis 5.2. QQ Die Erläuterung dieses Zusammenhanges beginnt hier mit der historisch genetischen Ebene. Es soll gezeigt werden, daß die geschichtsphilosophische Deutung der Natur-Geistproblematik bei Adorno zu einer erkenntnisphilosophischen Prämisse führt. An dieser Stelle erst kann der Vermittlungsbegriff selbst in seiner erkenntnis- und sozialphilosophischen Dimension eingeführt werden. Denn er setzt das Verständnis des hermeneutischen Zirkels, den das Denken von Adorno begründet und innerhalb dessen es sich bewegt, bereits voraus. 1 0 0 Vgl. AT 5.1. 1 0 1

Vgl. AT 5.2.1. bis 5.2.4.4.

1 0 2

Vgl. AT 5.3.

103

Diesem für die Philosophie Adornos und den Zusammenhang von Erkenntnis- und Geschichtsphilosophie wichtigen und delikaten Problem wurde nicht nur um der Genauigkeit willen der Abschnitt 5.2.1. gewidmet. Es kann dabei auch eine der zentralen Aporien der Philosophie Adornos entwickelt werden.

44

Allgemeiner Teil

umgekehrt: Die erkenntnisphilosophische Dimension der Identitätsphilosophie als totales System der Reproduktion des Immergleichen, der Reduktion der Wissenschaft aufs Faktische, erweist ihre wirkliche Bedeutung in der Zurichtung der Wirklichkeit, deren Teil sie auch immer w a r . 1 0 4 Adornos Philosophie umschreibt somit eine eigentümliche Paradoxie: Die Entstehung des Gesellschaftlichen aus dem Teil der Vernunft, der immer Natur blieb und niemals Freiheit wurde und die Zurichtung dieser Vernunft aus eben jener totalen Gesellschaft der zwanghaften Selbsterhaltung. Konkret handelt es sich um das Problem, daß einerseits Subjekte die partikulare Rationalität der Selbsterhaltung vermitteln, andererseits ihre partikulare Rationalität durch das Subjekt der Selbsterhaltung, der Gesellschaft, objektiv bestimmt ist. Dies bedeutet auch: Das Verhältnis von Objektivität und Subjektivität hat sich umgedreht: Die Subjekte werden zu Objekten, das System zum Subjekt, diesem wiederum ist die Natur als Anderes entgegengesetzt.105 Im Folgenden ist auf der philosophischen "Objektebene" sowohl erkenntnisphilosophisch als auch geschichtsphilosophisch das Verhältnis des Subjekts zur Gesellschaft zu erläutern. Diese trennende Darstellung erfolgt nur aus didaktischen Gründen: Denn der Einheit von Erkenntnis- und Geschichtsphilosophie im Denken Adornos entspricht auf der Ebene des philosophischen Problems selbst gerade das Verhältnis von Geist und Natur bzw. Gesellschaft. Die Trennung wird deshalb hier auch in der Darstellung nicht rein durchgeführt. Es wird vielmehr gezeigt, wie Adornos geschichtsphilosophische Betrachtung in einer erkenntnisphilosophischen Prämisse mündet und diese erkenntnisphilosophische Prämisse wiederum seine Geschichtsphilosophie ermöglicht. Das Ziel dieser Darstellung ist die Entwicklung eines Begriffes der Gesellschaft als totales System, 106 dem ein bestimmter (unwahrer) Wahrheitsbegriff eignet. 1 0 7 Die Dialektik von Erkenntnis und Geschichtsphilosophie ermöglicht dann in genauer Abwendung von Hegel, bei dem Einheit kraft der Herrschaft des Begriffes hergestellt wird, einen dialektischen Begriff der Einheit von wahr/richtig/recht. 108

1 0 4

Vgl. Hierzu unten AT 5.2.4.4.

1 0 5

Vgl. Hierzu unten AT 5.2.4.4. Problematisch ist dabei gerade, daß die geschichtsphilosophische Begründung die erkenntnisphilosophische Prämisse der Vorgängigkeit des transzendentalen Subjekts der Gesellschaft selbst zur Voraussetzung haben muß. Hierzu AT 5.2.1. 1 0 6

Vgl. AT 5.3.

1 0 7

Vgl. AT 5.3.4. und BT 3.

1 0 8

Vgl. dazu unten AT 5.3.4. und BT 3. Wahrheit wird für Adorno insofern zu einer ganzheitlichen Kategorie, die nicht nur die Stimmigkeit bestimmter Sätze im gegebenen Ganzen meinen kann. Denn steht das Ganze in Frage, geht es nicht um bloß immanente Richtigkeit. Und steht es als

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

45

5.1. Dialektik der Aufklärung: Geschichtsphilosophische Erklärung für die Gesellschaft als arbeitsteiliges Subjekt der Selbsterhaltung und transzendentallogisches Subjekt der Erkenntnis 5.LI. Überblick Ansatzpunkt für die abendländische Geschichte des Subjekts ist für Adorno dessen im Mythos festgehaltene und dort sowohl wiedergegebene als auch reflektierte Beziehung zur Natur. 1 0 9 Natur und "Subjekt" bilden zunächst das Ganze eines geschlossenen Kreislaufes bzw. Naturzusammenhanges von Glück und Unglück, Recht und Unrecht, Gesetz, Vergeltung, Verfallenheit an Herrschaft und Opfer. Das der Natur entstammende Subjekt beginnt, sich mit seiner Ratio gegen die Natur zu wenden. Die Vernunft des Subjektes erweist sich dabei einerseits als Teil der Natur und auch deren Anderes. 110 Das Subjekt setzt sich der Natur gegenüber. Es schmiegt sich dann zugleich doch auch dadurch in sie ein, daß es sie durch Opfer zu besänftigen sucht. Dies ist der wichtigste Einsetzpunkt von Geschichte. Denn erst von diesem Punkt an gibt es ein Ganzes von Natur und Subjekt, als zweierlei. Weil es als Besonderes im Opfer jedoch das Allgemeine der Natur auch betrügt, besteht im Moment des listigen Überlebens des Subjekts durch das Opfer auch ein Tausch: Getauscht wird das Überleben des Besonderen gegen das Prinzip seines Selbst: Daß es auch es selbst im Überleben bleiben könne. Denn es muß sich selbst verleugnen und macht um der Selbsterhaltung willen das Partikulare gegen das Allgemeine der Natur zum Allgemeinen seiner Rationalität. 1 1 1 Aus diesem Zusammenhang heraus entsteht Gesellschaft, in der sich die abstrakte Allgemeinheit der Vernunft bloß als Summe der jeweils partikularen Rationalität der Selbsterhaltung verwirklicht und der Betrug des Allgemeinen als Allgemeines im Tausch herrscht. Dabei ist entscheidend, daß über die Ganzes in Frage, ergibt sich als Wahrheitsfrage auch die Wertfrage. Wahr und wahrhaftig sind spekulativ eins, da Vernunft und emanzipatorisches Interesse zusammenfallen. Vernunft, die Menschen auf die Reaktionsformen von Lurchen zurückbringe und über ihnen die sittliche Substanz des Staates errichte, verrate mit den Menschen sich selbst. In dieser Hinsicht bezeugt das Votum der Sittlichkeit des Staates ihren ideologischen Ausdruck. 109 Daß der geschichtsphilosophische Ansatzpunkt dem erkenntnisphilosphischen zugeordnet ist, ist wesentlich: Mittels dieser Bezüglichkeit gelingt es Adorno im Bezugspunkt der Selbsterhaltung, die Identität von Herrschaft des Subjekts gegenüber innerer und äußerer Natur als Reproduktion des Allgemeinen der Natur in der Ratio und der Gesellschaft aufzuweisen. 1 1 0 Vgl. dazu näher AT 5.1.2.3.4. 1 1 1

Vgl. dazu ausführlich AT 5.1.3.

46

Allgemeiner Teil

Struktur der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung wahre Allgemeinheit als Einheit von Natur und Geist sowie Geist und Subjekt von Philosophie und Leben nicht verwirklicht wird, sondern der Gegensatz von Subjekt und Natur bzw. Geist und Natur zum Konstitutionsprinzip des Ganzen, der Gesellschaft gemacht w i r d . 1 1 2 Indem ihr Prinzip, das des Tauschs, als Geist - und Realprinzip diese partikulare Rationalität der Selbsterhaltung auch objektiv zur Totalität steigert, 113 ist dem Subjekt der Zugang zur wahren Gesellschaftlichkeit, die durch Solidarität und Versöhnung von Geist und Natur bestünde, verwehrt. 114 Das totale Identitätsprinzip, das sich real im Tauschprinzip und der arbeitsteiligen Gesellschaft verwirklicht, führt somit gerade zur Nichtidentität des Subjekts (mit sich selbst), da es sich jeweils nur durch die vorgegebene objektive Struktur der Gesellschaft vernimmt: Die Verselbständigung der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung macht das Subjekt zum Objekt. 1 1 5 Die Gesellschaft wird zur Totalität 1 1 6 , zum eigentlichen Subjekt der Selbsterhaltung, erkenntnisphilosophisch zum transzendentallogischen Subjekt der Erkenntnis. 117 In diesem Punkt schließen sich Sozial- und Erkenntnisphilosophie zusammen: Weil die Gesellschaft dem Subjekt total vorgeordnet ist, kann auch Erkenntnisphilosophie nicht mit dem Subjekt beginnen. Die Ontologie hat ihre geschichtsphilosophische Basis und die Geschichtsphilosophie ihren erkenntnisphilosophisch ontologischen Bezugspunkt. Hier ergibt sich das geschichtsphilosophisch wichtigste Erklärungsproblem: Zunächst wählt Adorno die Ebene des Einzelwesen Odysseus, um das Entstehen der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung zu erläutern. Diese Rationalität stammt aus Natur und ist als Teil von dieser ihr auch immer verhaftet, d.h. daß ihr Herrschaftsmoment 118 nicht verloren geht. Andererseits ist sie der Natur auch gerade entgegengesetzt. Ihr Ziel ist, Natur zu erfassen, um sie zu beherrschen.

1 1 2

Vgl. dazu AT 5.1.3.1.2.3., 5.2. und 5.3.

1 1 3

Vgl. dazu AT 5.2.4.4., besonderes 5.2.4.4.2.4. und 5.3.3.

1 1 4

Vgl. AT 5.1.3.1.2.3.

1 1 5

Vgl. AT 5.1.3.1.2.

1 1 6

Vgl. dazu At 5.3.3.

1 1 7

Vgl. dazu AT 5.2.,insbesondere 5.2.4.4.

118

Die Herrschaft des Begriffes über die diesem unterworfenen Gegenstände entspricht dem Aspekt der Selbstbeherrschung, das sich in der Dialektik der Aufklärung z.B. im Anbinden an den Mast durch Odysseus oder das Beherrschen anderer Menschen - z.B. der Kameraden - durch die Überlebensorganisation auf dem Schiff beweist.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

47

Aus dieser partikularen Rationalität der Selbsterhaltung entsteht das gesellschaftliche Selbsterhaltungsprinzip als Totalität der Summe der je einzelnen Partikularitäten. Adorno erklärt jedoch dieses Entstehen nicht wirklich als historischen Prozeß oder genetisches Prinzip. 1 1 9 Vielmehr sind die Momente des gesellschaftlichen Prinzips des Kapitalismus, die totale Singularität und der totale Rekurs aufs Überlebensinteresse des je Einzelnen, in Odysseus und Robinson bereits gerade als gesellschaftliche vollständig vorhanden. 120 Andererseits ist für seinen gesamten gesellschafts- und erkenntnisphilosophischen Ansatz eine objektive Vorgeordnetheit der partikularen Rationalität auf der Ebene vorgängiger Gesellschaftlichkeit entscheidend. Es kommt für das Verständnis der Adornoschen Theorie nämlich gerade darauf an, daß die Selbsterhaltungsrationalität den Inbegriff der Gesellschaft in ihrer Totalität gerade zum transzendentalen Subjekt von Erkenntnis und gesellschaftlichem Leben macht: Die objektive Vorgängigkeit des Tauschprinzips vor aller subjektiven Entscheidung empirischer Subjekte reduziert diese auf Agenten des Ganzen: in ihrer Wahrnehmung, ihrem Denken und Handeln. 121 Andererseits wird diesem Ganzen die partikulare Rationalität der Selbsterhaltung eben durch die Subjekte vermittelt. 122 Das zentrale Problem ist jedoch nicht allein darin zu sehen, daß die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem zu einem Selbstverweis führt, einem geschlossenen Erklärungskreislauf, der dem von Mythos und Naturfluch nur zu gut entspricht: Daß die partikulare Rationalität der Selbsterhaltung sich also aus einer Totalität ableitet, die sie selbst begründet, weil sie in Subjekten entsteht, die durch diese Tatsache entsubjektiviert werden, da sie dem Ganzen objektiv sich fügen, welches wiederum ohne sie nicht das einzige nichtdurchschaute Subjekt wäre. Das wesentliche Problem besteht vielmehr darin, auch geschichtsphilosophisch in den Zirkel zu gelangen und die Frage zu beantworten: Wann und wodurch beginnt die Totalität der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung? 123

1 1 9

Vgl. AT 5.2.1.

1 2 0

Vgl. AT 5.1.3.1.

1 2 1

Vgl. AT 5.2.4.4.1.

1 2 2

Vgl. 5.2.4.4.1. und 5.2.4.4.2.

123

Die Antwort fällt deshalb nicht leicht, weil einerseits schon das vollkommen isolierte Subjekt, das Modell des bürgerlichen Subjekts, Robinson, der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung unterworfen war (dazu ausführlich AT 5.1.3.1.) und andererseits zwischen Gesellschaft und Natur hinsichtlich der Wirkungsweise des Vorgängigkeitsprinzips kein Unterschied besteht. Die Totalität der Natur wird durch die der Vielen, der Gesellschaft, (DdA 75) substituiert, weil sich Gesellschaft als Fortsetzung der Natur erweist. (DdA 75) Die Problematik wird in den Kapiteln AT 5.1.3. bis 5.2.1. entwickelt.

48

Allgemeiner Teil

Der von Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung entwickelte Begriff der Natur entfaltet sich aus der Dialektik von Natur und Geist. Indem Natur sich nicht als an sich Seiendes erweist, sondern als Substrat von bestimmte Phasen der Aufklärung wiederspiegelnden Denk- und Wahrnehmungsweisen des Menschen, verwirklicht Adorno das Programm, Natur als Geschichte zu lesen und Geschichte immer schon als Natur zu verstehen. Die Durchdrungenheit der Geschichte, auch gerade der Geschichte des Geistes, also der Aufklärung, durch Natur, stellt sich als Natur der Geschichte überhaupt dar. Und die Natur der Natur entpuppt sich als ihre Geschichte. Die Darstellung folgt der von Adorno und Horkheimer gewählten Einteilung in historische Phasen der Aufklärung bzw. des Mythos, historisch und philosophiegeschichtlich zugleich.

5.7.2. Die mythische Phase 5.1.2.1. Die drohende Macht der Natur Natur, in welcher die wiederkehrenden, ewig gleichen Prozesse des Daseins, 1 2 4 in denen alle Geburt mit dem Tode und jedes Glück mit Unglück bezahlt w i r d , 1 2 5 den schwachen Seelen der Wilden als reale Übermacht entgegentritt, 1 2 6 erscheint dem Menschen der mythischen Phase wesentlich als drohend. 1 2 7 Solche furchterregende Natur erzielt ihre unnachgiebige Wirkung zunächst dadurch, daß sie sich als amorph, unbeständig und vieldeutig zeigt. 1 2 8 Das Bedürfnis des Menschen, sie zu erfassen, um sie zu verstehen, ihre Macht zu erkennen, um sie einzudämmen, erfüllt sie nicht. 1 2 9 Auf Unerfaßbarkeit beruht ihre Drohung. 1 3 0 Dieses Moment des Zufälligen und alles Auflösenden ist wesentlich prozeßhaft: Die Auflösung jeglichen Lebens in blinde Natur entspricht dem Vergängnis, das jedem Leben in der Zeit droht. Zu dem Prozeßmoment gesellt sich

1 2 4

DdA 37.

1 2 5

DdA 32.

1 2 6

DdA 31.

1 2 7

DdA 205.

1 2 8

Mk 87.

1 2 9

So auch Link, 1986, S. 101.

1 3 0

DdA 49.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

49

das Moment der Macht, das Prinzip der Herrschaft, das Allgemeine der Natur überhaupt. 131 Die Superiorität der Natur triumphiert im Vergängnis als allgemeine Macht, die dem Menschen als Naturfluch 132 , als Naturzwang 133 des Schicksals gegenübertritt. Der Naturbegriff Adornos 1 3 4 stellt für die mythische Phase damit eine Kombination aus lediglich zwei Elementen dar: Zum einen dem Moment von zufälligem unerfaßtem, d.h. unbegriffenem Vergängnis, das sich in jeglicher Spielart der körperlichen und psychischen Bedrohung des "Selbst" - also der materialen und seelischen Ich-Energien des Menschen zeigt und zum anderen dem hinter diesem Vergängnisvorgang stehende gesammelte Machtpotential der Natur, mit dem diese sich als Superiorität 135 gegenüber allem Lebendigen (Besonderen) durchsetzt: Das Prinzip der Herrschaft als ihr Allgemeines, als das Wesen ihrer Einheit. 1 3 6 Adornos Naturbegriff ist somit nicht substantiell: Soweit sein Inhalt die Blindheit, Zufälligkeit des Amorphen, des Schicksals, der Vergängnis ist, bleibt er bewußt historisch. Soweit sein Inhalt das Herrschaftsprinzip als Allgemeines der Natur ist, handelt es sich auch um ein historisches Prinzip, nämlich um das der historischen Form, in der Vergängnis in Natur erfolgt: Nach dem Prinzip der Unterwerfung dessen, der zu verschlingen ist unter die Gewalt des Fluchs, den Natur auszusprechen hat: Es ist an der Z e i t . 1 3 7

1 3 1

Vgl. DdA 32, 33, 37.

1 3 2

Vgl. DdA 27 f.

1 3 3

Vgl. DdA 28.

1 3 4

Der Versuch Stresius', dem hier gekennzeichneten Naturbegriff Adornos antithetisch den Begriff einer "versöhnten Natur" entgegenzustellen, (Stresius 1982, S. 181) scheitert an der darin substanziell gegen die Philosophie Adornos gerichteten Ontologisierung eines Versöhnungszustandes jenseits des Subjekts. Schon naiver Begrifflichkeit muß Versöhnung ein Verhältnis zwischen mindestens zwei Versöhnungssubjekten - bzw. Objekten bezeichnen. So geht es Adorno darum, gegen die herrschende Identitätsphilosophie eine Versöhnung des Subjekts mit der Natur, bzw. in der Natur zu denken. Dieser VersöhnungsVorgang ist aber nicht als fixierter Zustand in der Zeit, als bloßes Entwicklungsergebnis gelingender Geschichte oder als isolierbarer Begriff konzipierbar. Paradox ergibt sich Versöhnung mit Natur für das Subjekt in "geschichtlicher Arbeit", DdA 82. Ihr Ziel ist die "opferlose Nichtidentität des Subjekts", ND 277. 1 3 5

I -Ii

DdA 75, vgl. auch DdA 31.

Vgl. hierzu DdA 25, "In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, ι γι als Substrat von Herrschaft. Diese Identität konstituiert die Einheit der Natur." Link 1986, S. 104 weist darauf hin, daß der Naturbegriff Adornos wesentlich auf Nietzsche zurückgeht, der in "Der Wille zur Macht" formuliert: "Die Welt besteht: sie ist nichts, was wird, nichts was vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden, und nie aufgehört zu vergehen, sie erhält sich in beidem ... Sie lebt von sich selber ..." 4 M. Becker

50

Allgemeiner Teil

Konkret wird somit das Programm erfüllt, das in der abstrakten Geschichtsphilosophie bereits annonciert wurde: Der Naturbegriff erweist sich als Begriff des Geschichtlichen. 138 Die Frage ist jedoch einerseits, ob das Vergängnisprinzip als urhistorisches auch in späteren Phasen der Entwicklung dem Naturbegriff wesentlich bleibt. Variabel scheint zunächst das Herrschaftsprinzip zu sein. Aber: Kommt es in der Entwicklung der Natur zu Gesellschaft zu einem Prozeß, in dem dem Vergängnisprinzip nicht zugleich auch nachdrücklich das Herrschaftsprinzip zugrundeliegt? Und kommt es deshalb zu einer Aufhebung des Gegensatzes von menschlichem Leben und Natur, und zu einer versöhnten Gesellschaft? Beide Fragen werden von Adorno eindeutig und klar verneint. Im historischen Prozeß bildet sich Gesellschaft als totale Vermittlung von Herrschaft und Nichtidentität als "Fortsetzung" von Natur heraus: "Durch die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft hindurch werden die Menschen zu eben dem wieder gemacht, wogegen sich das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: Zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung in der zwangshaft gelenkten Kollektivität." 1 3 9 Diese Gesellschaft ist für Adorno beherrscht vom Prinzip der Selbsterhaltung und dem der Macht, von Nichtidentität 140 der Subjekte mit sich selbst, von Arbeitsteilung und Tausch, von der Fortsetzung der Subjekt/Objekt-Spal138 Man mag einwenden, daß der Begriff des Geschichtlichen selbst auf bloßes Vergehen und Entstehen verkürzt werde, (Poos 1989, S. 15) so daß sich die Einheit von Natur und Geschichte als Konsequenz eines radikalen Reduktionimus ergäbe. Zutreffend ist dies sicher insofern, als die Ablehnung eines gesellschaftlich-historischen Fortschritts- und Entwicklungsgedankens aus der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, auch in ihrer materialistisch marxistischen Variante, für Adorno die entscheidende negativ bestimmende Voraussetzung für die Einlösung des Versöhnungsversprechens in einer möglichen zukünftigen Geschichte blieb. (Vgl. dazu Adorno, GS, Bd. 8, S. 373 ff. insbesondere 374/375) Bisherige Geschichte aber ist "Vorgeschichte", ebd., S. 374, vgl. auch Fortschritt, GS, Bd. 10 II, S. 617 ff., Knapp 1983, S. 40 und Heider 1979, S. 50: "Die Einsicht in den naturwüchsig-zwangshaften Geschichts verlauf wird ... zur unerläßlichen Voraussetzung dafür, daß die Geschichte beginne." Adorno sagt es so: "Fortschritt heißt: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit inne wird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über Natur ausübt und durch welche die der Natur sich fortsetzt. Insofern ließe sich sagen, der Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet." GS, 10II,S. 625 1 3 9 DdA 54. 1 4 0 Der Begriff Nichtidentität wird hier im Unterschied zum Begriff des Nichtidentischen immer dann verwendet, wenn die Differenz zwischen der Gewalt, die das Identitätsprinzip dem Nichtidentischen zufügt, zu diesem selbst ausgedrückt werden soll. Gemeint ist also nicht etwa die denkbare Substanz des Nichtidentischen selbst, sondern die von Adorno betonte Tatsache, daß gerade unter dem alles durchziehenden Identitätsprinzip nichts mit sich selber identisch sein darf. Dieses - unter dem Identitätsprinzip nicht mit sich selber identisch sein - ist mit dem Terminus Nichtidentität gemeint, nicht das Nichtidentische als begrifflich dem Identischen Entzogene.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

51

tung, die sich im Gebrauch der Ratio gegen innere und äußere Natur beweist. 1 4 1 Im weiteren soll zunächst dargetan werden, wie sich die Fortsetzung der Natur in die Gesellschaft hinein, die für Adorno natürlich immer gerade auch ein Rückfall in Natur war, für ihn darstellt.

5.1.2.2. Die Entstehung des Mythos aus der Angst des Menschen vor Natur und Dasein In der Argumentationskette der geschichtsphilosophischen Dialektik von Natur zu Gesellschaft kommt dem Mythos die Funktion eines Verbindenden zu, das das Wesen der Natur in die Gesellschaft überträgt. Notwendig für diese Übertragungsfunktion ist zunächst, daß sich auf Naturverhältnisse "auch die Vorstellungen der Mythen ohne Rest zurückführen" lassen. 142 Der Grund hierfür besteht darin, daß der Mythos aus der Angst des Menschen vor dem unbekannt Bedrohenden, der Natur, stammt. 143 Im Mythos findet deshalb nicht eine Hypostasierung eines von der Natur geschiedenen Bereiches des Geistes statt, sondern der Mythos birgt Verdoppelung der Natur. In dieser Verdoppelung erscheint eine Trennung von Subjekt und Objekt angelegt, von Schein und Wesen, Kraft und Wirkung: "In der hellen Welt der griechischen Religionen lebt die trübe Ungeschiedenheit des religiösen Prinzips fort, das in den frühesten bekannten Stadien der Menschheit als Mana verehrt wurde. Primär, undifferenziert ist es alles unbekannte Fremde; das was den Erfahrungskreis transzendiert, was an den Dingen mehr ist als ihr vorweg bekanntes Dasein. Was der Primitive dabei als überna-

1 4 1

Dazu vgl. u. AT 5.2. und 5.3.

1 4 2

DdA 33.

14 ·* Zu Recht bemerkt deshalb auch Kimmerle 1986, S. 32: "Die Angst vor Unbekanntem und ihre Überwindung durch identifizierende Benennung und entfremdende Bedeutung vereinigen Mythos und Aufklärung als einander ablösende Formen machtbezogenen Wissens." Und ebd., S. 57 "Die Überwindung von Angst in ihren sprachlichen Ausdrücken bildet nach Horkheimer und Adorno die Urform der menschlichen Welterklärung." Früchtl 1986, S. 47 weist darauf hin, daß der Angstbegriff der DdA sich an den psychoanalytischen anlehnt, demzufolge Angst als "verdrängte Libido" aufzufassen ist "und insofern als Produkt des durch die Ich-Instanz bzw. durch die Gesellschaft unterdrückten Sexualtriebs, des primären Objekts der Verdrängung. Das spielt eine wichtige Rolle im Hinblick auf den Begriff einer gesellschaftlich möglichen Versöhnung. Vgl. unten BT 7.4. Gestützt wird diese Auffassung z.B. durch folgende zentrale Stelle der DdA 265: "Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und verstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften ... Von der Verstümmelung betroffen ist vor allem das Verhältnis zum Körper." Vgl. auch ebenso Schmid Noerr 1990, S. 44 ff.

52

Allgemeiner Teil

türlich erfährt, ist keine geistige Substanz als Gegensatz zur materiellen, sondern die Verschlungenheit des Natürlichen gegenüber dem einzelnen Glied. Der Ruf des Schreckens, mit dem das Ungewohnte erfahren wird, wird zu seinem Namen. Er fixiert die Transzendenz des Unbekannten gegenüber dem Bekannten und damit den Schauder als Heiligkeit. Die Verdoppelung der Natur in Schein und Wesen, Wirkung und Kraft, die den Mythos sowohl wie die Wissenschaft erst möglich macht, stammt aus der Angst des Menschen, deren Ausdruck zur Erklärung wird ... Mana, der bewegende Geist ist keine Projektion, sondern das Echo der realen Übermacht der Natur in den schwachen Seelen der Wilden. Die Spaltung von Belebtem und Unbelebtem ... entspringt erst aus diesem Präanimismus. In ihm ist selbst die Trennung von Subjekt und Objekt schon angelegt." 144 Die Errichtung des Geistigen im Begriff von Mana folgt somit nicht der freien Synthesisleistung eines freien Subjekts. Sie ist Echo der realen Vormacht, der Vormacht des Herrschaftsprinzips als des Allgemeinen der Natur. Deshalb führt folgerichtig "der mythische Dualismus ... nicht über den Umkreis des Daseins hinaus" 1 4 5 , die Ontologie der Natur als Geschichte ihrer Herrschaft wird nicht verlassen. Die Verdoppelung der Natur im Mythos erfolgt gerade dadurch, daß sie als die "trübe Ungeschiedenheit" von Geistigem und Natur keine die Natur für den Geist des Menschen ordnende und erfassende Trennung vom Bereich des Unbeherrschten, willkürlich Drohenden zuläßt oder ermöglicht. Infolgedessen bleibt die "vom Mana durchherrschte Welt und noch die des indischen und griechischen Mythos ... ausweglos und ewig gleich." 1 4 6 Wie schon Natur einfordert, wird auch im Mythos "alle Geburt mit dem Tode bezahlt, jedes Glück mit Unglück, ... Menschen und Götter mögen versuchen ... die Lose anders zu verteilen als der blinde Gang des Schicksals, am Ende triumphiert das Dasein über sie." 1 4 7 Damit werden die Sphäre der Religion und die Deutung der Naturphänomene nicht aus einem intelligiblen Bereich konstruiert, sondern aus der Ontologie der Naturgeschichte. Diese bildet den Kreislauf von Verfallenheit und Selbsterhaltung, Herrschaft und Vergängnis als ewige Wiederholung des Naturfluches ab. Der Begriff der Natur entfaltet sich als Reproduktion des psychischen Angstreflexes aus der ihn auslösenden objektiv und allgemein vorherrschenden Gewalt des sich wiederholenden Daseins. Der Mythos ist so sehr die 1 4 4

DdA 31.

1 4 5

DdA 32.

1 4 6

DdA 32.

1 4 7

DdA 32.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

53

Verdoppelung dieser vorgängigen angstauslösenden Herrschaftsstruktur Dasein, daß er nicht als das andere der Natur erscheint, sondern als ihr Symbol und ihr Bild, in dem die Unerschöpflichkeit der Erneuerung die Permanenz des Bedeuteten 148 sicherstellt: "Mythen wie magische Riten meinen die sich wiederholende Natur. Sie ist der Kern des Symbolischen; ein Sein oder ein Vorgang, der als ewig vorgestellt wird, weil er im Vollzug des Symbols stets wieder Ereignis werden s o l l . " 1 4 9 Die Angst selbst aber, mittels derer der Mythos sich aus Natur bildete, realisierte in ihm Wahrheit zuletzt als Hoffnungslosigkeit angesichts der Verdoppelung des Bestehenden: "Mythologie hatte in ihren Gestalten die Essenz des Bestehenden: Kreislauf, Schicksal, Herrschaft der Welt als die Wahrheit zurückgespiegelt und der Hoffnung entsagt." 150

5.1.2.3. Das Wesen der Natur-Herrschaft im Mythos: Einheit von Mythos und Natur Der Mythos, so wie er von Adorno bei Homer in der "Ilias" und insbesondere der "Odyssee" durch die epische Darstellung verdichtet vorgefunden wird, ist für ihn und Horkheimer "der Grundtext der europäischen Zivilisation". 1 5 1

5.1.2.3.1. Dreifache Bedeutung des Mythos Adornos Anliegen, die Naturverfallenheit der Aufklärung im Bereich von Erkenntnis und Gesellschaft zu erweisen, kommt der Mythos in dreierlei Weise entgegen: Erstens ist Mythos nicht nur in dem Sinne Verdoppelung von Natur, daß sich die Sphäre des Religiös-Geistigen als von der Natur ungeschieden erweist. Er ist es wesentlich gerade auch bezüglich der Merkmale, die oben der Natur zugeordnet wurden, Vergängnis, Selbsterhaltung und Herrschaft. Darüber hinaus ist der Mythos jedoch auch Aufklärung, Erklärung und Beschreibung des Daseins; der Mythos wollte darlegen, beweisen. 152 Drittens findet sich im Mythos bereits der Zusammenhang von Natur und Gesellschaft wieder, die Dialektik von Natur und Arbeit.

1 4 8

DdA 33.

1 4 9

DdA 33.

1 5 0

DdA 44.

1 5 1

DdA 63.

1 5 2

Vgl. unten AT. 5.1.2.3.3.

54

Allgemeiner Teil

Durch diese Vielschichtigkeit des Mythos: Natur, Aufklärung und Arbeit zu sein und die Dialektik von Natur und Arbeit als Prinzip des Gesellschaftlichen zu verkörpern, erfüllt er im Denken Adornos mehrere Funktionen zugleich. Sozialphilosophisch ist Mythos zunächst das strukturelle Modell für die Verschlungenheit von Natur, Herrschaft und Arbeit, die sich in der weiteren Dialektik der Aufklärung radikalisieren wird, aber nicht mehr in ihrem Wesen ändert. Geschichtsphilosophisch bildet der Mythos den philosophischen Zirkel der spezifischen Natur-Geistdialektik erstmals ab, der von der Verfallenheit des Geistes an die ihm vorgeordnete Naturwirklichkeit, die er zugleich bestimmt, redet. Damit bedeutet Mythos für Adorno aber zugleich auch das erkenntnisphilosophische Grundmuster, in dem der Text der europäischen Kultur als Dialektik von Philosophie und Wirklichkeit seine Erläuterung findet. Die dreifache Bedeutung des Mythos macht diese Bestimmung als Zirkel und Grundmuster erst möglich. Doch läßt sie sich nicht verstehen, ohne die jeweiligen Bedeutungen im Kontext ihres Bezuges zum Thema Herrschaft zu erläutern.

5.1.2.3.2. Verdoppelung von Herrschaft

im Begriff des Mythos

Ist das Prinzip der Herrschaft bereits das allgemeine historische Formprinzip, nach dem sich das geschichtliche Merkmal des Vergängnis im Naturbegriff Adornos Durchsetzung verschafft, führt die Verschlungenheit von Natur und Mythos, die Verdoppelung der Sphäre der Natur in die Mythologie, auch zur Übertragung des Herrschaftsaspekts aus dem Begriff der Natur in den des Mythos. In Beschreibung und Erklärung der mythischen Gewalten wiederholt sich der Gesichtspunkt, unter dem Natur ihr Werk tut: Herrschaft. Ist noch die Welt des indischen und griechischen Mythos vom Mana durchherrscht 153 , das "primär, undifferenziert, alles Unbekannte, Fremde" 1 5 4 darstellt, in dem sich "Natur als allgemeine M a c h t " 1 5 5 realisiert, so stehen auch die Mythen, "wie sie die Tragiker vorfanden ... im Zeichen jener Disziplin und Macht, die Bacon als das Ziel verherrlicht". 156

1 5 3

DdA 32.

1 5 4

DdA 31.

1 5 5

DdA 34.

1 5 6

DdA 24.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

55

Dies zeigt sich zunächst schon daran, daß die mythischen Figuren, die Vollstrecker der urgeschichtlichen Urteilssprüche, in der Terminologie als "mythische Gewalten" 1 5 7 das ihnen auferlegte Werk tun. Sie tun es unter Ausnutzung der ihnen zugewachsenen physischen Kräfte, die allemal über diejenigen der in ihren Machtbereich gelangenden Opfer hinausragen, 158 seien es Polyphem, 159 Szylla und Charybdis, 160 die Sirenen 1 6 1 oder Kirke mit ihrem "gewalttätigen Zauber". 1 6 2 Die physische Gewalt, die den mythischen Gewalten eignet aber, ist gebundene Gewalt. Denn sie sind in Gestalt und Aufgabe ihrer persönlichen Gewalt sowie deren Vollstreckung gebunden an den "urgeschichtlichen Urteilsspruch" 1 6 3 , die unmittelbare und allgemeinste Übertragung des allgemeinen Gewaltverhältnisses Natur in den Bereich des Mythos: Sie selbst können sich der Pflicht und Aufgabe, Gewalt dort zu vollziehen, wo Natur - mythisch der Urteilsspruch - als Naturfluch Verfallenheit an die ihnen auferlegte Aufgabe bedeutet, nicht ohne schwerste Konsequenzen entziehen: "Eine jegliche der mythischen Figuren ist gehalten, immer wieder das Gleiche zu tun. Jede besteht in Wiederholung: deren Mißlingen wäre ihr Ende. Alle tragen Züge dessen, was in den Strafmythen der Unterwelt ... durch olympischen Richtspruch begründet wird. Sie sind Figuren des Zwangs, die Greuel, die sie begehen, sind der Fluch, der auf ihnen lastet." 1 6 4 Die Vergeltungsidee - in den Mythen muß alles Geschehen Buße dafür tun, daß es geschah 165 - , der mythische Naturfluch, die noch die Vollstrecker des urgeschichtlichen Urteilsspruches an das allgemeine Gewaltverhältnis Natur zurückbinden, sind nichts andereres als das Prinzip der Herrschaft, das die Einheit der Natur im Werden und Vergehen je bestimmte 166 , das Prinzip schicksalhafter Notwendigkeiten, an der die Helden zugrunde gehen. 167 Für die Unterlegenen, aber auch für den listigen Helden bedeutet diese Situation schon vorweg die Pflicht der Anerkennung von Herrschaft bzw. Macht 1 5 7

DdA 75.

1 5 8

DdA 75, 76,77.

1 5 9

DdA 83 f.

1 6 0

DdA 76.

1 6 1

DdA 77.

1 6 2

DdA 89.

1 6 3

DdA 75.

1 6 4

DdA 77, vgl. auch das Sirenenbeispiel DdA 78: "In der Tragödie ... müßte es ihre letzte Stunde gewesen sein." 1 6 5

DdA 28.

1 6 6

DdA 24/25.

1 6 7

DdA 28/29.

56

Allgemeiner Teil

als der Bedingung aller menschlichen Beziehungen 168 sowie der Möglichkeit des Lebens. 1 6 9 "Niemals kann er (Odysseus A.d.V.) den physischen Kampf mit den exotisch fortexistierenden mythischen Gewalten selber aufnehmen. Er muß die Opferzeremoniale, in die er immer wieder gerät, als gegeben anerkennen: zu brechen vermag er sie nicht. Statt dessen macht er sie formal zur Voraussetzung der eigenen vernünftigen Entscheidung. Diese vollzieht sich stets gleichsam innerhalb des urgeschichtlichen Urteilsspruchs, der der Opfersituation zugrunde liegt." 1 7 0 Mythischer urgeschichtlicher Urteilsspruch und Naturherrschaft sind eins, ungeschieden ist der Bereich von Natur- und gesellschaftlich bzw. zugleich religiös vermittelter Herrschaft im Mythos.

5.1.2.3.3.

Mythos als Aufklärung: Ratio und Herrschaft: Funktion der Selbsterhaltung

Zeigte sich im vorhergehenden Abschnitt die Übertragung des Herrschaftsprinzips aus der Natur in den Mythos als Fortschreibung einer allgemeinen Idee des Schicksalszusammenhanges, dem noch die Vollstrecker der Notwendigkeit, die mythischen Gestalten, selbst unterliegen, so betrifft die Betrachtung des Herrschaftsproblemes im Zusammenhang mit dem Auflehnen des rationalen Subjekts gegen genau dieses allgemeine Prinzip der Naturherrschaft in der Dialektik der Aufklkärung die zentrale Frage überhaupt: Bleibt in der Geschichte der Natur auch das Herrschaftsprinzip allgemein, oder gelingt es dem Menschen, sich im Kampf um sein Überleben oder in der Gestaltung seiner gesellschaftlichen Welt von dem allgemeinen Prinzip, in dem die Vorbereitung sowohl wie die Realisation des Vergängnis immer schon der Herrschaft unterliegt, zu lösen? Diese Frage hat aber genau zwei Richtungen, die bei Adorno als Einheit behandelt werden: 1. Unterliegt auch Philosophie als denkendes Verstehen der bis hierher als Welt des Naturmythos gekennzeichneten Wirklichkeit historisch und notwendig auch zukünftig diesem Prinzip? 2. Und darüber hinaus: Besteht etwa zwischen diesen beiden Problemen ein Zusammenhang, der es entweder rechtfertigt oder gar notwendig macht, beides als ein Problem der Dialektik von Natur und Geist zuzuordnen?

1 6 8

DdA 25.

1 6 9

Vgl. dazu auch DdA 49: "Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer Unterwerfung unter Natur oder der Natur unter das Selbst." Vgl. a. DdA 50/51, insbes. auch 75/77. 170

DdA 75.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

57

Der Gedankengang bei Adorno entwickelt sich dabei folgendermaßen: Wenn der Mythos die Wiederholung der Natur bedeutet, zugleich auch schon Aufklärung ist, dann ist Aufklärung noch Natur. Das bedeutet, daß nicht nur überhaupt das Wesen des Mythos, so wie dies oben gezeigt werden konnte, in den begrifflichen Merkmalen der Natur: Vergängnis, Herrschaft und Selbsterhaltung beschreibbar ist, sondern gerade auch im Begriff der Aufklärung, die Adorno schon der mythischen Phase zuweist, diese Merkmale notwendig wiederkehren müssen. Erst später 171 kann sich dann die Frage anschließen, ob solche MythosAufklärung in einer späteren Phase der Dialektik der Aufklärung durch eine Philosophie abgelöst wurde, die das den Mythos und dessen Aufklärungsbegriff dominierende allgemeine Prinzip der Herrschaft beenden konnte. Für Adorno geht nicht nur der Mythos "in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität" 1 7 2 , sondern der Mythos ist schon Aufklärung. 173 Das hat Konsequenzen für den Begriff des Geistes, wie er von Adorno nicht nur für die mythische Phase, sondern überhaupt verstanden wird. Die Naturhaftigkeit des Mythos überträgt sich gerade auch auf den Begriff des aufklärerischen Geistes. Schon im Mythos tritt in der Ratio ihr doppelter Aspekt hervor: Natur zu sein, mit ihr identisch zu sein, und doch nicht, ihr ganz Anderes zu sein, das Moment des sich Entgegensetzens, Aufklärung. 1 7 4 Beide Aspekte sind im Geistbegriff Adornos wesentlich und problematisch: Natur ist Geist als die zur Selbsterhaltung des Subjekts abgeleitete psychische Kraft: "Daß Vernunft ein anderes als Natur und doch ein Moment von dieser sei, ist ihre zu ihrer immanenten Bestimmung gewordene Vorgeschichte. Naturhaft ist sie als die zu Zwecken der Selbsterhaltung abgezweigte psychische Kraft; einmal aber abgespalten und der Natur kontrastiert, wird sie auch zu deren Anderem. Dieser ephemer entragend, ist Vernunft mit Natur identisch und nichtidentisch, dialektisch ihrem eigenen Begriff nach. Je hemmungsloser jedoch die Vernunft in jener Dialektik sich zum absoluten Gegensatz der Natur macht und an diese in sich selbst vergißt, desto mehr regrediert sie, verwilderte Selbsterhaltung, auf Natur; einzig als deren Reflexion wäre Vernunft Übernatur." 175 Der Ratio werden somit schon in der Analyse ihrer geschichtlichen Bedeutung im Mythos zwei Momente zugeschrieben: Ein naturhaftes Moment, des171

Adorno verneint diese Frage über die erkenntnisphilosophische Begründung, vgl. dazu AT 5.2., insbesondere 5.2.4. seines hermetischen Gesellschaftsmodells AT 5.3. 1 7 2 DdA 25. 1 7 3

DdA 16.

1 7 4

N D 285.

1 7 5

N D 285.

58

Allgemeiner Teil

sen ausschließliche Funktion die Selbsterhaltung des sich selbsterhaltenden Subjekts ist. Und ein Moment, das der Natur entgegengesetzt, mit ihr unidentisch ist, das sich als Vernunft weiß. Während dieses der Natur entgegengesetzte andere Element des Denkens, Reflexivität auf sich selbst, aber "auf dem Weg von der Mythologie zur Logistik" 1 7 6 verlorenging, dominierte Adorno zufolge bereits im Mythos die Tautologie der Selbsterhaltung. Weil Denken nämlich überhaupt "im Zuge der Befreiung aus der furchtbaren Natur, die am Ende ganz unterjocht wird" entstand, 177 setzt sich auch gerade in der Ratio das aus der Natur stammende Herrschaftsmoment durch: Denken entwickelt sich mit dem Ziel konsequenter Selbsterhaltung als Zwang zu gesellschaftlicher Herrschaft 178 über die Natur: "Der Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur gebieten. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt ... Technik ist das Wesen dieses Wissens. Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital ... Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt."179 Die Gesetzmäßigkeit, mit der sich Denken aus und gemäß dem Herrschaftsprinzip gerade gegen Natur, der es sich verdankt, entwickelt, ist für Adorno "das Spinozistische sese conservare, die Selbsterhaltung, ist wahrhaft Naturgesetz alles Lebendigen. Es hat die Tautologie von Identität zum Inhalt: sein soll, was ohnehin schon ist, der Wille wendet sich zurück auf den Wollenden, als bloßes Mittel seiner selbst wird er zum Zweck. Diese Wendung ist schon die zum falschen Bewußtsein; ... Der Zweckbegriff zu dem Vernunft um der konsequenten Selbsterhaltung willen sich erhebt, hätte vom Idol des Spiegels sich zu emanzipieren. Zweck wäre, was anders wäre als das Mittel Subjekt. Das jedoch wird von der Selbsterhaltung verdunkelt; sie fixiert die Mittel als Zwecke, die vor keiner Vernunft sich legitimieren." 180 Während das selbstreflexive Moment, Zweckhaftigkeit des Entwicklungsprozesses und Vernunft im Vorgang der Selbsterhaltung verdrängt werden, fin-

1 7 6

DdA 55.

1 7 7

DdA 125.

1 7 8

DdA 205.

1 7 9

DdA 20.

1 8 0

ND 342.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

59

det radikale Beschränkung des Denkens "auf Organisation und Verwaltung" 1 8 1 statt. Geist wird zum Aggregat der "Herrschaft und Selbstbeherrschung, als den ihn die bürgerliche Philosophie seit je verkannte" 182 , aus der Qualität des Geistes als "Anerkennung der Macht als Prinzip aller Beziehung" entsteht "Souveränität übers Dasein, Kommando": "Denken hat als Organ der Herrschaft zwischen Befehl und Gehorsam zu wählen" 1 8 3 So triumphiert die partikulare Rationalität der Selbsterhaltung mit ihren Mitteln des Ordnens und Anpassens, der Abstraktion in ihrem Ziel, "von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen". 184 Zwar anerkennt das erwachende Subjekt im Prozeß der Selbstwerdung, die sich, tückisch genug, zugleich als Selbstverleugnung erweist, 185 die fortexistierende mythische Gewalt in der Unausweichlichkeit ihres mythischen Vorrechts, ihrem Satzungsanspruch; jedoch wird dem "naturbeherrschenden Geiste" trotz listigen Einschmiegens in die Unausweichlichkeit des Schicksals die "Superiorität der Natur im Wettbewerb stets vindiziert". 1 8 6 Denn nur bewußt gehandhabte Anpassung an Natur 1 8 7 bringt diese unter die Gewalt des psychisch Schwächeren - doch ist diese Ratio Mimesis ans Tote. So gerät am Ende "jeder Versuch, den Naturfluch zu brechen, indem Natur gebrochen wird, um so tiefer in den Naturfluch hinein," 1 8 8 und es besteht "Naturverfallenheit..in der Naturbeherrschung, ohne die Geist nicht existiert. Der herrschaftliche Anspruch des Geistes ist es, der den Geist der Natur versklavt." 1 8 9 Auf diese Weise erscheint für Adorno nicht nur Herrschaft "bis ins Denken hinein" als "unversöhnte Natur", 1 9 0 sondern überhaupt das "Wesen der Aufklärung" als "die Alternative, deren Unausweichlichkeit die der Herrschaft ist".191

1 8 1

DdA 53.

1 8 2

DdA 53.

1 8 3

DdA 10.

1 8 4

DdA 19.

1 8 5

Vgl. unten AT 5.1.3.1.2.1.

1 8 6

DdA 75.

1 Q7

"Kraft der Logik entringt sich das Subjekt der Verfallenheit ans Amorphe, Unbeständige und Vieldeutige, indem es der Erfahrung sich selbst, die Identität des sich am Leben erhaltenden Menschen als Form aufprägt." Mk 87. 1 8 8 DdA 29. 1 8 9

DdA 39.

1 9 0

DdA 58.

191

DdA 49.

60

Allgemeiner Teil

Das Prinzip der Natur, Herrschaft als Kontinuum in der Folge von Vergängnis und Selbsterhaltung, übertrug sich nicht nur in den Mythos, sondern in die Aufklärung und den Begriff ihrer Rationalität. Das Allgemeine der Natur setzt sich fort als Allgemeines von Geist und Aufklärung.

5.1.2.3.4.

Mythos als Zusammenhang von Natur und Gesellschaft: Dialektik von Natur und Arbeit: Einheit von Philosophie und Arbeitsteilung unter dem Gesichtspunkt selbsterhaltender Herrschaft

Setzt sich im Begriff der Vernunft sowie im Mythos das Allgemeine der Natur, insbesondere Herrschaft fort, ist dies aber nicht nur Ausdruck der Verdoppelung von Natur, vielmehr erscheint darin auch gerade ein Moment des Gesellschaftlichen. Die "Mythen, die der Aufklärung zum Opfer fallen, waren selbst schon deren eigenes Produkt." Sie "stehen schon im Zeichen jener Disziplin und Macht, die Bacon als das Ziel verherrlicht. An die Stelle der lokalen Geister ... war der Himmel und seine Hierarchie getreten, an die Stelle der Beschwörungspraktiken des Zauberers und Stammes das wohl abgestufte Opfer und die durch Befehl vermittelte Arbeit von Unfreien. " 192 Das Gemeinsame aber, das nicht nur Mythos und Aufklärung auf eine Stufe stellt und miteinander verbindet, sondern auch den Begriff des Gesellschaftlichen für Adorno bestimmt, ist wiederum das aus Natur stammende Selbsterhaltungsinteresse des aufklärerischen Subjekts. Wie das Selbsterhaltungsinteresse bereits den Mythos als Aufklärung erweist, zwingt es andererseits auch der den Mythos ablösenden Aufklärung die Herrschaft der partikularen Rationalität auf und bewirkt die Einheit von sozialer und philosophischer Bedeutung in Mythos und Aufklärung. Durchgeführt wird die Einheit von Sozial- und Erkenntnisphilosophie, wie sie Adorno seit der Entwicklung der Idee der Naturgeschichte vorschwebte, als Dialektik von Natur und Arbeit in der Darstellung und Interpretation, die das Sirenenabenteuer Homers bei Adorno erfährt. Die Maßnahmen auf dem Schiff des Odysseus sind die "ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung" 1 9 3 , die sich zugleich als Negation des Hegelschen Typus der Dialektik von Herr und Knecht erweist. Es treffen in dieser Szene idealtypisch die Probleme aufeinander, die bis hierher angesprochen wa1 9 2

DdA 24.

1 9 3

DdA 52.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

61

ren: Natur als Bedrohung, Mythos als deren Wiederholung, Zuordnung, aber auch Bindung der zugewiesenen Macht zu den mythischen Gewalten; Anerkennung dieser Gewalt und doch Kampf gegen sie, Funktion subjektiver Rationalität als Abwehr sowohl als auch Errichtung von Herrschaft unter dem Gesichtspunkt der Selbsterhaltung: Aufklärung als Übertragung des Herrschaftsmomentes aus der Natur in die Sphäre des Geistes und die der Gesellschaft. Andererseits findet in diesem Bild die entscheidende interpretative Umdeutung der Aufklärung als genuin gesellschaftlicher Vorgang statt. Herrschaft in Mythos und Philosophie wird im Zeichen von Selbsterhaltung gerade gesellschaftlich begründet. "Die Angst, das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben, die Scheu vor Tod und Destruktion ist einem Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblick die Zivilisation bedroht war. Ihr Weg war der von Gehorsam und Arbeit, über dem Erfüllung immerwährend bloß als Schein, als entmachtete Schönheit leuchtet. Der Gedanke des Odysseus, gleich feind dem eigenen Tod und eigenem Glück, weiß darum. Er kennt nur zwei Möglichkeiten des Entrinnens. Die eine schreibt er den Gefährten vor. Er verstopft ihnen die Ohren mit Wachs, und sie müssen nach Leibeskräften rudern. Wer bestehen will, darf nicht auf die Lockung des Unwiederbringlichen hören, und er vermag es nur, indem er sie nicht zu hören vermag. Dafür hat die Gesellschaft stets gesorgt. Frisch und konzentriert müssen die Arbeitenden nach vorwärts blicken und liegen lassen, was zur Seite liegt. Den Trieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie in zusätzliche Anstrengung sublimieren. So werden sie praktisch. Die andere Möglichkeit wählt Odysseus selber, der Grundherr, der die anderen für sich arbeiten läßt. Er hört, aber ohnmächtig an den Mast gebunden, und je größer die Lockung wird, um so stärker läßt er sich fesseln, so wie nachmals die Bürger auch sich selber das Glück um so hartnäckiger verweigerten, je näher es ihnen mit dem Anwachsen der eigenen Macht rückte. Das Gehörte bleibt für ihn folgenlos, nur mit dem Haupt vermag er zu winken, ihn loszubinden, aber es ist zu spät, die Gefährten selbst wissen nur von der Gefahr des Lieds, nicht von seiner Schönheit, und lassen ihn am Mast, um ihn und sich zu retten. Sie reproduzieren das Leben des Unterdrückers in eins mit dem eigenen, und jener vermag nicht mehr aus seiner gesellschaftlichen Rolle herauszutreten. Die Bande, mit denen er sich unwiderruflich an die Praxis gefesselt hat, halten zugleich die Sirenen aus der Praxis fern . . . " 1 9 4 In der Interpretation Adornos handelt es sich bei der Vorbeifahrt Odysseus' an den Sirenen um den für die Entstehung des bürgerlichen Subjekts und der bürgerlichen Gesellschaft prototypischen Vorgang der Selbsterhaltung gegen

62

Allgemeiner Teil

die allgemeine Herrschaft der Natur. Selbsterhaltung vollzieht sich dabei zunächst als Kampf des Partikularen gegen das Allgemeine. 195 Aufklärung erweist sich jedoch als geistige und gesellschaftliche Fortsetzung und Gestaltung von Herrschaft und begründet erkenntnisphilosophisch die Prämisse der Vorgängigkeit und Totalität von Herrschaft und Gesellschaft vor allem Denken: Als Verschränkung und undurchdringliche Einheit. Wenn auch das Sirenenbild für Adorno das Grundbild seiner Interpretation der Odyssee als Urtext der europäischen Zivilisation darstellt, wird es doch erst mit den anderen Szenen zusammen, der Polyphemszene, dem Kirkeerlebnis etc. zum prototypischen Selbsterhaltungsprozeß des Subjekts als Dialektik von Natur und Aufklärung. Es kommt Adorno in der Interpretation der homerischen Stelle nicht nur darauf an zu zeigen, daß das in der Natur liegende Allgemeine - Vergängnis in Herrschaft - im Mythos, welcher Natur und Aufklärung in Einem ist, sich auch als Allgemeines durchsetzt. Während dies ja für den Aspekt des Vergängnis schon aus dem Naturbegriff der abstrakten Idee der Naturgeschichte notwendig auch in ihrer konkreten Ausfaltung der Dialektik der Aufklärung folgen muß, da sich der Inhalt dieses Naturbegriffes als seine Geschichtlichkeit erweist, 196 gibt Adorno in der Allegorie der arbeitsteiligen Vorbeifahrergemeinschaft die geschichtsphilosophische Antwort auf die oben gestellte Frage, ob sich in der konkreten Entfaltung der Idee der Naturgeschichte Herrschaft als Allgemeines der Natur auch als Allgemeines gerade der Gesellschaft und ihrer Philosophie durchsetzt. In der Übertragung des Herrschaftsaspektes aus der Natur in den Mythos, wie sie oben bereits als Kennzeichen der mythischen Figuren, ihrer Beziehungen zu den Opfern und vor allem der allen menschlichen Verhältnissen zugrundeliegenden mythischen Verfallenheit gegenüber dem urgeschichtlichen Urteilsspruch, gezeigt worden war, lag Wiederholung, Verdoppelung von Natur. Indem der Mythos jedoch auch Aufklärung bedeutet und sein idealtypischer Held den abendländischen Prozeß der Entstehung rationaler Subjektivität gegen Naturgewalt und irrationale Herrschaft ontogenetisch durchläuft, hat mit solchem Beginn der Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Selbst zugleich auch die Geschichte der Vernunft und der vernünftigen Gesellschaft beginnen können.

1 9 5

Vgl. DdA 75.

1 9 6

Vgl. oben AT 4.1.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

63

Die Dialektik der Aufklärung führt nach Adorno aber gerade nicht zu diesem Ergebnis, da sich in ihrem Prozeß das Ziel der Selbsterhaltung verselbständigt, während sich ihre Mittel, selbsterhaltende Vernunft als Partikulares und Arbeitsteilung als gesellschaftliche Herrschaft allgemein durchsetzen: Eine doppelte Beziehung wird durch die Not des Subjekts im Entstehen 197 und Gebrauch seiner subjektiven Rationalität, die hier wie auch in allen anderen Beispielen ausschließlich auf Selbsterhaltung gerichtet und dadurch immer doch der Natur verbunden, ja verfallen bleibt, vermittelt. Einerseits ist es der Gebrauch dieser subjektiven Rationalität der Selbsterhaltung in seinem Moment als Aufklärung. Andererseits ist es dieser Gebrauch in seiner notwendigen konstruktiven Überleitung von Naturherrschaft zu gesellschaftlicher Herrschaft in Arbeitsteilung. Beide Momente fallen jedoch nur in der Analyse gedanklich auseinander. 198 Die Interpretation Adornos zeigt sie gerade als mehrschichtig miteinander verbunden. In der Vorbeifahrt Odysseus' vermittelt sich Aufklärung für Adorno nämlich gerade durch gesellschaftliche Herrschaft und gesellschaftliche Herrschaft gerade durch die subjektive Ratio, deren Aufklärungsinteresse sich in Selbsterhaltung erschöpft. Denn die aufklärerische Naturerfahrung, die sich Odysseus um den Preis der Selbstfesselung und Regression 199 als Hörspiel nicht entgehen lassen will, läßt schon in der Bedingung, die ihr Genuß stellt, das reine "erkenntnisphilosophische haben" Hegels 2 0 0 , die Synthesis von Subjekt und Natur, nicht zu, sondern zwingt das Subjekt zu den sozialen Herrschaftsmaßnahmen, die sichern sollen, daß es als der Natur Verfallenes ihr nicht verfällt, 2 0 1 während die Knechte des Schauspiels, "das Leben des Unterdrückers in eins mit dem eigenen" setzend, 202 um ihres und des Unterdrückers Leben rudern. In der rudernden Vorbeifahrergemeinschaft, in der der Kampf ums Überleben, der von allen Unterdrückten auch für ihre Herrscher gekämpft wird, sich längst gegen das glückversprechend mimetische Naturerlebnis verselbstän197 "Denken entstand im Zuge der Befreiung aus der furchtbaren Natur" DdA 125.; Vernunft ist deshalb auch mit Natur als "naturhaft ... zu Zwecken der Selbsterhaltung abgezweigte psychische Kraft" identisch, aber ihr "ephemer entragend" auch deren anderes, nichtidentisch, vgl. ND 285. 1 QQ Vgl. DdA 61, 63 dort zeigt sich, daß dies bei Adorno identisch ist. 1 9 9 DdA 52. 200 "der Herr aber, der den Knecht zwischen es und sich eingeschoben, schließt sich dadurch nur mit der Unselbständigkeit des Dinges zusammen und genießt es rein; die Seite der Selbständigkeit aber überläßt er dem Knechte, der es bearbeitet." Hegel Phänomenologie des Geistes. S. 151 THWS, BD 3, Zitat bei Adorno, DdA 52. 2 0 1 DdA 78. 2 0 2

DdA 51.

64

Allgemeiner Teil

digte, 2 0 3 das an Stelle der Utopie, der Versöhnung von Subjekt mit Natur, 2 0 4 zum bürgerlichen Kunstgenuß verblaßte, 205 geht es der Aufklärung nur noch ums "sese conservare" 206 , es gibt kein Ziel mehr, das nicht davon gefesselt wäre. In dem Bild dieser prototypischen Gesellschaft triumphiert der an Selbsterhaltung orientierte schlaue Anspruch des Subjekts, durch Ratio eher sich, die Natur und die Menschen zu beherrschen, als der Verfallenheit an Natur sich anheimzugeben, über jedes andere Motiv des Seefahrers Odysseus. Indem dieser bereits das Prinzip bürgerlicher Aufklärung und ihrer Gesellschaft vertritt, 207 zeigt sich die Stellung des Selbsterhaltungsgedankens bei Adorno überhaupt. Selbsterhaltung verbindet genetisch historisches Verhalten, das etwas ändern möchte, mit Natur, dem Mythos; denn es stammt als natürliches Motiv aus Natur. Darin ist es allgemein. Indem es gegen Naturherrschaft opponiert, stellt es sich als Partikulares gegen das Allgemeine, beschreibt das Prinzip der Ausnahme im Ganzen. 208 Selbsterhaltung bildet als Moment von Natur das einzige 2 0 9 wirklich verfolgte Ziel des sich aus dem chaotischen und diffus bedrohenden Naturzusammenhang herausbildenden Subjekts 210 und des Aufklärungsprozesses 211, aus dem sich die bürgerliche Gesellschaft entwickelt. 21 2 Da Selbsterhaltung aber wie auch alle ihr folgende Aufklärung 2 1 3 aus der Angst vor Naturherrschaft stammt, der Angst, das Selbst zu verlieren, die Grenze zwischen sich und anderem Leben, vor Tod und Destruktion, 214 wird jegliches historisch gesellschaftliche Verhalten dieser Angst unterworfen, in der zugleich die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen immer bestehen bleibt. 215 Unter der Vormacht dieses einzigen Zweckes setzt sich somit Natur bei jeglicher Bemühung des sich selbsterhaltenden Subjekts sowie der Gesell2 0 3

DdA 53/54.

2 0 4

DdA 110.

2 0 5

DdA 51/52.

2 0 6

ND 342.

2 0 7

Vgl. DdA 54, 64, 65, 66, 72, 73, vgl. a. N D 336.

2 0 8

Vgl. DdA 77.

2 0 9

DdA 48/49.

2 1 0

Vgl. DdA 63 64.

2 1 1

Vgl. DdA 47, 101/102,109/110.

2 1 2

DdA 106, 80.

2 1 3

DdA 32.

2 1 4

DdA 51.

2 1 5

Vgl. DdA 49, 51, 53, 75, 76/77/78, 86.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

65

schaft, die daraus entsteht, in zweifacher Hinsicht fort: Einerseits als defensives Moment der ungebrochenen Anerkennung von Macht (Herrschaft) als des Allgemeinen der Natur, des Mythos, der sich bildenden Gesellschaft, und andererseits als konstruktiv aktives Prinzip der Gestaltung aller Gesellschaft und aus ihr stammenden Philosophie 216 unter dem Gesichtspunkt der Herrschaft, mit der das Selbst sich erhalten will. 211 Während das erste Moment oben bereits als Verdoppelung von Natur im Mythos beschrieben wurde - es gilt überhaupt auch unmittelbar für Gesellschaft - ist das konstruktiv aktive Moment, in dem sich Herrschaft als allgemeines Gestaltungsprinzip von Aufklärung und Philosophie durchsetzt, für die Philosophie Adornos ungleich wichtiger: Als Folge der Selbsterhaltung realisiert sich die selbsterhaltende Rationalität des Subjekts im Kreislauf mythischer Naturverfallenheit 218 gegen Naturherrschaft und Verfallenheit an Natur als gesellschaftliche Herrschaft unter dem Aspekt unausweichlicher 219 Arbeitsteilung. Im Vergleich zur Hegeischen Dialektik von Herr und Knecht findet für Adorno durch den im Bild ausgedrückten Antagonismus, in dem die Natur als das ganz Andere dem Subjekt entgegengesetzt wird (Subjekt-Objekt-Problem), eine diese Entgegensetzung aufhebende Synthesisleistung durch gesellschaftliche A r b e i t 2 2 0 nicht statt. Der Grund dafür besteht darin, daß der Grundgegensatz zwischen Subjekt und Natur sich in der Form instrumenteller subjektiver Rationalität, dem Allgemeinen, das wie die Natur sich durch Herrschaftlichkeit auszeichnet, und Natur im Menschen und außerhalb des Menschen nun auch sozial beherrscht, 221 fortsetzt: "Wenn aber der nomadische Wilde ... auch an dem Zauber ... noch teilnahm ...so ist in späteren Perioden der Verkehr mit Geistern und die Unterwerfung auf verschiedene Klassen der Menschheit verteilt: die Macht ist auf der einen, 2 1 6

DdA 58,102.

2 1 7

DdA 49, 53, 55-58 66,71,72/73, 106.

218

"Unter dem Zwang der Herrschaft hat die menschliche Arbeit seit je vom Mythos hinweggeführt, in dessen Bannkreis sie unter der HeiTschaft stets wieder geriet." DdA 49. 2 1 9 Vgl. DdA 37 f. 49 f. 220 Vgl. zu dieser Hegeischen Problemlösung Phänomenologie, THWS, Bd. 3, "durch die Arbeit" kommt das Bewußtsein "zu sich selbst" und S. 154, "das arbeitende Bewußtsein kommt also hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seins als seiner selbst"; zur Rolle der Arbeit beim Übergang zum allgemeinen Selbstbewußtsein durch den Knecht vgl. Enzyklopädie der Wissenschaften, THWS, Bd. 10, S. 224; vgl. zur Arbeit als Geschäft der Weltgeschichte Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, THWS, Bd. 12, S. 40. 221 "Das Wesen der Aufklärung ist die Alternative, deren Unausweichlichkeit die der Herrschaft ist. Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer Unterwerfung unter Natur oder der Natur unter das Selbst." DdA 49. 5 M. Becker

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der Gehorsam auf der anderen Seite. Die wiederkehrenden, ewig gleichen Naturprozesse werden den Unterworfenen ... als Rhythmus der Arbeit nach dem Takt von Keule und Prügelstock eingebleut, der in jeder barbarischen Trommel, jedem monotonen Ritual widerhallt. Die Symbole nehmen den Ausdruck des Fetischs an. Die Wiederholung der Natur, die sie bedeuten, erweist im Fortgang stets sich als die von ihnen repräsentierte Permanenz des gesellschaftlichen Zwangs." 2 2 2 Die Entstehung des Gesellschaftlichen, Herrschaft in der Form des Arbeitszwangs, wird aus dem Teil der Vernunft erklärt, der, da ausschließlich an Selbsterhaltung orientiert, immer Natur blieb und niemals Freiheit wurde. Andererseits gründet aber gerade die logische Ordnung, die Philosophie als das Allgemeine, die Vernunft in der Wirklichkeit, in eben jener Einheit von Gesellschaft und Herrschaft, die durch die Not zur Selbsterhaltung als bloßes Produkt partikularer Rationalität sich immer schon 2 2 3 bildete, seit Aufklärung den Anspruch auf Herrschaft gegen Naturverfallenheit erstmals anmeldete: "Wie die ersten Kategorien den organisierten Stamm und seine Macht über den Einzelnen repräsentieren, gründet die gesamte logische Ordnung, Abhängigkeit, Verkettung, Umgreifen und Zusammenschluß der Begriffe in den entsprechenden Verhältnissen der sozialen Wirklichkeit, der Arbeitsteilung. Nur freilich ist dieser gesellschaftliche Charakter der Denkformen nicht, wie Durkheim lehrt, Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität, sondern Zeugnis der undurchdringlichen Einheit von Gesellschaft und Herrschaft. Herrschaft verleiht dem gesellschaftlichen Ganzen, in welchem sie sich festsetzt, erhöhte Konsistenz und Kraft ... Die Arbeitsteilung, zu der sich die Herrschaft gesellschaftlich entfaltet, dient dem beherrschten Ganzen zur Selbsterhaltung. Damit aber wird notwendig das Ganze als Ganzes, die Betätigung der ihm immanenten Vernunft, zur Vollstreckung des Partikularen. Die Herrschaft tritt dem Einzelnen als das Allgemeine gegenüber, als die Vernunft in der Wirklichkeit... Was allen durch die Wenigen geschieht, vollzieht sich stets als Überwältigung einzelner durch V i e l e . " 2 2 4 Adornos Philosophie umschreibt somit eine ganz besondere Paradoxie: Einerseits entsteht das Gesellschaftliche aus der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung. Andererseits findet aber gerade die Zurichtung dieser Vernunft

2 2 2

223 meinem. 224

DdA 37/38. Dies ist die bei Adorno gängige Formulierung des Vorgängigkeitsgedankens als Allge-

DdA 38.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

67

aus eben jener totalen Gesellschaft der zwanghaften Selbsterhaltung statt, die sich aus Gründen der Realisation der solchermaßen reduzierten Vernunft nur noch als Einheit von Gesellschaft und Herrschaft darstellt. Die Folge ist, daß dann auch diese Philosophie als Allgemeines nichts mehr als das Partikulare vertreten kann: Den an Selbsterhaltung orientierten schlauen Anspruch des Subjekts, durch Ratio eher sich, die Natur und die Menschen zu beherrschen, als der Verfallenheit an Natur sich anheimzugeben. Dann repräsentiert Philosophie eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die sich immer noch als Natur erweist, da sie das Kriterium beinhaltet, das der Natur eignet, Vergängnis in Herrschaft zu sein. Dann ist diese Philosophie Ergebnis zugleich als auch Produzent dieser Gesellschaftsformen, die sie partikular rational errichtet, um sie als das Allgemeine der Partikularität, den zum System gewordenen Gedanken der Selbsterhaltung, gegenüber dem Subjekt, aus dem sie sich gründet, zu vertreten. Weil im fortschreitenden Prozeß der Aufklärung aber das Instrumentarium der Selbsterhaltung, subjektiv partikulare Rationalität sich als System gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Aufklärungsphilosophie weiter durchsetzt, reproduziert sich mit der Herrschaft auch Natur, aus der sie ursprünglich stammt, in um so zwanghafterer Weise. Denn dadurch wird nur der Kreislauf perpetuiert, der von der Natur durch Arbeit, aus dem Mythos durch Aufklärung fortwill, um um so sicherer der Herrschaft, Natur, dem Zirkel mythischer Wiederholung von Herrschaft zu verfallen. Aufklärung führt zu einer Gesellschaft, die doch Natur bleibt, auch immer dort, wo sie gegen diesen Charakter wirklich Gesellschaft werden will. Denn selbst Natur, setzt sie nur Kräfte frei, die die Summe partikularer Selbsterhaltung sind. Mit dem Sirenenbild begründet Adorno seinen geschichts- und erkenntnisphilosophischen Zirkel, das Sozialphilosophie und Erkenntnisphilosophie vermittelnde Vorgängigkeitstheorem. Während es einen Zirkel der Naturverfallenheit von Geist und Gesellschaft beschreibt, setzt es diesen Zirkel fort. Die Philosophie Adornos wird mythisch. In der Totalität einer aus Herrschaft entstandenen Gesellschaft endet letztlich alles wiederum in Herrschaft. Der in der Hegelschen Herr-Knecht- Dialektik angelegte Antagonismus von Herr und Knecht ist ersetzt durch den Antagonismus von Subjekt und Natur. Sowohl der Knechte als auch des Herren Leben wird dabei zwar gerettet. Denn dem Untergang entzieht sich das Schiff durch Ruderkraft. Aber indem sich das Allgemeine der Natur, Herrschaft, in der Unterdrückung des Selbst, der eigenen Natur und des Lebens der Knechte systematisch und rational zwar, aber bereits verselbständigt fortsetzt, verfällt die Rudergemeinschaft, ihr Leben bewahrend, der Natur, der sie nie entkam. Das Subjekt wird, wie auch in den anderen Szenen der Odyssee gerade nicht zum Subjekt. 225 Ihm bleibt die Aner-

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kennung als Schub seines sittlichen Selbstbewußtseins verwehrt, die bei Hegel i h m 2 2 6 zuteil wurde. Während die Knechte unterjocht werden und weder an der Erkenntnis noch an ihrer Voraussetzung, Freiheit, teilnehmen können, verfällt der Herr in eine Regression, die ihm die Sinne raubt, während er aus der verändernden Praxis ferngehalten wird. So ist die sich noch bei Hegel findende Utopie herrschaftsfreier Arbeit, die dort durch die Emanzipation sich verwirklichende gegenseitige Anerkennung der Bürgerknechte als Eigentümer ermöglicht w i r d 2 2 7 , im Fluch von Naturunterdrückung und damit notwendig gesetzter Herrschaft eingefangen. Weil im Vergleich zur Marxschen Lösung des Problèmes von den der antithetischen Grundsituation zugrundeliegenden Produktionsverhältnissen 228 abstrahiert w i r d , 2 2 9 muß Adorno auch auf die in diesem Modell philosophisch angelegte Aufhebung des Gegensatzes - durch historische Veränderung der Produktionsverhältnisse - absehen. Ihm bleibt als Lösungsmöglichkeit einzig kritische Theorie als Philosophie, die sich als Übernatur zu erweisen hat, indem sie die Einheit von Herrschaft und Gesellschaft reflektiert, um dadurch wahre Praxis - die Aufhebung dieser Einheit in Philosophie und Wirklichkeit - zu ermöglichen.

225 Im Mythos ist das sich selbsterhaltende Subjekt seinem Leben und Glück gleich fremd wie seinem Tod, da der Genuß des Sirenenglückes genauso wie der Tod durch Selbstherrschaft gebannt wird. Das Subjekt tritt bereits als Repräsentant der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung auf: Diese ist das Allgemeine, das durch das Subjekt nur vertreten wird. Dies zeigt Adorno an der Figur von Robinson. Im späteren Prozeß der Aufklärung bildet sich als Subjekt der Selbsterhaltung die Gesellschaft als ganzes, System und intelligibles Subjekt heraus. 2 2 6 Vgl. Hegel, Enzyklopädie der Wissenschaften, § 435, THWS, Bd. 10, S. 224 f. 227 Vgl. zur Anerkennung als Moment des Vertrages bei der Eigentumsübertragung, § 72 und Zusatz Rechtsphilosophie, THWS, Bd. 7, S. 155; zum Eigentumserwerb durch Formierung, a.a.O., § 56 und Zusatz S. 121/122; zur Anerkennung zwischen Herr und Knecht als Moment der sich als frei selbstbewußten Person, a.a.O., § 57, S. 122-124; zum Kampf um Anerkennung im Sinne "relativer Identität der entgegengesetzten Bestimmtheiten" (S. 484) in der Sphäre relativer Sittlichkeit, der "unorganischen Natur des Sittlichen" (S. 485), der bürgerlichen Gesellschaft, als "Aufführung der Tragödie des Sittlichen" S. 495 Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, THWS, Bd. 2; zur Herr/Knecht Dialektik als "Beginnen der Staaten" in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, §§ 430 ff., insbesondere § 433, THWS, Bd. 10, S. 219/226. 228 Vgl. z.B. Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Drittes Manuskript, Privateigentum und Arbeit, Privateigentum und Kommunismus, Karl Marx, Friedrich Engels Studienausgabe 1990, BD II, 229S. 92 ff. Dies wirft, der Marxschen Kritik an Hegel weiterhin verhaftet, Köhler Adorno vor: Dieser habe, indem er auf die historische Formanalyse der Eigentumsverhältnisse verzichtet habe, die historisch-dialektische Aufhebungsmöglichkeit des Grundwiderspruchs von Subjekt und Objekt sowie Mensch und Natur verfehlt. Vgl. Köhler 1974, S. 223 ff. Die Kritik mißversteht jedoch gerade den philosophischen Standpunkt Adornos, dessen Angriffsziel die Identitätsphilosophie jeglicher, auch der marxistischen Spielart ist.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

69

Adorno betrachtet das sich selbsterhaltende Subjekt Odysseus ausschießlich unter dem Vorzeichen, unter dem es, mit Natur ringend, Gesellschaft schafft: Als Verkörperung des Prinzips, das später überhaupt Gesellschaft bestimmen sollte. So ist Odysseus bloß Repräsentant des Individuationsprinzips des Gesellschaftlichen als Allgemeines des Partikularen. Während er sich im Versuch, Subjekt zu werden, an die Rollenverteilung der Gesellschaft, welche seine Ratio erst schuf, unlösbar gebunden hat, ist diese bereits im mythischen Bild System geworden. Dieweil die Ruderer rudern, verwirklicht die Rationalität der Selbsterhaltung ungebunden an den Willen des Herrn schlau dessen Herrschaft und sich selbst: Gesellschaft, das sich andeutende Subjekt der Selbsterhaltung. 230 Nur indem das Subjekt die partikulare Rationalität der Selbsterhaltung zum allgemeinen Prinzip macht, ohne selbst frei- also Subjekt zu werden, überträgt sich die - in Adornos Philosophie zentrale erkenntnisphilosophische Prämisse einer vorgängigen Herrschaftsgegebenheit Natur als Vorgängigkeitssituation von Natur und Mythos in undurchdringbarer Einheit von Herrschaft und Gesellschaft auf die Gesellschaft, die das Allgemeine der Natur als Zweite Natur einrichtet. Dies bedeutet, daß die Vorgängigkeit des Allgemeinen erhalten bleibt und sich gesellschaftlich fortsetzt. Dies ist die geschichtsphilosophische Erklärung der erkenntnisphilosophischen Prämisse der Vorgeordnetheit von Gesellschaft als sich verselbständigendem System der Selbsterhaltung. Das Subjekt wurde nie Subjekt, weil die Gesellschaft immer Natur blieb. Das Modell hat damit die entscheidende Prämisse, daß die nur dem Zweck der Selbsterhaltung dienende Ratio als Natur dieser entstammt. Die Grenze der geschichtsphilosophischen Entstehungsgeschichte der Ratio als Natur ist zugleich die Grenze des erkenntnisphilosophischen Vorgängigkeits- also Vermittlungstheorems. Konkret handelt es sich um das Problem, daß einerseits Subjekte die partikulare Rationalität der Selbsterhaltung vermitteln, andererseits ihre partikulare Rationalität durch das Subjekt der Selbsterhaltung, der Gesellschaft, objektiv bestimmt ist. Das Verhältnis von Objektivität und Subjektivität hat sich dadurch umgedreht: Die Subjekte werden zu Objekten, das System, dem die Natur als ganz Anderes entgegengesetzt bleibt, zum Subjekt.231

2 3 0

Vgl. AT 5.2.4.4.

2 3 1

Vgl. hierzu Tichy 1977, S. 27, vgl. unten AT 5.1.3.1., insbesondere 5.1.3.1.2.

70

Allgemeiner Teil

Diese, der gesamten Philosophie Adornos zugrunde liegende geschichtsphilosophische Hinleitung der erkenntnisphilosophischen Grundannahme erfolgt indes mit Hilfe eines weiteren wesentlichen Erklärungsmomentes: Sie funktioniert nämlich nur dann und genau deshalb, weil sich einerseits das gesellschaftliche Konstitutionsprinzip schon immer (Naturvorgängigkeit) vollständig im Subjekt realisierte und andererseits umgekehrt nun als losgelassene Naturherrschaft der verselbständigten partikularen Rationalität der Selbsterhaltung die Subjekte bestimmt. Also wird einerseits die Gesellschaft durch die Subjekte und andererseits diese vollständig von der Gesellschaft bestimmt. 232

5.1.3. Das Entstehen der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung als Struktur und ihre Übertragung auf die Gesellschaft In diesem Abschnitt soll den Fragen nachgegangen werden, warum sich in der arbeitsteiligen Gesellschaft gerade die Partikularität der Selbsterhaltung als Allgemeines realisiert und warum gerade die aufklärerische Rationalität des isolierten Subjekts Herrschaft als Allgemeines der Gesellschaft reproduziert.

5.1.3.1. Entstehung partikularer Rationalität der Selbsterhaltung 5.1.3.1.1. Partikularität

der Selbsterhaltung bei Odysseus

Auf der Stufe von Natur und Mythos war der Zyklus von Werden und Vergehen, Fressen und Gefressenwerden, der durch die Gesetzmäßigkeit von Vergängnis und Selbsterhaltung bestimmt wird, als das unwidersprochen und unbewußt Allgemeine der Natur überhaupt gekennzeichnet worden. Drohende Vergängnis als Fluch, Vollstreckung des Urteilsspruches und damit Selbsterhaltung, Verfallenheit an die der Vollstreckung anhängende Konsequenz und Wiederholung des unausweichlichen Kreislaufes von Vergeltung und Schicksal 233 werden von den mythischen Figuren gesetzmäßig, nach dem allgemeinem Maß von Stärke und Herrschaft durchlaufen. 234 Auch die mächtigsten mythischen Gestalten unterliegen, weil sich in ihnen Natur und Herrschaft als zwanghaftes Rollenspiel wiederholt, unbewußt und

232 Dies ist bereits der entscheidende Aspekt des unten AT 5.2.4. gegen Hegel präzisierten Vermittlungsbegriffs. 2 3 3 DdA 28, 77. 2 3 4

DdA 76, 77.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

71

unausweichlich dem allgemeinen Prinzip. 2 3 5 Die Stärke, die den mythischen Figuren anhaftet, steht in einfachem Verhältnis zur Akzeptanz der Rolle, die der urgeschichtliche Urteilsspruch ihnen zuweist. Aber während diese Akzeptanz, die sowohl bei den mythischen Gestalten als auch bei den Unterworfenen 236 durch Herrschaft sich herstellt, unhinterfragt und unbewußt bleibt, da das Schicksal ihnen nicht die Freiheit, sondern die Not zur Selbstbehauptung zuweist, 237 das allgemeine Prinzip sich also unmittelbar selbständig reproduziert, tritt mit der listig bewußten und trotzigen Selbstbehauptung des Odysseus das Subjekt dem allgemeinen Naturgesetz als isoliertes, als besonderes gegenüber. 238 Anerkennung und Nichtanerkennung von Naturherrschaft, Selbsterhaltung und Selbstverleugnung, Ratio und Irrationalität seiner Selbsterhaltung werden dabei als Momente einer Entwicklung wirksam, in der der Trotz des Subjekts gegen das Allgemeine zugleich zu seiner partikularen, isoliert rationalen Selbsterhaltung und der umso blinderen Vormacht des durch diese Partikularität vermittelten Allgemeinen führt. 2 3 9 Bildet jedoch die Selbsterhaltung - im Zusammenhang mit Vergängnis und Herrschaft - das allgemeine Naturgesetz, dem sich jegliches Leben fügt, und entsteht jene Rationalität der Aufklärung, deren ausschließlich instrumenteile Rationalität von Adorno immer wieder betont w i r d , 2 4 0 ausschließlich als Folge der Selbsterhaltungsanstrengungen des Subjekts, erfüllt zudem gerade die Ratio den Begriff des Allgemeinen in der Sphäre des Geistes, 241 so gerät die Begründung der von Adorno immer wiederholten Partikularität der Ratio der Aufklärung allerdings zum Problem. Denn setzte Odysseus Ratio als Struktur des geistig Allgemeinen zu nichts weiterem ein, als zur Erfüllung des ihm ohnehin aufgegebenen allgemeinen Naturgebotes - in der Bedrohung durch Vergängnis sich zu erhalten - erwiese 2 3 5

λι/:

Vgl. DdA 76, 77.

Die Stärkeren haben "einen Anspruch auf das, was ihnen zwischen die Zähne kommt", der Schwächere verliert und erfüllt dadurch Vertrag und mythischen Urteilsspruch, DdA 77. 2 3 7 DdA 76, 77. 2 3 8

239

DdA 64 ff.

So z.B. nur DdA 44, "Je mehr die Denkmaschinerie das Seiende sich unterwirft, um so blinder bescheidet sie sich bei dessen Reproduktion." 2 4 0 "Wo die Entwicklung der Maschine in die Herrschaftsmaschinerie schon umgeschlagen ist, so daß technische und gesellschaftliche Tendenz, von je verflochten, in der totalen Erfassung der Menschen konvergieren ..." DdA 53; "In der Beschränkung des Denkens auf Organisation und Verwaltung,... ist die Beschränktheit mitgesetzt, welche die Großen befällt.... Der Geist wird in der Tat zum Apparat der Herrschaft und Selbstbeherrschung, als den ihn die bürgerliche Philosophie seit je verkannte." DdA 53. 2 4 1

ND 310.

72

Allgemeiner Teil

sich seine Rationalität als die bloße Fortsetzung des ohnehin schon bestehenden allgemeinen Gesetzes der Natur. Warum die durch Odysseus prototypisch realisierte und bis heute herrschende Rationalität der Aufklärung, die sich als allgemeine gesellschaftlich durchsetze, gerade partikular sei und sich deshalb gerade als partikulare allgemein realisiere, ist deshalb genauer zu untersuchen. Das Besondere an Odysseus ist zunächst nicht, daß er auch sich selbst erhalten will. Besonders werden seine Selbsterhaltungsbemühungen nach Adorno durch zwei miteinander zusammenhängende Aspekte: 1. Odysseus ist als immer wieder physisch Schwächerer, 242 also im Grunde vor dem allgemeinen Naturgesetz bereits Gescheiterter, den mythischen Gewalten nach Natur und Urteilsspruch hoffnungslos und satzungsgemäß - also auch rechtmäßig - ausgeliefert, sein Schicksal in die Hände der jeweils Stärkeren gelegt. 2 4 3 Er kann seine Selbsterhaltung somit nur gegen die ihm von Natur und Schicksal zugewiesene Bestimmung erlangen. Seine Selbsterhaltung nimmt deshalb notwendig die Form der Ausnahme von der Regel an, die doch nur die Regel bestätigt: "Im Mythos gilt jedes Moment des Kreislaufs das voraufgehende ab und hilft damit, den Schuldzusammenhang als Gesetz zu installieren. Dem tritt Odyssus entgegen. Das Selbst repräsentiert rationale Allgemeinheit wider die Unausweichlichkeit des Schicksals. Weil er aber Allgemeines und Unausweichliches ineinander verschränkt vorfindet, nimmt seine Rationalität notwendig beschränkende Form an, die der Ausnahme." 244 2. Da er stets physisch unterlegen ist, bemüht er die Ratio in der Form der List gegen die ihn bedrohende mythische Gewalt. 2 4 5 Wesentlicher Aspekt dieser List ist der Betrug der mythischen Naturgewalt. Darin zeigt sich das Mal der Partikularität 246 durch notwendig 247 bewußte Anpassung an die Natur bzw. 242 "Die Irrfahrt von Troja nach Ithaka ist der Weg des leibhaft gegenüber der Naturgewalt unendlich schwachen und im Selbstbewußtsein erst sich bildenden Selbst durch die Mythen." DdA 64. "Der zitternde Schiffbrüchige" DdA 64. "Der Träger des Geistes, der Befehlende ... ist... jedenfalls physisch schwächer als die Gewalten der Vorzeit, mit denen er ums Leben zu ringen hat." DdA 74. "Niemals kann er den physischen Kampf mit den exotisch fortexistierenden mythischen Gewalten selber aufnehmen." DdA 75. "Alle bürgerliche Aufklärung ist sich einig in der Forderung nach Nüchternheit, Tatsachensinn, der rechten Einschätzung von Kräfteverhältnissen ... Das rührt aber daher, daß jegliche Macht in der Klassengesellschaft ans nagende Bewußtsein von der eigenen Ohnmacht gegenüber der physischen Natur und deren gesellschaftlichen Nachfolgern, den Vielen, gebunden ist. Nur die bewußt gehandhabte Anpassung an die Natur bringt diese unter die Gewalt des physisch Schwächeren." DdA 75. 243 "Er muß die Opferzeremoniale, in die er immer wieder gerät, als gegeben anerkennen: zu brechen vermag er sie nicht." DdA 75. 2 4 4 DDA 77. 2 4 5

DdA 76 f.

2 4 6

DdA 80.

2 4

DdA 7 .

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

73

Anerkennung der satzungsgemäßen Übermacht der mythischen Gewalt, des Allgemeinen (Selbsterhaltung/Vergängnis/Herrschaft) und zugleich intentional effektive McÄfanerkennung dieser Gewalt. Dies bedeutet Anerkennung und Nichtanerkennung des Vertrages; der Vertrag wird erfüllt und wegen wörtlicher Befolgung der Partner doch betrogen. 248 Odysseus "... tut der Rechtssatzung Genüge derart, daß sie die Macht über ihn verliert, indem er ihr diese Macht einräumt. Es ist unmöglich, die Sirenen zu hören und ihnen nicht zu verfallen: es läßt sich ihnen nicht trotzen. Trotz und Verblendung sind eines, und wer ihnen trotzt, ist damit eben an den Mythos verloren, dem er sich stellt. List aber ist der rational gewordene Trotz. Odysseus versucht nicht, einen andern Weg zu fahren als den an der Sireneninsel vorbei. Er ... macht sich ganz klein ... hält den Vertrag seiner Hörigkeit inne und zappelt noch am Mastbaum, um in die Arme der Verderberinnen zu stürzen. Aber er hat eine Lücke im Vertrag aufgespürt, durch die er bei der Erfüllung der Satzung dieser entschlüpft. Im urzeitlichen Vertrag ist nicht vorgesehen, ob der Vorbeifahrende gefesselt oder nicht gefesselt dem Lied lauscht. Fesselung gehört erst einer Stufe an, wo man den Gefangenen nicht sogleich mehr totschlägt. Odysseus erkennt die archaische Übermacht des Liedes an, indem er technisch aufgeklärt, sich fesseln läßt. Er neigt sich dem Liede der Lust und vereitelt sie wie den Tod . . . " 2 4 9 Die Selbsterhaltungsbemühung von Odysseus beinhaltet somit einerseits die Anerkennung des Allgemeinen und insofern seine bloße Reproduktion und andererseits seine Durchbrechung durch den Betrug. Darin stellt sich, wie dies immer auch schon für das Opfer galt und durch Odysseus listig nur zum Selbstbewußtsein erhoben w i r d , 2 5 0 dem Scheine nach das Besondere über das Allgemeine: "Alle menschlichen Opferhandlungen, planmäßig betrieben, betrügen den Gott, dem sie gelten: sie unterstellen ihn dem Primat der menschlichen Zwecke, lösen seine Macht auf . . . " 2 5 1 Partikularität der Selbsterhaltung bei Odysseus ist somit die zum Selbstbewußtsein des Einzelnen erhobene Durchbrechung der Macht des allgemeinen Naturgesetzes durch seine Anerkennung und seinen betrügend listigen Gebrauch. Die Partikularität der Selbsterhaltung des Odysseus zeigt sich in der ra248 DdA 78/79 Darin liegt auch schon die Dialektik von Selbsterhaltung und Selbstverleugnung. Es kommt darin die Paradoxie zum Ausdruck, daß nur durch die Anerkennung des Allgemeinen, die von der Nichtanerkennung des Besonderen begleitet ist, das Besondere sich als Algemeines realisieren kann. Die Struktur des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderen entspricht der des Identitätsproblem s. unten AT. 5.1.3.1.2.1. 2 4 9 DdA 77/78. 2 5 0

DdA 69.

2 5 1

DdA 68.

74

Allgemeiner Teil

dikalen Trennung des Einzelwesens von Natur 2 5 2 und deren Nachfolgern, den Vielen, 2 5 3 bei Odysseus von den unterjochten Knechten. Die Isolierung des Subjekts von Kollektivität und Natur ist bereits zum Prinzip der Einheit von Gesellschaft und Herrschaft 254 erhoben: Denn der "listige Einzelgänger ist schon der homo oeconomicus, dem einmal alle Vernünftigen gleichen, ... die Odyssee schon eine Robinsonade. Die beiden prototypischen Schiffbrüchigen machen aus ihrer Schwäche - der des Individuums selber, das von der Kollektivität sich scheidet- ihre gesellschaftliche Stärke. Dem Zufall des Wellenganges ausgeliefert, hilflos isoliert, diktiert ihnen ihre Isoliertheit die rücksichtslose Verfolgung des atomistischen Interesses. Sie verkörpern das Prinzip der kapitalistischen Wirtschaft, schon ehe sie sich eines Arbeiters bedienen ... Daher gehört zur universalen Vergesellschaftung, wie sie der Weltreisende Odysseus und der Solofabrikant Robinson entwerfen, ursprünglich schon die absolute Einsamkeit, die am Ende der bürgerlichen Ära offenbar wird. Radikale Vergesellschaftung heißt radikale Entfremdung. Odysseus und Robinson haben es beide mit der Totalität zu tun, jener durchmißt, dieser erschafft sie. Beide vollbringen es nur vollkommen abgetrennt von allen anderen Menschen. Diese begegnen beiden bloß in entfremdeter Gestalt, als Feinde oder als Stützpunkte, stets als Instrumente, Dinge." 2 5 5 So zieht sich nicht nur die Selbsterhaltung des Einzelwesens auf die Ausnahme vom allgemeinen Naturgesetz, sondern gerade auch seine Rationalität, das Allgemeine in der Sphäre des Geistes, durch Reduktion auf die Selbsterhaltungsbemühung zusammen: Geist, der allgemein sein könnte und nach den Begründungen der idealistischen Philosophie die Wirklichkeit der Vernunft nicht nur denkend umgreift, sondern schafft, reduziert sich auf ableitbare Deduzierungen des principium individuationis, des zum real sich durchsetzenden Gesetzes des Scheins der Individualität erhobenen Gestaltungsprinzip von Gesellschaft und Denken. 2 5 6 Für die nach Adorno im Prozeß abendländischer Aufklärung vorherrschende Form partikular selbsterhaltender Rationalität gilt damit, daß deren

2 5 2

DdA 80.

2 5 3

DdA 75.

2 5 4

Zu näheren Erläuterung des gesellschaftlichen Entwicklungsprinzips vgl AT 5.2.

2 5 5

DdA 80/81.

JCfL

"Damit das funktional determinierte Einzelinteresse ... irgend sich befriedige, muß es sich selbst zum Primären werden; muß der Einzelne das, was für ihn unmittelbar ist, mit der ... verwechseln. Solche subjektive Illusion ist objektiv verursacht: nur durch das Prinzip der individuellen Selbsterhaltung hindurch, mit all ihrer Engstirnigkeit, funktioniert das Ganze. Es nötigt jeden Einzelnen dazu, einzig auf sich zu blicken, beeinträchtigt seine Einsicht in die Objektivität, und schlägt darum objektiv erst recht zum Übel an." ND 306, 307.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

75

prinzipielle Allgemeinheit erst durch die auf Selbsterhaltung reduzierte Funktionalität für das Subjekt ihre radikale Partikularität nach sich zieht. 2 5 7 Die logische Beziehung zwischen Selbsterhaltung und partikularer Ratio läßt sich dann folgendermaßen skizzieren: Einerseits ist Ratio notwendig für die Selbsterhaltung des Subjekts. Andererseits erweist sich die Bezogenheit der Ratio auf Selbsterhaltung als hinreichend für die Reduktion der Ratio auf das Partikulare, Zweckgebundene, Instrumentelle, Maschinelle, Organisatorische, da sich ihre Entstehung immer schon im Selbsterhaltungszusammenhang befindet. Subjektive ratio bedeutet die subjektive Instrumentalisierung des Ganzen für die Zwecke des Subjekts der Selbsterhaltung.

5.1.3.1.2. Partikulare 5.1.3.1.2.1.

Rationalität der Selbsterhaltung als Struktur

Identität und Nichtidentität des Selbst: Selbstverleugnung und Selbsterhaltung; Subjekt und Nichtsubjekt

Im aufklärerischen Moment des Mythos lag der Versuch des sich in seiner Identität erst bildenden Selbst, den Mythos auch zu überwinden. Der Erfolg der Geschichte des Subjekts bzw. Selbst als Geschichte seiner Befreiung von Natur und Mythos hing dabei von der Stärke seiner ihm zuwachsenden Identität, diese Stärke umgekehrt von der Notwendigkeit ab, das Selbstbewußtsein gegen die drohende Natur zu stärken. Das "identisch beharrende Selbst", 258 der "identische, zweckgerichtete männliche Charakter", 259 dessen "Anstrengung, das Ich zusammenzuhalt e n , " 2 6 0 es überhaupt "zum Subjekt macht", 2 6 1 mußte ständig der Auflösung in die unidentische Natur trotzen, 262 der Lockung, im narkotischen Rausch zu vergehen oder der " Angst, das Selbst zu verlieren, und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben . . . " 2 6 3 Es "formt in seiner Starrheit sich erst durch den Gegensatz" zur Mannigfaltigkeit der Natur, die "jene Einheit verneint". 264 257 So heißt es etwas später konsequent: "weil das Prinzip der Tauschgesellschaft nur durch die Individuation der einzelnen Kontrahenten hindurch sich realisierte; weil also das principium individuationis buchstäblich ihr Prinzip, ihr Allgemeines war." ND 336. "Der Zweckbegriff, zu dem Vernunft um der konsequemten Selbsterhaltung willen sich erhebt..." ND 342. 2 5 8 DdA 71/72. 2 5 9

DdA 50.

2 6 0

DdA 50.

2 6 1

DdA 68.

2 6 2

DdA 72/73.

2 6 3

2

DdA 51.

DdA 5.

Allgemeiner Teil

76

Identität beruhte auf Herrschaft des Subjekts über sich selbst 265 und andere 2 6 6 . ihre Ausdrucksform war Herrschaft in "den sukzessiven Formen des Sklavenhalters, freien Unternehmers, Organisators." 267 Gerade die Identität des Selbst mit sich selbst und das daran gekoppelte Bewußtsein der Einheit von Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handeln war aber durch die Art und Weise, in der sich die Identität des Selbst bilden mußte, immer schon problematisch: Denn während das Ziel des Subjekts, zu überleben, seine Selbstherrschaft und die Unterwerfung von Natur und Umgebung unter seine technische Vernunft einrichtet und dadurch die Einheit und Isoliertheit des eigenen Lebens gegen Natur und Umwelt herstellt, liegt in dem von ihm verwendeten Mittel bereits der Grund für das Scheitern seines Versuches, mit sich identisch zu sein: Die List, als das "Organ des Selbst, Abenteuer zu bestehen", 268 signalisierte im Verhältnis des "unendlich schwachen und im Sebstbewußtsein erst sich bildenden Selbst" 2 6 9 zur Allgewalt verschlingender Natur nicht nur überhaupt die Anerkennung der Macht als Prinzip aller Beziehung sondern konkrete Selbstverleugnung, bedeutete konkret "sich wegzuwerfen um sich zu behalten." 270 "Das Urbild der odysseischen List" war das "Moment des Betrugs im Opfer", "wie denn viele Listen des Odysseus gleichsam einem Opfer an Naturgottheiten eingelegt sind." 2 7 1 Das Moment des im Opfer involvierten Betrugs 2 7 2 löst nicht nur die Macht des Gottes auf, dem es g i l t 2 7 3 , da es ihn menschlichen Zwecken unterstellt, sondern es ist auch "etwas von jenem Trug, der gerade die hinfällige Person

"Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet." DdA 51. Die "Identität, die es zum Subjekt macht" DdA 73. "Die Unterdrückung des Triebs, die sie zum Selbst macht und vom Tier trennt, war die Introversion der Unterdrückung im hoffnungslos geschlossenen Kreislauf der Natur ..." DdA 89. Unter dem psychoanalytischen Gesichtspunkt der Triebrepression versteht denn auch Schmid Noerr die in der DdA geschriebene unterirdische Geschichte des Körpers und seiner Verstümmelungen "als Repressionsgeschichte ... Zivilisation in ihrem Kern als Unterdrückung von Natur." Schmid Noerr 1990, S. 44 f., insbesondere S. 47 f. 9 f\f%

Dies ist entscheidend: es gibt bei Adorno keine Naturbeherrschung, die sich nicht zugleich auch als Herrschaft über Menschen erweist. Vgl. so auch Mörchen 1980, S. 142, Schmid Noerr 1990, S. 47: "Herrschaft über Natur und über Menschen bedingen sich gegenseitig ..." 2 6 7 DdA 76. 2 6 8

DdA 66.

2 6 9

DdA 64.

2 7 0

DdA 66.

2 7 1

DdA 67/68.

2 7 2

3

DdA 69.

DdA

.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

77

zum Träger der göttlichen Substanz erhöht,... seit je am Ich zu spüren, das sich selbst dem Opfer des Augenblicks an die Zukunft verdankt". 274 Und gerade die "Abdingung des Opfers durch selbsterhaltende Rationalität", die Odysseus in vielen Fällen als Überlebensstrategie verwirklichen kann, führt nicht zur Wirkungslosigkeit des Opfers. Denn das "identisch beharrende Selbst, das in der Überwindung des Opfers entspringt, ist unmittelbar doch wieder ein hartes, steinern festgehaltenes Opferritual, das der Mensch, indem er dem Naturzusammenhang sein Bewußtsein entgegensetzt, sich selber zelebriert." 2 7 5 Der Betrug, der dem Niederringen der äußeren Naturgewalt galt, richtet sich direkt gegen das Subjekt selbst, dem er entspringt: "Die Transformation des Opfers in Subjektivität findet im Zeichen jener List statt, die am Opfer stets schon Anteil hatte. In der Unwahrheit der List wird der im Opfer gesetzte Betrug zum Element des Charakters, zur Verstümmelung des Verschlagenen selber, dessen Physiognomie von den Schlägen geprägt ward, die er zur Selbsterhaltung gegen sich führte." 2 7 6 Verstümmelung, Abdingung des Traums vom Glück, 2 7 7 Nachahmung der in Naturherrschaft liegenden Starre, 278 Abhängigmachen des Lebens vorweg vom Zugeständnis der eigenen Niederlage, 279 sich ganz klein machen, 280 sind die Formen der Anpassung des Selbst, des sich Anschmiegens an den Naturzustand, dem es sein Ich verdankt, so "sehr ist... die Identität des Selbst Funktion des Unidentischen, der dissoziierten, unartikulierten Mythen, daß sie diesen sich entlehnen muß. " 2 8 1 Der Listige "windet sich durch, das ist sein Überleben", 282 das "vorweg gleichsam vom Zugeständnis der eigenen Niederlage, virtuell vom Tode abhängig" ist. Er "realisiert, daß er, wie sehr auch bewußt von Natur distanziert, als Hörender ihr verfallen bleibt. Er hält den Vertrag seiner Hörigkeit inne und zappelt noch . . . " 2 8 3 Er bleibt Verfallener, ohne zu verfallen. 284 Aber seine "Ra2 7 4

DdA 69.

2 7 5

DdA 71/72.

2 7 6

DdA 74.

2 7 7

DdA 76.

2 7 8

DdA 76.

2 7 9

DdA 76.

2 8 0

DdA 77.

2 8 1

DdA 66.

2 8 2

DdA 76.

2 8 3

DdA 77.

2 8 4

DdA 77.

78

Allgemeiner Teil

tio, welche die Mimesis verdrängt,... ist nicht bloß deren Gegenteil. Sie ist selber Mimesis: die ans Tote ... Das Schema der odysseiischen List ist Naturbeherrschung durch solche Angleichung." 285 In letzter radikaler Konsequenz wird die Nichtidentität des Selbst mit sich am Beispiel der Begegnung mit Polyphem, dem einäugigen Riesen erläutert: "Die beiden widersprechenden Akte des Odysseus in der Begegnung mit Polyphem, sein Gehorsam gegen den Namen und seine Lossage von ihm, sind doch wiederum das Gleiche. Er bekennt sich zu sich selbst, indem er sich als Niemand verleugnet, er rettet sein Leben, indem er sich verschwinden macht." 2 8 6 In Wahrheit verleugnet das Subjekt Odysseus die eigene Identität, die es zum Subjekt macht, und erhält sich am Leben durch die Mimikry ans Amorphe. 2 8 7 "Seine Selbstbehauptung aber ist, wie in der ganzen Epopoe, wie in aller Zivilisation, Selbstverleugnung. Damit gerät das Selbst in eben den zwanghaften Zirkel des Naturzusammenhanges, dem es durch Angleichung zu entrinnen trachtet.Der um seiner selbst willen Niemand sich nennt und die Anähnelung an den Naturzustand als Mittel zur Naturbeherrschung manipuliert, verfällt der Hybris." 2 8 8 "In der Klassengeschichte Schloß die Feindschaft des Selbst gegen das Opfer ein Opfer des Selbst ein, weil sie mit der Verleugnung der Natur im Menschen bezahlt ward um der Herrschaft über die außermenschliche Natur und über andere Menschen willen. Eben diese Verleugnung, der Kern aller zivilisatorischen Rationalität, ist die Zelle der fortwuchernden mythischen Irrationalität: Mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung, sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig. In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber nichtig, und die Inthronisierung des Mittels als Zweck, die im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt, ist schon in der Urgeschichte des Subjekts vernehmbar. Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht, denn die beherrschte, unterdrückte und durch Selbsterhaltung auf-

2 8 5

DdA 75/76.

2 8 6

DdA 79.

2 8 7

DdA 86.

2 8 8

DdA 87.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

79

gelöste Substanz ist gar nichts anderes als das Lebendige, als dessen Funktion die Leistungen der Selbsterhaltung einzig sich bestimmen, eigentlich gerade das, was erhalten werden soll ... Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Introversion des Opfers. Mit anderen Worten: die Geschichte der Entsagung." 289 Selbsterhaltung verwirklicht sich also nur um den Preis der spezifischen Form der Selbstverleugnung, die die personale Bedingung der Überlebensstrategie des listigen selbsterhaltenden Subjekts ans Überleben stellt: Gerade nicht Person, nicht Selbst und Subjekt sein zu dürfen, um wegen dieses Zieles überleben zu können. Nicht nur ist Aufklärung inhaltlich auf Selbsterhaltung beschränkt. Auch gerade der (theoretische und praktische) begriffliche Inhalt der Selbsterhaltung wird pragmatisch für die das Ziel verfolgenden Personen um eben diesen Inhalt gekürzt. Das Identitätsprinzip des Aufklärungsvorgangs realisiert sich gerade durch seinen Gegenpart, das Prinzip der Nichtidentität. Nichtidentität des Besonderen mit dem Allgemeinen fungiert als philosophische Prämisse des Vorrangs der Identität des Allgemeinen mit sich selbst und allem Besonderen, das um dieser Identität (mit dem Allgemeinen) willen nur noch als Nichtidentisches identisch sein könne. 2 9 0 Die Nichtidentität ist somit Ausnahme von dem und logische Voraussetzung zugleich für den spezifischen Identitätsbegriff, der das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen bei Adorno kennzeichnet. 291 5.1.3.1.2.2.

Verdinglichung, Mechanisierung, Verselbständigung der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung

Die Nichtidentität des Subjekts mit sich selbst und dem Interesse seines Lebens im dialektischen Prozeß seiner aufklärerischen Selbsterhaltung ist die Voraussetzung für die Radikalisierung der Selbsterhaltung als sich verselbständigende Struktur. 292 2 8 9

290

DdA 73.

"Bezahlt wird die Identität von allem mit allem damit, daß nichts zugleich mit sich selber identisch sein darf. Aufklärung zersetzt das Unrecht der alten Ungleichheit ... verewigt es aber zugleich in der universalen Vermittlung, dem Beziehen jeglichen Seienden auf jegliches. Sie besorgt, was im Sagenkreis des Herakles ... steht: sie schneidet das Inkommensurable weg. Nicht bloß werden im Gedanken die Qualitäten aufgelöst, sondern die Menschen zur realen Konformität gezwungen." DdA 28/29. 2 9 1 Vgl. dazu unten AT 5.3.2. 292 Vgl. nur DdA 47: "Je weiter aber der Prozeß der Selbsterhaltung durch bürgerliche Arbeitsteilung geleistet wird, desto mehr erzwingt er die Selbstentäußerung der Individuen, die sich an Leib und Seele nach der technischen Apparatur zu formen haben ...", und in den Minima Moralia heißt es, bereits die Wirksamkeit des Tauschprinzips (AT 5.2.4.4.2.) darlegend: "Nur in dem Prozeß, der mit der Verwandlung von Arbeitskraft in Ware einsetzt, die Menschen samt und sonders

80

Allgemeiner Teil

Introversion des Opfers, industrieller Fortschritt, Unterjochung des Knechts und Regression des Herrn 2 9 3 sind die Merkmale einer Desubjektivierung, die den Prozeß der Zivilisation in der Intensität begleitet, mit der überhaupt das Selbst entsteht. Die fortschreitende Nichtidentität des Subjekts mit sich selbst, seine sich fortfressende Desubjektivierung sind für den weiteren Gang von Gesellschaft und Aufklärung in die Totalität von Arbeitsteilung und Tauschprinzip notwendige Voraussetzung und auch immer wiederhergestelltes Ergebnis der Verselbständigung der aus dem Aufklärungsprozeß herausgepreßten verdinglichten partikularen Rationalität der Selbsterhaltung. 294 Während sich Partikularität gerade als Beschränkung des Allgemeinen auf einen einzigen Zweck der Aufklärung verwirklicht, der selbst Mittel wird, werden auch Subjekt, Selbst und das Leben zum bloßen Mittel und Objekt gemacht, 2 9 5 die Ratio erstarrt zum Ding. Einmal verdinglicht und mechanisiert, setzt sich aus ihr, mit ihr und über sie ein sich weiter beschleunigender Prozeß der Verselbständigung von Technik, Maschine und Herrschaft über Subjekt und Gesellschaft fort, der die Desubjektivierung des Selbst weiter vorantreibt. Zunächst erfaßt die Verdinglichung die Ratio und die Form ihrer Organisation: "Die Menschen distanzieren denkend sich von Natur, um sie so vor sich hinzustellen, wie sie zu beherrschen ist. Gleich dem Ding, dem materiellen Werkzeug, das in verschiedenen Situationen als dasselbe festgehalten wird, und so die Welt als das Chaotische, Vielseitige, Disparate vom Bekannten, Einen, Identischen scheidet, ist der Begriff das ideelle Werkzeug, das in die Stelle an allen Dingen paßt, wo man sie packen kann." 2 9 6 Sind Begriff und Denken in die ineinander verflochtene Maschine von Geist, Herrschaft und Arbeitsteilung erst einmal erstarrt, 297 schlägt die soldurchdringt und jede ihrer Regungen als eine Spielart des Tauschverhältnisses a priori zugleich kommensurabel macht und vergegenständlicht, wird es möglich, daß das Leben unter den herrschenden Produktionsbedingungen sich reproduziert." M M Aph. 147. 2 9 3

294

295

DdA 52. Zum Problem der Vorgängigkeit des Gesellschaftlichen AT 5.2.1.

Die Selbsterhaltung "fixiert die Mittel als Zweck, die vor keiner Vernunft sich legitimieren."2 N9 D 342. 6 DdA 56/57. 297 "Denken" zeigt sich in seiner "verdinglichten Gestalt als Mathematik, Maschine, Organisation." DdA 58. "In der Beschränkung des Denkens auf Organisation und Verwaltung, ... ist die Beschränktheit mitgesetzt, welche die Großen befällt.... Der Geist wird in der Tat zum Apparat der Herrschaft und Selbstbeherrschung, als den ihn die bürgerliche Philosophie seit je verkannte." DdA 53. "Indem die Herrschaft ... zu Gesetz und Organisation sich verdinglichte ... mußte sie sich beschränken." DdA 54. "der technische Apparat und die sozialen Gruppen, die über ihn verfügen"; "die ökonomischen Mächte" DdA 14/15. "der Apparat" DdA 15. "Die Arbeitsteilung" DdA 38. der Tausch, die bürgerliche Arbeitsteilung DdA 47. Natur als reale Selbsterhaltung freigelassen, DdA 48. Selbsterhaltung automatisiert, DdA 49. die "Produktion", DdA 49. "Maschine". "Herrschaftsmaschinerie" DdA 53.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

81

chermaßen verdinglichte partikulare Rationalität der Selbsterhaltung mechanisch und verselbständigt auf Natur und die Menschen zurück. 2 9 8 Während Verdinglichung, Mechanisierung und Verselbständigung der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung die Identität (und deshalb gerade Nichtidentität) des Subjekts, seine bloße Identität mit dem tautologischen Moment seiner Selbsterhaltung, für die es sich selbst verleugnet, zur Voraussetzung haben, gerät das Subjekt, gerade indem es als identisches (und eben deshalb nichtidentisches) auftritt, zur bloßen Funktion. Indem es selbst selbsterhaltende Rationalität, Organisation und Technik als herrschende Bewältigung des Lebens vermittelt, ist es doch immer schon von diesem vermittelt. Es verbleibt Transmissionsriemen, Agent und Motor, Funktion des Allgemeinen, Sache zur Promotion des je atomistischen Zwecks. Dabei wird es selbst aufs Mittel zurückgeworfen. Das Prinzip der Selbsterhaltung beinhaltet deshalb in seiner Radikalität gerade, daß es ums Selbst, das Besondere nicht geht. Das Subjekt ist verschwunden, aber doch wirksam: Herrschaft wird durch Subjekte vermittelt, die sich vor der Herrschaft längst gebeugt haben. Das Allgemeine der Natur setzt sich auch als Allgemeines der Gesellschaft, im Prinzip von Tausch und Arbeitsteilung, durch. Darin wird vom Selbst nur noch als seinem Prinzip gesprochen 299 , unbewußt bleibt die Differenz zwischen dem Anspruch des Subjekts, Selbst und mit sich identisch zu sein und der Wirklichkeit, in der es nur mit dem abstrakt Allgemeinen identisch sein kann, das seine Nichtidentität gerade zur Voraussetzung hat. Weil das Selbst nicht als Besonderes, sondern als bloßes Prinzip zum Motor der gesellschaftlichen Entwicklung wird, es als Besonderes verschwunden ist, bleibt nur das Allgemeine übrig. Als Herrschaft siegt es über das Besondere, als Prinzip über das Einzelwesen, um das es der Aufklärung eigentlich ging.

298 "Wo die Entwicklung der Maschine in die Herrschaftsmaschinerie schon umgeschlagen ist, so daß technische und gesellschaftliche Tendenz, von je verflochten, in der totalen Erfassung der Menschen konvergieren ..." DdA 53. "Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen ... Durch die ungezählten Agenturen der Massenproduktion und ihrer Kultur werden die genormten Verhaltensweisen dem Einzelnen als die allein natürlichen, anständigen, vernünftigen aufgeprägt. Er bestimmt sich nur noch als Sache, als statistisches Element, als success or failure. Sein Maßstab ist die Selbsterhaltung, die gelungene oder mißlungene Angleichung an die Objektivität seiner Funktion und die Muster, die ihr gesetzt sind." DdA 45. "Je weiter aber der Prozeß der Selbsterhaltung durch bürgerliche Arbeitsteilung geleistet wird, um so mehr erzwingt er die Selbstentäußerung der Individuen, die sich an Leib und Seele nach der technischen Apparatur 299 zu formen haben. Vgl. DdA 47 und 48. Vgl. zur Partikularität des Selbst als Prinzip DdA 54: "Durch die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft hindurch werden die Menschen zu eben dem wieder gemacht, wogegen sich das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung in der zwangshaft gelenkten Kollektivität." Vgl. dazu auch DdA 80, 81. 6 M. Becker

82

Allgemeiner Teil

Im Prozeß "reibungslose(r) Arbeit der selbsttätigen Ordnungsmechanismen" bewegt sich dann "in der Gestalt der Maschine ... die entfremdete Ratio auf eine Gesellschaft zu, die das Denken in seiner Verfestigung als materielle wie intellektuelle Apparatur ... auf die Gesellschaft als sein reales Subjekt bezieht." 3 0 0 So vitalisiert die Dialektik der Selbsterhaltung aus dem Überlebenskampf des isolierten Subjekts jene sein Überleben sichernden äußeren und objektiven Strukturen, die gerade dieses Leben negieren. Am Ende ist "Selbsterhaltung automatisiert" und "Vernunft" wird "entlassen". 301 Die Aufklärung greift auf den Geist über, "der sie selber ist. Damit aber wird die Natur als wahre Selbsterhaltung durch den Prozeß losgelassen, der sie auszutreiben versprach, im Individuum nicht anders als im kollektiven Schicksal von Krise und Krieg." 3 0 2

5.1.3.1.2.3.

Totalität der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung in der Gesellschaft

Das Ergebnis dieser Entwicklung erweist sich als Beschränkung des Denkens und aller gesellschaftlichen Bewegung auf Selbsterhaltung als einziges Z i e l , 3 0 3 als Totalität ihrer Partikularität in der Gesellschaft. Gesellschaft reduziert sich auf die Tautologie des Allgemeinen als Vorrang vor allem Besonderen, die des Begriffs über den Gegenstand, den er meint, aber doch nur stimmig auf sich selbst zurichtet. Solch tautologische Gesellschaft läßt weder Phantasie, Geist noch einen Zweck außerhalb der Tautologie zu. Denken wird von den Herrschenden als "Ideologie verleugnet". 304 Im Prinzip der Identität sichert die Tautologie der Selbsterhaltung die Einheit von subjektiv aufklärerischem Geist

3 0 1

DdA 49.

3 0 2

DdA 47/48.

303

"Die Arbeitsteilung, zu der sich die Herrschaft gesellschaftlich entfaltet, dient dem beherrschten Ganzen zur Selbsterhaltung. Damit aber wird notwendig das Ganze als Ganzes zur Vollstreckung des Partikularen." DdA 38. "In der Beschränkung des Denkens auf Organisation und Verwaltung,... ist die Beschränktheit mitgesetzt, welche die Großen befällt.... Der Geist wird in der Tat zum Apparat der Herrschaft und Selbstbeherrschung, als den ihn die bürgerliche Philosophie seit je verkannte." DdA 53. "Vernunft selbst" wurde "zum bloßen Hilfsmittel der allumfassenden Wirtschaftsapparatur" DdA 47. "Mit der Entfaltung des Wirtschaftssystems ... erwies die von Vernunft identisch festgehaltene Selbsterhaltung, der vergegenständichte Trieb des individuellen Bürgers, sich als destruktive Naturgewalt, die von der Selbstzerstörung nicht mehr zu trennen war." DdA 110. "Ist am Ende Selbsterhaltung automatisiert, so wird Vernunft ... entlassen ..." DdA 49 und "Gesellschaft setzt die drohende Natur fort als den dauernden organisierten Zwang, der, in den Individuen als konsequente Selbsterhaltung sich reproduzierend, auf die Natur zurückschlägt, als gesellschaftliche Herrschaft über Natur" DDA 205/206. 3 0 4

DdA 55.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

83

und ihrer gesellschaftlicher Realität in der Form des Tauschs und der Arbeitsteilung. 3 0 5 5.2. Das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft Die Prinzipien der Entwicklung von Selbst und Gesellschaft: Identität, Tausch, Selbst 5.2.1. Historizität oder Vorgängigkeit der partikularen der Selbsterhaltung in der Gesellschaft

Rationalität

Im Dreischritt von Erstarrung, Mechanisierung und Verselbständigung der erstarrten Ratio findet sich die konkret gewordene Idee der Naturgeschichte wieder: Geschichte erstarrte zur Natur und wurde als Maschine zur Geschichte. Sowohl Erstarrung als auch Mechanisierung und Verselbständigung der Maschine wurden bislang deskriptiv und phänomenal beschrieben. Doch in der Theorie Adornos folgen sie einem objektiven Entwicklungsgesetz der Gesellschaft. Dieses hat für seine Philosophie herausragende Bedeutung. Indem es den Begriff der Vermittlung von Einzelwesen und Gesellschaft, Subjekt und Objekt darlegt, bildet es den Angelpunkt für den Zusammenhang von Geschichts- und Erkenntnisphilosophie. Als solchem liegt in seinem Verständnis die Antwort auf die Frage, inwieweit Adorno tatsächlich eine geschichtsphilosophische Erklärung für den Vorrang der Gesellschaft vor dem Subjekt in erkenntnis - und sozialphilosophischer Hinsicht geben und damit die geschichtsphilosophische Hinleitung der Gesellschaft als Totalität und System vollbringen kann. Die Historizität der Übertragung der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung als Struktur vom Einzelwesen in die Gesellschaft und die erkenntnisund sozialphilosophische Prämisse der Vorgängigkeit der Einheit von Herrschaft und Gesellschaft als Ausprägung der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung schließen sich aus. Denn die Vermitteltheit auch der partikular isolierten Selbsterhaltungsbemühungen des Subjekts Odysseus durch die Gesellschaft läßt keine historische Entwicklung der erkenntnis/ sozialphilosophischen Dimension seiner partikular rational selbsterhaltenden Strukturen in ein - historisch folgendes - geschlossenes System der totalen gesellschaftlichen Vermitteltheit mittels der Prinzipen des Tausches, der Identität, des Selbst und der PRS z u . 3 0 6

3 0 5

Vgl. nur DdA 47.

3 0 6

Vgl. so auch Birzele 1977, S. 149.

84

Allgemeiner Teil

Eine dialektische Bewegung vom Mythos in die aufklärerische Gesellschaft ermöglicht im historischen Sinne nur genau dann eine solche Übertragung der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung in diese, wenn sie auch schon immer gesellschaftlich 307 war, somit nie ein historisches "Entwicklungsproblem" bestand. Genau dann stellt sich die Annahme der gesellschaftlichen Vermitteltheit aber nicht als historische "Erklärung", sondern als bloß historisch gesetzte, nicht weiter überprüfbare Annahme dar. Adorno zufolge entstand partikular technische Rationalität schon als gesellschaftliches Moment 3 0 8 der Isolierung des Individuums nicht nur gegenüber der Natur, die das Thema - Herrschaft vorgibt, sondern auch "gegenüber allen anderen Menschen". 309 Und in der - später in der bürgerlichen Gesellschaft wiederholten - absoluten Isolierung des Selbst konnte nur insofern einer der Gründe für die Verselbständigung des technischen Prinzips der Selbsterhaltung liegen, als dieses schon vollständig gerade als gesellschaftliches Moment der isolierten Person aufweisbar w a r . 3 1 0 Nur diese Annahme ermöglicht Adorno die Konstruktion eines objektiv Gesellschaft und Individuum durchziehenden und dominierenden Gesetzes der gesellschaftlichen Entwicklung. Nur weil die Isolierung und Vereinsamung des Weltreisenden und Solofabrikanten - des Herrn - das Principium Individuationis - bereits selbst Moment radikaler Vergesellschaftung und die partikulare Rationalität der Selbsterhaltung des Einzelsubjekts schon in der Urgeschichte des Subjekts radikal gesellschaftlich vermittelt ist, setzt sie sich auch gerade als gesellschaftliches Moment objektiv historisch durch. Die Vorgängigkeit des Vermittlungsmomentes des Gesellschaftlichen liegt der historischen Interpretation der Dialektik der Aufklärung als Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Subjekts damit philosophisch immer schon zugrunde. 311 Die Dialektik der Aufklärung kann sich damit nicht als historisch- geschichtsphilosopische Erklärung der erkenntnisphilosophischen Prämisse der gesellschaftlichen Vorgängigkeit gegenüber aller Erkenntnis des Subjekts darstellen. Indem sie eine Tendenz beschreibt, die der Geschichte schon immer a priori innewohne, muß sie sich geschichtsphilosophisch damit begnügen, dieses

3 0 7

Vgl. schon Text zu Fußnote 254, DdA 80/81.

3 0 8

Vgl. DdA 80/81.

3 0 9

DdA 80.

3 1 0

Vgl. DdA 80/81.

3 1 1

Vgl. dazu auch Tichy 1977, S. 48 und 49, Fn 27.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

85

Apriori auch als geschichtsphilosophisches Aposteriori der Erkenntnisphilosophie zu entfalten. Damit ist sie aber umgekehrt notwendig auf eine strukturell erkenntnisphilosophische Erklärung der Vorgängigkeit der Gesellschaft vor aller subjektiven Erkenntnis verwiesen. 312 Genauso notwendig müßte sie aber daran scheitern, diese Erklärung allein aus einer Erkenntnisphilosophie gewinnen zu können, die - während sie als Kritik der transzendentalen Voraussetzungen von Erkenntnis überhaupt zu leisten ist - nicht immer schon ein Moment der Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie wäre. Sind aber Subjektwerdung, bürgerliche Rationalität und Aufklärung durch Arbeit von der Annahme vermittelnder Vorgängigkeit nicht abzulösen und kann sich nur deshalb auch aus dem singulären Prototyp Odysseus wiederum das gesellschaftlich allgemeine Prinzip des Tauschs, des Selbst, der Identität herauskristallisieren, so besteht in der Dialektik von Erkenntnis- und Geschichtsphilosophie nicht weniger als in den von Adorno angegriffenen Ansätzen der Identitätsphilosophie eine Aporie: Daß die philosophische Wahrheit letztlich nur von einer kontingenten, vermittelten Position heraus zu erringen ist, die jene Wahrheit nicht weniger bestimmt, als daß sie selbst von ihr bestimmt i s t . 3 1 3 Der von Adorno selbstbewußt vorgetragene Unterschied zu anderen philosophischen Ansätzen besteht dann in dem Grade, mit dem diese Aporie zum Bezugspunkt philosophischer Reflexion werden mußte. Es liegt in der Konsequenz solcher philosophischer Einsicht, die genaue Bestimmung des Begriffes der Vermitteltheit zum Zentrum der begrifflichen Anstrengung zu machen. Denn wenn einmal die Annahme, unvermittelte Erkenntnis sei unmöglich, zur

312 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Schnädelbach 1989, S. 27, indem er die Notwendigkeit formuliert, die DdA müßte den Rückweg von der Geschichtsphilosophie zur Gesellschaftstheorie antreten, weil die Kriterien der Wahrheit der geschichtsphilosophischen Theorie nicht in einer mit dieser Theorie zugleich identischen narrativ erzählenden Geschichte geliefert werden könnten. Doch eignet sich der Ansatz Schnädelbachs nicht als Ausweg aus der bei Adorno auftretenden Aporie: Auch wer die "Negative Dialektik" als nachgeschobene Gesellschaftsstruktur- und Erkenntnisphilosophie zur "Dialektik der Aufklärung" liest, steht nicht außerhalb der Dialektik der Aufklärung, wie umgekehrt die Dialektik der Aufklärung nicht von einer möglichen transzendentalen Vorgängigkeit der Gesellschaft vor aller subjektiven Geschichtsphilosophie erlöst: Denn Geschichts- und Gesellschafts- sowie Erkenntnisphilosophie sind bei Adorno nicht von außerhalb gangbare Lösungswege für isolierbare Einzelprobleme sondern die Verstrickungswendel des unheilbar οίοGanzen, von innen betrachtet. Es handelt sich dabei um die wohl wichtigtse Aporie der DdA. Demgegenüber liegt eine Aporie noch nicht darin, wenn in der radikal polemischen Darstellung der Dialektik der Aufklärung "Vorentscheidungen theoretischer Art" die Selektion und Interpretation des historischen Materials beeinflussen, welches wiederum jene Vorentscheidungen zu begründen hilft. (So aber SchmidNoerr 1989, S. 82)

86

Allgemeiner Teil

Erkenntnis selbst erhoben i s t , 3 1 4 muß sich notwendig Philosophie der Kritik des Vermittlungsbegriffes selbst zuwenden. Dient die Dialektik der Aufklärung somit der ausmalenden Beschreibung des Ganges der der Menschengattung zugrunde liegenden vorgängigen Vermitteltheit individuellen Bewußtseins durch die allgemeine Idee und ökonomische Wirklichkeit des Principium Individuationis in seiner Konkretion als Tausch, setzt das Verständnis dieses Ganges sowie des Prinzips selbst einen Einblick in den erkenntnisphilosophischen Ansatz Adornos voraus.

5.2.2. Die Prinzipien der Entwicklung von Selbst und Gesellschaft: Identität, Tausch, Selbst Terminologisch verwendet Adorno für das sich über die Subjekte wälzende Entwicklungsgesetz der Gesellschaft verschiedene Ausdrücke. 315 Der zunächst verwirrenden Vielfalt einer auch im einzelnen nicht immer erläuterten Terminologie liegt jedoch nicht eine entsprechende Vielheit korrelierender und scharf differenzierender Begriffe zugrunde. Begriffslogisch kann von Überschneidungen der Begriffe gesprochen werden, die sich teilweise voraussetzen, teilweise ergänzen und teilweise gegenseitig begrenzen. Wesentlich sind das Tauschprinzip, das diesem wiederum abstrakt vorgängige Identitätsprinzip (Selbstprinzip) und die gesellschaftliche Arbeit (Arbeitsteilung)

5.2.3. Die erkenntniskritische

Begründung gegen Kant

Die Begründung, die Adorno für den Begriff des Tausches als radikale Vermittlung der Erkenntnisvoraussetzungen des Subjekts durch gesellschaftliche Arbeit gibt, liest sich wie die philosophiegeschichtlich explizit gemachte

Diese Beobachtung ist nicht nur polemisch gemeint. So wie Adorno aus der erkenntnisphilosophischen Kritik der Ansätze Kants und insbesondere Hegels (vgl. 5.2.) den Vermittlungsbegriff radikalisiert und psychologisiert, so sehr macht er dadurch auch deutlich, daß das Zurückfallen hinter diese Einsicht nicht zu einem Mehr an Erkenntnis, sondern nur zu einem Mehr an Erkenntnisbehauptung gegen die Verstrickung des Ganzen mit seinen Teilen führt. 3 1 5 "Wertgesetz" N D 295. "Tendenz" ND 297. "Zur Totalität schreitendes Äquivalenzprinzip" N D 311. "Gesamtprozeß" ND 313. "alles unterjochendes Identitätsprinzip" N D 314. "Weltlauf" ND 313. "Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst" DdA 54. "Tauschprinzip" ND 149. "Prinzip der kapitalistischen Wirtschaft" DdA 80. "Naturgesetzlichkeit als Bewegungsgesetz der Gesellschaft" N D 299. "Selbsterhaltung durch bürgerliche Arbeitsteilung" DdA 47. Isoliertheit diktiert die rücksichtslose Verfolgung des atomistischen Interesses DdA 80. Urprinzip der bürgerlichen Gesellschaft - die Wahl zu betrügen oder unterzugehen. DdA 80. "Vorrang des Einen, als Identität des Systems" N D 309. "Naturgesetzlichkeit als Bewegungsgesetz der bewußtlosen Gesellschaft." N D 349.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

87

Dialektik des Verhältnisses von erkenntnisphilosophischem Konstituens und Konstitutum. Sie ist insofern wesentlich die Entwicklung der Antwort auf die Frage nach den subjektiven und objektiven Konstitutionsbedingungen von Erkenntnis. Die Art, wie diese Antwort entwickelt wird, und die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen sind jedoch in ihrer Substanz von höchster sozialphilosophischer Bedeutung. Auch die rechtsphilosophischen Aussagen Adornos lassen sich überhaupt nur über diesen Weg nachvollziehen. Trennte Kant die Empirie des Subjekts scharf von seiner Intelligibilität, um im Begriff des intelligiblen Subjekts die allgemeinen Erkenntnisvoraussetzungen der synthetischen Apperzeption, in der das Subjekt Objekt zu erkennen vermag, formulieren zu können, so lag in der freien Synthesisleistung des das Objekt konstituierenden Subjekts wesentlich die idealistische Komponente seiner Philosophie. 316 Wenn es gelänge, die allgemeinen Denkgesetze der Synthesisleistung des Subjekts zu formulieren, die die Erkenntnis ermöglichen und kommunikabel machen, könnten dogmatische und naive Erkenntnisphilosophien besiegt werden. Indem Kant aber an der Idee eines hinter der Erscheinungswelt liegenden an sich seienden Dinges festhielt, das man zwar innerhalb der Erscheinungswelt nicht als solches erkennen könne, auf das man aber wegen seiner Wirkung in die Erscheinungswelt schließen müsse, löste sich nicht nur der Begriff der Objektivität der Gegenstände in den Gegensatz eines entweder vom Subjekt Geschaffenen oder bloß an sich Gedachten auf. 3 1 7 Es blieb neben anderen Begründungsdefiziten 318 gerade auch die Frage problematisch, ob das Subjekt 31 f» "Um aber irgend etwas im Räume zu erkennen, z.B. eine Linie, muß ich sie ziehen, und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins ... ist, und dadurch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird. Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis, nicht deren ich bloß selbst bedarf, um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen muß, um für mich Objekt zu werden, weil auf andere Art, und ohne diese Synthesis, das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein vereinigen würde." 317 Kant, § 17, Kritik der Reinen Vernunft, THWS 1980, S. 140. "Wären die Gegenstände, womit unsere Erkenntnis zu tun hat, Dinge an sich selbst, so würden wir von diesen gar keine Begriffe a priori haben. Denn woher sollten wir sie nehmen?" Kant, K.d.r.V., THWS 1980, S. 181. "Dagegen, wenn wir es überall nur mit Erscheinungen zu tun haben, so ist es nicht allein möglich, sondern auch notwendig, daß gewisse Begriffe a priori vor der empirischen Erkenntnis der Gegenstände vorhergehen. Denn als Erscheinungen machen sie einen Gegenstand aus, der bloß in uns ist, weil eine bloße Modifikation unserer Sinnlichkeit außer uns gar nicht angetroffen werden kann." Kant, K.d.r.V., THWS 1980, S. 182. 318 Es stellt sich insbesondere die Frage nach dem Recht, dem Ding an sich neben der Eigenschaft zu erscheinen, eine Kausalität zuzusprechen, die im Hinblick auf ihre Ursächlichkeit intelligibel, im Hinblick auf ihre Wirkung aber phänomenal ist. Vgl dazu z.B. Ortwein S. 47 ff; Adorno bemerkt dazu: "Unerfindlich, wie Freiheit, prinzipiell Attribut temporalen Handelns und einzig temporal aktualisiert, von einem radikal Unzeitlichen soll prädiziert werden können; unerfindlich auch, wie ein derart Unzeitliches in die raumzeitliche Welt hineinzuwirken vermöchte, ohne selbst

88

Allgemeiner Teil

überhaupt und inwiefern es seinen Erkenntnisgegenstand als Objekt erkennen könne. 3 1 9

5.2.4. Die erkenntniskritische

Begründung gegen Hegel

5.2.4.1. Das Vermittlungsproblem, Identität und Nichtidentität Der Versuch Hegels, dieses kantische Problem dadurch zu lösen, daß die Objektivität des Gegenstandes dem Subjekt nicht als bloß entgegengesetzt gedacht wurde, sondern als in der Konstruktion des Absoluten Geistes dialektisch enthalten, führte zwar zur gedanklichen Lösung der noch bei Kant unüberwindbaren Spannung von Objektivität und Subjektivität im Begriff eines den Gegensatz übersteigenden Allgemeinen. Doch erschien Hegels Philosophie ihren Kritikern als bloße Verwandlung des Objektiven in eine lediglich verabsolutierte Subjektivität. In dieser sei zwar von Hegel die Tatsache der Vermitteltheit sowohl der Objekte als auch des Subjekts sowie des Erkenntnisvorganges reflektiert worden, doch könne im Gegensatz zur Annahme Hegels die Dialektik von Vermittlung und Erkenntnis als ihrer Reflexion nicht vom absolut gedachten Geist ihren Ausgang nehmen. Adorno führt dazu vor allem zwei Gründe an: Zum einen die notwendige "Unauflöslichkeit eines empirischen, nichtidentischen Moments" im absoluten Subjekt, das zwar durch dessen Analyse anerkannt werden müsse, das aber "die Lehren vom absoluten Subjekt, die idealistischen Identitätssysteme als unauflöslich nicht anerkennen dürfe." 3 2 0 Der Grund für die Unauflöslichkeit dieses nichtidentischen, empirischen Momentes im absoluten Subjekt liegt für Adorno zunächst schon darin, daß dieses einerseits vom empirischen abstrahiert ist und zum anderen "der Ausdruck Ich, das reine, transzendentale ebenso wie das empirische, unmittelbare, irgend Bewußtsein bezeichnen muß." 3 2 1 Denn ein "Ich, das in gar keinem Sinn mehr Ich wäre, also jeden Bezugs auf das individuierte Bewußtsein und damit notwendig auf die raumzeitliche Perzeitlich zu werden und ins Kantische Reich der Kausalität sich zu verirren. Als deus ex machina springt der Ding-an-sich Begriff ein. Verborgen und unbestimmt markiert er eine Leerstelle des Gedankens;" Adorno ND 251. OIQ Hierzu bemerkt zu Recht Hegel: "die Betrachtungsart" der Kantischen Philosophie "bleibt also ein Subjektives und die Natur ein Objektives, ein bloß Gedachtes" S. 103. Vergleich des Schellingschen Prinzips der Philosophie mit dem Fichteschen, THWS, Bd. 2. 3 2 0

Aspekte, Mk 264.

3 2 1

Aspekte, Mk 263.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

89

son entriete, wäre ein Nonsens, nicht nur freischwebend und so unbestimmbar wie Hegel dem Gegenbegriff dazu, dem Sein es vorwarf, sondern auch als Ich, nämlich als vermittelt zum Bewußtsein, gar nicht mehr zu fassen." 322 Die Unauflöslichkeit eines nichtidentischen, empirischen Momentes im absoluten Subjekt hat aber für Adorno nicht nur diese tatsächliche, faktische Seite, sondern korrespondiert wesentlich einem Wahrheitsbegriff, der sowohl bei Heg e l 3 2 3 als auch bei ihm selbst intentional auf im Subjekt gerade nicht von vornherein auflösliche Objektivität der Essenz von Erkenntnis geht: "daß eigentlich jeder Erkenntnis, die eine ist, die Anweisung auf Wahrheit schlechthin innewohnt; daß Erkenntnis, um überhaupt eine und keine bloße Verdoppelung des Subjekts zu sein, mehr sei als bloß subjektiv, Objektivität gleich der objektiven Vernunft des Piaton,... Gut hegelisch dürfte man sagen ... es werde gerade die Konstruktion des absoluten Subjekts bei ihm einer in Subjektivität unauflöslichen Objektivität gerecht." Das Moment der Nichtidentität im absoluten Subjekt allein ermöglicht somit überhaupt nur, daß sich Objektivität im absoluten Subjekt erkennen lasse: "Die Sachen reden selber in einer Philosophie, die sich stark macht zu beweisen, daß sie selber eins sei mit den Sachen." 324 5.2.4.2. Constituens und Constitutum; Gesellschaft und Geist Das Problem eines auf Objektivität gehenden Wahrheitsanspruchs des absoluten Subjekts verbindet sich mit einem weiteren Grund zu der Ablehnung einer vom Geiste ausgehenden Dialektik: Für Adorno stellen sich nämlich die Denkvoraussetzungen, das Allgemeine in der Philosophie des Idealismus sowohl Kants als auch Hegels gerade nicht als Constituens der Erkenntnis, sondern als Constitutum dar. Sie sind selbst schon in ihrem "gesellschaftlichen Charakter der Denkformen" 325 von Gesellschaft konstituiert, constitutum nach dem Begriff der idealistischen Erkenntnisphilosophie: Aspekte, Mk 264. Vgl. auch: "Aber auch bei Hegel noch sind, und wahrhaft nicht aus sprachlicher Nachlässigkeit, die emphatischsten Ausdrücke wie Geist und Selbstbewußtsein der Erfahrung des endlichen Subjekts von sich selber entlehnt; auch er kann den Faden zwischen dem absoluten Geist und der empirischen Person nicht durchschneiden." Aspekte, Mk 264. "Daß die Form des Denkens die absolute ist und daß die Wahrheit in ihr erscheint, wie sie an und für sich ist, dieß ist die Behauptung der Philosophie überhaupt." System der Philosophie, I. Teil, Bd. 8 der Jubiläumsausgabe, hrsg. von Hermann Glockner, Stuttgart seit 1927; Dazu Adorno: "Wahrheit bleibt Hegel " kein bloßes Verhältnis von Urteil und Gegenstand, kein Prädikat subjektiven Denkens, sondern soll darüber substanziell sich erheben, eben als ein "An und für sich", Aspekte, M K 281. 3 2 4

Aspekte, Mk 255.

325 - w i e dig ersten Kategorien den organisierten Stamm und seine Macht über den einzelnen repräsentieren, gründet die gesamte logische Ordnung, Abhängigkeit, Verkettung, Umgreifen und Zusammenschluß der Begriffe in den entsprechenden Verhältnissen der sozialen Wirklichkeit, der

90

Allgemeiner Teil

"Nur einem äußerlich antithetischen, im Hegeischen Wortsinn abstrakten Denken wäre das Verhältnis von Geist und Gesellschaft das transzendentallogische von Konstituens und Konstitutum. Der Gesellschaft kommt eben das zu, was Hegel dem Geist gegenüber allen isolierten Einzelmomenten der Empirie reserviert. Diese sind durch Gesellschaft vermittelt, konstituiert, wie nur je einem Idealisten die Dinge durch den Geist, und zwar vor jeglichem partikularen Einfluß von Gesellschaft auf die Phänomene: sie erscheint in diesen wie bei Hegel das Wesen. Gesellschaft ist so wesentlich Begriff v/ic der Geist." 3 2 6 Hinsichtlich des Begriffs des absoluten Subjekts hat sich das Verhältnis von Geist und Gesellschaft im Vergleich zu Hegel somit umgedreht. Als Wesen des absoluten Geistes vermittelt Gesellschaft die isolierten Einzelmomente. An die Stelle des schaffenden und die sich widersprechenden Momente des Begriffes entwickelnden absoluten Geistes bei Hegel tritt die absolute Gesellschaft als Wesen der Entwicklung des philosophischen Begriffs: Geist selbst erweist sich als constitutum, Vermittlung als die subjektive und objektiv gesellschaftlich wirkende Kategorie, die den Zusammenhang zwischen Constituens und Constitutum nicht nur philosophisch beschreibt, sondern auch gesellschaftlich real herstellt. 327 Weil die Gesellschaft das Wesen des philosophischen Begriffes ist, der sich geschichtlich entfaltet, erscheinen die Menschen und ihr Denkbewußtsein notwendig als Phänomen. Sie sind bloßes "Moment" der Vermittlungsmaschine Gesellschaft. Auf der Objektebene korrespondiert dies der Analyse Adornos, daß die Menschen nicht als Individuen, sondern als Funktionsagenten, bloße Momente durch die ihnen zugeteilte Arbeit hindurchgehen. Die Isoliertheit der Hegeischen Momente in der Entfaltung des Begriffs trifft bei ihm die Menschen prinzipiell nur als schon vom gesellschaftlich und philosophischen Ganzen isolierte Mitglieder des Gesamtzusamenhanges unbewußter Berufsgruppen. Ist die Philosophie Hegels, weil sie gerade diese Nichtidentität des Wahren als Teilaspekt des absoluten Geistes abhandele "nach dem Richtspruch ihres eigenen Begriffs" unwahr, 3 2 8 erfahre jedoch andererseits der Begriff des absoluten Geistes auch das Moment der Wahrheit aus der ihn hervorbringenden Gesellschaft: Daß das Wesen des Hegeischen absoluten Geistes gesellschaftliches

Arbeitsteilung. Nur freilich ist dieser gesellschaftliche Charakter der Denkformen nicht, wie Durkheim lehrt, Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität, sondern Zeugnis der undurchdringlichen Einheit von Gesellschaft und Herrschaft." DdA 38. 3 2 6

Aspekte, Mk 267.

3 2 7

N D 310, Hervorhebungen vom Verf.

3 2 8

Aspekte, Mk 264.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

91

Produzieren als philosophisches Begreifen sei. 3 2 9 In der Hegeischen Philosophie werde nämlich die Kantische synthetische Einheit der Apperzeption, "Indifferenz erzeugender Spontaneität und logischer Identität" als "Totalität Prinzip des Seins nicht weniger als des Denkens": 330 "Indem aber von Hegel Erzeugen und Tun nicht mehr als bloß subjektive Leistung dem Stoff gegenübergestellt, sondern in den bestimmten Objekten, in der gegenständlichen Wirklichkeit aufgesucht sind, rückt Hegel dicht ans Geheimnis, das hinter der synthetischen Apperzeption sich versteckt und sie hinaushebt über die bloße willkürliche Hypostasis des abstrakten Begriffs." 3 3 1 Kommt im Begriff der Vermittlung das philosophische Verhältnis von Constituens zu Constitutum auf seinen transzendentallogisch kritischen Begriff und wird der absolute Geist Hegels aus Gründen seiner Abstraktion vom Empirischen Ich und der Uneinlösbarkeit seines eigenen essentialistischen Wahrheitsbegriffes 332 für diese Aufgabe als untauglich, als subjektive Hypostasis entlarvt, liegt für Adorno in diesbezüglich großer Nähe zu Marx im Arbeitsbegriff, im Produzieren, der erkenntnistheoretische Schlüssel für die Lösung des Vermittlungsproblemes von Subjekt und Objekt: Das Geheimnis "jedoch ist nichts anderes als die gesellschaftliche Arbeit... In dem ... Manuskript des jungen Marx wurde das erstmals erkannt: "Das Große an der Hegeischen Phänomenologie und ihrem Endresultate, der Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeigenden Prinzip ist, ... daß er ... das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift." 333

5.2.4.3. Gesellschaftliche Arbeit; Radikalität der Vermittlung Daß Arbeit in erkenntnisphilosophischer Hinsicht die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt vermittele und dadurch auch das Verhältnis zwischen Constituens und Constitutum bestimme, ist aber überhaupt nur denkbar, wenn die λ29 "Die vorgängige Allgemeinheit ist wahr sowohl wie unwahr: wahr, weil sie jenen Äther bildet, den Hegel Geist nennt; unwahr, weil ihre Vernunft noch keine ist, ihre Allgemeinheit Produkt partikularen Interesses" ND 22. 3 3 0 Aspekte, Mk 265. 3 3 1

Aspekte, Mk 265.

Bei Adorno heißt es stets: Wahrheit im emphatischen Sinne: Gemeint ist eine Bemühung des Denkens, die um die Erkenntnis absoluter Wahrheit und die Einsicht in ihre Voraussetzungen ringt. 3 3 3 Aspekte, Mk 265; zitiert nach Marx, Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1953, S. 269.

92

Allgemeiner Teil

Vermittlungsbeziehung eine radikale ist, außerhalb derer weder die Konzeption eines erkennenden, intelligiblen Subjekts, noch die des Objekts als des virtuell ganz anderen überhaupt gedacht werden kann. Daß die "durch "Produktion", durch gesellschaftliche Arbeit nach dem Tauschverhältnis zusammengeschlossene Welt... in allen ihren Momenten von den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion" abhänge, 334 ist die allein durch ihre objektive gesellschaftliche Radikalität wirksame Bedingung der erkenntnisphilosophischen Vermitteltheit subjektiver Konstitution von Erkenntnis sowie ihrer Objektivität. Der Radikalität der Vermittlung aller Erkenntnis und ihrer Gegenstände vor jeder subjektiven Erfahrung entspricht die Konstitution der Welt als eines geschlossenen und zugleich universell wirkamen Systems 335 der Arbeit: "Soweit die Welt ein System bildet, wird sie dazu eben durch die geschlossene Universalität von gesellschaftlicher Arbeit; diese ist in der Tat radikale Vermittlung ... Nichts in der Welt, was nicht dem Menschen einzig durch sie hindurch erschiene. Noch die reine Natur, wofern Arbeit keine Macht hat über sie, bestimmt sich eben durch ihr - sei's auch negatives - Verhältnis zur Arbeit." 3 3 6 Die von Adorno angenommene Radikalität der Vermittlung begnügt sich in dem Moment ihrer Totalität nicht mit dem bloß quantitativen Aspekt gewonnener oder verhinderter Erfahrung, sondern greift gerade auch auf die Qualität möglicher Erfahrung bzw. Erkenntnis aus: Subjekt und Objekt sind in der Vermittlung durch Arbeit auf identische Weise als nichtidentisch eingebunden: Während das Subjekt nicht Subjekt sein darf, da es immer schon auf die Vorvermitteltheit des objektiv waltenden Prinzips der Arbeitsteilung als Zwangsmechanismus und Beschränkung der Erkenntnis stößt, gehen die Objekte nicht in ihrem spezifischen Anderssein, sondern allein als abstrakte Vertreter der zu erkennenden, zu beherrschenden Welt in die Subsumtionsapparaturen ein. Sie werden gerade nicht als Objekte erfahren, sondern müssen wie die Subjekte sich dem System, der Totalität des Ganzen fügen: 3 3 7 Arbeit wird somit, "weil nichts gewußt wird, als was durch Arbeit hindurchging, ... zu Recht und zu Unrecht zum Absoluten, Unheil zum H e i l " . 3 3 8 Die Aufgabe der Philosophie muß es folglich sein, "dem zum Worte (zu A.d.V) verhelfen, was an der Sache selbst tätig ist, was als gesellschaftliche Arbeit den Menschen gegenüber objektive Gestalt hat und doch die Arbeit von Menschen

3 3 4

Aspekte, Mk 274.

3 3 5

Dies wurde treffend bereits bei Tichy 1977, S. 36 f. herausgearbeitet.

3 3 6

Aspekte, Mk 272.

3 3 7

Vgl. z.B. DdA 26.

3 3 8

Aspekte, Mk 272.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

93

bleibt", 3 3 9 da "das mit der transzendentalen Synthesis Gemeinte von der Beziehung auf Arbeit dem eigenen Sinn nach nicht sich lösen läßt." 3 4 0 Es muß der Philosophie darum gehen, durch Reflexion über die "ihrer selbst unbewußte Erfahrung der abstrakten gesellschaftlichen Arbeit" 3 4 1 die Totalität der arbeitsteiligen Gesellschaft als eigentliches undurchschautes logisches Transzendentalsubjekt der Erkenntnis 342 zu erweisen. Notwendige Bedingung dafür ist jedoch, daß sich Arbeit gerade als gesellschaftliche, als Tätigkeit des Allgemeinen und nicht als Konstitution der Welt durch das Besondere verstehen läßt: Denn nur unter dieser Voraussetzung kann über die kontingenten und verdinglichten Formen reduziert selbsterhaltender Rationalität hinaus auch in der gesellschaftlichen Produktion ein philosophisches Begreifen im Sinne der Vermittlung der Erkenntnisvorausetzungen der Subjekte allgemein vorgängig vor ihrem individuellen Bewußtsein erfolgen: es zeigt sich, daß die in der Dialektik der Aufklärung vorgenommene Interpretation der subjektiv aufklärerischen Isoliertheit der prototypischen Helden als gesellschaftliche und damit allgemeine, der erkenntnisphilosophischen Notwendigkeit folgt, subjektives isoliertes Handeln in seiner Abgeschiedenheit als radikal Gesellschaftliches zu erweisen, während der Begriff der selbsterhaltenden Rationalität das Bewußtsein der Gesellschaftlichkeit dieses Handelns nicht nur nicht voraussetzt: Die Unbewußtheit des gesellschaftlichen Momentes der je isolierten Tätigkeit ist die spezifisch kollektive Ausprägung der gesellschaftlichen Arbeit. 3 4 3 Diese Notwendigkeit ist in der Konsequenz der erkenntnisphilosophischen Metakritik des Idealismus bereits angelegt und wird von Adorno bloß in höchster Konsequenz durchgeführt: Die Selbstverborgenheit des Wesens des 3 3 9

Aspekte, Mk 269.

3 4 0

Aspekte, Mk 267/68.

3 4 1

Aspekte, Mk 267.

342

Schließlich wird ... das transzendentale Subjekt der Erkenntnis ... durch die reibungslose Arbeit der selbsttätigen Ordnungsmechanismen ersetzt. DdA 47 und auf die Gesellschaft als sein reales Subjekt, DdA 55. 3 4 3 "Das dem allgemeinbegrifflichen Umfang der Person Kommensurable, ihr individuelles Bewußtsein, ist immer auch Schein, verflochten in jene transsubjektive Objektivität, die nach idealistischer wie ontologischer Lehre im reinen Subjekt fundiert sein soll. Was das Ich introspektiv als Ich zu erfahren vermag, ist auch Nichtich, die absolute Egoität unerfahrbar ..." ND 275/276. "Soweit die Einzelnen des Vorrangs der Einheit über sie irgend gewahr werden, spiegelt er ihnen sich als Ansichsein des Allgemeinen zurück, auf welches sie tatsächlich stoßen: noch bis in ihr Innerstes wird es ihnen angetan, sogar wo sie selbst es sich antun." ND 310. Überspitzt gesagt treibt nach Adorno das subjektlose Prinzip der Subjektivität, das selbstlose Prinzip des Selbst und das identitätslose Prinzip der Identität auf eine Gesellschaft ohne Gesellschaft zu. "Diese erhält sich einzig durch ihre Antagonismen hindurch am Leben und vermag sie nicht zu schlichten" Aspekte 274. Das antagonistische Prinzip ihres Antagonismus triumphiert über alle anderen.

94

Allgemeiner Teil

absoluten Subjekts im Begriff gesellschaftlicher Arbeit und der Schein der individuellen Freiheit der zum Bewußtsein seiner selbst sich steigernden Person sind die sich entgegengesetzten und zugleich entsprechenden Aspekte dieser erkenntnisphilosophischen Konsequenz. Wäre nämlich das "Subjekt" der Gesellschaftlichkeit seines Handelns bewußt, wäre in dieser Reflexion der objektiven Vorgängigkeit totaler Vermittlung auch bereits das Moment ihrer Totalität überwunden; die Annahme radikaler Vermittlung als theoretische Seifenblase zerplatzt. Die Unbewußtheit des Einzelsubjekts über den spezifisch gesellschaftlichen Charakter seiner Denkformen und die Wahrheit des Begriffes arbeitsteiliger Vermittlung sind aufeinander verwiesen: "Das Moment der Allgemeinheit des tätigen transzendentalen Subjekts gegenüber dem bloß empirischen, vereinzelten und Kontingenten ist so wenig bloßes Hirngespinst wie die Geltung der logischen Sätze gegenüber dem faktischen Ablauf der einzelnen individuellen Denkakte. Diese Allgemeinheit vielmehr ist der zugleich genaue und, um der idealistischen Generalthesis willen, sich selbst verborgene Ausdruck des Wesens der Arbeit, die zur Arbeit überhaupt erst als ein Für anderes, mit anderen Kommensurables; als ein Hinausgehen über die Zufälligkeit des je einzelnen Subjekts wird. Von der Arbeit anderer hängt... die Selbsterhaltung der Subjekte nicht minder ab..als die Gesellschaft vom Tun der Einzelnen. Der Rückverweis des erzeugenden Moments des Geistes auf ein allgemeines Subjekt anstatt auf die individuelle, je arbeitende Einzelperson definiert Arbeit als organisierte, gesellschaftliche; ihre eigene "Rationalität", die Ordnung der Funktionen, ist ein gesellschaftliches Verhält-

5.2.4.4. Gesellschaft als Transzendentalsubjekt Problematisch mußte dann aber werden, inwieweit im Begriff der Arbeit auch gerade erkenntnisphilosophisch die konstituierenden - nicht selbst konstituierten Voraussetzungen - der Erkenntnis liegen und mittels gesellschaftlicher Arbeit die Gesellschaft in den Stand setzen könnten, das transzendentallogische Subjekt der Erkenntnis zu bilden. Daß "jenseits des identitätsphilosophischen Zauberkreises ... sich das Transzendentalsubjekt als die ihrer selbst unbewußte Gesellschaft dechiffrieren" 345 läßt, weil das transzendentale Prinzip selber "ontisch vermittelt", und darum 3 4 4

Aspekte, Mk 265/266, Hervorhebungen vom Verf.

3 4 5

N D 178/179 Hervorhebung vom Verf.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

95

auch nicht nur weniger abstrakt sondern "wirklicher" i s t 3 4 6 , daß die Gesellschaft das seiner selbst entfremdete Denken "auf die Gesellschaft als sein reales Subjekt bezieht" 3 4 7 , mußte gerade wegen des Begriffes der Subjektivität und seines Substrats, dem Subjekt selbst, zum Zentralproblem solcher Erkenntniskritik geraten: So kritisiert Adorno Hegel gerade darin, daß dieser das sich durchsetzende Allgemeine als Subjekt versteht und dadurch die unwahre Identität der Rationalität der Subjekte mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht kritisieren und folglich auch nicht verändern kann. Aber der bei Adorno konsequent analysierten Desubjektivierung der Dialektik der Aufklärung, ihr Umschlagen in einen abstrakten, nach Prinzipien sich vollziehenden Prozeß eskalierender Mechanisierung entspreche schon bei Hegel eigentlich Subjektlosigkeit: "Hegel behalf sich noch mit einem personifizierten Transzendentalsubjekt, dem freilich bereits das Subjekt abgeht. Marx denunziert nicht nur die Hegeische Verklärung, sondern den Sachverhalt, dem sie widerfährt." 348 Doch fragt sich, ob es im weiteren Fortgang der desubjektivierenden Selbsterhaltung aus dieser Kritik an Hegel heraus nach Adorno überhaupt zu einem Subjekt der Aufklärung, Subjektivität im philosophischen Sinne der Identität des Subjekts mit seinem transzententallogischen Begriff kommt, oder ob sich die Entwicklung in die "reibungslose Arbeit der selbsttätigen Ordnungsmechanismen" als in diesem Sinne subjektlos vollziehen muß. So deuten jedenfalls schon einige Sätze der Dialektik der Aufklärung auf solche in die prinzipielle Subjektlosigkeit des Aufklärungsprozesses führende, hier als prozessuale Subjektivität bezeichnete Gesellschaft hin: Denn "je weiter....der Prozeß der Selbsterhaltung durch bürgerliche Arbeitsteilung geleistet wird, um so mehr erzwingt er die Selbstentäußerung der Individuen, die sich an Leib und Seele nach der technischen Apparatur zu formen haben ... Schließlich wird ... das transzendentale Subjekt der Erkenntnis ... durch die reibungslose Arbeit der selbsttätigen Ordnungsmechanismen ersetzt. 349 Die Annahme der Gesellschaft als Transzendentalsubjekt ist zumindest dann undenkbar, wenn für sie gerade auch die Vermitteltheit nachweisbar wäre, nach der aus der Kritik des absoluten Subjekts bei Hegel für dieses Voraussetzungslosigkeit im Sinne bloßer Unmittelbarkeit von Adorno abgelehnt wurde. Die sich gegen Hegel richtende Kritik der Subjektlosigkeit der Subjektivität müßte in solcher Konsequenz dann auch bei Adorno zur Einsicht des Mangels 3 4 6

N D 178/179.

3 4 7

DdA 55.

3 4 8

ND 348. DdA 47, Hervorhebungen vom Verf.

96

Allgemeiner Teil

des hinter dem subjektiven Prinzip zu suchenden Substrates führen, seine Philosophie notwendig auf ein erkennendes Subjekt verzichten. Bestimmt sich der Gesellschaftsbegriff bei Adorno einerseits wesentlich im Begriff der Vermittlung durch Arbeitsteilung, so ist diese aber selbst andererseits durch die "Subjekte", die Agenten der Produktion, vermittelt.

5.2.4.4.1.

Vermittlung

der Gesellschaft durch die "Subjekt"-Monaden

Die Vermittlung von Gesellschaft und den Monaden ist für Adorno eine gegenseitige: Durch diese Gegenseitigkeit hindurch realisiert sich die Beziehung von Identität und Nichtidentität, zwischen Gesellschaft und "Subjekt", in Folge derer das "Subjekt" sich nur entweder als bloß abstrakt identisch mit dem allgemeinen Prinzip der Selbsterhaltung oder als vereinzeltes Objekt darstellen kann. 3 5 0 Wesentlicher Aspekt dieser gegenseitigen Vermittlung ist zunächst, daß sich die Arbeitsteiligkeit der Gesellschaft nur durch gerade die "Subjekte" verwirklicht, die zugleich durch diesen Vorgang zunehmend desubjektiviert werden. 3 5 1 Während im Individuum "das gesellschaftliche Prinzip unreflektierter Selbstbehauptung, selber das schlecht Allgemeine, hypostasiert" 352 ist, wirkt doch dieses schlecht Allgemeine nicht nur über das Subjekt in die Gesellschaft hinein, sondern wird überhaupt von den Subjekten in die Gesellschaft übertragen: "Zu ihrer zugleich allgemeinen und antagonistischen Gestalt ist der Übergang des selbsterhaltenden Interesses der Individuen an die Gattung geistig geronnen. Er gehorcht einer Logik, welche die große bürgerliche Philosophie an historischen Eckpunkten wie Hobbes und Kant nachvollzog: ohne die Zession des selbsterhaltenden Interesses an die, im bürgerlichen Denken meist vom Staat repräsentierte Gattung vermöchte in entwickelteren gesellschaftlichen Verhältnissen das Individuum nicht sich selbst zu erhalten." 353 Die im Ergebnis unwahre Identität von Besonderem und Allgemeinem als Folge des waltenden Entwicklungsgesetzes stellt sich dabei auf verschiedene Weise her: Sie entfaltet sich "kraft des Abstraktionsprozesses", auf dem die Dieser Zusammenhang wird sehr genau analysiert bei Tichy 1977, vgl. S. 28 und S. 54 f. "Während der Einzelne vor dem Apparat verschwindet, den er bedient, wird er von diesem besser als je versorgt." DdA 15. "Was allen durch die Wenigen geschieht, vollzieht sich stets als Überwältigung Einzelner durch Viele." DdA 38. 3 5 2

N D 279.

ND 312.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

97

Allgemeinheit der ratio beruht, "welche die Bedürftigkeit alles Besonderen, sein Angewiesensein aufs Ganze ratifiziert." 354 Sie resultiert als Hypostasis, "Totalität, gesellschaftlich notwendiger Schein ... des aus Einzelmenschen herausgepreßten Allgemeinen." 355 , wird als principium individuationis durch das Individuum "realisiert" 356 , als "entfaltete bürgerliche Gesellschaft ... aus ungezählten Einzelspontaneitäten der sich selbst erhaltenden und in ihrer Selbsterhaltung aufeinander angewiesenen Individuen" komponiert. 357 Stellt sich auf diese Weise das Allgemeine durch das Besondere, die Objektivität der Gesellschaft über das Handeln ihrer desubjektivierten "Subjekte", ihrer Monaden 3 5 8 her, ist die Annahme der Unvermitteltheit der Gesellschaft selbst abzulehnen, das Subjekt solcher sich realisierenden objektiven Subjektivität problematisch. Wenn Adorno im Tauschbegriff für dieses Problem eine Erklärung konzipiert, liegt diese letztlich in der objektiven Radikalität, mit der die Individuen durch das vorgängig Allgemeine, das aus ihnen durch Abstraktion sich speist, zu ihrem unbewußten Handeln gezwungen werden. Denn sie sind "vermöge des Individuationsprinzips selbst, der monotonen Beschränkung jedes Einzelnen aufs partikulare Interesse, auch einander gleich und sprechen demgemäß auf die herrschende abstrakte Allgemeinheit an, als wäre sie ihre eigene Sache. Das ist ihr formales Apriori. Umgekehrt ist das Allgemeine, dem sie sich beugen, ohne es noch zu spüren, derart auf sie zugeschnitten, appelliert so wenig mehr an das, was ihm in ihnen nicht gliche, daß sie sich frei und leicht und freudig binden." 3 5 9 So sind sie in dem Funktionszusammenhang, welcher der Form der Individuation bedarf, zu "bloßen Ausführungsorganen des Allgemeinen relegiert". 360

3 5 4

N D 312/317.

3 5 5

N D 317.

3 5 6

N D 336.

3 5 7

N D 309.

oco

Die Ausdrücke sind vielgestaltig, sie sind: "Charaktermasken, Agenten des Werts ... reagieren unterm Zwang des Allgemeinen ..." N D 306. Agenten "des Wertgesetzes" M M Aph. 147, sind "wehrlos Gehorchende" N D 306, angewiesen "aufs Ganze" ND 312, vgl. auch Schweppemhäuser 1971, S. 100. ICQ N D 342, Hervorhebungen vom Verf; Deshalb ist bei Adorno auch "die Substanz des Individuums die Gesellschaft", wie Schweppenhäuser 1971, S. 93 treffend bemerkt. 360 N D 3 3 6 _ 7 M. Becker

98

Allgemeiner Teil

5.2.4.4.2.

Tauschprinzip als Prinzip des mit sich selbst identischen Transzendentalsubjekts

Wenn sich das Partikulare somit als vollkommen gesellschaftlich bestimmt 3 6 1 erweist, es vom Allgemeinen bis ins Denken hinein 3 6 2 diktiert ist, es als Besonderes gerade wegen der Totalität seiner Vermitteltheit durch das Allgemeine weder als Besonderes noch als Subjekt überhaupt sein kann, 3 6 3 kann die von Adorno im Begriff des Tausches angebotene Analyse darin bestehen, daß die Gesellschaft ihre Identität gegen die von ihr zu Agenten reduzierten Einzelnen gerade mit ihrem Prinzip, dem des Tausches, zu realisieren vermag. Denn im Tausch verwirklicht die Gesellschaft Adorno zufolge objektiv und subjektiv ihre Identität mit der Tautologie ihrer Selbsterhaltung. Unter dieser Voraussetzung führt Adornos kritische Analyse zwar zur Entpersonalisierung eines Transzendentalsubjekts Gesellschaft: Indem dieses Transzendentalsubjekt sich aber zugleich als objektiver verdinglichter Prozeß der Bewegung von Allgemeinem und Besonderem im System erweist, sichert es die Voraussetzungen, die seine erkenntnisphilosophische Konzeption als Bedingung an es stellten. Während die Hypostasierung des Transzendentalsubjekts im Prozeß seiner Verwirklichung verschwindet, realisiert es den Vorrang des Allgemeinen über das Besondere als identifizierendes Begreifen.

5.2.4.4.2.1.

Gesellschaft als Begriff (Tausch)

Die Voraussetzung für diese Lösung des Vermittlungsproblems wird von Adorno dadurch geschaffen, daß er Gesellschaft als Begriff, den gesellschaftlichen Prozeß der Selbsterhaltung in der Realität des Tauschprinzips als Begreifen versteht. Begriff ist dabei wesentlich Identität, Begreifen die Verwirklichung von Identität zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Begriff und Gegenstand und zwischen gemeinsam unter den Begriff subsumierten Gegenständen durch die Form der Subsumtion. 364

3 6 1

'lfS) N D 307. oro

ND 328. Das Uberindividuelle synthetisiert sich in den Individuen, "wodurch allein sie denken."

Das Allgemeine, durch welches jeder Einzelne sich überhaupt als Einheit seiner Besonderung bestimmt, ist dem ihm Auswendigen entlehnt und darum dem Einzelnen auch so heteronom, wie nur, was einst Dämonen über ihn sollten verhängt haben." ND 310. "Soviel ist wahr an der Hegeischen Insistenz auf der Allgemeinheit des Besonderen, daß das Besondere in der verkehrten Gestalt ohnmächtiger und dem Allgemeinen preisgegebener Vereinzelung vom Prinzip der verkehrten Allgemeinheit diktiert wird." ND 338. 3 6 4 Vgl. zu diesen drei Beziehungen Guzzoni 1981, S. 9 f.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

99

In der Verwirklichung des Identitätsprinzips und der Gesellschaft als sich selbst erhaltendes System wird die Reflexion und das Bewußtsein der je es mittelnden Einzelmomente deshalb irrelevant, weil sich ihr jeweiliges vereinzeltes Handeln gerade objektiv, real, als transzendentale Bedingung ihrer Selbsterhaltung und der dadurch vorrangig vorgeordneten gesellschaftlichen, technischen und formalen Rationalität setzt: "Gesellschaft ist so wesentlich Begriff wie der Geist. Als Einheit der durch ihre Arbeit das Leben der Gattung reproduzierenden Subjekte wird in ihr objektiv, unabhängig von aller Reflexion, abgesehen von den spezifischen Qualitäten der Arbeitsprodukte und der Arbeitenden.Das Prinzip der Äquivalenz macht Gesellschaft im neuzeitlichen bürgerlichen Sinn zum Abstrakten und Allerwirklichsten, ganz wie Hegel es vom emphatischen Begriff des Begriffs lehrt. Darum stößt jeder Schritt des Gedankens auf Gesellschaft, und keiner vermöchte sie als solche, als Ding unter Dingen, festzunageln." 365 Das Tauschprinzip, "die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff durchschnittlicher Arbeitszeit," ist für Adorno "urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität." 3 6 6 Der Begriff des Tausches erfüllt für Adorno somit nicht nur die Funktion radikaler Vermittlung, insofern die einzelne arbeitsteilige Leistung zwar objektiv auf die Funktion gesellschaftlicher Systemerhaltung bezogen ist, aber in die Reflexionsbedingungen, nach denen der Zusammenhang zur Wiederholung des Naturfluches Herrschaft dem einzelnen Subjekt bewußt werden könnte, nicht Aspekte, M K 267 Gegen den Tauschbegriff ist von Beier 1977, eingewandt worden, daß er wegen seiner Doppelfunktion in der kritischen Theorie Adornos, transzendentallogisches Paradigma der Erkenntnisphilosopie und zugleich auch reale gesellschaftliche Vermittlung zu sein, keinen begründungstheoretischen Status bezüglich der Erklärung der gesellschaftlichen Zusammenhang stiftenden Strukturen haben könne. Beier 1977, S. 65. Er sei insbesondere mit einem gesellschaftstheoretischen Defizit behaftet, das sich daraus ableite, daß der Stellenwert des eigenen vernunftphilosophischen Ansatzes nicht selbst gesellschaftstheoretisch hinterfragt worden sei. Ebd., S. 67 und S. 79. Die Folge sei ein Mangel wissenschaftlicher Präzisierung der Formen und Funktionsweisen des gesellschaftlich Ganzen sowie der diversen Ausprägungen der dieses gestaltenden gesellschaftlich relevanten Subjektivität. Ebd., S. 79 bis 81. Die Kritik hat ihre Wahrheit darin, daß sich die extremen Einsichten des erkennenden Subjekts zwar der Gesetzmäßigkeit vergewissern, welcher sie sich verdanken, diese Einsichten sich jedoch nicht - im scientifischen Sinne formallogisch deduzierbar - als Folge von prognostizierbaren Ergebnissen aus Obersatz und Randbedingung ableiten lassen. Insofern lebt die Adornosche Philosophie wesentlich aus einer erkenntnistheoretischen Übertreibung. Gerade darin ist sie erstaunlich traditional, auch wenn andererseits "die totalisierende Übertreibung" die Funktion haben mag, "vor Relativierung und damit vor Affirmation zu schützen" Link 1986, S. 109. 3 6 6

ND 149.

100

Allgemeiner Teil

mehr eintritt; indem dessen rational selbsterhaltendes Verhalten isoliert und unbewußt bleibt, erfolgt es konstitutiv unter dem Signum des principium individuationis, der Verfolgung des je eigenen partikular atomistischen Interesses: "Nach wie vor konserviert der gesellschaftliche Produktionsprozeß im tragenden Tauschvorgang das principium individuationis, die private Verfügung, und damit alle bösen Instinkte des ins eigene Ich Eingekerkerten." 367 Arbeit findet deshalb nur dem Scheine nach individuell statt. Sie steht im Zeichen der Subsumtion des je für sich Anderen unter das Eine, nämlich unter die Identität des Selbsterhaltungsinteresses des Ganzen. Im Tausch wird je verschieden Ungleiches, Nichtidentisches unter dem Gesichtspunkt der Identität kommensurabel, nach der Idee der Gleichheit subsumiert und daher gerade als Besonderes, Nichtidentisches bloß allgemein, identisch.

5.2.4.4.2.2.

Tauschbegriff: Nichtstoffliches in der Objektivität: Geist objektiv; real vollzogen

Wenn der Tausch für Adorno auch die nach den Bedingungen des principium individuationis subjektiv gewollte Unterordnung, und Subsumtion des Nichtidentischen unter das Identitätsprinzip bedeutet, dem Aufklärung, gesellschaftliche Arbeit und die Rationalität der Selbsterhaltung der Einzelnen blind folgen, so kann es sich somit nicht vorrangig um einen subjektiven Begriff handeln. Der Grund dafür, daß Adorno letztlich nicht auf ein dingfest zu machendes Transzendentalsubjekt verweisen muß, besteht gerade im Charakter des Tausches als Begriff, der sein nichtstoffliches Moment "in der Sache der gesellschaftlichen Objektivität selbst" habe: "Die Kategorie, die Marx ... als die objektive schlechthin betrachtet hat, durch die sich über den Köpfen der einzelnen Subjekte so etwas wie materielle Notwendigkeit durchsetzen soll, die Kategorie des Tausches, ist in sich auch ein Begriffliches, Geistiges ... Tauschwert, Tausch überhaupt gibt es eigentlich nur insoweit, wie es Begriffe gibt; insofern liegt das Moment des Begriffes, also das nichtstoffliche Moment, nicht nur in der Konstruktion der Begriffe und nicht bloß im Betrachter, sondern ebenso in der Sache der gesellschaftlichen Objektivität selbst" 3 6 8 Der Tauschbegriff ist deshalb in einem spezifischen Sinne radikal. Er vermittelt die Sphäre des Geistes und der Wirklichkeit gerade dadurch, daß er die von Subjekt und Objekt unter dem Gesichtspunkt sich ausschließlich setzender 3 6 7

N D 337.

3 6 8

Phil Term II 22, 23, Hervorhebungen vom Verf.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

101

Identität durch die Einzelnen hindurch real vollzieht. Indem diese das Prinzip tatsächlich vollziehen, sich klein machen und unter den Tauschwert bringen, siegt das Moment der Äqivalenz über ihre Subjektivität und Individualität. Sie können nicht Subjekt bleiben, weil sie nach einem Gesetz antreten, das sie zwar selbst in die Wirklichkeit hineintragen, das aber zugleich gerade auf sie als Subjekte durch seinen eigenen Zwang wirkt: "Das abstrakt Allgemeine des Ganzen, das den Zwang ausübt, ist verschwistert der Allgemeinheit des Denkens, dem Geist... Im Geist ist Einstimmigkeit des Allgemeinen Subjekt geworden, und Allgemeinheit behauptet sich nur durchs Medium des Geistes, die abstrahierende Operation, die er höchst real vollzieht. Beides konvergiert im Tausch, einem zugleich subjektiv Gedachten und objektiv Geltenden, worin doch die Objektivität des Allgemeinen und die konkrete Bestimmung der Einzelsubjekte, gerade dadurch, daß sie kommensurabel werden, unversöhnt einander opponieren." 369 Adorno stellt also nicht, wie im vereinfachenden Bild Marx, Hegels Dialektik vom Kopf auf die Füße. Er erkennt, gegen die kurzbeinigere Ansicht des einflußreichen Hegelschülers, daß Füße zwar nur mithilfe des Kopfs von der Allgemeinheit ihres Weges erfahren; der Gedanke aber seine Kraft auch von der Natur seines Leibes nimmt. Gegen die Einseitigkeit eines Vorranges des Geistes vor der Materie oder des Materiellen vor dem Spirituellen behauptet sich bei Adorno die Falschheit des in sich vermittelten Ganzen. Sie äußert sich im Leiden des Subjekts. 370

5.2.4.4.2.3.

Subjektivität als Objektivität (Tausch)

Der Subjektivität des Tauschbegriffes, die sich darin ausdrückt, daß die "Subjekte" als die Vielen jene Objektivität "subjektiv" herstellen, 371 entspricht auf der Ebene des Einzelnen keine mit dem Ganzen versöhnte Subjektivität. Diese ist notwendig Schein, ihre Unwahrheit als philosophische Hypostasis Ideologie: "Die universale Herrschaft des Tauschwertes über die Menschen,

3 6 9

370

N D 310, Hervorhebungen vom Verf.

So begann, wie unten gezeigt wird, in Windungen die Psychosomatik der Philosophie ihren in die Dämmerung tastenden Gang. Vgl. Zum Zusammenhang der Psychosomatik der Freiheit mit der 371Rechtsphilosophie BT 3.2. und BT 3.3.2. Hegels "Ganzes ist überhaupt nur als Inbegriff der je über sich hinausweisenden und sich auseinander hervorbringenden Teilmomente; nichts jenseits von ihnen. Darauf zielt seine Kategorie von Totalität". Aspekte 254. Subjektiv ist die Gesellschaft, weil sie auf die Menschen zurückweist, die sie bilden, und auch ihre Organsiationsprinzipien auf subjektives Bewußtsein und dessen allgemeine Abstraktionsform, die Logik, ein wesentlich Intersubjektives" Einleitung in den Positivismusstreit, GS, Bd. 8, S. 316.

102

Allgemeiner Teil

die den Subjekten a priori versagt, Subjekte zu sein, Subjektivität selber zum bloßen Objekt erniedrigt, relegiert jenes Allgemeinheitsprinzip, das behauptet, es stifte die Vorherrschaft des Subjekts, zur Unwahrheit." 372 Ist die eigentliche Subjektivität der Einzelsubjekte aber als solche objektiv vermittelt und muß sie als Schein entlarvt werden, ist auch die dem Transzendentalsubjekt zukommende eher als Objektivität zu denken. 373 Unter den objektiven Selbsterhaltungsbedigungen im geschlossenen System der Selbsterhaltung ist nicht das freie, zur spontanen Synthesisleistung bevollmächtigte Subjekt Kants, sondern der durch den allgemeinen Zwang gebundene "Bürger in den sukzessiven Gestalten des Sklavenhalters, freien Unternehmers, Administrators, ... das logische Subjekt der Aufklärung." 3 7 4 Die Objektivität der transzendentalen Subjektivität schiebt sich über diese tranzendentale Subjektivität. Wofür sich der Bürger halten muß, die Annahme seiner Freiheit und Spontaneität, zieht sich in der Reflexion Adornos auf die Einsicht zusammen, daß er gerade in seiner Unfreiheit und Bedingtheit Vermittlungssubjekt 375 der ihm vorgeordenten Einheit zu sein hat: "Soweit die Einzelnen des Vorrangs der Einheit über sie irgend gewahr werden, spiegelt er ihnen sich als Ansichsein des Allgemeinen zurück, auf welches sie tatsächlich stoßen: noch in ihr Innerstes wird es ihnen angetan, sogar, wo sie selbst es sich antun." 3 7 6

5.2.4.4.2.4.

Objektivität als Prozeß verdinglichter Subjektivität (Tausch)

Während sich die transzendentale Subjektivität der Gesellschaft unbewußt durch den Schein der Subjektivität der Einzelnen zum äußeren Naturgesetz verdichtet, bestimmt sich doch dadurch kein gesellschaftliches unmittelbar angebbares Subjekt: "Das konstitutive Subjekt der Philosophie ist dinghafter denn

3 7 2

ND 180.

3 7 3

Vgl. z.B. Müller 1988, S. 177; Tichy 1977, S. 28 "Je mehr jedoch das Einzelsubjekt mit dem ihm nichtidentischen Allgemeinen ineins gesetzt wird, desto mehr wird nach Adorno Subjektivität entsubjektiviert; sie verliert die Bedeutung, das Allgemeine freier Einzelsubjekte zu sein, dadurch, daß sie sie als einzelne nicht mehr zuläßt." 3 7 4

DdA 102.

"Der lebendige Einzelmensch so wie er zu agieren gezwungen ist und wozu er auch in sich geprägt wurde, ist als verkörperter homo oeconomicus eher das transzendentale Subjekt denn der lebendige Einzelne, für den er sich doch unmittelbar halten muß" Stichworte, GS 10, Bd. 2, S. 745.

ND 3 1 .

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

103

der besondere seelische Inhalt, den es als dinghaft naturalistisch aus sich ausschied." 3 7 7 Die Pointe der Konstruktion liegt somit gerade darin, daß sich zwar eine allerdings als objektive zu denkende 378 - Subjektivität der Gesellschaft ergibt, aufgrund der Verdinglichung des Vermittlungsvorganges sich aber nur ein Subjekt dieser Subjektivität ausmachen läßt, das als verdinglichte Rationalität der Selbsterhaltung trotz seiner "Wirklichkeit" als Abstraktum erscheinen muß. Das Tauschprinzip ist genausowenig wie "Arbeit in keiner Gestalt, der des Fleißes der Hände so wenig wie der geistiger Produktion, zu hypostasie-

5.2.4.4.2.5.

Prozeß als Verwirklichung des Identitätsprinzips (Identität)

So zersetzt sich der Begriff des Subjekts als eines Allgemeinen, das mit seinem Begriff identisch wäre dadurch, daß es in die Komponenten einer Permanenz der Wiederholung und des Prozesses im geschlossenen System der Gesellschaft aufgelöst w i r d . 3 8 0 Übrig bleibt ein Wesen des Transzendentalsubjektes, das hier mit objektiver transzendentallogischer Prozeßsubjektivität benannt werden kann. Diese erfüllt die Bedingung, ein Begreifen im Sinne der idealistischen Erkenntnisphilosophie zu sein, gerade dadurch, daß sie die Identität mit ihrem eigenen permanenten Prozeß durch die empirischen Subjekte objektiv mittelt. "Was seit der Kritik der reinen Vernunft das Wesen des transzendentalen Subjekts ausmacht, Funktionalität, die reine Tätigkeit, die sich in den Leistungen der Einzelsubjekte vollzieht und diese zugleich übersteigt, projiziert freischwebende Arbeit aufs reine Subjekt als Ursprung ... Die Allgemeinheit des

3 7 7

ND 178.

3 7 8

So auch Tichy 1977, S. 58.

3 7 9

N D 179.

380

Dies findet eine Parallele in Adornos prozessualem Wahrheitsbegriff: "Unterm Aspekt des Ansichseins der Wahrheit nicht weniger als dem der Aktivität des Bewußtseins ist Dialektik ein Prozeß: Prozeß nämlich ist die Wahrheit selber.." Aspekte, Mk 282. Zur Verkehrung des Verhältnisses von Subjektivität und Objektivität vgl. auch schon ganz ähnlich Marx: "Der wirkliche Mensch und die wirkliche Natur werden bloß zu Prädikaten, zu Symbolen dieser verborgenen unwirklichen Menschen und dieser unwirklichen Natur. Subjekt und Prädikat haben daher das Verhältnis einer absoluten Verkehrung zueinander, mystisches Subjekt-Objekt oder über das Objekt übergreifende Subjektivität, das absolute Subjekt als ein Prozeß, als sich entäußerndes und aus der Entäußerung in sich zurückkehrendes, aber sie zugleich in sich zurücknehmendes Subjekt und das Subjekt als dieser Prozeß; das reine rastlose Kreisen in sich." Karl Marx, Kritik der Hegeischen Dialektik und Philosophie überhaupt, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Studienausgabe 1990, Bd. 1, S. 78.

104

Allgemeiner Teil

transzendentalen Subjekts aber ist die des Funktionszusammenhanges der Gesellschaft ..." 3 8 1 , der wiederum ausschließlich der Selbsterhaltung des Ganzen dient. 3 8 2 Das Ziel der Philosophie muß es angesichts des bloß projizierbaren Subjekts folgerichtig sein, einerseits mehr Subjekt durch Einsicht ins Objektive und mehr Objekt durch Einsicht in die gesellschaftlichen Bedingungen der Subjektivität zu gewährleisten. In einem Schaubild läßt sich der Zusammenhang zwischen der objektiven transzendentallogischen Prozeßsubjektivität als Funktionalität des Ganzen, dem objektiven Tauschbegriff und seiner funktionalen Subjektivität in den Subjektmonaden darstellen. objektiv

Tausch

Gesellschaft = Wesen

"Subjekte"

objektive transzendentallogische Prozeßsubjektivität = Funktionalität des Ganzen

Verdinglichung Prozeß "subjektiv"

Subjekt = Schein = Monade Es findet eine objektive Bewegung statt, die vom Prinzip des Subjekts über den Prozeß des Subjektivitätsprinzips zur Subjektivität dieses Prozesses führt. Der Vermittlungsbegriff geht im Begriff der Tautologie als selbsterhaltende Reproduktion des Immergleichen auf. Gesellschaft kann als Fortsetzung von Natur erscheinen, weil sie die Herrschaft der Selbsterhaltung ohne Rücksicht auf Individualität und Einzelsubjekte identisch fortsetzt und gerade dadurch die Voraussetzung erfüllt, mit dem Begriff ihrer eigenen Identität subjektiv zusammenzufallen. Die Permanenz der Herrschaft sichert der Gesellschaft die Identität mit dem eigenen Prinzip, nämlich zu produzieren und darin wesentlich subsumierendes Begreifen zu sein. Insofern erweist sich der Begriff der Identität als auch dem Tauschprinzip vorgängig. Er diktiert dem Vermittlungsbegriff im Tausch seinen notwendig tautologischen Inhalt. Nur aufgrund dieser Tautologie ist es dem Tauschbegriff

3 8 1

N D 179/180.

"Die Bestimmung des Transzendentalen als des Notwendigen, die zu Funktionalität und Allgemeinheit sich gesellt, spricht das Prinzip der Selbsterhaltung der Gattung aus." ND 180. Deshalb hat "Geschichte ... bis heute kein wie immer konstruierbares Gesamtsubjekt. Ihr Substrat ist der Funktionszusammenhang der realen Einzelsubjekte" ND 299.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

105

gegeben, wirklich zu sein gerade durch seine Abstraktheit, subjektiv durch seine Objektivität, allgemein, indem es Partikularität nicht zuläßt, Wesen zu sein und nur durch den Schein vermittelt. Nur wer die Vermittlung begreift, kann deshalb erkennen. Da aber die Vermittlung total ist, muß gerade die Totalität der Vermittlung erkannt werden. Insofern gerät der Begriff der Totalität bereits wie der der Vermittlung überhaupt zum kritischen. Erkenntnis zieht sich zu derjenigen zusammen, daß ihre Bedingung die Kritik ihrer totalen gesellschaftlichen Vermitteltheit sei. Während die Gesellschaft als Subjekt der Selbsterhaltung und der Erkenntnis erkannt wird, formuliert die Dialektik die Voraussetzungen der Subjektwerdung: Kritik an Produktion und Tausch.

5.3. Die Gesellschaft als System 5.3.1. Nichtidentität: Einheit von Erkenntnis- und Sozialphilosophie; Wahrheit und Unwahrheit des Tauschprinzips Wurde der Philosophie Hegels von Adorno vor allem vorgeworfen, daß sie das Nichtidentische gerade unter dem Gesichtspunkt der Identität in die Bestimmung des absoluten Geistes hinneinnehme, 383 wird bei Adorno umgekehrt die erkenntnisphilosophische Identität von Identität und Nichtidentität unter dem Gesichtspunkt der Nichtidentität gesehen. Unter dem Gesichtspunkt der Nichtidentität aber ist die Philosophie Hegels nach Adorno mehrfach unwahr: Als Identität zunächst des Subjekts mit dem Objekt sowie des intelligiblen Subjekts mit seinem eigenen Begriff, Constituens der Erkenntnis zu sein. Unwahr ist sie aber in noch radikalerer Hinsicht gerade in ihrer Wahrheit: Insoweit sich aufgrund der totalen Vermittlung des Tauschprinzips das Identitätsprinzip gesellschaftlich ungehindert wie eine Starre über alles Leben zieht, 3 8 4 besteht die Unwahrheit dieser wahren Abbildung darin, daß die Wirklichkeit nicht zufällig mit der aus ihr erwachsenden Philosophie kongruent ist, sondern daß beide selbst derselben vorgängigen totalen Vermittlung durch das Identitätsprinzip unterliegen. Philosophie und Wirklichkeit sind kongruent in ihrer durch das unwahre Identitätsprinzip vermittelten Unwahrheit.

3 8 3

384

Vgl. dazu schon oben AT. 3.

"Seit mit dem Ende des freien Tausches die Waren ihre ökonomischen Qualitäten einbüßten bis auf den Fetischcharakter, breitet dieser wie eine Starre über das Leben der Gesellschaft in all seinen Aspekten sich aus." DdA 45. Insofern bildet die Hegeische Philosophie die gesellschaftliche Wirklichkeit durchaus richtig ab.

106

Allgemeiner Teil

Nur deshalb kann Adorno im Begriff des Tausches die dialektische Einheit von Logik, Geschichts- und Sozialphilosophie Hegels übernehmen und zugleich in ihrem Wesen kritisieren. Zwar erscheint die dialektische Einheit, in der sich Geist in der Geschichte verwirklicht, auch als wahr: Denn im Tausch zeigt sich auf allerwirklichste Weise der Begriff der Identität als Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem sowie von Identität und Nichtidentität. Indem jedoch Allgemeines und Identität nur als Vorrang sich allgemein und identisch verwirklichen können und darin Besonderes und Nichtidentisches nicht als ganz anderes, sondern nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Subsumierbarkeit eingehen, selbst wiederum eines allgemeinen, ist nicht nur der Hegeische Begriff der Wirklichkeit, sondern auch die Wirklichkeit selbst 3 8 5 unwahr. Das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem und das von Identität und Nichtidentität sind in ihrem Zusammenhang mit der Einheit von Gesellschafts- und Erkenntnisphilosophie gerade im Begriff des Tausches identisch. Das Wirklichkeitssubstrat dieser Identität ist die Totale als Index des Falschen, des Unwahren. 386 Die gesellschaftliche Vorgängigkeit des Allgemeinen durch das Tauschprinzip führt in Adornos Denken zur Nichtidentität der Identität mit dem Nichtidentischen, also der allgemeinen und radikalen Vermittlung alles Besonderen, und damit zur erkenntnisphilosophischen Unwahrheit sowohl des Besonderen als auch des Allgemeinen. Denn insoweit Nichtidentisches durch das Prinzip vorgängiger Identität durch das Tauschprinzip kommensurabel wird, erfüllt Tausch seinen eigenen Begriff nicht, die Beziehung des Verschiedenen auf das Identische zu realisieren. Denn im Tausch wird das Besondere, das sich ihm fügt, immer TOC Ein Gesichtspunkt, der Adorno zufolge auch schon bei Hegel erscheint: "Das Prinzip des Werdens der Wirklichkeit, wodurch sie mehr ist als ihre Positivität, also der zentrale idealistische Motor Hegels, ist zugleich antiidealistisch, Kritik des Subjekts an der Wirklichkeit, die der Idealismus dem absoluten Subjekt gleichsetzt, nämlich das Bewußtsein des Widerspruchs in der Sache und damit die Kraft der Theorie, mit der diese sich gegen sie selbst kehrt. Mißlingt Hegels Philosophie nach dem höchsten Kriterion, dem eigenen, so bewährt sie sich zugleich dadurch. Die Nichtidentität des Antagonistischen, auf die sie stößt und die sie mühselig zusammenbiegt, ist die jenes Ganzen, das nicht das Wahre, sondern das Unwahre, der absolute Gegensatz zur Gerechtigkeit ist. Aspekte, Mk 276/277. ι ο ί "Das Zug um Zug der Geschichte ebenso wie das zur Totalität fortschreitende Aquivalenzprinzip des gesellschaftlichen Verhältnisses zwischen den Einzelsubjekten verläuft nach der Logizität, die Hegel vorgeblich in sie bloß hineininterpretiert. Nur ist diese Logizität, der Primat des Allgemeinen in der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, index falsi. So wenig wie Freiheit, Individualität, all das, was Hegel mit dem Allgemeinen in Identität setzt, ist auch jene Identität. In der Totale des Allgemeinen spricht dessen eigenes Mißlingen sich aus. Was kein Partikulares erträgt, verrät damit sich selber als partikular Herrschendes." ND 311.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

107

auch betrogen, ist nicht mehr es selbst; gibt es mehr, als es erhält, wirft es sich weg, um zu erhalten und doch nur falsch wiederzubekommen. 387 "Der Tausch hat als Vorgängiges reale Objektivität und ist zugleich objektiv unwahr, vergeht sich gegen sein Prinzip, das der Gleichheit" 3 8 8 Über die erkenntnisimmanent verbleibende Unwahrheit des Identitätsprinzipes führt dessen Totalität unter dem Gesichtspunkt der Nichtidentität aber umgekehrt notwendig dazu, die aus der Nichtidentität stammende erkenntnisphilosophische Unwahrheit auch als Unwahrheit der Gesellschaft zu verstehen. Weil der Tausch nicht nur eine gedankliche, subjektive Kategorie ist, sein Begreifen der Einzelmomente realen Zwang bedeutet, legt er mit der Radikalität seiner Wirksamkeit die Totalität der Gesellschaft als eine unwahre fest. Nur deshalb kann die Unwahrheit des Tauschprinzips für Adorno mit der Unwahrheit der Idee subjektiv transzendentaler Freiheit der idealistischen Philosophie auch die der Gesellschaft erfassen, deren Wesen jene Idee eigentlich meint: "Die universale Herrschaft des Tauschwertes über die Menschen, die den Subjekten a priori versagt, Subjekte zu sein, Subjektivität selber zum bloßen Objekt erniedrigt, relegiert jenes Allgemeinheitsprinzip, das behauptet, es stifte die Vorherrschaft des Subjekts, zur Unwahrheit." 389

007 Vgl. DdA 79. Die Nichtidentität in der Philosophie Adornos betrifft nicht nur das Verhältnis von Allgemeinem zu Besonderem, sondern auch vom Besonderen zu sich selbst und anderem Besonderen: 1. als (intelligibles) Subjekt ist es nicht mit sich selbst identisch, da eben es nicht voraussetzungslos ist, sondern prinzipiell vermittelt durch ein Allgemeines. 2. Als empirisches Subjekt ist es nicht identisch, da es auch im Prozeß seiner Selbsterhaltung gerade tatsächlich der Zwangsgewalt des konkretisierten Identitätsprinzips Tausch unterworfen bleibt und gesellschaftlich subsumiert. 3. Mit dem Allgemeinem der Gesellschaft ist es zwar identisch, insofern dieses Allgemeine gerade Partikularität bedeutet: Da das Allgemeine aber gerade das Prinzip der Identität (Verdoppelung) von Nichtidentität von Allgemeinem und Besonderem ist, also wesentlich Nichtidentität, reduziert sich die Identität des Besonderen mit dem Allgemeinen auf seine eigene Nichtidentität mit dem Allgemeinen, die in dieser Identität gerade schon enthalten (subsumiert) ist. Das Subjekt fällt damit nicht mit seinem eigenen Begriff und mit dem Begriff der Gesellschaft gerade nur als Nichtidentisches zusammen. Das Einzelsubjekt ist im Vollzug des Prinzips der Subjektivität weder als denkendens noch als handelndes Einzelsubjekt jemals mit seinem allgemeinen identisch. Dies ist der Kern der unwahren Identität der Einzelsubjekte mit ihrem Allgemeinen. Vgl. hierzu insbesondere Tichy 1977, S. 28 3 8 8

3

ND 190.

N D

1 .

108

Allgemeiner Teil

5.3.2. Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen als Ausdruck von Identität und Nichtidentität Das Allgemeine der Gesellschaft und das je Besondere sind identisch, weil das allgemeine Prinzip gerade das der Vereinzelung, 3 9 0 das principium individuationis, 3 9 1 die monotone "Beschränkung jedes Einzelnen aufs partikulare Interesse" 3 9 2 ist. Umgekehrt funktioniert das Ganze zwar nur über dieses Prinzip, die Nötigung des Einzelnen, "einzig auf sich zu blicken," 3 9 3 weshalb die Gesellschaft gegen das Individuum "auch recht" hat, "insofern im Individuum das gesellschaftliche Prinzip unreflektierter Selbstbehauptung, selber das schlecht Allgemeine, hypostasiert w i r d . " 3 9 4 Ist die Identität von Besonderem mit Allgemeinem jedoch wesentlich erzwungen, so stellt sie sich gerade als Nichtidentität dar. 3 9 5 Gerade der Zwang des Identitätsprizips verwirklicht die Nichtidentität von Allgemeinem und Besonderem: "Die Nichtidentität von Einheit und Vielem indessen hat die Gestalt des Vorrangs des Einen, als Identität des Systems, das nichts freiläßt. Ohne die Einzelspontaneitäten wäre die Einheit nicht geworden und war, als deren Synthesis, ein Sekundäres; ... Indem sie aber, durch die Notwendigkeit der Selbsterhaltung der Vielen hindurch oder bloß vermöge irrationaler Herrschaftsverhältnisse, die jene als Vorwand mißbrauchen, immer dichter sich wob, fing sie alle Einzelnen, bei Strafe des Untergangs, e i n " 3 9 6 Ihre Unwahrheit ist genausosehr eine des Systems der Gesellschaft wie der Philosophie, die diese schafft und aus der sie stammt: "Aber gerade diese Nichtidentität hat in der Wirklichkeit die Form der Identität, den alleinschließenden Charakter, über dem kein Drittes und Versöhnendes waltet. Solche verblendete Identität ist das Wesen der Ideologie, des gesellschaftlich notwendigen Scheins. Einzig durch Absolutwerden des Widerspruchs hindurch, nicht durch dessen Milderung zum Absoluten vermöchte er zu zergehen und vielleicht doch einmal zu jener Versöhnung zu finden, die 3 9 0

ND 307.

3 9 1

N D 336.

3 9 2

N D 342.

3 9 3

N D 307.

3 9 4

ND 279.

OQC

Solche eingeschränkte Identität ist "nicht bloß Einheit innerhalb der Mannigfaltigkeit sondern, als Stellung zur Realität, aufgeprägt, Einheit über etwas. Damit aber der puren Form nach in sich antagonistisch. Einheit ist die Spaltung. Die Irrationalität der partikular verwirklichten ratio innerhalb des gesellschaftlich Totalen ist der ratio nicht äußerlich, nicht lediglich von ihrer Anwendung verschuldet. Vielmehr ihr immanent." ND 311/312.

ND 3 .

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109

Hegel vorgaukeln mußte, weil ihre reale Möglichkeit ihm noch verhüllt war ... Indem an ihrem Ende die Nichtidentität von Subjekt und Objekt, von Begriff und Sache, von Idee und Gesellschaft unstillbar hervortritt; indem sie in der absoluten Negativität zergeht, holt sie zugleich ein, was sie versprach, und wird wahrhaft mit ihrem verstrickten Gegenstand identisch ... Die Wahrheit Hegels hat danach ihren Ort nicht außerhalb des Systems, sondern sie haftet an diesem ebenso wie die Unwahrheit. Denn diese Unwahrheit ist keine andere als die Unwahrheit des Systems der Gesellschaft, die das Substrat seiner Philosophie ausmacht." 397 Das Besondere, das Nichtidentische, das, was der emphatische Begriff des Lebens bei Adorno meint 3 9 8 , kann in die Identitätsphilosophie und ihre bürgerliche Gesellschaft nur in dem Maße als Unidentisches eingehen, indem es als wehrlos gehorchendes identisch sein muß. 3 9 9 So sichert denn die Gesellschaft als System der Selbsterhaltung nicht nur die von ihm abhängige empirische Existenz des je Einzelnen, sondern "gefährdet" sie "zugleich auf stets bedrohlicher Stufe." Denn die "Gewalt des sich realisierenden Allgemeinen ist nicht, wie Hegel dachte, dem Wesen der Individuen an sich identisch, sondern immer auch konträr." 4 0 0 Die allgemeine Rationalität tritt "unvermeidlich fast in Gegensatz zu den besonderen Menschen, die sie negieren muß um allgemein zu werden, und denen sie zu dienen vorgibt, und nicht bloß vorgibt." 4 0 1

5.3.3. Totalität der nichtidentischen Identität: Zweite Natur Das System der Gesellschaft als Totalität des schlecht Allgemeinen Im genauen Gegensatz zu Hegel gilt in der bürgerlichen Gesellschaft deshalb nicht die Prämisse der Freiheit des Individuums in Harmonie zur Sittlichkeit des das Ganze repräsentierenden Staates, des Gleichgewichts zwischen Besonderem und Ganzem, welches "die Rechtfertigungstheoreme" des Staates "als vorhanden angeben". 402

3 9 7

Aspekte, Mk 277, Hervorhebungen vom Verf.

3 9 8

Näher dazu B.T. 7.3. Zum Begriff des Nichtidentischen vgl. schon Fn. 20.

ang

"je identischer sie mit ihm (dem allgemeinen) sind, desto unidentischer sind sie wiederum mit ihm als wehrlos Gehorchende" ND 306. 4 0 0 4 0 1

N D 305/306. N D 312.

ND

9.

110

Allgemeiner Teil

Denn der Einzelne "bestimmt sich nur noch als Sache, als statistisches Element, als success or failure. Sein Maßstab ist Selbsterhaltung, die gelungene Angleichung an die Objektivität seiner Funktion und die Muster, die ihr gesetzt sind." 403 Seine Erfahrung ist die der "dem Individuum und seinem Bewußtsein vorgeordneten Objektivität ... der Einheit der total vergesellschafteten Gesellschaft." 4 0 4 Die scheinbar eine historische Entwicklung der Ausbreitung des Tauschprinzips fingierende 405 Dialektik der Aufklärung mündet nicht nur in einer erkenntnisphilosophischen Prämisse der Vorgängigkeit gesellschaftlicher Vermittlung vor aller freien Subjektivität, die spezifisch erkenntnisphilosophisch für die Interpretation der Geschichte als Dialektik der Aufklärung immer schon galt: Auch der Bann des geschlossenen gesellschaftlichen Systems weist nicht auf historische Entwicklung zurück. Der Antagonismus, aus dem nach Adorno die Gesellschaft die Totalität ihres Bannes vor aller Freiheit und Subjektivität speist, erweist sich letztlich nicht als historisches Entwicklungsprinzip der Veränderung, wie dies Hegel und aufgrund der Formanalyse gesellschaftlicher Arbeit unter dem Gesichtspunkt der Eigentumsverhältnisse Marx proklamiert hatten. 406 Er entpuppt sich 4 0 3

DdA 45.

4 0 4

ND 309, Hervorhebungen vom Verf.

4 0 5

Historische Entwicklung suggeriert z.B. die Formulierung:

"Soweit die Welt ein System bildet, wird sie dazu eben durch die geschlossene Universalität von gesellschaftlicher Arbeit ..." Aspekte, Mk 272. Vgl. z.B. auch: Die sich durchsetzende allgemeine Vernunft ist bereits die eingeschränkte." ND 311/312; weitere Beispiele oben. Zur Gewordenheit der Gesellschaft als System ablehnend auch Tichy 1977, S. 37. Universalität gesellschaftlicher Arbeit meint von vornherein Radikalität der Vermittlung, vgl ebd. auch S. 48-49 und Schmidt 1971, S.139.

4.Πf\

Im Sirenenbild entrinnt die Ruderguppe dem Tod durch gesellschaftlche Arbeit, die zugleich Entsagung bedeutet. Aber in der Dialektik von Herr und Knecht war im Hegeischen Sinne nicht nur gesellschaftliche Synthesis als Schöpfung des kulturellen Wertes aus dem Naturstoff, sondern auch gegenseitige Anerkennung der Eigentümer (Der Bürger "weiß sich bestimmt als Eigentümer, und nicht nur weil er besitzt, weil es sein Recht ist, behauptet er es; er weiß sich als Anerkannter in seiner Besonderheit und drückt dieser allenthalben den Stempel auf. Er genießt ... sein Glas Bier oder Wein ... Er genießt darin sich selbst, seinen Wert und Rechtschaffenheit; dies hat er sich erarbeitet und vor sich gebracht. Nicht den Genuß des Vergnügens genießt er, sondern daß er diesen Genuß hat, die Einladung von sich selbst." Vgl. Realphilosophie II, S. 256. Die Vorlesungen von 1805/6, hrsg. v. J. Hoffmeister. Neuauflage unter dem Titel Jenaer Realphilosophie Hamburg 1967; vgl. auch Jenenser Realphilosophie, Hegel Gesammelte Werke, Meiner 1976, Bd. 8, S. 223 ff.; vgl. a. Köhler 1974, S. 217 und Avineri 1972, S. 131) enthalten, so daß einerseits die antithetische Beziehung von Mensch und Natur als auch die zwischen den Menschen aufgehoben wurde. Die von Marx an der gesellschaftlichen Synthesis erfolgende Kritik betraf mit den Produktionsverhältnissen und dem Eigentum zentral die Frage der Mehrweitverteilung. Bei Adorno steht der Arbeitsbegriff ähnlich wie schon bei Hegel (vgl. Jenenser Realphilosophie, Hegel Gesammelte Werke, Meiner, 1976, Bd. 8, S. 225 ff.; insbesondere S. 227, 228; vgl hierzu auch Avineri, S. 1 ΙΟΙ 14, insbesondere S. 114) immer schon unter dem Prinzip des Tauschs, aber seine Kritik an der Hegeischen Synthesislösung betrifft nicht - wie es bei Marx der Fall war - das Verfügungsrecht

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111

vielmehr als ein hermetischer Zirkel unversöhnten Gegensatzes von Allgemeinem und Besonderem, der das Ganze, das aus diesem Gegensatz allein entsteht, nur durch seine Spannung in der Tautologie seiner Veränderung am Leben zu erhalten vermag, als zweite Natur: "Die bürgerliche Gesellschaft ist eine antagonistische Totalität. Sie erhält sich einzig durch ihre Antagonismen hindurch am Leben und vermag sie nicht zu schlichten." 407 Die Kategorie der Totalität hat für Adorno andererseits jedoch nicht nur die Aufgabe, den Zusammenhang von Wesen und Phänomen, Besonderem und Allgemeinem, Identität und Nichtidentität ohne Vorrang des jeweils Benannten überhaupt benennen zu können. Insofern handelt es sich um die Funktion, das Wahre der Wirklichkeit an seinen Momenten aufzeigen zu können, ohne zugleich lügen und das Teilmoment der Wahrheit für deren Ganzes nehmen zu müssen. 408 Mit dieser Funktion zusammen hängt nämlich notwendig die andere, entgegengesetzte, deren Sinn sich erst aus einer gemeinsamen dritten erschließt. Diese entgegengesetzte Funktion geht auf das Adorno zufolge unwahre Moment einer Wirklichkeit, die mit allem Ernst in ihrer Leben und Tod, Skylla und Charybdis einschließenden Ausschießlichkeit Nichtidentität gerade dort setzen muß, wo sie Identität, Begreifen des Nichtidentischen, des Lebens und seiner Akteure im identisch packenden Zugriff gerade beendet. Der Sinn dieser anderen Funktion erschließt sich aus der Notwendigkeit, über Totalität als an der Unwahrheit ihrer Momente erkannte Struktur des "Verblendungszusammenhangs" hinauszuweisen. Dies geht nur in dem Maße, in dem das Leiden des Unidentischen unter der Macht des Identitätsprinzips über die gesellschaftliche Synthesisleistung, sondern die Art und Weise, nach der Arbeit gesellschaftlich erfolgen muß. Sie ist aufgrund ihrer naturabhängigen Rationalitätsform aber geradezu dem Geschichtlichen entzogen. Deshalb begibt sich Adorno notwendig des Scheines einer einfachen Versöhnungslösung mittels historischer Dialektik, der der Marxschen Auffassung gerade deshalb noch anhaften mußte, weil dieser, indem er bloß die Vorzeichen der Hegeischen Identitätsphilosophie änderte, der Identitätsphilosophie selbst weiter verfallen war. 4 0 7 Aspekte, M K 274. Der von Lukacs übernommene Begriff der zweiten Natur (vgl. schon oben AT 4.1.5.) geht bei Adorno im Begriff der total vergesellschafteten Gesellschaft auf. Auch insofern ist er gegen Hegel gerichtet, der ihn in seiner Rechtsphilosophie im emphatischen Sinne gebraucht. Vgl. Hegel, § 4, THWS, Bd. 7. Vgl. zur - im engeren Sinne rechtsphilosophischen Kritik Adornos an Hegels zweiter Natur als Begriff des Rechtssystems insbesondere unten BT. 5.1.5. Daß sich die Kritik des Begriffs der Zweiten Natur in der Konsequenz der Interpretation des Transzendentalsubjekts auch gegen Kant richten muß, zeigt die folgende Stelle der Negativen Dialektik: "Irreduktibel daseiend, verdoppelt der intelligible Charakter im Begriff jene zweite Natur, als welche die Gesellschaft ohnehin die Charaktere ihrer sämtlichen Angehörigen stanzt." ND 291. 4 0 8 Ähnlich umschreibt Adorno die Bedeutung des Totalitätsbegriffs der Hegeischen Philosophie: "Sein Ganzes ist überhaupt nur als Inbegriff der je über sich hinausweisenden und sich auseinander hervorbringenden Teilmomente; nichts jenseits von ihnen. Darauf zielt seine Kategorie von Totalität". Aspekte, Mk 254.

112

Allgemeiner Teil

weder die Wahrheit noch die Unwahrheit von Identität und Nichtidentität einfach festhält, sondern durch die Macht der Kritik zu einem potentiell Neuen, ganz Anderen führen kann. Für Adorno ist deshalb "Totalität... keine affirmative, vielmehr eine kritische Kategorie. Dialektik möchte retten oder herstellen helfen, was der Totalität nicht gehorcht, was ihr widersteht oder was, als Potential einer noch nicht seienden Individuation, erst sich bildet." 4 0 9 Der Satz: "Die bürgerliche Gesellschaft ist eine antagonistische Totalität..." erhält insofern eine über die bloße Denunziation der Philosophie Hegels und der Gesellschaft,die sie beschreibt, hinausweisende Wahrheit. Das Erkennen der Totalität des Antagonismus bestätigt zwar einerseits die Totalität, die sie benennt, löst sie andererseits jedoch gerade als unwahre durch das Benennen ihrer Wahrheit a u f . 4 1 0 Trotz dieses Hinweises bleibt Adorno in seiner Beurteilung der Wahrheit und Sittlichkeit des Ganzen sowie des Begriffes, der es real immer wieder in den unversöhnten Antagonismus von Allgemeinem und Besonderem zusammenschweißt, vor allem Kritiker der Hegeischen Philosophie. So ist ihm der Weltgeist Hegels die "Totalität des Partikularen." 411 Denn in "der Totale des Allgemeinen spricht dessen eigenes Mißlingen sich aus. Was kein Partikulares erträgt, verrät damit sich selber als partikular Herrschendes: Die sich durchsetzende allgemeine Vernunft ist bereits die eingeschränkte." 412 Das wichtigste Moment des Totalitätsbegriffes Adornos aber ist die von ihm erfaßte Einheit von Geist und Wirklichkeit, wie sie im Begriff des Tausches höchst wirklich vorgestellt wird. Indem der Tauschbegriff gesellschaftliche Wirklichkeit nicht nur abbilde, sondern real zurichte, konvergiert in ihm

4 0 9

Einleitung zu Positivismusstreit, GS, Bd. 8, S. 292.

4 1 0

Sehr viel pessimistischer dagegen beispielsweise folgende Passagen: "Die Verselbständigung des Systems gegenüber allem, auch den Verfügenden, hat einen Grenzwert erreicht. Sie ist zu jener Fatalität geworden, die nach der allgegenwärtigen, nach Freuds Worten, frei flutenden Angst ihren Ausdruck findet; frei flutend weil sie an keine Lebendigen, an Personen nicht und nicht an Klassen, länger sich zu heften vermag. Verselbständigt aber haben sich am Ende doch nur die unter den Produktionsverhältnissen vergrabenen Beziehungen zwischen Menschen" Spätkapitalismus, GS, Bd. 8, S. 369/370 "Soweit die Einzelnen des Vorrangs der Einheit über sie irgend gewahr werden, spiegelt er ihnen sich als Ansichsein des Allgemeinen zurück, auf welches sie tatsächlich stoßen: noch in ihr Innerstes wird es ihnen angetan, sogar, wo sie selbst es sich antun. ND 310. 4 1 1

N D 302.

4 1 2

ND 311/312.

5. Die Entstehungsgeschichte des Subjekts

113

auch die Totalität, die es mit dem Zu-Ende-Denken der rationalen Philosophie dialektisch aufzuheben g i l t . 4 1 3 Totalität fällt mit dem im Tausch gegebenen Begriff der radikalen Vermittlung zusammen. So realisiert sie nicht unmittelbare Herrschaft, sondern sichert, daß Herrschaft in ihr nicht vergehe. 414

"Das abstrakt Allgemeine des Ganzen, das den Zwang ausübt, ist verschwistert der Allgemeinheit des Denkens, dem Geist ... Im Geist ist Einstimmigkeit des Allgemeinen Subjekt geworden, und Allgemeinheit behauptet in der Gesellschaft sich nur durchs Medium des Geistes, die abstrahierende Operation, die er höchst real vollzieht. Beides konvergiert im Tausch, einem zugleich subjektiv Gedachten und objektiv Geltenden, worin doch die Objektivität des Allgemeinen und die konkrete Bestimmung der Einzelsubjekte, gerade dadurch, daß sie kommensurabel werden, unversöhnt einander opponieren." ND 310. 4 1 4

"Totalität ist in den demokratisch verwalteten Ländern eine Kategorie der Vermittlung, keine unmittelbarer Herrschaft und Unterwerfung. Das schließt ein, daß..keineswegs alles Gesellschaftliche ohne weiteres aus ihrem Prinzip zu deduzieren ist." Zur Logik der Sozialwissenschaften GS, Bd. 8, S. 549. 8 M. Becker

Besonderer Teil Negatives Naturrecht

1. Einführung Führt die Totalität radikaler Vermittlung von Subjekt und Gesellschaft durch das Tauschprinzip, wie sie im Allgemeinen Teil beschrieben worden war, zum Zusammenfallen von Erkenntnis- und Gesellschaftsphilosophie, so muß diese Totalität objektiver Vermitteltheit auch für Adornos Verständnis von Ethik sowie von Rechts- und Staatsphilosophie folgenreich sein. Als gemeinsamer Bezugspunkt dieser verschiedenen Richtungen praktischer Philosophie fallen, in Konsequenz des Begriffes totaler Vermittlung, Adornos Begriff des Wahren und des Guten sowie des Unwahren und des Bösen zusammen. Im Zusammenhang mit der Problematik der philosophischen Freiheitslehre und ihrer Wirklichkeit führt diese Einheit, die sich in den Texten Adornos auch terminologisch nachweisen läßt, zunächst notwendig zur Problematisierung einer Individualethik, die sich nurmehr in ihrem Vermittlungszusammenhang, dem antagonistischen Ganzen, als Öffnung einer Perspektive für das Ganze der Gesellschaft durch ihre Kritik begreifen läßt. 4 1 5 Damit löst sich für Adorno die Berechtigung einer individuellen Ethik in der Notwendigkeit der Kritik des unwahren Ganzen im Begriff philosophischer Utopie auf, 4 1 6 während dieser Begriff doch umgekehrt auf die Spontaneität des Subjekts verweist. Dieses ist allein in der Kritik der Dialektik seiner Freiheit noch befähigt, die Unwahrheit des Ganzen durch Widerstand in Frage zu stellen und dadurch denkend das Minimum individueller Freiheit als Öffnung einer gesellschaftlichen Perspektive zu gewinnen. Daraus folgt aber auch bereits ein anderer Schritt, der sich notwendig aus solcher Vorgeordnetheit des allgemeinen Unwahren mit dem Schlechten sowie ihrer individuell subjektiven Konsequenzen ergeben muß: Negativ dialektische

4 1 5

Vgl. hierzu unten BT 3. im Ganzen.

4 1 6

Vgl. hierzu unten BT 3.3.2.

1. Einführung

115

Kritik des Ganzen als praktische Chance der Utopie geht ohne Abschattierungen in Staats- und Rechtsphilosophie über. Der Konversionspunkt nicht nur der allgemeinen Kritischen Theorie, sondern auch der von Erkenntnis und Gesellschaftsphilosophie und der wie oben gekennzeichneten Ethik mit der Rechtsphilosophie ist notwendig wieder der Tauschbegriff, in dem sich die Vermittlung von Geist und Wirklichkeit, sowie von Allgemeinem und Besonderem gerade auch in ihren rechts- und staatsphilsophischen Konsequenzen niederschlagen muß. Für die Rechts und Staatsphilosophie sowie deren Verhältnis zueinander sind diese Konsequenzen vor allem folgende:

1.1. Staatsphilosophie Die Wirklichkeit des Staates und dessen Begriff haben vor der des gesellschaftlich Ganzen keinen unabhängigen ontologischen Status. Im Rahmen der Kritik des Totalitätszusammenhanges ist das Verhältnis von Staat und Recht in das allgemeinere von realem Identitätsprinzip (Tausch ) und Recht aufgehoben. 4 1 7 Das bedeutet, daß im Gegensatz zur klassischen Rechtsphilosophie die Recht begründende, begrenzende und legitimierende Funktion des Staates aufgehoben ist zugunsten einer Recht bzw. Unrecht begründenden Wirklichkeit des Identitätsprinzips. Eine allerdings repräsentative Erscheinungsweise dieses Prinzips ist der Staat selber.

1.2. Rechtsphilosophie Der Wahrheitsbegriff radikaler Erkenntnisphilosophie als Gesellschaftstheorie usurpiert den Begriff der Gerechtigkeit: Die Unwahrheit des Tauschprinzips ist mit seiner Ungerechtigkeit, seine Wahrheit mit seiner Gerechtigkeit identisch. Die Entfaltung des Wahrheitsbegriffes in seiner die Dialektik von Geist und Wirklichkeit austragenden Bestimmung gestattet deshalb auch das Begreifen des Adornoschen Rechts- und Gerechtigkeitsbegriffs. Wenn nicht der Staat allgemein Recht oder Unrecht begründen, begrenzen und legitimieren kann, sondern er selbst bloß das allgemeinste und repräsentative Moment einer sich durch ihn hindurch entwickelnden objektiven Begriff4 1 7

Vgl. hierzu unten BT 5.1.3. im Ganzen.

116

Besonderer Teil

lichkeit von Recht und Unrecht darstellt, ist eine rechtsphilosophische Erörterung, die die Seinsweise des Staates explizit oder immanent zur Prämisse ihrer Betrachtungen macht, irrelevant. Das bedeutet auch, daß bestimmte klassische Probleme der Rechtsphilosophie, z.B. des Verhältnisses von formalem Recht zur Rechts Wirklichkeit, von Gerechtigkeit zu Billigkeit oder von der Spannung positiven Rechts zu überpositivem Recht, in dieser Perspektive entweder als Scheinprobleme erscheinen, ihre rechtsphilosophisch idealistische Erörterung als ideologisch zu denunzieren ist, bzw. im Hinblick auf eine andere Fragestellung neu zu verorten wären. Denn radikale Erkenntnisphilosophie als Gesellschaftskritik geht von vornherein nur auf die Wahrheit der Wirklichkeit, nicht auf die formallogische Richtigkeit von Sätzen, die eine als unwahr erlebte Wirklichkeit identisch unwahr abbilden. Der Rechtsbegriff scheidet mit der staatstheoretischen auch die Dialektik seiner formal-materiellen Begündung und Begründbarket aus. Nicht reibt sich mehr Naturrecht an seiner schlecht allgemeinen positiven Rechtswirklichkeit: Sondern diese ganze Wirklichkeit wird durch radikaldialektisches Denken in den spekulativen Schlund des Unrechtsbegriffes hineingezogen, da sie das Kritierum, Nichtidentität als allgemeine zuzulassen, nicht verwirklichen kann. Adornos Denken erweist sich als negativ psychosomatische K r i t i k 4 1 8 eines Hegeischen Idealismus', die im Verhältnis zu Hegel das Vorzeichen dessen, was in ihre dialektischen Bestimmungen eingehen mußte, nicht nur einfach änderte. Indem Adorno mit der vom Besonderen genommenen Perspektive gegen Hegel die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem als gesellschaftlichen Vorrang des Allgemeinen in der Psychosomatik des Einzelnen aufspürt, macht er gegen den verdinglichenden Vorrang des Identischen als Allgemeinem das Recht des Besonderen auch gegen das Individuum selbst geltend, in welchem sich und durch das sich der Vorrang des Allgemeinen gesellschaftlich niederschlägt. 419 Der Rechtsbegriff weitet sich damit von einem sozialphilosophischen Begriff der an einer Rechtsidee orientierten äußeren Verhaltenssteuerung bzw.kontrolle auf einen Bereich aus, der ihm bislang versagt blieb: Wenn die über sozialpsychologische Mechanismen der Vermittlung erfolgende Deformation und Zurichtung des zivilisatorischen "Subjekts" dieses gar gegen das Bewußtsein seiner eigenen Abhängigkeit und des Zwangscharakters seines ihn im

4 1 8

419

Vgl. hierzu unten BT 3.3.2., BT 4.1.2., sowie BT 5.2. Vgl. hierzu unten insbesondere BT. 5.2.

2. Begriff von Wahrheit und Unwahrheit

117

Ganzen steuernden Organs, das Ich, abdichtet, wäre ein aufklärerischer Begriff des Rechts wahr nur noch dann, wenn er auch das intrapersonale Unrecht in die Erfahrung seiner sozialphilosophischen Funktion einbezöge. Der Rechtsbegriff Adornos weist als Protest des Leibes gegen den Zwang des Ichs, 4 2 0 des gebündelten Willens der Person, dem identischen Geist Unrecht nach 4 2 1 und wendet damit den sozialen Rechtsbegriff als dialektisch rechtspsychologischen auf das Subjekt zurück, 4 2 2 dem auch in der Gesellschaft das objektive Unrecht, 4 2 3 über das die einzelne Person nichts vermöge, entspringt. Damit wird Naturrecht als idealistische Kritik gegen ein geschichtlich Gewordenes unmöglich. Es wird zum Recht der ersten Natur auch in der Person gegen den allgemeinen Zwang zur Identität in und außerhalb von i h r . 4 2 4 Es kann entwickelt und begriffen werden nur noch als negatives Naturrecht im Zeichen des Bilderverbots. 425

2. Ethik, Staats- und Rechtsphilosophie: Einheit in der Bestimmung der Unwahrheit des Ganzen am Begriff des Besonderen: Der Begriff von Wahrheit und Unwahrheit in seinem Zusammenhang mit dem Begriff von Staat, Recht, Unrecht und Ungerechtigkeit Die Voraussetzungen für das Verständnis der Begriffe von Wahrheit und Unwahrheit in der Philosophie Adornos wurden oben schon gelegt. Der Schlüssel liegt in dem spezifisch kritischen Verhältnis Adornos gegenüber der dialektischen Beziehung der Identitätsphilosophie zu einer Wirklichkeit, die durch diese Philosophie in dem Maße geprägt ist, in dem diese selbst bloß als Ausdruck des objektiv in der Wirklichkeit waltenden Identitätsprinzips erscheint. Wahr ist die Identitätsphilosophie für Adorno nur in genau dem Sinne, in dem sie das von ihr propagierte Prinzip der Identität als wirklich herrschendes widerspiegelt, also ein adäquates Bild der durch das von ihr gehandhabte Prinzip bestimmten Wirklichkeit darstellt. Dieser Begriff philosophischer Wahrheit kann als geschichtliche Wahrheit bezeichnet 426 und gegen einen spekulativen Wahrheitsbegriff Adornos abge4 2 0

Vgl. hierzu unten BT 3.2. und 3.3.2.

4 2 1

Vgl. hierzu unten BT 5.1.1.

4 2 2

Vgl. hierzu unten BT 3.3.2.2., 4.1.2., 5.2.

4 2 3

Vgl. unten BT 5.

4 2 4

Vgl. unten BT 6. und 7.

4 2 5

Vgl. unten BT 5.1.1. (Punkt 4.), 6. und 7.

4 2 6

Guzzoni 1975, S. 244.

Besonderer Teil

118

grenzt werden. Dem spekulativen Wahrheitsbegriff zufolge ist die Identitätsphilosophie unwahr in der Hinsicht, daß gerade diese Identität mißlingt, indem sich ihr Begriff weder philosophisch noch gesellschaftlich als die Erfüllung seines eigenen Versprechens verwirklicht. 4 2 7 Exemplarisch läßt sich der insofern doppelte Wahrheitsbegriff Adornos an seinem Verhältnis zu Hegel darlegen: Mit diesem teilt er zwar sowohl die objektiven als auch die aufs Wesen gehende, essentialistische Orientierung der Wahrheit. 428 Wie Hegel geht es Adorno darum, daß "das Subjekt sich nicht bei der bloßen Angemessenheit seiner Urteile an Sachverhalte bescheiden muß," weil "das Urteil keine bloß subjektive Tätigkeit, ... Wahrheit selber keine bloße Urteilsqualität ist, sondern ... in ihr immer zugleich auch das sich durchsetzt, was, ohne isolierbar zu sein, aufs Subjekt nicht sich zurückführen läßt und was die traditionellen idealistischen Erkenntnistheorien als bloßes X glauben vernachlässigen zu dürfen. Wahrheit entäußert sich ihrer Subjektivität: weil kein subjektives Urteil wahr sein kann und doch ein jegliches muß wahr sein wollen, transzendiert Wahrheit zum An-sich." 4 2 9 Untersucht Philosophie dabei gerade nicht nur die Richtigkeit von Aussagen über eine korrespondierende Wirklichkeit, sondern "notwendig auch, ob die Gegenstände der Erkenntnis sind, was sie ihrem eigenen Begriff nach zu sein beanspruchen", 430 öffnet sich die Möglichkeit einer über den historischen Korrespondenzbegriff der Wahrheit hinausgehenden Konzeption eines spekulativ kritischen Wahrheitsbegriffes. Dabei leuchtet wie für Hegel auch Adorno "eine Platonische Idee von der Wahrheit auf', die "nicht als unmittelbar anschauliche, evidente ... behauptet" ist, sondern erwartet wird "von eben jener Insistenz der denkenden Arbeit, welche herkömmlicherweise bei der Kritik des Piatonismus stehenbleibt" 431 Geleitet wird diese Idee von der Vorstellung, daß die "Forderung nach Wahrheit... die subjektive adaequatio durch Selbstreflexion verneint", so daß "Wahrheit von sich aus in eine objektive, nicht länger nominalistisch reduktible 427

Vgl. hierzu oben AT 5.2.4.4.2. "Soviel ist wahr ... an der Hegeischen Insistenz auf der Allgemeinheit des Besonderen, daß das Besondere in der verkehrten Gestalt ohnmächtiger und dem Allgemeinen preisgegebener Vereinzelung vom Prinzip der verkehrten Allgemeinheit diktiert wird." N D 338; dann dagegen: "Einheit ist die Spaltung" N D 311/312. 428 Vgl. das Hegel-Zitat: "Daß die Form des Denkens die absolute ist und daß die Wahrheit in ihr erscheint, wie sie an und für sich ist, dieß ist die Behauptung der Philosophie überhaupt." Hegel, Jubiläumsausgabe, hrsg. von Glockner, Bd. 8, S. 91; Wahrheit bleibe Hegel "kein bloßes Verhältnis von Urteil und Gegenstand, kein Prädikat subjektiven Denkens, sondern soll darüber substantiell sich erheben, eben als ein "An und für sich" Aspekte, Mk 281. 4 2 9 Mk 283/ 284, Hervorhebungen vom Verf. 4 3 0

"Sonst wäre sie formalistisch." Einleitung Positivismusstreit 31; vgl. a. ebd., 39,40.

4 3 1

Aspekte, Mk 283/284.

2. Begriff von Wahrheit und Unwahrheit

119

Idee über"ge,he. 432 So geht es Adorno substantiell um eine Bewegung der Wahrheit, die, wie schon im Denken Hegels, als "Eigenbewegung" erscheine, "die von den Urteilssachverhalten her ebenso motiviert ist wie von der denkenden Synthesis." 433 Im Gegensatz zu Hegel vermag dialektisches Denken für Adorno aber gerade nicht das Unterschiedene, ganz andere in die Einheit des Begriffes aufzuheben. 4 3 4 Denn konnte Hegel die Wahrheit der einzelnen Momente des zu sich kommenden Begriffes nur deshalb als ihre Unwahrheit denken, da sie ihm notwendig als "einzelne verschwindende Momente, deren Wahrheit nur das Ganze der denkenden Bewegung ... i s t " 4 3 5 erschienen, nimmt Adorno, seiner Intention, das Nichtidentische zu seinem Recht kommen zu lassen entsprechend, in gerade dieser Hinsicht den entgegengesetzten Standpunkt zu Hegel ein. Gelang es Hegel mittels seiner ihm eigenen unbeirrbaren Konsequenz, diese Einstufung des Besonderen für den Begriff der Wirklichkeit und Sittlichkeit des Staates auch in seiner Rechtsphilosophie fruchtbar zu machen und dem Besonderen, indem er es von vornherein auf den absoluten, unbewegten Selbstzweck des Staates hin dachte, nicht nur Sittlichkeit und Wahrheit, sondern gar Objektivität nur im Blick auf das Ganze zuzusprechen, 436 so leitet die Kritik Adornos an dieser Identitätsphilosophie Hegels auch notwendig zu einer Konzeption kritischer Ethik und Rechtsphilosophie über. Darin entfaltet sich der Begriff der Wahrheit nur dadurch, daß die Wirklichkeit am Begriff ihrer eigenen Objekte und ihrer eigenen Form gemessen und gegen die als unwahr erkannte Wirklichkeit des identischen Ganzen sich am Leiden des Einzelnen, Nichtidentischen die Perspektive einer Möglichkeit der Verwirklichung des eigenen Begriffes auftut. Bei diesem Vorgehen kann sich Wahrheit allerdings nicht als einfaches Moment des Leidens unmittelbar

4 3 2

Aspekte, Mk 283/284.

4 3 3

Aspekte, Mk 283/284, Hervorhebungen vom Verf.

4 3 4

So gerade Hegel: "Das Einzelne für sich entspricht seinem Begriffe nicht; diese Beschränktheit seines Daseins macht seine Endlichkeit und seinen Untergang aus" Hegel Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Meiner, Hamburg 1959, S. 182. (§ 213) 4 3 5

Hegel, Phänomenologie des Geistes, Meiner, Hamburg 1948, S. 223.

436 M£r £ t a a t ) A.d.V.) hat aber ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist..." § 258. "Gegen das Prinzip des einzelnen Willens ist an den Grundbegriff zu erinnern, daß der objektive Wille das an sich in seinem Begriffe Vernünftige ist, ob es von einzelnen erkannt und von ihrem Belieben gewollt werde oder nicht, - daß das Entgegengesetzte, die Subjektivität der Freiheit, das Wissen und Wollen, die in jenem Prinzip allein festgehalten ist, nur das eine, darum einseitige Moment der Idee des vernünftigen Willens enthält, der dies nur dadurch ist, daß er ebenso an sich als für sich ist." § 258. Grundlinien der Philosophie des Rechts, THWS, Bd. 7

120

Besonderer Teil

aufweisen lassen. Sie kann gegen die Unwahrheit des Ganzen nur aufgrund dieser Unwahrheit als deren Aufhebung entstehen: "Glück aber enthält Wahrheit in sich. Es ist wesentlich ein Resultat. Es entfaltet sich am aufgehobenen Leid. So ist der Dulder im Recht, den es bei den Lotophagen nicht duldet. Gegen diese vertritt er ihre eigene Sache, die Verwirklichung der Utopie, durch geschichtliche Arbeit, während das einfache Verweilen im Bild der Seligkeit ihr die Kraft entzieht." 437 Wahrheit ist somit weder als greifbare Unmittelbarkeit der Sache noch als vorweg festzustellendes Produkt eines Veränderungsprozesses herstellbar. Sie ergibt sich vielmehr erst als Prozeß 438 der Kritik am ganzen Unwahren, während umgekehrt dessen Unwahrheit "nur als die noch nicht aufgehobene, aber aufzuhebende Privation der Wahrheit" denkbar i s t . 4 3 9 Dafür müßte die geschichtlich gestaltete Wirklichkeit in einen Zustand gelangt sein, der als Unwahrheit dadurch erfahren wird, daß er erleidbar wird, und das ihm kritisch widersprechende Denken der sich durch die Dialektik seiner Kritik herbeigeführten Wahrheit bewußt werden kann. 4 4 0 Die geschichtliche Wahrheit Hegels ist daher in der Perspektive Adornos spekulativ gerade unwahr. Andererseits ist gerade in dieser Unwahrheit der Identitätsphilosophie wiederum das spekulative Versprechen enthalten, sie auch geschichtlich im Sinne ihrer spekulativen Wahrheit wahr zu machen, "nämlich in Richtung auf die Selbstbewußtwerdung von sich frei vergesellschaftenden Individuen". 4 4 1 Unter dem Gesichtspunkt der Nichtidentität des Ganzen, das seine Einzelmomente zu einer ihnen fremden Identität mit dem Unwahren zwingt, liest Adorno den Leidenszustand des jeweils anderen, des Besonderen, des Nichtidentischen, nicht nur, wie schon oben entwickelt, auch als Unwahrheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sondern es stellt sich darüber hinaus diese Un-

4 3 7

438

DdA 58.

"Unterm Aspekt des Ansichseins der Wahrheit nicht weniger als dem der Aktivität des Bewußtseins ist Dialektik ein Prozeß: Prozeß nämlich ist die Wahrheit selber ..." M K 282. Dagegen kritisiert Adorno die Hegeische Dialektik gerade als statisch vgl. unten BT. 5.1.3.4. 4 3 9 Guzzoni 1981, S. 17. 4 4 0 4 4 1

Vgl auch Guzzoni, ebd.: Dann kann es "die Wirklichkeit umdenken."

"Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint. Ohne Hoffnung wäre die Idee der Wahrheit kaum nur zu denken, und es ist die kardinale Unwahrheit, das als schlecht erkannte Dasein für die Wahrheit auszugeben, nur weil es einmal erkannt ward." Minima Moralia, GS, Bd. 4, S. 108. Vgl. hierzu auch Guzzoni, Hegels Unwahrheit, 1975, S. 246: "In dem, was Adorno die Hegeische Unwahrheit nennt,liegt dann die Aufgabe - und zugleich ein Versprechen ihrer Lösbarkeit-, die Wahrheit dieser Unwahrheit geschichtlich gegenständlich wahr zu machen."

3. Freiheit der Person

Wahrheit auch gerade als das Unrecht sellschaftlichen Ganzen heraus.

442

und die Ungerechtigkeit

121

dieses ge-

Sie besteht als Unrecht des Anspruches, kategorisch das durch die gleichmachende Identität gemessene "Nichtseiende" ... "im Hinblick auf das an ihm gleichwohl Bleibende und Allgemeine, also insofern es dennoch seiend ist, zu erkennen." 443 Unwahrheit wird wegen der gesellschaftlichen Dimension des Tauschbegriffs aber zugleich zum Unrecht, der philosophische Begriff der spekulativen Unwahrheit erfüllt zugleich den begrifflichen Raum dessen, was für Adorno philosophisch Recht und Gerechtigkeit bedeutet. 444 Dies setzt sich zum Herrschaftsbegriff hin fort. Wäre wahr für Adorno der "Zustand der Gesellschaft, in welchem das volle Maß möglicher Herrschaftsfreiheit verwirklicht wäre", so connotiert "Herrschaft überhaupt mit Unwahrheit". 445

3. Freiheit der Person: Kritik der Reduktion bürgerlicher Ethik und Rechtsphilosophie auf die Annahme individueller Freiheit und des Begriffes des Individuums 3.1. Freiheitsfiktion: Voraussetzung der Begründung, Rechtfertigung und Legitimation von Moral, Recht (Strafrecht) und Staat Der allgemeine Teil der Philosophie Adornos hat bereits die Grundlagen 446 für die Kritik der Thematik dargestellt, die die Basis der klassischen bürgerlichen Rechtsphilosophie bildet: Die philosophische Annahme der Freiheit der Person in Willen und Bewußtsein als Voraussetzung moralisch und rechtlich zurechenbaren Handelns. Diese Beziehung zwischen den Konzepten der Freiheitsphilosophie insbesondere des deutschen Idealismus, und ihren praktischen Auswirkungen im Bereich der Sollensmoral und der Rechtsphilosophie verweist wiederum auf das erkenntnisphilosophische Moment ihrer Wahrheit. Ist Wahrheit für Adorno in treuer Weiterführung des Hegeischen Anspruchs nicht nur eine Kategorie formallogischer Stimmigkeit immanent stringenter philoso4 4 2

Zum genauen Inhalt des Unrechtsbegriffes s.u. BT 5.1. und 5.2.

4 4 3

Guzzoni 1981, S. 64.

4 4 4

Vgl. hierzu nur die Textstellen in BT 5.1.1. und 5.1.2. Von Hegel aus gelesen wäre Adornos Philosophie deshalb wegen ihrer Negativität Besserwisserei ohne besseres Wissen. Von Adorno aus erscheint die Hegeische als unwahres Vorwegbescheidwissen mit korrespondierend unwahrem Nachbescheid. Allein in der Unwahrheit Hegels liegt für Adorno aber, paradox genug, dessen und seine eigene Wahrheit. 4 4 5 Grenz 1974, S. 61, vgl. zum Zusammenhang von Herrschaft und Wahrheit auch unten BT 5.1.3.1.3.2. 4 4 6

Vgl. insbesondere A.T. 5.2.; 5.3.

122

Besonderer Teil

phischer Argumentation, sondern meint sie das zu-seiner-Wirklichkeit-Bringen des philosophischen Begriffs, so wie es auch schon Hegel vorschwebte, sind auch die Problembereiche des Begriffes philosophischer Wahrheit, der Konzeption subjektiver Freiheit und ihre praktischen Konsequenzen für Moral und Recht als Ganzes aufeinander verwiesen. 447 Daß diese Grundlagen aus dem ineinander vermittelten Ansatz der Geschichts- und Erkenntnisphilosophie Adornos entwickelt werden konnten, besagt allerdings noch nichts darüber, ob dieser auch die spezifisch rechtsphilosophischen Konsequenzen, die sich aus der gesellschaftsphilosophischen Radikalkritik individueller Freiheit im Rahmen der Herrschaft des Identitätsprinzips ergeben, gezogen und in Anbetracht der Rechts- und Staatsphilosophie entwickelt hat. Indem Adorno die Relevanz dieser Fragestellung aber sehr wohl gesehen h a t , 4 4 8 mußte er sich auch mit den philosophischen Ansätzen auseinandersetzen, die die Annahme individueller Freiheit zum Ausgangspunkt oder ihre Integration in die Entwicklung des Freiheitsbegriffes zum Ziel ihrer praktischen Philosophie machten, wie dies insbesondere Kant und Hegel taten.

3.2. Kritik bürgerlicher Freiheitsphilosophie: Kant, Hegel und Marx 3.2.1. Kritik der Identitätsphilosophie:

Kant, Hegel und Marx

Freiheit ist das allgemeine Thema der praktischen Philosophie überhaupt. Die wichtigsten Vertreter der bürgerlichen Ethik und Rechtsphilosophie, auf die Adorno explizit Bezug nimmt, Kant und Hegel, sind zumindest auf den ersten Blick sehr verschieden mit diesem Thema umgegangen. Bei Kant ist Freiheit nicht nur Prämisse vernünftiger praktischer Philosophie in dem Sinne, daß sie aus logischen Gründen für die Entwicklung einer Sollensmoral und des Rechtsbegriffes vorausgesetzt werden muß. 4 4 9 Der logische Zwang zur AnDaß die Freiheitsproblematik von ihrer philosophischen Wahrheit genausowenig abzukoppeln ist wie von ihren praktischen Konsequenzen, wird auch in diesem Abschnitt deutlich werden, daß ihr ein ausführlicher Abschnitt gewidmet wird, soll dagegen den Blick auf den stets gegenwärtigen Zusammenhang nicht verschütten. Nur aus Gründen der Darstellung signalisisert die Gliederung eine in Wahrheit nicht vorhandene Trennung. 4 4 8 "Ob der Wille frei sei, ist so relevant, wie die Termini spröde sind gegen das Desiderat, klipp und klar anzugeben, was sie meinen. Da Justiz und Strafe, schließlich die Möglichkeit dessen, was die Tradition der Philosophie hindurch Moral hieß oder Ethik, von der Antwort abhängen, läßt das intellektuelle Bedürfnis die naive Frage nicht als Scheinproblem sich ausreden." 211 ND. 4 4 9 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, THWS Bd. 7 S. 82 "Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus, durch bloße Zergliederung ihres Begriffs. Indessen ist das letztere doch immer ein synthetischer Satz" ... "Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden"

3. Freiheit der Person

123

nähme von Freiheit transformiert sich bei ihm auch in einen ontologischen: Was zur Errichtung der ethischen Ordnung vorauszusetzen ist, muß auch sein 450 Hegel scheint von der Konstruktion der Ontologie der Freiheit aus der Logik ihrer Forderung im Vollzug des Begriffes substantieler Sittlichkeit weiter entfernt zu sein. Denn bringt Freiheit ihren Begriff aus der Entwicklung ihres eigenen Gegenstandes, der Einheit des Selbstbewußtseins der Sittlickeit im Verlauf eines dialektischen Entwicklungsvorganges erst in ihrer Entfaltung aus sich hervor und in ihre wahre Totalität, 451 mag auf den ersten Blick der Vorwurf danebengehen, auch seine sittliche Ordnung sei bloß aus einer notwendig aufzustellenden Annahme abgeleitet. Doch sieht Adorno gerade bei beiden Denkern den entscheidenden gemeinsamen Fehler darin, daß bei ihnen infolge des Vollzugs formallogischer Konsequenzlogik die "Idee der Freiheit ... vorweg so abstrakt subjektiv konzipiert war, daß die objektive gesellschaftliche Tendenz sie mühelos unter sich begraben konnte" und sie "nicht zuletzt darum ihre Gewalt über die Menschen" 452 verlor. Indem er beiden den geistigen Vollzug des sich über die Wirklichkeit stülpenden Identitätsprinzips attestiert, ergibt sich aus dem damit fiktionalen Gehalt theoretischer Freiheitsphilosophie, für deren Funktion die argumentativen Unterschiede in der Perspektive Adornos weniger relevant zu sein scheinen als für ihre immanent philosophische Begründung, auch die faktische Unterstützung repressiver Praxis:

Dies ist einer der Kritikpunkte, die Adorno Kant entgegenhält: "Daß Freiheit sein müsse, ist die höchste iniuria des rechtsetzenden autonomen Subjekts. Der Inhalt seiner eigenen Freiheit der Identität, die alles Nichtidentische annektiert hat - ist eins mit dem Muß, dem Gesetz, der absoluten Herrschaft. Daran entflammt das Kantische Pathos. Noch Freiheit konstruiert er als Spezialfall von Kausalität." N D 248. "Redet Kant davon", ... "daß der Bestimmungsgrund jener Causalität auch außer der Sinnenwelt in der Freiheit als Eigenschaft eines intelligibelen Wesens angenommen werden kann", so wird durch den Begriff der Eigenschaft das intelligible Wesen vollends zu einem im Leben des Individuums positiv Vorstellbaren, "realen". ND 283. Die Zitate zeigen nicht nur terminologisch, daß für Adorno eine von der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der darin sich fangenden dialektischen Realität des Individuums abstrahierende Philosophie in der einfachen Setzung von Freiheit nicht nur einfach falsch ist: Ihre philosophische Unwahrheit korrespondiert der Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Zustandes, in der Freiheit nicht, vielmehr eher Unfreiheit ist. Dies macht ihre ganze Unwahrheit und mit dieser ihr philosophisches Unrecht aus. Diesem entspricht das gesellschaftliche. Das Zitat demonstriert damit zugleich auch die Verschmelzung einer Kritik bürgerlich abstrakter Rechtsphilosophie und der Kritik der Freiheitsphilosophie unter dem Gesichtspunkt der Einheit von Theorie und Praxis. Entsprechend interpretiert Adorno die Konstruktion des Sittengesetzes aus Freiheit als psychologisch erklärbare Zwanghaftigkeit aus der Wirkung des Überichs. Vgl. ND 267. 4 5 1

Vgl. hierzu unten 5.1.4.2.

4 5 2

N D 215, Hervorhebungen vom Verf.

Besonderer Teil

124

"Bei Kant bildet Antinomik, bei Hegel Dialektik der Freiheit ein wesentliches philosophisches Moment; nach ihnen ward zumindest die akademische Philosophie vereidigt aufs Idol eines Höhenreichs über der Empirie. Die intelligible Freiheit der Individuen wird gepriesen, damit man die empirischen hemmungsloser zur Verantwortung ziehen, sie mit der Aussicht auf metaphysisch gerechtfertigte Strafe besser an der Kandare halten kann." 4 5 3 Der Vorwurf der Freiheitsfiktion der Philosophie des Idealismus ist denn auch der wesentliche Ansatzpunkt für die Kritik. Sie äußert sich für Adorno darin, daß unbeschadet einer über die Individuen und durch sie hindurch als Zwangsprinzip sich entfaltenden Gesellschaft in den Theoremen von Freiheit und Determination, in Antinomie und Dialektik der Wahrheitsgehalt der Freiheitsfrage zugunsten der Herrschaft repressiver Gesellschaft verschüttet werde. Denn "zu reflektieren wäre über die in Rede stehenden Gegenstände nicht derart, daß man über sie als ein Seiendes oder Nichtseiendes urteilt, sondern indem man die Unmöglichkeit, sie dingfest zu machen, ebenso wie die Nötigung, sie zu denken, in ihre eigene Bestimmung hineinnimmt." 4 5 4 Gegen Hegel kehrt dabei das Motiv wieder, die ausgefaltete Dialektik in ihrer Positivität als Stillstand des Gedankens zu kritisieren, welcher ursprüngich die Wahrheit auch des Besonderen und der Wirklichkeit seiner Freiheit meinte. Werden Willensfreiheit und Individualbewußtsein der freien Einzelperson dabei als ideologischer Schein angegriffen, zeigt die Einheit dieses Angriffs, daß sich die Freiheit der Person und die Idee des personalen Subjekts bloß als zwei Seiten derselben Fiktion erweisen. Freiheit und principium individuationis sind die Prämissen und der ideologische Schein derselben Gesellschaft, die als Zweite Natur die Wirklichkeit von Freiheit und Person nicht gestatten darf, weil sich ihre Konstitutionsbedingungen als Unfreiheit und Abhängigkeit des Menschen in ihrer Vermittlung 4 5 5 darstellen: "Gesellschaft bestimmt die Individuen, auch ihrer immanenten Genese nach, zu dem, was sie sind; ihre Freiheit oder Unfreiheit ist nicht das Primäre, als das sie unterm Schleier des principium individuationis erscheint." 456 Dem darin gefundenen Schein entspricht nach Adorno ein Bewußtsein, das durch das hypostasierte Ich überhaupt erst zur Einheit des Realitätsbegriffes 4 5 3

ND 214/215.

4 5 4

ND 211/212.

4 5 5 "Das vermeintlich ansichseiende Subjekt ist in sich vermittelt durch das, wovon es sich scheidet, den Zusammenhang aller Subjekte. Durch die Vermittlung wird es selber das, was es seinem Freiheitsbewußtsein nach nicht sein will, heteronom." N D 213.

4 5 6

ND 218.

3. Freiheit der Person

125

unter dem Identitätsprinzip gelangt, durch das es sich als Ich wiederum konstituiert: "Denn auch die Einsicht in seine Abhängigkeit wird dem subjektiven Bewußtsein erschwert durchs Ich, so wie Schopenhauer mit dem Mythos vom Schleier der Maja es erläuterte. Das Individuationsprinzip, Gesetz der Besonderung, an welche die Allgemeinheit der Vernunft in den Einzelnen geknüpft ist, dichtet diese tendenziell gegen die sie umgreifenden Zusammenhänge ab und befördert dadurch das schmeichelhafte Vertrauen auf die Autarkie des Subjekts." 4 5 7 Deshalb korrespondiert der Verkürzung der Frage nach der Freiheit des Willens auf die nach der des Subjekts selbst, auch in der Dialektik Hegels, obwohl dieser den Zusammenhang zwischen Besonderem und Allgemeinem zum Leitthema seines Denkens erhob, für Adorno zugleich die Abdichtung der idealistischen Philosophie von einer Wirklichkeit, die über das Einzelwesen viel mehr Unheil vermöge, als sich Idealismus jemals träumen ließ. Umgekehrt erscheint die Kraft des Einzelnen über das Ganze als gering: "Der Widerspruch datiert zurück auf den objektiven zwischen der Erfahrung des Bewußtseins von sich selbst und seinem Verhältnis zur Totalität. Das Individuum fühlt sich frei, soweit es der Gesellschaft sich entgegengesetzt hat und, wenngleich unverhältnismäßig viel weniger, als es glaubt, etwas gegen sie oder andere Individuen vermag." 4 5 8 Denn "sobald die Frage nach der Willensfreiheit auf die nach der Entscheidung der je einzelnen sich zusammenzieht, diese aus ihrem Kontext, das Individuum aus der Gesellschaft herauslöst, gehorcht sie dem Trug absoluten reinen Ansichseins: beschränkte subjektive Erfahrung usurpiert die Würde des Allergewissesten." 459 Angesichts des totalen Vermittlungszusammenhangs von Allgemeinem und Besonderem ist es wiederum die Gesellschaft, die in den Freiheitsbehauptungen der idealistischen Philosophie ihre apologetische Reproduktion 460 zustandebringe. Der Schein, der sich über die Ichstruktur, dem Einheitsprinzip von

4 5 7

N D 218.

4 5 8

N D 259.

4 5 9

N D 213.

4 6 0 "Zur Apologie ihrer verkehrten Gestalt ermuntert die Gesellschaft die Individuen, die eigene Individualität zu hypostasieren und damit ihre Freiheit." ND 221. Vgl. auch S. 548, in: Sexualtabus und Recht heute, GS, Bd. 10 II: "Der Widerspruch aber, in den die Philosophie sich verwickelt: daß ohne die Idee von Freiheit Humanität nicht gedacht werden kann, daß aber die realen Menschen unfrei sind von innen und von außen her, ist real motiviert, kein Versagen spekulativer Metaphysik sondern Schuld der Gesellschaft, die auch zur inneren Unfreiheit sie verhält. Gesellschaft ist die wahre Determinante und ihre Einrichtung das Potential von Freiheit zugleich."

126

Besonderer Teil

Geist und Weltbeherrschung, als Krankheit des Normalgesunden gezogen hat, erweist sich als so radikal, daß, soweit er reicht, "Bewußtsein über Unfreiheit belehrt" wird "einzig in pathogenen Zuständen wie Zwangsneurosen , . . " 4 6 1 Dagegen erscheint die Marxsche Freiheitskritik, die über den Vermittlungsbegriff einer real ungerechten Eigentumsgesellschaft Abhilfe in der Transformation der partikularen in eine sich selbst aufhebende allgemeine Eigentumsgesellschaft wußte, 4 6 2 aus der filigranen Perspektive dialektischer Freiheitsund Gesellschaftskritik Adornos deshalb nicht nur wegen ihrer Äußerlichkeit als falsch. Das Versäumnis ist nicht nur, eine historisch dialektische Aufhebung der gesellschaftlichen Unversöhntheit, die ja immer gerade auch eine des Subjekts im Verhältnis zur äußeren Natur war, mittels der schlichten Idee gesellschaftlichen Gemeineigentums und damit der Fortschreibung kollektiver Unversöhntheit mit der Natur für die Verwirklichung der Versöhnung von Subjekt und Objekt gehalten zu haben. Der Fehler der Marxschen Theorie ist insbesondere der, daß sie das urbürgerliche Moment der Naturbeherrschung nicht als intramentales Aufklärungsund Herrschaftsprinzip der vielen sich zusammenreißenden Ichs dechiffrieren konnte. Falsch ist diese Marxsche Vision aus der Perspektive Adornos notwendig auch gerade deshalb, weil sie den sich bei Hegel andeutenden dialektischen Stillstand, 463 das Systematische an seiner vorweg mit ihrer Lösung korresponierenden und diese sichernden Dialektik Hegels durch das "Auf-die-FüßeStellen" nicht beheben, sondern nur mit anderem Vorzeichen fortsetzen konnte. 4 6 4 "... Der Schmerz der Neurosen hat metapsychologisch auch den Aspekt, daß sie das kommode Bild: frei innen, unfrei von außen, zerrütten, ohne daß dem Subjekt an seinem pathischen Zustand die Wahrheit aufginge, die er ihm mitteilt, und die es weder mit seinem Trieb noch mit seinem Vernunftinteresse versöhnen kann. Jeder Wahrheitsgehalt der Neurosen ist, daß sie dem Ich in sich am Ichfremden, dem Gefühl des Das bin ich doch gar nicht, seine Unfreiheit demonstrieren; dort wo seine Herrschaft über die innere Natur versagt." ND 221. 4 6 2 Vgl. nur Marx, Kritik der Hegeischen Dialektik und Philosophie überhaupt, Karl Marx, Friedrich Engels, Studienausgabe 1990, S. 77: "Das Aufheben, als gegenständliche, die Entäußerung in sich zurücknehmende Bewegung. - Es ist dies die innerhalb der Entfremdung ausgedrückte Einsicht von der Aneignung des gegenständlichen Wesens durch die Aufhebung seiner Entfremdung, die entfremdete Einsicht in die wirkliche Vergegegenständlichung des Menschen ... durch die Vernichtung der entfremdeten Bestimmung der gegenständlichen Welt, durch ihre Aufhebungen ihrem entfremdeteten Dasein, wie ... der Kommunismus als Aufhebung des Privateigentums die Vindikation des wirklichen menschlichen Lebens als seines Eigentums ist, dies Werden des praktischen Humanismus ist, oder der Atheismus ist der durch Aufhebung der Religion, der Kommunismus der durch Aufhebung des Privateigentums mit sich vermittelte Humanismus. Erst durch Aufhebung dieser Vermittelung - die aber eine notwendige Voraussetzung ist - wird der positiv von sich selbst beginnende, der positive Humanismus." 4 6 3 4 6 4

Vgl. hierzu unten insbesondere BT 5.1.3.4.

Indem Marx den Rahmen der Naturbeherrschung nicht verläßt, bleibt er teleologisch geschichtsaffirmativ (Heinz 1975, 153 ff.) im Konzept einer - aus der Perspektive Adornos - urbürgerlichen "Rationalisierung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses" (Wellmer 1969, S. 74)

3. Freiheit der Person

127

Gerade daraus aber erwuchs das Versäumnis, das Prinzip des naturbeherrschenden Denkens als Subjekt und Objekt vorweg identifizierende, objektiv vermittelte und subjektiv real wirkende Haltung als eigentliches dialektisches Problem der Erkenntnis- und Sozialphilophie entdecken zu können. 4 6 5 Die Marxsche Problem Mlösung" mußte deshalb bei Adorno selbst durch eine Verlängerung des kritischen Ansatzpunktes ins Innere aufgehoben werden: Wenn das gesellschaftliche Prinzip der Unfreiheit als psychologisches unterdrückender Identität über das Ich nicht nur gesellschaftliche Unterdrückung herstellt, sondern sich diese gesellschaftliche Unterdrückung gerade als die von Impuls und Trieb des Einzelnen erweist, ist Gesellschaftskritik nicht mehr ohne sozialphilosophische Ichkritik denkbar. 466 Die Wahrheit, die in der Totalität des Falschen nur noch als Leiden des Leibes und der Seele unterm gesellschaftlich funktionablen Ich erfahrbar ist, findet als Bezugspunkt ihrer Entwicklung dabei weder ein Bewußtsein von Freiheit noch von Unfreiheit v o r . 4 6 7 So könnte in Kritik philosophischer Freiheitshypostasierung auch Nichtfreiheit nicht einfach als Wahrheit behauptet werden. 468

und erfüllt das identifikatorische Prinzip der Natur von Herrschaft und Selbsterhaltung. Vgl. dazu auch Schlüter 1988, S. 504 f. insbes. 506. 4 6 5 "Es ging um die Vergottung der Geschichte, auch bei den atheistischen Hegelianern Marx und Engels. Der Primat der Ökonomie soll mit historischer Stringenz das glückliche Ende als ihr immanent begründen; der Wirtschaftsprozeß erzeuge die politischen Herrschaftsverhältnisse und wälze sie um bis zur zwangsläufigen Befreiung vom Zwang der Wirtschaft. Die Intransigenz der Doktrin, zumal bei Engels, war jedoch gerade ihrerseits politisch. Er und Marx wollten die Revolution als eine der wirtschaftlichen Verhältnisse in der Gesellschaft als ganzer, in der Grundschicht ihrer Selbsterhaltung, nicht als Änderung der Spielregeln von Herrschaft, ihrer politischen Form ... Was Marx und Engels dazu bewog, gleichsam noch den Sündenfall der Menschheit, ihre Urgeschichte, in politische Ökonomie zu übersetzen, obwohl doch deren Begriff, an die Totalität des Tauschverhältnisses gekettet, selber ein Spätes ist, war die Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Revolution ... Sie waren Feinde der Utopie um ihrer Verwirklichung willen." ND 315/316. 4 6 6 Erkannt wurde das prinzipiell bereits bei Bockelmann 1972, S. 127 ff., insbesondere S. 128/129, unter Einbeziehung psychoanalytischer Studien fortgesetzt z.B. von Schmid-Noerr 1990. Eine Reflexion auf die spezifisch rechtsphilosophischen Dimensionen des Problèmes und auf die Konsequenzen für eine mögliche Lehre negativen Naturrechts hat bislang jedoch nicht stattgefunden. 4 6 7 "So wenig indessen wie ein unmittelbar evidentes Selbstbewußtsein von Freiheit existiert eines von Unfreiheit; es bedarf immer bereits entweder der Rückspiegelung des an der Gesellschaft Wahrgenommenen aufs Subjekt - die älteste ist die sogenannte Platonische Psychologie - oder der psychologischen Wissenschaft als einer vergegenständlichenden, welcher unter den Händen das von ihr entdeckte Seelenleben zum Ding unter Dingen wird ..." N D 220/221. 4 6 8 "Findet der Einzelne schon keinen Sachverhalt Freiheit in sich vor, so vermag ebenso wenig das naive Theorem von der Determination das naive Gefühl der Willkür einfach post festum auszulöschen..." ND 213.

128

Besonderer Teil

Die für die Konstruktion von Morallehre und bürgerlichem Rechtssystem notwendige Voraussetzung anzunehmender Freiheit ist nach Adorno nämlich nur ein Moment der Freiheitsdialektik von Philosophie und Wirklichkeit: "Belastet die These von der Willensfreiheit die abhängigen Individuen mit dem gesellschaftlichen Unrecht, über das sie nichts vermögen, und demütigt sie unablässig mit Desideraten, vor denen sie versagen müssen, so verlängert demgegenüber die These von der Unfreiheit die Vormacht des Gegebenen metaphysisch, erklärt sich als unveränderlich und animiert den Einzelnen, wofern er nicht ohnehin dazu bereit ist, zu kuschen, da ihm ja doch nichts anderes übrigbleibe." 4 6 9 Die Freiheitsfrage selbst aber erheischt als Abguß der bürgerlichen Gesellschaft 4 7 0 für Adorno "kein Ja oder Nein sondern Theorie ... Befreit wäre das Subjekt erst als mit dem Nichtich versöhntes, und damit auch über der Freiheit, soweit sie mit ihrem Widerpart, der Repression, verschworen i s t . " 4 7 1 Die Wirksamkeit des Identitätsprinzips 472 radikalisiert dagegen die positivierte Freiheitsannahme auf die wirklichkeitsgestaltende Einheit des schon von Nietzsche 4 7 3 denunzierten Wunsches, strafrechtlich hart durchzugreifen: "Wird Freiheit positiv, als Gegebenes oder Unvermeidliches inmitten von Gegebenem gesetzt, so wird sie unmittelbar zum Unfreien. Aber die Paradoxie 4 6 9

N D 260/261.

4 7 0

"So wird es, wenn die Menschheit sich herausarbeitet, einmal fast allem ergehen, was heute noch für Leben gilt und nur darüber täuscht, wie wenig Leben schon ist. Bis dahin ist die waltende Gesetzlichkeit dem Einzelnen und seinen Interessen konträr. Unter Bedingungen bürgerlicher Wirtschaft ist daran nicht zu rütteln; in ihr kann die Frage nach Freiheit oder Unfreiheit des Willens, als einem Vorhandenen, nicht beantwortet werden. Sie ist ihrerseits Abguß der bürgerlichen Gesellschaft: die in Wahrheit historische Kategorie des Individuums eximiert trugvoll jene Frage von der gesellschaftlichen Dynamik und behandelt den je Einzelnen als Urphänomen ..." N D 260. 4 7 1

472

N D 279.

"Das identifizierende Prinzip des Subjekts ist selber das verinnerlichte der Gesellschaft. Darum hat in den realen, gesellschaftlich seienden Subjekten Unfreiheit vor der Freiheit bis heute den Vorrang. Innerhalb der nach dem Identitätsprinzip gemodelten Wirklichkeit ist keine Freiheit positiv vorhanden. Wo, unterm universalen Bann, die Menschen in sich dem Identitätsprinzip und damit den einsichtigen Determinanten enthoben scheinen, sind sie einstweilen nicht mehr sondern weniger denn determiniert: als Schizophrenie ist subjektive Freiheit ein Zerstörendes, welches die Menschen erst recht dem Bann der Natur einverleibt." ND 239. 4 7 3 "Wir haben heute kein Mitleid mehr mit dem Begriff "freier Wille": wir wissen nur zu gut, was er ist - das anrüchigste Theologen- Kunststück, das es gibt, zum Zweck, die Menschheit in ihrem Sinne "verantwortlich" zu machen, das heißt sie von sich abhängig zu machen ... Ich gebe hier nur die Psychologie alles Verantwortlichmachens. - Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht werden, pflegt es der Instinkt des Strafen- und Richten-Wollens zu sein, der das sucht... Die Menschen wurden frei gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können - um schuldig werden zu können ..." Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung. In Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 2, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, S. 976-977.

3. Freiheit der Person

129

von Kants Freiheitslehre entspricht streng ihrem Standort in der Realität. Gesellschaftlicher Nachdruck auf Freiheit als einem Existenten koaliert sich mit ungeminderer Unterdrückung, psychologisch mit Zwangszügen. Sie sind der in sich antagonistischen Kantischen Moralphilosophie gemeinsam mit einer kriminologischen Praxis, in welcher der dogmatischen Lehre von der Willensfreiheit das Bedürfnis sich paart, hart, uneingedenk empirischer Bedingungen, zu strafen." 474 Freiheitslehre und gesellschaftliche Praxis koalieren damit unter dem Zwang zur Festlegung der Ordnung so sehr in ihrer Distanz zu den Einsichten, die das Leiden des Besonderen bereithält, daß sich ihre funktionale Abstimm u n g 4 7 5 als blanke Ideologisierung von Wissenschaft für die Zwecke des unverstandenen Ganzen darstellt.

5.2.2. Freiheit bei Kant Etwas näher setzt sich Adorno mit der Freiheitsphilosophie Kants auseinander.

3.2.2.1. Nichtidentität von Bewußtsein und Freiheit Das erste gegen Kant gerichtete Argument geht dahin, daß dieser Freiheit, um sie zur Prämisse seiner Moralphilosophie machen zu können, mit Bewußtsein gleichgesetzt 476 habe. Der Unterschied zwischen Bewußtsein und Willen sei damit ausgeblendet, und schon deshalb seien die heteronomen Gehalte der Voraussetzung von Freiheit und des Bewußtseins nicht erkannt worden.

4 7 4

N D 231.

4 7 5

"Weil jedoch die Einzelwissenschaft - exemplarisch die vom Strafrecht - der Frage nach der Freiheit nicht gewachsen ist und ihre eigene Inkompetenz offenbaren muß, sucht sie Hilfe bei eben der Philosophie, welche durch ihren schlechten und abstrakten Gegensatz zum Szientivismus solche Hilfe nicht gewähren kann. Wo die Wissenschaft die Entscheidung des ihr Unauflöslichen von der Philosophie erhofft, empfängt sie von dieser nur weltanschaulichen Zuspruch ..." ND 214/215. 4 7 6

"Bewußtsein, vernünftige Einsicht ist nicht einfach dasselbe wie freies Handeln, nicht blank dem Willen gleichzusetzen. Eben das geschieht bei Kant. Wille ist ihm der Inbegriff von Freiheit, das Vermögen, frei zu handeln ... In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wird der Wille "als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen". Nach einer späteren Stelle derselben Schrift sei der Wille "eine Art von Causalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind ..." Zitate bei Adorno, ND 226/227, vgl. a. ND 251. 9 M. Becker

130

Besonderer Teil

Wenn auch die voluntativen Momente des Denkens für dieses zumindest mit konstitutiv sind, so dürfe doch Reflexion Willen und Bewußtsein nicht einfach gleichsetzen. » "Daß ohne Wille kein Bewußtsein ist, verschwimmt den Idealisten in blanker Identität: als wäre Wille nichts anderes als Bewußtsein. Im tiefsten Konzept der transzendentalen Erkenntnistheorie, der produktiven Einbildungskraft, wandert die Spur des Willens in die reine intellektuelle Funktion ein ... so wird Spontaneität ... am Willen unterschlagen ...: ohne jenes Wollen, das in der Willkür eines jeden Denkaktes sich manifestiert und allein den Grund abgibt für dessen Unterscheidung von den passiven, rezeptiven Momenten des Subjekts, wäre dem eigenen Sinn nach kein Denken." 4 7 7 Durch die Identifikation des Willens mit Bewußtsein läuft "bei ihm (Kant) Freiheit auf die invariante Sich- Selbstgleichheit der Vernunft auch im praktischen Bereich hinaus ...". So büßt sie ein, "worin der Sprachgebrauch Vernunft und Willen distinguiert. Kraft seiner totalen Rationalität wird der Wille irrational."478

3.2.2.2. Einheit persönlichen Selbstbewußtseins und die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit Die Sich-Selbst-Gleicheit identischer Vernunft blende deshalb von vornherein nicht nur die von außen stammenden heteronomen Aspekte des Willens in seiner Bildung und Orientierung aus. Die irrationale Vernunftreduktion vermag auch gerade nicht zu erkennen, daß das Organ der Freiheit, der Wille, wesentlich selbst ein Zwangsprinzip ist. So versäumt sie die Reflexion auch der inneren Dialektik der Freiheit: "Was in die Einheit dessen fällt, was der traditionellen Erkenntnistheorie persönliches Selbstbewußtsein hieß - selber insofern zwangsvollen Wesens, als diese Einheit all ihren Momenten als Gesetzmäßigkeit sich aufprägt - erscheint dem sich auf sich zurücknehmenden Ich als frei, weil es die Idee der Freiheit vom Modell der eigenen Herrschaft herleitet, erst der über Menschen und Dinge, dann, verinnerlicht, der über seinen gesamten konkreten Inhalt, über den es verfügt, indem es ihn denkt. Das ist nicht nur Selbsttäuschung ... Einzig wofern einer als Ich, nicht bloß reaktiv handelt, kann sein Handeln irgend frei heißen. Dennoch wäre gleichermaßen frei das vom Ich als dem Prinzip jeglicher

4 7 7

N D 229.

4 7 8

ND 238.

3. Freiheit der Person

131

Determination nicht Gebändigte, das dem Ich, wie in Kants Moralphilosophie, unfrei dünkt und bis heute tatsächlich ebenfalls unfrei war." 4 7 9 Mittels der Erfahrung der Psychoanalyse bestimmt Adorno das Ich - das überhaupt mögliche Organon der Freiheit - als Einheit der Herrschaft des "persönlichen Selbstbewußtseins" über seinen "gesamten konkreten Inhalt". Die Möglichkeit von Freiheit wird in der Anstrengung, allein durch die gebündelte Unfreiheit des Ichs zu ihr kommen zu können, eröffnet und zugleich begrenzt. Die Wahrheit der Möglichkeit von Freiheit ist damit nicht nur auch ihre Unwahrheit. Unwahr ist die vom Ich zu schaffende Freiheit darüber hinaus auch deshalb, weil auch das vom Ich nicht Gebändigte, die archaisch naturhaften Momente frei wären, da sie doch tatsächlich noch unfrei sind. Solche Dialektik der Freiheit zeigt sich in der psychonalytischen Theorie der Verdrängung. Ihr zufolge ist, "die verdrängende Instanz, der Zwangsmechanismus, eins mit dem Ich, dem Organon der Freiheit." 4 8 0 Dies ist der Grund, warum Introspektion in sich weder Freiheit noch Unfreiheit als Positives entdecken kann. Beides bestimmt sich nur an der Beziehung auf Außerseelisches. Freiheit erscheint "als polemisches Gegenbild zum Leiden unterm gesellschaftlichen Zwang, Unfreiheit als dessen Ebenbild." 4 8 1 Philosophische Fiktion von Freiheit erzeugt ihre Selbstgewißheit dagegen genau dann, wenn sie den objektiven Vermittlungen, die sich gerade als psychische im Einzelnen niederschlagen, nicht nur als äußere, sondern gerade auch als innere keine Aufmerksamkeit zollt, indem sie die aus sich und gegen das nicht zum Ich gehörenden, durch dieses hervorgebrachten Abhängigkeiten bzw. zwanghaften Unterdrückungen ausblendet. 482 "Über das am Ich Entscheidende, seine Selbständigkeit und Autonomie kann nur geurteilt werden im Verhältnis zu seiner Andersheit, zum Nichtich. Ob Autonomie sei oder nicht, hängt ab von ihrem Widersacher und Widerspruch, dem Objekt, das dem Subjekt Autonomie gewährt oder verweigert; losgelöst davon ist Autonomie fiktiv." 483

4 7 9

480 4 8 1

ND 221/222. N D

2 2 2

N D 222.

482

Dies ist für Adorno einer der psychologischen Gründe dafür, warum Kant Freiheit mit Zwang verwechsele und im Interesse der großen Philosophie des siebzehnten Jahrhunderts eine "gemeinsame Formel" gesucht wurde "für Freiheit und Unterdrückung: jene wird an die Rationalität zediert, die sie einschränkt, und von der Empirie entfernt, in der man sie gar nicht verwirklicht sehen will." N D 213/214. 4 8 3

ND 222.

132

Besonderer Teil

3.2.2.3. Nichtbestimmbarkeit von Freiheit durch Bewußtsein Angesichts der aus der Tiefenspychologie gegen eine abstrakt philosophisch bleibende Betrachtung gewendeten Einwände erscheint folgerichtig, daß auf der Ebene der Idee bleibendes philosophisches Bewußtsein "wenig ... durch den Rekurs auf seine Selbsterfahrung über Freiheit ausmachen kann." 4 8 4 Gezeigt wird das an Kants experimenta crucis der Introspektion: "Die Kantischen Gedankenexperimente sind nicht unähnlich der existentialistischen Ethik. Kant, der wohl wußte, daß der gute Wille sein Medium in der Kontinuität eines Lebens hat und nicht in der isolierten Tat, spitzt im Experiment, damit es beweise, was es soll, den guten Willen in die Entscheidung zwischen zwei Alternativen zu. Jene Kontinuität gibt es kaum mehr; darum klammert Sartre sich einzig an die Entscheidung, in einer Art Regression aufs achtzehnte Jahrhundert. Während jedoch an der Alternativsituation Autonomie demonstriert werden soll, ist sie heteronom vor allen Inhalten. Kant muß im einen seiner Beispiele für Entscheidungssituationen einen Despoten aufbieten; analog stammen die Sartreschen vielfach aus dem Faschismus, wahr als dessen Denunziation, nicht als condition humaine. Frei wäre erst, wer keinen Alternativen sich beugen müßte, und im Bestehenden ist es eine Spur von Freiheit, ihnen sich zu verweigern. Freiheit meint Kritik und Veränderung in Situationen, nicht deren Bestätigung durch Entscheidung inmitten ihres Zwangsgefüges . . . " 4 8 5

3.2.2.4. Kausalität als Wirkung der Freiheit in die Empirie Das vielleicht entscheidende Argument gegen eine auf Freiheit als Prämisse fußende praktische Philosophie ist allerdings der gegen Kant geführte Einwand mangelnder Kausalität der aus Freiheit stammenden Kausalkette in die Empirie. Einerseits wäre die Kantsche Kausalität selbst bereits bloße "Funktion subjektiver Vernunft, und damit das unter ihr Vorgestellte immer dünner. Es zergeht wie ein Stück Mythologie . . . " 4 8 6 Andererseits erscheint die Zurichtung des Kausalitätsbegriffes auf die Freiheitsproblematik bei Kant derart konsequent, daß er sich in einen Begründungszirkel mit der Freiheit begibt, die er erst erklären soll. 4 8 7 Im Zusammen-

4 8 4

ND 222.

4 8 5

N D 225.

4 8 6

N D 245.

4 8 7

"Unterliegt bereits die Konstitution der Kausalität durch die reine Vernunft, die doch ihrerseits die Freiheit sein soll, der Kausalität, so ist Freiheit vorweg so komprommittiert, daß sie kaum einen anderen Ort hat als die Gefügigkeit des Bewußtseins dem Gesetz gegenüber." N D 246.

3. Freiheit der Person

133

hang damit steht der kategoriale Hinweis auf die konzeptionelle Unzulänglichkeit eines Wirkzusammenhanges, der zwischen Unzeitlichem und Zeitlichem sollte vermitteln können: "Unerfindlich wie Freiheit, prinzipiell Attribut temporalen Handelns und einzig temporal aktualisiert, von einem radikal Unzeitlichen soll prädiziert werden können; unerfindlich auch, wie ein derart Unzeitliches in die raumzeitliche Welt hineinzuwirken vermöchte, ohne selbst zeitlich zu werden ... Als deus ex machina springt der Ding-an-sich-Begiff ein. Verborgen und unbestimmt markiert er eine Leerstelle des Gedankens; einzig seine Unbestimmtheit erlaubt, ihn nach Bedarf zur Erklärung heranzuziehen." 488 Zuletzt ist es wieder der Hinweis auf die Struktur subjektiver Identitätsphilosophie, der den Zusammenhang von Erkenntnisphilosophie mit praktischer Philosophie im Begriff der absoluten Spontaneität der Ursache verdeutlicht. 489 Erkenntnisphilosophischer Kausalitätsbegriff und Freiheit der praktischen Philosophie fallen im Moment der Identität des Subjekts mit der aus sich herausgesetzten Ordnung - der Gegenstände der Erkenntnis oder der Sittlichkeit - zusammen: "So ist Freiheit vorweg so kompromittiert, daß sie kaum einen anderen Ort hat als die Gefügigkeit des Bewußtseins dem Gesetz gegenüber. Im Aufbau der gesamten Antithetik überschneiden sich Freiheit und Kausalität. Weil jene bei Kant soviel ist wie Handeln aus Vernunft, ist auch sie gesetzmäßig, auch die freien Handlungen "folgen aus Regeln". Daraus ist die unerträgliche Hypothek der nach-Kantischen Philosophie geworden, daß Freiheit ohne Gesetz keine sei; einzig in der Identifikation mit diesem bestünde." 490

4 8 8

489

N D 251.

"Die Totalität von Erkenntnis, die dabei stillschweigend der Wahrheit gleichgesetzt wird, wäre die Identität von Subjekt und Objekt ... Einer Erkenntnis, die über eine derart vollständige Reihe verfügte, wie sie laut Kant nur unter der Hypostasis eines ursprünglichen Aktes absoluter Freiheit vorzustellen ist;... wäre eine, der kein von ihr Verschiedenes gegenüberstünde." ND 247. "Urteile über Kausalzusammenhänge spielen in Tautologie hinüber: Vernunft konstatiert an ihnen, was sie ohnehin als Vermögen von Gesetzen wirkt." ND 245. "Die Gedanken sind frei. Weil nach seiner Doktrin alles, was ist, Gedanke sein soll, der des Absoluten, soll alles, was ist, frei sein. Aber das will nur das Bewußtsein davon beschwichtigen, daß die Gedanken keineswegs frei sind. Noch vor aller gesellschaftlichen Kontrolle, vor aller Anpassung an Herrschaftsverhältnisse wäre ihrer reinen Form, der logischen Stringenz, Unfreiheit nachzuweisen, Zwang, dem Gedachten gegenüber ebenso wie dem Denkenden, der es erst durch Konzentration sich antun muß. Abgewürgt wird, was nicht in den Vollzug des Urteils hineinpaßt; Denken übt vorweg jene Gewalt aus, die Philosophie im Begriff der Notwendigkeit reflektierte. Durch Identifikation vermitteln sich zuinnerst Philosophie und Gesellschaft in jener." ND 232. 4 9 0 N D 246. Das Engelszitat macht den Abstand der von Adorno als Nachfolge des Idealismus angegriffenen urbürgerlichen Lehre des Marxismus von seiner auf Nichtidentität gehenden Auffassung sehr deutlich: "Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit

134

Besonderer Teil

3.2.2.5. Unmöglichkeit moralischer Einzelhandlung So ist für Adorno die Konstruierbarkeit abstrakter Moralphilosophie mit der Unmöglichkeit, logisch zwingende Handlungsableitungen aus einem voraussetzbaren Freiheitsbegriff mit Relevanz gerade für das handelnde empirische Subjekt zu konzipieren, genauso verstellt 491 wie die Sicherheit einer moralisch guten Einzelentscheidung im Vermittlungszusammenhang des unwahren Ganzen. "Moralische Sicherheit existiert nicht; sie unterstellen wäre bereits unmoralisch, falsche Entlastung des Individuums von dem, was irgend Sittlichkeit heißen dürfte. Je unbarmherziger die Gesellschaft bis in jegliche Situation hinein objektiv - antagonistisch sich schürzt, desto weniger ist irgendeine moralische Einzelentscheidung als die rechte verbrieft. Was immer der Einzelne oder die Gruppe gegen die Totalität unternimmt, deren Teil sie bildet, wird von derem Bösen angesteckt, und nicht minder, wer gar nichts tut. Dazu hat die Erbsünde sich säkularisiert. Das Einzelsubjekt, das moralisch sicher sich wähnt, versagt und wird mitschuldig, weil es, eingespannt in die Ordnung, kaum etwas über die Bedingungen vermag, die ans sittliche Ingenium appellieren: nach ihrer Veränderung schreien . . . " 4 9 2

3.2.2.6. Repression: Funktion nichtdialektischer Freiheitslehre Die Hypostasierung und Positivität einer einfach abstrakten Freiheitslehre reproduziert, entgegen ihrem theoretischen Defizit, die Repression einer auf

richtig darstellte ... Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiednen und widersprechenden Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande, den sie gerade beherrschen sollte. Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung. Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin 1962, Bd. 20, S. 106; vgl. dazu ND 246. 491 "daß in vollendeter Abstraktion Menschen unter willkürliche Begriffe subsumiert und danach behandelt wurden, wischt nicht den Makel weg, der das Wort konkret seitdem befleckt. Dadurch wird aber nicht die Kritik an der abstrakten Moralität rückgängig gemacht. Sie so wenig wie die angeblich materiale Wertethik kurzfristig ewiger Normen langt zu angesichts der fortdauernden Unversöhntheit von Besonderem und Allgemeinem. Zum Prinzip erkoren, wird die Berufung aufs eine so gut wie aufs andere Unrecht am Entgegengesetzten. Die Entpraktizierung von Kants praktischer Vernunft, ihr Rationalismus also und ihre Entgegenständlichung sind verkoppelt; erst als entgegenständlichte wird sie zu jenem absoluten Souveränen, das in der Empirie ohne Rücksicht auf diese und auf den Sprung zwischen Handeln und Tun, soll wirken können." ND 235. Vgl. dazu auch unten BT 5.1.4.1.

3. Freiheit der Person

135

solch philosophische Lehre angewiesenen Gesellschaft. 493 "Daß Freiheit sein müsse, ist die höchste iniuria des rechtsetzenden autonomen Subjekts. Der Inhalt seiner eigenen Freiheit, der Identität, die alles Nichtidentische annektiert hat, ist eins mit dem Muß, dem Gesetz, der absoluten Herrschaft, daran entflammt das Kantische Pathos. Noch Freiheit konstruiert er als Spezialfall von Kausalität." 494 Dagegen wäre Moral allein der Übergang von Philosophie in die Kritik des Falschen, das den Einzelnen noch zum Bösen, das sich in und durch ihn vollstreckt, anhält, während es den philosophisch rationalisierten Hintergrund für den Strafbefehl bereitet, der ungeschminkt sich das Seine holt. "Aber daß Freiheit veraltet, ohne verwirklicht zu sein, ist nicht als Fatalität hinzunehmen. Widerstand muß diese erklären." 495

3.3. Wirklichkeit und Freiheit 3.3.1. Reale Freiheit als Grenze der Begründung, Rechtfertigung Legitimation von Recht und Staat, Strafrecht und Moral

und

Daß die fiktionale Freiheitslehre Staat, Moral und Strafrecht mit repressivem Niederschlag begründe und damit den Unfreiheitszusammenhang verdichte, bewahrheitet sich selbst nur in dem Maße, in dem Unfreiheit positiv Allgemeinheit zeitigt. Adornos dialektisches Denken vermag aber gerade nicht in einem Entscheidungsakt die ohnehin falsche Alternative des Entweder-Oder eines Vorhandenseins von Freiheit bzw. Unfreiheit zu bestätigen. Das im Allgemeinen Teil Gesagte zeigt andererseits deutlich, daß er angesichts der Annahme radikaler Vermittlung gerade auch jeglicher Subjektivität durch das objektiv wirkende Tauschprinzip gezwungen ist, von einem Vorrang der Unfreiheit vor der Freiheit auszugehen. 496 493 "Daneben behält Kants Ethik, brüchig in sich, ihren repressiven Aspekt. Er triumphiert ungemildert im Strafbedürfnis." ND 257. 4 9 4 N D 248. 4 9 5 4 9 6

N D 214/215.

"Die universale Herrschaft des Tauschwertes über die Menschen, die den Subjekten a priori versagt, Subjekte zu sein, Subjektivität selber zum bloßen Objekt erniedrigt, relegiert jenes Allgemeinheitsprinzip, das behauptet, es stifte die Vorherrschaft des Subjekts, zur Unwahrheit." ND 180 "Der lebendige Einzelmensch, so wie er zu agieren gezwungen ist und wozu er auch in sich geprägt wurde, ist als verkörperter homo oeconomicus eher das transzendentale Subjekt, denn der lebendige Einzelne, für den er sich doch unmittelbar halten muß" Stichworte, GS, Bd. 10 II, S. 745; Die Menschen sind "Charaktermasken, Agenten des Werts..reagieren unterm Zwang des Allgemeinen ..." ND 306 sind "wehrlos Gehorchende" ND 306, angewiesen "aufs Ganze" ND 312. Vgl. zum Ganzen oben AT 5.1.3. und 5.2. vgl. a. N D 309; DdA 102/103 Freiheit kann deshalb nur durch Bemühung gegen die Vormacht des objektiv Allgemeinen, nicht durch Anpassung und Regression, erworben werden.

136

Besonderer Teil

Ist deshalb "Freiheit... einzig in bestimmter Negation zu fassen, gemäß der konkreten Gestalt von Unfreiheit", da sie "positiv ... zum Als ob" w i r d , 4 9 7 "... findet der Einzelne schon keinen Sachverhalt Freiheit in sich vor", aber vermag doch "ebensowenig das naive Theorem von der Determination das naive Gefühl der Willkür einfach post festum auszulöschen ..." 4 9 8 , erhebt sich die Frage nach den tatsächlichen und philosophischen Voraussetzungen, nach denen im Vermittlungszusammenhang des unwahren Ganzen durch bestimmte Negation Freiheit zu erfahren wäre. Damit stellt sich zugleich auch die Frage nach der über eine bloß fiktionale Freiheit behauptende Morallehre hinausweisenden Philosophie der Freiheit nicht zuletzt als Voraussetzung dialektischer Rechtsphilosophie. Könnte diese Frage auch unabhängig von der Annahme radikaler Vermittlung durch die Tauschgesellschaft gestellt werden, wenn man diese Vorstellung ablehnen wollte, ist sie für Adorno nur unter der Annahme dieser, hier im allgemeinen Teil erläuterten, Voraussetzung zu beantworten. Sie hat wiederum verschiedene Seiten: Zunächst wäre der Zusammenhang zwischen dem Konzept radikaler gesellschaftlicher Vermittlung des Besonderen mit den Bedingungen der Möglichkeit subjektiver Freiheit zu erörtern: Dabei stellt sich insbesondere die Frage nach dem Organon subjektiver Freiheit. Des weiteren wäre darzulegen, wie unter gegebenen Bedingungen radikaler Vermittlung Freiheit sich überhaupt und besonders auch als moralische äußern kann. Zuletzt ist zu analysieren, was negative Dialektik ihrem eigenen Anspruch und vermöge der in ihr liegenden Logik moralphilosophisch bzw. rechtsphilosophisch vermag. Die drei Betrachtungsebenen sind nicht unabhängig voneinander, da ihre Gegenstände sich aufeinander beziehen. Sie beziehen sich zugleich jeweils auf den dialektischen Zusammenhang von äußerer zu innerer Bedingung subjektiver Freiheit bzw. Heteronomie.

3.3.2. Freiheit des Besonderen im Allgemeinen der Unfreiheit: Dialektische Doppelhelix der Freiheit; Vermittlung von Freiheit und Unfreiheit, Ich und Nichtich, Geist und Wirklichkeit im Innen und Außen der Person - Zur Psychosomatik der Philosophie der Freiheit als Kritik an Kant, Hegel und Marx Als Ausgangspunkt der Betrachtung muß die Überlegung gemacht werden, daß Freiheit und Unfreiheit sowohl in ihrem äußeren objektiven als auch in ihrem inneren, subjektiven Verhältnis dialektisch nicht als einfacher Gegensatz, 4 9 7

N D 230.

4 9 8

N D 213.

3. Freiheit der Person

137

sondern als Bedingungsverhältnis je subjektiver und objektiver Momente der Objektivität bzw. der Subjektivität erscheinen. 499 Auch wenn das dem Subjekt äußere gesellschaftliche Verhältnis als allgemeines objektives Verhängnis über es erscheint, wird es doch nur durch seine verblendete Subjektivität realisiert. Umgekehrt ist dem Dialektiker Adorno die Notwendigkeit objektiver Kausalität Voraussetzung für subjektive Freiheit: "Würde Kausalität als eine - wie immer auch subjektiv vermittelte - Bestimmung der Sachen selbst aufgesucht, so öffnete sich in solcher Spezifikation, gegenüber dem unterschiedslos Einen reiner Subjektivität, die Perspektive von Freiheit. Sie gälte dem von Zwang Unterschiedenen. Dann wäre Zwang nicht länger gepriesen als Tathandlung des Subjekts, nicht länger seine Totalität bejaht. Er büßte die apriorische Gewalt ein, die aus dem realen Zwang extrapoliert ward. Je objektiver die Kausalität, desto größer die Möglichkeit von Freiheit; nicht zuletzt darum muß, wer Freiheit will auf der Notwendigkeit insistieren. Kant dagegen fordert die Freiheit und verhindert sie." 5 0 0 Die dialektische Pointe Adornos liegt aber, entgegen der von Marx und Engels vorgezogenen äußerlich bleibenden Variante der Vermittlung des Subjekts durch gesellschaftliche Arbeit, in ihrer dialektischen Psychologisierung als Verdoppelung der entfremdeten Welt im Inneren. Was dem Menschen von außen objektiv angetan wird, tut er sich noch einmal innerlich a n , 5 0 1 auch wo der äußere Zwang ohnehin aus seiner verselbständigten, verdinglichten Innerlichkeit 5 0 2 kommt. Adornos Philosophie ist insofern eine negativ psychologi-

499 Die Struktur der Dialektik Adornos läßt sich im Vergleich zu der von Hegel und Marx als Doppelhelix modellhaft vorstellen. Ist "Freiheit selbst... derart mit der Unfreiheit verfilzt, daß sie von dieser nicht bloß inhibiert wird, sondern sie zur Bedingung ihres eigenen Begriffs hat" ND 262, macht es die "Unendlichkeit des Verwobenen und sich Kreuzenden ... prinzipiell, keineswegs erst praktisch unmöglich, eindeutige Kausalketten zu bilden" ND 263, so läßt sich auch kein prinzipieller Entwicklungsmodus der Sittlichkeit des Staates oder der klassenlosen Gesellschaft abzeichnen. Die Totalität des antagonistischen Ganzen verwirklicht die Subjektivierung seiner Objektivität nur durch die Objektivierung der Subjekte. Vgl. schon oben AT 4.2.3. bis 4.2.5 Ist aber die Objektivität des Ganzen in der Subjektivität der Teile enthalten und wird jenes nur durch diese hergestellt, so läßt sich das Ganze auch ohne Subjekte nicht verändern, die erst innerhalb eines wahren Ganzen auch ihrem eigenen - spekulativ wahren - Begriff entsprächen. Die Struktur der Unendlichkeit des Zirkels (vgl dazu schon AT 4.1.5.) versiegelt seine Ausweglosigkeit und läßt als letzten Weg den des "Widerstandes" zu. 5 0 0 N D 247, Hervorhebungen vom Verf. 5 0 1 Vgl. dazu schon oben AT 5.1.3.1.2.1., 5.2.4.4.1., unten BT. 4.1.2. und 5.2. sowie DdA 69 "Der ehrwürdige Glaube ans Opfer aber ist wahrscheinlich bereits ein eingedrilltes Schema, nach welchem die Unterworfenen das ihnen angetane Unrecht sich selbst nochmals antun, um es ertragen zu können."

CQ9

Vgl. zur partikularen Rationalität der Selbsterhaltung schon oben AT 5.1.3., insbesondere ab 5.1.3.1.2.

138

Besonderer Teil

sierend materialistische Wendung gegen Kant und Hegel und zugleich eine geistphilosophisch dialektische gegen Marx: "Nicht minder meldet die These von der Unfreiheit die geschichtliche Erfahrung der Unversöhntheit von Innen und Außen an: unfrei sind die Menschen als Hörige des Auswendigen, und dies ihnen Auswendige sind wiederum auch sie selbst. Erst an dem von ihm Getrennten und gegen es Notwendigen erwirbt das Subjekt, nach der Erkenntnis der Hegeischen Philosophie, die Begriffe Freiheit und Unfreiheit, die es dann auf seine eigene monadologische Struktur zurückbezieht. Das vorphilosophische Bewußtsein ist diesseits der Alternative; dem naiv Handelnden und sich gegen die Umwelt setzenden Subjekt die eigene Bedingtheit undurchsichtig. Sie zu beherrschen, muß das Bewußtsein sie transparent machen. Die Souveränität des Gedankens, der vermöge seiner Freiheit auf sich als auf sein Subjekt sich zurückwendet, zeitigt auch den Begriff Unfreiheit. Beides ist kein einfacher Gegensatz, sondern ineinander." 503 So gibt es in der Konzeption der dialektischen Doppelhelix der Freiheit auch nur scheinbar eine einfache Lösung angesichts historisch verstellter Freiheit: Ist das "Übel... nicht, daß freie Menschen radikal böse handeln, so wie über alles von Kant vorgestellte Maß hinaus böse gehandelt wird, sondern daß noch keine Welt ist, in der sie, wie es bei Brecht aufblitzt, nicht mehr böse zu sein brauchten", so wäre das "Böse ... demnach ihre eigene Unfreiheit". 5 0 4 Der Ausgang scheint damit von vornherein beim Ganzen und seiner Veränderung zu liegen, denn es wären "sicherlich erst in einer freien Gesellschaft die Einzelnen frei. Mit der äußeren Repression verschwände ... die innere." 5 0 5 Als Fragestellung ergäbe sich primär die "genuine, ob die Gesellschaft dem Individuum so frei zu sein gestattet, wie sie es ihm verspricht; damit auch, ob sie selbst es i s t . " 5 0 6 Doch ist es so einfach nicht. Denn die "Frage nach der Freiheit erheischt kein Ja oder Nein, sondern Theorie ... Befreit wäre das Subjekt erst als mit dem Nichtich versöhntes, und damit auch über der Freiheit, soweit sie mit ihrem Widerpart, der Repression verschworen i s t . " 5 0 7

5 0 3

504 5 0 5

N D 219. "was Böses geschieht, käme aus ihr." ND 218. N D 261.

5 0 6

N D 219.

5 0 7

ND 279.

3. Freiheit der Person

139

Der objektive, immer auf das Subjekt selbst zurückweisende Vermittlungszusammenhang schließt eine Betrachtung der empirischen Gesellschaft als an sich seiende substantielle Idee in ihrer Wirklichkeit gerade aus. Auch wo bei Adorno Gesellschaftliches als Tauschprinzip das Apriori von Erkenntnis - und Sozialphilosophie ist, wirkt sie eben gerade als psychologische Vermittlung im Subjekt. 5 0 8 Der Teufel hat Methode. Er durchwirkt den Einzelnen als Allgemeines seelischer Verblendung: "Das identifizierende Prinzip des Subjekts ist selber das verinnerlichte der Gesellschaft. Darum hat in den realen, gesellschaftlich seienden Subjekten Unfreiheit vor der Freiheit bis heute den Vorrang. Innerhalb der nach dem Identitätsprinzip gemodelten Wirklichkeit ist keine Freiheit positiv vorhanden. Wo, unterm universalen Bann, die Menschen in sich dem Identitätsprinzip und damit den einsichtigen Determinanten enthoben scheinen, sind sie einstweilen nicht mehr, sondern weniger denn determiniert: als Schizophrenie ist subjektive Freiheit ein Zerstörendes, welches die Menschen erst recht dem Bann der Natur einverleibt." 509 Die Ablehnung konsequenzlogischer Freiheitsbehauptung erweist sich deshalb wie auch ihr Widerpart, die Determinismusthese, als unwahrer Ausdruck der Identitätsphilosophie: "Wird Willensfreiheit schlechterdings geleugnet, so werden die Menschen ohne Vorbehalt auf die Normalform des Warencharakters ihrer Arbeit im entfalteten Kapitalismus gebracht... Das Subjekt braucht nur die ihm unausweichliche Alternative von Freiheit oder Unfreiheit des Willens zu stellen und ist schon verloren. Jede drastische These ist falsch. Im Innersten koinzidieren die vom Determinismus und die von der Freiheit. Beide proklamieren Identität. Durch Reduktion auf reine Spontaneität werden die empirischen Subjekte demselben Gesetz unterworfen, das als Kausalitätskategorie zum Determinismus sich expandiert. Vielleicht wären freie Menschen auch vom Willen befreit, sicherlich erst in einer freien Gesellschaft die Einzelnen frei. Mit der äußeren Repression verschwände ... die innere." 5 1 0 So wäre erst frei, wer "keinen Alternativen sich beugen müßte, und im Bestehenden ist es eine Spur von Freiheit, ihnen sich zu verweigern. Freiheit meint Kritik und Veränderung in Situationen, nicht deren Bestätigung durch Entscheidung inmitten ihres Zwangsgefü-

CßO "Weil die herrschende Objektivität den Individuen objektiv inadäquat ist, realisiert sie sich einzig die Individuen hindurch, psychologisch." N D 345. 5 0durch 9 N D 239. 5 1 0

N D 261.

5 1 1

ND Fn. X, S. 225.

140

Besonderer Teil

Reduzierte sich die erkenntnisphilosophische Dimension negativer Dialektik auf die Bedingung von Erkenntnis als Kritik ihrer totalen gesellschaftlichen Vermitteltheit, 512 so fällt andererseits in praktischer Hinsicht für Adorno "die Intention auf Freiheit mit der Intention auf die freie Erkenntnis der Unfreiheit zusammen." 513

3.3.2.1. Das Ich als Organon der Freiheit, und Freiheit als Prozeß; das Hinzutretende Wie sich allerdings das Moment spontaner Freiheit im Subjekt unter dem Druck der durch es hindurchgehenden Vermittlung äußert, bleibt damit weiter problematisch: Willensfreiheit kommt dafür nicht in Frage, zu sehr erweist sich das "empirische Subjekt... selbst" als "Moment der raumzeitlichen 'auswendigen' W e l t " 5 1 4 und gehen die "mit Wille und Freiheit designierten Entscheidungen ungezählte Momente der auswendigen, zumal gesellschaftlichen Realit ä t " 5 1 5 ein; "darum scheitert der Versuch, die Frage nach der Willensfreiheit in ihm zu lokalisieren." 516 Für Adornos Freiheitsbegriff ist dagegen die Dialektik zwischen Vor-ichlichem Impuls, dem Ich und dem Hinzutretenden von goßer Bedeutung. Sie ergibt sich als psychosomatische Kritik einer reinen und abstrakten Kantischen Bewußtseinslehre durch die Reflexion auf den Zusammenhang der archaisch Vor-ichlichen, der ichlichen und der als Impuls zum Ich bzw. einer Entscheidung hinzutretenden, impulshaften psychosomatischen Momente des Willens bzw. des Bewußtseins. Adorno rekurriert für die Inanspruchnahme des möglichen subjektiven Potentials von Freiheit nicht einfach auf einen vor der Ichbildung als der Errungenschaft des gegen die mythischen Naturkräfte identisch sich bündelnden Willens, welcher mit der Möglichkeit der Aufklärung zugleich die Reproduktion von Natur in Gesellschaft bedeutet, liegenden vor-ichlichen Impuls. Zwar nährt das "dämmernde Freiheitsbewußtsein ... sich von der Erinnerung an den archaischen, noch von keinem festen Ich gesteuerten Impuls." Und es wäre auch "ohne Anamnesis an den ungebändigten, vor-ichlichen Impuls, der später in die Zone unfreier Naturhörigkeit verbannt ist ... die Idee von Freiheit nicht

5 1 2

Vgl. oben AT 5.2.4.4.2.5.

5 1 3

Böckelmann 1972, S. 154.

5 1 4

N D 213.

5 1 5

N D 212.

5 1 6

N D 213.

3. Freiheit der Person

141

zu schöpfen, welche doch ihrerseits in der Stärkung des Ichs terminiert." 517 Aber "je mehr das Ich diesen zügelt, desto fragwürdiger wird ihm die vorzeitliche Freiheit als chaotische." 518 Während also die Erinnerung an den vor-ichlichen Impuls die Idee der Freiheit nährt, wäre diese doch nicht ohne das Zwangsprinzip, das im identisch sich bündelnden Willen, dem Ich, terminiert, überhaupt denkbar. 519 Adornos Kritik an der abstrakten und theoretisch sich verengenden Lehre reinen Bewußtseins und der Vernunftkausalität Kants 5 2 0 geht also nicht dahin, das Ordnungsprinzip des Ich für die Möglichkeit des Subjekts, an Objektivität Freiheit zu leben, überhaupt negieren zu wollen 521 : Die Kritik geht auf die doppelte Reduktion des Willens auf Bewußtsein und des Bewußtseins auf theoretische, nicht die Empirie erreichenden Gehalte einer abstrakt bleibenden Vernunft. Gegen diese, letztlich die Möglichkeit von Freiheit um ihrer konsequent theoretischen Logik willen verratende Reduktion wendet er den Begriff des Hinzutretenden: "Die Entscheidungen des Subjekts schnurren nicht an der Kausalkette ab, ein Ruck erfolgt. Dies Hinzutretende, Faktische, das in dem Bewußtsein sich entäußert, interpretiert die philosophische Tradition wieder nur als Bewußtsein. Es soll eingreifen, wie wenn der Eingriff von reinem Geist irgend vorstellbar wäre." 5 2 2 5 1 7

N D 221.

5 1 8

ND 221.

ein

"Was in die Einheit dessen fällt, was der traditionellen Erkenntnistheorie persönliches Selbstbewußtsein hieß - selber insofern zwangvollen Wesens, als diese Einheit all ihren Momenten als Gesetzmäßigkeit sich aufprägt - erscheint dem sich auf sich zurücknehmenden Ich als frei, weil es die Idee der Freiheit vom Modell der eigenen Herrschaft herleitet, erst der über Menschen und Dinge, dann, verinnerlicht, der über seinen gesamten konkreten Inhalt, über den es verfügt, indem es ihn denkt. Das ist nicht nur Selbsttäuschung ... Einzig wofern einer als Ich, nicht bloß reaktiv handelt, kann sein Handeln irgend frei heißen. Dennoch wäre gleichermaßen frei das vom Ich als dem Prinzip jeglicher Determination nicht Gebändigte, das dem Ich, wie in Kants Moralphilosophie, unfrei dünkt und bis heute tatsächlich ebenfalls unfrei war." N D 221/222 Vgl. zur bewußt ausgeführten Paradoxie der Adornoschen Freiheitslehre gegen Kants Konstruktivismus auch Brunkhorst 1990, S. 303 ff. 520 "Das von Kant zur furchterregenden Majestät Apriorisierte führen die Analytiker auf psychologische Bedingungen zurück. Indem deterministische Wissenschaft kausal erklärt, was im Idealismus zum unableitbaren Zwang erniedrigt, steht sie real der Freiheit bei: ein Stück von deren Dialektik." N D 231. Vgl. a. ND 226 und oben. 521 "Selbsterfahrung des Moments von Freiheit ist mit Bewußtsein verknüpft; nur soweit weiß das Subjekt sich frei, wie ihm seine Handlung als identisch mit ihm erscheint, und das ist lediglich bei bewußten der Fall. In ihnen allein erhebt Subjektivität mühsam, ephemer das Haupt. Aber die Insistenz darauf verengte sich rationalistisch ... Bewußtsein, vernünftige Einsicht ist nicht einfach dasselbe wie freies Handeln, nicht blank dem Willen gleichzusetzen. Eben das geschieht bei Kant. Wille ist ihm der Inbegriff von Freiheit, das Vermögen, frei zu handeln, die Merkmaleinheit all der Akte, die als frei vorgestellt werden ..." ND 226.

ND 2 2 .

142

Besonderer Teil

Ihm eignet ein "nach rationalistischen Spielregeln irrationaler Aspekt... Das Hinzutretende ist Impuls, Rudiment einer Phase, in der der Dualismus des Extra· und Intramentalen noch nicht durchaus verfestigt war, weder willentlich zu überbrücken noch ein ontologisch Letztes ... Der Impuls, intramental und somatisch in eins, treibt über die Bewußtseinssphäre hinaus, der er doch auch angehört. Mit ihm reicht Freiheit in die Erfahrung hinein; das beseelt ihren Begriff als den eines Standes, der sowenig blinde Natur wäre wie unterdrückte. Ihr Phantasma, das Vernunft von keinem Beweis kausaler Interdependenz sich verkümmern läßt, ist das einer Versöhnung von Geist und Natur. Es ist der Vernunft nicht so fremd, wie es unter dem Aspekt von deren Kantischer Gleichsetzung mit dem Willen erscheint; fällt nicht vom Himmel. Der philosophischen Reflexion scheint es ein schlechthin Anderes, weil der auf die reine praktische Vernunft gebrachte Wille eine Abstraktion ist. Das Hinzutretende ist das, was von dieser Abstraktion ausgemerzt ward; real wäre Wille ohne es überhaupt nicht ... Wahre Praxis, der Inbegriff von Handlungen, welche der Idee von Freiheit genügten, bedarf zwar des vollen theoretischen Bewußtseins ... Aber Praxis bedarf auch eines Anderen, in Bewußtsein nicht sich Erschöpfenden, Leibhaften, vermittelt zur Vernunft und qualitativ von ihr verschieden . . . " 5 2 3 Es ist der Zusammenhang von Bewußtsein und diesem spontan Impulshaften, des nicht bloß Bewußthaften und deshalb überhaupt potentiell Bewußtsein Ermöglichenden, das der Spontaneität als virtuelles Moment von Freiheit eignet. Wäre Freiheit reine sterile Spontaneität, könnte sie sich auch nur in einer bloß vorgestellten - eben zuletzt ins Mythologische zurückfallenden - Kausalität realisieren. Deshalb vermag Adorno um der Möglichkeit von nicht bloß gedachter Freiheit willen den Willensbegriff vernünftig nicht nur als bewußten und den von Bewußtsein nicht nur als rationalen zu deuten. Das Zu-sich-Bringen der Vernunft kann dann nur Reflexion auf die nicht vernünftigen Momente von Bewußtsein und die nicht bewußt und deduzierbar steuerbaren des Willens ermöglichen. Zu suchen war folglich nach einem Begriff von Spontaneität, der mit dem begreifenden Moment seiner Entwicklung nicht um seiner konsequenzlogischen Präzision willen gerade das wesentliche Substrat seiner begrifflichen Legitimation, reale Freiheit, verfehlen und das zu Begreifende als Zwangsergebnis eines zwingenden Schlusses vorab steril auszudrücken vermöchte. Andererseits durfte das Zu-sich-Bringen der Vernünftigkeit des Freiheitsbegriffes nicht vorweg reines Bewußtsein Kants durch seinen einfachen Gegen5 2 3

ND 227/228.

3. Freiheit der Person

143

satz, den blanken arationalen Effekt, ersetzen und so als Possibilité realer Freiheit in den Gedanken unbegriffener Determination zurückwenden, ohne hinter die Einsicht Hegels zurückzufallen, daß Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit sei. So spricht Adorno - allerdings wegen der Unmöglichkeit, das nicht mit subjektiver Begrifflichkeit von vornherein Identische in einen exakten Begriffsrahmen einzuspannen - nur recht vage von dem, "was anders ist an der Handlung als das reine Bewußtsein, das Kantisch zu ihr nötigt: das jäh Herausspringende, ist die Spontaneität, die Kant ebenfalls in reines Bewußtsein transplantierte, weil sonst die konstitutive Funktion des Ich denke gefährdet worden wäre." 5 2 4 Gegen K a n t 5 2 5 macht Adorno Spontaneität als Doppeltes geltend: "Sie ist einerseits Leistung des Bewußtseins: Denken; andererseits unbewußt und unwillkürlich, der Herzschlag der res cogitans jenseits von dieser. Reines Bewußtsein - Logik - selber ist eine Gewordenes und ein Geltendes, in dem seine Genese unterging ... Umgekehrt durchbricht jeder Willensakt den autarkischen Mechanismus der Logik; das rückt Theorie und Praxis in Gegensatz. Kant stellt den Sachverhalt auf den Kopf. Mag immer das Hinzutretende mit ansteigendem Bewußtsein mehr stets sublimiert werden, ja mag der Begriff des Willens als eines Substantiellen und Einstimmigen damit erst sich bilden - wäre die motorische Reaktionsform ganz liquidiert, zuckte nicht mehr die Hand, so wäre kein Wille . . . " 5 2 6 Da andererseits auch ohne "jenes Wollen, das in der Willkür eines jeden Denkaktes sich manifestiert und allein den Grund abgibt für dessen Unterscheidung von den passiven, rezeptiven Momenten des Subjekts, ... dem eigenen Sinn nach kein Denken" 5 2 7 wäre, ist die Dialektik von intellektuell psychischem und somatischen Momenten des Spontaneitätsbegriffs im Spannungsfeld objektiver Vermittlung zu entwickeln. 3.3.2.2. Tauschgesellschaft, Moral und Versöhnung Ist einerseits das Ich als Bewußtseinsinstanz sowohl mögliches Organ der Freiheit als zugleich Unfreiheit wiederholende Instanz als Zwangsmechanis5 2 4

N D 228/229.

"Das Gedächtnis ans Ausgeschiedene lebt bei ihm nur noch in der doppelten Deutung der intramental gedeuteten Spontaneität fort." ND 229. "Als reiner Logos wird der Wille ein Niemandsland zwischen Subjekt und Objekt, antinomisch derart, wie es in der Vernunftkritik nicht visiert ward." N D 227/228. 5 2 6

N D 229.

ND 2 2 .

144

Besonderer Teil

mus gebündelter Willenseinheit, 528 und andererseits ohne psychosomatische Spontaneität empirisch reale Freiheit nicht vernünftig zu konzipieren, steht darüber hinaus aber das Subjekt im objektiv gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang, kann Freiheit ohne Reflexion dieser Doppeldialektik weder theoretisch gedacht noch praktisch ausgeübt werden: Denn Einsicht in Notwendigkeit setzt eben Einsicht in dieses komplexe Gefüge in- und auswendiger Vermittlung sowie die darin sich aufbäumende Spontaneität des Widerstandes voraus: Positiv ist Freiheit innerhalb des Falschen nicht zu haben. So eröffnet sich allein die Perspektive von Freiheit als Möglichkeit der Versöhnung, der Vorwegnahme dessen zu sprechen, was nur durch eine solche herzustellen wäre: "Befreit wäre das Subjekt erst als mit dem Nichtich versöhntes, und damit auch über der Freiheit, soweit sie mit ihrem Widerpart, der Repression, verschworen i s t . " 5 2 9 Der Schmerz der Neurosen zerrüttet somit nicht nur metapsychologisch "das kommode Bild: frei innen, unfrei von außen" und läßt dem Subjekt gerade "an seinem pathischen Zustand die Wahrheit" aufgehen, Demonstration seiner wirklichen Unfreiheit: "dort wo seine Herrschaft über die innere Natur versagt." 5 3 0 Das Beispiel bietet, paradox und brutal genug, auch erst die Möglichkeit, reale Freiheit als Utopie, den Fingerzeig aus dem Verhängnis zu erfahren: "Stürzt es (das Selbst) unter dem unmäßigen Druck, der auf ihm lastet, als Schizophrenes zurück in den Zustand der Dissoziation und Vieldeutigkeit... so ist die Auflösung des Subjekts zugleich das ephemere und verurteilte Bild eines möglichen Subjekts. Gebot einmal seine Freiheit dem Mythos Einhalt, so befreite es sich, als vom letzten Mythos, von sich selbst. Utopie wäre die opferlose Nichtidentität des Subjekts." 531 Daß gerade in der Auflösung der Identität des die innere und äußere Natur beherrschenden Ichs das Bild des ephemeren und verurteilten möglichen Subjekts aufleuchtet, bezeugt, wie tief Adornos Überzeugung davon ist, daß unter cor "Was sich jedoch in den Menschen, aus ihren Reflexen und gegen diese, objektiviert hat, Charakter oder Wille, das potentielle Organ der Freiheit, untergräbt auch diese. Denn es verkörpert das herrschaftliche Prinzip, dem die Menschen fortschreitend sich selbst unterwerfen. Identität des Selbst und Selbstentfremdung begleiten einander von Anbeginn; darum ist der Begriff Selbstentfremdung schlecht romantisch. Bedingung von Freiheit, ist Identität unmittelbar zugleich das Prinzip des Determinismus. Wille ist soweit, wie die Menschen sich zum Charakter objektivieren. Damit werden sie sich selbst gegenüber - was immer das sein mag - zu einem Äußerlichen, nach dem Modell der auswendigen, der Kausalität unterworfenen Dingwelt." ND 216. 5 2 9 N D 279. 5 3 0 5 3 1

N D 221.

N D 277. Vgl. a. ND 273: "Die Person ist der geschichtlich geknüpfte Knoten, der aus Freiheit zu lösen, nicht zu verewigen wäre; der alte Bann des Allgemeinen, im Besonderen verschanzt."

3. Freiheit der Person

145

den Bedingungen gegenwärtiger gesellschaftlicher Vermittlung Nichtidentität, das eigentliche Substrat eines überhaupt möglichen vernunftkritischen Begriffes von Freiheit, wie auch von Recht, verstellt ist. Wandert die Doppelhelix der Freiheitsdialektik als Vermittlung des Auswendigen durch den intrapersonalen Bereich, verschiebt die Introversion des Opfers, 532 die Identifikation mit dem Aggressor, 533 die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit in die Person, weil sie gesellschaftliche Negativität und Unfreiheit als inwändige der Person bezeugt 534 , so müssen auch Moral und Rechtsphilosphie die Entstehungsgeschichte von Recht und Freiheit gegen Unrecht und Unfreiheit im Subjekt bedenken. Erwiesen sich auch Recht und Unrecht als intramentale innersubjektive Vermittlungen, wäre das Thema der Rechtsphilosophie in der Folge Hegels nicht mehr die einfache Versöhnung von äußeren Klassengegensätzen in der Gesellschaft, sondern die von Geist und Natur, Bewußtsein und Impuls des Leibes, Ich und Nichtich, Subjekt und Objekt im Subjekt und den Vielen, der Gesellschaft. Bewußtsein des Rechts wäre, als Rechtsreflex, weniger als Bewußtsein, und mehr als das vom bestehenden Recht: die Utopie der Versöhnung vom "Recht" des Leibes mit dem aus ihm stammenden, nicht sich oder anderes opfernden Bewußtsein.

3.3.2.2.1.

Unmöglichkeit einer wahren Moral des Sollens: Modell der Unmöglichkeit eines wahren "Rechts "

An der Moralphilosophie macht Adorno diesen Gedanken explizit: "Daß zwischen Individuum und Gesellschaft so wenig einfache Differenz klafft, wie sie versöhnt sind, ist der Moralphilosophie wesentlich." 535 So ist der "Frage nach Recht oder Unrecht des Gewissens ... die bündige Antwort versagt, weil ihm selber Recht und Unrecht innewohnt und kein abstraktes Urteil sie sondern könnte: erst an seiner repressiven Gestalt bildet sich die solidarische, die jene 5 3 2

533

Vgl dazu oben 5.1.3. insbesondere AT 5.1.3.1.2.1.

"Nicht mehr auszulöschen ist die Einsicht der Psychoanalyse, daß die zivilisatorischen Mechanismen der Repression die Libido in antizivilisatorische Aggression verwandeln. Der mit Gewalt Erzogene kanalisiert die eigene Aggression, indem er mit der Gewalt sich identifiziert, um sie weiterzugeben und loszuwerden; so werden Subjekt und Objekt nach dem Bildungsideal von Hegels Rechtsphilosophie real identifiziert." ND 330. 5 3 4 "Daß das Allgemeine kein der Individualität bloß Übergestülptes, sondern ihre inwendige Substanz sei, läßt nicht auf die Allerweltsweisheit vom Umfangenden geltender menschlicher Sittlichkeit sich bringen, sondern wäre im Zentrum individueller Verhaltensweisen, zumal im Charakter aufzuspüren; in jener Psychologie, die Hegel, einig mit dem Vorurteil, einer Zufälligkeit zeiht, welche Freud unterdessen widerlegte." ND 344. Vgl. auch schon oben AT 5.1.3. und 5.2.4.4. 5 3 5

ND 278.

10 M. Becker

146

Besonderer Teil

(Frage A.d.V.) aufhebt... Am gesellschaftlich unerfüllten Anspruch des Individuums hat sich das Schlechte der Allgemeinheit deklariert. Das ist der überindividuelle Wahrheitsgehalt der Kritik an der M o r a l . " 5 3 6 Nicht nur erweist sich die Unfreiheit, gebündelter Zwang des Ichs im Überlebenszusammenhang, als Voraussetzung von Freiheit: Auch das Unrecht, das die psychosomatische Wirksamkeit des Ichs dem nicht zu ihm gehörenden der Person, dem leibhaft Vor-Ichlichen, durch Verinnerlichung ihres Prinzips abverlangt, ist bereits Teil des Einzelnen, das gesellschaftliche Rechtsverhältnis als Unrecht intrapersonal verschichtet. 537 War die Ausgangsfrage der Freiheit nicht nur die nach der der Gesellschaft, sondern der Begründbarkeit von Moral und Recht, führen in den Antworten Adornos beide Motivstränge notwendig zu radikaler Kritik einer Moral, die in Sollenssätzen sich äußert und einem Rechtsbegriff, der auf das Sollen zum Zwecke seiner Geltung rekurriert. Wurde der Schein abstrakter Freiheit der Person zerstört, muß es jeder darauf sich gründenden Sollensordnung schwindeln, nicht nur, weil die Personen, die in den Begriffen von Moral und Recht die Zuweisungsempfänger sind, noch nicht existieren, 538 auch deshalb, weil der Zusammenhang, aus dem die Zuweisung erfolgen möchte, keiner der Freiheit sein kann: Freiheit, Moral und Recht wären als Utopien ihrer un verwirklichten Idee aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang zu lösen, innerhalb dessen als unwahre sie die Ideologie von Freiheit im sozialen Ganzen verkünden, um sie als nackte reale Herrschaft zu verwirklichen. Die reale Möglichkeit eines nichtrepressiven Rechts des Besonderen indes erscheint Adorno so lange verstellt, als der psychologische Mechanismus der Identifikation mit dem Aggressor zwangshaft erlittene Gewalt zur normativen hypostasiert: "Schwarz verhängt sich der Horizont eines Standes von Freiheit, darin es keiner Repression und keiner Moral mehr bedürfte, weil der Trieb nicht länger zerstörend sich äußern müßte. Moralische Fragen stellen sich bündig, nicht in ihrer widerlichen Parodie, der sexuellen Unterdrückung, sondern in Sätzen wie: Es soll nicht gefoltert werden; es sollen keine Konzentrationslager sein, . . . " 5 3 9

N D 278. Daraus folgt bereits auch, daß für Adorno kein ethisches oder rechtliches System denkbar ist. Zu Adornos Ablehnung eines ethischen Systems, vgl. auch Mörchen 1980, S. 177. Vgl. insbesondere unten BT 5.2. 5 3 8

Vgl z.B Individuum und Organisation, GS, Bd. 8 I, S. 450: "Wenn im Ernst von der Bedrohung des Menschen die Rede sein kann, dann einzig in dem Sinne, daß die Weltverfassung es bereits verhindert, daß in ihr jene sich entwickeln, die fähig wären, sie zu durchschauen und daraus die rechte Praxis abzuleiten ..."

cog

ND 281. Bei Adorno weder ausgeführt noch entwickelt ist eine Moral, die Schmid-Noerr in den Schriften Marcuses aus einer Nähe zu Freuds "Triebstruktur und Gesellschaft" und Schillers "Briefen über die ästhetische Erziehung" von 1795 als "wahrhaft menschliche" gefunden und mit

3. Freiheit der Person

147

Doch sind solche Sätze als moralische oder gar Rechtssätze für Adorno nicht im Sinne allgemeiner Geltung aufstellbar. Denn ihre Allgemeinheit wäre identifikatorisch wie jede, die über das Besondere sich erhöbe. Ihr Geltungsanspruch müßte gegen das Ungleiche sich behaupten, das im Besonderen den Anspruch des Lebens gegen Unterdrückung in der Form der Subsumierbarkeit stellt. Geltung kann deshalb moralischem Verhalten nicht auf Grund, sondern nur unabhängig von einer allgemeinen, gar abstrakt geistigen Struktur zukommen. Es ist für Adorno die in der Person durch die Erfahrung der Zerrissenheit gesellschaftlicher Objektivität psychisch wahrgenommene Dringlichkeit. Der Geltungsbegriff transformiert sich damit von einem - Moral und Recht innerhalb eines Legitimationszusammenhangs hinreichend begründenden Allgemeinbegriff- zu einem Begriff der moralischen Affektion des Besonderen. Sein Antrieb ist der Impuls des Besonderen unterm Schock des unwahr Allgemeinen:540 "Bemächtigte aber ein Moralphilosoph sich jener Sätze und jubelte, nun hätte er die Kritiker der Moral erwischt: auch sie zitierten die von Moralphilosophen mit Behagen verkündeten Werte, so wäre der bündige Schluß falsch. Wahr sind die Sätze als Impuls, wenn gemeldet wird, irgendwo sei gefoltert worden. Sie dürfen sich nicht rationalisieren; als abstraktes Prinzip gerieten sie sofort in die schlechte Unendlichkeit ihrer Ableitung und Gültigkeit. Kritik an der Moral gilt der Übertragung von Konsequenzlogik aufs Verhalten der Menschen; die stringente Konsequenzlogik wird dort Organ von Unfreiheit. Der Impuls, die nackte physische Angst und das Gefühl der Solidarität mit den, nach Brechts Wort, quälbaren Körpern, der dem moralischen Verhalten immanent ist, würde durchs Bestreben rücksichtsloser Rationalisierung verleugnet; das Dringlichste würde abermals kontemplativ, Spott auf die eigene Dringlichkeit." 541

der Bezeichnung "libidinose Moral" belegt hat. Schmid-Noerr 1990, S. 202 ff. Auch wenn diese Moral, deren Zwecke der Entsublimierung der Vernunft und der Selbst-Sublimierung der Sinnlichkeit dadurch erreicht werden sollen, daß Individuation und Entfremdung die Entfaltung und Befriedigung der Lust nicht erst hemmen, sondern selbst produzieren, sich auf eine Stelle der DdA berufen kann, die die Genese der Lust gerade aus gesellschaftlicher Entfremdung bezeugt (DdA 127), ist der Gedanke der Versöhnung von Moral, Glück und Vernunft (Schmid Noerr 1990, S. 209) in den Schriften Adornos doch nicht als systematischer ausgetragen worden. So kann Rudolph 1992, S. 132 mit einer gewissen Berechtigung anmerken, daß die Unmöglichkeit vernunftphilosophischer Moralbegründung sich bei Adorno wie bei Horkheimer wesentlich nicht gegen Moral, sondern gegen die Vernunft richtet, aus der sie ihre Geltung fordert. Die Moral der Kritik im Unwahren-Ganzen kann nämlich nur insofern vernünftig sein, als sie gerade nicht bloß auf Vernunft beruht. Und andererseits ist die Vernunft moralisch nur, wo sie nicht zu einer Moral, sondern zu einem versöhnten Zustand beiträgt. 541

ND 281, Hervorhebungen vom Verf.

148

Besonderer Teil

Adornos Wendung gegen die Konstruktion einer Sollensmoral in Anwendung stringenter Konsequenzlogik hat eine gewisse Nähe zu Schopenhauer, insofern es auch diesem um die Kritik einer abstrakt formallogischen Moraldeduktion in der Form des Sollens aus Freiheit ging. Schon Schopenhauer hatte eindrucksvoll bezweifelt, inwieweit eine bloß auf Vernunft und der Prämisse von Willensfreiheit gründende Moral praktisch sein könne; insbesondere, inwieweit der kategorische Imperativ Kants, Prototyp der rationalen Moral in der Form des allgemeinen Gesetzes, in der Lage sei, Triebfeder für das Handeln gegen die Determination des Begehrungsvermögens zu sein. 5 4 2 Doch hatte Schopenhauer selbst eine Mitleidsethik entwickelt, die er zwar über das Empfinden als Zeichen der allgemeinen Verbundenheit der Lebenden begründen konnte, die zuletzt aber wegen der radikalen Auswirkung der Determinationshypothese wiederum in ein allgemeine Geltung beanspruchendes Zwangsprinzip münden mußte. 5 4 3 Die Kritik Adornos trifft dagegen nicht nur die auch Schopenhauer erregende Abstraktion und theoretische Entfernung der Moral von der - philosophsch begriffenen - leibseelischen Konstellation. So wäre auch die Allgemeinheit einer aus dem psychosomatischen Impuls angesichts objektiver Dringlichkeit begründeten Moral als Ausdruck des Identitätsprinzps unwahr, unmoralisch. Im Konzept Schopenhauers ist sie die unwiederbringliche Festlegung des von seiner Umgebung isoliert gedachten Menschen auf ein an sich seiendes vorgeburtliches Fatum. 5 4 4

5 4 2 Vgl. Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral, § 4, S. 160 ff. insbesondere 162 f. und § 19, S. 270 ff. 5 4 3 Der Pessimismus der Schopenhauerischen Morallehre und äußerste Gegensatz zur offenen Freiheitsdialektik Adornos entstammt dagegen insbesondere der problematischen und schlecht begründeten, die Kantische Unterscheidung zwischen Intelligibilität und Empirie ausnutzenden Annahme der Unveränderlichkeit des dem Menschen durch Geburt zugewiesenen Charakters: "Das Individuum, bei seinem unveränderlichen, angeborenen Charakter, in allen seinen Äußerungen durch das Gesetz der Kausalität, die hier, als durch den Intellekt vermittelt, Motivation heißt, streng bestimmt, ist nur Erscheinung. Das dieser zum Grunde liegende Ding an sich ist, als außer Raum und Zeit befindlich, frei von aller Succesion und Vielheit der Akte, Eines und unveränderlich. Seine Beschaffenheit an sich ist der intelligible Charakter, welcher in allen Thaten des Individui gleichmäßig gegenwärtig und in ihnen allen, wie das Petschaft in tausend Siegeln, ausgeprägt, den in der Zeit und Succession der Akte sich darstellenden, empirischen Charakter dieser Erscheinung bestimmt, die daher in allen ihren Aeußerungen, welche von den Motiven hervorgerufen werden, die Konstanz eines Naturgesetzes zeigen muß; weshalb alle ihre Akte streng notwendig erfolgen." A.a.O. S. 215-216. Sie führt Schopenhauer konsequent zu einem radikalen Verbesserungspessimismus, unabhängig von der den jeweiligen moralischen Verbesserungsbemühungen zugrunde liegenden religiösen und philosophischen Psychologie. Vgl. hierzu Schopenhauer, a.a.O. S. 273. 5 4 4 Gegen eine solche Konzeption als Konsequenz der Philosophie Kants bzw. Fichtes vgl. Adorno, N D 290.

3. Freiheit der Person

3.3.2.2.2.

149

Moral als Utopie: Zur Möglichkeit von Versöhnung; Utopie als negative Minimalethik

Die Annahme von der Unmöglichkeit der Allgemeingültigkeit moralischer Sätze als Theorie richtiger Praxis stammt aus dem für Adorno nicht auflösbaren Widerspruch, daß nicht nur der je besondere Schrecken, sondern das Ganze und seine Vermittlungsagenten zu ändern wären, ohne daß sich dies als Kommando allgemeingültiger Sätze äußern dürfte, die in ihrem identifizierenden allgemeinen Anspruch sonst selbst nur wieder die aus dem Naturfluch stammende Herrschaft verewigen würden. Der Konjunktiv seiner moralphilosophischen Negativität zeigt in seinem Denken nicht nur die Verstelltheit eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem sich Individualverhalten schlicht gut, moralisch äußern könnte: Er verweist auch auf das in ihm sich ausdrückende Verhältnis von Theorie zu einer Praxis, die, solange das Ganze das Falsche ist, Praxis sein mag nur als sich verweigernder oder widerstehender Impuls ohne deduzierte Ableitung aus der Reflexion seines Zusammenhangs, der Theorie des Ganzen. Versöhnung zwischen Theorie und Praxis, die Möglichkeit einer allgemein wahren, d.h. mit der Wahrheit gesellschaftlicher Theorie und ihrer praktischen Orientierung übereinstimmenden Praxis, kann es unter der Vormacht des Identitätsprinzips positiv nicht geben: Die auf Veränderung des Ganzen und Widerstand gehende Praxis ist aus Theorie weder ableitbar noch könnte sie als funktionales Anhängsel der spekulativen Momente kritischer Theorie aus solchem Funktionszusammenhang ihre Wahrheit und die der Theorie behaupten: "Der Unterschied von Theorie und Praxis involviert theoretisch, daß Praxis so wenig rein auf Theorie zu bringen ist wie ... von ihr. Beides läßt nicht zur Synthese sich zusammenleimen. Das Ungetrennte lebt einzig in den Extremen, in der spontanen Regung, die ungeduldig mit dem Argument, nicht dulden will, daß das Grauen weitergehe, und in dem von keinem Anbefohlenen terrorisierten theoretischen Bewußtsein, das durchschaut, warum es gleichwohl unabsehbar weitergeht. Dieser Widerspruch allein ist, angesichts der realen Ohnmacht aller Einzelnen, der Schauplatz von Moral heute." 5 4 5 Doch während Praxis unableitbar als Impuls sich nur äußern kann, erzwingt der Antagonismus des Ganzen aus dem Grund seiner gegenwärtigen Un-

ND 281/282. Insofern ist es richtig, festzustellen, bei Adorno sei wahre Praxis "offenbar gleichbedeutend mit moralischem Handeln" aber falsch, dies heiße konkret: ein "natur"- gemäßes Handeln." Stresius 1982, S. 203 zieht aus dieser falschen Annahme den Schluß, Adorno unterstelle seinen Moralbegriff einer "Utopie von einem Subjekt, das sich nicht selbst behaupten muß und in einer Interessengemeinschaft lebt mit sich, seiner Umwelt und der Natur." Ebd. Vielmehr ist "wahre Praxis" bei Adorno zwar auf die geschichtliche Versöhnung mit der Natur gerichtet, setzt diese Versöhnung aber gerade nicht schon voraus und ist, dies ist der aufklärerische Sinn der Dialektik der Aufklärung, keinesfalls durch schlicht "naturgemäßes Handeln" zu erreichen.

Besonderer Teil

150

schlichtbarkeit 546 andererseits doch auch zugleich die Praxisorientierung von Theorie: Wenn das Bewußtsein "spontan ... so weit reagieren" wird, "wie es das Schlechte erkennt, ohne mit der Erkenntnis sich zu befriedigen" 547 , so kommt "dem Denken ... heute ironisch zugute, daß man seinen eigenen Begriff nicht verabsolutieren darf: es bleibt, als Verhalten, ein Stück Praxis, sei diese sich selbst noch so sehr verborgen." 548 Theorie und Praxis sind damit aufeinander bezogen in dem Sinne, daß spekulative Theorie angesichts unwahrer Gegenwart nur als kritische wahr, wahre Praxis aber aus demselben Grunde wahr nur sein könnte als eben diese Theorie, die sie doch nicht soll bleiben müssen. So verlagert sich die Perspektive einer wahren Praxis aus der Orientierung am theoretisch unabgeleitetem Impuls gegen Folter und Konzèntrationslager wegen der Notwendigkeit begrifflicher Negation des Ganzen in die kritische Theorie zurück: Utopie wahrer Praxis wird zur negativen "Arbeit" des Begriffs: "Was einmal einer besseren Praxis obliegt und zuteil wird, kann Denken, der Warnung vorm Utopismus gemäß, jetzt und hier so wenig absehen, wie Praxis, ihrem eigenen Begriff nach, je in Erkenntnis aufgeht ... Das Verzweifelte, daß die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist, gewährt paradox die Atempause zum Denken, die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre." 5 4 9 So bleibt Moral, die nicht nur zufälliger Reflex sein will, doch auf Theorie als die radikal kritische Instanz ihrer möglichen Wahrheit innerhalb des Unwahren verwiesen: "Eigentlich gibt es keine andere Instanz für richtige Praxis und das Gute selbst als den fortgeschrittensten Stand der Theorie. Eine Idee des Guten, welche den Willen lenken soll, ohne daß in sie die konkreten Vernunftbestimmungen voll eingingen, pariert unvermerkt dem verdinglichten Bewußtsein, dem gesellschaftlich Approbierten. Der von Vernunft losgerissene und zum Selbstzweck erklärte Wille, ... ist gleich allen gegen die Vernunft aufmuckenden Idealen bereit zur Untat. Die Selbstverständlichkeit guten Willens verstockt sich im Trugbild, geschichtliches Sediment der Macht, welcher der Wille zu widerstehen hätte. Im Gegensatz zu seinem Pharisäismus verurteilt das irrationale Moment des Willens alles Moralische prinzipiell zur Fehlbarkeit ..." 5 5 °

546 "Die Inkompatibilität jedes allgemein moralischen Urteils mit der psychologischen Determination, die doch von dem Urteil, dies sei das Böse, nicht dispensiert, entspringt nicht in mangelnder Folgerichtigkeit des Denkens, sondern im objektiven Antagonismus. ND 282. 5 4 7

N D 281/282.

5 4 8

N D 243.

5 4 9

N D 243.

5 5 0

ND 240.

3. Freiheit der Person

151

Gemeint ist natürlich nicht irgendeine Theorie, sondern kritische in dem spezifischen Sinn der Kritik der Totalität der Vermittlung: "Nicht das Gute, sondern das Schlechte ist Gegenstand der Theorie. Sie setzt die Reproduktion des Lebens in den je bestimmten Formen schon voraus. Ihr Element ist die Freiheit, ihr Thema die Unterdrückung ... Es gibt nur einen Ausdruck für die Wahrheit: den Gedanken, der das Unrecht verneint. Ist das Beharren auf den guten Seiten nicht im negativen Ganzen aufgehoben, so verklärt es ihr eigenes Gegenteil: Gewalt." 5 5 1 So ist es auch die aus der Herrschaft der Identität wachsende Aporie verstellter Einzelhandlung, die den Übergang der Individualethik in Gesellschaftsmoral begründet: "Freiheit und intelligibler Charakter sind mit Identität und Nichtidentität verwandt, ohne clare et distincte auf der einen oder anderen Seite sich verbuchen zu lassen ... Persönlichkeit ist die Karikatur von Freiheit. Die Aporie hat den Grund, daß Wahrheit jenseits des Identitätszwanges nicht dessen schlechthin Anderes wäre, sondern durch ihn vermittelt. Alle Einzelnen sind in der vergesellschafteteten Gesellschaft des Moralischen unfähig, das gesellschaftlich gefordert ist, wirklich jedoch nur in einer befreiten Gesellschaft wäre. Gesellschaftliche Moral wäre einzig noch, einmal der schlechten Unendlichkeit, dem verruchten Tausch der Vergeltung sein Ende zu bereiten. Dem Einzelnen indessen bleibt an Moralischem nicht mehr übrig, als wofür die Kantische Moraltheorie, welche den Tieren Neigung, keine Achtung konzediert, nur Verachtung hat: versuchen, so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein." 5 5 2

DdA 248/249. Böckelmann bemerkt zu dem Verhältnis von Theorie und Praxis bei Adorno zu Recht, aber nicht ohne Anflug von Wut gegen denjenigen, der die Frechheit hat, das unbequem Wahre über das Unwahre auszusprechen: "Im Grunde nur auf sich selbst verwiesen, bleibt die negative Dialektik das unerklärliche Surrogat der a priori unmöglichen Praxis." Böckelmann 1972, S. 162. Kurz gesagt: Adorno hat zwar Recht. Aber das nützt uns nichts. Eine ausgesprochen verständnisvolle Betrachtung des Praxisdefizits der Adornoschen Philosophie findet sich dagegen bei Türcke 1990, S. 56: "Warum nämlich Adornos Abneigung gegen Praxis? Weil ihm klar war, was Praxis bedeutet, wenn es ernst mit ihr wird: daß auch die weltweite Umwälzung zum Besseren, selbst beim optimalem Verlauf, vielen Individuen Unrecht und Untergang statt Rettung brächte, weil Verhältnisse und Menschen zu verhärtet sind, als daß das Argument allein sie einem Verein freier Menschen öffnen könnte ... deshalb ist der Widerwille gegen eine Praxis, die ohne materielle Gewalt nicht auskommt, eine humane Regung ..." 5

ND 2 , Hervorhebungen vom Verf.

152

Besonderer Teil

4. Dialektik der Aufklärung: Natur, Freiheit und Recht Kritik gesellschaftlich realer Unfreiheit aus der Naturgeschichte als Kritik der Philosophie der Freiheit, des Rechts und der Rechtsphilosophie 4.1. Rechtsgenese aus Naturherrschaft, nicht aus Freiheit Erwies sich die Dialektik der Aufklärung zugleich als Urgeschichte des bürgerlichen Subjekts und als Entstehungsgeschichte der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft 553 , so umgreift sie in historischer Hinsicht auch die Entwicklung des Rechtsbegriffes, der in der bürgerlichen Gesellschaft zu seiner Entfaltung kommt. Die Problematik der Rechtskonstruktion aus Freiheit stellt sich Adorno zunächst überhaupt in philosophiegeschichtlicher Hinsicht. Insofern er für diese Betrachtung zwischen einer bürgerlich mythischen und einer industriell bürgerlichen Phase der Entwicklung des Rechtsbegriffes unterscheidet, so folgt in diesem Abschnitt die Darstellung des Zusammenhangs zwischen Freiheit und Recht zunächst diesen beiden Phasen. 554 In einem späteren Abschnitt soll dann der Strukturzusammenhang des Rechtsbegriffs im Zeichen der Gesellschaft als System, wie es im Allgemeinen Teil entwickelt worden war, erörtert werden. 5 5 5

4.1.1. Die bürgerlich mythische Phase In der mythischen Phase der zivilisatorischen Entwicklung entsteht das eigentliche Rechtsverhältnis unmittelbar aus dem Verhältnis von Stärke und Schwäche, das die Beziehung der mythischen Figuren, wie Szylla und Charybdis, Kirke und Polyphem zu ihren Opfern, den an die mythischen Gewalten ausgelieferten Menschen kennzeichnet. Es ist ein Verhältnis der unmittelbaren Naturgewalt, das in das der Herrschaft der mythischen Gestalten über die unterlegenen Personen übertragen wurde: "Die mythischen Ungetüme, in deren Machtbereich er ( Odysseus A.d.V.) gerät, stellen allemal gleichsam versteinerte Verträge, Rechtsansprüche aus der Vorzeit dar." "In der mythisch vergegenständlichenden Übertragung hat das

5 5 3

Vgl. dazu oben AT 5.

5 5 4

Dabei liegt die schon aus dem im A.T, Gesagten folgende Besonderheit darin, daß Geschichtliches und Strukturelles ineinander verwoben sind. Für die mythische Phase (4.1.1.) liegt der BetTâchtungsschwerpunkt hier auf dem geschichtsphilosophischen, für die bürgerlich industrielle Phase (4.1.2.) auf dem sozialstrukturellen Aspekt. Diese Phase geht wiederum in die Strukturbetrachtung der Gesellschaft als System (unten BT 5.) über. 5 5 5

Vgl. unten BT 5.

4. Dialektik der Aufklärung

153

Naturverhältnis von Stärke und Ohnmacht bereits den Charakter eines Rechtsverhältnisses angenommen. Szylla und Charybdis haben einen Anspruch auf das, was ihnen zwischen die Zähne kommt, so wie Kirke einen, den Ungefeiten zu verwandeln, oder Polyphem den auf die Leiber seiner Gäste." 556 Wurde der Mythos oben schon als Übertragung von Naturverhältnissen in einen zivilisatorischen Zusammenhang von Naturabhängigkeit und Naturbeherrschung beschrieben, so wies der Mythos auch alle wesentlichen Momente von Natur noch auf: Herrschaftsprinzip, Gesetzmäßigkeit von Vergängnis nach dem Muster von Stärke und Schwäche, und Naturzwang der Selbsterhaltung. Während das Rechtsverhältnis im Mythos Adorno zufolge der mythischen Gewalt immerhin einen Anspruch geben soll auf das, was ihr "zwischen die Zähne kommt", erweist sich die aus dem Naturverhältnis zum Recht verwandelte Herrschaft über das Opfer im Verhältnis dieser machtvollen Gestalten zu dem Naturgesetz, dem sie selbst unterliegen, noch so eng verzahnt, daß die berechtigten Gewalten selbst, Kirke, Szylla etc. dem Zwang der Natur wie einem Fluch verfallen sind. Die Ausübung des aus Natur stammenden Rechtsanspruchs fügt nicht nur Zwang dem Opfer zu, sondern verewigt selbst wieder den Fluch als Zwang zu seiner Wiederholung: "Eine jegliche der mythischen Figuren ist gehalten, immer wieder das gleiche zu tun. Jede besteht in Wiederholung: deren Mißlingen wäre ihr Ende. Alle tragen Züge dessen, was in den Strafmythen der Unterwelt, Tantalos, Sysyphos, den Danaiden durch olympischen Richtspruch begründet wird. Sie sind Figuren des Zwanges, die Greuel, die sie begehen, sind der Ruch, der auf ihnen lastet. Mythische Unausweichlichkeit wird definiert durch die Äquivalenz zwischen Fluch, der Untat, die ihn sühnt, und der aus ihr erwachsenden Schuld, die den Fluch reproduziert. Alles Recht in der bisherigen Geschichte trägt die Spur dieses Schemas. Im Mythos gilt jedes Moment des Kreislaufs das voraufgehende ab und hilft damit, den Schuldzusammenhang als Gesetz zu installieren." 557 Für die mythisch patriarchale Phase des Rechtsbegriffes bei Adorno zeigt sich damit ein doppelter Herrschaftszusammenhang, in dem Recht sich konstituiert: Die Herrschaft des Täters über das Opfer und die Beherrschtheit des Täters durch den Fluch, der durch die Schuld aus der eigenen Tat immer wieder hergestellt wird. Korrespondiert dem Anspruch auf das Opfer der Zwang und nicht die Freiheit, ergibt sich deshalb schon daraus, daß Recht nicht aus Freiheit stammen kann.

5 5 6

DdA 76/77, Hervorhebungen vom Verf.

5 5 7

DdA 77.

154

Besonderer Teil

Für den Rechtsbegriff der mythischen Phase kann insgesamt festgehalten werden, daß sich Recht als Übertragung von Naturverhältnissen in einen zivilisatorischen Zusammenhang ergibt, der als Rechtsverhältnis die der tatsächlichen Struktur von Stärke und Schwäche in der Natur entspringende Naturherrschaft unmittelbar fortsetzt. Auch der überlegene, stärkere Part in diesem Verhältnis unterliegt der Übermacht der Naturherrschaft, was im Mythos als Zusammenhang von Ruch, Wiederholungszwang und Schuld, die den Fluch erneuert, dargestellt wird. Da Recht damit nicht aus Freiheit stammen kann, 5 5 8 ist im mythischen Rechtsbegriff auch das Moment des Unrechts schon mitgesetzt. Es zeigt sich einerseits als Unrecht gegenüber dem Beherrschten, andererseits als Unrecht hinsichtlich der jeweils Herrschenden. Das Unrecht, das die mythische Gewalt erleiden muß, besteht zunächst nur im Zwangszusammenhang eigener Naturgebundenheit an die mythische Satzung und damit dem Zwang, den Fluch zu wiederholen. Der Zusammenhang zwischen Freiheit und Recht erschließt sich damit über ihre Negationen: Wenn der Naturfluch den Zwang als allgemeines Herrschaftsprinzip realisiert und auch Aufklärung den Herrschaftszusammenhang als sowohl objektiven wie auch subjektiv verinnerlichten fortsetzt, liegt in solcher Unfreiheit des je Besonderen wie auch des Prinzips, aus dem es sich selbst erhalten muß, gerade auch das Unrecht begründet: Daß das je Besondere nicht es selbst sein könne, ohne seine eigene Natur oder die eines anderen negieren zu müssen. Unrecht folgt deshalb aus Unfreiheit. Andererseits liegt im mythischen Naturfluch auch die umgekehrte Beziehung zugrunde: Unfreiheit folgt wiederum aus dem Unrecht, welches das Besondere sich selbst und anderen antun muß, um überhaupt Recht bekommen und überleben zu können, da dieses Unrecht den Schuldzusammenhang, das Wesen des Fluches, begründet. Durch das rational listige und betrügende Auftreten des aufklärerischen Subjekts Odysseus wird aber der mythischen Gewalt noch einmal Unrecht angetan: Es besteht darin, daß die Erfüllung der mythischen Satzung, soweit sie nur ihrem Wortlaute nach erfolgt, die Naturgewalt ins Unrecht setzt. Das zeigt sich zunächst am Kyklopen. 5 5 9 Doch realisiert sich im aufklärerischen Sieg des nur scheinbar über die Natur triumphierenden herrischen Subjekts zugleich das eigentümliche Paradoxon eines aus Herrschaft stammenden Rechtsbegriffes als allgemeines: 558 "Die Binde über den Augen der Justitia bedeutet nicht bloß, daß ins Recht nicht eingegriffen werden soll, sondern daß es nicht aus Freiheit stammt." DdA 33. 559 "Die physische Rohheit des Uberkräftigen ist sein allemal umspringendes Vertrauen. Daher wird die Erfüllung der mythischen Satzung, stets Unrecht gegen den Gerichteten, zum Unrecht auch gegen die rechtsetzende Naturgewalt ... Die Dummheit des Riesen, Substanz seiner barbarischen Roheit, solange es ihm gut geht, repräsentiert das Bessere, sobald sie gestürzt wird von dem, der es besser wissen müßte. DDA 85/86.

4. Dialektik der Aufklärung

155

"Denn das Recht der mythischen Figuren, als das des Stärkeren, lebt bloß von der Unerfüllbarkeit ihrer Satzung. Geschieht dieser Genüge, so ist es um die Mythen bis zur fernsten Nachfolge geschehen." 560 Wie ernst und wie wörtlich diese Erkenntnis von Adorno genommen wird, zeigt sich in ihrer unerbittlichen Konsequenz: Während die mythische Naturgewalt um der "wörtlichen Befolgung der Satzung" willen ins Unrecht gesetzt wird, tritt das siegreiche Selbst nur um den Preis der eigenen Verfallenheit an den Fluch den Siegeszug des recht Behaltenden an: Nur über die schon oben beschriebene Selbstverleugnung, die Introversion des Opfers, der Regression bzw. der unmittelbaren Unterdrückung des eigenen Leibes und des Lebens der anderen 561 instauriert sich das Recht des selbsterhaltenden Subjekts als Allgemeines: 5 6 2 Der Rechtsbegriff entsteht damit nicht unabhängig von dem ihm zugleich zugewiesenen Gehalt von Unrecht 5 6 3 in einer Bewegung von außen nach innen. Der äußeren Bewegung entspricht das Verhältnis, in dem die Beteiligten, sowohl die mythischen Figuren der Stärke als auch ihre schwachen Opfer, zur Herrschaft stehen. In ihr sind die mythischen Figuren selbst unmittelbar dem Zwange unterworfen, der auf sie wirkt, und geben ihn gewissermaßen zivilisiert, als Rechtsanspruch, aber eben doch als direkte Herrschaft, weiter. Durch die Rationalisierung des aus Natur stammenden Stärke-Schwächeverhältnisses verlagert sich der Begriff der in der mythischen Phase die einzelnen Akteure diffus "einschließenden und bedrohenden Rechtsverhältnisse ... die gewissermaßen einer jeglichen mythischen Figur eingeschrieben sind." 5 6 4 Äußerer Zwang und Schrecken und mit ihnen der Begriff des äußeren Rechtsanspruchs wandert als Prinzip, und damit als Potential prinzipieller Verselbständigung und Rückveräußerlichung, in die Innerlichkeit des Subjekts. Die 5 6 0

DdA 78, Hervorhebungen vom Verf.

5 6 1

Im Sirenenbild stehen die Ruderknechte bildlich auch für den vom naturbeherrschenden Geist kommandierten Leib: Denn es geht Adorno nicht darum, Unterdrückung nur als Problem der Klassengesellschaft zu behaupten, sondern die universale Unterdrückung von Leib, Trieb, Impuls und vorichlicher Freiheit als allgemeines Unrecht der Subjektivität. Unter der Vormacht des Identitätsprinzips gibt es kein siegreiches, einfach Recht behaltendes Subjekt. In diesem Sinne ist die Rede von dem Schema zu verstehen, "nach dem die Unterworfenen das ihnen angetane Unrecht sich selbst nochmals antun, um es ertragen zu können." DdA 69. Vgl. insbesondere auch DdA 265 ff. « λ

"Indem aber Rationalität, Odysseus, dies Recht wahrnimmt, tritt sie zwangshaft in den Zusammenhang des Unrechts ein." DdA 82. Doch vermag das aufklärerische Subjekt, Odysseus, aus den Gründen scheinverhafteter Selbstverblendung weder "zu erkennen, daß das Unrecht, das ihm angetan ward, vom Schlage des Unrechts ist, das er selber vertritt" DdA 84/85, noch daß es sich gerade durch den Sieg seiner rechthaberischen Rationalität als Naturfluch, als Prinzip der Zivilisation einrichtet. 5 6 4

DdA 77, Hervorhebungen vom Verf.

156

Besonderer Teil

Unversöhntheit von Mensch und Natur lebt im Subjekt als Unrechtsverhältnis eigener Unversöhntheit von Leib und Seele, herrschaftlichem Selbst und innerer Natur, als Nichtidentität subjektiven Lebens fort.

4.1.2. Die bürgerlich industrielle

Phase

Diese Unversöhntheit wird im Rechtsbegriff der Aufklärung als sein immanentes Unrecht fortgetragen. Rechtsverhältnisse als fortgeschriebene Unrechtsverhältnisse werden in der bürgerlich industriellen Phase durch das Tauschprinzip 5 6 5 hergestellt. Recht und Unrecht reproduzieren sich unter dieser nach innen gewanderten 566 und dann wieder veräußerlichten objektiven Bedingung, die in der mythischen Phase dem bloß äußerlich bleibenden Naturzwang, der äußeren Naturgewalt, entspricht. Auf der Seite des "Berechtigten" bedeutet diese innere Bedingung Selbstherrschaft, auf der Seite des ins Unrecht Gesetzten Mangel an Selbstherrschaft, Unfähigkeit, sich oder andere zu beherrschen. Wiederum ist Herrschaft das ausschlaggebende Erklärungsprinzip. Diesesmal bezieht sie sich aber nicht auf ein Außen, sie greift gleich aufs Innere des Subjekts. Kann das Subjekt sich selbst beherrschen, erringt es den Vorteil, der es dann zumindest äußerlich ins Recht setzt. Vergleicht man beide Phasen, ergeben sich folgende Gemeinsamkeiten: In beiden Modellen ist Herrschaft wesentlich, sie drückt sich durch ein konkretisiertes Stärke-Schwäche-Verhältnis aus. In beiden Modellen gibt es äußere Herrschaftsbedingungen: entweder den Naturzwang oder die herrschenden Produktions- und Tauschverhältnisse als gesellschaftliche Struktur. Das Rechts- als Unrechtsverhältnis wird jeweils durch konkrete Subjekte hergestellt, die entweder durch Stärke oder durch Schwäche hervortreten. Während jedoch in der mythischen Phase die Herrschaft eine ausschließlich von außen nach innen gehende Bewegung zwischen den die Natur repräsentierenden mythischen Figuren und den menschlichen Opfern darstellt, ist der bürgerlich industriellen Phase wesentlich, daß das Subjekt zunächst den Prozeß verinnerlichter Herrschaft als innere Bedingung der Konkretisierung des Rechtsverhältnisses durchläuft.

5 6 5 Vgl. zur Entstehung der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung ausführlich oben AT 5.1.3. und zu Konzeption und Wirkung des Tauschprinzips AT 5.2.4.4.2. 5 6 6 Die Verinnerlichung betrifft Herrn und Knecht: "Indem die Herrschenden planvoll das Leben der Gesellschaft reproduzieren, reproduzieren sie eben dadurch die Ohnmacht der Geplanten. Herrschaft wandert in die Menschen ein." Soziologische Schriften I, GS, Bd. 8, S. 390; Die Frage persönlicher Schuld an der Introversion stellt sich dabei nicht, noch ist sie entscheidbar. So zu Recht Mörchen 1980, S. 135.

4. Dialektik der Aufklärung

157

Denn der Tausch als Unrechtstausch ist seitens des listigen Siegers einerseits Betrug an der besiegten Naturgewalt und zugleich die Schwäche des Selbstbeherrschten kraft der Schwächung seiner eigenen inneren Natur. Ist die zunehmende Unversöhntheit von Subjekt und Natur als Introversion des Opfers die verinnerlichte Bedingung entstehender Subjektivität und damit Entstehungsvoraussetzung abendländischer Zivilisation 5 6 7 , wird das Unrechtsverhältnis virulent nicht erst dadurch, daß die Selbstherrschaft oder ihr Mangel nach außen treten und wieder sozial werden. Das Recht des Subjekts und seines Ichs entsteht als Unrecht bereits aus dem Grunde der Selbstverleugung, der Nichtidentität des Subjekts mit seiner "vorichlichen", seiner vorphilosophischen Natur. 5 6 8 Die Unmittelbarkeit der Naturherrschaft, das Allgemeine der Beziehung der Natur zum Menschen im Mythos, schlägt in universelle Vermittlung und damit in universales Unrecht um. Die geschichtsphilosophische Deutung der Entstehungsgeschichte des Subjekts offenbart ihre rechtsphilosophische Dimension. Als sozialpsychologische Wirksamkeit des Tauschprinzips transportiert sie damit zugleich ihre unrechtsphilosophische Bedeutung: "Bezahlt wird die Identität von allem mit allem damit, daß nichts zugleich mit sich selber identisch sein darf. Aufklärung zersetzt das Unrecht der alten Ungleicheit, das unvermittelte Herrentum, verewigt es aber zugleich in der universalen Vermittlung, dem Beziehen jeglichen Seienden auf Jegliches." 569 Der Vorgang der Verinnerlichung des Unrechts, das sich als Versachlichung des Herrschaftsmomentes aus dem äußeren Naturzusammenhang wie eine Starre über die Seelen der "Subjekte" und ihre Beziehungen legt, 5 7 0 ist so radikal, daß er nicht nur dort, wo er vollkommen gelingt und das herrschaftlich männliche Selbst heranzüchtet, Unrecht des losgelassenen Ichs gegenüber Leib und Seele bedeutet: Gerade auch dort, wo die Selbstherrschaft des Subjekts mißlingt, wird im allgemeinen Herrschaftszusammenhang des Tauschprinzips das Subjekt ins Unrecht gesetzt: "In der Welt des Tausches hat der Unrecht, der mehr gibt; der Liebende aber ist allemal der mehr Liebende ... Gerade in der Liebe selber wird der Liebende ins Unrecht gesetzt und bestraft. Die Unfähigkeit zur Herrschaft über

5 6 7

568

Vgl. dazu AT 5.

Rechtsphilosophie kommt deshalb in der Perspektive Adornos angesichts des Rechts, über das sie überhaupt philosophieren könnte, für das Vorichliche und Vorphilosophische, wie schon Hegel im Hinblick auf Philosophie überhaupt ahnen mußte, zu spät. 5 6 9 DdA 28/29. 570 Im Mythos, das seine Nähe aus der Natur nimmt, braucht es dagegen den Umweg über die Innerlichkeit nicht. Denn die soziale Beziehung ist ohnehin die nackter Naturgewalt.

158

Besonderer Teil

sich und andere, die seine Liebe bezeugt, ist Grund genug, ihm die Erfüllung zu verweigern . . . , l 5 7 1 Die Zurichtung der Seelen durch das Wesen des Tauschs ist so fundamental, daß es aus ihm, dem Fluch der an Äußerlichkeit verfallenen Innerlichkeit, kein Entrinnen gibt. So sehr sind die Einzelwesen im Unrechtszustand, daß auch die Momente einer individuell persönlichen Utopie der Liebe, Versöhnung von Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, 5 7 2 von der Krankheit herrschender Gesundheit angesteckt sind: Ob jemand Recht hat oder Unrecht bekommt, verschwimmt gegenüber der Vormacht des allgemeinen Unrechts zur Zufälligkeit momentaner Selbstbehauptung im Strudel ständigen Schreckens durch die Drohung der in der bürgerlichen Gesellschaft und der Sphäre ihrer Justiz fortlebenden Natur. 5 7 3 Die verhexte Beziehung zwischen "Subjekt" und eigenem Leben sowie der Natur seiner Umgebung ist so sehr zum Prinzip geworden, 574 daß auch die Personen austauschbar geworden sind. Waren in der Phase des mythischen Rechtsverhältnisses die Beteiligten, obwohl dem Kreislauf des Immergleichen, der mythischen Wiederholung verfallen, doch nicht auch nur virtuell gleich, war der Unterschied zwischen mythischer Täterfigur und Opfer noch spezifisch und nicht verwischbar, so kann im Rechtsverhältnis der bürgerlichen Phase dann praktisch Jedermann in die Rolle des Betrügers und Betrogenen, des Berechtigten und des dem Unrecht Verfallenen geraten.

571 ' DdA 92, Hervorhebungen vom Verf. 572 Vgl. auch die Sentenz in M M 26: "Das Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn, dem man, damit es nicht zu einem Streit kommt, auf ein paar Sätze zustimmt, von denen man weiß, daß sie schließlich auf den Mord hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück Verrat; kein Gedanke ist immun gegen seine Kommunikation ... Umgänglichkeit selber ist Teilhabe am Unrecht, indem sie die erkaltete Welt als eine vorspiegelt, in der man noch miteinander reden kann ..." 571 "Daß der Einzelne so leicht Unrecht bekommt, wenn der Interessenantagonismus ihn in die juridische Sphäre treibt, ist nicht, wie Hegel ihm einreden möchte, seine Schuld derart, daß er das eigene Interesse in der objektiven Rechtsnorm und ihren Garantien wiederzuerkennen zu verblendet wäre; vielmehr die von Konstituentien der Rechtssphäre selbst." ND 304. 5 7 4 "Das von den Dämonen und ihren begrifflichen Abkömmlingen gründlich gereinigte Dasein nimmt in seiner blanken Natürlichkeit den numinosen Charakter an, den die Vorwelt den Dämonen zuschob. Unter dem Titel der brutalen Tatsachen wird das gesellschaftliche Unrecht, aus dem diese hervorgehen, heute so sicher als ein dem Zugriff sich entziehendes geheiligt, wie der Medizinmann unter dem Schutze seiner Götter sakrosankt war. Nicht bloß mit der Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekten wird für die Herrschaft bezahlt: mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext, auch die jedes Einzelnen zu sich. Er schrumpft zum Knotenpunkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zusammen, die sachlich von ihm erwartet werden. Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen. DdA 45.

4. Dialektik der Aufklärung

159

So wäre, ähnlich wie Freiheit in der Auflösung des an sich selbst erkrankten Subjekts 575 als ephemeres und verurteiltes Bild sich anmeldete 576 , in der Auflösung der Zwangsmomente der Person die Chance einer Rückkehr zu dem gegeben, was einmal der Begriff der Versöhnung meinte, bevor er in dem die Spaltung verewigenden Rechtsanspruch verstarb. Adorno zeigt dies am Beispiel des Lachens, welches Odysseus angesichts der Bedrohung durch den Kyklopen nach seiner gelungenen Flucht ins Exil der unbenannten Existenz ergriff. Der Riese, der ihn Niemand nannte, da er dies in seiner Täuschung für die treffendste Bezeichnung hielt, löste das Gelächter kraft seiner Dummheit aus: "Dieser Doppelsinn des Lachens steht dem des Namens nahe, und vielleicht sind die Namen nichts als versteinerte Gelächter, so wie heute noch die Spitznamen, die einzigen, in denen etwas vom ursprünglichen Akt der Namensgebung fortlebt. Lachen ist der Schuld der Subjektivität verschworen, aber in der Suspension des Rechts, die es anmeldet, deutet es auch über die Verstricktheit hinaus. Es verspricht den Weg in die Heimat." 5 7 7

4.2. Exkurs: Rechtsbegriff und Mythos in der Dialektik der Aufklärung bei Cochetti Cochetti bemüht sich in seiner Untersuchung zum Begriff des Mythos in der DdA, auch den Rechtsbegriff der DdA zu erhellen. Der Odysseus der DdA vertritt nach ihm die Kultur gegen den Mythos. 5 7 8 Odysseus' Eingriff in den Zwangszusammenhang der Natur erscheint wesentlich als kultureller, ist "durch den Eingriff des Menschen erklärbare, nämlich durch einen kulturellen Einsatz" 5 7 9 erfolgende Handlung des intervenierenden Subjekts. Andererseits "die zeitgemäße Krankheit" ... besteht "gerade im Normalen..Die libidinösen Leistungen, die vom Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele benimmt, sind derart, daß sie nur vermöge der tiefsten Verstümmelung vollbracht werden können ..." M M , S. 63; vgl. hierzu auch Schweppenhäuser 1971, S. 96 f.: "Die Krankheit preist als Gesundheit sich an, und Normalität zeigt sich als um und um vernarbtes Leben: eins, das empfindungslos ward ..." Ebd., S. 97. Vgl. insbesondere auch M M , S. 260: "Aber es gibt kein Substrat solcher "Deformationen", kein ontisch Innerliches, auf welches gesellschaftliche Mechanismen von außen bloß einwirkten: die Deformation ist keine Krankheit an den Menschen, sondern die der Gesellschaft, die ihre Kinder so zeugt, wie der Biologismus auf die Natur es projiziert... Selbsterhaltung annuliert Leben an der Subjektivität." 5 7 6

Vgl. oben BT 3.3.2.2. und ND 277: "so ist die Auflösung des Subjekts zugleich das ephemere und verurteilte Bild eines möglichen Subjekts. Gebot einmal seine Freiheit dem Mythos Einhalt, so befreite es sich, als vom letzten Mythos, von sich selbst. Utopie wäre die opferlose Nichtidentität des Subjekts."

«77

DdA 97, Hervorhebungen vom Verf. Mythos wird in der Fragestellung (Cochetti 1985, S. 342) zunächst mit der Natur gleichgesetzt. Vgl. auch Ebd., S. 343: "die mythische Natur, durch die Odysseus in Bedrängnis gerät..." 57 R

5 7 9

Ebd., S. 342.

160

Besonderer Teil

wird zwar auch von Cochetti erkannt, daß die "mythische Natur" bei Adorno "keine reine Alternative zur Kultur" 58° bedeute. Hier ist jedoch anzumerken: Adorno verwendet in der DdA ohnehin anstelle des von ihm bewußt als ideologisch denunzierten Kultur- den Zivilisationsbegriff. Denn er will gerade darlegen, daß Zivilisation unter dem Wertgesetz zwar als Kultur erscheint, tatsächlich aber gerade durch die Verrichtungen der partikular bleibenden Rationalität noch Natur bleibt. Weil die mythischen Figuren der DdA für Cochetti nun schon als "Ergebnis einer Selbstbeschränkung kultureller Art, die der Stärkere sich auferlegt hat.." nicht mehr als "absolute Naturmacht des Stärkeren" erscheinen, können sie auch "ein Recht verkörpern, wenn auch das des Stärkeren".Denn der Stärkere "hat begonnen, dem Schwächeren eine, wenn auch minimale Chance zuzugestehen: wenn er ihn nicht mehr sofort, sondern erst als Folge einer kulturellen Vermittlung vernichtet, die den Schwächeren in eine nicht absolut hoffnungslose Sackgasse führt. " 581 Cochetti rekonstruiert den mythischen Naturbegriff Adornos zunächst identisch mit seinem eigenen Kulturbegriff und führt denn auch nur versteckt das Kriterium ein, das mangels anderer Anhaltspunkte in seinem Gedankengang den Unterschied zwischen Kultur und Natur bei Adorno zu verdeutlichen sich eigne: Absolutheit. Es entstehe nämlich das "Recht... aus dem Zwang, nicht als Abkommen zwischen Gleichrangigen. Dieser Zwang ist aber nicht absolut; darin besteht gerade der Keim des Rechtes: Ein Zwang, der nicht absolut sein darf; das Recht darf nicht absolut sein, um zu sein. Das römische Sprichwort: Summum jus, summa injuria deutet es an." 582 Der Aussage, daß das mythische Naturrecht des Stärkeren, der es ja doch nicht ganz soll genießen dürfen, kulturell ist, weil nicht absolut, liegt die Verwechslung des Begriffs des Allgemeinen mit dem der Absolutheit zugrunde. Diese Verwechslung führt denn auch zu einer Kritik an der Vorstellung rationaler Allgemeinheit des von Odysseus vertretenen Selbst in der DdA: "Odysseus ist also antimythisch, da er den antimythischen Geist verkörpert, der der Natur gegenüber als List erscheint. Diese List ist auch ein Zeichen von Kultur, der es gelingt, möglichen Gefahren der Natur aus dem Weg zu gehen. Hier beeinträchtigt leider der Evolutionismus der Verfasser die Schärfe ihrer Analyse. Sie ziehen nicht in Betracht, daß die Natur, in der Odysseus sich be5 8 0 COI

Ebd., S. 343, Hervorhebungen vom Verf.

Ebd., Hervorhebungen vom Verf. Doch ist es gar nicht der Stärkere, der dem vermeintlich Schwächeren eine Chance gibt. Sondern dessen List ist die Stärke des Schwächeren in der Form des Allgemeinen. 8 2

d., S.

, Hervorhebungen vom Verf.

4. Dialektik der Aufklärung

161

hauptet, als Natur mythischer "Monster" eine urkulturelle Natur ist und daß die Überlegenheit des zvilisierten Reisenden Odysseus gegenüber den "Wilden" ebenso zu bestreiten ist, wie die des Selbst, die Odysseus gegen die mythischen Ungeheuer verteidigt, die wie die Wilden selber nicht Ausdruck von "Natur" sondern einer anderen Kultur sind." 5 8 3 So interpretiert Cochetti gegen Sinn und Wortlaut des Textes 5 8 4 Odysseus als Kulturvertreter einer Provenienz als im Gegensatz zu einer anderen: Odysseus gebe sich "der Natur nicht hin, sondern setzt sich jeweils mit einer ihm bereits unverständlich gewordenen Kultur auseinander: mit der des Mythos". 5 8 5 Sein "Selbst" repräsentiere "eine der unseren nahe Kultur, die sich gegen eine andere uns noch unverständlicher als Odysseus' gewordene Kultur wendet: denn Odysseus ist noch fähig, mythische Monster wahrzunehmen.." 586 Auf diese Weise verformt sich bei Cochetti nicht nur der Mythos von der allerdings kulturell vermittelten - Natur zu einer anderen, dem Odysseus unverständlich gewordenen Kultur, sondern auch die aus der in Spannung zur Allgemeinheit der herrschenden Natur sich bildenden Allgemeinheit des herrisch- aufklärerisch selbsterhaltenden Subjekts (Das Selbst repräsentiert rationale Allgemeinheit wider die Unausweichlichkeit des Schicksals) leugnet Cochetti, allerdings auch hier ohne Angabe von Gründen. So heißt es bei ihm: "Das Selbst stellt nicht die rationale Allgemeinheit dar, d.h. die Kultur/Zivilisation, die sich der bösartigen Natur der Wilden widersetzte, die als "Naturvölker", der mythischen Naturverklärung als unabwendbarem Zyklus und als "Unausweichlichkeit des Schicksals" verfielen." 587 583 Ebd., S. 344/345 Die Stelle zeigt, daß Cochetti den Zusammenhang zwischen Mythos und Natur in der DdA nicht verstanden hat. Wie oben im AT 5.1.2.2. gezeigt werden konnte, erscheinen Natur und Mythos in der DdA zu keinem Abschnitt der Dialektik ihrer wechselseitigen Entwicklung als bloße Gegensätze. Mythos erweist sich als Verdoppelung von Natur, als ihre Aufklärung und als die Dialektik von Natur und Arbeit, in der Verdoppelung und Aufklärung sich fortsetzen. AT 5.1.2.3. Die DdA beruht wesentlich darauf, daß sich auf Naturverhältnisse "auch die Vorstellungen der Mythen ohne Rest zurückführen lassen" DdA 33, vgl. AT 5.1.2.2. Infolgedessen kann Odysseus, immerhin die Hauptfigur des besprochenen Mythos', auch nicht nur antimythisch sein, da der von ihm handelnde Mythos sein Verhältnis zur Natur beschreibt. Schon gar nicht läßt sich der Gegensatz zwischen der listigen Vernunft des Helden zur drohenden Macht der Natur (vgl. dazu AT 5.1.2.1.) als Gegensatz zwischen verschiedenen Kulturen mißverstehen. Absurd ist nachgerade die Annahme, die DdA habe nachweisen wollen, daß die von Odysseus vertretene "Kultur" einer "Urkultur" gegenüber überlegen gewesen sei. 5 8 4 "Odysseus, wie die Helden aller eigentlichen Romane nach ihm, wirft sich weg, gleichsam um sich zu gewinnen; die Entfremdung von der Natur, die er leistet, vollzieht sich in der Preisgabe an die Natur, mit der er in jedem Abenteuer sich mißt..." DdA 65/66. 5 8 5

Cochetti 1985, S. 345.

5 8 6

Ebd., S. 346.

587

Ebd., S. 345. Cochetti steigert sich hier, Adorno vollkommen mißverstehend, in eine ethnologische Verteidigungsrede zugunsten von Naturvölkern. Natur ist Inbegriff der bösen Fremd11 M.Becker

162

Besonderer Teil

Aus dem mißverstandenen Mythos, Natur- und Kulturbegriff folgt ein Rechtsbegriff, der anstelle des in der DdA mit den Bereichen von Herrschaft und Allgemeinheit aufzuweisenden Inhalts mit dem untauglichen Kriterium der Absolutheit aufwartet. In der gegen den bürgerlichen Rechtsbegriff des Idealismus' gerichteten Polemik der DdA hat zwar auch Absolutheit ihren Ort: jedoch sichert diese gerade nicht den Wahrheitsgehalt eines als unwahr zu erweisenden Rechtsbegriffes, sondern nur die Wahrheit dieser Denunziation. Anders gesagt: Es geht in der DdA nicht um höhere oder schwächere/stärkere Kulturen bzw. ihre Vertreter, sondern um die Denunziation der Geschichte der Aufklärung als Zwang aus der ersten Natur, den Rückfall - der Überheblichkeit des Geistes über die Natur - in die Natur. Bei Cochetti liefert dann die DdA gar die Folie für folgende Konklusion: "Odysseus muß sich also mit einer bereits in Vergessenheit geratenen Kultur, mit einem anderen Recht auseinandersetzen: mit etwas, worauf in gewisser Weise jede urmythische, ihm begegnende Gestalt basiert . . . " 5 8 8 und noch weiter: "Wenn für Horkheimer und Adorno die in der "Odyssee" auftretenden urmythischen Gestaltungen das mythische Recht als Vorzeit, als ersten Keim des eigentlichen Rechtes allegorisieren, worauf kann das mythische Recht selbst verweisen, was kann es über seinen Stellenwert als Vorläufer des eigentlichen Rechts hinaus allegorisieren?" 589 Das "eigentliche Recht" der DdA ist aber so wenig Recht, wie es auf dem "anderen Recht" einer der entstehenden Subjektivität entgegengesetzten unverstandenen Kultur entsteht. Vielmehr erweist der Text der DdA das Unrecht, das Odysseus vertritt, aus dem Gesetz der Natur, gegen die er dieses Gesetz prototypisch als rational allgemeines durchsetzt. 590

kultur, nicht, wie es Adorno konzipierte, das im Mythos verfangene Allgemeine von Vergängnis in Herrschaft, aus dem die Allgemeinheit der zweiten Natur folgt. 5 8 8

Ebd., S. 346.

5 8 9

Ebd., S. 346.

5 9 0 Vgl. oben BT 4.1.1. und DdA 84/85 "daß das Unrecht, das ihm angetan ward, vom Schlage des Unrechts ist, das er selber vertritt"; Kimmerle sagt dies, ohne die in der DdA erfolgende Umkehrung des Rechts in einen Unrechtsbegriff explizit zu erkennen, folgendermaßen: "Die Transformation des Opfers in Subjektivität, ermöglicht durch die Überlistung mythischer Gewalten, deren Rechtsansprüche wörtlich befolgt und dadurch in ihr Gegenteil verkehrt werden, verbleibt, da sie die Machtgründung des Rechts nicht sprengt, sondern nur das listenreiche Denken in seine Rituale einfühlt, im mythischen Verblendungszusammenhang von Selbstopfer und Entsagung." Kimmerle 1986, S. 24.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

163

5. Unrecht als unwahres Ganzes: Das historisch gesellschaftlich Allgemeine als allgemeines Unrecht Im vorhergehenden Abschnitt konnte herausgearbeitet werden, daß aufgrund der Dialektik der Aufklärung die Unversöhntheit von Mensch und Natur im Subjekt als Unrechtsverhältnis eigener Unversöhntheit von Leib und Seele, herrschaftlichem Selbst und innerer Natur, als Nichtidentität subjektiven Lebens fortlebt. Denn äußerer Zwang und Schrecken und mit ihnen der Begriff des äußeren Rechtsanspruchs wanderten als Prinzip und damit als Potential prinzipieller Verselbständigung und Rückveräußerlichung in die Innerlichkeit des Subjekts. In der bürgerlich industriellen Phase wurde diese Unversöhntheit im Rechtsbegriff der Aufklärung als sein immanentes Unrecht, als durch das Tauschprinzip fortgeschriebene Unrechtsverhältnisse fortgetragen. Da es sich bei diesem Vorgang um denselben Prozeß handelte, 591 bei dem sich die verdinglichte Struktur der nach dem Tauschgesetz gemodelten Innerlichkeit ("Subjektivität") zur kalten Äußerlichkeit (Objektivität) der Gesellschaft als Selbsterhaltungssystem herausbildete, führt die geschichtsphilosophische Erläuterung der Dialektik der Aufklärung genau wie im Allgemeinen T e i l 5 9 2 auch zu einem strukturellen Ergebnis: Schlägt die Unmittelbarkeit der Naturherrschaft, das Allgemeine der Beziehung der Natur zum Menschen im Mythos in universelle Vermittlung und damit in universales Unrecht um, so versiegelt die durch die Totalität des Identitätsprinzips mittels des Tauschs real obsiegende Naturherrschaft den im gesellschaftlichen System obwaltenden Rechtsbegriff des deutschen Idealismus als Unrechtsbegriff. Dabei ist der Hinweis wichtig, daß es sich um einen strukturellen, geschichtlich gewordenen Vorrang des Unrechts vor dem Recht handelt, nicht um ein Ausschließlichkeitsverhältnis. Die virtuell auf vernünftige Zwecke und damit auf Recht im "emphatischen Sinne" angelegten gesellschaftlichen Veranstaltungen verstricken sich nach der Dialektik der Aufklärung in Irrationalität und verselbständigen sich gegenüber dem möglich Vernünftigen. Dadurch gelangt das freiheitsbegünstigende und schützende Moment als rechtliches in den Hintergrund, während die Momente von undurchschauter Naturherrschaft und Verkürzung des Besonderen zunehmen. Wenn im weiteren von Unrecht geC01 Dieser war oben als Entstehung der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung beschrieben worden. (AT 5.1.3.) 592 Im AT wurde die strukturelle Vorgängigkeit des Gesellschaft als System (AT 5.3.), d.h. als arbeitsteiliges Subjekt der Selbsterhaltung (AT 5.2.4.4.) aus der geschichtsphilosophischen Erklärung, Deutung und Ableitung Adornos in ihrem Zusammenhang zur erkenntnisphilosophischen Dimension (AT 5.2.4.) seines Denkens entwickelt.

164

Besonderer Teil

sprachen wird, dann immer mit dem zu erinnernden Hinweis, daß es sich nach dem dialektischen Verständnis Adornos eben immer auch zugleich um Recht handelt, also um ein Spannungsverhältnis, nicht um eine abgeschlossene Einheit des Wahren oder Unwahren. 593 Dies ermöglicht die Beantwortung der Frage, ob sich aus den allgemeinen Grundlagen des Denkens von Adorno auch in systematisch- struktureller Hinsicht ein Rechtsbegriff bzw. ein Unrechtsbegriff entwickeln läßt. Es kann gezeigt werden, daß sich entgegen seiner eigens vorgetragenen Absicht, kein Systemdenker zu sein, doch die Struktur eines begrifflich systematischen Denkens abzeichnen läßt, innerhalb dessen der Rechtsterminologie bestimmte - sich systematisch aufeinander beziehende und voneinander unterscheidbare - begriffliche Bedeutungsschichten zugeordnet werden können. Sie lassen sich auf dem Hintergrund der Kategorien von Identität und Nichtidentität, Allgemeinem und Besonderem, sowie Wirklichkeit und Geist für die "Welt des Tauschs" umrißhaft abstrakt darstellend Zugleich soll aber gerade auch gezeigt werden, daß es sich nicht um ein System möglicher Zuordnungen von feststehenden Begriffsumfängen und möglichen (Rechts)- Objekten handelt. Der systematische Charakter von Adornos' Begriffsbildung stammt vielmehr, gerade auch im Bereich von Recht und Gerechtigkeit, ausschließlich aus der negativen Bindung des Verfahrens negativer Dialektik an das gerade kritisierte Systemdenken, das Adorno überwinden will und dem gerade er noch verhaftet bleiben muß. Die ursprüngliche geschichtsphilosophische Dialektik führt im Rahmen der Herausbildung des Systems der Gesellschaft durch das Tauschprinzip zu einem dialektischen (unwahren) Unrechtsbegriff. Dieser muß wegen seines doppelten Sinnes als eines Noch-Nicht-Recht - in historisch spekulativer Bedeutung - und eines Doch-Noch-Unrecht (Verletzung des Bilderverbots, positives Unrecht) in spekulativ essentialistischer Bedeutung verstanden werden. 595 Adorno verwendet in etwa gleichem Umfang die Ausdrücke Recht und Unrecht sowie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Es sollen nun nicht nur die verschiedenen Bedeutungsschichten seiner Terminologie erläutert, sondern gerade das hinter der Verwendung stehende philosophische Prinzip beleuchtet werden, aus dem sich die Bedeutung ergibt. Erst dann kann die Frage beantwortet wer-

5 9 3

594 595

Vgl. dazu unten BT 5.1.1. Nr. 3 und insbesondere 5.1.3.1.3.3. Die Darstellung des Unrechtsbegriffs (aus der Sphäre des Allgemeinen) erfolgt in BT. 5.

Vgl. hierzu insbesondere BT 5.1.4.3. Dort führt die Entwicklung auch zu einem abstrakten Unrechtsbegriff.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

den, ob Adornos Philosophie als Konzept eines negativen Naturrechts werden kann.

165

gelesen

5.1. Der Begriff des Unrechts: Unrecht in und aus der Sphäre des Allgemeinen gegen das Besondere 5.1.1. Das Identitätsprinzip Das Identitätsprinzip ist Zentrum und Schlüssel des Rechts- und Unrechtsdenkens Adornos: "Je mehr Identität durch den herrschaftlichen Geist gesetzt wird, desto mehr Unrecht widerfährt dem Nichtidentischen. Das Unrecht erbt sich fort an dessen Widerstand. Er wiederum verstärkt das unterdrückende Prinzip, während zugleich das Unterdrückte vergiftet sich weiterschleppt." 596 Das Identitätsprinzip drückt die Einheit des Geistes als Allgemeinem gegenüber der diffusen und nicht einheitlichen Natur aus, im Laufe seiner gesellschaftlichen Verwirklichung jedoch auch die Einheit mit der Gesellschaft, die es unter sich begräbt. Wie auch schon die Analyse der in der Dialektik der Aufklärung aufgewiesenen Stellen zum Rechtsbegriff und zum Tauschprinzip gezeigt hat, ist die philosophische Bedeutungsebene von der psychologischen für das Identitätsprinzip nicht abtrennbar. Auf der philosophischen Ebene handelt es sich um die "höchste geistige Refexionsform" 597 , in der sich die Unterdrückung des ganz anderen, des Nichtidentischen vollzieht. Der Prozeß seiner dialektischen Entfaltung wurde im allgemeinen Teil als Herausbildung der Strukturen der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung dargestellt. 598 Für die rechtsphilosophische Betrachtung erweisen sich folgende Dimensionen des Identitätsprinzips als wesentlich: 1. Erscheint das Identitätsprinzip als Verwirklichung des in seiner Selbsterhaltung gegen Natur und durch Gesellschaft gefangenen herrschaftlichen Geistes 5 9 9 und läßt es gerade dadurch dem Nichtidentischen Unrecht widerfahren, so berührt diese Reflexion sowohl den Begriff dessen, was im Denken Adornos unter Unrecht als auch, was unter Nichtidentischem zu verstehen ist. Wenn mit dem Nichtidentischen das Seiende im allgemeinen vor seiner möglichen philo-

5 9 6

Fortschritt, GS, Bd. 10 II, S. 623.

5 9 7

Ebd.

5 9 8

Vgl. AT. 5.1.3.

5 9 9

Vgl. dazu oben AT. 5.1.2.3.3.

166

Besonderer Teil

sophischen Zurichtung, Kontrolle oder sozialen Synthesis bzw. Konstruktion verstanden werden konnte, 6 0 0 erweist sich der Unrechtsbegriff Adornos als weit in doppeltem Sinne: Weit ist er im Objektbereich, weil das Seiende überhaupt durch den identifizierenden Geist ins Unrecht gesetzt werden kann. Als weit erscheint er aber auch im Hinblick auf eine traditionelle rechtsphilosophische Betrachtung, die daran gewöhnt ist, den Begriff von Recht oder Unrecht aus dem Kodex positiven Rechts genau definierter rechtsetzender Gemeinschaften, einem Kanon naturrechtlicher Rechtsbehauptung oder des sozialphilophisch begründeten Konsenses über rechtsbegründende Verfahren abzuleiten. Insbesondere aber auch die naturrechtliche Tradition, die den Rechtsbegriff aus der Vernunft entwickelt oder in deren Entfaltung beschreibt, wird durch eine identitätskritische Betrachtung in Frage gestellt. Entscheidend ist vor allem, gerade gegenüber der vernunftrechtlichen Tradition im Sinne der Identitätsphilosophie, daß die Unrechtsbehauptung selbst sich nicht aus einer zugrundeliegenden begrifflichen Struktur begründet, sondern aus der Konfrontation des Nichtbegrifflichen überhaupt, Nichtidentität mit der es infizierenden Welt identifizierender Begriffe. Die zunächst ungewöhnlich erscheinende Weite des Unrechtsbegriffes korrespondiert dabei mit der auf das Wesen nicht restringierter Wahrheit im Sinne eines emphatischen Wahrheitsbegriffes gehenden Erkenntnisphilosophie. 601 2. Das Prinzip der Identität des herrschaftlichen Geistes repräsentiert das höchste Reflexionsniveau der Philosophie Adornos im Sinne des von ihm gehaltenen höchsten Grades von Allgemeinheit und Abstraktion. Indem es aber nicht nur als philosophisches, sondern auch psychologisches Konstrukt der Willenseinheit des sich selbst beherrschenden Ich auftritt, gewinnt es mit dem Niveau seiner theoretischen Allgemeinheit kraft des Ganges seiner sozialen Verwirklichung in der Entstehungsgeschichte des Subjekts 602 auch die höchste sozialphilosophische und damit praktische Bedeutung: Seine philosophische Allgemeinheit in der Philosophie Adornos folgt gewissermaßen der von ihm angenommenen und subjektiv als objektiv erfahrenen Präge- und Wirkkraft als sozio-psychisches Zurichtungsprinzip. Es ist seine Allgemeinheit, die für Adorno sicherstellt, daß "unter dem Titel der brutalen

6 0 0

Vgl. schon oben AT. 3.2. und BT 2.

6 0 1

Vgl. schon oben AT. 5.3.1. u. BT 2.

6 0 2

Vgl. AT 5. im Ganzen.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

167

Tatsachen ... das gesellschaftliche Unrecht, aus dem diese hervorgehen, heute so sicher als ein dem Zugriff sich Entziehendes geheiligt" w i r d . 6 0 3 Die rechtsphilosophische Pointe liegt nun darin, daß sich der Bereich des Unrechts (d.h. der Bereich des prinzipiell überhaupt der Rechtsfrage Zugänglichen) nicht nur um den Bereich des Vorbegrifflichen und Nichtidentischen (im o. Sinne) sondern auch um den des Intra- Persönlichen, als Konflikt von Unrecht setzenden herrschend männlichen Ich gegen Leib, Trieb und Impuls erweitert. 604 Die Begrifflichkeit Adornos entwickelt sich unter der Spannung einer gleichbleibenden Terminologie von Recht und Unrecht. Sie sprengt dabei zugleich mit ihrer rechtsphilosophisch ungebräuchlichen Semantik die in der Rechtsphilosophie herrschend eingeübte Pragmatik: Daß die Frage von Recht und Unrecht nicht wesentlich eine der Logizität ihrer formalen Ableitung oder positvien Hypostasierung, sondern eine nach der Gestalt sei, die das Leben im Bann der Verwirklichung verdinglichten Denkens und seiner Verselbständigung einzunehmen gezwungen sei. 3. Wesentliche und spezifische Konsequenz der Kritik der Identitätsphilosophie ist jedoch gerade, daß Identität für Adorno Unrecht nicht nur als bloße Idee impliziert. Identität erzeugt Unrecht erst dadurch, daß sie auch Nichtidentität unter ihr Prinzip zwingt. Der Ausgangspunkt ist die als falsch und philosophisch widerlegt geltende Annahme, daß sich Fortschritt in Philosophie und Wirklichkeit gerade dadurch realisiere, daß sich die Idee des Geistes als Prinzip ihrer Einheit auf das von ihr Verschiedene erstrecke. Dies bedeutet zunächst, daß sich die von Adorno selbst nicht entfaltete Rechtsphilosophie weder als abstraktes Negativkonzept des deutschen Idealismus noch überhaupt als negative allgemeine Konzeption einer Rechtsidee darstellen läßt. In diesem Zusammenhang ist nun auch der schon oben gemachte Hinweis nachzuvollziehen, daß das dialektische Rechtsdenken Adornos von einem Vorrang des Unrechts als Allgemeinem ausgehen kann und damit eine deontologische Ausschließlichkeit des Unrechts genauso abzulehnen vermag wie umgekehrt 6 0 3 60

DdA 45.

^ Zur geschichtsphilosophischen Darstellung dieses Prozesses vgl. oben BT 4.1. im Ganzen, sowie dann BT 5.2. Wiederum korrespondiert, wie dies für den allgemeinen Teil für das Verhältnis der erkenntnisphilosophischen zur geschichtsphilosophischen Ebene im Tauschbegriff gezeigt worden war, der Vorgängigkeit des Identitätsprinzips im geschichtlichen Prozeß nicht eine geschichtliche Ableitung, sondern erweist sich die Philosophie Adornos als Deutung der Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Wandlung des Immergleichen, der Herrschaft, aus ihrer ersten in ihre zweite Natur. So liegt der Grund für den oben beschriebenen Prozeß der Verinnerlichung des Unrechtsverhältnises darin, daß sich für Adorno alle bisherige Geschichte nicht nur als Geschichte unter der Vormacht des Identitätsprinzips bezeugt, sondern die Radikalisierung dieser Vormacht nur durch eben diese Verinnerlichung erfolgt und erfolgen kann.

168

Besonderer Teil

die von Hegel behauptete Sittlichkeit des Ganzen. Vielmehr erweist sich das Recht auch gerade als Moment des alles durchziehenden Unrechts, welches ohne jenes gar nicht so wäre. 605 4. Hinter der Kritik dieser philosophisch, psychologisch, sozialtechnokratischen Dimension des Prinzips von Identität steht noch eine weitere Dimension, die bislang noch nicht erwähnt wurde, für ein tieferes Verständnis Adornos aber unverzichtbar ist. Es handelt sich um die zu oft übersehene 606 religionsphilosophische Ebene, die ihre theoretische Relevanz aus Grundzügen des jüdischen Gottesdenkens speist. In dieser Tradition entsteht im Verbot des Bildnis' Gottes erst der Raum für die Verehrung des Absoluten, die durch eine Ausmalung sich verbildete zum an- und auszustarrenden Götzen, dem Trugbild dessen, was die Einheit von Wahrheit und Gerechtigkeit meint. Die bei Adorno krasse, ja bis zur bitteren Konsequenz sich steigernde Ablehnung einer auf Positivität fixierten Konsequenzlogik von Recht und Gerechtigkeit, greift mit dem zuhöchst empfundenen Verbot des Gottesbildnis' das höchste Prinzip seiner säkularisierenden Mißachtung, den Kurzschluß tautologischer Selbsterhaltung einer sich selbst anbetenden Identität, an. Die Kritik der Verletzung des Bildnis Verbotes erstreckt sich auf die säkulare Form dessen, was in der säkularisierten Welt für die Ableitbarkeit von Recht und Gerechtigkeit "wirklicher G o t t " 6 0 7 geworden ist: Den Staat und seine höchste Reflexionsform, das Identitätsprinzip. 608 "Die Selbstzufriedenheit des Vorwegbescheidwissens und die Verklärung der Negativität zur Erlösung sind unwahre Formen des Widerstands gegen den Betrug. Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots. Solche Durchführung, bestimmte Negation, ist nicht durch die Souve-

6 0 5

(\ Oft

Vgl. aber schon oben BT 4.1.1. und 4.1.2. sowie unten BT 5.1.3.1.3.3.

Unterschlagen wird diese Betrachtungs- und Begründungsebene z.B. auch von der hinsichtlich (λ(Υ7der Texte Adornos sonst sehr hellsichtigen Guzzoni, vgl z.B. Guzzoni 1981. "Bei der Idee des Staats muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen, man muß vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott, für sich betrachten. Jeder Staat, man mag ihn auch nach den Grundsätzen, die man hat, für schlecht erklären, man mag diese oder jene Mangelhaftigkeit daran erkennen, hat immer, wenn er namentlich zu den ausgebildeten unserer Zeit gehört, die wesentlichen Momente seiner Existenz in sich ..." Hegel, Rechtsphilosophie,/TAQ § 259, Zusatz, THWS, Bd. 7; bei Adorno zitiert in ND 329. Die Säkularisierung der Gottesidee läßt sich als Leitmotiv der vernunftrechtlichen Staatsbegründung überhaupt aufweisen, vgl. dafür z.B. nur die Staatsbegründung bei Thomas Hobbes in De Cive. Es liegt in der Konsequenz dieser geschichtsphilosophischen Einbettung, daß sich auch die Legitimationskritik aus der theologischen auf die staatsphilosophische Ebene verlagert. Die Ambivalenz Adornos in diesem Zusammenhang besteht darin, daß er scharf zwischen dem nicht enthüllbaren und grundlegenden idealen Wesensgehalt und seinem staatsgeschichtlich gewordenen säkularen Formen trennt. Insofern liegt seiner Position versteckt auch der Rigorismus zugrunde, den er glaubt ablehnen zu können. Da die Form dem idealen Begriff nicht entspricht, ist sie zu negieren.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

169

ränität des abstrakten Begriffes gegen die verführende Anschauung gefeit, so wie die Skepsis es ist, der das falsche wie das wahre als nichtig gilt. Die bestimmte Negation verwirft die unvollkommenen Vorstellungen des absoluten, die Götzen, nicht wie der Rigorismus, indem sie ihnen die Idee entgegenhält, der sie nicht genügen können. Dialektik offenbart vielmehr jedes Bild als Schrift. Mit dem Begriff der bestimmten Negation hat Hegel ein Element hervorgehoben..Indem er freilich das gewußte Resultat des gesamten Prozesses der Negation: die Totalität in System und Geschichte,schließlich doch zum Absoluten machte, verstieß er gegen das Verbot und verfiel selbst der Mythologie."609 Das Interesse am Bilderverbot 610 beschränkt sich allerdings - und dies ist entscheidend - gerade nicht auf die Kritik des Wahrheitszustandes des säkular Allgemeinen - der bürgerlichen Gesellschaft - bzw. der aus ihr hervorgehenden ausgefärbten Utopien - sondern nimmt ihren Impuls wesentlich vom Wahrheitszustand des Besonderen, sowohl auf der Ebene des philosophischen Systems als auch der Wirklichkeit. In diesem Sinne ließe sich sagen, daß die Kritik der Verletzung des Bildnisverbotes, so wie es bei Max Frisch auf das jeweilige Gegenüber ausgedehnt w i r d , 6 1 1 der Motor des radikal weiten rechtsphilosophischen Ansatzes bei Adorno i s t , 6 1 2 der innere Antrieb für den Einbezug der ökonomisch- sozialpsychischen Tiefenschichten der Lebenswelten aller tatsächlichen Gegenüber. 613

6 0 9

DdA 40/41, Hervorhebungen vom Verf.

6 1 0

Vgl. zum Bilderverbot auch Grenz 1974, S. 86 f.: Die DdA spielt die "Lehre vom Bilderverbot aus als nicht abstrakte Verneinung. Das bedeutet, daß Nichtidentität mit Versöhnung in einem realen Sinn connotiert, der aber in der zeichenhaft entlarvten Sprache negativ verharrt, nur abstrakt benannt werden kann als Idee oder Lehre richtigen Lebens." Bronkhorst 1990, S. 52 hat darauf hingewiesen, daß schon Kant dem theologischen Bilderverbot eine moralische Wendung gegeben hat, (Kritik der Urteilskraft, § 29, Allg. Anm.) indem er es auf das autonom gewordene moralische Bewußtsein anwendete. Bei Adorno wird diese Dimension wesentlich noch um die ästhetische erweitert. 6 1 1

619

Max Frisch "Stiller": "Du sollst Dir kein Bildnis machen von Deinem Nächsten".

Vgl zur rechtsphilosophischen Funktion des Bilderverbotes als primäres absolutes Abwehrrecht 61 λ des Nichtidentischen unten BT 7.5. "Bezahlt wird die Identität von allem mit allem damit, daß nichts zugleich mit sich selber identisch sein darf. Aufklärung zersetzt das Unrecht der alten Ungleicheit, das unvermittelte Herrentum, verewigt es aber zugleich in der universalen Vermittlung, dem Beziehen jeglichen Seienden auf jegliches. Sie besorgt, was Kierkegaard seiner protestantischen Ethik nachrühmt und was im Sagenkreis des Herakles als eines der Urbilder mythischer Gewalt steht: sie schneidet das Inkommensurable weg. Nicht bloß werden im Gedanken die Qualitäten aufgelöst, sondern die Menschen zur realen Konformität gezwungen. Den Menschen wurde ihr Selbst als ein je eigenes, von allen anderen verschiedenes geschenkt, damit es desto sicherer zum gleichen werde." DdA 28/29. Sehr schön kommt dieser Gedanke zum Tragen in folgender Stelle: "Attestiert man dem Neger, er sei genau wie der Weiße, während er es doch nicht ist, so tut man ihm insgeheim schon wieder Unrecht an." M M 114.

170

Besonderer Teil

Denn vermittelt sich das Wesen nur durch das von ihm zugerichtete Subjekt, mag - nicht nur sozialphilosophisch, auch religionsphilosophisch - das Leiden des Wesens im Phänomen zum Ausdruck kommen. Philosophische Kritik an solchem Leiden umgreift bei Adorno über die psychologische und rechtsphilosophische Dimension hinaus auch die Erinnerung an das Göttliche, um das es noch dem Mythos ging, solange dieser noch nicht vollständig in Aufklärung umgeschlagen war. Die Kritik an der objektiven Funktion der Aufklärung meint daher den Schutz des Potentials von ganzer Wahrheit an Göttern und Qualitäten, das im Prozeß der Zivilisation zunächst säkularisiert, dann funktionalisiert und im selben Zuge abgeschafft wurde. 6 1 4 Rechtsphilosophie ist in Gesellschaftskritik unter dem Maßstab des Bilderverbotes übergegangen.

5.7.2. Das Tauschprinzip Das Identitätsprinzip versteht Adorno niemals nur als philosophisches Negativprinzip, sondern immer auch als realitätsgestaltendes Muster. Es steht deshalb nicht nur theoretisch über der Wirklichkeit, sondern hat auch die Funktion einer obersten Realkategorie, die sich über hierarchisch darstellbare Schichten ihrer Konkretisierung als zwar abstrakte aber höchstreale Vermittlung bis durch die kleinsten Wirklichkeitsmomente des Besonderen wie Willen und Bewußtsein hindurch verwirklicht. Im Tausch als seiner konkreteren Ausgestaltung erweist sich deshalb nicht nur allgemein die tatsächliche Wirksamkeit des Identitätsprinzips 615 , sondern gerade auch seine unrechtsbewirkende Bedeutung in der Sphäre der Gesellschaft. "Dieselben Gleichungen beherrschen die bürgerliche Gerechtigkeit und den Warenaustausch. Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert . . . " 6 1 6 Mit der Durchsetzung des Tausches als Allgemeinem der Gesellschaft greift der Unrechtsbegriff folglich aus dem äußerst weiten Objektbereich des identifizierend zu greifenden Nichtidentischen auf die soziale Nichtidentität zu: Im

Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der eins nicht aufgeht.; der moderne Positivismus verweist es in die Dichtung. Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Rüssel. Beharrt wird auf der Zerstörung von Göttern und Qualitäten." DdA 23/24. 6 1 5

Vgl. dazu schon oben AT 5.2.4.4.2.

6 1 6

DdA 23/24.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

171

Tausch bekommt "jeder das seine" und es ergibt sich "doch das soziale Unrecht ... dabei"! 617 Daß die bürgerliche Gesellschaft also ihrem eigenen Begriff nicht entspricht, wie dies bereits oben dargestellt worden war, macht nicht nur ihre Unwahrheit, sondern auch ihr Unrecht aus. Denn "von je, gar nicht erst bei der kapitalistischen Aneignung des Mehrwerts im Tausch der Ware Arbeitskraft gegen deren Reproduktionskosten empfängt der eine, gesellschaftlich mächtigere Kontrahent mehr als der andere. Durch dies Unrecht geschieht im Tausch ein Neues, wird der Prozeß, der die eigene Statik proklamiert, dynamisch. Die Wahrheit der Erweiterung zehrt von der Lüge der Gleichheit. Die gesellschaftlichen Akte müssen im Gesamtsystem sich aufheben und tun es doch nicht." 6 1 8 Das soziale Unrecht bedeutet insofern zunächst, daß die bürgerliche Gesellschaft ihrem eigenen Begriff, 6 1 9 dem Prinzip, das sie zusammenhält, nicht entspricht: "Wo die bürgerliche Gesellschaft dem Begriff genügt, den sie von sich selbst hegt, kennt sie keinen Fortschritt; wo sie ihn kennt, frevelt sie gegen ihr Gesetz, in dem dies Vergehen schon liegt, und verewigt mit der Ungleichheit das Unrecht, über das der Fortschritt sich erheben s o l l . " 6 2 0 Mit sozialem Unrecht ist deshalb zunächst insbesondere auch das sich in Armut bzw. Verelendung im Sinne Hegels 6 2 1 und Marx' ausdrückende Mißlingen der bürgerlichen Gesellschaft nach ihrem eigenen Prinzip gemeint: "Das jüngste Unrecht, das im gerechten Tausch selber gelegene, in seiner verhängnisvollen Gewalt erkennen, heißt nichts anderes als mit der Vorzeit es identifizieren, die von ihm vernichtet wird. Kulminiert in der Moderne, im kalten Elend der freien Lohnarbeit alle Unterdrückung, die Menschen je Menschen angetan haben, so offenbart sich der Ausdruck des Historischen selber an Verhältnissen und Dingen - der romantische Gegensatz zur industriellen Vernunft - als Spur von altem Leiden." 6 2 2 Der Unrechtscharakter des obwaltenden Tauschprinzips weist jedoch über diesen prinzipiellen Gesichtspunkt der Unwahrheit des Ganzen hinaus: Denn 617 6 1 8

Gegen Bescheidwissen DdA 236 Heraushebungen vom Verfasser. Fortschritt, GS, Bd. 10 II, S. 636 Heraushebungen vom Verfasser.

6 1 9

Vgl hierzu schon AT 5.2.4.4.2.

6 2 0

Fortschritt, GS, Bd. 10 II, S. 636/637.

f01

Vgl. zum Problem der Verarmung bei Hegel, Rechtsphilosophie, Zusatz zu § 244, THWS, Bd. 7: "Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird. Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende." Vgl. a. ebd., § 41, Zusatz zu § 46; Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, hrsg. v. G. Lasson, Leipzig 1913, S. 495. Vgl. dazu auch Avineri 1972, S. 120 f. 6 2 2 Soziologische Schriften, GS, S. 373/374.

172

Besonderer Teil

aus dem unwahren Zustand des Allgemeinen heraus erwächst die Nichtverwirklichung des Unidentischen als es selbst in seiner eigenen Substanzialität. Die mit ihrer verinnerlichten Funktionalität in das Netz des unwahren Tausches eingefangenen Einzelnen sind nur noch als changierende Masse ihrer eigenen Abhängigkeit zu begreifen, gerade auch dann, wenn sich ihre Lage nicht als materiell schlecht beschreiben läßt: "Im ungerechten Zustand steigt die Ohnmacht und Lenkbarkeit der Masse mit der ihr zugeteilten Gütermenge. Die materiell ansehnliche und sozial klägliche Hebung des Lebensstandards der Unteren spiegelt sich in der gleißnerischen Verbreitung des Geistes. Sein wahres Anliegen ist die Negation der Verdinglichung . . . " 6 2 3 Die Gründe für das Unrecht, das den Einzelnen wiederfährt, sind - trotz der materiell ansehnlichen Hebung des Lebensstandards - die Selbstbezogenheit des Bewußtseins, die verdinglichte Struktur des Geistes und die sich nicht als Natur und ihre Fortsetzung reflektierende Herrschaft der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung. Soziales Unrecht stellt sich damit als kritischer Begriff des psychosozialen Lebensstandards, nicht seiner monetarischen Reduktion als Folge einer mißverstandenen Wertkritik in der marxistischen Tradition, dar. Denn die Wirklichkeit eines Raumes ureigenster Individualität, eines Verstummens des Tauschprinzips vor den Haltungen persönlicher Lebensäußerung hat in der gegenwärtigen Gesellschaft keinen Ort: "In der Welt des Tausches hat der Unrecht, der mehr gibt; der Liebende aber ist allemal der mehr Liebende. Während das Opfer, das er bringt, glorifiziert wird, wacht man eifersüchtig darüber, daß dem Liebenden das Opfer nicht erspart bleibt. Gerade in der Liebe selber wird der Liebende ins Unrecht gesetzt und bestraft. Die Unfähigkeit zur Herrschaft über sich und andere, die seine Liebe bezeugt, ist Grund genug, ihm die Erfüllung zu verweigern . . . " 6 2 4 Das Beispiel beweist nicht nur die Geschlossenheit, mit der Adorno die Hermetik des verwirklichten Tauschprinzips denkt. Es führt, da es die Einheit von innerer und äußerer Zwangswelt im Zeichen des Tausches für sein Denken signifikativ abbildet, auch zur Notwendigkeit, den Unrechtsbegriff über die in-

f/yi DdA 15, Heraushebungen vom Verfasser; Deshalb wird der Einzelne auch "während ..." er "... vor dem Apparat verschwindet, den er bedient,... von diesem besser als je versorgt." DdA 15. 6 2 4

DdA 92.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

173

terpersonale auf die intrapersonale Welt der Beziehung - von Geist zu Leib, Seele zu Impuls auszudehnen.625

5.1.3. Der Staat: Übergang des Verhältnisses von Staat und Recht in das Verhältnis von Tauschprinzip und materialer Gerechtigkeit 5.1.3.1. Staat, Gesellschaft, Trend; Vermittlungsvorrang der Gesellschaft vor dem Staat; Auflösung eines unabhängigen Sein des Staates 5.1.3.1.1.

Einheit von Wahrheit und Recht im Ganzen; Schein der Unmittelbarkeit des Staates; Vermitteltheit

Oben war bereits die Einheit von Wahrheit und Recht im Denken Adornos unter dem Gesichtspunkt des Identitätsprinzips als wesentliches Moment seiner dialektischen Gesellschaftstheorie benannt worden. 6 2 6 Doch ergibt sich aus der Philosophie Adornos nicht nur die Äquivalenz von Wahrheit und Recht, bzw. Unwahrheit und Unrecht überhaupt. Entscheidend ist, daß sich gerade dadurch, daß sich der Begriff des Unrechts mit dem der Unwahrheit des Ganzen in Deckung bringt, die Kategorie des Staates als selbständige im Begriff eben dieses unwahren Ganzen, bzw. der Unwahrheit des gesellschaftlichen Systems auflöst. Deutlich wird dies wiederum durch Adornos Kritik an Hegel und dem gesellschaftlichen System der Wirklichkeit, des Substrates Hegelscher Philosophie: "Mißlingt Hegels Philosophie nach dem höchsten Kriterion, dem eigenen, so bewährt sie sich zugleich dadurch. Die Nichtidentität des Antagonistischen, auf die sie stößt und die sie mühselig zusammenbiegt, ist die jenes Ganzen, das nicht das Wahre, sondern das Unwahre, der absolute Gegensatz zur Gerechtigkeit ist. Aber gerade diese Nichtidentität hat in der Wirklichkeit die Form der Identität, den alleinschließenden Charakter, über dem kein Drittes und Versöhnendes waltet. Solche verblendete Identität ist das Wesen der Ideologie, des gesellschaftlich notwendigen Scheins. Einzig durch Absolutwerden des Widerspruchs hindurch, nicht durch dessen Milderung zum Absoluten vermöchte er zu zergehen und vielleicht doch einmal zu jener Versöhnung zu finden, die Hegel vorgaukeln mußte, weil ihre reale Möglichkeit ihm noch verhüllt war ... Indem an ihrem Ende die Nichtidentität von Subjekt und Objekt, von Begrìff und Sache, von Idee und Gesellschaft unstillbar hervortritt; indem sie in der absoluten Negativität zergeht, holt sie zugleich ein, was sie versprach, und wird

6 2 5

Vgl. dazu schon oben BT 1.2.; 3.2.; 3.3.2.; 4.1.2. sowie unten BT 5.2.

6 2 6

Vgl. BT 2. und BT 5.1.2.

174

Besonderer Teil

wahrhaft mit ihrem verstrickten Gegenstand identisch ... Die Wahrheit Hegels hat danach ihren Ort nicht außerhalb des Systems, sondern sie haftet an diesem ebenso wie die Unwahrheit: Denn diese Unwahrheit ist keine andere als die Unwahrheit des Systems der Gesellschaft, die das Substrat seiner Philosophie ausmacht. 1,627 Die Rede ist nur von jenem Ganzen, das nicht das Wahre, sondern das Unwahre, der absolute Gegensatz zur Gerechtigkeit ist. Das Ganze wiederum ist das schon bekannte Allgemeine des Systems der Gesellschaft, dessen Wirklichkeit durch das Tauschprinzip beherrscht ist. Füllt der Begriff des Ganzen in der Terminologie Adornos den des Allgemeinen als Gesellschaftliches, so kann vom Staat als Allgemeinem die Rede auch nur noch sein, sofern er an diesem Ganzen teil hat. Damit kommt ihm als Organisation des Gesellschaftlichen vor dem Funktionsprozeß der Gesellschaft kein unabhängiges Sein mehr zu. Die Gesellschaft aber hat Vorrang vor dem Staat. Dessen Daseinsform ist keine an sich seiende, denn während sie gegenüber dem Bewußtsein des je Einzelnen die scheinbare Unmittelbarkeit der Naturherrschaft reproduziert, ist sie selbst vermittelt und vermittelnd. 628 So äußert sich zwar die Vormacht des Allgemeinen z.B. im Hitlerschen Nationalsozialismus konkret im Läuten der Staatspolizei beim abweichenden Individuum und damit im Vergleich zu den "vorausgehenden Machinationen der M a c h t " 6 2 9 gegenüber dem Individuum als unmittelbarerem Faktum der Unterwerfung. Das dürfe aber nicht vergessen machen, daß auch der Schein solcher Unmittelbarkeit der Vormacht des Allgemeinen selbst nur Ausdruck des Trends sei. 6 3 0 Die unmittelbare Einzeltatsache selbst beweise nämlich gerade nur, daß "noch in der jüngsten Vergangenheit ... die Vormacht der Tendenz an den Fakten selbst abzulesen" war. 6 3 1 Verantwortlich für die sich durch die Abhängigkeit des Staates von der gesellschaftlichen Sphäre ergebende moderne Staatsfremdheit ist deshalb das Tauschprinzip, die unmittelbare Vergesellschaftung des Ganzen durch die Vielen selbst:

6 2 7

fS)Q

Aspekte, Mk 276/277, Hervorhebungen vom Verfasser.

"Hegel verfallt in jene fade Erbaulichkeit, die er noch in der Phänomenologie verabscheute. Er wiederholt einen Topos antiken Denkens, aus dem Stadium, da der siegreiche, Platonisch-Aristotelische Hauptstrom der Philosophie mit den Institutionen gegen deren Grund im sozialen Prozeß sich solidarisierte; die Menschheit hat überhaupt die Gesellschaft später entdeckt als den Staat, der, an sich vermittelt, den Beherrschten gegeben und unmittelbar erscheint." N D 331. 6 2 9 ND 296. 6 3 0

Vgl. N D 296.

6 3 1

ND 297.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

175

"So hat es mit der modernen Staatsfremdheit, allen Spenglerschen Analogien zum trotz, eine ganz andere Bewandtnis als mit der antiken. Für die moderne ist verantwortlich nicht ein Mangel an sozialer Kohärenz, sondern im Gegenteil deren Übermaß; ein Zustand, in dem der einzelne zur Gleichgültigkeit gegen das Staatswesen verführt wird, weil er das Gefühl hat, daß er über den objektiv bestimmten Lauf der Dinge doch nichts vermag ... Die Individuen ahnen, bewußt oder dumpf, daß ihr Leben gar nicht wirklich von der Staatspolitik, sondern von den gleichsam elementaren Vorgängen abhängt, die unterhalb der staatlichen Organisationsform im Kern der Gesellschaft selbst sich abspielen." 6 3 2

5.1.3.1.2.

Verwechslung von Staat und Gesellschaft

Liegt schon wegen der scheinbaren Unmittelbarkeit der Staatsgewalt im Verhältnis zum Besonderen die Verwechslung des Staates mit der eigentlich ihn vermittelnden "wesentlich dynamischen" 633 Gesellschaft nahe, so wird diese Verwechslung vollends verständlich, wenn gerade das Allgemeine dieser Gesellschaft, ihre Selbsterhaltungsfunktion, als an den Staat zediert erscheint: "Zu ihrer zugleich allgemeinen und antagonistischen Gestalt ist der Übergang des selbsterhaltenden Interesses der Individuen an die Gattung geistig geronnen. Er gehorcht einer Logik, welche die große bürgerliche Philosophie an historischen Eckpunkten wie Hobbes und Kant nachvollzog: ohne die Zession des selbsterhaltenden Interesses an die, im bürgerlichen Denken meist vom Staat repräsentierte Gattung vermöchte in entwickelteren gesellschaftlichen Verhältnissen das Individuum nicht sich selbst zu erhalten. Durch diesen für die Individuen notwendigen Transfer jedoch tritt die allgemeine Rationalität unvermeidlich fast in Gegensatz zu den besonderen Menschen, die sie negieren muß, um allgemein zu werden , . . " 6 3 4 Die Zession des Selbsterhaltungsinteresses der Gesellschaft an den Staat ist sowohl Adornos Erklärung für die Hegeische Mystifikation des Staates als Allgemeines der Gesellschaft wie für die dafür notwendige Verwechslung des Staates mit der ihn vermittelnden Gesellschaft. Denn verdanke nach Hegel der Mensch alles, was er ist, dem Staat, dessen konstitutive Formen der Gesellschaftung ihre "unbedingte Suprematie über die Menschen" behaupten, als wä-

6 3 2

Individuum und Staat, GS, Bd. 201, S. 290.

6 3 3

N D 331.

6 3 4 N D 312. Vgl. dazu auch Individuum und Staat, GS, Bd. 20 I, S. 287/288: "das Problem des Verhältnisses von Individuum und Staat existiert, seitdem sich die Organisation der Menschen als ein relativ Selbständiges ihrem unmittelbaren Miteinanderleben entgegengesetzt hat."

176

Besonderer Teil

ren sie "göttliche Vorhersehung" 635 , so werde jener nicht nur als Mystifikation der konstitutiven Formen der Vergesellschaftung für die an sich seiende Wirklichkeit genommen; auch gerade die eigentlich vermittelnde Funktion der Gesellschaft werde vergessen, aus der der Staat allein seine Idee und die Wirklichkeit der Kraft des Vorrangs vor dem Besonderen nehme. 6 3 6

5.1.3.1.3.

5.1.3.1.3.1.

Staatszweck Selbsterhaltung und Individuum; Identität und Nichtidentität; Recht und Unrecht des Staates Selbsterhaltung, Identität, Rationalität und Recht

Dialektisch ist das Unrecht des Ganzen aber, weil es sich wie seine Unwahrheit, nicht abstrakt und statisch erweist, sondern auch dort, wo es sich als strukturelles Unrecht im System der Gesellschaft ergibt, nur durch seine Bezogenheit auf Recht denken lassen kann. Deutlich wird dies Adorno nicht zufällig am Verhältnis des Individuums zur Organisation, die er anstelle des engeren Staatsbegriffes zum Gegenstand einer Betrachtung macht, die gerade auch den Staat meint. 6 3 7 Liegt der gesellschaftlichen Organisation nämlich prinzipiell eine rationale Bezogenheit auf Selbsterhaltung zugrunde, so findet sich in dieser Bezogenheit zugleich auch die virtuelle Legitimation von Staat und Organisation zum Zwecke der Selbsterhaltung: "Wahr ist, daß die Gesellschaft sich nicht gegen die Natur behaupten, sich nicht hätte am Leben erhalten können ohne Organisation, und daß sie es heute weniger als je vermöchte. Kein primitiver Steg wäre sonst gebaut, kein Lagerfeuer am Verlöschen gehindert worden. Aber diese Notwendigkeit ist kein bloßes Verhängnis, das abrollt, um schließlich die Menschen unter sich zu begraben. Vernunft hat Anteil an ihr. Sie mißt sich an den Aufgaben von kollektiver Selbsterhaltung und Naturbeherrschung. Darum ist sie nicht absolut zu setzen, 6 3 5

(SIC

ND 349/350.

6 3 7

Individuum und Organisation, GS, Bd. 8, S. 440 f.

"Die Menschheit hat überhaupt die Gesellschaft später entdeckt als den Staat, der, an sich vermittelt, den Beherrschten gegeben und unmittelbar erscheint. Hegels Satz, "Alles, was der Mensch ist, verdankt er dem Staat" (Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1955, S. 111), die augenfälligste Übertreibung, schleppt die altertümliche Verwechslung fort. Zu der These veranlaßt ihn, daß jene "Unbewegtheit", die er dem allgemeinen Zweck zuschreibt, zwar von der einmal verhärteten Institution, unmöglich aber von der wesentlich dynamischen Gesellschaft sich prädizieren ließe. Der Dialektiker bekräftigt die Prärogative des Staats, der Dialektik enthoben zu sein, weil, worüber er sich nicht täuschte, diese über die bürgerliche Gesellschaft hinaustreibt. Er vertraut nicht der Dialektik als der Kraft zur Heilung ihrer selbst sich an, und desavouiert seine Versicherung der dialektisch sich herstellenden Identität." N D 331.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

177

sondern jeweils der Frage zu unterwerfen, ob sie dem dient, was ihre Existenz einzig rechtfertigt." 638 Der identitätssetzende Zweck der Selbsterhaltung erweist sich damit nicht nur als rationales Prinzip in der Dialektik der Aufklärung und als Parameter für die an der Naturbeherrschung entwickelte Philosophie, sondern gerade auch als Erklärungs- sowie möglicher Rechtfertigungsgrund für organisatorische Herrschaft.

5.1.3.1.3.2.

Naturbeherrschung, Irrationalität, Herrschaft und Unrecht

Andererseits ist es gerade die stringente Konsequenz rationaler Organisation, die - so Adorno - aufgrund ihrer auf Partikularität verkürzten Allgemeinheit das Besondere bis zur Vernichtung bedrohe. 639 Vor diesem schon oben beschriebenen Hintergrund stellt sich die Frage der Irrationalität gesellschaftlicher Organisation: "Gegen die These vom unausweichlichen Charakter der Organisation ist daran zu erinnern, daß die vernünftige Notwendigkeit vieler der Zweckverbände, die wir Organisation nennen, den betroffenen Menschen verhüllt, ja daß sie oftmals äußerst fragwürdig ist. Der Gedanke an die Vernünftigkeit des Ganzen wird verderbt zur letztlich zufälligen Vernünftigkeit der Mittel, wären sie auch bloß zur Vernichtung ersonnen. Die Blindheit der Beherrschung der äußeren Natur, die nicht danach fragt, was dieser angetan wird, geht über auf die Organisation als Beherrschung von Menschen, und es schwindet das Bewußtsein davon, daß die Objekte der Organisation selber Menschen, also identisch mit den vorgeblichen Subjekten der Organisation sind, die sie zusammenfaßt." 6 4 0 Schlägt die Naturbeherrschung nämlich in organisierte Knechtschaft und die Regression des Herren um, so wie das Sirenenbild den Preis der Selbsterhaltung bestimmte, so hat in dem Maße, in dem die Gesellschaft ihres organisatorischen Zweckes sich nicht mehr erinnert und die formalisierten Rationalitätsbedingungen sich verselbständigen, "das Schmerzliche, das den Menschen

«o fil 9

Individuum und Organisation, GS, Bd. 8, S. 444/445, Hervorhebungen vom Verfasser.

"Keiner wird den bedrohlichen Zustand verleugnen, der jeden Einzelnen, er mag es wissen oder6nicht, in eine Funktion des Getriebes zu verwandeln sich anschickt." Ebd., S. 447. 4 0 Ebd., S. 445, Hervorhebungen vom Verfasser. 12 M. Becker

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Besonderer Teil

von der Organisation angetan wird, ... seinen Grund in deren objektivem Mangel an Vernunft und Durchsichtigkeit . . . " 6 4 1 Es stimmt somit im Denken Adornos der Mangel an wirklicher Vernünftigkeit mit dem Unrechtscharakter und der Unwahrheit, die sich durch den Gegensatz von Allgemeinem und Besonderem ergeben, überein. Auch der von Adorno verwendete Herrschaftsbegriff läßt hinsichtlich des Gegensatzpaares von Wahrheit und Unwahrheit eine Differenzierung in historisch notwendige Herrschaft und historisch mögliche Nichtherrschaft (überflüssige Herrschaft) nicht zu, wie sie von Grenz 6 4 2 in Kenntnis der an verschiedenen Stellen Adornos' Werks moderaten Töne im Hinblick auf die Vernunft selbsterhaltender Organisation vorgeschlagen worden ist.

5.1.3.1.3.3.

Wahrheit und Unwahrheit, Recht und Unrecht

Damit ergibt sich die schwierige Konstellation, daß sich der historisch gewordene gesellschaftlich-organisatorische Zustand und damit auch der des des Staates nicht einfach als wahrer, bzw. unwahrer oder als Rechts- bzw. Unrechtszustand erweist. Vielmehr entwickelt sich darin ein Verhältnis von wahr und unwahr, bzw. Recht und Unrecht, welches der Gedanke aus dieser Entwicklung heraus zu beurteilen hat. Diese Konstellation von Entgegengesetztem beginnt, wie schon beschrieben wurde, bereits bei dem Verständnis, das der Begriff der Selbsterhaltung des Ganzen hinsichtlich der Möglicheit der Selbsterhaltung seiner Individuen einräumt. 643 Auf diesem komplexen Grundmodell von Identität und Nichtidentität beruht nun auch die Problematik der gesellschaftlichen Organisation, bzw. des Staates im engeren Sinne, angefangen bei der Frage der Notwendigkeit gesellschaftlicher Organisation. So ist die "These von der Unausweichlichkeit der Organisation ... wahr und unwahr zugleich. Wahr ist sie, soweit es der Organisation bedarf, damit die Menschheit sich reproduziert, unwahr insofern, als die Drohung, die von der Organisation ausgeht, nicht primär in dieser selbst liegt, sondern in den irrationalen Zwecken, von denen sie abhängt. Das sind sehr menschliche Zwecke

6 4 1

Ebd., S. 446.

6 4 2

Grenz 1974, S. 57 ff. Die Differenzierung trifft nicht den Kern des kritischen Denkens Adornos, weil sie sich entgegen der Absicht negativer Dialektik virtuell mit bestimmt zu bezeichnenden Formen gesellschaftlicher Herrschaft abzufinden hätte. Aber auch diese noch wären vom Diktum des Unrechtscharakters aus dem Tauschprinzip angesteckt. Die Auffassung von Grenz hat auch keine Textstelle Adornos unmittelbar für sich, wie Mörchen zu Recht feststellt. Vgl. Mörchen 1980, S. 176. 6 4 3

Vgl. hierzu AT 5.2.2. und 5.2.4.4.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

179

und grundsätzlich von Menschen zu verändern, so schwer vollziehbar den meisten heute auch diese Möglichkeit sein mag." 6 4 4 Sehr deutlich wird das gleichzeitige Gegen- und Miteinander, das durch eine zweiwertige Logik in der Folge Aristoteles' als ausgeschlossenes Drittes gilt, in einer Überlegung, die zugleich auch den Zusammenhang zwischen sozialphilosophischer Organisationslehre und Gerechtigkeitsphilosophie entwickelt: "Der Einzelne, der etwa zu einer Behörde geht... hat dabei oft genug nach dem Maß der heute möglichen Befriedigung von Bedürfnissen recht. Aber das Schema F, nach dem er behandelt wird, also die abstrakte Verfahrensweise, die es den Bürokraten erlaubt, einen jeden Fall automatisch und ohne Ansehung der Person zu erledigen, ist zugleich, wie im formalen Recht, auch ein Element von Gerechtigkeit, ein Stück Garantie dafür, daß dank solcher Beziehung aufs Allgemeine nicht Willkür, Zufall, Nepotismus das Schicksal eines Menschen beherrschen. Die Entpersönlichung und Verdinglichung, die dem Einzelnen im Bürokraten greifbar werden, mit dem er zu verkehren hat, sind sowohl Ausdruck der Entfremdung des Ganzen von seinem menschlichen Zweck und insofern negativ, wie umgekehrt auch Zeugnis jener Vernunft, die allen zugute kommen könnte und die allein das Schlimmste verhindert. Deutlicher könnte kaum der Doppelcharakter der Organisation werden; deutlicher aber auch nicht, daß es darum geht, was sie im gesellschaftlichen Ganzen vollbringt.." 645

5.1.3.1.3.4.

Recht und Unrecht des Individuums

Die Betrachtung wird jedoch noch komplizierter aufgrund des schon im Allgemeinen gezeichneten Zurechungsverhältnisses äußerer Objektivität zur verdinglichten Subjektivität der virtuell Handelnden. 646 Denn es sind gerade die Individuen selbst, die, indem sie dem Allgemeinen der Gesellschaft folgen und ihre je partikularen Interessen im Gegensatz zu einem möglichen wahren Allgemeinen des Staates betreiben, sich in einen wesentlichen Gegensatz zu diesem begeben. Die besondere Geschichte der Nicht-

6 4 4

Individuum und Organisation, GS, Bd. 8 I, S. 446, Hervorhebungen vom Verf.

6 4 5

Ebd., S. 447, Hervorhebungen vom Verf.

6 4 6

Deutlich auch noch einmal in diesem Zitat: "Die Menschen sind nicht nur einem ihnen Äußerlichen, Drohenden, überantwortet, sondern dies ihnen Äußerliche ist zugleich eine Bestimmung ihres eigenen Wesens, sie sind sich selbst äußerlich geworden. Darum lassen sie mit Errungenschaften, die längst nicht mehr ihrem Glück und ihrer Freiheit zugute kommen, sich einlullen." Ebd., S. 451. Vgl. zur allgemeinen Kennzeichnung oben AT 5.2.

180

Besonderer Teil

identität der im allgemeinen Teil beschriebenen Subjektmonaden mit der Identität des Staates erläutert Adorno folgendermaßen: So habe "das Individuum allmählich die Beziehung zu jenen öffentlichen Angelegenheiten verloren, zu deren Sinn es unabdingbar gehört, fürs individuelle Glück Sorge zu tragen ... Diese Entwicklung ... zeichnet sich schon in Aristoteles ab. Er hat ... der totalitären Staatsutopie seines Lehrers Piaton die realen Bedürfnisse der einzelnen entgegengehalten. Aber er erblickte nicht mehr, wie es trotz allem der Fall war, die höchste Idee in der Verwirklichung dieser Bedürfnisse durch vernünftige staatliche Einrichtungen. Sondern ihm gilt als das Höchste das Zurücktreten in die denkende Betrachtung. Darin ist schon die Resignation dem öffentlichen Wesen gegenüber angelegt. Es zeichnet sich ein tiefer Widerspruch im Verhältnis von Individuum und Staat ab. Je unbeschränkter das Individuum dem je eigenen Interesse nachgeht, um so mehr verliert es eine Gestaltung der gesellschaftlichen Organisation aus dem Auge, in der diese Interessen geschützt sind. Das Individuum bereitet gleichsam durch seine fessellose Befreiung seiner eigenen Unterdrückung den Boden. Eine solche Entwicklung aber schlägt auch dem Individuum in seiner inneren Zusammensetzung nicht zum Guten an, sondern es verarmt und verkümmert immer mehr, je mehr es auf sich und seinen nächsten Umkreis sich beschränkt und ans Allgemeine vergißt ," 647 Auch in der staatsphilosophischen Perspektive wird bei Adorno also die Frage nach dem Vorrang des objektiven Verhängnisses vor der Veränderungskraft und Freiheit des Individuums dialektisch auf die Subjektivität zurückprojiziert. Ist nämlich die Innerlichkeit des Subjekts vom Tauschprinzip bis ins Mark infiziert, stellt sich die Bedrohung durch die äußere Organisation im Grunde nur als Verlängerung der inneren Falschheit heraus: "Man kann deshalb nicht von der Bedrohung des Menschen durch die Organisation reden, weil der objektive Prozeß und die Subjekte, denen er widerfährt, nicht nur einander entgegengesetzt, sondern auch Eines sind. Wie das gefürchtete Objektive, die anwachsende Organisation, insofern nur scheinbar objektiv ist, als sie durch wie sehr auch verkappte partikulare Interessen determiniert wird, so sind umgekehrt die Menschen in weitem Maß gezeitigt von jenem objektiven Prozeß ... Der technische Arbeitsprozeß...formt die Subjekte, die ihm dienen, und zuweilen ist man versucht zu sagen, er bringe sie geradezu

Individuum und Staat, GS, Bd. 201, S. 288, Hervorhebungen vom Verfasser. Andererseits ist diese Gegenseitigkeit im Verhältnis von Individuum und Staat, gegeneinander Selbsterhaltungsbedingung zu sein und konträre Interessen zu verfolgen, bemerkenswert, "daß Individuum und Staat nicht nur im Widerspruch zueinander stehen, sondern sich wechselseitig bedingen." Ebd., S. 289, Hervorhebungen vom Verfasser.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

181

hervor. Wenn im Ernst von der Bedrohung des Menschen die Rede sein kann, dann einzig in dem Sinne, daß die Weltverfassung es bereits verhindert, daß in ihr jene sich entwickeln, die fähig wären, sie zu durchschauen und daraus die rechte Praxis abzuleiten ,.." 648

5.1.3.1.4.

Staat als repräsentative Ausprägung des Tauschprinzips, damit des Trends

Daß der Gesellschaft auch vor dem Staat der Vorrang der Vermittlung zukomme, mußte schon nach dem im allgemeinen Teil Gesagten ohne weiters folgen, anders könnte die Totalität des Identitätsprinzips nicht ernst genommen sein. Der Staat erweist sich für Adorno dementsprechend als repräsentative 649 und höchst effiziente Ausprägung des Tauschprinzips. Was ohnehin Gesellschaft und Denken bis in jede kleinste Regung durchdringe, "bürgerliche Rationalität, das Tauschverhältnis", wurde im imaginären Staatsvertrag der frühbürgerlichen Denker "als formalrechtliches Apriori zugrundegelegt". 650 Die Fiktion der Staatsvertragslehre 651 wiederhole somit nur surreal, worin die Repräsentation des Staates durch die reale Allgemeinheit gesellschaftlicher Vormacht ohnehin restlos bestimmt sei: Der Ausdruck der Herrschaft der Natur in der zweiten zu sein. Die Totalität des Tauschprinzips, die die Gesellschaft als Transzendentalsubjekt verstehen ließ, weist deshalb mit und durch den einzelnen hindurch auch dann noch dem Ganzen staatspolitische Funktionen und Entscheidungen von für den einzelnen essentieller Bedeutung zu, wenn gerade diese Zuweisung zur Verwechslung der gesellschaftlichen und staatlichen Sphäre führt. Denn es ist das Maß, die Dichte der Vergesellschaftung, mit der die aus der gesellschaftlichen Entwicklung stammende Totalität am Ende auch jedes Handeln oder Unterlassen des Staates noch dann mit schicksalhafter Macht gegenüber

Individuum und Organisation, GS, Bd. 8 I, S. 450, Hervorhebungen vom Verfasser. 6 4 9

"ohne die Zession des selbsterhaltenden Interesses an die, im bürgerlichen Denken meist vom Staat repräsentierte Gattung vermöchte in entwickelteren gesellschaftlichen Verhältnissen das Individuum nicht sich selbst zu erhalten." ND 312. 6 5 0 "Der imaginäre Staatsvertrag war den frühbürgerlichen Denkern so willkommen, weil er bürgerliche Rationalität, das Tauschverhältnis, als formalrechtliches Apriori zugrunde legte; imaginär war er ebenso, wie die bürgerliche ratio selbst in der undurchsichtigen realen Gesellschaft." ND 315, Anm. 6 5 1 "Aber das Interesse an ihr war wohl so wenig eines an historischen Tatsachen wie einst das am Staatsvertrag, den schon Hobbes und Locke schwerlich für real vollzogen hielten. Es ging um die Vergottung der Geschichte ..." ND 315.

182

Besonderer Teil

dem Individuum versehen muß, wenn sich das Aktionsgebiet als primär ökonomisch-gesellschaftliches bezeugt: "Erst in der Völkerwanderung schlug die Entfremdung der Individuen von ihren Staaten ihnen leibhaftig zum Unheil an. Das Verhältnis von Staat und Individuum hat in der Antike noch nicht die tödliche Zuspitzung erfahren, von der wir gerade heute wissen. Denn die antike Gesellschaft war unvergleichlich viel weniger "vergesellschaftet" als die moderne in all ihren Systemen. Heute hängen alle Funktionen mit allem zusammen, und alle staatspolitischen Entscheidungen berühren unmittelbar das individuelle Schicksal." 652

5.1.3.1.5.

Zu Adornos Kritik des Verhältnisses von Gesellschafts- und Staatsdialektik bei Hegel

Die Wirkung des Tauschprinzips im Wesen des Staates gerade in seinem Verhältnis zum Besonderen führt nun nicht nur dazu, daß Adorno das Verhältnis von Staat und Gesellschaft entgegen der bürgerlich idealistischen Philosophie im Hinblick auf den Vorrang der Gesellschaft gewichtet, sondern zugleich notwendig auch zu seiner Beurteilung der idealistischen Dialektik Hegels, derzufolge nur mit Hilfe dieser sich das Mißverständnis fortschleppen konnte: Gerade weil sich die dialektische Dynamik der Gesellschaft im Begriff der Hegelschen Philosophie unverstanden ausdrückt, erscheint ihre Verkürzung auf "jene fade Erbaulichkeit" mit der dieser "dem allgemeinen Zweck" "jene 'Unbewegtheit'" 6 5 3 zuschreibt, die in der Sittlichkeit des Ganzen kulminiere, als Verrat am Begriff der Dialektik. Auch in der Rechtsphilosophie des Staates bei Hegel bestätigt sich für Adorno deshalb die schon allgemein festgemachte Überzeugung 6 5 4 , daß Identitätsphilosophie idealistisch sich nicht austragen läßt, ohne in das Extrem vorweggeordneter Erkenntis und real erzwungener praktischer Harmonie aufgelöst zu werden: Daß sich Identitätsphilosophie an einem statisch komponierten Wesen des Staates festhalten muß, gerade weil sie selbst ein Ausdruck der gesellschaftlichen Dialektik ist, die "über die bürgerliche Gesellschaft hinaustreibt" 655 , gehört zu den Paradoxien, die Adorno zufolge der Philosophie Hegels anhaften: Indem Identitätsdialektik sich ihrer eigenen Starre überführt, öffnet sie den Blick auf den staatmachenden Antagonismus der Gesellschaft, aus dem mit der Identität als gesellschaftlich Allgemeinem auch der Staat hervorgeht: 6 5 2

Individuum und Staat, GS, Bd. 201, S. 289 Hervorhebungen vom Verfasser.

6 5 3

N D 331.

6 5 4

Vgl schon oben AT 3.3.1. und 3.4.

6 5 5

N D 331.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

183

"Hegels Satz, 'Alles was der Mensch ist, verdankt er dem Staat', die augenfälligste Übertreibung, schleppt die altertümliche Verwechslung fort. Zu der These veranlaßt ihn, daß jene 'Unbewegtheit', die er dem allgemeinen Zweck zuschreibt, zwar von der einmal verhärteten Institution, unmöglich aber von der wesentlich dynamischen Gesellschaft sich prädizieren ließe. Der Dialektiker bekräftigt die Prärogative des Staats, der Dialektik enthoben zu sein, weil, worüber er sich nicht täuschte, diese über die bürgerliche Gesellschaft hinaustreibt. Er vertraut nicht der Dialektik als Kraft zur Heilung ihrer selbst sich an, und desavouiert seine Versicherung der dialektisch sich herstellenden Identität." 6 5 6 5.1.3.1.6.

Entmächtigung des Einzelnen im Staat der Sittlichkeit bei Hegel

An dieser Stelle schließt sich die allgemeine Kritik der Identitätsphilosophie mit der Kritik Adornos an der praktischen Philosophie des deutschen Idealismus zusammen. Weil es Adorno um die Substantialität des Zustandes des Ganzen, dessen Opfer die Menschen seien, 657 selbst geht, gerät der Staat nur insofern in den Blick, als sich an ihm die Unwahrheit der bürgerlichen Staatsphilosophie und ihrer Ideologie, der unwahren Wahrheit der absoluten Identität abzeichnen muß. Da die Kritik des Staatsdenkens und seiner Wirklichkeit als der verdinglichten und hypostasierten Organisationsform der Gesellschaft innerhalb der Philosophie Adornos wesentlich in der Wendung gegen Hegel erfolgt und keinen eigenen exponierten Ort hat 6 5 8 , zeigt er das Moment dieser staatsphilosophischen Unwahrheit, die Unterwerfung des Subjekts unter die falsche Allgemeinheit des Staates, auch an Hegel auf. Gerade für die illusionäre Konzeption des Staates als substantieller Einheit der Sittlichkeit und des absoluten unbewegten Endzwecks habe Hegel um den Preis der statischen Unterwerfung des Individuums die Dialektik von Subjekt und Objekt sowie die von Allgemeinem und Besonderem verraten und damit gerade auch die Behauptung der Sittlichkeit selbst desavouiert, die er durch die Hypostasierung der für a priori gut befundenen Ordnung erst herbeidenken wollte. 6 5 9 6 5 6

N D 331.

6 5 7

N D 319.

/reo

Es gibt überhaupt nur einen einzigen, fünfseitigen Titel, in dem der Staat im Zusammenhang mit dem Begriff des Individuums wichtigster Untersuchungsgegenstand Adornos ist: "Individuum und Staat", GS, Bd. 20 II; allerdings ergibt sich aus der Gesamtaussage, daß in dem etwas längeren Aufsatz "Individuum und Organisation", wesentlich auch der Staat gemeint ist. Vgl. GS, Bd. 8,1, S. 440 f. 6 5 9 "Ironisch bewährt sich seine (Hegels) spätere Reminiszenz an Aristoteles, die 'substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Endzweck'; unbewegt, steht er in der Dialektik, die ihn herstellen soll. Dadurch wird zur leeren Beteuerung entwertet, daß im Staat 'die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt'". ND 331.

184

Besonderer Teil

Denn in der Konzeption des unwahren Ganzen der Tauschgesellschaft als Substanz des Sittlichen im Begriff des Staates schlage die Gewalt des Allgemeinen noch einmal auf die Individuen ein, durch deren reale Unterwerfung 660 überhaupt die allgemeine Not organisierter Selbsterhaltung sich am Leben erhalte: "Der Druck, den Affirmation auf das ihr Widerstrebende, Wirkliche ausübt, verstärkt unermüdlich jenen realen, den die Allgemeinheit dem Subjekt als dessen Negation antut. Beides klafft desto sichtbarer auseinander, je konkreter das Subjekt mit der These von der objektiven Substantialität des Sittlichen konfontiert w i r d . " 6 6 1 Soweit sich Hegel aber im Begriff der Volksgeister um Vermittlung bemüht habe, um den eingestandenen Bruch zwischen der Idee der Identität von philosophischer Dialektik und Wirklichkeit zu überbrücken, habe er ein Epiphänomen dem realen Produktionsprozeß, der Gewalt der Gesellschaft entgegengestellt. So schließe "der Hegeische Geist nicht länger die materielle Basis derart mehr in sich ein, wie er als Totalität immerhin es noch behaupten mochte." 6 6 2 Die vom Lebensprozeß der Gesellschaft abstrahierte Geistphilosophie bekenne sich damit zu ihrer nationalen Partikularität und zu der Identität von Subjekt und Objekt, die als Unterdrückung des je Besonderen gipfelt. Dies durchdringe ungeschminkt die Wirklichkeit. Denn was Hegel "als Substantielles der Volksgeister lobt, die 'mores', war damals bereits hoffnungslos zu jenem Brauchtum depraviert, das man dann im Zeitalter der Diktaturen auskramte, um von staatswegen die Entmächtigung der Einzelnen durch den geschichtlichen Zug zu vermehren." 663

5.1.3.2. Staat und das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem bei Adorno als Kritik an Hegel In der Entmächtigung des Einzelnen durch den geschichtlichen Zug drückt sich für Adorno damit nicht nur der allgemeine Prozeß einer Tendenz aus, in Folge dessen das Subjekt, wie dies oben beschrieben worden war, mit zunehAdornos Kritik richtet sich natürlich nicht nur gegen den Hegeischen Staat. Aber an ihm nimmt sie Maß und weist den Zusammenhang zur Identitätsphilosophie auf. Daß auch der moderne Staat, unabhängig von seiner je juristischen Auskleidung gemeint ist, verdeutlicht folgendes Zitat aus "Erziehung nach Auschwitz", GS 10, Bd. 2, S. 690 "Indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell schon gesetzt." 6 6 1

N D 329.

6 6 2

N D 334.

6 6 3

ND 333.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

185

mender Bemühung um seine Selbsterhaltung zum Objekt der Anpassung an das System der Selbsterhaltung werden muß; sondern weil sich unter dem gesellschaftlichen Trend der Staat als organisierte Wirkeinheit zum repräsentativen Statthalter der Selbsterhaltung der Gesellschaft entwickelt hat, realisiert sich auch die in der Selbsterhaltung als Naturfluch eingravierte Selbstverleugnung, die sich für Adorno metaphilosophisch als Nichtidentität der Gesellschaft und ihrer Philosophie erweist 6 6 4 , gerade durch das Verhältnis Staat und Individuum: "Durch diesen für die Individuen notwendigen Transfer ... tritt die allgemeine Rationalität unvermeidlich fast in Gegensatz zu den besonderen Menschen, die sie negieren muß, um allgemein zu werden . . . " 6 6 5 Dies zeigt sich für Adorno nicht nur daran, daß nach dem Maßstab Hegelianischer Philosophie die a priori für gut befundene Ordnung es nicht nötig habe, "vor denen sich verantworten zu müssen, die unter ihr leben 6 6 6 , sondern gerade auch dadurch, daß die Eingliederung der Menschen in diese Ordnung ihren ungemilderten Zwangscharakter offenbare: Hegels, "Gebot, die Individuen hätten sich dem substantiellen Sein ihres Volkes 'anzubilden, ihm gemäß zu machen', ist despotisch; war schon bei ihm unvereinbar mit der unterdessen ebenfalls überholten, gleichsam Shakespeareschen Hypothese, das geschichtlich Allgemeine realisiere sich durch die Leidenschaften und Interessen der Individuen hindurch, während es ihnen einzig so noch eingeübt wird wie das gesunde Volksempfinden denjenigen, die in seiner Maschinerie sich verfangen." 6 6 7

5.1.3.2.1.

Zum Zusammenhang zwischen der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, von Subjekt und Objekt sowie der Identitätsphilosophie im Hinblick auf das Problem von Staat und Freiheit; Kritik an Hegel

Die Unterwerfung des Besonderen unter die Gewalt des Allgemeinen folgt nach Adorno bei Hegel einer Logik, gemäß der "der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit" verschwindet, "indem der Staat, das Vaterland, eine Gemeinsamkeit des Daseins ausmacht, indem sich der subjektive Wille des Menschen den Gesetzen unterwirft . . . " 6 6 8

6 6 4

Vgl. oben AT 5.3.

6 6 5

N D 312. Daß dieser Gegensatz gerade durch die in den Individuen sich niederschlagende Tendenz verursacht wird, wurde schon in BT 5.1.3.1.3.4. dargelegt.

666

N D 3 3 1

6 6 7

N D 334; Hegelzitat, N D 334, Fn. 34.

6 6 8

Fn. 40, ND 344.

186

Besonderer Teil

Nicht nur dieses Ergebnis als solches aber greift Adorno an, sondern die logische Struktur, aus der es philosophisch sich konstruiert. War oben schon dargelegt worden, daß die im Rahmen der Identitätsphilosophie scheinbar gelingende Überwindung der Subjekt/Objektspaltung in der Hegeischen Philosophie zur Identität des Nichtidentischen und deshalb in der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem zum bloßen Vorrang des Allgemeinem gegenüber dem Besonderen führt 6 6 9 , so zeigt Adorno im Zusammenhang der zitierten Passage, daß er diese Konsequenz der Identitätsphilosophie Hegels gerade auch in seiner Rechtsphilosophie für das Verhältnis von Staat und Individuum 6 7 0 sieht: "Keine Interpretationskunst könnte wegdisputieren, daß das Wort Unterwerfung das Gegenteil von Freiheit meint. Ihre angebliche Synthesis mit der Notwendigkeit beugt sich der letzteren und widerlegt sich selbst." 671 Die Unmöglichkeit, Staat 6 7 2 und Recht 6 7 3 aus Freiheit zu begründen, wird ergänzt durch den Zwang, die Freiheit des Individuums im Staat durch seine Unterwerfung unter den Staat und seine Gesetze zu erreichen. Identitätsphilosophie gelangt ans Versöhnungsziel nur, indem Identität gewaltsam durch Wegschneiden des Nichtidentischen sich realisiert. Das ist für Adorno die Wahrheit der Hegeischen Staatsphilosophie. Denn "Geist als zweite Natur ... ist die Negation des Geistes und zwar desto gründlicher, je mehr sein Selbstbewußtsein gegen seine Naturwüchsigkeit sich abblendet. Das vollstreckt sich an Hegel." 6 7 4 6 6 9

f\lC\

Vgl. oben AT 5.3.2.

"Die Konstruktion des Subjekt-Objekts ist von abgründigem Doppelcharakter. Sie fälscht nicht nur ideologisch das Objekt in die freie Tat des absoluten Subjekts um, sondern erkennt auch im Subjekt das sich darstellende Objektive und schränkt damit das Subjekt anti-ideologisch ein. Subjektivität als existierende Wirklichkeit der Substanz reklamierte zwar den Vorrang, wäre aber als 'existierendes', entäußertes Subjekt ebenso Objektivität wie Erscheinung. Das jedoch müßte auch das Verhältnis von Subjektivität zu den konkreten Individuen affizieren. Ist Objektivität ihnen immanent und in ihnen am Werk; erscheint sie wahrhaft in ihnen, so ist die derart aufs Wesen bezogene Individualität weit substantieller, als wo sie dem Wesen nur untergeordnet wird. Vor solcher Konsequenz verstummt Hegel ... Der Mangel konkreter Bestimmtheit des Subjektivitätsbegriffs wird ausgebeutet als Vorteil höherer Objektivität eines von der Zufälligkeit gereinigten Subjekts; das erleichtert die Identifikation von Subjekt und Objekt auf Kosten des Besonderen. Darin folgt Hegel dem Usus des gesamten Idealismus, zugleich jedoch untergräbt er seine Behauptung der Identität von Freiheit und Notwendigkeit. Das Substrat der Freiheit, das Subjekt, ist vermöge seiner Hypostasis als Geist soweit distanziert von den lebenden seienden Menschen, daß ihnen die Freiheit in der Notwendigkeit gar nichts mehr fruchtet. Hegels Sprache bringt das an den Tag: 'Indem der Staat..."' N D 343/344. 6 7 1 N D 344.

679

Angesichts der den Subjekten wegen der objektiven Vormacht des gesellschaftlich Allgemeinen sowie ihrer eigenen Verschlungenheit in den Prozeß verdinglichter Objektivität (s. oben AT 5.2.4.4.2.3.) nicht positiv gegebenen Freiheit wurden auch "die staatsrechtlichen Institutionen ... von keinem bewußten Willensakt der Subjekte geschaffen." ND 350. 6 7 3 Vgl. dazu oben BT. 4.1. 6 7 4

ND 350.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

187

Die Reflexionsrelation beruht auf der Wirkung des Identitätsprinzips. Je absoluter im Idealismus sich Identität verwirklicht und Geist damit gegen seine eigene Naturhaftigkeit abblendet, desto stärker realisiert sich aus der Identität auch ein Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem, das nur noch durch den Vorrang des Allgemeinem gegenüber jedem Nichtidentischen gekennzeichnet i s t . 6 7 5 Selbstüberschätzung der Vernunft, Abblendung gegen Naturwüchsigkeit und Ideologiefunktion sind eins. Je weniger Geist Natur in der zweiten reflektiert, desto stärker gerade setzt diese sich durch. Das Scheitern der "Metaphysik der Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem in der Konstruktion der Wirklichkeit, als Rechts- und Geschichtsphilosophie" 676 wird so bei Hegel mit der Instauration des Zwangsprinzips bezahlt, dem alles Besondere sich fügt, noch wo Hegel "um Vermittlung sich bemüht. Seine Vermittlungskategorie, der Volksgeist, reicht in die empirische Geschichte hinein. Den einzelnen Subjekten sei er die konkrete Gestalt des Allgemeinen, aber seinerseits sei der 'bestimmte Volksgeist ... nur ein Individuum, im Gange der Weltgeschichte', Individuation höheren Grades, doch als solche selbständig. Gerade die Thesis von dieser Selbständigkeit der Volksgeister legalisiert bei Hegel, ähnlich wie später bei Durkheim die Kollektivnormen und bei Spengler jeweils die Kulturseelen, die Gewaltherrschaft über die einzelnen Menschen." 677

5.1.3.2.2.

Nation, Integration und Unterwerfung

Erfolgt die Unterwerfung des Besonderen unter das Allgemeine der Gesellschaft aufgrund der psychosomatischen Wirkweise des Tauschprinzips 678 nicht ohne die Bändigung der Inwendigkeit der Einzelnen, so stellt sie sich von außen betrachtet wesentlich als dialektisch ganzheitliche (mit Leib und Seele) Integration 679 der Einzelglieder in das objektiv gesellschaftliche Ganze dar. f\ 75 "Hegel zitiert nach einem Automatismus, über den die Geistesphilosophie nichts vermag, Natur und Naturgewalt als Modelle der Geschichte. Sie behaupten sich aber in der Philosophie, weil der identitätssetzende Geist identisch ist mit dem Bann der blinden Natur dadurch, daß er ihn verleugnet." N D 350. 6 7 6 ND 332. 6 7 7

N D 331/332, Hegelzitat, Fn. 31.

6 7 8

Vgl. BT 3.3.2. 4.1.2. unten BT 5.3. Vgl. zur Psychologie des Wertgesetzes auch schon Marx - Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehn, aus "Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie", Studienausgabe, hrsg. von Iring Fetscher 1990, Bd. II, S. 103/104.

679

"Uber den Kopf der formal freien Individuen hinweg setzt das Wertgesetz sich durch. Unfrei sind sie, nach der Einsicht von Marx, als seine unwillentlichen Exekutoren, und zwar desto gründlicher, je mehr die gesellschaftlichen Antagonismen anwachsen, an denen die Vorstellung von Freiheit erst sich bildete. Der Prozeß der Verselbständigung des Individuums, Funktion der Tauschgesellschaft, terminiert in dessen Abschaffung durch Integration. Was Freiheit produzierte, schlägt in Unfreiheit um." N D 259.

188

Besonderer Teil

Deshalb erscheint Adorno auch der Nationbegriff als Funktionselement im Integrationsvorgang des Gesellschaftlichen: "Aber Nation - Terminus wie Sache - sind jungen Datums. Eine prekäre zentralistische Organisationsform sollte die diffusen Naturverbände nach dem Untergang des Feudalismus zum Schutz der bürgerlichen Interessen bändigen. Sie mußte sich zum Fetisch werden, weil sie anders die Menschen nicht hätte integrieren können, die wirtschaftlich ebenso jener Organisationsform bedürfen, wie sie ihnen unablässig Gewalt antut. Vollends wo die Einigung der Nation, Vorbedingung einer sich emanzipierenden bürgerlichen Gesellschaft, mißlang, in Deutschland, wird ihr Begriff überwertig und destruktiv." 680 So führt gerade das spezifisch tragische Verhältnis des deutschen Volkes zu Begriff und Wirklichkeit seiner Nation zur Realität eines Staatsbegriffes, dessen radikalisierbares Identifikationspotential wesentlich gerade auf der Nichtidentität der Individuen mit dem Staat 681 beruhe: "In Deutschland konnten die Massen zwar zuzeiten mit dem Staat sich identifizieren wie mit einem starken und tyrannischen Vater. Identisch aber waren sie niemals mit ihm. Eben das nie überwundene Bewußtsein der Fremdheit zum Staat hat dann zur verbissenen Übersteigerung des Staatsglaubens unter dem autoritären Regime geführt. Dabei wußte das Regime von der Staatsfremdheit des deutschen Volkes ebenso zu profitieren wie von dessen Bereitschaft, den Staat, um ihn nicht hassen zu müssen, zum Gott zu erheben. Nicht umsonst hat das Dritte Reich die gesamte Maschinerie des Staates und seiner Beamten..verdoppelt. Damit sollte zugleich den Menschen das Gefühl der Staatsfremdheit genommen und ihre Unterordnung unter die Parteibürokratie, die 'dem Staat befahl', gefördert werden. Es wurde also die Staatsfremdheit zugleich real verstärkt und in der Ideologie verschleiert." 682

680

N

D

332/333.

681

Deutlich zu machen versucht Adorno dies im Vergleich zum Verhältnis des US-amerikanischen Volkes zu seinem Staat: "Niemals hat das deutsche Volk sich als identisch mit dem eigenen Staat gewußt. Stets empfand man ihn als günstigenfalls wohlwollende, weit eher jedoch bedrohliche, Steuern eintreibende, Kriege veranstaltende, jedenfalls fremde Macht. Man hatte zwar in der Periode des industriellen Aufschwungs allerhand Vorteile, durchweg jedoch mehr an Negativem vom Staat zu gewärtigen, selbst wenn man nicht zu den Schichten gehörte, die mit der Staatsmacht in unmittelbarem Konflikt lebten ... der amerikanische Staat wird zwar von seinen Bürgern als gesellschaftliche Organisationsform, nirgends aber als eine über dem Leben der Individuen schwebende, ihnen befehlende oder gar absolute Autorität empfunden." In Amerika haben "große Teile der Bevölkerung ..." "... doch nicht das Gefühl, der Staat sei etwas anderes als sie selbst, etwas außer ihnen, ein Sein an sich, und habe ihnen herrisch zu gebieten ..." Individuum und Staat. GS, Bd. 201,S. 290/291. 6 8 2

Individuum und Staat, GS, Bd. 201, S. 291, Hervorhebungen vom Verf.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

5.1.3.2.3.

189

Geistphilosophie und Ideologie

So geht der Vorwurf gegen Hegel insgesamt dahin, er habe durch die Konzeption solcher das Individuum unterwerfender Integrationsphilosophie bei gleichzeitiger Stimulanz der Individual- und Freiheitsrhetorik nichts anderes als die Ideologie der Weltgeschichte 683 abgeliefert: "Was den Volksgeistern, als Kollektivindividualitäten, von Hegel hypertrophisch zugemessen ward, ist der Individualität, dem menschlichen Einzelwesen entzogen. Sie wird bei Hegel, komplementär, zu hoch angesetzt und zu niedrig in einem. Zu hoch als Ideologie der großen Männer ... Je undurchsichtiger und entfremdeter die Gewalt des sich durchsetzenden Allgemeinen, desto ungestümer das Bedürfnis des Bewußtseins, sie kommensurabel zu machen. Dafür müssen die Genies herhalten, die militärischen und politischen zumal. Ihnen wird die Publizität der Überlebensgröße zuteil, die von eben dem Erfolg sich herleitet, der seinerseits aus individuellen Qualitäten erklärt werden soll, deren sie meist ermangeln. Projektionen der ohnmächtigen Sehnsüchte aller, fungieren sie als imago entfesselter Freiheit, schrankenloser Produktivität, wie wenn diese stets und überall zu verwirklichen wäre. Zu solchem ideologischen Zuviel kontrastiert bei Hegel ein Zuwenig im Ideal; seine Philosophie hat kein Interesse daran, daß eigentlich Individualität sei. Darin harmoniert die Doktrin vom Weltgeist mit dessen eigener Tendenz. ,>684 Möglich wurde Hegel diese ideologisierende Funktion Adorno zufolge nur deshalb, weil er entgegen der in manchen Passagen anklingenden Einsicht in das Recht des Nichtidentischen, "griechische Vorstellungen diesseits der Erfahrung von Individualität ..." mobilisiert, "die gesamte geschichtliche Dialektik" überspringt und damit "die antike Gestalt der Sittlichkeit" "ohne Zögern als die wahre" proklamiert, "die selber erst die der offiziellen griechischen Philosophie und dann die der deutschen Gymnasien war . . . " 6 8 5 "Um die Heteronomie des substantiell Allgemeinen zu vergolden", 686 sei bei Hegel "die Vernunft ..., das Vernehmen des göttlichen Werkes", und so

683 "Sein Weltgeist ist die Ideologie der Naturgeschichte. Weltgeist heißt sie ihm kraft ihrer Gewalt." N D 350. 6 8 4

N D 335/336, Hervorhebungen vom Verfasser.

6 8 5

ND 318.

6 8 6

N D 318. Das Beispiel, das Adorno bei Hegel anführt: "Denn die Sittlichkeit des Staates ist nicht die moralische, die reflektierte, wobei die eigene Überzeugung waltet; diese ist mehr der modernen Welt zugänglich, während die wahre und antike darin wurzelt, daß jeder in seiner Pflicht steht." N D 318, Fn. 12, zitiert aus Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1955, S. 115.

190

Besonderer Teil

müsse "der omnipotente Gedanke ... abdanken und als bloßes Vernehmen sich willfährig machen" 6 8 7

5.1.3.3. Staatsentstehung - Fiktion und Unfreiheit Aus der Vorstellung der gesellschaftlichen Vermitteltheit des Staates heraus betrachtet Adorno auch die vernunftrechtlichen Konzeptionen des Staatsvertrags und ihrer Theorie. Angesichts des Übergewichts realer Unfreiheit 6 8 8 erweisen sie sich als fiktional. Zwar wäre "ohne Gedanken an Freiheit... organisierte Gesellschaft theoretisch kaum zu begründen." 689 Doch hinter dem Interesse am Staatsvertrag, "den schon Hobbes und Locke schwerlich für real vollzogen hielten", 6 9 0 ging es "um die Vergottung der Geschichte . . . " 6 9 1 Wenn sich jedoch durch die Konzeption der Staatsvertragslehre gerade bei Hegel Geist als zweite Natur im formalrechtlichen Apriori des Gemeinwesen einnistet und dieser gerade deshalb mitsamt seiner Dialektik negiert w i r d 6 9 2 , indem "sein Selbstbewußtsein gegen seine Naturwüchsigkeit sich abblendet", führt die Konstruktion des Staatsvertrages wiederum zu mehr Unfreiheit, organisierte Gesellschaft "verkürzt dann wiederum Freiheit." 693 Der Notwendigkeit der Freiheitsbegründung entspricht insofern für Adorno gerade effektive Freiheitsverkürzung durch Staatsbegründung. Das Fortschreiten des Volksgeistes realisiert entgegen Hegel 6 9 4 weder Fortschritt im Sinne

6 8 7

/:qq

N D 318.

"Faktisch durchgängiger Determinismus sanktionierte, im Gegensatz zum Deterministen Hobbes, das bellum omnium contra omnes; jedes Kriterium von Handlungen entfiele, wenn alle gleich vorbestimmt und blind wären. Die Perspektive eines Äußersten wird aufgerissen; ob nicht darin, daß man um der Möglichkeit von Zusammenleben willen Freiheit fordert, ein Paralogismus steckt: damit nicht das Entsetzen sei, müsse Freiheit wirklich sein. Vielmehr ist aber das Entsetzen, weil noch keine Freiheit ist." N D 217. "Das Übel ist nicht, daß freie Menschen radikal böse handeln, so wie über alles von Kant vorgestellte Maß hinaus böse gehandelt wird, sondern daß noch keine Welt ist, in der sie, wie es bei Brecht aufblitzt, nicht mehr böse zu sein brauchten. Das Böse wäre demnach ihre eigene Unfreiheit: was Böses geschieht, käme aus ihr. Gesellschaft bestimmt die Individuen, auch ihrer immanenten Genese nach, zu dem, was sie sind; ihre Freiheit oder Unfreiheit ist nicht das Primäre als das sie unterm Schleier des principium individuationis erscheint." N D 218. 6 8 9 N D 217. 6 9 0 N D 315. "Die staatsrechtlichen Institutionen wurden von keinem bewußten Willensakt der Subjekte geschaffen." N D 350. 6 9 1

N D 315.

6 9 2

N D 350. "An der Hobbesschen Konstruktion des Staatsvertrags ließe beides sich zeigen." ND 217.

6 9 4

"Jeder einzelne neue Volksgeist ist eine neue Stufe in der Eroberung des Weltgeistes, zur Gewinnung seines Bewußtseins, seiner Freiheit. Der Tod eines Volksgeistes ist Übergang ins Leben, und zwar nicht so wie in der Natur, wie der Tod des einen ein anderes Gleichnis ins Dasein

5. Unrecht als unwahres Ganzes

191

der Entwicklung höheren Bewußtseins noch höhere Stufen des gemeinschaftlichen Freiheitsniveaus, sondern gerade mehr Unfreiheit. 695 Die zweite Natur des Staates erweist sich als Gleichnis der Gefangenschaft: "In den Abgrund blickend, hat Hegel die welthistorische Haupt- und Staatsaktion als zweite Natur gewahrt, aber in verruchter Komplizität mit ihr die erste darin verherrlicht. 'Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige, und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimung ausmacht, und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist.' Die erstmals in Lukacs' Romantheorie philosophisch wieder aufgegriffene zweite Natur bleibt aber das Negativ jener, die irgend als erste gedacht werden könnte. Was wahrhaft... ein wenn schon nicht von Individuen, so doch von ihrem Funktionszusammenhang erst Hervorgebrachtes ist, reißt die Insignien dessen an sich, was dem bürgerlichen Bewußtsein als Natur und natürlich gilt. Nichts, was draußen wäre, erscheint mehr jenem Bewußtsein; in gewissem Sinn ist auch tatsächlich nichts mehr draußen, nichts unbetroffen von der totalen Vermittlung. Darum wird das Befangene sich zu seiner eigenen Andersheit: Urphänomen von Idealismus. Je unerbittlicher Vergesellschaftung aller Momente menschlicher und zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit sich bemächtigt, desto unmöglicher, ans Gewordensein des Gespinsts sich zu erinnern; desto unwiderstehlicher der Schein von Natur. Mit dem Abstand der Geschichte der Menschheit von jener verstärkt er sich: Natur wird zum unwiderstehlichen Gleichnis der Gefangenschaft." 696

5.1.3.4. Staatsidealismus, Stillstandsdialektik und Sittlichkeitsideologie Wird im Hegeischen Begriff des Staates als "substanzielle Einheit, ... absoluter unbewegter Selbstzweck ... zur leeren Beteuerung entwertet, daß im Staat 'die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt' ...,"ohne vor denen sich verant-

ruft. Sondern der Weltgeist schreitet aus niedern Bestimmungen zu höheren Prinzipien, Begriffen seiner selbst, zu entwickelteren Darstellungen seiner Idee vor." Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1955, S. 73. 695 » j r o t z d e r allbekannten Definition der Geschichte hat denn auch Hegel keine Theorie des Fortschritts ausgeführt. Die Hegeische Wanderung des Weltgeistes von einem Volksgeist zum anderen ist die zur Metaphysik aufgeplusterte Völkerwanderung; diese freilich, ein über die Menschen sich Wälzendes, Prototyp der Weltgeschichte selbst, deren Augustinische Konzeption in die Ära der Völkerwanderung fiel. Die Einheit der Weltgeschichte, welche die Philosophie animiert, sie als Bahn des Weltgeistes nachzuzeichnen, ist die Einheit des Überrollenden, des Schreckens, der Antagonismus unmittelbar. Konkret ging Hegel über die Nationen anders nicht hinaus als im Namen ihrer unabsehbar sich wiederholenden Vernichtung ..." ND 335. 6 9 6

ND 350/351.

192

Besonderer Teil

Worten zu müssen, die unter ihr leben", 6 9 7 liegt das für Adorno maßgeblich in der Hegeischen Aufgabe der Dialektik durch die Unbeweglichkeit 698 der Staatskonzeption. Angesichts Hegels Appell, sich an den "inwendigen Organismus des Staates" 699 zu erinnern, klagt Adorno die falsche Identität der Staatsphilosophie an, die ihres eigenen Verfahrens, der Dialektik, verlustig gegangen sei: "Muß man 'die Idee für sich betrachten', nicht 'besondere Staaten', und zwar prinzipiell, einer umfassenden Struktur gehorsam, so steht der Widerspruch von Idee und Wirklichkeit wieder auf, den wegzudisputieren der Tenor des gesamten Werkes ist. Dazu schickt sich der ominöse Satz, es sei leichter Mängel aufzufinden, als das Affirmative zu begreifen; heute ist daraus das Geschrei nach der konstruktiven: sich duckenden Kritik geworden. Weil die Identität von Idee und Wirklichkeit von dieser dementiert wird, bedarf es gleichsamn einer ergebenen Sonderanstrengung der Vernunft, um jener Identität gleichwohl sich zu versichern; das 'Affirmative', der Nachweis positiv vollbrachter Versöhnung, wird postuliert, als superiore Leistung des Bewußtseins angepriesen, weil das Hegeische reine Zusehen zu solcher Affirmation nicht ausreicht. Der Druck, den Affirmation auf das ihr Widerstrebende, Wirkliche ausübt, verstärkt unermüdlich einen realen, den die Allgemeinheit dem Subjekt als dessen Negation antut. Beides klafft desto sichtbarer auseinander, je konkreter das Subjekt mit der These von der objektiven Substanzialität des Sittlichen konfrontiert wird."700 Staatsidealismus, Stillstandsdialektik und Sittlichkeitsideologie bilden die unverbrüchliche Einheit, die in eine als Weltgeschichte getarnte "Ideologie der Naturgeschichte" eingehen: "Weltgeist heißt sie ihm kraft ihrer Gewalt. Herrschaft wird absolut, projiziert aufs Sein selber, das da Geist sei. Geschichte aber, die Explikation von etwas, das sie immer schon soll gewesen sein, erwirbt die Qualität des Geschichtslosen. Hegel schlägt sich inmitten der Geschichte

6 9 7

698

ND 330/331, Fn. 28.

"Er vertraut nicht der Dialektik als Kraft zur Heilung ihrer selbst sich an, und desavouiert seine699 Versicherung der dialektisch sich herstellenden Identität." ND 331. 'Bei der Idee des Staates muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen, man muß vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott, für sich betrachten. Jeder Staat, man mag ihn auch nach den Grundsätzen, die man hat, für schlecht erklären, man mag diese oder jene Mangelhaftigkeit daran erkennen, hat immer, wenn er namentlich zu den ausgebildeten unserer Zeit gehört, die wesentlichen Momente seiner Existenz in sich. Weil es aber leichter ist, Mängel aufzufinden, als das Affirmative zu begreifen, verfällt man leicht in den Fehler, über einzelne Seiten den inwendigen Organismus des Staates selbst zu vergessen.' N D 329. 7 0 0

ND 329.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

193

auf die Seite ihres Unwandelbaren, der Immergleichheit, Identität des Prozesses, deren Totalität heil sei." 7 0 1

5.1.3.5. Vorrang der Gesellschaft vor dem Recht Absolute Vermittlung: Zum Verhältnis von Staat und Recht im Hinblick auf das Problem der Rechtsbegründung Daß dem Staat nur eine von der Gesellschaft vermittelte Rolle im Ganzen zukommt, betrifft auch das Verhältnis von Staat und Recht. Nicht nur positivistische Rechtsbegründungen, zumeist etatistische Ansätze der Rechtsbegründung par excellence, auch naturrechtliche Rechtskonzeptionen weisen dem Staat in Begründung, Legitimation und Durchsetzung von Recht eine wesentliche Rolle zu. Wenngleich die Funktion staatlicher Rechtsbegründung in diesen Ansätzen in dem Maße zurücktreten muß, in dem unmittelbar auf vorstaatliche, überstaatliche oder überhaupt metaphysische Konstruktionen zurückgegriffen wird, kommt doch insofern dem Staat auch in diesen Ansätzen zumeist noch eine zentrale Funktion zu, indem die Zuordnung rechtlicher Legitimation mittelbar über die Legitimierung einer staatlichen Rechtsordnung erfolgt. 7 0 2 Dies setzt auch in den naturrechtlichen Rechtsbegründungen weitgehend einen legitimierenden Vorrang des Staates vor dem positiven Recht voraus. In Adornos Philosophie verschwimmt der Unterschied von Staat und Recht aber in doppelter Hinsicht: Einerseits insofern, als auf dem Hintergrund einer auf das Ganze der Unwahrheit gehenden Philosophie gerade jede Legitimationswirkung des Staates auf positives Recht geleugnet und andererseits Staat und Recht aus dieser ontologischen Perspektive gleichgeordnet kritisiert werden müssen. Das schließt von vornherein die Reflexion und auch Kritik einer formalrechtlichen Rückbindung des Rechts an den Staat in dem Maße aus, als sich Rechtsbetrachtung auf gesellschaftsphilosophische Gerechtigkeitsbetrachtung ausdehnt und dann auf diese Ausdehnung gerade reduziert. Diese Reduktion ist nicht eine des Handhabungsbereichs möglicher Folgen der kritischen Betrachtung oder der betrachteten Phänomene in ihrem Verhältnis zur rechtsphilosophischen Wahrheit. Es ist die der Radikalität, mit der Adorno den der rechts-

7 0 1

N D 350.

7 0 2

Vgl. z.B. Hegel, Grundlagen der Philosophie des Rechts, § 3, THWS, Bd. 7: "Das Recht ist positiv überhaupt a) durch die Form, in einem Staate Gültigkeit zu haben, und diese gesetzliche Autorität ist das Prinzip für die Kenntnis desselben, die positive Rechtswissenschaft ..." 13 M. Becker

194

Besonderer Teil

philosophischen Betrachtung zugrundegelegten Wahrheitsbegriff mit dem der kritischen Sozialphilosophie identisch zu behaupten hat. Es handelt sich um dieselbe Implikation, mit der er in den staatsphilosophischen Statements an Stelle des Staatsbegriffes überhaupt nur vom Ganzen in Kritik, insbesondere der Rechtsphilosophie Hegels spricht und von einer eigenen, dem Ganzen zugeordneten rechtsphilophischen Terminologie genauso absieht wie von einem von ihm zu trennenden eigenen Wahrheitsbegriff. Der Grund für diese Radikalität ist natürlich nicht außerhalb der Philosophie Adornos oder der Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht, zu suchen. Er liegt in der Annahme totaler Vermitteltheit allen gesellschaftlichen, damit auch staatlichen und rechtlichen Lebens durch das Tauschprinzip. Erscheinen Recht und Staat bei Adorno damit als wirkliche, wegen der nichtidentischen Realisationsform des Identitätsprinzips aber wesentlich unwahre - Verwirklichungen des Identitätsprinizips, so wird das Verhältnis von Staat und Recht im Denken Adornos notwendig in das von Tauschprinzip und materialer Gerechtigkeit übertragen. Positives Recht ist, wie der Staat selbst in der Kategorie des Ganzen, nicht mehr unter dem Aspekt seiner Zuordnung zur Existenz des Staates oder verfassungsrechtlicher Grundlagen, sondern unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit der rechtlichen Emanationsformen des Identitätsprinzips zu betrachten. Die Staatsphilosophie geht bei Adorno in der Rechtsphilosophie, diese in negativer Dialektik, der philosophischen Kritik der Ontologie der identischen Gesellschaft, auf. Dies ist der Grund, warum bei Adorno vom Staat überwiegend nur insofern explizit die Rede ist, als er ihn als ideologische Illusionsform der substantiellen Sittlichkeit, insbesondere bei Hegel kritisiert. Implizit wird der Staatsbegriff dem Begriff des Ganzen subsumiert, in dessen Kritik unter dem Gesichtspunkt deç Unwahrheit des Identitätsprinzips sich die Rechtsphilosophie Adornos zurückgezogen hat.

5.1.3.6. Perspektiven für das Verhältnis von Individuum und Staat Nach dem Gesagten ist es interessant, daß sich bei Adorno auch versöhnliche Stellen finden, bei denen nicht nur ein kluger, sondern wesentlich ein moderaterer Ton für das Verhältnis von Individuum und Staat angestimmt wird als bei dem überwiegenden Teil der zitierten Texstellen. Eine überraschende Stelle findet sich in "Individuum und Staat": Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches bestehe die Gefahr, "daß in diesem Zustand aufs neue die Bereitschaft der Individuen heranwächst, sich selbst zu durchstreichen und despotischen Staatsmächten, gleichgültig welcher

5. Unrecht als unwahres Ganzes

195

Farbe, sich zu überlassen, da sie einzig von der Macht und Größe der Organisation sich überhaupt noch etwas versprechen. Das wäre Hohn auf die Versöhnung von Staat und Individuum, die bloße Verneinung und Unterdrückung des Individuellen, in der der alte Gegensatz sich verewigt. Darum ist in Wahrheit die Aufforderung zur Teilnahme an staatlichen Dingen nicht so leer, wie sie in den Ohren der Menschen klingt. Vom Bewußtsein der Notwendigkeit, ihren Staat selber zu formen, wird schließlich in der Tat ihr eigenes Schicksal abhängen. Die Lethargie dem Staat gegenüber ist keine Naturqualität, sondern wird zergehen, sobald dem Volk vor Augen steht, daß es wirklich selber der Staat ist und daß dieser kein spezialistisches Ressort der Politik bildet, das Fachleute für den Rest der Menschheit verwalten sollen. Um dieses lebendige Bewußtsein zu kräftigen, kommt es vor allem darauf an, Einsicht in die wahren Zusammenhänge zwischen öffentlichen Wesen und dem individuellen Schicksal zu erwecken. Die Blindheit des individuellen Schicksals rührt ja selber in weitem Maße davon her, daß die Individuen sich als bloße Objekte verkennen und sich nicht als Träger der Geschichte wissen. Diesen Schein gilt es fortzunehmen." 703

5.1.4. Das Abstrakte Recht: Person und Freiheit Die Bezeichnung "abstraktes Recht" bezieht sich einerseits auf das weiter unten zu behandelnde Verständnis des positiven Rechts, insofern sich dieses als Abstraktum auf die von ihm gedanklich getrennte Wirklichkeit bezieht. Doch weist der Ausdruck über eine allzu enge Bindung an ein präsupponiertes Verständnis positiven Rechts auf eine begriffliche Rechtskategorie hin, die, zwar durch vielerlei positives Recht verwirklicht, nicht in vereinzelten Normen das abstrakte Recht der Person darstellt, sondern sich als rechtskonstruktives Thema der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt ausweist. Insofern handelt es sich vom Abstraktionsgrad her um eine höhere Vermittlungsstufe als das positive Recht, in dem es sich konstituiert; denn das Verhältnis von Abstraktionsgrad zu Vermittlungsgrad bestimmt sich bei Adorno in genauem Gegensatz zu Hegel. Bei Adorno erscheint das abstrakte Recht als kritischer Ausdruck der stillstehenden Dialektik Hegels, während sie nach dessen Konzeption vom Abstrakten, Vermittelten zum konkret Vermittelnden, der Totalität der Vermittlung als dem Weltgeist fortschreitet. Bei Hegel ist die hö-

7 0 3 Individuum und Staat, GS, Bd. 20 I, S. 292, Hervorhebungen vom Verf. Unter den wissenschaftlichen Aufgaben sei deshalb "die wichtigste, die Erkenntnis des im rein Institutionellen unlösbaren Problems von Individuum und Staat von seiner Wurzel, dem Lebensprozeß der Gesellschaft her zu fördern." Ebd., S. 292.

196

Besonderer Teil

here Stufe der Vermittlung jeweils wahrer als die in ihr aufgehobene. Insofern kann er sie auch als wirklicher und nur deshalb wiederum auch als konkreter als die aufgehobene begreifen. 704 Als Resultat der negativen Dialektik Adornos erscheint jedoch gerade das abstrakte Recht in seiner Unwahrheit als wirklich. Denn eine Aufhebung in ein Höheres und Wahreres findet für Adorno gerade nicht statt. Gedanklich kann man das abstrakte Recht auf der Ebene der Gestalt gewordenen Rechtsidee ansiedeln. Auf dieser Ebene wird das Recht der Person beispielsweise in der Rechtsphilosophie Hegels behandelt und von Adorno als ideologisch angegriffen. Das Unrecht der Person 705 kann denn auch als Zentralproblem der rechtsphilosophischen Denkansätze bei Adorno betrachtet werden. Dies fügt sich nicht lediglich in einen letztlich erkenntnisphilosophisch begründeteten sozialphilosophischen Ansatz der Annahme objektiver Vermitteltheit des Besonderen durch die Gesellschaft ein, sondern entspricht sowohl der Bedeutung der anthropologischen und erkenntnisphilosophischen Grundannahmen der idealistisch rechtsphilosophischen Tradition und ihrer Kritik, wie dem Interesse Adornos, um der Freiheit willen die geistige und faktische objektive Last der Lebensmöglichkeiten des Subjekts zu benennen und in ihre relevanten Vermittlungssegmente hinein aufzuspüren. Den Ausdruck 'abstraktes Recht der Person' verwendet Adorno jedoch wegen des tief ansetzenden Einwandes gegen die Substantialität der Person nur polemisch als "Individualismus, das abstrakte Recht, den Begriff der Person" 706 gegen dessen Verfechter, insbesondere Hegel. Damit geht einher, daß die Kritik sich nicht so sehr auf die näheren juristischen Ausgestaltungen, sondern auf den verdinglichenden Zustand der bürgerlichen Gesellschaft als unabdingbare Voraussetzung ihrer rechtsphilosophischen und positivrechtlichen Gestaltung bezieht. Die diesen Zusammenhang explizit unter der Terminologie des abstrakten Rechts zumindest streifenden Textstellen erscheinen im Vergleich zu den für Adorno geradezu signifikanten Ausführungen aus nahezu allen anderen Bereichen der Philosophie im Verhältnis zur Bedeutung der Problematik auf den ersten Blick als kärglich.

7 0 4 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie, THWS, Bd. 7, § 30, § 31 Zusatz, § 34 Zusatz. Vgl. auch unten BT 5.2.4.2. 7 0 5 Das "alte Unrecht, Ich überhaupt zu sein" Noten zur Literatur I, GS, Bd. 11, S. 120; vgl. auch unten insbesondere BT. 5.2.1.

7 0 6

DdA 157, vgl. ähnlich auch Individuum und Staat, GS, Bd. 201, S. 449.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

197

Insofern die hier im allgemeinen Teil unter dem Gesichtspunkt der Subjektwerdung entwickelte Anthropologie Adornos als bestimmte Kritik der Hegelschen Position verstanden werden muß, kann aber die für Hegel wichtige Kategorie auch bei Adorno rechtsphilosophisch nur im Gesamtblick seines Denkens als Kritik an Hegel erörtert werden. Da sie sich nur als begriffener Inhalt eines Problemzusammenhanges von principium individuationis sowie seiner Wirklichkeit mit der Freiheitsthematik darlegen läßt, ergibt sich das Vorgehen aus diesen beiden Aspekten. Ihr Zusammenhang weist dem aus ihnen sich bildenden "abstrakten Recht" den Weg zum Begriff.

5.1.4.1. Principium individuationis Die Hypostasierung des principium individuationis 707 zum Bürgerrecht 708 mit dem ihm zugehörigen Besitz und Eigentumsrecht hat für Adorno schon deswegen den Chararakter des Unrechts, weil die Auskleidung der ohnehin schon statischen, den ständigen Wechsel und die Spannung von Identität und Nichtidentität der Person in ihrem konkreten Lebensprozeß nicht berücksichtigenden Idee der Person die Statik gerade verdoppelt. Denn das Moment des Festhaltens, der Identität des genau zu bestimmenden Inhaltes der personalen Attribute gegen die Erfahrung des in Antagonismen des Ganzen 709 verfangenen Lebens wird zum Herrschaftsmoment rechtlicher Sanktionierung verdinglicht. So ist der rechtsphilosophische Kern der Kritik Adornos an der Hypostasierung des principium individuationis der Vorwurf der statischen Verrechtlichung der Rechtsidee in der Sphäre der Philosophie um den Preis der tatsächlichen Entrechtung des lebendig um Selbsterhaltung kämpfenden Einzelnen. Anders gesagt: Gerade weil dem Einzelnen das Recht der Person mit ihren Implikationen der Behauptung von Willensfreiheit und Gewissen abstrakt und starr als philosophische Idee vorgehalten werde, sei der Einzelne angesichts des 707 Den Ausdruck Hypostasis verwendet Adorno meistens im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen "Prinzip unreflektierter Selbstbehauptung, selber das schlecht Allgemeine," N D 279; vgl. auch N D 317. Da sich aber das Individuatuionsprinzip als monotone "Beschränkung jedes Einzelnen aufs partikulare Interesse" ND 342 und diese als Verwirklichung des Tauschprinzips erweist N D 337, welches wiederum "urverwandt mit dem Identifikationsprinzip" ist N D 149, so bezieht sich der Ausdruck ungeschmälert auf alle diese zusammenhängenden Prinzipien. Das Abstrakte setzt sich als Allerrealstes durch. Die Beschränkung des Rechts gewinnt Wirklichkeit wegen seiner sich auf eben diese Beschränkung zusammenziehenden Allgemeinheit. 7 0 8 DdA 199/200. 7 0 9

ND 305/306, 310, 312.

198

Besonderer Teil

objektiv dämonischen Antagonismus, über den er nichts vermag, in seinem Kampf um Überleben und Subjektivität ins reale Unrecht gesetzt. Die Unwahrheit der abstrakten Idee des Individualismus erweist sich nicht nur, sie realisiert sich auch unwahr. 7 1 0 Im geschlossenen System der Selbsterhaltung vermag der Einzelne sich folgerichtig auch nicht gerade dadurch als Person zu bestimmen, weil er einer bloß behaupteten Freiheitssphähre 711 ihren äußeren rechtlichen Ausdruck, Eigentum und Besitz als Anspruch auf Naturherrschaft im sozialen Kontext hinzufügt. Wird nämlich Identität des Subjekts wegen der Voraussetzung seiner Selbsterhaltung gerade in der Bedingung und durch den Fortgang seiner systematischen Verwirklichung bedroht, 712 steht es als theoretisches und empirisches überhaupt in Frage und muß es sich aufgrund der gesellschaftlichen Vermittlung eher als Objekt denken lassen, 713 so vermag auch das Eigentum, in dem sich der äußere Herrschaftsanspruch über die Natur normiert, die nicht realisierte Subjektivität weder zu konstituieren noch zu ergänzen. 714

Das wiederum ist ihre Wahrheit: " Soviel ist wahr ... an der Hegeischen Insistenz auf der Allgemeinheit des Besonderen, daß das Besondere in der verkehrten Gestalt ohnmächtiger und dem Allgemeinen preisgegebener Vereinzelung vom Prinzip der verkehrten Allgemeinheit diktiert wird." N D 338. Vgl. auch schon oben A T 5.3.2. und die sich bloß exemplarisch auf Scheler und Kant beziehende Stelle: "daß in vollendeter Abstraktion Menschen unter willkürliche Begriffe subsumiert und danach behandelt wurden, wischt nicht den Makel weg, der das Wort konkret seitdem befleckt. Dadurch wird aber nicht die Kritik an der abstrakten Moralität rückgängig gemacht. Sie so wenig wie die angeblich materiale Wertethik kurzfristig ewiger Normen langt zu angesichts der fortwährenden Unversöhntheit von Besonderem und Allgemeinem. Zum Prinzip erkoren, wird die Berufung aufs eine so gut wie aufs andere Unrecht am Entgegengesetzten. Die Entpraktizierung von Kants praktischer Vernunft, ihr Rationalismus also, und ihre Entgegenständlichung sind verkoppelt; erst als entgegenständlichte wird sie zu jenem absolut Souveränen, das in der Empirie ohne Rücksicht auf diese, und auf den Sprung zwischen Handeln und Tun, soll wirken können." ND 235. 711 Vgl. zur Kritik bürgerlicher Freiheitsphilosophie schon oben BT 3.2.; zum Zusammenhang7 von Freiheit und Recht der Person bei Hegel unten 5.2.4.2. 1 2 ND 305 und 306; 310, 312, vgl. AT 5.1.3.1.2.1. sowie AT 5.2.4.4.1. und AT 5.3.

71 α

Der Einzelne "bestimmt sich nur noch als Sache, als statistisches Element, als succès or failure.." DdA 45. Vgl. ausführlich oben: Aufgrund der gegenseitigen Vermittlung von Gesellschaft und Subjekt vermag das "Subjekt" sich entweder nur als bloß abstrakt identisch mit dem allgemeinen Prinzip der Selbsterhaltung oder als vereinzeltes Objekt darzustellen AT. 5.2.4.4. Vgl. a. Tichy 1977, S. 28. 7 1 4 Wie das bei Hegel aufgrund seines tauschorientierten Arbeits- und Eigentumsbegriffes (vgl. schon oben AT, Fn. 402) der Fall ist. Bei Hegel läßt sich dabei insbesondere die sozial- und rechtsphilosophische Beziehung seines Denkens zu seiner Erkenntnisphilosophie aufweisen. Der bereits auf die Zirkulationssphäre hin gedachte Eigentumsbegriff begründet nicht nur die Synthesisleistung des erkennenden Subjekts und somit die zum Selbstbewußtsein ihrer selbst gelangende Subjektivität. Er ermöglicht mit der gelingenden Synthesis auch die bürgerliche Stellung der gegenseitigen Eigentümeranerkennung.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

199

Folglich können auch die Eigentumsverhältnisse - im Gegensatz zum deshalb als urbürgerlich taxierten M a r x 7 1 5 - für die Zukunft einer gerechten Gesellschaft keine Rolle spielen. Denn es kommt, wenn nicht das Identitätsprinzip und sein Vermittlungspotential selbst infrage gestellt wird, gerade nicht darauf an, wem der "Profit" einer sich verdinglicht fortfressenden Selbstverleugnung nach Maßgabe losgelassener partikularer Rationalität der Selbsterhaltung 716 als Eigentümer zukommt. So verstanden müßte der Rechtsbegriff Adornos materiell und dialektisch auf die Besonderheit des Einzelnen eingehen: Recht wäre, was ihm ermöglichte, wirklich Subjekt zu werden.

5.1.4.2. Exkurs: Zu Hegels Begriff des abstrakten Rechts und zum Recht der Person in seiner Philosophie Bei Hegel entwickelt sich der Begriff des Rechts als zu dem Selbstbewußtsein ihrer Idee kommende Freiheit. Wenn es heißt, "daß ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. - Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee" 7 1 7 , ist damit die vollkomene Durchdringung von Dasein und Begriff gegen die bloß für sich bleibende, der Wirklichkeit entgegengetretende subjektive Idee oder gar Emotion 7 1 8 gemeint. 719

"Marx hat die These vom Primat der praktischen Vernunft von Kant und dem deutschen Idealismus empfangen und geschärft zur Forderung, die Welt zu verändern anstatt sie bloß zu interpretieren. Er hat damit das Programm absoluter Naturbeherrschung, ein Urbürgerliches, unterschrieben. Das reale Modell des Identitätsprinzips schlägt durch, das als solches vom dialektischen Materialismus bestritten ist, die Anstrengung, das dem Subjekt Ungleiche ihm gleichzumachen." N D 242. 7 1 6

Vgl AT 5.1.3.1.2.

7 1 7

§ 29, Grundlagen der Philosophie des Rechts, THWS, Bd. 7.

718

"Die, welche philosophisch vom Recht, Moralität, Sittlichkeit sprechen, und dabei das Denken ausschließen wollen und an das Gefühl, Herz und Brust, an die Begeisterung verweisen, sprechen damit die tiefste Verachtung aus, in welche der Gedanke und die Wissenschaft gefallen ist ..." §71Q 21 der Grundlagen der Philosophie des Rechts, THWS, Bd. 7. "Die Einheit des Daseins und des Begriffs, des Körpers und der Seele ist die Idee. Sie ist nicht nur Harmonie, sondern vollkommene Durchdringung. Nichts lebt, was nicht auf irgendeine Weise Idee ist. Die Idee des Rechts ist die Freiheit, und um wahrhaft aufgefaßt zu werden, muß sie in ihrem Begriff und in dessen Dasein zu erkennen sein." a.a.O., § 1.

200

Besonderer Teil

Dem zum Selbstbewußtsein 720 solcher idealen Durchdrungenheit von Dasein und Begriff gelangenden Recht eignet wegen seiner selbst gewußten Vernünftigkeit Heiligkeit. 7 2 1 Doch schreitet der Gang der begrifflichen Entwicklung der Freiheit von abstrakteren Stufen bloß subjektiven Willens 7 2 2 über die gegenseitige Anerkennung der Subjektivität 723 bis zum absoluten und konkretesten Selbstbewußtsein, der völligen Entfaltung der Momente der Idee in der Wirklichkeit ihrer Bestimmung, dem Weltgeiste, fort. 7 2 4 Der dialektische Stufengang bringt es mit sich, daß die sich in ihm aufhebenden Stufen gegenüber der völligen Entfaltung der Idee der Freiheit relativ als substanzlos 725 erscheinen, obwohl sie alle Momente der Entwicklung wie im Keim in sich tragen. Diese Substanzlosigkeit und Unwirklichkeit ist von Hegel als Nichtentfaltung des Selbstbewußtseins, nicht vollkommener Durchdrungenheit von Dasein und Begriff als Idee, somit im spekulativen Sinne, 7 2 6 gemeint. Der gegenüber der höheren Stufe anhaftende Mangel selbstbewußter Freiheitsidee 727 entspricht dem Zurückbleiben der jeweils niederen Stufe hinter der ihre Totalität nicht aus sich heraussetzenden, bloß an sich bleibenden und daher noch vorläufigen Bestimmung: "Die vollendete Idee des Willens wäre der Zustand, in welchem der Begriff sich völlig realisiert hätte und in welchem das Dasein desselben nichts als die Entwicklung seiner selbst wäre. Im Anfang ist der Begriff aber abstrakt, das heißt alle Bestimmungen sind zwar in ihm enthalten, aber auch nur enthalten; sie sind nur an sich und noch nicht zur Totalität in sich selbst entwickelt." 7 2 8 Auf diese Weise läßt sich nicht nur der formal hierarchische Aufbau des Rechts in seinem Geltungsanspruch, sondern auch die diesem Formalismus zugrunde720 Dies Selbstbewußtsein, das durch das Denken sich als Wesen erfaßt, und damit eben sich von dem zufälligen und Unwahren abtut, macht das Prinzip des Rechts, der Moralität und aller Sittlichkeit 721 aus. a.a.O., § 21. "Das Recht ist etwas Heiliges überhaupt, allein, weil es das Dasein des absoluten Begriffs, der selbstbewußten Freiheit ist." a.a.O., § 30, Grundlagen der Philosophie des Rechts, THWS, Bd. 7. 7 2 2 A.a.O., § 34. 7 2 3

A.a.O., § 40 b).

7 2 4

A.a.O., § 31 C.

7 2 5

A.a.O., § 30.

T)f\

"alles Wahre,insofern es begriffen wird, kann nur spekulativ gedacht werden" a.a.O., § 7. "Die Idee des Rechts ist die Freiheit, und um wahrhaft aufgefaßt zu werden, muß sie in ihrem Begriff und in dessen Dasein zu erkennen sein" a.a.O., § 1, Anm 715. 727

7 2 8

A.a.O., § 34.

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201

liegende Abstufung des idealen Gehaltes des sich ranggemäß ordnenden Rechts begreifen. Er "entsteht aus dem Unterschiede der Entwicklung des Freiheitsbegriffs. Gegen formelleres, d.i. abstrakteres und darum beschränkteres Recht hat die Sphäre und Stufe des Geistes, in welcher er die weiteren in seiner Idee enthaltenen Momente zur Bestimmung und Wirklichkeit in sich gebracht hat, als die konkretere in sich reichere und wahrhafter allgemeine eben damit auch ein höheres Recht." 7 2 9 So hat jede Stufe "der Entwicklung der Idee der Freiheit... ihr eigentümliches Recht, weil sie das Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen i s t . " 7 3 0 In Kollision können verschiedene Rechte somit nur kommen, "insofern sie auf gleicher Linie stehen, Rechte zu sein" 7 3 1 , nicht aber, insofern sie sich auf ein solches höheres Recht im Sinne weiter entwickelter Entfaltung des Daseins und Begriffs der Freiheitsidee beziehen. Denn die Kollision auf gleicher Linie stehender Rechte "enthält zugleich dies andere Moment, daß sie beschränkt und damit auch eins dem andern untergeordnet ist; nur das Recht des Weltgeistes ist das uneingeschränkt absolute." 732 Die Heiligkeit des Rechts ist aber damit keine allgemeine, sondern bezieht sich von vornherein auf die Totalität der Entfaltung der Freiheitsidee, wie sie Hegel auf die Wirklichkeit des Staates hin denkt. Nur insofern das Besondere zum Bewußtsein seiner Freiheitsidee auf der Stufe der ihm von Hegel zugewiesenen Kollisionsfähigkeit kommt, ist es rechtlich zumindest gleichgestellt. Im Angesicht der Sittlichkeit des Staates verdünnt sich dieses Recht zur Substanzlosigkeit: "weil wir eben das Wahre in Form eines Resultates sehen wollen, und dazu wesentlich gehört, zuerst den abstrakten Begriff selbst zu begreifen. Das, was wirklich ist, die Gestalt des Begriffs, ist uns somit erst das Folgende und Weitere, wenn es auch in der Wirklichkeit selbst das erste wäre. Unser Fortgang ist der, daß die abstrakten Formen sich nicht als für sich bestehend, sondern als unwahre aufweisen." 733 Daraus ließe sich folgern, daß das horizontale 'Kollisionsrecht' - zumindest in der vertikalen Linie - aufgehoben und zum Nichtrecht wird. Denn es ist, während es auf der horizontalen Linie der Kollision mit gleichrangigem Recht 729 A.a.O., § 30, Hervorhebungen vom Verfasser. 730 Ebd. 731 Ebd. 732 Ebd. 733 Zusatz zu § 31, a.a.O.

202

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wahr und Recht ist, in vertikaler Linie unwahr und nicht unmittelbar, sondern nur in seiner Vermitteltheit durch die Totalität wirklich. Aus dem Hegeischen Begriff der Wirklichkeit heraus erfolgt jedoch die genau entgegengesetzte Aussage: Weil das Besondere in seiner Entfaltung als Teil des Ganzen auch an dessen Wirklichkeit Teil hat, ist es in dieser Hinsicht selbst auch wirklich, vernünftig. 7 3 4 Nur für sich genommen, die Wirklichkeit des Ganzen ausgeblendet, wäre es wirklich nichts. Die gelingende Konstruktion des Staates als Substanz der Sittlichkeit läßt insofern auch das Besondere Teil haben am emphatischen Begriff der Freiheit, der zu seinem Selbstbewußtsein und der Heiligkeit seines Daseins gelangt ist, auch wenn der mit Bewußtsein dafür gezahlte Preis die vorweg bestimmte notwendige Abhängigkeit des Besonderen in seiner Wirklichkeit von der des Staates ist.

5.1.4.3. Das abstrakte Unrecht der Person, Kritik an Hegel: Naturreproduktion und Noch-Nicht des Rechts; Gesellschaftsnatur und Negation des Rechts der Natur Bei Adorno wird dagegen überhaupt das abstrakte Recht selbst von der Totalität des Ganzen angesteckt. Auch auf der horizontalen Ebene ist kein Recht, das nicht wesentlich Unrecht wäre. Während die Hegeische harmonisierende Totalität des vorweg zum Höheren aufgehobenen Gegensatzes auch auf derselben Ebene Recht - z.B. als abstraktes Recht - zuläßt, ist für Adorno die Lage nämlich umgekehrt: Ist das Ganze, die Einheit, schon die Spaltung, können die Monaden auch gegeneinander nicht im Recht, sondern müssen sie allesamt im Unrecht sein. Sie sind dies aber gerade nicht erst bloß in ihrem sozialen Verhältnis möglicher Anerkennung bzw. Nichtanerkennung. Denn der status iniuriàe entwickelte sich bereits als verinnerlichter des je isolierten Selbst. 735 Da andererseits die Verinnerlichung des Tauschprinzips in der Vorgängigkeitskonstruktion der Dialektik der Aufklärung sich gerade als Vormacht des falsch Allgemeinen in den Sub7 3 4 Der Staat "hat aber ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlickeit, als es ein Glied desselben ist." § 258, a.a.O. Wichtig ist hier, daß es als Glied eben Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit habe. 735 Vgl. zur Konzeption der Rechtsgenese in der DdA schon oben AT 4.1. Die Verinnerlichung des Unrechtsstatus und der Naturfluch, aus dem sie sich ableitet, läßt auch eine Deutung der Philosophie Adornos zu, die sie als zvilisationskritische Ausprägung des jüdischen Erbschuldgedankens versteht: "Was immer der Einzelne oder die Gruppe gegen die Totalität unternimmt, deren Teil sie bildet, wird von derem Bösem angesteckt, und nicht minder, wer gar nichts tut. Dazu hat die Erbsünde sich säkularisiert." ND 241.

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203

jektmonaden verdichtet, ist in der Tat das objektiv vermittelte Ganze die Totalität abstrakten Unrechts. Die Negativität der Betrachtung bei Adorno erweist sich insofern als rückwärts gewendete Auflösung der vorwärts gedachten, sich zum Ganzen aufhebenden Wirkung der positiv Hegeischen Totalität durch den denunziatorischen Einwand nicht erfolgender Lösung des Gegensatzes von Allgemeinem und Besonderem. 736 Das Identische des Ganzen stiftet auch horizontal nicht Frieden, sondern gerade Antagonismus. Wer sich im Naturfluch befindet, wird auch nicht durch die "ergebene Sonderanstrengung der Vernunft" ins heilige Reich der Harmonie geführt, das sich real als Kampfarena der Selbsterhaltung erweist. 737 Dem Begriff abstrakten Unrechts bei Adorno lassen sich im Gegensatz zu Hegel z w e i 7 3 8 Bedeutungsschichten abgewinnen: Einerseits bedeutet Unrecht im spekulativen Sinne die bloße Abwesenheit geschichtlich verwirklichter Versöhnung von Subjekt und Objekt, Mensch und Natur. Das abstrakte Unrecht der Person bezeugt die Abwesenheit wirklicher Subjektivität, die Abwesenheit eines Rechts des einzelnen besonderen Subjekts. Dieses ist spekulativ noch nicht verwirklicht, sondern gefangen in Natur, insofern die Gesellschaft als Verlängerung der Bestimmungen des Naturbegriffs, als Zirkel von Herrschaft, Vergängnis und Selbsterhaltung 739 erscheint, und damit noch nicht als Recht. Die in der Dialektik der Aufklärung beschrie-

H'lfL Vgl. zur Nichtidentität des gesellschaftlich Ganzen aufgrund des Vorrangs der Identität oben737 insbesondere AT 5.3. Nur scheinbar steht dabei für Adorno so wie bei dem von ihm kritisierten Hegel das rechtsphilosophische Endergebnis - aber eben negativ - fest. Vielmehr handelt es sich eher um eine Spannung entgegengesetzter Momente, von Wahrheit und Unwahrheit der Rechtsphänomene und der Entwicklung von Recht und Staat innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Allein wenn der Vorrang des abstrakten Rechts, insbesondere der Person betrachtet wird, kann, wie sich zeigen wird, von einem abstrakten Unrecht gesprochen werden. Dies mag auch daran liegen, daß gerade das Festhalten des abstrakten Personrechts gegenüber den Antagonismen des Ganzen als besonders krasses Unrecht der Abstraktion erscheint. Die Negation lebt in diesem Falle sehr wenig dialektisch von der Voraussetzung, die sie negieren will und fallt selbst in eine bloße Abstraktion des Unrechts zurück. Im Gegensatz zu Hegel, bei dem sich der Unrechtsbegriff aus der Negation des Rechtswillens ergibt, vgl. § 82 der Rechtsphilosophie. Insoweit handelt Hegel das Verbrechen folgerichtig unter dem Gesichtspunkt der Negation des Rechtswillens ab. Das Staatsverbrechen erscheint als Ausdruck eines entfesselten Fanatismus, als eine Art säkularen Hinduismus, der sich als nicht zu sich selbst gekommene, nicht dialektisch voll entwickelte Form der Subjektivität erweist, die sich gegen die Sittlichkeit des Ganzen wendet. Da Sittlichkeit und Wahrheit beim Ganzen liegen, muß Unrecht als Zurückbleiben hinter dem Entwicklungsgang des absoluten Ganzen verstanden werden.

Zu diesen Bestimmungen des Naturbegriffes vgl. AT 5.1.2.1.

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bene Naturreproduktion führt in diesem Sinne historisch und spekulativ zu einem Noch-Nicht des Rechts. In der anderen Bedeutung meint abstraktes Unrecht die Verwirklichung des Unrechts - als kontradiktorischen Gegensatz zu einem wahren Recht des Nichtidentischen - durch die reale Verdinglichung des Lebenszusammenhanges als Zweiter Natur. In der zivilisatorischen Verlängerung der ersten Natur in die Verdinglichung rationaler Organisation und gesellschaftlicher Herrschaft zu Zwecken identischer Selbsterhaltung ist das Recht des Nichtidentischen, des ganz Anderen, der Natur des Leibes und des Glücksverlangens, nicht nur nicht verwirklicht, sondern systematischer Zurichtung anheimgegeben. Insofern korrespondiert diese zweite Bedeutung mit der Verschärfung des Charakters der ersten Natur in ihre radikalisierte und zur Totalität erhobene, insbesondere undurchschaute Gesellschaftlichkeit. Die Totalität des Ganzen bleibt nicht nur bloß historisch entgegen Hegel hinter ihrer spekulativen Wahrheit und dem Potential möglicher Berechtigung des Besonderen im Sinn der Versöhnung mit dem Ganzen zurück: Die Entwicklung von der ersten Natur in die zweite bedeutet die Negation der Natur des je besonderen Lebens: "Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht, denn die beherrschte, unterdrückte und durch Selbsterhaltung aufgelöste Substanz ist gar nichts anderes als das Lebendige, als dessen Funktion die Leistungen der Selbsterhaltung einzig sich bestimmen, eigentlich gerade das, was erhalten werden soll . . . " 7 4 0 Die hier getroffene Unterscheidung eines doppelten Unrechtsbegriffes des historisch spekulativen Noch-Nicht und eines historisch spekulativ kontradiktorischen Nicht des Rechts der Person entspricht deshalb auch notwendig der Verknüpfung des geschichtsphilosophischen und des erkenntnis- sozialphilosophischen Ansatzes Adornos. 7 4 1 Anders als bei Hegel ergeben sich diese Aussagen zu Recht und Unrecht bei Adorno jedoch gerade nicht aus einem (rechts-) philosophischen System, auch wenn sich dies im Zuge der vom Identitätsprinzip negativ abhängig bleibenden Dialektik so verstehen ließe. Zwar gibt es bei Adorno auch den Begriff ab7 4 0 DdA 71/72. So wird "mit der Verleugnung der Natur im Menschen ... nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung, sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig ..." DdA 71/72. 7 4 1 Der Aspekt des Noch Nicht läßt sich geschichtsphilosophisch aus dem Gedanken der Naturreproduktion (vgl. hierzu für den Mythos schon oben AT 5.1.2.2., für die Partikulare Rationalität der Selbsterhaltung 5.1.3.1.1.), der Aspekt des Nichtungs- Nicht aus dem Gedanken radikalisierter Verdinglichung der PRS (AT 5.1.3.1.2.) und des Tauschprinzips (AT 5.2.4.4.2. und 5.3.) in der Gesellschaft als transzendentallogisches Subjekt der Erkenntnis und Selbsterhaltung erklären.

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strakten Unrechts, der das Ganze als unwahres Prinzip und Wirklichkeit meint; doch der abstrakte Begriff des Unrechts lebt nicht aus seiner formallogischen Ableitbarkeit aus der negativen Substanz des abstrakten Unrechtsbegriffs des Ganzen. Bei einer bloß abstrakten Betrachtung folgt zwar die Unrichtigkeit des Besonderen gerade schon aus der Unrichtigkeit des Ganzen; aber solche Deduktion entspräche nicht nur nicht dem Verfahren negativer Dialektik. Sie berücksichtigte auch nicht, daß der Grund für das Unrecht des Besonderen, seine Unwahrheit, nicht nur aus dem Allgemeinen stammt. Der Vermittlungsbegriff weist ihm bei der Reproduktion ja gerade einen wesentlichen Anteil zu. Deshalb gibt es bei Adorno auch einen substantiellen Begriff des Unrechts, der dem Besonderen widerfährt, indem es nichts anders mehr ist als das abstrakte Prinzip der Ideologie des Ganzen: Die aus dem Identitätszwang abstammende Selbsterhaltungsmaxime des Principium Individuationis. 742

5.7.5. Das Positive Recht 5.1.5.1. Recht als zweite Natur; Vermittlung durch verdinglichtes Bewußtsein, Selbsterhaltung: positive Funktion von Recht Schon die geschichtsphilosophische Deutung der Rechtsentstehung aus Naturbeherrschung hatte den Unrechtscharakter der Rechtsverhältnisse dargelegt. Sie bedeuteten die unmittelbare Fortsetzung des Herrschaftszusammenhangs im Mythos und die zunächst in die Inwendigkeit der "Subjekte" gewanderte Verdinglichung der gegen die Natur sich richtenden Naturbeherrschung im Laufe der Fortentwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Die Nichtidentität des zu seiner Selbsterhaltung gezwungenen herrschaftlichen "Subjekts" mit sich und der Form seiner gesellschaftlichen Wirksamkeit, die gegen den Schein seines sich in Freiheit wähnenden Bewußtseins objektiv über ihn sich wälzende Unfreiheit des Ganzen und die sich in seinem Leben niederschlagende Selbstverleugnung hatten sich als Unrecht des Selbst gegen die Natur des eigenen Lebens bereits im Subjekt festgesetzt. So wie sich im allgemeinen Teil die Verselbständigung der partikularen Rationalität der Selbsterhaltung als Objektivierung ihrer subjektiven Struktur in höchst reale Organisationsformen der Tauschgesellschaft darstellte, erscheint 742 In der "durch gesellschaftliche Arbeit nach dem Tauschverhältnis zusammengeschlossenen Welt ..." schlägt im "naturbeherrschenden schrankenlos selbsttätigen Menschen" ... sich "das universale Tauschverhältnis, indem alles was ist, nur ein Sein für anderes ist ..." nieder Vgl. Aspekte, Mk 274.

206

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im System der bürgerlichen Gesellschaft auch das Recht als objektivierte Vermittlungsstruktur 743 aus der bereits prinzipialisierten und verdinglichten Subjektivität. Positives Recht erweist sich als "das in die Realität zurückübersetzte und dort die Herrschaft vermehrende verdinglichte Bewußtsein." 744 In den Rechtsnormen wird die "instrumentale Rationalität zu einer zweiten Wirklichkeit sui generis" 7 4 5 erhoben. Seine Funktion steht wie die des Staates 746 im Interesse der Selbsterhaltung des sich selbsterhaltenden Subjekts. Denn es ist das Medium der "Legalität, welches ... positiv die Reproduktion des Lebens schützt . . . " 7 4 7 , und welches verhindert, daß die "Gesellschaft ohne Recht, wie im Dritten Reich, Beute purer W i l l k ü r " 7 4 8 wird. Aber diese positive Funktion des in die Objektivität zurückübersetzten verdinglichten Bewußtseins erscheint Adorno problematisch von Anbeginn, nicht nur wegen der angeführten geschichtlichen Mängel, insbesondere der Rückführbarkeit auf unreflektierte Naturherrschaft: Es ist der im Gang der bürgerlichen Gesellschaft sich ausdrückende, nicht zu schlichtende Antagonismus von Subjekt und Objekt, Mensch und Natur, der Vorrang des schlecht Allgemeinen losgelassener Partikularität, der gerade unterm Banner der Identität das Leben

7 4 3 Adorno spricht von den "geistigen Vermittlungen, darunter das Recht" Aus einer Theorie des Verbrechers, DdA 261. 7 4 4

N D 305.

7 4 5

N D 304. Adorno wendet den auch von Hegel verwendeten Ausdruck der Zweiten Natur überwiegend als Kritik gegen dessen Staatsphilosophie und seinen Satzungsbegriff: "Die Verfassung, Name der geschichtlichen Welt, die alle Unmittelbarkeit von Natur vermittelte, bestimmt umgekehrt die Sphäre der Vermittlung, eben die geschichtliche, als Natur." ND 350. 7 4 6 "Ohne die Zession des selbsterhaltenden Interesses an die, im bürgerlichen Denken meist vom Staat repräsentierte Gattung vermöchte in entwickelteren gesellschaftlichen Verhältnissen das Individuum nicht sich selbst zu erhalten. Durch diesen für die Individuen notwendigen Transfer jedoch tritt die allgemeine Rationalität unvermeidlich fast in Gegensatz zu den besonderen Menschen, die sie negieren muß, um allgemein zu werden ..." ND 312. Vgl. zur Selbsterhaltungsfunktion des Staates auch "Individuum und Staat", GS, Bd. 201, S. 287. 7 4 7

748

N D 303.

N D 303. Die positive Funktion des Rechts für die Sicherung des Individuums gegenüber dem politischen Totalitarismus wird auch betont in Individuum und Staat, GS, Bd. 20 I, S. 289: "Wenn demgegenüber die Rechtsordnungen dem Individuum mehr Schutz verheißen als in der Antike so sind dafür die totalitären Regierungen beider Spielarten um so eifriger darauf bedacht, diese Rechtsordnungen zu kassieren und das Individuum schutzlos der Allmacht der Staatsapparatur auszuliefern. Diese auch nach der Niederwerfung Hitlers stets offene Möglichkeit, wie sie heute besonders in der Bedrohung durch den Osten uns zum Bewußtsein kommt, stellt die spezifische Form dar, in der wir an dem uralten Problem (des Gegensatzes von Individuum und Staat A.d.V.) laborieren. "

5. Unrecht als unwahres Ganzes

207

ins Nichtidentische zwingt und damit das je Besondere unter die Gewalt des Allgemeinen. Ist mangels Identität je besonderer Subjektivität auch nicht das vereinzelte und isolierte Subjekt, sondern, wie oben gezeigt, 749 die arbeitsteilige Tauschgesellschaft selbst das eigentliche Subjekt der Selbsterhaltung, so kann das "in die Realität zurückübersetzte und dort die Herrschaft vermehrende verdinglichte Bewußtsein", Recht, von vornherein auch nicht auf die Selbsterhaltung des je einzelnen, sondern a priori nur auf die des allgemeinen Subjekts, der bürgerlichen Gesellschaft selbst gerichtet sein. Da andererseits der Funktionszusammenhang des Ganzen ohne den auf die vom Ganzen abgedichtete Subjektivität bezogenen Fortschritt des principium individuationis nicht funktionieren kann, weil der Bewußtseinsmangel zur Totalität des Vermittlungszusammenhangs gehört, 7 5 0 erscheint im unschlichtbaren Ganzen die den Schein der Versöhnung und der Dialektik behauptende Rechtsphilosophie Hegels als "Ideologie des positiven Rechts, weil es ihrer in der bereits sichtbar antagonistischen Gesellschaft, am dringendsten bedurf-

5.1.5.2. Positives Recht im Zeichen der Vormacht des Allgemeinen vor dem Besonderen Es ist einleuchtend, daß sich aus der Konsequenz der sich fortfressenden Nchtidentität in der Totalität des antagonistischen Ganzen für die Rechtsbetrachtung die Kategorie des Allgemeinen in seinem Verhältnis zum Besonderen aufdrängt, die wesentlich gerade auch die Rechtsphilosophie Hegels prägte und bei Adorno in den kritischen Begriff dieser Philosophie, den des Tausches, einwanderte. Der Hauptvorwurf, den Adorno gegen den Rechtsbegriff der bürgerlichen Gesellschaft erhebt, ergibt sich deshalb aus der konsequenten Anwendung der Kritik der Identitätsphilosophie auf das Gebiet des Rechts und seiner Philosophie. Gegen Hegel 7 5 2 klagt Adorno insbesondere das Recht des Beson7 4 9

s. oben AT 5.2.4.4.

7 5 0

s. oben AT 5.2.4.2 und insbesondere auch AT 5.2.4.3.

7 5 1

N D 303.

752

"In der Allgemeinheit der ratio, welche die Bedürftigkeit alles Besonderen, sein Angewiesensein aufs Ganze ratifiziert, entfaltet sich kraft des Abstraktionsprozesses, auf dem jene beruht, ihr Widerspruch zum Besonderen. Allbeherrschende Vernunft, die über einem anderen sich instauriert, verengt notwendig auch sich selbst. Das Prinzip absoluter Identität ist in sich kontradiktorisch. Es perpetuiert Nichtidentität als unterdrückte und beschädigte. Die Spur davon ging ein in Hegels Anstrengung, Nichtidentität durch die Identitätsphilosophie zu absorbieren, ja Identität durch Nichtidentität zu bestimmen. Er verzerrt jedoch den Sachverhalt, indem er das Identische bejaht, das Nichtidentische als freilich notwendig Negatives zuläßt, und die Negativität des Allgemeinen verkennt. N D 312, Hervorhebungen vom Verfasser.

208

Besonderer Teil

deren ein: Wie schon oben allgemein dargelegt, zeigt sich der Vorwurf, daß Identitätsphilosophie in einer im ausgestalteten System sich entfaltenden Dialektik, in der das Besondere nicht bloß in der Totalität des Ganzen aufzuheben, sondern zu seinem eigenen Recht zu bringen sei, idealistisch nicht denkbar ist: "Wenn Hegel die Doktrin von der Identität des Allgemeinen und Besonderen zu einer Dialektik im Besonderen selber weitergetrieben hätte, wäre dem Besonderen, das ja ihm zufolge das vermittelt Allgemeine ist, soviel Recht zuteil geworden wie jenem. Daß er dies Recht, wie ein Vater, der den Sohn zurechtweist: 'Du meinst wohl, du wärest etwas Besonderes', zur bloßen Sucht herabwürdigt, und psychologistisch das Menschenrecht als Narzißmus anschwärzt, ist kein individueller Sündenfall des Philosophen. Die von ihm visierte Dialektik des Besonderen ist idealistisch nicht auszutragen. Weil, wider den Kantischen Chorismus, Philosophie nicht als Formenlehre im Allgemeinen sich einrichten, sondern den Inhalt selbst durchdringen soll, wird, in großartig verhängnisvoller petitio principii, die Wirklichkeit von der Philosophie derart zugerüstet, daß sie der repressiven Identität mit jener sich fügt. Das Wahrste an Hegel, das Bewußtsein des Besonderen ... zeitigt das Falscheste, schafft das Besondere fort, nach dem in Hegel Philosophie tastet." 75 3 In die gesellschaftliche Vormacht des Allgemeinen fügt sich Adorno zufolge das Rechtssystem ohne weiteres. Unter der allgemeinen Tendenz der Tauschgesellschaft werde in der Rechtssphäre geradezu signifikativ vom Besonderen das noch weggeschnitten, was unter den Begriff des Allgemeinen nicht subsumiert werden kann. Auch die Korrektur durch den Einwand der Billigkeit vermöge, systemimmanentes Anzeichen der Unrichtigkeit des Rechts, die diese genauso bestätige wie Mitleid die Ungerechtigkeit 754 , der Gewalt des Allgemeinen keinen Widerstand entgegenzusetzen: "Das rationale Rechtssystem vermag den Anspruch der Billigkeit, in dem das Korrektiv des Unrechts im Recht gemeint war, regelmäßig als Protektionswesen, unbilliges Privileg niederzuschlagen. Die Tendenz dazu ist universal, einen Sinnes mit dem ökonomischen Prozeß, der die Einzelinteressen auf den Generalnenner einer Totalität kürzt, die negativ bleibt, weil sie vermöge ihrer

' 7 5 4

N D 323, Hervorhebungen vom Verfasser.

"Indem Mitleid die Aufhebung des Unrechts der Nächstenliebe in ihrer Zufälligkeit vorbehält, nimmt es das Gesetz der universalen Entfremdung, die es mildern möchte, als unabänderlich hin. Wohl vertritt der Mitleidige als einzelner den Anspruch des Allgemeinen, nämlich den zu leben, gegen das Allgemeine, gegen Natur und Gesellschaft, die ihn verweigern. Aber die Einheit mit dem Allgemeinen, als dem inneren, die der einzelne bestätigt, erweist an seiner eigenen Schwäche sich als trügerisch. Nicht die Weichheit, sondern das Beschränkende am Mitleid macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig." DdA 123.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

209

konstitutiven Abstraktion von den Einzelinteressen sich entfernt, aus denen sie zugleich doch sich zusammensetzt." 755 So fallen die von der Zurichtung der Wirklichkeit durch das Tauschprinzip auch im Rechtssystem stammenden Früchte individuellen Unrechts jedenfalls vom allgemeinen Unrechtsbaum: "Daß der Einzelne so leicht Unrecht bekommt, wenn der Interessenantagonismus ihn in die juridische Sphäre treibt, ist nicht, wie Hegel ihm einreden möchte, seine Schuld, derart, daß er das eigene Interesse in der objektiven Rechtsnorm und ihren Garantien wiederzuerkennen zu verblendet wäre; vielmehr die von Konstituentien der Rechtssphäre selbst." 756

5.1.5.3. Positives Recht: Identität im Zeichen der Nichtidentität Oben war schon beschrieben worden, daß es wiederum auch gerade dieser Vorrang des Allgemeinen ist, der die Nichtidentität des Besonderen im Ganzen zu sichern h i l f t . 7 5 7 So muß die Konsequenz einer auf den Vorrang des Allgemeinen angelegten Struktur wie der des Rechts zwangsläufig sein, "die Utopie des Besonderen ... jene Nichtidentität, welche erst wäre, wenn verwirklichte Vernunft die partikulare des Allgemeinen unter sich gelassen hätte ...", unter sich zu begraben, während Hegels Rechtsphilosophie ideologisch gerade das "Bewußtsein des Unrechts, das der Begriff des Allgemeinen impliziert" entgegen der "Allgemeinheit des Unrechts selbst ..." abgekanzelt habe. 7 5 8 Aber zumindest unbewußt sei auch Hegel die Unversöhntheit des Besonderen im ungeschlichteten Antagonismus des Ganzen in einer Stelle der Rechtsphilosophie zugegen gewesen: "Daß das subjektive Gewissen die objektive Sittlichkeit 'mit Grund' als das sich Feindseligste ansehe, ist Hegel wie mit philosophischer Fehlleistung in die Feder gekommen. Er plaudert aus, was er im gleichen Atemzug bestreitet. Sieht tatsächlich das individuelle Gewissen die 'wirkliche Welt des Rechts und des Sittlichen' als feindselig an, wäre darüber nicht beteuernd hinwegzugleiten. Denn die Hegeische Dialektik besagt, daß es darin gar nicht sich anders ver7 5 5

N D 305.

7 5 6

N D 304.

757

"Die Allgemeinheit, welche die Erhaltung des Lebens reproduziert, gefährdet es zugleich, auf stets bedrohlicherer Stufe. Die Gewalt des sich realisierenden Allgemeinen ist nicht, wie Hegel dachte, dem Wesen der Individuen an sich identisch, sondern immer auch konträr." ND 305/306. Vgl. auch o. AT. 5.3.1. und 5.3.2. 75R '

ND 312, Hervorhebungen vom Verfasser.

14 M. Becker

210

Besonderer Teil

halten, gar nicht darin sich erkennen kann. Damit konzediert er, daß die Versöhnung, die zu beweisen Inhalt seiner Philosophie ist, nicht stattfand. Wäre nicht dem Subjekt die Rechtsordnung objektiv fremd und äußerlich, so ließe der für Hegel unausweichliche Antagonismus durch bessere Einsicht sich schlichten; Hegel hat aber seine Unschlichtbarkeit viel zu gründlich erfahren, als daß er darauf vertraute. Daher das Paradoxon, daß er die Versöhntheit von Gewissen und Rechtsnorm lehrt und desavouiert in eins." 7 5 9

5.1.5.4. Der Formalismus der Konsequenzlogik, Abstraktion gegen das Leben angesichts des bleibenden Antagonismus; Subsumtion Der Vorrang des Allgemeinen zeitigt angesichts des gesellschaftlich realen Antagonismus seine Wirkung kraft eines real wirksamen Formalismus des Rechts: "Nach herrschendem Consensus soll das Allgemeine seiner bloßen Form als Allgemeinheit wegen Recht haben. Selbst Begriff, wird sie (die Wahrheit des Allgemeinen, A.d.V.) dadurch begrifflos, reflexionsfeindlich, erste Bedingung von Widerstand, daß der Geist das an ihr durchschaut und nennt, ein bescheidener Anfang von Praxis." 7 6 0 Angesichts des nach Adorno Nottuenden im Zustand des gesellschaftlich allgemeinen Unrechts 761 sind Formalismus und Irrationalität von Recht, der sich im Rechtsbegriff niederschlagende Begriff der Gleichheit und die Abstraktion von der Besonderheit, auf die es ankäme, eins: "Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität. In ihm wird das formale Äquivalenzprinzip zur Norm, alle schlägt es über denselben Leisten. Solche Gleichheit, in der die Differenzen untergehen, leistet geheim der Ungleichheit Vorschub, in ihr gehen die Differenzen unter, nachlebender Mythos inmitten einer nur zum Schein entmythologisierten Menschheit. Die Rechtsnormen schneiden das nicht Gedeckte, jede nicht präformierte Erfahrung des Spezifischen um bruchloser Systematik willen ab und erheben dann die instrumentale Rationalität zu einer zweiten Wirklichkeit sui generis. Das juristische Gesamtbereich ist eines von Definitionen. Seine Systematik gebietet, daß nichts in es

7 5 9

760

lf\\

N D 304/305. N D

3 3 7

"Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun ..." DdA 15. "Indem aber Aufklärung gegen jede Hypostasierung der Utopie recht behält und die Herrschaft als Entzweiung ungerührt verkündet, wird der Bruch von Subjekt und Objekt, den sie zu überdecken verwehrt, zum Index der Unwahrheit seiner selbst und der Wahrheit." DdA 57. "Durch solches Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt, ist Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt ..." DdA 58. "In einer richtigen Gesellschaft jedoch würde der Tausch nicht nur abgeschafft sondern erfüllt." ND 291.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

211

eingehe, was deren geschlossenen Umkreis sich entziehe, quod non est in actis." 7 6 2 So liegt die Unwahrheit positiven Rechts 763 im Formalismus seines Systems, der Entfernung von der Wirklichkeit, die es nach der Idee der Gerechtigkeit gerade nicht gerechter machen kann. Denn "schon der bloßen Form nach, vor Klasseninhalt und Klassenjustiz, drückt es Herrschaft, die klaffende Differenz der Einzelinteressen von dem Ganzen aus, in dem sie abstrakt sich zusammenfassen. Das System selbstgemachter Begriffe, das die ausgereifte Jurisprudenz vor den Lebensprozeß der Gesellschaft schiebt, entscheidet sich durch Subsumtion alles Einzelnen unter die Kategorie vorweg für die Ordnung, der das klassifikatorische System nachgeahmt i s t . " 7 6 4

5.1.5.5. Recht als Gewalt So führt die Wirksamkeit des Tauschbegriffes nicht nur zu der allgemeinen Problematik, daß das sich selbsterhaltende Subjekt sich nur um den Preis seiner Selbstverleugnung und Nichtidentität gegen die drohende Natur zu behaupten vermag, sondern daß sich die Selbsterhaltung der arbeitsteiligen Gesellschaft, die sich ihrer besseren Organisation wegen des Staates und des positiven Rechts bedient, im Verhältnis zum Einzelnen latent und im Zweifelsfalle auch aktuell jedenfalls nur als Gewaltverhältnis begreifen läßt. Dieses werde durch das positive Recht nicht nur repräsentiert, sondern gerade auch verwirklicht. 7 6 5 So bestätigt der Formalismus des Rechts, seine dem Leben entgegengesetzte Abstraktion von dem, was sich begrifflich nicht ohne weiteres in Allgemeinbegriffe zwängen läßt, Gewalt nicht nur, sondern übt sie real aus: "Dies Gehege, ideologisch an sich selbst, übt durch die Sanktionen des Rechts als gesellschaftlicher Kontrollinstanz, vollends in der verwalteten Welt, reale Gewalt aus. In den Diktaturen geht es über in diese unmittelbar, mittelbar stand sie von je dahinter." 766

7 6 2

ND 304.

7 6 3

ND 305.

7 6 4

ND 305.

"Hegel trieb denn auch, nach Phänomenologie und Logik, den Kultus des Weltlaufs am weitesten in der Rechtsphilosophie. Das Medium, in dem das Schlechte um seiner Objektivität willen Recht behält und den Schein des Guten sich erborgt, ist in weitem Maß das der Legalität, welches ... in seinen bestehenden Formen, dank des zerstörenden Prinzips von Gewalt, sein Zerstörendes ungemindert hervorkehrt." N D 303/304. 7 6 6

ND 303/304.

212

Besonderer Teil

Die Kritik des Rechtsformalismus treibt Adorno nun weiter zu einer Legalitätskritik, die ihre Radikalität aus dem beobachteten Zusammenspiel von Formalismus und psychologisch zu deutender offizieller Gewaltakzeptanz nimmt. Er macht es an der strafrechtlichen Behandlung der Automobilvergeh e n 7 6 7 fest: "... wo einst das Sittengesetz waltete, wird nun darüber gewacht, daß man die Verkehrsordnung respektiert; die Voraussetzung dafür, jemand guten Gewissens umzubringen, ist das grüne Licht der Ampel. Analog hat die Sozialpsychologie beim Studium der nationalsozialistischen Mores den Begriff des Legalitären geprägt. Geplante Morde wurden durch irgendwelche Veranstaltungen, sei es auch post festum, gedeckt, indem die Volksvertreter sie als rechtens erklären. Legalitäres Bedürfnis hegt offenbar die Brutalität des Straßenverkehrs ebenso wie die bei der Verfolgung unschuldiger Opfer und unschuldiger Vergehen. Das Einverständnis mit der Roheit, mit verdrückten Instinkten dort, wo sie mit institutionellen sozialen Formen harmonieren, begleitet treulich den Haßgesang gegen die Partialtriebe. Prinzipiell und mit unvermeidlicher Übertreibung wäre wohl zu sagen, daß in Recht und Sitte all das Sympathie findet, worin Verhaltensweisen der gesellschaftlichen Unterdrückung - letztlich der sadistischen Gewalt - sich fortsetzen, während unerbittlich reagiert wird auf Verhaltensweisen, die dem Gewalttätigen gesellschaftlicher Ordnung selbst entgegen sind. " 7 6 8

η fn

"Daß immer wieder versichert wird, angeheiterte, übrigens auch ihrer Sinne mächtige Autofahrer, die jemand totfahren, hätten kein Kavaliersdelikt verübt, bezeugt bloß, wie eingewurzelt die Neigung ist, ihre Untat als solches zu sehen, und das dürfte auch in der Rechtsprechung sich reflektieren. Die deutschen Autositten gehören wohl überhaupt, im Gegensatz zu den angelsächsischen wie zu den romanischen Ländern, zu jenen nationeilen Eigentümlichkeiten, in denen etwas vom Geist des Hitlerischen Reiches sichtbar fortdauert: die Geringschätzung des Menschenlebens, von dem eine alte deutsche Ideologie bereits den Gymnasiasten einbläute, es sei der Güter höchstes nicht", Sexualtabus und Recht heute, GS, Bd. 10 II, S. 547.

nfst Ebd., S. 547/548. Die psychoanalytische Analyse des Kraftverkehrs in Deutschland zu Beginn der fünfziger Jahre und weit in die siebziger Jahre hinein mag eine gewisse Berechtigung haben: Daß sich darin auch heute noch das aggressive Unterbewußtsein offiziell formale Rechtsgründe zum legalen Mord verschaffen könne, klingt angesichts einer zunehmend strikteren und rigider gehandhabten Justizpraxis in diesem Bereich absurd, wenn auch ein Großteil des Rückgangs der Unfallopferzahlen sich nicht nur auf juristischen und technischen Fortschritt, sondern auf die Selbstblockade des Massenverkehrs zurückführen lassen mag. Daß Straftaten, die dem Gewalttätigen der Gesellschaft selbst entgegengestzt sind, härter verfolgt werden, läßt sich - wie jüngst bei den ausländerfeindlichen Gewalttaten in Rostock im Vergleich zu den Maßnahmen bei "Gegendemonstrationen" in Lichtenhagen gerade dann festmachen, wenn die politische Führung dieser Maßnahmen offensichtlich versagt oder dabei - wie z.B. auch im Fall "Hannoveraner Kessel" - offensichtlich rechtswidrig verfahren wird.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

213

5.1.5.6. Unwahrheit positiven Rechts: Recht als Unrecht Das Schlechte in der Form des abstrakt Allgemeinen Der Unwahrheit der bürgerlichen Gesellschaft entspricht notwendig die Partikularität eines diese Unwahrheit sichernden und als Herrschaft herstellenden positiven Rechts. 769 Der Umschlag der Aufklärung in Mythos, der die Geschichte der Zivilisation kennzeichnete, realisiert sich wegen des offenkundigen Gegensatzes eines philosophischen Vernunftanspruchs zu seiner realen Irrationalität als "nachlebender Mythos inmitten einer nur zum Schein entmythologisierten Menschheit." 770 Recht geht gerade wegen seiner auf Gleichheit gehenden und dieselbe damit untergrabende Wirkung nur noch als Mythos in die Geschichte ein.

5.1.5.7. Strafjustiz und Gesellschaft 5.7.5.7.7.

Selbsterhaltung und Schuld der Schwäche

Korrespondiert dem Gesetz der Selbsterhaltung als Allgemeinem der bürgerlichen Gesellschaft der Zwang zur Nichtidentität des Subjekts, zur alten "Weisheit..., daß die kontinuierliche Abtreibung, die Brechung allen individuellen Widerstandes, die Bedingung des Lebens in dieser Gesellschaft ist . . . " 7 7 1 , und schafft die "totale Gesellschaft das Leiden ihrer Angehörigen nicht ab ...", sondern "registriert und plant" sie es, so "geht das tragische Schicksal... in die gerechte Strafe über, in die es zu transformieren seit je die Sehnsucht der bürgerlichen Ästhetik w a r . " 7 7 2 Die von der Massenkultur im Bereich des Dramas vollzogene Gleichschaltung von Tragik in "das lückenlos geschlossene Dasein" 7 7 3 notwendigen Leidens wird Adorno zufolge im Bereich der Straijustiz in einer Konformität

769 So bewahrt die Idee des Naturrechts zumindest die "Unwahrheit positiven Rechts ... Schon der bloßen Form nach, vor Klasseninhalt und Klassenjustiz drückt es Herrschaft, die klaffende Differenz der Einzelinteressen von dem Ganzen aus, in dem sie abstrakt sich zusammenfassen." ND 305. 7 7 0 N D 303/304. 771 "Donald Duck in den Cartoons wie die Unglücklichen in der Realität erhalten ihre Prügel, damit die Zuschauer sich an die eigenen gewöhnen." DdA 160. 772 DdA 175.

773 DdA 175.

214

Besonderer Teil

vollzogen, deren reale Allgemeinheit der Unsichtbarkeit des justiziell gequälten Einzelschicksals entspricht. 774 Weil "Verstand, der am Richtmaß der Selbsterhaltung groß wurde, ein Gesetz des Lebens ..." als das "des Stärkeren" wahrnimmtso sind "schuldig, das ist Nietzsches Lehre, ... die Schwachen, sie umgehen durch ihre Schlauheit das natürliche Gesetz." 775 Die Konsequenz dieser Auffassung schult sich am Modell des physisch schwachen, aber seine Selbsterhaltung gegen das Allgemeine der Natur betrügerisch listig behauptenden Odysseus, dem Prototyp des aufklärerischen Subjekts. 776 Sie führt dazu, den Verbrecher nicht nur als verunglücktes Exempel des bürgerlichen Subjekts zu verstehen, sondern zugleich als seinen virtuellen Repräsentanten: "Der Verbrecher, dem in seiner Tat die Selbsterhaltung über alles andere ging, hat in Wahrheit das schwächere, labilere Selbst, der Gewohnheitsverbrecher ist ein Debiler. Gefangene sind Kranke. Ihre Schwäche hat sie in eine Situation geführt, die Körper und Geist schon angegriffen hat und immer weiter angreift. Die meisten waren schon krank, als sie die Tat begingen, die sie hineinführte: durch ihre Konstitution, durch die Verhältnisse." 777 Da dem Nichtidentischen desto mehr Unrecht widerfährt, "je mehr Identität durch den herrschaftlichen Geist gesetzt w i r d , " 7 7 8 sind nicht nur die Tatvoraussetzungen eher exemplarisch für die Unwahrheit eines auf Selbsterhaltung abgestimmten Ganzen, das vom Straftäter nur zu sehr als Allgemeines genommen wird. Auch die Strafe selbst, die direkt auf die Seele losgeht 7 7 9 und den Zuchthäusler ähnlich dem Kaninchen, das "verkannt als bloßes Exemplar durch die Passion des Laboratoriums" 780 geschickt wird, als unsichtbares Beispiel geistig 7 7 4 Wiederum zeigt sich die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem: War schon das Principium Individuationis das Allgemeine der bürgerlichen Gesellschaft, so kommt es auf die einfache Offensichtlichkeit bzw. Sichtbarkeit dieses Zusammenhangs ohnehin nicht an. Das real Allgemeinste verwirklicht sich durch seine subjektive Unbewußtheit bzw. objektive, Gesellschaft nicht störende Unsichtbarkeit. 7 7 5

DdA 119, Hervorhebungen vom Verf.

7 7 6

Vgl. dazu AT 5.1.2.3.4.

777 7 7 8

Aus einer Theorie des Verbrechers, DdA 259. Fortschritt, GS, Bd. 10 II, S. 623.

779 "Wie nach Toqueville die bürgerlichen Republiken im Gegensatz zu den Monarchien nicht den Körper vergewaltigen, sondern direkt auf die Seele losgehen, so greifen die Strafen dieser Ordnung die Seele an. Ihre Gemarterten sterben nicht mehr aufs Rad geflochten die langen Tage und Nächte hindurch, sondern verenden geistig, als unsichtbares Beispiel still in den großen Gefängnisbauten, die von den Irrenhäusern fast nur der Name trennt." Aus einer Theorie des Verbrechers, DdA 260.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

215

verenden läßt, vollzieht noch einmal den ohnehin schon allgemeinen Zerfall 7 8 1 der Individualität: "Radikale Isolierung und radikale Reduktion auf stets dasselbe hoffnungslose Nichts sind identisch. Der Mensch im Zuchthaus ist das virtuelle Bild des bürgerlichen Typus, zu dem er sich in der Wirklichkeit erst machen soll. Denen es draußen nicht gelingt, wird es drinnen in furchtbarer Reinheit angetan. Die Rationalisierung der Existenz von Zuchthäusern durch die Notwendigkeit, den Verbrecher von der Gesellschaft abzusondern, oder gar durch seine Besserung, trifft nicht den Kern. Sie sind das Bild der zu Ende gedachten Arbeitswelt, das der Haß der Menschen gegen das, wozu sie sich machen müssen, als Wahrzeichen in die Welt stellt . . . " 7 8 2 Ist aber der Zuchthäusler nur ein namenloses Beispiel für das ohnehin allgemeine Prinzip radikaler Isolierung, das Principium Individuationis, das Allgemeine der arbeitsteiligen Gesellschaft, dann gibt er, dem "es drinnen in furchtbarer Reinheit angetan wird", umgekehrt das Modell fürs arbeitsame Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft ab: "Die Isolierung, die man den Gefangenen einmal von außen antat, hat sich in Fleisch und Blut der Individuen inzwischen allgemein durchgesetzt. Ihre wohltrainierte Seele und ihr Glück ist öde wie die Gefängniszelle, deren die Machthaber schon entraten können, weil die gesamte Arbeitskraft der Nationen ihnen als Beute zugefallen ist. Die Freiheitsstrafe verblaßt vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit." 7 8 3

5.1.5.7.2.

Vernunft von Justiz

Die Radikalität und die geradezu Schrecken einjagende Rücksichtslosigkeit der sprachlichen Attacken auf die Realität des Staates oder seiner Strafjustiz lassen kaum die Erwartung zu, Adorno könne positivem Recht oder der Justiz auch Positives, zumindest die noch so geringste Rechtfertigung abgewinnen. Spätestens am Beispiel der Auschwitzmörder wird jedoch das Dilemma deutlich, das in einem negativ-dialektischen Rechtsasketismus notwendig erscheinen muß. Würde nämlich "die gerechte Sühne" sich "von dem Prinzip zuschla-

781

"Der Zerfall der Individualität heute lehrt nicht bloß deren Kategorie als historisch verstehen, sondern weckt auch Zweifel an ihrem positiven Wesen. Das Unrecht, das dem Individuum widerfährt, 7 8 2 war in der Konkurrenzphase dessen eigenes Prinzip." DdA 277. 7 8 3

Aus einer Theorie des Verbrechers, DdA 258, Hervorhebungen vom Verf. Ebd., 261.

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gender Gewalt anstecken lassen ...", so wäre doch andererseits auch für Adorno der Freispruch der Nazi-Schergen das "nackte Unrecht". 7 8 4 So wirkt sich aus, daß die aufs Ganze gehende Kritik der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht von dem Verhältnis abzulösen ist, in dem der spekulative und der geschichtliche Wahrheitsbegriff in Adornos Philosophie stehen. Indem der Allgemeinheit des Hegeischen absoluten Geistes in ihrer Vernunft, Freiheit und Sittlichkeitsorientierung die Wirklichkeit des Allgemeinen im Tauschbegriff gegenübergestellt wurde, ergaben sich verschiedene Ebenen philosophischer Kritik, die Ebene der Kritik identitätsorientierter philosophischer Systeme und die historische Ebene des Grades ihrer Verwirklichung. Wenn beide Ebenen aus der Erfahrung des Leidens des Nichtidentischen, des Besonderen und der Erfahrung von Objektivität heraus kritisiert wurden, dann sollte darin immer sowohl die historische Unwahrheit von Gesellschaft und ihrer identischen Philosophie heraugearbeitet werden. Dies bedeutet nicht, daß Adorno für eine schon gegeben schlechte historische Situation den Wegfall einer Justiz und das freie Herumlaufen spezifischer Straftäter oder Mörder für gerechter halten könnte als ihre straijustizielle Sicherstellung: Allein der Kampf, sich angesichts eines totalen Vermittlungszusammenhangs des Individualtäters für eine identitätsphilosophische Begründung des Strafrechts durchringen zu müssen, 785 geht angesichts des im Staat allgemein gesetzten Grauens 786 und der realen Unfreiheit seiner Monaden nicht mit dem Pathos einer mit dem Ideal ihres eigenen Begriffes verwechselten Gerechtigkeitsphilosophie einher. Vielmehr drückt sich darin gerade das Bewußtsein aus, das es der Rechtsphilosophie wesentlich um die Besserung des Ganzen gehe und nicht um die Legitimation von Herrschaftsmaßnahmen, die hinsichtlich des Ganzen keine Hoffnung und hinsichtlich des Verbrechers keine auch im spekulativen Sinne wahre Satisfaktion begründen könnten. 787 Denn angesichts des realen un7 8 4

785

ND 282.

Sehr deutlich wird dieser Kampf als Ausdruck des undurchdringlichen Geflechts von Gut und Böse in folgender Passage: "Die Lüge spricht wahr ... Die Chance, daß durch Denunziation des Unrechts, das einen vor dem Teufel schützt, die gute Sache leidet, war noch stets geringer als der Vorteil, den der Teufel davontrug, indem man ihm die Denunziation des Unrechts überließ. Wie weit muß eine Gesellschaft gekommen sein, in der nur noch die Schurken die Wahrheit sprechen ..." Für 786Voltaire, DdA 248/249. "Indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell 7 8 7schon gesetzt" Erziehung nach Auschwitz in: Erziehung zur Mündigkeit, 1970, S. 66. Denn "nicht das Gute, sondern das Schlechte ist Gegenstand der Theorie ... Sie setzt die Reproduktion des Lebens in den je bestimmten Formen schon voraus. Ihr Element ist die Freiheit, ihr Thema die Unterdrückung ... Es gibt nur einen Ausdruck für die Wahrheit: den Gedanken, der das Unrecht verneint.Ist das Beharren auf den guten Seiten nicht im negativen Ganzen aufgehoben, so verklärt es ihr eigenes Gegenteil: Gewalt." Für Voltaire, DdA 248/249.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

217

schlichtbaren Antagonismus des durch Innerlichkeit und Äußerlichkeit des Lebens sich ziehenden Allgemeinen gegen das je Besondere vermag sich weder das Gewissen noch der philosophische Begriff mit dem relativ erreichten Zustand organisierter Ungerechtigkeit abzufinden. So muß auch derjenige, der um seine Gefangenschaft im Netz gesellschaftlich vermittelter Selbsterhaltung weiß und Schlimmeres verhindern will, sich das schlechte Gefühl, die Niederlage vor dem Identitätsprinzip im Strafanspruch und dem positiven Recht schmerzhaft eingestehen: Adorno jedoch verlagert sein Eingeständnis in ein den realen Gegensatz bewahrendes widersprüchliches Streitgespräch: "Ich möchte ja auch kein öffentlicher Ankläger sein, und doch erschiene mir die freie Bahn für Raubmörder als ein weit größeres Übel denn die Existenz der Zunft, die jene ins Zuchthaus liefert. Justiz ist vernünftig. Ich bin nicht gegen die Vernunft, ich will nur die Gestalt erkennen, die sie angenommen hat." 7 8 8

5.2. Der Begriff des Unrechts: Unrecht in und aus der Sphäre des Besonderen gegen Leib, Impuls und Umgebung Oben war der Begriff des Unrechts in und aus der Sphäre des Allgemeinen gegen das Besondere entwickelt worden. Gegen diesen Unrechtsbegriff soll nun der Begriff des Unrechts in und aus der Sphäre des Besonderen gegen Glücksverlangen, Leib und Impuls des Subjekts (sowie der Umgebung) bei Adorno erhellt werden. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die Divergenz, die sich in den verschiedenen Überschriften ausdrückte, doppelt falsch verstanden werden könnte: Wenn nämlich die Sphäre des Allgemeinen als von der des Besonderen statisch und dichotomisch getrennt gedacht würde, weil die dialektiche Rückbezüglichkeit des Allgemeinen hinsichtlich des Besonderen 789 oder andererseits die Orientierung des Begriffes des Besonderen am Allgemeinen, der Ratio, mißachtet würde. Daß diese Beziehung eine solche gegenseiti788

DdA 273. Sehr viel deutlicher wird Adorno allerdings - und insofern erhöht sich der Widerspruch - bei dem Vorschlag, gegenüber Roheitstaten, die sich als Moment des Gewalttätigen der Gesellschaft selbst erweisen: "Insgesamt wäre die Gesetzgebung keineswegs nur zu mildern. Manches wäre zu verstärken, zumal Paragraphen, welche gegen Roheitsdelikte gerichtet sind. Stets noch werden, wie Karl Kraus erkannte, unerlaubte Zärtlichkeiten gegen Mindeijährige härter bestraft, als wenn Eltern oder Lehrherren sie halbtot prügeln. Begeht einer im Suff brutale Gewaltakte, so wird sein Zustand ihm strafmildernd angerechnet, als hauste im Innern des esprit des lois der Komment, der den Suff als Exzess nicht nur toleriert, sondern ihn als Beweis männlicher Tugend verlangt." S. 547, in: Sexualtabus und Recht heute, GS, Bd. 10 II. 78Q Die Objektivität totaler Vermittlung verwies letztlich auf Subjektivität, also auf das Besondere vgl. AT 5.2.4.4.2.3.; 5.2.4.4.2.4.

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ger Abhängigkeit und Rückbezüglichkeit ist, wurde schon mehrfach erwähnt. Dieser Hinweis ermöglicht es nun aber nicht nur, ein mögliches Mißverständnis auszuräumen, sondern begründet zugleich die Möglichkeit eines Rechtsbegriffes in der Sphäre des Besonderen selbst: Denn das Verhältnis von Recht und Unrecht in der Sphäre des Besonderen entwickelt sich gerade daraus, daß die Besonderheit zum Allgemeinen des Besonderen geworden ist. Oder anders gesagt: Es ist auch gerade das virtuell mögliche Subjekt, das seiner eigenen Subjektivität Unrecht tut, indem es sie verkürzt auf jene Zweckrationalität, die in der Entstehungsgeschichte des Subjekts nur um den Preis der Selbstverleugnung zur Selbsterhaltung führt. Und darüber hinaus: Nicht nur stellt sich die eigene Selbstverleugnung als Unrecht gegen sich selbst heraus: Als Verleumdung des je eigenen Glückspotentials, als Nichtverwirkichung der Möglichkeit, ein Subjekt zu sein, sondern darin liegt auch die konkrete Unterdrückung der ersten, nicht zuvörderst reflektierten, sondern im Schmerz gegen den Zwang des gebündelten Ichs sich auflehnenden Natur. Da dieses Gewaltverhältnis in der Sphäre des Besonderen typischerweise als Allgemeines der allein als identischer zugelassenen Subjektivität in der Tauschgesellschaft auftritt, führt dies zu einem eigenen Unrechtsbegriff\ der durch Intrapersonalität der Unrechtskonstruktion gekennzeichnet ist. Innerhalb dieser intrapersonalen Unrechtskonstruktion gibt es bei genauerer Betrachtung zwei Kollisionsvarianten: Beschrieben werden folgend die Kollision des Identitätszwangs des Ichs, der konkret historischen Subjektivität des Subjekts selbst, mit dem Vorbegrifflichen, dem Nichtidentischen, dem Substrat der ersten Natur (5.2.1.) und die Kollision des Ichs mit der Möglichkeit des eigenen Lebens. (5.2.2.)

5.2.7. Widerstreit des Identitätszwangs des Ich, der konkret historischen Subjektivität des Subjekts selbst; mit dem Vorbegrifflichen, dem Nichtidentischen, dem Substrat der ersten Natur Indem der Rechtsbegriff von einem sozialphilosophischen Begriff der an einer Rechtsidee orientierten Verhaltenssteuerung auf den Bereich der Intrapersonalität erweitert wurde, wurden Recht und Unrecht zu einem problematischen Verhältnis innerhalb der je einzelnen Person.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

219

Die Dialektik von Freiheit und Recht begründete gemäß dem Selbsterhaltungsprinzip gerade auch das Unrecht aus der Unfreiheit des je Besonderen 790 : Daß es nicht es selbst sein könne ohne seine eigene Natur oder die eines anderen negieren zu müssen. Indem das siegreiche Selbst nur um den Preis der eigenen Verfallenheit an den Fluch den Siegeszug des recht Behaltenden antrat, instaurierte sich das Recht des Subjekts als Allgemeines 791 nur über den schmerzhaften Weg der Selbstverleugnung, der Introversion des Opfers, der Regression, bzw. der unmittelbaren Unterdrückung des eigenen Leibes und des Lebens der anderen. 792 Der Rechtsbegriff entstand deshalb nur im Gleichschritt mit dem ihm zugleich zugewiesenen Gehalt von Unrecht in einer Bewegung von außen nach innen. Durch die Rationalisierung dieses aus Natur stammenden Stärke-Schwächeverhältnisses verlagerte sich der Begriff der in der mythischen Phase die einzelnen Akteure diffus "einschließenden und bedrohenden Rechtsverhältnisse". 7 9 3 Im aufklärerischen Sieg des nur scheinbar über die Natur triumphierenden herrischen Subjekts aber realisierte sich zugleich das Paradoxon eines aus Herrschaft stammenden Rechtsbegriffes: Äußerer Zwang und Schrecken und mit ihnen der Begriff des äußeren Rechtsanspruchs wanderte als Prinzip, und damit als Potential prinzipieller Verselbständigung und Rückveräußerlichung, in die Innerlichkeit des Subjekts. Die Unversöhntheit von Mensch und Natur lebte insofern im Subjekt als Unrechtsverhältnis eigener Unversöhntheit von Leib und Seele, herrschaftlichem Selbst und innerer Natur, als Nichtidentität subjektiven Lebens fort. 7 9 4

790 Deutlich wird dies insbesondere an der bereits oben zitierten Stelle: "Was sich..in den Menschen, aus ihren Reflexen und gegen diese, objektiviert hat, Charakter oder Wille, das potentielle Organ der Freiheit, untergräbt auch diese. Denn es verkörpert das herrschaftliche Prinzip, dem die Menschen fortschreitend sich selbst unterwerfen. Identität des Selbst und Selbstentfremdung begleiten einander von Anbeginn; darum ist der Begriff Selbstentfremdung schlecht romantisch. Bedingung von Freiheit, ist Identität unmittelbar zugleich das Prinzip des Determinismus. Wille ist soweit, wie die Menschen sich zum Charakter objektivieren. Damit werden sie sich selbst gegenüber - was immer das sein mag - zu einem Äußerlichen, nach dem Modell der auswendigen, der Kausalität unterworfenen Dingwelt." ND 216. Vgl. auch oben BT 4.1.1., Fn 129, S. 39 ("Der Zusammenhang ...") 7 9 1 Vgl. oben BT 4.1.1. Vgl. a. DdA 82. 7 9 2

Vgl. oben BT 4.1.1. Text zu Fn. 132 "Im Sirenenbild stehen die Ruderknechte bildlich auch für ...", vgl. a. DdA 69/70. 7 9 3

794

Vgl. oben BT 4.1.1. Text zu Fn. 135 und DdA 77.

Vgl. oben BT 4.1.1. "Je mehr Identität durch den herrschaftlichen Geist gesetzt wird, desto mehr Unrecht widerfährt dem Nichtidentischen. Das Unrecht erbt sich fort an dessen Widerstand. Er wiederum verstärkt das unterdrückende Prinzip, während zugleich das Unterdrückte vergiftet sich weiterschleppt." GS, Bd. 10 II, S. 623.

220

Besonderer Teil

In der bürgerlich industriellen Phase 795 entpuppte sich im Unrechtstausch mit dem Betrug des listigen Siegers an der besiegten Naturgewalt zugleich auch die Schwäche des Selbstbeherrschten kraft der Schwächung seiner eigenen inneren Natur. Damit enthüllte sich die zunehmende Unversöhntheit von Subjekt und Natur, die Introversion des Opfers, als verinnerlichte Bedingung entstehender Subjektivität und Entstehungsvoraussetzung abendländischer Zivilisation.796 Das Unrechtsverhältnis aber offenbarte sich mit dem Grad der radikalen Verinnerlichung dieser zunehmenden Unversöhntheit von Subjekt und Natur nicht erst dadurch, daß es als Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses nach außen trat. Das Recht des Subjekts und seines Ichs entstand vielmehr als Unrecht bereits aus dem Grunde dieser Selbstverleugung, der Nichtidentität des Subjekts mit seiner "vorichlichen", seiner vorphilosophischen Natur. Die Unmittelbarkeit der Naturherrschaft, das Allgemeine der Beziehung der Natur zum Menschen im Mythos nämlich, schlug in universelle Vermittlung und damit in universales Unrecht gerade auch in der Sphäre des Besonderen selbst um. Die geschichtsphilosophische Deutung der Entstehungsgeschichte des Subjekts zeigt auf diese Weise ihre rechtsphilosophische Dimension. Als sozialpsychologische Wirksamkeit des Tauschprinzips trägt sie damit zugleich ihre unrechtsphilosophische Bedeutung: 797 Das Unrecht wird also durch das identische Ich dadurch erzeugt, daß seine Identität auch gerade das Nichtidentische, die erste Natur des eigenen Lebens, unter ihr Prinzip zwingt. Im Zusammenhang mit dem Bilderverbot ergibt sich daraus die Stellung des Unrechts aus der Sphäre des Ichs gegen Leib, Impuls und Umgebung im negativen Naturrecht Adornos: Unrecht erscheint als Eingriff des identischen Ichs ins Nichtidentische, als Verletzung des ganzheitlichen, heiligen, vorrationalen Urrechts, das nur aus Gründen der Argumentation mit dem Bilderverbot sollenstheoretisch bewehrt w i r d . 7 9 8 Das eigentliche Urrecht aber ist die vom herrischen Ich und den sozialpsychologischen Mechanismen der Vermittlung verursachten Deformationen unberührte Nichtidentität des Lebens selbst. So wird das intrapersonale Unrecht schließlich auch wörtlich benannt als das "alte Unrecht, Ich überhaupt zu sein" 7 9 9 ; doch begründet im Verhältnis zur

7 9 5

Vgl. oben BT 4.1.2.

7 9 6

Vgl. dazu AT 5.

7 9 7

Vgl. dazu schon oben BT 4.1.2. und Text zu Fn. 138 "Bezahlt wird ..." sowie DdA 28/29.

7 9 8

Vgl. zum Bilderverbot schon oben BT 5.1.1. und unten BT 7.5.

7 9 9

Noten zur Literatur I, GS, Bd. 11, S. 120; vgl. auch schon oben BT 5.1.4.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

221

vernunftrechtlichen Tradition im Sinne der Identitätsphilosophie die Unrechtsbehauptung selbst sich nicht aus einer zugrundeliegenden begrifflichen Struktur, sondern aus der Konfrontation des Nichtbegrifflichen überhaupt mit dem Zwangsprinzip der Identifikation. Gerade durch die unsäglichen Anstrengungen des herrschaftlich herangezüchteten männlichen Selbst, identisches Selbsterhaltungsverhältnis des losgelassenen Ich gegenüber Leib und Seele, wird der soziale Rechtsbegriff als dialektisch rechtspsychologischer auf das Subjekt zurückgewendet, dem auch schließlich in der Gesellschaft das objektive Unrecht, 8 0 0 über das die einzelne Person nichts vermag, entspringt. Denn in der Prinzipialisierung des Überlebens- und Selbsterhaltungsstrebens im Recht des Subjekts wird das Selbst im Herrschaftzusammenhang des Tauschprinzips ins Unrecht gesetzt. Ist die Zurichtung der Seelen durch das Wesen des Tauschs in dessen Welt so fundamental, daß es aus ihm kein Entrinnen gibt, so sind die Einzelwesen auch gerade im Verhältnis zu dem, was in ihnen noch nicht genug sie selber sind, ihrer ersten Natur, des unbegriffen Mythischen, im Unrechtszustand. 801

5.2.2. Kollision des Ichs mit der Möglichkeit des eigenen Lebens Ist also die konkret die erste Natur im Leben restringierende Wirkung des herrschaftlichen Ichs ausschlaggebend für die erste Dimension eines intrapersonalen Unrechtsbegriffes, so ergibt sich die zweite Dimension als Kollision nicht mit der konkret verletzten ersten Natur, sondern mit dem spekulativ wahren Inhalt der Möglichkeit von Subjektivität überhaupt. Dabei geht es also um die Potentialität der im Begriff des Subjekts selbst liegenden Entfaltungen. Der unrechtsbegründende Zusammenhang ist derselbe wie in Dimension eins, die Wirkung besteht aber nicht in der konkreten Verletzung eines seiend Natürlichen (Impuls, Seele), sondern in der Restriktion des Entfaltungspotentials des Subjekts auf die abendländisch herrschaftliche Variante eines je subjektiven Charakters, 802 der sich dem formalen Gleichheitssatz um den Preis des Untergangs alles Individuellen unterwirft. 800 8 0 1

802

Gerade auch das Allgemeine des gesellschaftlichen Ganzen vgl. oben BT 5.1. Vgl. oben BT 4.1.2.

"Unterm Aspekt von Freiheit sind sie (Freiheit und Determination) mit sich unidentisch, weil das Subjekt noch keines ist, und zwar gerade vermöge seiner Instauration als Subjekt: das Selbst ist das Inhumane. Freiheit und intelligibler Charakter sind mit Identität und Nichtidentität verwandt, ohne clare et distincte auf der einen oder anderen Seite sich verbuchen zu lassen." N D 294.

222

Besonderer Teil

Wesentlich ist dieser Dimension, daß in ihr die Utopie der Versöhnung vom Recht des Leibes mit dem aus ihm stammenden Bewußtsein des Subjekts verschüttet erscheint. So wird "mit der Verleugnung der Natur im Menschen ... nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung, sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig . . . " 8 0 3 Beide Dimensionen zeigen die Weite des Unrechtsbegriffes im dialektischen Mikrokosmos des das Besondere durchziehenden Allgemeinen: Als unrechtsfähig erweist sich das Seiende überhaupt vor dem ihm widerfahrenen Unrecht durch den identifizierenden Geist. 8 0 4 Aus beiden Dimensionen folgt zudem, daß Naturrecht als idealistische Kritik gegen ein geschichtlich Gewordenes unmöglich wird. Es wird zum Recht der ersten Natur auch in der Person gegen den allgemeinen Zwang zur Identität in und außerhalb von i h r . 8 0 5 Diese Überlegungen erweisen das Naturrecht bei Adorno als Recht der richtigen Natur in einem Konzept der Sozialpsychologie eigener Art. Naturrecht verdreht sich in der dialektischen Doppelhelix des Besonderen in dessen mit dem Allgemeinen verwobenen Geschichte. Und von vornherein ist diese Geschichte die Psychosomatik des Besonderen unter dem Zwangsprinzip des Tauschs: "Weil die herrschende Objektivität den Individuen objektiv inadäquat ist, realisiert sie sich einzig durch die Individuen hindurch, psychologisch." 806 Denn bezeugt sich alle bisherige Geschichte nicht nur als Geschichte unter der Vormacht des Identitätsprinzips, sondern kann die Radikalisierung dieser Vormacht nur durch eben diese Verinnerlichung erfolgen, so geht mit der Verabsolutierung des Tauschprinzips gerade auch die Verinnerlichung des Unrechtsverhältnises einher: "Die Menschen sind nicht nur einem ihnen Äußerlichen, Drohenden, überantwortet, sondern dies ihnen Äußerliche ist zugleich eine Bestimmung ihres eigenen Wesens, sie sind sich selbst äußerlich geworden. Darum lassen sie mit Errungenschaften, die längst nicht mehr ihrem Glück und ihrer Freiheit zugutekommen, sich einlullen." 8 0 7 8 0 3

Vgl. DdA 51.

8 0 4

Vgl. oben BT 5.1.1.

8 0 5

Vgl. oben BT 1.

Orti

N D 345. Die literarische Detailstudie hierzu dämmert in den Konturierungen des von Kafka beschriebenen K: Weil sich aus der Angst, das eigene Selbst zu verlieren, das Innenleben der Kreatur zum verinnerlichten äußeren Rechts- und Sicherheitsdenken zusammenzieht, erscheinen die angstneurotischen Visionen des Κ als wahnsinnige Verirrungen des sich selbst nicht findenden Subjekts: Als in die Außenwelt zurückprojiziertes Anspruchssystem erkalteter Gefühle. Κ ist der Prototyp des verrechtlichten Subjekts. Er ahnt bereits, daß gerade seine legitimen Selbsterhaltungswünsche im Zustand heilloser Verstrickung, in dem es sich befindet, nur die Vorboten vollkommener Verlorenheit sind: Der Einsicht, dem Unrechtszustand hoffnungslos verfallen zu sein. 8 0 7 Individuum und Organisation, GS 8, S. 451, vgl. zur allgemeinen Kennzeichnung oben AT 5.2.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

223

Erfolgt die Unterwerfung des Besonderen unter das Allgemeine der Gesellschaft nur aufgrund der psychosomatischen Wirkweise des Tauschprinzips 808 durch die Bändigung der Inwendigkeit der Einzelnen, und zwar als dialektisch ganzheitliche Integration - mit Leib und Seele - 8 0 9 der Einzelglieder in das objektiv gesellschaftliche Ganze, so muß selbst die Staatsphilosophie für den funktionalen Integrationsvorgang des Gesellschaftlichen auf die Psychologie zurückgreifen. 810

5.3. Der Begriff der Ungerechtigkeit: Einheit von Unrecht, Unwahrheit und Ungerechtigkeit aus dem Identitätsprinzip und der Konsequenzlogik Oben wurde schon gezeigt, daß sich im Denken Adornos das Verhältnis von Recht und Staat in das von materialer Gerechtigkeit und Tauschprinzip transzendiert, 811 so daß hinsichtlich ihres gemeinsamen Bezuges zum Topos der falschen Identität von Wirklichkeit und Philosophie eine inhaltliche Trennung von Recht und Gerechtigkeit nicht als angebracht erscheint. Recht und Gerechtigkeit sind bloß verschiedene Ausprägungen des Identitätsprinzips. Während das positive Recht aus dem identischen Ich rückübersetztes herrschaftsvermehrendes verdinglichtes Bewußtsein ist, erweist sich Gerechtigkeit als ideologische Illusionsform einer gegen die Unwahrheit des Ganzen abgeblendeten philosophischen Reflexion 8 1 2 des Rechts. Insofern der bürgerliche Gerechtigkeitsbegriff die Herkunft des Rechts aus Naturherrschaft verkennt, trägt er zu genau dieser bei. Die Gleichheit, die von der Gerechtigkeitsidee der herrschenden Vernunft gemeint ist, erscheint als die Verlängerung der Naturherrschaft durch auf ihren Naturzusammenhnag nicht reflektierte Instauration von Identität mittels der Konsequenzlogik:

8 0 8 Vgl. BT 3.3.2. 4.1.2. unten BT 5.3. Vgl. zur Psychologie des Wertgesetzes auch schon Marx, Studienausgabe II, S. 103/104

QQQ

"Uber den Kopf der formal freien Individuen hinweg setzt das Wertgesetz sich durch. Unfrei sind sie, nach der Einsicht von Marx, als seine unwillentlichen Exekutoren, und zwar desto gründlicher, je mehr die gesellschaftlichen Antagonismen anwachsen, an denen die Vorstellung von Freiheit erst sich bildete. Der Prozeß der Verselbständigung des Individuums, Funktion der Tauschgesellschaft, terminiert in dessen Abschaffung durch Integration. Was Freiheit produzierte, schlägt in Unfreiheit um." N D 259, Hervorhebung vom Verfasser. 8 1 0 Vgl. oben BT 5.1.3.2.2. Nation, Integration und Unterwerfung. 8 1 1

812

Vgl. BT 5.2.3.5.

"Wie im Tausch jeder das Seine bekommt und doch das soziale Unrecht sich dabei ergibt, so ist auch die Reflexionsform der Tauschwirtschaft, die herrschende Vernunft, gerecht, allgemein und doch partikularistisch, das Instrument des Privilegs in der Gleichheit." DdA 236.

224

Besonderer Teil

"Die formale Logik war die große Schule der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema der Berechenbarkeit der Welt ... Dieselben Gleichungen beherrschen die bürgerliche Gerechtigkeit und den Warenaustausch: 'Ist nicht die Regel, wenn Du Ungleiches zu Gleichem addierst, kommt Ungleiches heraus, ein Grundsatz sowohl der Gerechtigkeit als der Mathematik? Und besteht nicht eine wahrhafte Übereinstimmung zwischen wechselseitiger und ausgleichender Gerechtigkeit auf der einen und zwischen geometrischen und arithmetrischen Proportionen auf der anderen Seite?' Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert ... Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Rüssel. Beharrt wird auf der Zerstörung von Göttern und Qualitäten." 813 Das Ergebnis ist, daß sich nicht nur Recht nicht an Gerechtigkeit als einer Art höherer Leitidee orientieren und durch sie legitimieren kann, 8 1 4 sondern daß, umgekehrt, Gerechtigkeit in der Fortsetzung der Herrschaft im Recht untergeht. Denn Gleichheit ist das dem Allgemeinen der Natur, der Einheit von Selbsterhaltung, Vergängnisdrohung und Herrschaft 815 abgerungene Modell des Verhängnisses. Gerechtigkeit vermag deshalb nicht den Kreislauf des Naturfluches, der sich durch Schuld und Herrschaft in die Innerlichkeit der Zivilisation introvertiert, zu durchbrechen: "Der mythische Dualismus führt nicht über den Umkreis des Daseins hinaus. Die vom Mana beherrschte Welt und noch die des indischen und griechischen Mythos sind ausweglos und ewig gleich. Alle Geburt wird mit dem Tode bezahlt, jedes Glück mit Unglück. Menschen und Götter mögen versuchen, in ihrer Frist die Lose nach anderen Maßen zu verteilen als der blinde Gang des Schicksals, am Ende triumphiert das Dasein über sie .. Selbst ihre Gerechtigkeit noch, die dem Verhängnis abgerungen ist, trägt seine Züge, sie entspricht dem Blick, den die Menschen, Primitive sowohl wie Griechen und Barbaren aus einer Gesellschaft des Drucks und Elends auf die Umwelt werfen. Daher gelten denn der mythischen wie der aufgeklärten Gerechtigkeit, Schuld und Buße, Glück und Unglück, als Seiten einer Gleichung. Gerechtigkeit geht unter in

8 1 3 DdA 23 (Zitat von Bacon, Advancement of Learning, a.a.O, Band II, S. 126, A.d.V.). Hat das Allgemeine in der Gestalt von Göttern oder Qualitäten substanziellen Anteil an Entstehung oder Erscheinungsform der Phänomene, so wäre solches am Phänomen noch nicht aufgegebene Wesenhafte gegenüber dem erkennenden Subjekt gerade auch Nichtidentisches. Indem Ungleichnamiges komparabel gemacht und um den Preis der Komparabilität Nichtidentisches zerstört wird, läßt die Organisationsform von Geist und Wirklichkeit weder Geist noch Wirklichkeit zu. Die formale Logizität ergreift sowenig die Wahrheit wie die Gerechtigkeit. Indem Gerechtigkeit auf Logizität und Subsumtion reduziert wird, wird gerade Ungerechtigkeit zur Norm erhoben. 8 1 4

Vgl. z.B. nur Radbruch 1950, § 4, Der Begriff des Rechts.

8 1 5

Vgl. oben AT 5.1.2.1.

5. Unrecht als unwahres Ganzes

225

Recht. Der Schamane bannt das Gefährliche durch dessen Bild. Gleichheit ist sein Mittel. Sie regelt Strafe und Verdienst in der Zivilisation. Auf Naturverhältnisse lassen sich auch die Vorstellungen der Mythen ohne Rest zurückführen. Wie das Sternbild der Zwillinge mit allen anderen Symbolen der Zweiheit auf den unentrinnbaren Kreislauf der Natur verweist, wie dieser selbst im Symbol des Eis, dem sie entsprungen sind, sein uraltes Zeichen hat, so weist die Waage in der Hand des Zeus, welche die Gerechtigkeit der gesamten patriarchalen Welt versinnbildlicht, auf bloße Natur zurück." 8 1 6 Genau wie sich Recht in der bürgerlich industriellen Phase der Aufklärung in Naturherrschaft als objektivierter Veräußerlichung verdinglichten Bewußtseins darstellt, zeitigt auch der Gleichheitsbegriff seine herrschaftsverwirklichende Wirkung in der bürgerlichen Gesellschaft durch das Bewußtsein der Menschen hindurch: "Der Schritt vom Chaos zur Zivilisation, in der die natürlichen Verhältnisse nicht mehr unmittelbar, sondern durch das Bewußtsein der Menschen hindurch ihre Macht ausüben, hat am Prinzip der Gleichheit nichts geändert ... Zuvor standen die Fetische unter dem Gesetz der Gleichheit. Nun wird die Gleichheit selber zum Fetisch . . . " 8 1 7 Die Einheit von Rechts- und Gerechtigkeitsbetrachtung, der Möglichkeit moralischen Handelns und der Unwahrheit des Ganzen 818 ist so dicht, daß noch der Verbrecher nicht von Gerechtigkeit ereilt werden kann: Denn Gerechtigkeit ist "ohnehin keiner Sanktion fähig, die der begangenen Untat gerecht würde, schon falsch, komprommittiert vom gleichen Prinzip, nach dem die Mörder einmal handelten ...". 8 1 9 So wäre zwar der Freispruch das "nackte Unrecht", aber die "gerechte Sühne würde vom Prinzip zuschlagender Gewalt sich anstecken lassen, dem zu widerstehen allein Humanität i s t . " 8 2 0 Die durch Konsequenzlogik 821 und Identitätsprinzip hergestellte Einheit von Moral, Recht und Gerechtigkeit wird von Adorno noch durch seine Kritik, die auf die Veränderung des unwahren Ganzen geht, bestätigt: Denn so wie Konsequenzlogik als logische Methode des Identitätsprinzips im Bereich der

8 1 6

DdA 32/33.

8 1 7

DdA 33.

O IO

"Die Nichtidentität des Antagonistischen ... ist die jenes Ganzen, das nicht das Wahre, sondern das Unwahre, der absolute Gegensatz zur Gerechtigkeit ist. Aspekte, Mk 276/277, vgl. auch oben BT 2. 8 1 9 N D 282. 8 2 0

821

N D 282.

"Die totalitäre Ordnung aber setzt kalkulierendes Denken ganz in ihre Rechte ein ... DdA 105.

226

Besonderer Teil

Moral zum "Organ von Unfreiheit" w i r d , 8 2 2 so wird gerade "Im eingestandenen Bruch zwischen einer Vernunft des Rechts, welche zum letzten Mal den Schuldigen die Ehre einer Freiheit antut, die ihnen nicht gebührt, und der Einsicht in ihre reale Unfreiheit ... die Kritik am konsequenzlogischen Identitätsdenken moralisch." 823 Im "ungerechten Zustand", in dem die "Ohnmacht und Lenkbarkeit der Masse mit der ihr zugeteilten Gütermenge" 824 steigt, ist Moral und Gerechtigkeit nur noch möglich als Kritik am konsequenzlogischen Recht, ihren scheinbewahrenden und herrschaftssichernden Ideologieformen. 825 Individualmoral und Gerechtigkeit des Ganzen, Verhalten und Philosophie sind der Theorie verpflichtet, die das Unrecht der "Entfaltung der Gleichheit des Rechts zum Unrecht durch die Gleichen", 826 die Fortsetzung des durch das Bewußtsein der Menschen hindurchgehenden bewußtslosen, da unreflektierten Naturzustandes, verneint (siehe nachstehendes Schaubild). Zur Einheit von Moral, Recht, Gerechtigkeit unter der Vormacht des Tauschprinzips Unmoral

Unwahrheit Identität Konsequenzlogik Gleichheit Tausch Ungerechtigkeit

Unrecht

822 "Kritik an der Moral gilt der Übertragung von Konsequenzlogik aufs Verhalten der Menschen; die stringente Konsequenzlogik wird dort Organ von Unfreiheit..." N D 281. 8 2 3 N D 283. 824 DdA 15. Das Zitat bestätigt nicht nur auch terminologisch die Einheit von Unrecht und Ungerechtigkeit als Ergebnis der Totalität des Ganzen, sondern bezeugt auch die Dialektik des allgemeinen Vermittlunsgzusammenhangs, innerhalb dessen der unwahre Zustand der Subjektivität den objektiven Prozeß der Tauschgesellschaft vermittelt und umgekehrt. 825 Konsequenzlogische Gerechtigkeit des Gleichheitssatzes ist dagegen nicht gerecht, weil sie a. der Wirklichkeit (Nichtidentität) nicht gerecht wird, b. ungerecht, weil sie die Wirklichkeit identisch macht und c. wegen der Innerlichkeits-Äußerlichkeitsdialektik es auch nicht ausreichend wäre, jedem das Seine im Falschen zu geben, das doch selbst nur falsch sein könnte, angesteckt durchs Tauschprinzip. Das Prinzip "Jedem das Seine" wäre wiederum nur als Impuls oder als bestimmte 826 Negation im Rahmen einer dialektischen Kritik des Ganzen durchzuführen. "Die Einheit des manipulierten Kollektivs besteht in der Negation des je Einzelnen, es ist Hohn auf die Art Gesellschaft, die es vermöchte, ihn zu einem zu machen. Die Horde, deren Name zweifelsohne in der Organisation der Hitlerjugend vorkommt, ist kein Rückfall in die alte Barbarei, sondern der Triumph der repressiven Egalität, die Entfaltung der Gleichheit des Rechts zum Unrecht durch die Gleichen." DdA 29.

6. Positives Naturrecht

227

6. Positives Naturrecht Während sich in der Rechtsphilosophie Hegels das positive Recht, da sich seine Entfaltung im Entwicklungsgang des absoluten Geistes vollzieht, immer zugleich auch als Moment der Verwirklichung des naturrechtlichen Gehalts der Rechtsphilosophie des Ganzen bestimmen läßt, muß Adorno aus der Kritik jeglicher Identitätsphilosophe heraus nicht nur die ideologische Funktion des abstrakten und des positiven Rechts, sondern, wegen des bloß ideal-wirklichkeitsoppositiven Wesens des Naturrechts 827 in seinen begriffsdeduktiven Konstruktionen, immer auch dieses infragestellen. Denn es vermöchte Naturrecht nur dann auch das Recht des Nichtidentischen zu befördern, wenn es mit seiner die Vormacht des allgemeinen Zurichtungsprinzips negierenden kritischen Funktion nicht zugleich auch den Effekt hätte, bloß auf zeitlose Weise und unverstärkt durch staatsorganisatorische Verrechtlichungen, im Begriff die Unversöhntheit von Allgemeinem und Besonderen, die Herrschaft des zum Wesen hochreduzierten, aus dem Besonderen herausgefiltert Abstrakten und mit diesem das Prinzip des Unrechts zu verstärken, das seinen Ausdruck in jeglicher Distanz des Begriffs vom Besonderen des Objekts wiederfände. Nur insofern also das Naturrecht als Entwicklung identitätsphilosophischer Rationalität überhaupt eine kritische Spannung zur Unwahrheit des positiven Rechts bewahren kann, vermag es dem Votum ungebrochener Unwahrheit zu entgehen: "Führt jede inhaltlich ausgeführte, positive Lehre vom Naturrecht auf Antinomien, so bewahrt dessen Idee dennoch kritisch die Unwahrheit positiven Rechts." 8 2 8 Antinomik und Nichtdialektik aber verhindern einen Prozeßcharakter positiven Naturrechts, der mit seiner durch die Bestimmungen und Erfahrungen des Besonderen hindurch sich schulenden Offenheit um die Bedrohung der Natur durch den herrschaftlichen Geist wüßte, und nicht abermals den Teufel zum Anwalt des Geschundenen machte. Dies wurde oben schon unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit einer Moral als Utopie der Versöhnung entwickelt. 8 2 9

827 8 2 8

829

Vgl. hierzu bereits seine Ablehnung des Piatonismus als Abstraktion oben AT 4.1. ND 305.

Vgl. AT 3.3.2.2.2. Die Ausführungen zum Problem des Verhältnisses von Sollenssätzen zur moralischen Substanz des Handelns, zu Theorie und Praxis gelten auch für diesen Abschnitt.

228

Besonderer Teil

Für Adorno gilt: "Wer einem Verfolgten hilft, (hat A.d.V.) das theoretisch höhere Recht, als wer in der Kontemplation darüber beharrt, ob es ein ewiges Naturrecht gebe oder nicht, obwohl die moralische Praxis allen theoretischen Bewußtseins bedarf. Insofern behält der Fichtesche Satz vom Moralischen, das sich von selbst verstehe, trotz seiner Fragwürdigkeit, auch sein Recht. Philosophie, die sich der Praxis gegenüber derart überfordert, daß sie diese ganz zur Identität mit sich zwingen möchte, ist ebenso falsch wie eine dezisionistische Praxis, welche die theoretische Besinnung abschneidet. Der gesunde Menschenverstand, der das vereinfacht, um etwas Brauchbares in die Hand zu bekommen, geht der Wahrheit selbst ans Leben. Philosophie ist heute nicht in Gesetzgebung und juristische Prozeduren bündig zu transformieren. Ihnen ziemt einige Bescheidenheit, nicht nur, weil sie der Philosophischen Komplexion nicht gewachsen sind, sondern auch dem theoretischen Stand der Einsicht zuliebe ..." 8 3 ° Als praktische Konsequenz für eine rechtsphilosophisch am Naturrecht sich orientierende Rechtswissenschaft empfiehlt Adorno deshalb eine grundlegende Umorientierung auf die Gesellschaftswissenschaften als Basis eines problemorientierten Bewußtseins: "Anstatt, in frisch fröhlichem Drauflosdenken, die Frage an falsche Tiefe oder radikale Flachheit zu verraten, müßte die Jurisprudenz erst einmal das fortgeschrittenste Niveau des psychologischen und des gesellschaftlichen Wissens erreichen. Bis zur Lähmung des unreglementierten Gedankens okkupiert die Wissenschaft allerorten das Feld des naiven Bewußtseins; auf dem jedoch, das der Jurisprudenz für ihre Domäne gilt, verfügt Wissenschaft, die von der Gesellschaft und die Psychologie, tatsächlich, über mehr Daten, als den juridischen Sachverständigen bekannt ist . . . " 8 3 1

7. Negatives Naturrecht Das rechtsphilosophische Verhältnis Adornos zu Staat und Recht, wie sie der besondere Teil dieser Arbeit auf der Grundlage des Zusammenhangs von Erkenntnis- und Geschichts- sowie Sozialphilosophie des Allgemeinen Teils aus der Kritik des Identitätsprinzips heraus entwickelt hat, stellt sich selbst als negatives Naturrecht dar.

8 3 0

Sexualtabus und Recht heute, GS, Bd. 10 II, S. 550.

8 3 1

Sexualtabus und Recht heute, GS, Bd. 10 II, S. 550/551.

.

tives Naturrecht

229

7.1. Negative Dialektik des Besonderen Zwar geht es in Adornos Philosophie zuletzt darum, die Entfaltung des Besonderen zu fördern und den Begriff einer Utopie der Versöhnung freizulegen, aber da eine Philosophie des Besonderen selbst "idealistisch nicht auszutragen"832 ist, solange Dialektik wegen der Vormacht des alles durchdringenden Identitätsprinzips und des daraus resultierenden Obwaltens des gesellschaftlichen Antagonismus noch kritisch und damit negativ gegen Identität und Tausch anzukämpfen hat, so ist sie dem Recht des Besonderen auch bloß kritisch verpflichtet: Denn es ist Adorno darum zu tun, das in der Philosophie Hegels angelegte Recht des Besonderen unter der Idee einer Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem 833 begreifen zu können, die nicht unter dem Index der Unwahrheit, der falschen Identität von Allgemeinem und Besonderen notgedrungen stehen müßte. 8 3 4 So bleibt das Naturrecht des Besonderen sowie der Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem im gegenwärtigen Zustand des Ganzen weiterhin auf die Arbeit an der Utopie verwiesen.

7.2. Utopie des Besonderen Es geht um die "unter der Allgemeinheit verschüttete Utopie des Besonderen ... jene Nichtidentität, welche erst wäre, wenn die verwirklichte Vernunft die partikulare des Allgemeinen unter sich gelassen hätte." 8 3 5 Inhaltlich stellt sich diese Utopie des Besonderen als "opferlose Nichtidentität des Subjekts" dar. 8 3 6 Es gälte, den prototypisch von Odysseus symbolisierten Zusammenhang

8 3 2

ND 323.

"Die volle Versöhnung durch den Geist inmitten der real antagonistischen Welt, ist bloße Behauptung. Die philosophische Antezipation der Versöhnung frevelt an der realen; was immer ihr widerspricht, schiebt sie als philosophie-unwürdig der faulen Existenz zu. Aber lückenloses System und vollbrachte Versöhnung sind nicht das Gleiche, sondern selber der Widerspruch: die Einheit des Systems rührt her von unversöhnter Gewalt." ND 273. 834 "Wenn Hegel die Doktrin von der Identität des Allgemeinen und Besonderen zu einer Dialektik im Besonderen selber weitergetrieben hätte, wäre dem Besonderen, das ja ihm zufolge das vermittelt Allgemeine ist, soviel Recht zuteil geworden wie jenem." ND 323 Jedoch zeitigt "das Wahrste an Hegel, das Bewußtsein des Besonderen ... das Falscheste, schafft das Besondere fort, nachdem in Hegel Philosophie tastet." Vgl. ebd. 8 3 5 ND 312. o« N D 277. Darin wäre die "Auflösung des Subjekts zugleich das ephemere und verurteilte Bild eines möglichen Subjekts. Gebot einmal seine Freiheit dem Mythos Einhalt, so befreite es sich, als vom letzten Mythos, von sich selbst." ND 277. 15 M. Becker

230

Besonderer Teil

von äußerer Naturbeherrschung und Introversion des Opfers als Entwicklungsgang der Zivilisation in die Gesellschaft als Zweiter Natur zu durchbrechen. 837

7.3. Utopie des Lebens als Utopie des Allgemeinen Da das Besondere von seinem Gesamtzusammenhang nicht wegzudenken ist, geht es zugleich auch um die Utopie des Allgemeinen. Sie ist insbesondere Utopie herrschaftsfreien, 838 nichtidentischen Lebens: "Während es unter den Bedingungen von Unfreiheit weiter sich reproduziert, setzt sein Begriff, dem eigenen Sinn nach, die Möglichkeit des nicht schon Einbezogenen, der offenen Erfahrung voraus, die so sehr sich minderte, daß das Wort Leben bereits wie leerer Trost klingt." 8 3 9 So bleibt der Verweis auf einen Prozeß, innerhalb dessen "die Menschheit sich herausarbeitet" und aus dem heraus, "was heute noch für Leben gilt... nur darüber täuscht, wie wenig Leben schon ist. Bis dahin ist die waltende Gesetzlichkeit dem Einzelnen und seinen Interessen konträr." 8 4 0 Wie allerdings angesichts der "geschlossenen Universalität gesellschaftlicher A r b e i t " 8 4 1 innerhalb derer "nichts gewußt wird, als was durch Arbeit hindurchging," und "die Arbeit, zu Recht und zu Unrecht zum Absoluten, Unheil zum H e i l " 8 4 2 geworden ist, das Sichherausarbeiten der Menschheit zu einer herrschaftsfreien Gesellschaftsform 843 soll führen 8 4 4 können, ist äußerst fraglich. So blickt zwar auch Adornos, nicht nur jene von ihm apostophierte "geheime Utopie im Begriff der Vernunft durch die zufälligen Unterschiede der 837 "Vielleicht wären freie Menschen auch vom Willen befreit, sicherlich erst in einer freien Gesellschaft die Einzelnen frei. Mit der äußeren Repression verschwände ... die innere." ND 261. 838 "Wohl dürfte man der Spekulation sich überlassen, ob nicht der Schauer vor der Organisation zerginge, wenn sie geformt wäre nach den Bedürfnissen einer freien und mündigen Menschheit. " Individuum und Organisation, GS, Bd. 8, S. 446. 8 3 9 N D 259. 8 4 0

N D 260.

8 4 1

Aspekte, Mk 265/266.

8 4 2

Aspekte, Mk 272.

843

"Vernunft als das transzendentale überindividuelle Ich enthält die Idee eines freien Zusammenlebens der Menschen, in dem sie zum allgemeinen Subjekt sich organisieren und den Widerstreit zwischen der reinen und empirischen Vernunft in der bewußten Solidarität des Ganzen aufheben. Es stellt die Idee der wahren Allgemeinheit dar, die Utopie." DdA 102. 8 4 4 "Denn die Verabsolutierung der Arbeit ist die des Klassen Verhältnisses: eine der Arbeit ledige Menschheit wäre der Herrschaft ledig. Das weiß der Geist, ohne es wissen zu dürfen, das ist das ganze Elend der Philosophie." Aspekte, Mk 272.

.

tives

Naturrecht

231

Subjekte auf ihr verdrängtes identisches Interesse h i n " ; 8 4 5 doch mit jener "Utopie aber, die zwischen Natur und Selbst die Versöhnung ankündigte ...»irrational und vernünftig zugleich, als Idee des Vereins freier Menschen", die "mit der revolutionären Avantgarde aus ihrem Versteck in der deutschen Philosophie" 8 4 6 hervortrat, bleibt auch Adornos Denken verschwistert im doppelten Sinne: Sprechend von der Notwendigkeit der Versöhnung und zugleich rudernd zwischen der Skylla weiterwaltender Abhängigkeit von Identitätsprinzip und gesellschaftlicher Arbeit und der Charybdis bloßer Negativität der Rede vom Recht des Besonderen.

7.4. Versöhnung So ist es schließlich gerade auch der Begriff der Versöhnung selbst, der in der Negativität der Dialektik nicht aufgeblendet zu werden vermag, sondern die Aufgabe trägt, den Widerspruch ans Licht zu bringen: "Verblendete Identität ist das Wesen der Ideologie, des gesellschaftlich notwendigen Scheins. Einzig durch Absolutwerden des Widerspruchs hindurch, nicht durch dessen Milderung zum Absoluten vermöchte er zu zergehen und vielleicht doch einmal zu jener Versöhnung zu finden, die Hegel vorgaukeln mußte, weil ihre reale Möglichkeit ihm noch verhüllt war ... Indem an ihrem Ende die Nichtidentität von Subjekt und Objekt, von Begrijf und Sache, von Idee und Gesellschaft unstillbar hervortritt; indem sie in der absoluten Negativität zergeht, holt sie zugleich ein, was sie versprach, und wird wahrhaft mit ihrem verstrickten Gegenstand identisch . . . " 8 4 7 Es geht Adorno weiterhin um die Radikalität einer Wahrheit, die mit dem Selbstbewußtsein ihres "subjektiven Moments ..., die Reflexion auf die Reflexion, versöhnen soll mit dem Unrecht, das die zurichtende Subjektivität der an sich seienden Wahrheit antut, indem sie sie bloß meint und das als wahr setzt, was nie ganz wahr i s t . " 8 4 8 Entscheidende Bedingung einer überhaupt denkbaren Versöhnung von Subjekt und Objekt sowie Besonderem und Allgemeinem, "eines Menschen möglichen Zustandes ..., in dem die Menschen frei wären von Angst, in dem sie nicht mehr als blind Geworfene sich erführen, in dem sie nicht mehr der Anonymität und der verwüsteten Sprache überantwortet wären: wenn sie näm8 4 5

DdA 103.

8 4 6

DdA 110.

Ολη 8 4 8

Mk 277, Heraushebungen vom Verfasser. Aspekte, Mk 282.

232

Besonderer Teil

lieh einmal der Einrichtung einer gerechten Welt mächtig sind," 8 4 9 aber ist für ihn die Erfüllung des "immer wieder gebrochenen Tausch Vertrags ... mit dessen Abschaffung; der Tausch verschwände, wenn wahrhaft Gleiches getauscht würde ..." 8 5 ° Die Wirklichkeit des Tausches bleibt damit auch Maßstab für die Richtigkeit der Gesellschaft: "In einer richtigen Gesellschaft ... würde der Tausch nicht nur abgeschafft sondern erfüllt: keinem würde der Ertrag seiner Arbeit verkürzt." 8 5 1

7.5. Bilderverbot Ihren letzten Grund findet die Negativität eines dialektischen Naturrechts bei Adorno im alttestamentarischen Bilderverbot: "Die Selbstzufriedenheit des Vorwegbescheidwissens und die Verklärung der Negativität zur Erlösung sind unwahre Formen des Widerstands gegen den Betrug. Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots. Solche Durchführung, bestimmte Negation, ist nicht durch die Souveränität des abstrakten Begriffes gegen die verführende Anschauung gefeit, so wie die Skepsis es ist, der das Falsche wie das Wahre als nichtig gilt. Die bestimmte Negation verwirft die unvollkommenen Vorstellungen des Absoluten, die Götzen, nicht wie der Rigorismus, indem sie ihnen die Idee entgegenhält, der sie nicht genügen können. Dialektik offenbart vielmehr jedes Bild als Schrift." 8 5 2 Das Bilderverbot erweist sich als Urrecht seines nichtidentischen Substrates, des Objekts, der Natur, des ganz Anderen, bzw. des Besonderen. Das Nichtidentische soll durch ein Verbot, ein primäres absolutes Abwehrrecht des je Besonderen vor einer auf Herrschaft gehenden Totalität geschützt und vor der Zurichtung durch die Begriffe jeglicher Identitätsphilosophie bewahrt werden. Dabei muß es selbst, schon seiner eigenen sollensphilosophischen Diktion nach, Derivat genau derjenigen Totalität sein, vor der es das Besondere gerade schützen soll. So ist es, seiner eigenen Natur nach, Kind des Widerspruchs, dialektisch. Sein Wesen hat es an der Negation als allgemeines Recht

8 4 9

Individuum und Organisation, GS, Bd. 8, S. 449.

8 5 0

Fortschritt, GS, Bd. 10 II, S. 637 Angstfreiheit wiederum ist erst möglich in einem Zustand, der nicht durch die Notwendigkeit permanenter Verdrängung der Ansprüche des Leibes gegen das Ich geprägt wäre, ein Zustand, in dem man "ohne Angst verschieden sein kann", M M Aph. 66. 8 5 1

oo

N D 291.

DdA 40/41, Hervorhebungen vom Verfasser.

.

tives

Naturrecht

233

gegen das Recht als Recht der konsequenzlogischen Zurichtung des Besonderen. 8 5 3 Aber es ist Abwehrrecht, Recht des "Widerstandes" nur insofern es Urrecht des Werdenden ist, das aus der Hypostasierung des statisch Seienden heraustritt: "Der eklatante Mangel der Kantischen Lehre, das sich Entziehende, Abstrakte des intelligiblen Charakters, hat auch etwas von der Wahrheit des Bilderverbots, welches die Nach- Kantische Philosophie, Marx Inbegriffen, auf alle Begriffe vom Positiven ausdehnte. Als Möglichkeit des Subjekts ist der intelligible Charakter wie die Freiheit ein Werdendes, kein Seiendes. Er wäre verraten, sobald er dem Seienden durch Deskription, auch die vorsichtigste, einverleibt würde. Im richtigen Zustand wäre alles, wie in dem jüdischen Theologumenon, nur um ein Geringes anders als es ist, aber nicht das Geringste läßt so sich vorstellen, wie es dann wäre." 8 5 4 Der Widerspruch hat eine inhaltliche und eine formale Seite: Inhaltlich ist das Bilderverbot widersprüchlich, weil es, noch Ausdruck der Identität des Ganzen, als allgemeines Recht gerade von der Unwahrheit jeglichen Rechts und jeden Gebotes zehren müßte, die es selbst negieren will. Da es aber als Moment des Widerstandes im Ganzen den Anspruch des Nichtidentischen, vor Identität bewahrt zu werden, anders als allgemein nicht stellen kann, verfällt es eben auch, allerdings in seiner absolut negativsten Form, dem Ruch der Identität. Auch das Bilderverbot bleibt als Abwehrrecht des Wesens im Besonderen gegen den falschen Schein, Ausdruck der Unwahrheit die es selbst bekämpft. Das Verbot hat Teil an der Konsequenzlogik, die es verneinen will. Selbst die Negation der Logik lebt von deren Unwahrheit. So kann das Bilderverbot den wahren Zustand nicht herbeinegieren. 855 Es ist ein - notwendiger - Schritt

oo Wer dagegen "einen richtigen Zustand ausmalt, um dem Einwand zu begegnen, er wisse nicht, was er wolle, kann von jener Vormacht, auch über ihn, nicht absehen. Vermöchte selbst seine Phantasie alles radikal verändert sich vorzustellen, so bliebe sie immer noch an ihn und seine Gegenwart als statischen Bezugspunkt gekettet, und alles würde schief. Auch der Kritischste wäre im Stande der Freiheit ein ganz anderer gleich denen, die er verändert wünscht. Wahrscheinlich wäre für jeden Bürger der falschen Welt eine richtige unerträglich, er wäre zu beschädigt für sie. Das sollte dem Bewußtsein des Intellektuellen, der nicht mit dem Weltgeist sympathisiert, inmitten seines Widerstands ein Quäntchen Toleranz beimischen. Wer in Differenz und Kritik nicht sich beirren läßt, darf doch nicht sich ins Recht setzen." ND 345, Heraushebungen vom Verfasser. 8 5 4 N D 294. 8 5 5 Vgl. so auch Grenz 1974, S. 86, vgl. auch Link 1986, S. 109: "Das Bilderverbot wird ... dialektisch: affirmativ und negativ zugleich. Es sperrt sich gleichzeitig gegen das Ausmalen einer humanen Utopie und gegen die Aussage, eine solche Utopie sei nicht realisierbar."

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Besonderer Teil

der Bewahrung des "Rechts" von Identität und Qualität; von Wahrheit und Hoffnung. So vermag auch "Widerstand" nur als zukünftiger allgemein formuliert zu werden. Doch realisiert auch er sich nur durchs Besondere. Er vermittelt die Unwahrheit des statisch Ganzen in die Offenheit einer Situation, in der das Besondere es selbst, nicht nur sein Begriff sein, in der das Allgemeine im Besonderen und das Besondere im Allgemeinen leben lernen könnte. Wahre Allgemeinheit, das positive Recht, stellt dagegen nicht sich her. Im Bilderverbot aber wäre das Heilige des Phänomens zu entdecken, die Allgemeinheit, die im Leiden des Besonderen sich äußert und in seiner Aufhebung wäre: "Wir mögen nicht wissen, was der Mensch und was die rechte Gestaltung der menschlichen Dinge sei, aber was er nicht sein soll und welche Gestaltung der menschlichen Dinge falsch ist, das wissen wir, und einzig in diesem bestimmten und konkreten Wissen ist uns das Andere, Positive, offen. 8 5 6

8. Schlußbemerkung Mit den hier erläuterten rechtsphilosophischen Gedanken läßt sich kein Staat machen. Das liegt nicht daran, daß sich nicht auch Hinweise ergeben, daß in der Philosophie Adornos organisierte Staatlichkeit als notwendige Form der Selbsterhaltung erscheint, sondern ist dadurch bedingt, daß der Autor aufgrund eines radikal zu Ende gedachten Engagements für das Nichtidentische jede Verantwortung für organisierte Gesellschaftlichkeit ablehnen muß. In der zum Extrem gesteigerten Sensibilität für das Urrecht des anderen und der Natur liegt ein hohes Maß an Wahrheit. Aber diese ist begleitet von einer Verweigerung zu einer Verantwortung, die über das persönliche Wirken und die erziehende Rede hinausgeht, und sich auch auf die Organisationsstrukturen erstreckt, die mit Herrschaft und Macht notwendig verknüpft sind. "Ich möchte auch kein öffentlicher Ankläger sein", ist der Standpunkt, der um das Unrecht jeder Anklage weiß, das darin liegt, daß derjenige, der zum Täter wurde, auch immer schon ein Opfer war. Aber der Standpunkt versäumt die Differenz zwischen einem individuellen Täter und seinem Opfer. Damit aber vermag er auch die in organisierter Staatlichkeit für den Einzelnen zum Ausdruck kommenden Schutzgedanken nicht zu seiner Wahrheit zu bringen, sondern desavouiert diesen mit der pauschalen Kritik einer hinter jeder

8 5 6

Individuum und Organisation, GS, Bd. 8, S. 456.

8. Schlußbemerkung

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Machtausübung stehenden Unwahrheit. Die Nichtdifferenz zwischen dem modernen Rechts- und dem faschistischen Unrechtsstaat ist die Lüge. Auch gegenüber dem modernen Rechtsstaat liegt Adornos Wahrheit zwar in der Übertreibung. Doch ist diese wiederum seine Unwahrheit. Recht hat Adorno darin, der Verherrlichung von Staat und Recht mit dem Gedanken des Unrechts zu begegnen. Unrecht aber bezeugt sich bei Adorno noch darin, daß mit seiner Philosophie des Unrechts ein Weg in das Urrecht auch des ganz Anderen, der Nichtidentität, nur zu denken, nicht aber zu beschreiten ist. Die Klage gegen die Staatsbegründung eines Thomas Hobbes läßt sich auf die Formel bringen: Mit einer derart schlimmen Wirklichkeit kann man einen (wahren) Staat nicht begründen. Die Frage ist jedoch die, ob nicht ohne einen (auch unwahren) Staat die Wirklichkeit ungleich schlimmer wäre.

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