149 74 21MB
German Pages 300 [304] Year 1984
Jürgen Wilke Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten
Jürgen Wilke
Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft
W DE G
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1984
Dr. Jürgen Wilke Privatdozent a m Institut für Publizistik an der Johannes Gutenberg Universität, Mainz
Mit 5 1 Tabellen und 2 Schaubildern
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Wilke, Jürgen: Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten : e. Modellstudie zur Verbindung von histor. u. empir. Publizistikwiss. / Jürgen Wilke. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1984. ISBN 3-11-009959-4
© Copyright by Walter de Gruyter 8c Co., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin. - Bindearbeiten: Dieter Mikolai, Berlin.
Inhalt Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder 1. Einleitung
VII 1
2. Entwicklung der Fragestellung
13
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel 3.1 Der Wandel des Selektionsproblems objektiv gesehen 3.1.1 Vom „Rinnsal" zur „Informationslawine": Die Entstehung und Verschärfung des Selektionsproblems im Nachrichtenfluß 3.1.2 Von der Zensur zur Pressefreiheit: Politische Bedingungen des Selektionsproblems im Nachrichtenfluß 3.2 Der Wandel des Selektionsproblems subjektiv gesehen
34 34
4. Nachrichtenvermittlung, Nachrichtenwerte und Strukturen der Medienrealität im historischen Wandel: Eine Zeitreihenanalyse 4.1 Anlage und Methode der Untersuchung 4.2 Die untersuchten Zeitungen 4.3 Der Ereignishintergrund der untersuchten Zeiträume 4.4 Die äußere Form der Berichterstattung 4.4.1 Umfang der Berichterstattung 4.4.2 Präsentation und Aufmachung der Berichterstattung. . . 4.4.3 Stilformen der Berichterstattung 4.5 Nachrichtenwerte und Strukturen der Medienrealität 4.5.1 Die zeitliche Struktur der Medienrealität 4.5.2 Die thematische Struktur der Medienrealität 4.5.3 Typen und Tragweite von Ereignissen in der Medienrealität 4.5.4 Die personelle Struktur der Medienrealität 4.5.5 Die geographisch-ethnographische Struktur der Medienrealität 4.5.6 Der Wertgehalt der Medienrealität 4.5.7 Kontinuität in der Medienrealität 4.5.8 Zusammenhänge zwischen verschiedenen Nachrichtenfaktoren 4.6 Zwischenbemerkung
34 45 54
75 75 84 90 97 97 101 108 115 115 124 131 139 147 159 169 174 179
VI
Inhalt
5. Erweiterung der Untersuchung: Ähnlichkeit (Konsonanz) der Medienrealität im historischen Wandel 181 5.1 Zielsetzung der weiterführenden Untersuchung 181 5.2 Anlage der weiterführenden Untersuchung 186 5.3 Die untersuchten Zeitungen 189 5.4 Ähnlichkeit (Konsonanz) in der Medienrealität 197 5.5 Zur Validierung der Ergebnisse der Zeitreihenanalyse 207 6. Folgerungen 6.1 Folgerungen für eine Wirkungsgeschichte der Massenmedien. . 6.2 Folgerungen für die Geltung und journalistische Funktion der Nachrichtenwerte 6.3 Folgerungen für die weitere Forschungsarbeit
215 215
Nachwort
250
230 239
Anhang Tabelle I: Herkunftsorte der Nachrichten 251 Kodeplan der Inhaltsanalyse 1 252 Kodeplan der Inhaltsanalyse II 262 Ubersicht über die zur Ermittlung der Ähnlichkeit (Konsonanz) zugrundegelegten Zeitungsausgaben 264 Literaturverzeichnis
269
Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab.
1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9: 10:
Tab. 11: Tab. 12: Tab. 13: Tab. 14: Tab. Tab. Tab. Tab.
15: 16: 17: 18:
Tab. 19: Tab. Tab. Tab. Tab.
20: 21: 22: 23:
Tab. 24: Tab. 25: Tab. 26: Tab. 27: Tab. 28: Tab. 29:
Wandel im Umfang der Zeitungen des 17. Jahrhunderts. . . Wandel in der Periodizität der Zeitungen des 17. Jahrhunderts Wandel in der Periodizität der Zeitungen 1885-1926 Wandel im Umfang der Berichterstattung Wandel im Satzumfang der Nachrichten und Berichte. . . . Wandel in der Präsentation der Berichterstattung Journalistische Stilformen (nach Anzahl der Beiträge) Journalistische Stilformen (nach Zeilenumfang der Beiträge). Aktualitätsdichte in der Medienrealität Aktualitätsdichte in der Medienrealität (bei nationaler und internationaler Berichterstattung) Frequenz der Ereignisse in der Medienrealität Thematische Struktur der Medienrealität (nach Anzahl der Nachrichten) Thematische Struktur der Medienrealität (nach Umfang in Zeilenzahlen) Thematische Struktur der Medienrealität (bei nationaler und internationaler Berichterstattung) Faktizität der Medienrealität Ereignistypen in der Medienrealität Tragweite der Ereignisse in der Medienrealität Tragweite der Ereignisse in der Medienrealität (bei politischer und unpolitischer Berichterstattung) Tragweite der Ereignisse in der Medienrealität (bei nationaler und internationaler Berichterstattung) Personalisierung der Medienrealität Prominenz von Handlungsträgern in der Medienrealität. . . Handlungsträger in der Medienrealität Handlungsträger in der Medienrealität (bei nationaler und internationaler Berichterstattung) Ereignisregionen in der Medienrealität Ereignisregionen in der Medienrealität (bei politischer und unpolitischer Berichterstattung) Ereignisregionen in der Medienrealität (bei internationaler Berichterstattung) Nähe der Ereignisorte in der Medienrealität (bei nationaler und europäischer Berichterstattung) Ethnozentrismus der Medienrealität Ethnozentrismus der Medienrealität (bei politischer und unpolitischer Berichterstattung)
38 40 41 98 101 103 110 111 119 122 123 125 130 130 133 135 137 138 139 140 141 143 146 149 151 152 154 155 157
VIII
Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder
Tab. 30: Elite-Nationen in der Medienrealität (bei internationaler Berichterstattung) Tab. 31: Kriminalität in der Medienrealität (bei unpolitischer Berichterstattung) Tab. 32: Konflikte in der Medienrealität (bei politischer Berichterstattung) Tab. 33: Konflikte in der Medienrealität (bei nationaler und internationaler Berichterstattung) Tab. 34: Schäden in der Medienrealität Tab. 35: Arten von Schäden in der Medienrealität (bei Nachrichten mit Nennung von Schäden) Tab. 36: Wertgehalt der Medienrealität Tab. 37: Kontinuität in der Medienrealität Tab. 38: Kontinuität in der Medienrealität (bei Nachrichten mit und ohne Tragweite) Tab. 39: Kontinuität in der Medienrealität (bei nationaler und internationaler Berichterstattung) Tab. 40: Wertgehalt der Medienrealität (bei Nachrichten über verschiedene Typen von Handlungsträgern) Tab. 41: Nähe der Ereignisregion in der Medienrealität (bei Nachrichten über verschiedene Typen von Handlungsträgern) . . Tab. 42: Wertgehalt der Medienrealität (bei Nachrichten über EliteNationen und Nicht-Elite-Nationen) Tab. 43: Ähnlichkeit in der Medienrealität Tab. 44: Ähnlichkeit in der Medienrealität (bei politischer und unpolitischer Berichterstattung) Tab. 45: Ähnlichkeit in der Medienrealität (bei Berichterstattung mit unterschiedlicher Tragweite) Tab. 46: Ähnlichkeit in der Medienrealität (bei lokaler, nationaler und internationaler Berichterstattung) Tab. 47: Thematische Struktur der Medienrealität Tab. 48: Handlungsträger in der Medienrealität Tab. 49: Ereignisregionen in der Medienrealität Tab. 50: Ethnozentrismus in der Medienrealität Tab. 51: Ereignisregionen in der Medienrealität (bei internationaler Berichterstattung)
158 162 165 166 167 168 169 171 172 173 175 176 178 198 201 202 204 208 210 211 212 213
Schaubild I: Schematische Übersicht zur Anlage der Untersuchung. . . 81 Schaubild II: Untersuchte Zeiträume und Anzahl der untersuchten Nachrichten in den verschiedenen Zeitungen 188
1. Einleitung
Die Entwicklung der Publizistikwissenschaft als akademischer Disziplin ist in Deutschland merkwürdig schwierig und eigentümlich gebrochen verlaufen. Bis heute ist sie in auffälliger Weise durch Fehlschläge, Diskontinuität und Inkonsequenz bestimmt. Dies gilt in mehrfachem Sinne und hat mehrere Ursachen. Zwar wurde der Gegenstand dieser Wissenschaft schon im 18. Jahrhundert in Zeitungskollegien behandelt 1 . Er verschwand dann aber wieder von den im Geiste des Idealismus reformierten Universitäten und kehrte erst mit der Gründung des Instituts für Zeitungskunde an der Universität Leipzig 1 9 1 5 / 1 6 durch den damals gerade emeritierten Karl Bücher in den akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb zurück. 2 Doch nur mühsam konnte in der Folgezeit eine weitere institutionelle und personelle Verankerung der Zeitungswissenschaft erreicht werden. 3 Entsprechende Universitätseinrichtungen vermochten sich z. T. nur schwer am Leben zu erhalten, ja wurden sogar noch nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst. 4 So blieb die akademische Repräsentanz des Faches bis heute unterentwickelt. 1
2
3
4
Vgl. Otto Groth: Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. Probleme und Methoden. München 1948. — Wilmont Haacke: Zeitungskunde als Staatswissenschaft. In: Nieders. Jb. f. Landesgesch. Bd. 4 1 / 4 2 (1969/70) S. 1 5 6 - 1 6 8 . Vgl. Rüdiger vom Bruch: Zeitungswissenschaft zwischen Historie und Nationalökonomie. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Publizistik als Wissenschaft im späten deutschen Kaiserreich. In: Publizistik 2 5 (1980) S. 5 7 9 - 6 0 0 . - Zu Karl Bücher vgl. Dietrich Schmidt, Franz Knipping: Karl Bücher und das erste deutsche Universitätsinstitut für Zeitungskunde. In: Karl-Marx-Universität Leipzig 1 4 0 9 - 1 9 5 9 . Leipzig 1959. Bd. 2 S. 5 7 - 7 7 . - Heinz Dietrich Fischer, Horst Minte: Karl Bücher — Leben und Schriften. In: Karl Bücher: Auswahl der publizistikwissenschaftlichen Schriften. Eingel. u. hrsg. v. H.-D. Fischer und H. Minte. Bochum 1 9 8 1 . S . V - X L I I I . Vgl. hierzu u. a. Karl Jaeger: Von der Zeitungskunde zur publizistischen Wissenschaft. Jena 1926. — Siegfried H. Mohm: Die Ausbildung des Journalistennachwuchses in Deutschland. Problematik und historische Entwicklung der Ausbildungsmöglichkeiten für Journalisten in Deutschland. Diss. Erlangen-Nürnberg 1 9 6 2 / 6 3 . So das 1946 wieder eröffnete Institut für Zeitungswissenschaft der Universität Heidelberg, das von dem Soziologen Hans von Eckardt geleitet, nach seinem Tode 1 9 5 7 aber aufgelöst wurde. Vgl. S. Mohm a. a. O. S. 94. — „Unter diesen Umständen", so E. Noelle-Neumann, „konnte das Fach nicht wachsen, es gibt im Bundesgebiet heute nicht mehr Universitätsinstitute für Publizistik als vor rund 4 0 Jahren, nämlich sechs bis acht, je nachdem, wie man abgrenzt." E. Noelle-Neumann: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft: ein Wissenschaftsbereich oder ein Themenkatalog? In: Publizistik 2 0 (1975) S. 7 4 3 - 7 4 8 . Auch in dies.: Öffentlichkeit als Bedrohung. Beiträge zur empirischen Kommunikationsforschung. Hrsg. v. J . Wilke. Freiburg, München 1977, 2. Aufl. 1979. S. 2 4 5 - 2 5 2 . Zitat hier S. 2 4 6 . Zur Ubersicht über die gegenwärtige Fachsituation vgl. Joachim Westerbarkey (Hrsg.): Studienführer Publizistik/Journalistik/Kommunikation. München 1981.
2
1. Einleitung
Die Bildung einer eigenen Disziplin wurde durch bestimmte Eigenschaften des Gegenstandes erschwert, mit dem es die Publizistikwissenschaft zu tun hat: der öffentlichen, insbesondere durch Massenmedien vermittelten Kommunikation. Denn die Vielfalt der Aspekte dieses Gegenstandes — historische, juristische, technische, wirtschaftliche, soziologische, psychologische, sprachliche — bedingte, daß er in den jeweiligen Einzelwissenschaften durchaus gelegentliche, partielle Aufmerksamkeit fand, die einzelnen Aspekte aber kaum systematisch zusammengeführt wurden. Erst als man aus der Not gleichsam eine Tugend machte und die Zeitungs- und Publizistikwissenschaft zu einer „integrierenden" Wissenschaft erklärte 5 , schien das Muster gefunden, nach dem sie sich zu einer eigenen Disziplin bilden konnte, ohne daß dies jedoch der Aufsplitterung des Gegentandes unter sehr verschiedene Fächer schon ein Ende bereitet hätte. 6 Noch während sich diese eigene akademische Disziplin zu etablieren begann, dehnte sich überdies deren Gegenstandsbereich durch das Aufkommen neuer Massenmedien, des Rundfunks (Hörfunks) und später des Fernsehens, aus und machte eine Erweiterung von der „Zeitungskunde zur publizistischen Wissenschaft" notwendig, wie es in einem programmatischen Buchtitel bereits 1926 hieß. 7 Doch blieb der Name des Faches fortan ebenso umstritten wie die Frage, ob es überhaupt eine ihm eigene Methode besitze. Die eigentümlich gebrochene Entwicklung der deutschen Zeitungs- und Publizistikwissenschaft resultiert schließlich noch aus einem grundlegenden epistemologischen Wandel. Als die Zeitungswissenschaft im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts an die Universität zurückkehrte, war dort weithin ein theoretisch-spekulatives Klima beherrschend, und die Geistes- und Sozialwissenschaften wurden vor allem noch durch das einigende Band des historischen Bewußtseins zusammengehalten. 8 Dies hatte zur Folge, daß auch in der Zeitungswissenschaft zunächst Definitionsprobleme, die deskriptive Erfassung des Gegenstandes und seine historische Dimension bearbeitet wurden. 5
6
7 8
Vgl. Otto B. Roegele: Die Zeitungswissenschaft im Streite der Fakultäten. In: Publizistik 11 ( 1966) S. 390—398. — Grundsätzlich dazu Werner Schöllgen: Integrierende Wissenschaft als neuer Typ von Wissenschaft. In: Publizistik 5 (1960) S. 1 9 5 - 2 0 4 . - Fritz Eberhard: Thesen zur Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 6 (1961) S. 259—266. Vgl. hierzu Georg Hellack, Walter J. Schütz: Fachliche Vorlesungen und Übungen an deutschen und deutschsprachigen Universitäten im Wintersemester 1 9 8 0 / 8 1 . In: Publizistik 25 (1980) S. 620—644. — Von den hier verzeichneten knapp 1 0 0 0 Lehrveranstaltungen entfielen noch immer weniger als die Hälfte auf die Universitätsinstitute für Publizistik-/Kommunikationswissenschaft. Vgl. Karl Jaeger a. a. O. Vgl. R. vom Bruch a . a . O .
1. Einleitung
3
Letzteres mochte um so leichter fallen, als man hier bereits auf eine vorhandene Tradition zurückgreifen konnte. Allerdings war auch diese mehr das Werk von akademischen Außenseitern: Als Literarhistoriker hatte Robert E. Prutz 1845 mit dem ersten (und einzigen) Band seiner „Geschichte des deutschen Journalismus" den Grundstein der pressehistorischen Forschung gelegt.9 Julius Otto Opel, der 1879 seine Studie „Die Anfänge der deutschen Zeitungspresse 1609 — 1 6 5 0 " vorlegte, hatte sich als Schulmann diesem Thema verschrieben. 10 Und Ludwig Salomon, der 1900—1906 eine dreibändige „Geschichte des deutschen Zeitungswesens von den ersten Anfängen bis zur Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches" veröffentlichte, war ein ehemaliger Redakteur der „Elberfelder Zeitung". 1 1 Die akademische Geschichtswissenschaft hatte sich dagegen zurückgehalten und die Presse eher ausgespart: Auf sie als Institution scheint man jene Vorbehalte übertragen zu haben, die gegenüber der Zeitung als historischer Quelle bestanden, Vorbehalte, die etwa Leopold von Ranke artikulierte 12 und die in Heinrich von Treitschkes Wort gipfelten, das schlechte Papier, auf welches die Zeitungen gedruckt würden, zerfalle in Staub, bevor ihr Inhalt in den Arbeitsbereich des Historikers gelange. 13 Erst Martin Spahns programmatische Abhandlung „Die Presse als Quelle der neuesten Geschichte und ihre gegenwärtigen Benutzungsmöglichkeiten" aus dem Jahre 1908 zeigte hier eine Wende an. 1 4 Wie sehr sich die historische Perspektive in der Zeitungswissenschaft zunächst durchsetzte, läßt sich rückblickend an einschlägigen Bibliographien ablesen. 15 Das von Volker Spiess 1969 herausgegebene „Verzeichnis deutschsprachiger Hochschulschriften zur Publizistik 1885 — 1 9 6 7 " weist 9
10
11
12
13 14
15
R. E. Prutz: Geschichte des deutschen Journalismus. Zum ersten Male vollständig aus den Quellen gearbeitet. Erster Theil. Hannover 1845. — Faksimiledruck mit einem Nachwort von Hans Joachim Kreutzer. Göttingen 1971. — Vgl. dazu Werner Spilker: Robert Prutz als Zeitungswissenschaftler. Leipzig 1937. Julius Otto Opel: Die Anfänge der deutschen Zeitungspresse 1 6 0 9 - 1 6 5 0 . Leipzig 1879. ( = Archiv f. Geschichte d. Deutschen Buchhandels III). - Vgl. dazu ADB Bd. 5 2 S. 705 f. Ludwig Salomon: Geschichte des Deutschen Zeitungswesens von den ersten Anfängen bis zur Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches. 3 Bde. Oldenburg und Leipzig 1 9 0 0 - 1 9 0 6 . Reprint in 2Bdn. Aalen 1973. — Vgl. dazu Winfried B. Lerg: Ludwig Salomon ( 1 8 4 4 - 1 9 1 1 ) . Ein biographischer Hinweis. In: Publizistik 12 (1967) S. 5 2 - 5 7 . Vgl. Rudolf Vierhaus: Rankes Verhältnis zur Presse. In: Historische Zeitschrift 183 (1957) S. 5 4 3 - 5 6 7 . Vgl. Anm. 14 Sp. 1165. Martin Spahn: Die Presse als Quelle der neuesten Geschichte und ihre gegenwärtigen Benutzungsmöglichkeiten. In: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 2 (1908) Sp. 1 1 6 3 - 1 1 7 0 , 1 2 0 1 - 1 2 1 2 . - Vgl. dazu Wilhelm Klutentreter: Die Zeitung als Geschichtsquelle. Ein Rückblick aus Anlaß des 100. Geburtstags von Martin Spahn. In: Publizistik 1 9 / 2 0 ( 1 9 7 4 / 7 5 ) S. 8 0 2 - 8 0 4 . - Zu Spahn vgl. auch R. vom Bruch a . a . O . Vgl. z. B. Karl Börner: Internationale Bibliographie des Zeitungswesens. Leipzig 1932.
4
1. Einleitung
4 7 6 6 Habilitationsschriften und Dissertationen nach, von denen es sich bei knapp einem Viertel um historische Arbeiten handelt. Sie stellen damit die stärkste Teilgruppe dar, was besonders auffällt, wenn man z. B. den Anteil von Titeln zum Vergleich heranzieht, die sich mit Forschungsmethoden befaßt haben, nämlich nicht einmal ganz sechs Prozent. 1 6 Dabei sei nicht übersehen, daß im einzelnen durchaus unterschiedliche historiographische Traditionen wirksam wurden, bei Karl Bücher und seinen Schülern (u. a. E. Dovifat, W . Schöne) die historische Schule der Nationalökonomie, bei anderen (z. B. G. Menz) mehr die sozial- und kulturhistorische Betrachtungsweise Karl Lamprechts oder auch eine Erweiterung des literaturgeschichtlichen Arbeitsfeldes (z. B. K. d'Ester 1 7 ). Ansätze, eine andere, empirisch mit quantitativen Methoden der Datengewinnung arbeitende wissenschaftliche Tradition zu begründen, kamen dagegen zunächst nicht in Gang. Anthony Oberschall, der die Anfänge der empirischen Sozialforschung in Deutschland zwischen 1 8 4 8 und 1914 untersucht hat, spricht hinsichtlich der Erforschung von Zeitung und öffentlicher Meinung ausdrücklich von einem „Fehlschlag" 1 8 : Zwar legte Hjalmar Schacht schon 1 8 9 8 eine „Statistische Untersuchung über die Presse Deutschlands" 1 9 vor, und Paul Stoklossa wiederholte 1 9 1 0 an deutschen Zeitungen eine quantitative Inhaltsanalyse, die der Franzose Henry de Noussance zuvor durchgeführt hatte. 2 0 Doch über diese Anfänge 2 1 gelangte man nicht hinaus, und dies, obwohl kein geringerer als M a x Weber bei den Verhandlungen des ersten Deutschen Soziologentages 1 9 1 0 in Frankfurt sich entschieden für solche empirischen Analysen des Zeitungswesens einsetzte und konkret vorschlug, man werde nun „ganz banausisch anzufangen haben damit, zu messen, mit der Schere und mit dem Zirkel, wie sich denn der Inhalt der Zeitun16
17
18
19
20
21
Volker Spiess: Verzeichnis deutschsprachiger Hochschulschriften zur Publizistik 1 8 8 5 - 1 9 6 7 . München-Pullach, Berlin 1 9 6 9 . Vgl. ebda, das Register. Vgl. Hans Bohrmann, Arnulf Kutsch: Karl d'Ester ( 1 8 8 1 - 1 9 6 0 ) . Anmerkungen aus Anlaß seines 100. Geburtstages. In: Publizistik 2 6 (1981), S. 5 7 5 - 6 0 3 . Anthony Oberschall: Empirical Social Research in Germany 1 8 4 8 - 1 9 1 4 . Paris, Den Haag 1965. S. 107 ff. Hjalmar Schacht: Statistische Untersuchung über die Presse Deutschlands. In: Jb. f. Nationalökonomie u. Statistik 70 (1898) S. 503-525. Paul Stoklossa: Der Inhalt der Zeitungen. In: Zschr. f. d. ges. Staatswiss. 66 (1910) S. 5 5 5 - 5 6 5 . Nachgedruckt zusammen mit der Studie von de Noussance in: Winfried Schulz (Hrsg.): Der Inhalt der Zeitungen. Eine Inhaltsanalyse der deutschen Tagespresse in der Bundesrepublik Deutschland (1967) mit Quellentexten früher Inhaltsanalysen in Amerika, Frankreich und Deutschland. Düsseldorf 1970. - Stoklossa legte überdies die Anfänge der empirischen Erforschung des journalistischen Berufsfeldes. Vgl. ders.: Der Arbeitsmarkt der Redakteure. Eine statistische Untersuchung. In: Schmollers Jb. 35 (1911) 8 0 7 - 8 2 1 . Dazu gehörte auch Robert Kootz: Zur Statistik der deutschen Zeitschriften, in: Zschr. f. d. ges. Staatswiss. 64 (1908) S. 5 2 6 - 5 6 6 .
1. Einleitung
5
gen in quantitativer Hinsicht verschoben hat im Lauf der letzten Generation . . . " 2 2 Nach der Auffassung von Oberschall standen der Verwirklichung dieses wissenschaftlichen Programms in Deutschland vor allem drei Gründe entgegen: Das geringe Interesse für Methodenfragen, der Mangel an kooperativer Gesinnung an den deutschen Hochschulen und schließlich der Mangel an finanziellen Mitteln für zwangsläufig aufwendige empirische Studien. Es gehört zu den tragischen Zügen der hier beschriebenen Entwicklung, daß, als sich wissenschaftlich die Voraussetzungen zugunsten einer empirisch quantifizierenden Forschung zu verbessern begannen, deren weitere Entfaltung durch die politischen Verhältisse infolge der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verhindert wurde. Geradezu exemplarisch läßt sich dies am Schicksal von Paul F. Lazarsfeld erkennen, der sich zu Beginn der dreißiger Jahre in Wien um die Etablierung der empirischen Sozialforschung bemühte, aus Österreich emigrierte und in den Vereinigten Staaten zu einem der Gründungsväter der empirischen Kommunikationsforschung wurde. 2 3 Dabei vermischten sich europäische Ansätze mit solchen des amerikanischen Behaviorismus und Pragmatismus. Pragmatisch und gegenwartsbezogen waren überhaupt die Motive, die die Kommunikationsforschung in den USA vorantrieben, und zwar einerseits in der von der werbetreibenden Wirtschaft gespeisten Markt- und Meinungsforschung sowie andererseits in der staatlich geförderten politischen Propagandaforschung. 2 4 22
Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 1 9 . - 2 2 . Oktober 1910 in Frankfurt/M. ( = Schriften d. Deutschen Gesellschaft f. Soziologie I. Serie, I. Band) Tübingen 1911. S. 5 2 . - Vgl. dazu Fritz Eberhard: Franz Adam Löffler und M a x Weber, zwei Pioniere der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 8 (1963) S. 4 3 6 - 4 4 1 . - Dirk Käsler: Einführung in das Studium M a x Webers. München 1979. S. 2 1 4 f . . - Ausdrücklich den Anregungen M a x Webers folgte Otto Groth, blieb aber damit weithin eine Ausnahme. Vgl. Otto Groth. Die politische Presse Württembergs. Diss. Tübingen 1 9 1 3 . Stuttgart 1915. Vgl. ferner Paul Stoklossa: Die periodischen Druckschriften Deutschlands. Eine statistische Untersuchung. In: Schmollers Jb. 3 7 (1913) S. 7 5 7 - 7 9 0 . - M a x Wittwer: Das deutsche Zeitungswesen in seiner Entwicklung. Halle 1914.
23
Vgl. Paul Lazarsfeld: Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialforschung: Erinnerungen. In: Talcott Parsons, Edward Shils, Paul F. Lazarsfeld: Soziologie — autobiographisch. Drei kritische Berichte zur Entwicklung einer Wissenschaft. Stuttgart, München 1975. S. 1 4 7 - 2 2 5 . — Ersterscheinung u. d. T. „An Episode in the History of Social Research." In: D. Fleming, B. Bailyn (Hrsg.): The Intellectual Migration: Europe and America 1 9 3 0 - 1 9 6 0 . Bd. II. Cambridge (Mass.) 1968. - Vgl. auch Winfried B. Lerg: Paul Felix Lazarsfeld und die Kommunikationsforschung. In: Publizistik 22 (1977) S. 7 2 - 8 8 . - Hans Zeisel: Paul Lazarsfeld und das Wien der Zwanziger Jahre. In: Soziologie in Deutschland und Österreich 1 9 1 8 - 1 9 4 5 . Hrsg. v. M . Reiner Lepsius. ( = Kölner Zschr. f. Soz. u. Sozialpsych. Sonderheft 2 3 / 1 9 8 1 ) . Opladen 1981. S. 3 9 5 - 4 1 3 .
24
Eine Geschichte der amerikanischen Kommunikationsforschung fehlt bisher noch. Vgl. als schematische Übersicht Bernard Berelson: The State of Communication Research. In: Public Opinion Quarterly 23 (1959) S. 1 - 6 .
6
1. Einleitung
Mit erheblicher, durch Kriegs- und Nachkriegszeit bedingter Verspätung ist die in den Vereinigten Staaten vorgezeichnete Empirisierung der Publizistikwissenschaft und Kommunikationsforschung auch in der Bundesrepublik nachvollzogen worden. Zwar hatte Elisabeth Noelles zeitungswissenschaftliche Dissertation „Amerikanische Massenbefragungen über Politik und Presse" im Jahre 1940 schon eine erste Kenntnis von der Theorie und Praxis empirischer Forschungsmethoden vermittelt. 25 Aber unter den damals herrschenden politischen Verhältnissen konnte dies nicht zu einer wissenschaftlichen Traditionsbildung führen. Auch nach 1945 fanden empirische Methoden, zumal die Repräsentativbefragung, zunächst außerhalb der Universität in Instituten der Markt- und Meinungsforschung Verwendung, gerade für publizistikwissenschaftliche Fragestellungen. 26 So bedeutete es denn auch noch ein ausdrückliches Kontrastprogramm zur einschlägigen akademischen Tradition, als Elisabeth Noelle-Neumann 1963 ihrer, der Berufung auf den Lehrstuhl für Publizistik an der Universität Mainz vorausgehenden Probevorlesung den Untertitel „Über den Fortschritt der Publizistikwissenschaft durch Anwendung empirischer Forschungsmethoden" gab. Sie exemplifizierte dieses Programm vornehmlich am Thema Meinung und Meinungsführer, nannte dafür aber auch eine ganze Reihe anderer Fragestellungen und schloß ihren Vortrag mit den Worten: „Wenn dieser Reichtum empirischer Beobachtungen, wenn die Leistungsfähigkeit der Beobachtungsinstrumente in den Dienst der Publizistikwissenschaft gestellt werden wird, können wir eine belebte, wirklichkeitsnähere, menschlichere, fruchtbarere, besser gesicherte und formulierte Publizistikwissenschaft erwarten." 2 7 25
26
27
Elisabeth Noelle: Amerikanische Massenbefragungen über Politik und Presse. Diss. Berlin 1940. Frankfurt/M. 1940. Vgl. z. B. die vom Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführten Studien, welche die Grundlage bildeten für Fritz Eberhard: Der Rundfunkhörer und sein Programm. Ein Beitrag zur empirischen Sozialforschung. Berlin 1962. — Vgl. dazu neuerdings auch Hansjörg Bessler: Hörer- und Zuschauerforschung. ( = Rundfunk in Deutschland. Hrsg. v. Hans Bausch. Bd. 5). München 1980. Elisabeth Noelle-Neumann: Meinung und Meinungsführer. Über den Fortschritt der Publizistikwissenschaft durch Anwendung empirischer Forschungsmethoden. In: Publizistik 8 (1963) S. 3 1 6 - 3 2 3 . Auch in: dies.: Öffentlichkeit als Bedrohung. Beiträge zur empirischen Kommunikationsforschung. Hrsg. v. Jürgen Wilke. Freiburg, München 1 9 7 7 , 2 1 9 7 9 , S. 13—24. Zitat hier S. 24. — Bevor Elisabeth Noelle-Neumann den Lehrstuhl in Mainz übernahm, war sie von 1961 bis 1964, auf Einladung Fritz Eberhards, bereits Lehrbeauftragte am Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin. — Zu erinnern ist auch daran, daß gleichzeitig Gerhard Maletzke mit seinem Buch „Psychologie der Massenkommunikation" (Hamburg 1963) eine Grundlegung schuf für die Rezeption der amerikanischen Kommunikationsforschung, welche die bundesdeutsche Publizistikwissenschaft in den folgenden Jahren beschäftigen sollte.
1. Einleitung
7
Die Erwartungen, die in diese methodische Neuorientierung der Publizistikwissenschaft gesetzt wurden, haben sich in den seitdem verflossenen nahezu zwei Jahrzehnten erfüllt. Empirische Forschung ist inzwischen an allen Instituten der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft verbreitet, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Dabei ist aus einem vorwiegend um Definitionen bemühten und historisch-deskriptiv arbeitenden Fach eine Disziplin geworden, deren Befunde und Theorien in wachsendem Maße den gestiegenen Ansprüchen sozialwissenschaftlicher Prüfung gerecht werden. 2 8 Unübersehbar ist infolge dieser Entwicklung gleichzeitig die historische Forschung in der Publizistikwissenschaft zurückgetreten, ja z. T. fast ganz verdrängt worden. Deutlich zeigt sich dieser epistemologische Wandel, wenn man neuere Bibliographien der Literatur zur Massenkommunikation heranzieht, in denen gegenüber früher der Anteil historischer Arbeiten sehr stark geschrumpft ist. 2 9 Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang auch, daß die Mediengeschichtsschreibung eher außerhalb der Universitäten fortgeführt wurde bzw. von dort ihre Antriebe erhielt. 30 Die neuere empirische Publizistikwissenschaft arbeitet demnach weitgehend unhistorisch. Insbesondere die Medienwirkungsforschung hat kaum längerfristige Veränderungen untersucht. Sie hat sich vielmehr vorwiegend an ak28
29
30
Vgl. Jürgen Wilke: Vorwort. In: E. Noelle-Neumann: Öffentlichkeit als Bedrohung . . . S. 7—12. Vgl. die von der Universität Bremen (Bibliothek) jährlich herausgegebene „Jahresbibliographie Massenkommunikation", Bremen 1976ff. So entstand die einzige neuere Gesamtdarstellung der deutschen Pressegeschichte am Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund. Vgl. Margot Lindemann: Deutsche Presse bis 1815. ( = Geschichte der deutschen Presse Teil I). Berlin 1969. — KurzKoszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. ( = Geschichte der deutschen Presse Teil II). Berlin 1966. — ders.: Deutsche Presse 1 9 1 4 - 1 9 4 5 . ( = Geschichte der deutschen Presse Teil III). Berlin 1972. Als Dokumentations- und Forschungsstelle für die ältere deutsche Presse ist außerdem die Deutsche Presseforschung in Bremen zu nennen. Vgl. das dort erarbeitete Werk: Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben zusammengestellt von Else Bogel und Elger Blühm. 2 Bde. Bremen 1971. - Verfasser der grundlegenden deutschen Zeitschriftengeschichte war der Bibliothekar Joachim Kirchner. Vgl. ders.: Das deutsche Zeitschriftenwesen — seine Geschichte und seine Probleme. 2 Bde. Wiesbaden 1958 — 1962. — Stärker an der Universität verankert erscheint dagegen die Rundfunkgeschichtsschreibung,vor allem dank der Bemühungen von Winfried B. Lerg (Münster). Doch sind auch von dem neuerlich erschienenen fünfbändigen Werk „Rundfunk in Deutschland" vier Bände von Verfassern, die primär nicht dem Bereich akademischer Forschung angehören. Vgl. Winfried B. Lerg: Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik. ( = Rundfunk in Deutschland Bd. 1); Ansgar Diller: Rundfunkpolitik im Dritten Reich. ( = Rundfunk in Deutschland Bd. 2); Hans Bausch: Rundfunkpolitik nach 1945. Erster Teil: 1 9 4 5 - 1 9 6 2 . ( = Rundfunkpolitik in Deutschland Bd. 3); Hans Bausch: Rundfunkpolitik nach 1945: Zweiter Teil: 1 9 6 3 - 1 9 8 0 . ( = Rundfunk in Deutschland Bd. 4); Hansjörg Bessler: Hörer- und Zuschauerforschung. ( = Rundfunk in Deutschland Bd. 5). Alle Bände München 1980.
8
1. Einleitung
tuellen sozialen und praktischen Problemen orientiert, z. B. der Beeinflussung des Wahlverhaltens durch Massenmedien, der Wirkung von Informationskampagnen oder Gewaltdarstellungen in den Massenmedien, auch der Werbewirkung. Dies hat mehrere Gründe. Ein wesentlicher Grund dürfte in der Eigendynamik der empirischen, vor allem reaktiven Methoden liegen, die verfügbare Untersuchungspersonen voraussetzen und die nur bei geringem zeidichen Abstand verwendbar sind. Entsprechend wurde Medienwirkung auch lange Zeit als Einstellungswandel definiert. Deshalb wurde die Befragung, zumal in der Form des „Experiments", zum „Königsweg" der Wirkungsforschung. Da die Rezipienten der Massenmedien in der Vergangenheit aber nicht mehr direkt greifbar sind, und zwar gerade in repräsentativer Form, schien eine historische Wirkungsforschung unsinnig. Auf der anderen Seite arbeitet die verbliebene Presse- und Mediengeschichtsschreibung weitgehend ohne theoretische Perspektive. „Die traditionelle Publizistikwissenschaft historisch politischer Arbeitsweise", so konstatierten Hans Bohrmann und Rolf Sülzer bereits 1973, „hat ihre überkommenen Arbeitsfelder behauptet und publiziert über Pressegeschichte und Persönlichkeiten der Publizistik, als sei nichts geschehen." 31 Das heißt, dominierend ist auf diesem Gebiet noch die deskriptiv-individualisierende, ideographische Geschichtsschreibung, während es an „theoretisch inspirierte[r] Erörterung" 32 mangelt. Wenn die Mediengeschichte ihre Reservate außerhalb der Universitätsinstitute fand, so mochte diese institutionelle Separierung mit dazu beitragen, sie von der lebendigen Weiterentwicklung publizistikwissenschafdicher Theorien und Methoden abzukoppeln. Das Zurücktreten der historischen Dimension der Publizistikwissenschaft ist dabei keineswegs als ein isolierter Vorgang zu sehen, sondern als Teil eines übergreifenden wissenschaftsgeschichtlichen Wandels, in dem „die Geistesund Sozialwissenschaften dem Prozeß einer rapide um sich greifenden Enthistorisierung erlegen" 33 sind, und der zu der keineswegs nur rhetorisch gestellten Frage führte „Wozu noch Historie?". 34 Die traditionelle, ideogra31
32
33
34
Hans Bohrmann, Rolf Sülzer: Massenkommunikationsforschung in der BRD. Deutschsprachige Veröffentlichungen nach 1960. Kommentar und Bibliographie. In: Jörg Aufermann, Hans Bohrmann, Rolf Sülzer (Hrsg.): Gesellschaftliche Kommunikation und Information. Forschungsrichtungen und Problemstellungen. Ein Arbeitsbuch zur Massenkommunikation. Frankfurt/M. 1973. S. 8 3 - 1 2 0 . Zitat hier S. 99f. So Erhard Schreiber in seiner Rezension der Pressegeschichte von M. Lindemann und K. Koszyk. In: Publizistik 24 (1979) S. 2 7 9 - 2 8 3 . Reinhard Koselleck: Wozu noch Historie? In: Historische Zeitschrift 212 (1971) S. 1 - 1 8 . Hier S. 2. Außer dem unter Anm. 33 genannten Beitrag von Koselleck vgl. Willi Oelmüller (Hrsg.): Wozu noch Geschichte? München 1977.
1. Einleitung
9
phisch oder biographisch individualisierende Geschichtswissenschaft schien den Ansprüchen und Prizipien der empirisch-analytischen Wissenschaften unterlegen: Jener Prüfung von Hypothesen durch empirische Methoden bzw. Beschaffung realitätsgerechter Daten, den Prinzipien der Explanation, Gesetzes- und Theoriebildung, dem starken Beweischarakter durch Ausschaltung aller Erklärungsmöglichkeiten bis auf eine, der statistischen Präzision und Objektivität der Beweisführung und damit generell der Form der Evidenz. 35 Auch gelegentliche Versuche, die Methodik der Geschichtswissenschaft diesen Ansprüchen und Prinzipien anzunähern 36 , konnten jene bereits zitierte Enthistorisierung, ja geradezu eine „Krise der historischen Weltanschauung" 3 7 , nicht aufhalten. So unbestreitbar die empirische Neuorientierung in der Publizistikwissenschaft eine Stagnation überwunden und zu entscheidenden Fortschritten geführt hat, so wenig wird man den weitgehenden Verlust der historischen Dimension als unabänderlich auf sich beruhen lassen dürfen. Dies nicht nur, weil die genannte Enthistorisierung „nirgends die historischen Implikationen einer jeden Wissenschaft [hat] ausräumen können." 3 8 Vielmehr auch deshalb, weil erst eine Entgrenzung der Perspektive über den engen Horizont der jeweiligen Gegenwart hinaus auch diese selbst in ihrer spezifischen Eigenart und in ihrem Gewordensein erkennbar macht. Insofern schärft die historische Sicht auch die Betrachtung der aktuellen Phänomene, zeigt die dauerhaften und wandelbaren Strukturen und dient damit der Selbstbestimmung der Gegenwart. 39 Anders gewendet: Eine unhistorische Sicht führt nicht selten zu Verzerrungen und falschen Verabsolutierungen, zu Perspektivlosigkeit und Horizontverengung. Ja mehr noch: Eine unhistorische Publizistikwissenschaft konstruiert Entwicklungen, die nicht stattgefunden haben, feiert Erstleistungen, die längst geleistet wurden, konstruiert Zusammenhänge, die aus der historischen Entwicklung leicht zu widerlegen sind. Die bisherigen Ausführungen sind notwendig, um die Intention der im folgenden präsentierten Untersuchung einstufen zu können. Denn diese erhebt den Anspruch, gleichsam modellhaft die getrennten Traditionen der empirischen und der historischen Publizistikwissenschaft zusammenzuführen und 35
36
37 38 39
Vgl. grundlegend hierzu: Karl R. Popper: Logik der Forschung. Wien 1935. 2. erw. Aufl. Tübingen 1966. — Handbuch der empirischen Sozialforschung. Hrsg. v. René König. Erster Band. Stuttgart 1962. 2 1 9 6 7 . Vgl. u. a. Carl G. Hempel: General Laws in History. In: ders.: Aspects of Scientific Explanation and other Essays in the Philosophy of Science. New York, London 1965. S. 231—243. R. Koselleck a . a . O . S. 1. Ebd. S. 4 f. Vgl. hierzu Jürgen Kocka: Gesellschaftliche Funktionen der Geschichtswissenschaft. In: Willi Oelmüller (Hrsg.): Wozu noch Geschichte? S. 1 1 - 3 3 .
10
1. Einleitung
damit für diese Disziplin einen grundsätzlichen Fortschritt einzuleiten. Dazu wählen wir ein Thema, das seit den sechziger Jahren in der Publizistikwissenschaft und Kommunikationsforschung einen Schwerpunkt gebildet hat: Die Untersuchung von Nachrichten werten und Medienrealität, d. h. der Kriterien, nach denen Journalisten ihre Nachrichtenauswahl richten, und des Bildes der Wirklichkeit, das sich aufgrund dieser Kriterien in den Massenmedien ergibt. Indem wir den historischen Wandel von Nachrichtenwerten und Medienrealität einschließlich ihrer objektiven und subjektiven Bedingungen zu beschreiben suchen, sollen der aktuellen Forschung mehr historisches Bewußtsein, der Mediengeschichtsschreibung theoretisch inspirierte Fragestellungen und die Wege ihrer Prüfung erschlossen werden. Wir glauben damit auch in besonderer Weise, den Anspruch der Publizistikwissenschaft einzulösen, eine „integrierende" Disziplin zu sein. Die Voraussetzungen, empirische und historische Tradition in der Publizistikwissenschaft endlich aufeinander zu beziehen, erscheinen aus mehreren Gründen günstig. Seitdem man z. B. in jüngerer Zeit begonnen hat, sich von dem erwähnten additiven, psychologischen Wirkungsbegriff — Wirkung als Einstellungswandel — zu lösen und Medienwirkung auch in anderer Weise zu definieren 40 , treten auch wieder Möglichkeiten historischer Wirkungsforschung in den Blick. Auch ist die Klage über die zeitliche Kurzatmigkeit der Wirkungsforschung heute schon zu einem Gemeinplatz geworden. Von der Geschichtswissenschaft her zeichnet sich ebenfalls eine Wende ab. Angespielt ist damit auf den in der neueren Geschichtswissenschaft ausgetragenen Grundlagenstreit zwischen der herkömmlichen „narrativen" und einer „theoretisch fundierten" Geschichtsschreibung. 41 Ohne diese Kontroverse hier zu vertiefen, wollen wir die vorliegende Untersuchung doch ausdrücklich einer theoriegeleiteten Forschung zuordnen und ihren empirischen Teil als Beitrag zu jener „quantitativen Geschichte" verstehen, die eine methodisch sehr wichtige Form der historiographischen Neuorientierung darstellt. 42 Schließlich ist in den Sozialwissenschaften überhaupt wieder ein Be40
41
42
Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Paradigm Change in Communication Research. In: Communication 4 (1979) S. 1 6 3 - 1 8 2 . - ders.: Die Grenzen des Wirkungsbegriffes. In: Publizistik 2 7 (1982) S. 9 8 - 1 1 3 . Vgl. dazu die Sammelbände: Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik. Hrsg. v. Hans Michael Baumgartner und Jörn Rüsen. Frankfurt/M. 1976. — Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hrsg. v. Jürgen Kocka und Thomas Nipperdey. ( = Beiträge zur Historik Bd. 3.) München 1 9 7 9 . Vgl. dazu François Furet: Die quantitative Geschichte und die Konstruktion der geschichtlichen Tatsache. In: Seminar: Geschichte und Theorie a. a. O. S. 117ff. — Don K. Rowney, James Q. Graham jr. (Hrsg.): Quantitative History. Selected Readings in the Quantitative Analysis of Historical Data. Georgetown (III.) 1969. — Konrad H. Jarausch (Hrsg.): Quanti-
1. Einleitung
11
dürfnis nach der historischen Dimension gewachsen, so daß das Schlagwort von der „Enthistorisierung" fast schon wieder durch das der „Rehistorisierung" 4 3 abgelöst worden ist. Daß gerade die historische Analyse in der Publizistikwissenschaft und Kommunikationsforschung neuer, stärker theoriebestimmter Untersuchungskonzepte bedarf, ist eine auch international verbreitete Erkenntnis. 44 Dabei wird es jedoch nicht nur darum gehen, die Mediengeschichte aufgrund neuer theoretischer Ansätze oder Kategorien „umzuschreiben" oder in eine nicht mehr medienfixierte „Kommunikationsgeschichte" zu erweitern 45 , wozu es übrigens schon früher verschiedentlich Ansätze gab. 46 Vielmehr wird man auch versuchen müssen, das methodische Instrumentarium der empirischen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft so weit wie möglich für historische Analysen zu nutzen. 47 Als Meßverfahren kommt hier naturgemäß in erster
43
44
45
46
47
(izierung in der Geschichtswissenschaft. Probleme und Möglichkeiten. Mit einer Einleitung des Herausgebers. Düsseldorf 1976. — Zum Methodischen vgl. Norbert Ohler: Quantitative Methoden für Historiker. Eine Einführung. München 1980. — Roderick Floud: Einführung in quantitative Methoden für Historiker. Deutsche Bearbeitung hrsg. v. Franz Irsigler. Stuttgart 1980. Hans-Ulrich Wehler: Geschichte und Soziologie. In: ders.: Geschichte als Historische Sozialwissenschaft. Frankfurt/M. 1973. S. 9—44. Hier S. 15. — Vgl. ferner: Geschichte und Soziologie. Hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler. Köln 1 9 7 2 . — Soziologie und Sozialgeschichte. Hrsg. v. Peter-Christian Ludz. Köln 1973. ( = Sonderheft 16 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie). Vgl. John D. Stevens, Hazel Dicken Garcia: Communication History. Beverly Hills, London 1980. — Newspaper History from the Seventeenth Century to the Present Day. Ed. by George Boyce, James Curran, Pauline Wingate. London, Beverly Hills 1978. Vgl. Winfried B. Lerg: Pressegeschichte oder Kommunikationsgeschichte? In: Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. München 1977. S. 9—24. Schon in den zwanziger Jahren hatte Wilhelm Bauer sich von einem „Hand-in-Hand-Gehen von historischer und soziologischer Betrachtungsweise reichsten wissenschaftlichen Erntesegen" versprochen. „Die anekdotische Form der Geschichtsschreibung, die noch Ludwig Salomon übte", so sagte er, „kann diesen Anforderungen selbstverständlich nicht genügen." Vgl. Wilhelm Bauer: Was haben wir von einer Geschichte der modernen Presse zu verlangen? In: Archiv f. Buchgewerbe und Gebrauchsgraphik 65 (1928). H. 4 . S. 153 — 161. Zitate hier S. 154, 159. Vgl. ähnlich dazu für die amerikanische Kommunikationsforschung Hazel Dicken Garcia: „Discussions among journalism historians often reflect a dilemma concerning social science versus humanities orientations. On the one hand, the call for new approaches stems in part from disenchantment with previous work, virtually all of which falls within the humanities. On the other hand, arguments advocating these approaches are couched in social science terms, while many who make the arguments resist social science methodology. In fact, however, these new approaches grew out of social science influence on historiography. And if alternative models are to be forthcoming in communications history, then alternative methods will also be required. Continued espousal of the new approaches in social science language, while resisting the necessary methods will only prolong the stymied state of communications history." In: John D. Stevens, Hazel Dicken Garcia a. a. O. S. 62. — Vgl. hierzu ferner Carolyn Stewart Dyer: Quantitative Analysis in Journalism History. In: Mass Com-
12
1. Einleitung
Linie die Inhaltsanalyse in Betracht, deren Anwendung auf die Presseberichterstattung früherer Jahrhunderte zu erproben ist. Auch dies wird in der vorliegenden Untersuchung geschehen, wobei gewisse Schwierigkeiten, die ein solcher Anfang hat, unvermeidlich sind. Für die programmatische Absicht, empirische und historische Tradition in der Publizistikwissenschaft zusammenzuführen, besitzt die folgende Untersuchung den Charakter eines modellhaften Exempels. Wie fruchtbar eine solche Verbindung ist, wird sich an den Forschungsergebnissen dieses Exempels und den Folgerungen, die man daraus ziehen kann, zu erweisen haben. 48
48
munication Review Yearbook Vol. 2 (1981). Hrsg. v. G. Cleveland Wilhoit, Harold de Bock. Beverly Hills, London 1981. S. 3 2 9 - 3 3 6 . Kurz vor Abschluß der vorliegenden Untersuchung konstatierte Heinz-Dietrich Fischer noch: „Da die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft dort, wo sie sich fast ausschließlich als Sozialwissenschaft versteht, nahezu alle historischen Bezüge auf ein Abstellgleis zu stellen bemüht ist, dürfte zunächst kaum zu erhoffen sein, daß in absehbarer Zeit auch die publizistischen Quellen weiter zurückreichender Zeiträume für konkrete Fragestellungen stichprobenartig erforscht werden können." Vgl. Heinz-Dietrich Fischer: Handbuch der politischen Presse in Deutschland 1 4 8 0 - 1 9 8 0 . Synopse rechtlicher, struktureller und wirtschaftlicher Grundlagen der Tendenzpublizistik im Kommunikationswandel. Düsseldorf 1 9 8 1 . S. 2 9 f.
2. Entwicklung der Fragestellung
„Jede Zeitung", so schreibt der amerikanische Journalist Walter Lippmann in seinem zuerst 1922 erschienenen Buch „Public Opinion", „ist in dem Augenblick, wo sie den Leser erreicht, das Endergebnis einer ganzen Reihe von Auswahlvorgängen, die bestimmen, welche Artikel an welcher Stelle mit wieviel Raum und unter welchem Akzent erscheinen. Dafür gibt es keine Regeln. Es gibt aber Konventionen." 1 Mit diesen Worten hat Lippmann — hellsichtig vorwegnehmend — ein Thema angeschlagen, das mehrere Jahrzehnte später zu einem Schwerpunkt der Kommunikationsforschung und Publizistikwissenschaft werden sollte. Für die Konventionen, die er meint, verwendete Lippmann den Begriff „news value" 2 , zu Deutsch „Nachrichtenwert" 3 , dessen Sinngehalt er auch durch Beispiele erläuterte. Nicht bei allen Ereignissen, die in der Welt Tag für Tag ablaufen, können Journalisten dabeisein. „Und doch", sagt Lippmann, „wäre der zahlenmäßige Umfang der Gegenstände, den diese verhältnismäßig wenigen Leute zu bearbeiten verstehen, wirklich ein Wunder, wäre es nicht standardisierte Routine." 4 Ein wesentliches Element dieser standardisierten Routine sind gemeinsame Vorstellungen der Journalisten davon, was Nachrichtenwert besitzt, d. h. welche Ereignisse eine Berichterstattung verdienen und welche Meldungen bei der Nachrichtenauswahl durchgelassen werden. Solche Nachrichtenwerte sind nach Lippmann Eindeutigkeit des Geschehens5, Überraschung 6 , Konflikt 7 , persönliche Betroffenheit 8 und räumliche Nähe 9 . Dabei steht die Behandlung von Nachrichtenwerten im Zusammenhang mit der zentralen Thematik des „Enthüllungsbuchs", wie Elisabeth Noelle-Neumann „Public Opinion" genannt hat 10 : Dem Nachweis, daß Stereotypen als Formen der ökonomischen Vereinfachung und Schematisierung der Wirk1
2 3 4 5 6 7 8 9 10
Walter Lippmann: Public Opinion. New York n 1 9 4 9 . Erstausgabe 1922. Deutsche Ubersetzung: Die öffentliche Meinung. München 1964. Zitat hier S. 241. Lippmann 1949, S. 348. - Zuvor schon bei W. G. Bleyer a.a.O. S. 6f. Lippmann 1964, S. 237. Ebd. S. 230. Ebd. S. 231. Ebd. S. 235. Ebd. S. 23 6 f. Ebd. S. 237. Ebd. S. 238. Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale, öffentliche Meinung — unsere soziale Haut. München, Zürich 1980. S. 207.
14
2. Entwicklung der Fragestellung
lichkeit unsere Weltsicht prägen, die Kommunikation zwischen den Menschen bestimmen und insbesondere als Verkehrsmittel der öffentlichen Meinung dienen. Seine berufliche Erfahrung mochte Lippmanns Sinn für die besondere, ja existentielle Bedeutung dieses Phänomens im Tagesjournalismus geschärft haben: „Ohne Standardisierung, ohne Stereotypen, ohne Routineurteile, ohne eine ziemlich rücksichtslose Vernachlässigung der Feinheiten stürbe der Redakteur bald an Aufregungen." 11 Erst vier Jahrzehnte später, seit Mitte der sechziger Jahre, wurden die von Lippmann vorweggenommenen Überlegungen zur journalistischen Nachrichtenauswahl wieder aufgegriffen und der Begriff „news value" selbst zum Kristallisationskern eines ganzen Forschungszweiges. Doch geschah dies nicht unvermittelt oder traditionslos. Denn bereits seit Anfang der fünfziger Jahre hatte die Frage der Nachrichtenselektion in der amerikanischen Kommunikationsforschung Aufmerksamkeit gefunden. Man orientierte sich dabei an dem von Kurt Lewin entwickelten Konzept des „Gatekeepers": „Als Gatekeeper (wörtlich: Pförtner) werden die Personen bezeichnet, die an bestimmten ,Schleusen' (Schaltstellen) im ,Kanalsystem' der Kommunikationen darüber entscheiden, beispielsweise welche Informationen weitergegeben werden." 12 Dieses Konzept hatte Lewin zunächst eingführt, um Essensgewohnheiten in der Familie zu erklären, aber er wies bereits selbst auf seine Übertragbarkeit auf andere Bereiche hin: „This holds not only for food channels but also for the travelling of a news item through certain communication channels in a group, for movements of goods, and the social locomotion of individuals in many organizations." 13 Das von Lewin formulierte Gatekeeper-Konzept wurde in der Folgezeit zu einem der am häufigsten verwendeten Untersuchungsansätze und, durch Bruce H. Westley und Malcolm S. MacLean in graphische Form übersetzt 14 , zu einem Grundmodell der Massenkommunikationsforschung. In die empirische Nachrichtenforschung gelangte es zuerst 1950 durch David Manning White, der die Arbeitsweise eines Nachrichtenredakteurs („wire editors") in einer kleinen Zeitung im mittleren Westen der Vereinigten Staaten untersuchte. Neben den technischen, durch Zeit (Eintreffen der Nachrichten) und Raum (verfügbarer Platz) vorgegebenen Bedingungen der Nachrichtenselek11 12
13
14
Lippmann 1964, S. 240. Publizistik. Das Fischer-Lexikon Bd. 9. Hrsg. v. Elisabeth Noelle-Neumann und Winfried Schulz. Frankfurt 1971. S. 101. Kurt Lewin: Channels of Group Life. Social Planning and Action Research. In: Human Relations 1 (1947) S. 143-153. Hier S. 145. Bruce H. Westley, Malcolm S. MacLean: A Conceptual Model for Communication Research. In: Audio-Visual Communication Review 3 (1955) S. 3 —12.
2 . Entwicklung der Fragestellung
15
tion, wies diese Studie insbesondere subjektive Gründe der Auswahl nach, die von den Einstellungen und persönlichen Erfahrungen des Journalisten abhängig sind. 15 Auf diese modellbildende Gatekeeper-Studie sind zahlreiche weiterführende, mit diesem Konzept arbeitende Untersuchungen gefolgt. Dabei wurde nicht nur das Untersuchungsfeld ausgeweitet, sondern man kam auch zunehmend von dem individualistischen Ansatz ab. 1 6 Vor allem die Studien Walter Giebers zeigten, daß „Gatekeeping" kein autonomer, sondern ein von zahlreichen Rücksichten und bürokratisch-institutionellen Zwängen bestimmter Vorgang ist: „A decision-making process into which are incorporated the individual wire-editors perception of his community and readers, the traditions of his newspaper, and the news policies of his superiors, and his own biases." 17 Während Gertrude Robinson solche Befunde zu einem dynamischen, kybernetischen Modell der Nachrichtenselektion fortzuentwickeln suchte 18 , führten andere Autoren weitere Gesichtspunkte ein, z. B. die Unterscheidung von Nachrichtensammeln und Nachrichtenbearbeitung, die kenntlich machen soll, daß die redaktionelle Tätigkeit des Journalisten weitgehend vorbestimmt ist durch das Angebot der Nachrichtenagenturen. 19 Das Gatekeeper-Konzept wurde somit auf mancherlei Weise differenziert, wegen bestimmter Grenzen immer aber auch wieder kritisiert.20
ls
16
17
18
19
20
David Manning White: The „Gatekeeper": A Case Study in the Selection of News. In: Journalism Quarterly 2 7 (1950) S. 3 8 3 - 3 9 0 . Vgl. die Übersicht bei Gertrude Joch Robinson: Fünfunzwanzig Jahre „Gatekeeper"-Forschung: Eine kritische Rückschau und Bewertung. In: Jörg Aufermann, Hans Bohrmann, Rolf Sülzer (Hrsg.): Gesellschaftliche Kommunikation und Information. Forschungsrichtungen und Problemstellungen. Ein Arbeitsbuch zur Massenkommunikation. Frankfurt 1973. S. 3 4 4 - 3 5 5 . Walter Gieber: Across the Desk: A Study of 16 Telegraph Editors. In: Journalism Quarterly 33 (1956) S. 4 2 3 - 4 3 2 . Hier S. 4 2 4 . Vgl. ferner Walter Gieber: Do Newspapers Overplay »Negative News'? In: Journalism Quarterly 3 2 (1955) S. 311—318. — ders.: How the „Gatekeepers" View Local Civil Liberties News. In: Journalism Quarterly 3 7 (1960) S. 199—205. — ders. u. Walter Johnson: The City Hall „Beat": a Study of Reporter and Source Role. In: Journalism Quarterly 38 (1961) S. 2 8 9 - 2 9 7 . - ders.: News is What Newspapermen Make it. In: L. A. Dexter, D. M . White (Hrsg.): People, Society, and Mass Communication. New York 1964. S. 1 7 1 - 1 8 0 . Gertrude J . Robinson: Foreign News Selection is Nonlinear in Yugoslavia's Tanjug Agency. In: Journalism Quarterly 4 7 (1970) S. 3 4 0 - 3 5 7 . Vgl. A. S. Bass: Refining the „Gatekeeper" Concept: a UN Radio Case Study. In: Journalism Quarterly 4 6 (1969) S. 69—72. — Dt.: Zur Verbesserung des „Gatekeeper"-Modells. Eine UN-Radio Fallstudie. In: Bernhard Badura, Klaus Gloy (Hrsg.): Soziologie der Kommunikation. Eine Textauswahl zur Einführung. Stuttgart 1972. S. 139—146. Vgl. ebd. — Ferner u. a. Roy E. Carter jr.: Newspaper „Gatekeepers" and the Sources of News. In: Public Opinion Quarterly 2 2 (1958) S. 1 3 3 - 1 4 4 . - Lewis Donohew: Newspaper Gatekeepers and Forces in the News Channel. In: Public Opinion Quarterly 31 (1967)
16
2. Entwicklung der Fragestellung
Den einleitend zitierten Überlegungen Walter Lippmanns näherstehend21, entwickelte sich seit Mitte der sechziger Jahre ein Neuansatz in der Nachrichtenforschung, wenn auch eher vom Rande der Kommunikationswissenschaft her. Das Interesse am Studium der internationalen Beziehungen, zumal im Rahmen der Friedensforschung, führte zu der Erkenntnis, daß man sich mit der Berichterstattung der Massenmedien beschäftigen müsse, um bestimmte weltpolitische Erscheinungen zu verstehen. Diesem Gedanken widmete Einar östgaard 1965 einen grundlegenden Aufsatz, in dem er sich mit Faktoren befaßte, die eine Verzerrung im Nachrichtenfluß bewirken.22 Dabei geht er von der Idee eines „free flow of news" aus, den er sich — reichlich mechanisch — analog zum Telegraphen- und Postdienst vorstellt. Jede Einflußnahme auf die Übermittlung erscheint ihm demzufolge als Störfaktor, wobei er sein Hauptaugenmerk auf ganz bestimmte, „negative" Faktoren legt: „namely, those which cause the ,picture of the world' as it is presented through the news media to differ from ,what really happened'." 23 Östgaard unterscheidet zunächst Faktoren, die außerhalb des Nachrichtenflusses stehen, wie z. B. Zensur, Staatseingriffe oder ökonomische Zwänge, von solchen Faktoren, die dem Nachrichtenfluß selbst innewohnen und es bedingen, daß etwas als „newsworthy" 24 empfunden wird. Innerhalb der zweiten Gruppe nennt er wiederum drei Faktorenkomplexe, die er jeweils weiter differenziert: (1) Simplifikation: Die Nachrichtenmedien sind normalerweise bestrebt, den Nachrichteninhalt möglichst einfach und verständlich wiederzugeben. Dies geschieht einmal dadurch, daß einfache Nachrichten komplexeren vorgezogen werden, und zum anderen, daß komplexe Sachverhalte auf eine einfache Struktur reduziert werden. (2) Identifikation: Nachrichten sollten nicht nur verständlich sein, sondern auch so präsentiert werden, daß sie die Aufmerksamkeit oder das Interesse des Empfängers finden. Solche Möglichkeit der Identifikation ist abhängig von der Nähe des berichteten Geschehens und zwar in geographischer, kultureller und zeitlicher Hinsicht, d. h. daß Ereignisse in entfernS. 61—68. — George A. Donohue, Phillip Tichenor, Clarice N. Olien: Gatekeeping: Mass Media Systems and Information Control. In: F.Gerald Kline, Phillip J.Tichenor (Hrsg.): Current Perspectives in Mass Communication Research. Beverly Hills, London 1972. S. 4 1 - 6 9 . - Vgl. auch Schulz A n m . 3 0 . 2 1 Aber ohne auf Lippmann direkt Bezug nehmend. 2 2 Einar östgaard: Factors Influencing the Flow of News. In: Journal of Peace Research 2 (1965) S. 3 9 - 6 3 . 2 3 Ebd. S. 39. » Ebd. S. 4 1 .
2. Entwicklung der Fragestellung
17
ten Ländern nur geringe Chancen haben, zur Nachricht zu werden. Außerdem werden Nachrichten über Nationen und Personen mit hohem Rang und jede Form der Personifizierung bevorzugt. (3) Sensationalismus: Ereignisse wie Verbrechen, Unglücke, Kuriositäten, Gesellschaftsklatsch usw. haben eine sensationelle Komponente. Sie bewegen die Gefühle der Menschen und besitzen daher besonders großen Nachrichtenwert. Aber nicht nur bei „soft news" tritt diese Komponente hervor, sondern auch bei „hard news", indem etwa Elemente des Konflikts und der Erregung betont werden. Nachrichten müssen, wie östgaard weiter darstellt, eine bestimmte „Nachrichtenbarriere" überwinden, wobei entscheidend ist, inwieweit sie die vorgenannten Kriterien erfüllen. Als Folge davon diagnostiziert er einerseits eine Diskontinuität im Nachrichtenfluß, weil Nachrichten sich wegen der Erscheinungsweise der Massenmedien meist nur auf Teilereignisse oder Ausschnitte aus Vorgängen beziehen können. Dies begünstigt die Chance von kurzfristigen Ereignissen, die Nachrichtenbarriere zu überspringen. Ist dies erst einmal gelungen, so sieht östgaard andererseits ein Eigengewicht zur Kontinuität, d. h. daß Ereignisse, welche die Barriere einmal1 passiert haben, auch auf längere Zeit die Chance besitzen, daß die Massenmedien über sie berichten, selbst wenn sie bereits an Intensität verloren haben. Drei Konsequenzen leitet östgaard aus seinen Beobachtungen ab: Erstens neigen die Massenmedien dazu, den status quo zu verstärken und die Bedeutung des individuellen Handelns der großen politischen Führungsfiguren zu übertreiben. Zweitens haben die Nachrichtenmedien die Tendenz, die Welt konflikthaltiger darzustellen als sie tatsächlich ist und die Lösung solcher Konflikte durch Gewalt zu betonen. Drittens verfestigen die Nachrichtenmedien die Teilung der Welt in Nationen mit hohem Status und solche mit niedrigem Status. Systematisiert und weiter differenziert wurden östgaards Überlegungen, die er ausdrücklich als Hypothesen verstanden wissen wollte, noch im gleichen Jahr (1965) durch Johan Galtung und Mari Holmboe Rüge.25 Auch ihr Interesse ist auf eine Analyse der Auslandsberichterstattung gerichtet. Sie gehen dabei aus von der Einteilung der Welt in „topdog" und „underdog" Nationen. Die geographische Einteilung wird ihrer Ansicht nach auf zwei Stufen
25
Johan Galtung, Mari Holmboe Rüge: The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crises in Four Foreign Newspapers. In: Journal of Peace Research 2 (1965) S. 64—90. Im folgenden zitiert nach: Jeremy Tunstall (Hrsg.): Media Sociology. London 2 1 9 7 0 . S. 2 5 9 - 2 9 8 .
18
2. Entwicklung der Fragestellung
überlagert, und zwar durch die Beziehung zwischen Individuen und die zwischen Staaten, die jedoch nicht unabhängig voneinander sind. Das Handeln auf diesen beiden Ebenen wird bestimmt von der Vorstellung, die man voneinander hat. Diese Vorstellungen wiederum werden vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, von den Massenmedien geformt. Um zu beschreiben, wie dies geschieht, entwickeln Galtung und Rüge ihre „Wahrnehmungstheorie" der Nachrichtenselektion, indem sie diesen Vorgang in Analogie setzen zur individuellen Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung. Ihre Frage ist, in anderen Worten: „how do ,events' become ,news'?"26 Hierzu entwickeln Galtung und Rüge, im Anschluß an östgaard, einen Katalog von zwölf, z. T. weiter untergliederten Nachrichtenfaktoren. Dieser in der Folgezeit viel zitierte Katalog wird auch hier nochmals aufgeführt, weil er den kategorialen Ansatz auch noch der vorliegenden Studie bildet. (1) Frequenz Die Frequenz eines Ereignisses ist die Zeitspanne, die das Geschehen braucht, um sich zu entwickeln und Bedeutung zu erlangen. Je mehr diese Zeitspanne mit der periodischen Erscheinungsweise des Mediums übereinstimmt, um so wahrscheinlicher wird über das Ereignis eine Nachricht gebracht. Dies bedeutet, daß kurzfristige Ereignisse bevorzugt werden. Über lange andauernde Ereignisse wird meist erst dann berichtet, wenn sie einen gewissen Höhepunkt, „a dramatic climax" 27 , erreicht haben. (2)
Schwellenfaktor 2.1. absolute Intensität 2.2. Intensitätszunahme Bevor ein Ereignis überhaupt zur Nachricht wird, muß es eine Aufmerksamkeitsschwelle überwinden. Je größer Ausmaß und Intensität des Ereignisses sind und je mehr die Intensität noch wächst, beispielsweise bei einem Erdbeben oder einem Verkehrsunfall, um so eher wird darüber berichtet. Die Intensität kann dabei verschiedene Aspekte eines Ereignisses betreffen.
(3)
Eindeutigkeit Je geringer die Mehrdeutigkeit eines Ereignisses ist, um so eher wird es als beachtenswert berichtet. Klares, verständliches, einfaches Geschehen wird bevorzugt gegenüber einem Ereignis, aus dem man mehrere und einander widersprechende Folgerungen ziehen kann.
« Ebd. S. 260. " Ebd. S. 262.
2. Entwicklung der Fragestellung
19
(4)
Bedeutsamkeit 4.1. Kulturelle Nähe 4.2. Relevanz Ereignisse, die dem Publikum kulturell vertraut sind, besitzen einen erhöhten Nachrichtenwert (Ethnozentrismus). Aber auch Dinge, die in kultureller Entfernung passieren, werden aufgegriffen, wenn sie für die Rezipienten Relevanz haben, sie in irgendeiner Weise in der eigenen Lebenslage betreffen.
(5)
Konsonanz 5.1. Erwartung 5.2. Wünschbarkeit Je mehr ein Ereignis mit den Erwartungen des Publikums übereinstimmt, und zwar entweder mit etwas Vorhergesagtem oder mit etwas Gewünschtem, um so eher wird es zur Nachricht. In diesem Sinne gilt, daß „ . . . ,news' are actually ,olds' . . ." 2 8 Dinge, die weit außerhalb unserer Erwartungen liegen, werden demzufolge nicht registiert.
(6)
Überraschung 6.1. Unvorhersehbarkeit 6.2. Seltenheit Daß unerwartete und seltene Ereignisse am leichtesten zu Nachrichten werden, widerspricht nur scheinbar den beiden voranstehenden Faktoren. Denn Galtung und Rüge meinen das Unerwartete und Unvorhersehbare innerhalb der kulturellen Nähe und des Erwartungshorizonts. Überraschenden Dingen wird der Vorrang gegeben vor regelmäßigen, sich wiederholenden Vorgängen.
(7)
Kontinuität Hat ein Ereignis die Nachrichtenschwelle einmal überwunden, ist es zur Nachricht geworden, so wird weiter darüber berichtet werden, auch wenn seine Bedeutsamkeit im Vergleich zu anderen Ereignissen sinkt, die noch nicht zu Nachrichten geworden sind.
(8)
Variation Relativ unwichtige Ereignisse überwinden die Nachrichtenschwelle eher, wenn sie als Kontrast gebracht werden können. Da sich die Massenmedien bemühen, ein vielseitiges und ausgewogenes Bild der Welt zu präsentieren, bringen sie z. B. auch eine belanglose innenpolitische Nachricht, wenn sie ansonsten nur außenpolitische haben. Unter be-
28
Ebd. S. 264.
20
2. Entwicklung der Fragestellung
stimmten Bedingungen können Meldungen allein aufgrund der Variation erhöhten Nachrichtenwert bekommen. (9) Bezug auf
Elite-Nationen
(10) Bezug auf Elite-Personen Ereignisse, an denen mächtige Nationen oder einflußreiche Personen beteiligt sind, haben hohen Nachrichtenwert. Ihr Handeln ist in der Regel von besonderer Tragweite. Außerdem sind Elitepersonen beliebte Objekte der Identifikation. Einfache Leute haben dagegen kaum eine Chance, in den Massenmedien zu erscheinen, zumindest nicht in der Auslandsberichterstattung. (11)
Personalisierung Die Nachrichtenmedien haben die Tendenz, Ereignisse eher als Konsequenz von Handlungen bestimmter Personen darzustellen denn als Folge sozialer Strukturen. Deshalb werden Ereignisse nach Möglichkeit personalisiert. Galtung und Ruge bieten dafür mehrere Erklärungen: Personalisierung ist der Ausdruck eines „cultural idealism" 29 , des Wunsches, daß der Mensch sein Schicksal selbst bestimmt. Personen können leichter der positiven oder negativen Identifikation dienen, sie handeln eher innerhalb der mediengemäßen Frequenz. Personalisierung ist schließlich eine Konsequenz der Bevorzugung von Elitepersonen und erleichtert die Berichterstattung, da Hilfsmittel wie Photos oder das Interview eingesetzt werden können.
(12)
Negativismus Negative Ereignisse wie z. B. Konflikte und Schäden werden von den Nachrichtenmedien positiven Ereignissen vorgezogen, sie überwinden leichter die Nachrichtenschwelle. Galtung und Ruge nennen dafür wiederum mehrere Gründe: Negative Ereignisse entsprechen eher der Medienfrequenz, d. h. positive Ereignisse brauchen im allgemeinen Zeit, negative passieren plötzlich und schnell. Negative Ereignisse sind eindeutig und scheinen einem psychologischen Bedürfnis der Menschen zu entsprechen. Schließlich treten negative Ereignisse unerwarteter und seltener als auf positive. (Man müßte auch hinzufügen: Indem sie Gefahren anzeigen, können sie auch mehr als letztere einen unmittelbaren, dringlichen Handlungsbedarf erzeugen.) Diese Nachrichtenfaktoren sind, wie sich zeigt, nicht unabhängig voneinander. Für ihre Wirkungsweise nahmen Galtung und Ruge denn auch eine Reihe weiterer Mechanismen an: 29
Ebd. S. 266.
2. Entwicklung der Fragestellung
21
(1) Selektivität Je mehr ein Ereignis die Nachrichtenfaktoren erfüllt, um so eher wird es als Nachricht registriert. (2) Verzerrung Es werden die Merkmale eines Ereignisses betont, die seinen Nachrichtenwert ausmachen. So entstehen Klischees und Stereotypen. (3)
Wiederholung Die Vorgänge der Selektion und der Verzerrung wiederholen sich auf allen Stufen des Nachrichtenflusses. Je länger dieser ist, um so mehr wird selektiert und um so mehr verstärkt sich die Verzerrung. Jedes Glied im Nachrichtenfluß folgt den gleichen Prinzipien, vom Korrespondenten über den Redakteur bis zum Leser, einschließlich aller Zwischenstufen.
(4)
Additivität Je mehr Nachrichtenwerte auf ein Ereignis zutreffen, um so wahrscheinlicher wird es zur Nachricht. Galtung und Ruge stellen dabei Paare von Nachrichtenwerten zusammen, die sie für besonders wirksam halten (z. B. Elitenationen und Elitepersonen, negative Nachrichten über Elitepersonen usw.).
(5)
Komplementarität Hat ein Ereignis bezüglich bestimmter Merkmale einen niedrigen Nachrichtenwert, so kann dies durch einen hohen Nachrichtenwert bezüglich anderer Faktoren kompensiert werden. Je weniger sich z. B. ein Ereignis auf Personen bezieht, um so mehr muß es etwa den Nachrichtenfaktor Negativismus aufweisen.
Zwar haben Galtung und Ruge ihre Nachrichtenwerttheorie auch durch eine empirische Studie am Beispiel der Berichterstattung über drei internationale Krisen, die Kongo- und Kubakrise (1960) und die Zypernkrise (1964) zu überprüfen gesucht und einige der untersuchten Hypothesen bestätigt gefunden. Doch stehen, wie man nicht zu Unrecht gesagt hat, die „wenigen Befunde . . . in keinem rechten Verhältnis zu Umfang und Reichweite der . . . Theorie" 30 . Gleichwohl hat diese die weitere empirische und theoretische Forschung außerordentlich stark angeregt. Dabei wurde die Fragestellung auch in unterschiedlichen Richtungen erweitert. Öystein Sande fügte seiner Inhaltsanalyse der Auslandsberichterstattung des Rundfunks und dreier Zeitungen in Norwegen eine Bevölkerungsumfrage hinzu, um zu ermitteln, wie Nachrichtenstruktur und Nachrichtenwerte sich auf das Bewußtsein des Pu30
Winfried Schulz: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg, München 1976. S. 20.
22
2. Entwicklung der Fragestellung
blikums, sein Bild vom politischen Geschehen auswirken. 31 James D. Halloran, Philipp Elliott und Graham Murdoch untersuchten am Beispiel einer Vietnam-Demonstration 1968 in London den von Galtung und Rüge mit „Konsonanz" bezeichneten Nachrichtenwert - die Übereinstimmung der Medienberichterstattung mit den im Vorfeld des Ereignisses gehegten Erwartungen und dem durch die Journalisten geschaffenen Bezugsrahmen.32 Raymond F. Smith verglich die Berichterstattung der „New York Times" über den indisch-chinesischen Grenzkonflikt 1962 mit dem Inhalt der „Indian White Papers", die den gesamten offiziellen schriftlichen Informationsaustausch zwischen der indischen und der chinesischen Regierung aus dieser Zeit enthalten. 33 Die Absicht war, damit einen Maßstab zu gewinnen, an dem man die Verzerrung der Berichterstattung gegenüber der faktischen Realität ablesen konnte. Aus ähnlichen Überlegungen heraus erwuchs auch die grundsätzliche Kritik, die Karl Erik Rosengren an der Theorie von Galtung und Rüge vortrug und zu einem eigenen, stärker soziologisch bestimmten Ansatz in der Nachrichtenforschung entwickelte.34 Indem man nur die Berichterstattung untersucht, d. h. „Intra-Media-Daten" erhebt, so argumentiert Rosengren, läßt sich der Unterschied zwischen dem Bild der Welt, das die Massenmedien vermitteln, und dem tatsächlichen Geschehen nicht feststellen. Dazu müssen vielmehr „Extra-Media-Daten" herangezogen werden, d. h. Daten, die nicht den Nachrichtenmedien entstammen und damit als Außenkriterium geeignet sind, an dem man die Berichterstattung prüft. Rosengren denkt hier insbesondere an Daten über klar erkennbare Ereignisse, die sich mit einer gewissen Variation wiederholen und so relevant sind, daß die Medien normalerweise über sie berichten. Als solche Ereignisse empfehlen sich Parlamentswahlen, Regierungswechsel, Vertragsabschlüsse, Änderungen der Zinsrate, Streiks, Unglücksfälle, Raketenstarts, wissenschaftliche Kongresse, internationale Sportereignisse. Diese Ereignisse sind insofern unabhängig von der 31
32
33
34
Oystein Sande: The Perception of Foreign News. In: Journal of Peace Research 8 (1971) S. 2 2 1 - 2 3 7 . James D. Halloran, Philip Elliott, Graham Murdock: Demonstrations and Communication: A Case Study. Harmondsworth 1970. Raymond F. Smith: On the Structure of Foreign News: A Comparison of the New York Times and the Indian White Papers. In: Journal of Peace Research 6 (1969) S. 23—36. — ders.: US News and Sino-Indian Relations: An Extra Media Study. In: Journalism Quarterly 48 (1971) S. 4 4 7 - 4 5 8 . Vgl. Karl Erik Rosengren: International News: Intra and Extra Media Data. In: Acta Sociologica 13 (1970) S. 9 0 - 1 0 9 . - ders.: International News: Methods, Data and Theory. In: Journal of Peace Research 11 (1974) S. 145 — 156. — ders.: Four Types of Tables. In: Journal of Communication 27 (1977) S. 67—75. — ders.: Bias in News: Methods and Concepts. In: Studies of Broadcasting 15 (1979) S. 3 1 - 4 5 .
2. Entwicklung der Fragestellung
23
Medienberichterstattung erschließbar, als man Daten über sie aus Archiven und amdichen Quellen erhalten kann. Mit einer eigenen Untersuchung zur Berichterstattung über 272 Parlamentswahlen in 167 Ländern aus den Jahren 1961 — 1970 hat Rosengren seinen Ansatz auch empirisch umzusetzen versucht. Aus Keesings Archiv der Gegenwart und aus anderen Quellen wurden Daten entnommen sowohl über die Wahlen selbst wie über die betroffenen Länder. Anschließend wurden diese „Extra-Media-Daten" verglichen mit der Berichterstattung in drei großen Tageszeitungen, der „Times" (London), dem „Neuen Deutschland" (Ost-Berlin) und von „Dagens Nyheter" (Stockholm). Als Ergebnis dieses durch statistische Operationen gestützten Vergleichs ergibt sich, daß ökonomische Faktoren wie z. B. Export-und Importwerte zwischen dem Land des Ereignisses und dem Land der Berichterstattung, in erheblichem Maße für dessen Nachrichtenwert bestimmend sind. Solche ökonomischen Faktoren sind daher nach Rosengren als die eigentlich entscheidenden Nachrichtenfaktoren anzusehen, während es sich bei den von Galtung und Rüge genannten Faktoren allenfalls um intervenierende Variablen handeln könne. Abgesehen davon, daß dieser Ansatz mit einem unjournalistisch verkürzten Ereignisbegriff arbeitet, er auch nicht an anderen Ereignissen überprüft oder gar konsequent zu einer politisch-ökonomischen Nachrichtenwerttheorie weiterentwickelt worden ist, hat man gegen ihn auch Einwände grundsätzlicher Art vorgebracht. Gegenüber dem bisher beschriebenen Stand der Nachrichtenforschung bedeutete eine 1976 von Winfried Schulz vorgelegte Studie einen entscheidenden Fortschritt. 35 Dies nicht nur, weil sie erstmals Nachrichtenwerte in der Berichterstattung der Bundesrepublik Deutschland auf breiter empirischer Basis (5 Tageszeitungen, Hörfunk, Fernsehen, Nachrichtenagentur) überprüfte, sondern auch weil sie methodisch weiterführte und eine theoretische Neuorientierung vorschlug. Schulz geht von einer Kritik an den vorliegenden Arbeiten zur Nachrichtenselektion aus. Er bemängelt, daß diese explizit oder implizit immer als „Falsifikationsversuche" 36 angelegt waren: man wollte nachweisen, „daß die von Medien vermittelte Realität nicht mit der faktischen Realität' — mit dem, ,was wirklich geschah' — übereinstimmt." 37 Dieser Versuch, die ,Medienrealität" falsifizieren zu wollen, wird jedoch als ungerechtfertigt und unmöglich erklärt. 35
36 37
Winfried Schulz: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg, München 1976. Ebd. S. 25. Ebd.
24
2. Entwicklung der Fragestellung
Denn über das, „was wirklich geschah", so lautet die Argumentation, sei kein intersubjektiv verbindlicher Konsens zu erzielen. Zwar wird eine „objektive Realität" nicht geleugnet. Doch was als „richtiges" Bild dieser Realität gelten soll, erscheint als nichts anderes denn eine subjektive Sicht oder Hypothese der Realität. Daher lehnt Schulz die Benutzung von „Extra-Media-Daten" als Prüfstein der Nachrichtenberichterstattung ab. Denn auch diese Daten stammen aus Quellen — Jahrbüchern, Archiven u. ä. —, die einem Selektionsprozeß unterworfen sind, d. h. man „vergleicht... nicht faktisches Geschehen mit den Berichten der Medien darüber, sondern nur Berichte aus verschiedenen Quellen miteinander (wobei sich die Quellen zwar unterschiedlicher Selektionsregeln bedienen können, die jedoch nur als Differenz, nicht als ,richtig' oder,falsch' zu interpretieren sind)." 38 Die Nachrichtenberichterstattung kann demnach allenfalls an dem gemessen werden, was man sich als Norm oder Wunschbild der Realität vorstellt, und dies zu tun, ist durchaus legitim. Aus der Ablehnung der Annahme, die Nachrichtenmedien spiegelten die Realität getreu wieder, leitet Schulz seine theoretische Neuorientierung ab. Es sei plausibler, so sagt er, Nachrichten nicht als Abbildung der Realität zu verstehen, sondern als eine mögliche Definition und Interpretation unserer Umwelt, als Sinngebung des beobachtbaren und auch des nicht beobachtbaren Geschehens: „Man kann also sagen, daß Nachrichten ,Realität' eigentlich konstituieren."39 Schulz geht im Titel seiner Studie sogar so weit, von der „Konstruktion" der Realität durch die Nachrichtenmedien zu sprechen, und greift damit eine ursprünglich wissenssoziologische These auf 40 , die indessen auch von anderen in die Kommunikationswissenschaft eingeführt worden ist. 41 So werden im Grunde drei Forschungsansätze miteinander verbunden: Die Frage nach dem Verhältnis von Ereignis und Bericht, die Frage 38 39 40
41
Ebd. Ebd. S. 28. Vgl. Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M. 1969. Amerikanische Erstausgabe 1966 u. d. T. „The Social Construction of Reality". — Der Ansatz geht zurück vor allem auf Alfred Schütz. Vgl. A. S.: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Wien 1 9 3 2 . — ders.: On Multiple Realities. In: Collected Papers. The Problem of Social Reality. Bd. I. Den Haag 1973. S. 2 0 7 - 2 5 9 . Vgl. Jack M. McLeod, Steven H. Chaffee: The Construction of Social Reality. In: James T. Tedeschi (Hrsg.): The Social Influence Process. Chicago, New York 1972, S. 50—99. — Sidney Kraus, Dennis Davis: The Effects of Mass Communication on Political Behavior. University Park, London 1976. Dort insbesondere Kapitel 6 u. d. T. „Construction of Political Reality in Society", S. 2 0 9 ff. - David L. Altheide: Creating Reality. How T V News Distorts Events. Beverly Hills, London 1976. — Gaye Tuchman: Making News. A Study in the Construction of Reality. New York, London 1978. — Philip Schlesinger: Putting ,Reality' Together. BBC News. London 1978.
2. Entwicklung der Fragestellung
25
der Nachrichtenselektion und die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Informationsangebot und Realitätswahrnehmung. Journalisten schaffen diese „Medienrealität", indem sie ihre professionellen Hypothesen von Realität auf die sie umgebende Umwelt anwenden und ihnen gemäß selektieren und berichten. Diese journalistischen Hypothesen von Realität sind aber nichts anderes als die Nachrichtenfaktoren, die den Nachrichtenwert eines Ereignisses bestimmen. Da die Massenmedien für die Rezipienten in vielen, zumal nicht durch Primärerfahrung zugänglichen Dingen die einzige Informationsquelle darstellen, bestimmt die aus den Nachrichtenfaktoren „konstruierte" Realität ihr Bild von der „faktischen" Realität. „Wie auch immer das Verhältnis der Medienrealität zur faktischen' Realität beschaffen sein mag, sicher ist, daß die Nachrichten von den Rezipienten als verbürgte Zeugnisse des tatsächlichen' Geschehens angesehen werden, daß sie also in ihrer Wirkung der Realität gleichzusetzen sind." 4 2 Zwar wird man die Mahnung Otto B. Roegeles ernst nehmen, daraus dürfe „nicht der Schluß gezogen werden, man könne die,Medienrealität' mit der Wirklichkeit gleichsetzen, ja sich auf die Betrachtung der Medienrealität beschränken, weil sie die allein folgenträchtige ist, und die Ereignis-Wirklichkeit vernachlässigen, sie einfach auf sich beruhen lassen." 4 3 Doch hat die empirische Forschung gerade gezeigt, daß die Rezipienten auch dann ihr Verhalten an der „Medienrealität" ausrichten, wenn diese ein inadäquates Bild der „faktischen" Realität liefert. 44 Journalistische Nachrichtenwerte zu untersuchen, zielt demnach darauf ab, die spezifischen Merkmale und „Definitionsmodelle" 45 der von den Nachrichtenmedien konstruierten „Medienrealität" zu ermitteln. Nachrichtenwert ist, was an Walter Lippmann erinnert, „eine journalistische Hilfskonstruktion zur Erleichterung der notwendigen Selektionsentscheidungen." 46 Schulz unterscheidet dazu begrifflich den durch Länge und Plazierung eines Beitrags bestimmten Nachrichtenwert von den Ereignismerkmalen als den eigentlichen Nachrichtenfaktoren. Für die empirische Untersuchung wird 42
43
44
45 46
Schulz a. a. O. S. 29. — Zum Begriff der „Medienrealität" vgl. auch Hans Mathias Kepplinger: Realkultur und Medienkultur. Literarische Karrieren in der Bundesrepublik. Freiburg, München 1975. Otto B. Roegele: Wahrheit nach den Regeln der journalistischen Zunft. In: Thomas-MorusAkademie (Hrsg.): Wahrheitsfrage und Wahrheitsdienst. Bergisch-Gladbach 1978. S. 2 4 - 4 5 . Hier S. 27. Vgl. hierzu Hans Mathias Kepplinger, Herbert Roth: Kommunikation in der Ölkrise des Winters 1973/74. Ein Paradigma für Wirkungsstudien. In: Publizistik 23 (1978) S. 3 3 7 356. Schulz a. a. O. S. 29. Ebd. S. 30.
26
2. Entwicklung der Fragestellung
der von Galtung und Rüge entwickelte Katalog von Nachrichtenfaktoren im Sinne einer Operationalisierung umformuliert, überarbeitet und — den wahrnehmungspsychologischen Ansatz erweiternd — durch eine Reihe sozialer, politischer und ökonomischer Gesichtspunkte ergänzt. Außerdem werden zusätzlich eine Registrierung der formalen Aufmachung (Beachtungsgrad) sowie eine Intensitätsabstufung der Nachrichtenfaktoren in den Untersuchungsplan aufgenommen. Die 18 Nachrichtenfaktoren wiederum werden auf sechs Dimensionen zurückgeführt47: (1) Zeit Zu dieser Dimension gehören Faktoren wie Dauer/Frequenz (zeitliche Erstreckung eines Ereignisses) und Kontinuität/Thematisierung (Ereignis als Teil eines eingeführten Themas). (2) Nähe Zu dieser Dimension gehören die Einzelfaktoren räumliche Nähe (geographische Entfernung zwischen Ereignisort und Sitz der Redaktion), politische Nähe (bündnis- und wirtschaftspolitische Beziehungen), kulturelle Nähe (sprachliche, religiöse, literarische, wissenschaftliche Beziehungen) sowie der Faktor Relevanz (Betroffenheit und existentielle Bedeutung des Ereignisses). (3) Status Zu dieser Dimension gehören vier Einzelfaktoren, die aus dem abgeleitet sind, was Galtung und Rüge „Bezug zu Elite-Nationen/Elite-Personen" genannt haben: Regionale Zentralität (politisch-ökonomische Bedeutung der Ereignisregion bei innerdeutschen Nachrichten); nationale Zentralität (wirtschaftliche, wissenschaftliche und militärische Macht des Ereignislandes bei internationalen Nachrichten); persönlicher Einfluß (politische Macht der beteiligten Personen); Prominenz (Bekanntheit der Personen bei unpolitischen Meldungen). (4) Dynamik Zu dieser Dimension gehören die Faktoren Überraschung (Unvorhersehbarkeit eines Ereignisses in Zeitpunkt, Verlauf und Resultat), Struktur (Grad der Komplexität von Ereignissen je nach Verlaufsform, Beteiligung und Überschaubarkeit) und Intensität (Intensitätsabstufung in den einzelnen Faktoren). (5) Valenz Zu dieser Dimension gehören vier Faktoren. Was Galtung und Rüge Negativismus genannt haben, wird hier differenziert in die Faktoren Kon47
Vgl. ebd. S. 3 2 ff. — Die genaue Definition der Kategorien ist im Anhang der Studie S. 123 ff. angegeben.
2. Entwicklung der Fragestellung
27
flikt (politische Ereignisse mit aggressivem Charakter), Kriminalität (rechtswidriges Verhalten) und Schaden (Mißerfolge von Personen, Sach- und finanzielle Schäden). Außerdem tritt mit dem Faktor Erfolg (Fortschritt auf politischem, wirtschaftlichem, kulturellem Gebiet) ein im Wertgehalt positives Pendant hinzu. (6) Identifikation Zu dieser Dimension gehören die Faktoren Personalisierung (Grad des personalen Bezugs von Ereignissen) und Ethnozentrismus (Bezug des Ereignisses auf die Eigengruppe). Eine Operationalisierung des Faktors Konsonanz in der Definition von Galtung und Rüge, der auch hier einzuordnen wäre, ließ sich aufgrund rein inhaltsanalytischer Indikatoren nicht vornehmen. Im empirischen Teil seiner Studie beschreibt Schulz zunächst die Ausprägung einiger formaler und inhaltlicher Merkmale der Nachrichtenberichterstattung, um Aufschluß zu gewinnen über deren grundlegende Struktur. Die Mehrzahl der Nachrichten bezieht sich auf Inlandsgeschehen. Insgesamt überwiegen die Ereignisse der „großen Politik", die als Handeln der Exekutive dargestellt wird und eher aus verbalen Äußerungen, Spekulationen und Interpretationen besteht als aus faktischem Geschehen. Relativ viel Aufmerksamkeit widmen die Medien einigen wenigen, langfristig eingeführten Themen. Die anschließende Analyse der Nachrichtenfaktoren zeigt, daß nicht alle von ihnen in den verschiedenen Themenbereichen und bei allen untersuchten Medien in der gleichen Intensität wirksam sind. Durch multiple Regressionsanalyse gelingt es Schulz, bestimmte Nachrichtenwertordnungen herauszuarbeiten. Die untersuchten Nachrichtenfaktoren besitzen größere Erklärungskraft für den Nachrichtenwert von internationalen als nationalen und von politischen als unpolitischen Nachrichten. Bestätigt wird damit die von Galtung und Rüge aufgestellte Hypothese, daß Nachrichtenfaktoren um so wirksamer sind, je länger die Kette der Übermittlung ist. Eine Kombination bereits von wenigen Nachrichtenfaktoren besitzt eine hohe Erklärungskraft für den Nachrichtenweit von Ereignissen. Meldungen mit hohem Nachrichtenwert besitzen bei allen Medien einen vergleichsweise großen Komplexitätsgrad. Außerdem determinieren persönlicher Einfluß und Thematisierung, d. h. gerade nicht kurzfristige Frequenz, den Nachrichtenwert stark, beim Fernsehen zudem besonders der Überraschungswert. In der internationalen Berichterstattung spielt der Faktor Erfolg eine besondere Rolle, während dies in der nationalen Berichterstattung eher für den Faktor Negativismus gilt. Trotz einiger Variation zeigt demnach die Realität, „so wie sie uns von den
28
2. Entwicklung der Fragestellung
Nachrichtenmedien in der Bundesrepublik Deutschland präsentiert wird,. . . einige charakteristische Züge, die in allen Medien weitgehend übereinstimmen" 4 8 , ein Befund, der von Schulz im systemfunktionalen Sinne interpretiert wird. 49 Die hier skizzierte Erforschung der für die journalistische Nachrichtenauswahl entscheidenden Nachrichtenwerte ist von bestimmten Beobachtungen zur internationalen Berichterstattung ausgegangen. Die dabei entwickelten Kategorien sind auf die Analyse nationaler Berichterstattung übertragen worden, ja man hat auch versucht, sie für die Nachrichtengebung im lokalen Bereich zu adaptieren. 50 Dabei blieben die Untersuchungsansätze bisher ganz auf aktuelles Nachrichtenmaterial der Gegenwart bezogen. Zwar fehlt es nicht an einzelnen früheren Studien zur journalistischen „Aufmachung" bestimmter, historisch bedeutsamer Ereignisse.51 Auch hat man sich in den Vereinigten Staaten neuerdings damit befaßt, welche Folgen der Übergang von der Parteipresse zur kommerziellen „penny press" seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts für die Auffassung von Nachricht, Nachrichtensammeln und Nachrichtenauswahl gehabt hat. 5 2 Doch die Frage nach der historischen Dimension der heute festzustellenden und in der Literatur beschriebenen Nachrichtenwerte ist systematisch noch nirgendwo gestellt worden. Am ehesten führt noch eine 1979 veröffentlichte Studie von Kenneth D. Nordin auf diese Frage zu. 53 Folgt man seiner Definition von Sensationalismus, so war dies ein journalistisches Phänomen, das nicht erst durch die
48 49
50
51
52
53
Ebd. S. 115. Eine Weiterführung der Studie, ergänzt durch Rezipientenbefragungen liegt vor in Winfried Schulz: Nachrichtenstruktur und politische Informiertheit. Die Entwicklung politischer Vorstellungen der Bevölkerung unter dem Einfluß des Nachrichtenangebots. Gutachten für das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Mainz 1977. Aufgrund der Erfahrungen in der vorangegangenen Studie hat Schulz darin überdies den Katalog der Nachrichtenfaktoren nochmals überarbeitet, d. h. vor allem vereinfacht. Vgl. dort S. 38 ff. Vgl. Robert Rohr: Lokale Berichterstattung: Auswahl von Ereignissen aus der lokalen Realität. In: Rundfunk und Fernsehen 26 (1978) S. 319—327. - Klaus Schönbach: Die isolierte Welt des Lokalen. Tageszeitungen und ihre Berichterstattung über Mannheim. In: Rundfunk und Fernsehen 26 (1978) S. 2 6 0 - 2 7 7 . Vgl. z. B. H. Schuyler Foster jr.: How America Became Belligerent: A Quantitative Study of War News 1914—17. In: American Journal of Sociology 40 (1935) S. 464—475. — Elisabeth Hupp Schillinger: British and U.S. Newspaper Coverage of the Bolshevik Revolution. In: Journalism Quarterly 43 (1966) S. 1 0 - 1 6 . Vgl. Dan Schiller: An Historical Approach to Objectivity and Professionalism in American News Reporting. In: Journal of Communication 29 (1979) S. 46—57. — Michael Schudson: Discovering the News. A Social History of American Newspapers. New York 1978. — Dan Schiller: Journalism and Society. In: Communication Research 7 (1980) S. 377—386. Kenneth D. Nordin: The Entertaining Press. Sensationalism in Eighteenth-Century Boston Newspapers. In: Communication Research 6 (1979) S. 295—320.
2. Entwicklung der Fragestellung
29
„penny press" in die amerikanischen Zeitungen gelangte, sondern das bereits in den kolonialen Zeitungen Bostons im 18. Jahrhundert, wenn auch mit wechselndem Ausmaß, vorzufinden ist und insofern schon immer ein wesentliches Element der „Medienrealität" bildete. Die fehlende historische Perspektive in der Erforschung journalistischer Nachrichtenwerte ist um so weniger begründet, als es in der Nachrichtenwerttheorie durchaus Hypothesen gibt, die implizit eine auch historisch zu beantwortende Fragestellung aufwerfen. Denn Galtung und Ruge leiten aus ihrem wahrnehmungstheoretischen Ansatz Vermutungen über den Geltungsbereich der Nachrichtenwerte ab. Acht der zwölf von ihnen aufgezählten Nachrichtenfaktoren, d. h. Frequenz, Schwellenfaktor, Eindeutigkeit, Bedeutsamkeit, Konsonanz, Überraschung, Kontinuität und Variation, bezeichnen sie als „culture-free in the sense that we do not expect them to vary significanctly with variations in human culture — they should not depend much on cultural parameters." 54 Die vier anderen Nachrichtenfaktoren, d. h. Bezug zu Elite-Nationen und Elite-Personen, Personalisierung und Negativismus, werden dagegen „culture-bound factors" ss genannt, „that we deem to be important at least in the north-western corner of the world." 56 Die hiermit vorgenommene Unterscheidung zwischen Nachrichtenwerten gleichsam anthropologischer, d. h. invarianter Art, und solchen kulturspezifischer, d. h. durchaus veränderlicher Art, besitzt zunächst jedoch nur den Charakter einer allein theoretisch kaum hinreichend zu begründenden Hypothese. Diese erfordert vielmehr eine empirische Überprüfung, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist die Nachrichtenberichterstattung synchronisch in verschiedenen kulturell-politischen Systemen zu untersuchen. Dies ist in jüngerer Zeit auch geschehen. Ein von der UNESCO angeregtes und von der International Association for Mass Communication Research (IAMCR) koordiniertes, international vergleichendes Forschungsprojekt, an dem 14 Länder beteiligt waren, sollte untersuchen, welches Bild (Image) die Massenmedien verschiedener Länder von anderen Ländern und Völkern der Welt entwerfen. Die Medienberichterstattung aus insgesamt 29 Ländern, unterschiedlich nach politisch-ökonomischer Struktur, Entwicklungsstand, Mediensystem usw., wurde in die Studie mit einbezogen.57 54 55 56 57
Galtung, Ruge a.a.O. S.265. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu auch Sophia Peterson: Foreign News Gatekeepers and Criteria of Newsworthiness. In: Journalism Quarterly 56 (1979) S. 116-125. Vgl. hierzu: The World of the News: The News of the World. A Draft Report of the „Foreign Image" Project Undertaken by IAMCR for UNESCO. Drafted by Annabelle SrebernyMohammadi et al. Draft Report Prepared for Presentation at 12th General Assembly and
30
2. Entwicklung der Fragestellung
Zum zweiten läßt sich die Hypothese von der Konstanz oder Variabilität der Nachrichtenwerte diachronisch auch einer historischen Analyse unterziehen. Diese Überlegung, die offenbar auch in dem zuvor genannten internationalen „Foreign Image"-Projekt anfänglich mit einbegriffen war, dann aber wieder fallengelassen wurde58, ist Anlaß für die vorliegende Arbeit. In ihr soll untersucht werden, ob und wie sich Nachrichtenauswahl und Medienrealität in Deutschland langfristig verändert haben, und zwar vom Beginn des 17. Jahrhunderts, d. h. seit den Anfängen der periodischen Presse in Deutschland, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Dabei können die bereits erwähnten Analysen zur heutigen Nachrichtenberichterstattung als eine zusätzliche Phasenverlängerung dienen. So sehr die durch die bisherige Literatur entwickelten Nachrichtenwerte und Nachrichtenfaktoren im Mittelpunkt des Interesses stehen, so wird doch auch eine Reihe anderer Phänomene mit berücksichtigt, was die vorliegende Studie im weiteren Sinne zu einem Beitrag zur Erforschung der historischen Dimension publizistikwissenschaftlicher Grundbegriffe macht: Zu fragen ist nach der langfristigen Zunahme journalistischer Information als Voraussetzung für das Entstehen jenes großen „Kommunikationsmarktes", vor dessen Expansion durch neue Medientechnologien wir heute stehen.59 Zu verfolgen sein wird ferner die Aktualisierung der Medienrealität und ihre Ähnlichkeit (Konsonanz) zu verschiedenen Zeitpunkten der Pressegeschichte. Wenn hier von einem „Wandel" die Rede ist, eine Formulierung, durch die man in den Umkreis der Erforschung sozialen Wandels gerät60, so scheint dies schon vorweg zu implizieren, daß sich Nachrichtenauswahl und Medienrealität verändert haben. Solange dies nicht nachgewiesen ist, muß die Rede vom Wandel noch als offene Hypothese gelten, auch wenn die allgemeinen historischen Erfahrungen ihre Bestätigung erwarten lassen dürften. Andererseits dürfte, folgt man den Hypothesen von Galtung und Rüge, auch manche Konstanz vorliegen. Jedenfalls ist, wenn hier von Wandel gesprochen wird, dies bezogen auf die uns heute geläufige Nachrichtenstruktur.
Scientific Conference of the International Association for Mass Communication Research, Caracas, Venezuela, August 1980. — „Perhaps the most important finding to emerge from this mass of data", so heißt es in diesem vorläufigen Ergebnisbericht, „is the rather standard pattern of news reporting to be reflected in such diverse systems." (S. 98). » Vgl. ebd. S. 5, 18. 5 9 Vgl. Blockade in der Medienpolitik abbauen. Interview mit Prof. Dr. Ulrich Lohmar. In: Die Zeitung 9 (1981) Nr. 4 S. 8. Als Gesamtüberblick vgl. Dietrich Ratzke: Handbuch der Neuen Medien. Stuttgart 1982. 6 0 Zum Überblick vgl. Wilbert E. Moore: Social Change. In: David Sils (Hrsg.): International Encyclopedia of the Social Sciences. Bd. 14. New York 1968. S. 3 6 5 - 3 7 5 .
2. Entwicklung der Fragestellung
31
Zwei wesentliche Einschränkungen müssen jedoch bei einem unmittelbaren Vergleich der Nachrichtenberichterstattung früher und heute gemacht werden: 1. Die bisherigen Studien zum Thema Nachrichten werte sind weitgehend an politischem Nachrichtenmaterial unternommen worden, das in sozialen Systemen mit weitgehend freiem Nachrichten- und Informationsfluß verbreitet wird. Historisch ist jedoch nicht von einem solch freien Informationsfluß auszugehen. Das Nachrichtensystem war zumeist mehr oder weniger heteronom bestimmt, etwa durch die Zensur der absolutistischen Kommunikationspolitik des 17. und 18. Jahrhunderts. 2. Die Ausbildung von Selektionskriterien als subjektiven oder beruflich normierten Präferenzen der Journalisten setzt voraus, daß für die Berichterstattung der Massenmedien aus einem Bestand an Ereignissen bzw. einem Angebot an Nachrichten ausgewählt werden muß, die größer sind als die verfügbare „Kanalkapazität" des Mediums oder der Medien. Je begrenzter diese Kapazität ist, desto stärker ist der Zwang zur Selektion. Das wachsende Ungleichgewicht zwischen Nachrichtenangebot und Nachrichtenverwendung hat das Problemn der Nachrichtenselektion entscheidend verschärft. Diese Verschärfung ist aber erst eine Folge der neueren Entwicklung des Nachrichtenwesens. Beide Einschränkungen sind zwar so wichtig, daß wir ihnen in ihrer Bedeutung für die Geschichte der Nachrichtenselektion im folgenden Kapitel systematischer nachgehen. Doch stehen beide unserer Fragestellung durchaus nicht im Wege, und zwar so weit diese weniger auf die Ursachen als auf die Konsequenzen der Nachrichtenwerte ausgerichtet ist. Damit verlagert sich allerdings das Interesse der Untersuchung von der Problematik der Nachrichtenselektion auf die Problematik der Konstruktion von Realität durch die Massenmedien (Medienrealität). Im übrigen gilt: Auch wo sich ein Ungleichgewicht zwischen Nachrichtenangebot und Nachrichtenverwendung noch nicht herausgebildet hat, entfällt damit keineswegs der Zwang zur Selektion. Denn die Notwendigkeit zur Selektion besteht schon auf der Stufe der Ereignisse und läßt sich in die Frage fassen: Welche Begebenheiten und Sachverhalte werden zu verschiedenen Zeiten für wert befunden, zu Nachrichten in den Massenmedien zu werden? Außerdem ist es von den Rezipienten her gesehen ziemlich unerheblich, ob die Konstruktion der Medienrealität durch Auswahl auf der Stufe der Ereignisse oder der der Nachrichten zustandekommt. Die für die vorliegende Untersuchung konstitutive Fragestellung besitzt darüber hinaus noch eine kommunikationspolitische Dimension. Denn Problem
32
2. Entwicklung der Fragestellung
me der Nachrichtenverbreitung und Nachrichtenauswahl sind in den letzten Jahren zu einem zentralen Gegenstand der internationalen Kommunikationspolitik geworden. Vor allem von den sogenannten Entwicklungsländern ist zunehmend Klage geführt worden über eine ungleiche Verteilung der Kommunikationschancen — analog zur unterschiedlichen Verteilung ökonomischer Güter. Daraus ist eine breite, sich an Kernbegriffen wie „free flow of information" oder „new world information order" entzündende Diskussion entstanden.61 Darauf braucht hier nicht im einzelnen eingegangen zu werden. Doch ist für uns von Bedeutung, daß in dieser Diskussion auch die herkömmlichen Nachrichtenwerte in Frage gestellt worden sind. Die Auffassung, die dabei vertreten wird, ist, „that the present dominant values were those which had emerged from a number of western countries and had them spread throughout the world. Those Western values did not correspond . . . to the present needs of the developing countries and therefore needed to be modified or revised."62 Ähnliche Argumente finden sich in dem Bericht, den die von der UNESCO eingesetzte Commission for the Study of Communication Problems (MacBride-Kommission) 1980 unter dem Titel „Many Voices — One World" vorgelegt hat. „Das weitverbreitete Konzept der Nachrichtenwerte", so heißt es darin bezüglich der Entwicklungsländer, „wird wegen der übermäßigen Betonung des Abweichens vom Normalen und wegen des mangelnden Interesses an positiven Nachrichten kritisiert."63 Die näher exemplifizierte Klage über die „Verzerrung der Nachrichten"64 mündet konsequent in der Befürwortung eines normativen publizistischen Konzepts: „Untersuchungen haben ergeben, daß viele Menschen nur geringes Interesse an den wichtigen gesellschaftlichen, politischen oder wirtschafdichen Tagesproblemen zeigen, Vgl. hierzu u. a. Hans Bohrmann, Josef Hackforth, Hendrik Schmidt (Hrsg.): Informationsfreiheit. Free Flow of Information. München 1979. — Jörg Becker (Hrsg.): Free Flow of Information — Informationen zur Neuen Internationalen Informationsordnung. Frankfurt/ M. 1979. 6 2 Reporting of International News and Roles of the Gate-keepers. Summary Reports of two Unesco Meetings. Unesco Paris o.J. (1981). S.S. — Dieser Auffassung wurde aber auch entgegengehalten, „that even though it was possible that present values emerged from Western countries, they were generally accepted in countries which wished to build free and democratic societies." (ebd.) 6 3 Many Voices — One World. Towards a New More Just and More Efficient World Information and Communication Order. Report by the International Commission for the Study of Communication Problems. London, New York, Paris 1980. Dt. Ubers.: Viele Stimmen — eine Welt. Kommunikation und Gesellschaft — heute und morgen. Bericht der Internationalen Kommission zum Studium der Kommunikationsprobleme unter dem Vorsitz von Sean MacBride an die UNESCO. Konstanz 1981. Zitat hier S. 204. " Ebd. 61
2. Entwicklung der Fragestellung
33
es sei denn, sie fühlen sich davon direkt angesprochen und betroffen. Dem Interesse des Publikums nach dem Mund zu reden ist offenbar ein weit verbreitetes redaktionelles Kriterium; wäre es aber nicht sinnvoll, den Kommunikatoren eine Verantwortung dafür aufzuerlegen, die Öffentlichkeit über Angelegenheiten zu informieren, die sie interessieren sollten, und nicht nur an ihre echten oder eingebildeten Interessen zu appellieren." 65 Die offensichtlichen Gefahren eines derartigen Konzepts sind hier nicht unser Thema. Doch dürfte die Analyse der Nachrichtenauswahl im historischen Wandel auch ein Beitrag zu dieser kommunikationspolitischen Debatte sein, so weit sie z. B. den Spielraum langfristiger Veränderungen einkreist bzw. gewisse Konstanten aufweist. 66 «s Ebd. S. 205. 66 Auf einer UNESCO-Konferenz im Februar 1981, auf der das unter Anm. 62 zitierte Papier zur Diskussion stand, verlangte Enrico Fulchignoni, Repräsentant des International Film and Television Council bei der UNESCO, ausdrücklich auch eine historische Analyse von Nachrichtenwerten in der journalistischen Selektion (Bestätigung im Brief an den Verf. vom 21. September 1981).
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
Die Ausbildung von Selektionsregeln als subjektiven oder beruflich normierten Präferenzen von Journalisten setzt voraus, daß für die Berichterstattung der Massenmedien aus einem Bestand von Ereignissen bzw. einem Angebot von Nachrichten ausgewählt werden muß, die größer sind als die verfügbare Kapazität des Mediums oder der Medien. Je begrenzter diese Kapazität ist, desto schärfer stellt sich das Problem der journalistischen Selektion. So sehr es sich hierbei um ein Problem prinzipieller Art handelt, so unterliegt dieses doch auch einem historischen Wandel. Dies gilt für die beiden Ebenen der Selektion aber in unterschiedlichem Maße. Während sich der Wandel im Verhältnis von Ereignisbestand und Medienberichterstattung kaum verläßlich konkretisieren läßt, ist dies beim Verhältnis von Nachrichtenangebot und Medienberichterstattung anders. Hier haben sich im historischen Verlauf die Relationen erheblich verschoben und das Problem der Nachrichtenselektion wesentlich verschärft. Im folgenden soll beschrieben werden, wie sich das journalistische Selektionsproblem auf der Ebene der Nachrichten objektiv herausgebildet und entwickelt hat. Dabei ist an die organisatorischen und politischen Bedingungen des Nachrichtenwesens zu denken. Anschließend soll geprüft werden, wie sich das journalistische Selektionsproblem subjektiv gewandelt hat, d. h. inwieweit sich in entsprechenden historischen Quellen unterschiedliche Vorstellungen von Nachrichtenwerten ermitteln lassen.
3.1 Der Wandel des Selektionsproblems objektiv gesehen 3.1.1 Vom „Rinnsal" zur „Informationslawine": Die Entstehung und Verschärfung des Selektionsproblems im Nachrichtenfluß Aus der Frühzeit der Presse fehlt es leider an unmittelbaren Auskünften über Menge und Verhältnis von Nachrichtenangebot und Nachrichtenverwendung. Nur ganz vereinzelt findet sich bei dem mit dem Zeitungswesen an sich gut vertrauten Kaspar Stieler 1695 der Hinweis, „daß die Postmeister / ob
3.1 Der Wandel des Selektionsproblems objektiv gesehen
35
sie schon viel geschriebene und gedruckte Zeitungen bekommen / kaum den vierten Teil davon drucken lassen / das übrige aber bey sich verborgen behalten / und niemanden / als ihren sehr vertrauten Freunden darvon in geheim teil geben." 1 Ob diese erste ermittelbare Aussage über die quantitative Seite der Nachrichtenauswahl zuverlässig ist und den damaligen Verhältnissen entsprach, läßt sich nicht mehr prüfen. Doch aus welchen Gründen hätten die Postmeister so handeln und die Mühe für eine gezielte Selektion aufwenden sollen, da die Verbreitung von Nachrichten ein einträgliches Geschäft versprach? So geht man in der Pressegeschichtsschreibung bisher auch davon aus, daß zumindest die Drucker, denen es auf die Auslastung ihrer technischen Kapazitäten und auf die Durchsetzung gegenüber den Postmeistern ankam, in der Regel alles verfügbare Nachrichtenmaterial ins Blatt aufnahmen. Dafür spricht nicht zuletzt die noch fehlende Rollendifferenzierung zwischen journalistischer Selektions- und Redaktionsfunktion einerseits und der technisch-organisatorischen Funktion von Drucker und Verleger andererseits. Der Nachrichtenempfang war an den wöchentlichen Postkurs gebunden, der anfänglich auch den Erscheinungsrhythmus der Zeitungen, die wöchentliche Periodizität, bestimmte (,,Ordinari"-Zeitungen). Die eingetroffenen Korrespondenzen wurden im Druck lediglich aneinandergefügt und „ohne jede Veränderung ihres Wortlauts oft in der Reihenfolge veröffentlicht, in der die Städte, aus denen sie stammten, an der jeweiligen Postroute lagen." 2 Der Aktualität kam zugute, daß man weitgehend auch auf die Bearbeitung der Nachrichten verzichtete: „Wie die vielen in verschiedenen Zeitungen gleichzeitig veröffentlichten Korrespondenzen zeigen, die mit Ausnahme der Orthographie inhaltlich miteinander identisch sind, wurden die von den Berichterstattern übermittelten Nachrichten gelegentlich zwar gekürzt, nicht aber in den Formulierungen verändert." 3 Mitunter konnte die Menge des eingehenden Nachrichtenstoffes offenkundig sogar zu gering ausfallen: „War zu wenig Nachrichtenstoff eingelaufen, ließ man die letzte Seite ganz oder teilweise leer oder glich das Manko durch einen größeren Schriftgrad der zuletzt eingetroffenen und gesetzten Nachrichten aus." 4 Auch aus der weiteren Entwicklung läßt sich mittelbar schließen, daß anfänglich noch kein beträchtliches Ungleichgewicht zwischen Nachrichtenan1
2
3 4
Kaspar Stieler: Zeitungs Lust und Nutz. Vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1695. Hrsg. v. Gert Hagelweide. Bremen 1969. S . 4 8 . Martin Welke: Rußland in der deutschen Publizistik des 17. Jahrhunderts ( 1 6 1 3 - 1 6 8 9 ) . In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 2 3 (1976) S. 105—267. Zitat S. 143. Ebd. Anm. 168. Lotte Wölfle: Beiträge zu einer Geschichte der deutschen Zeitungstypographie von 1609— 1938. Versuch einer Entwicklungsgeschichte des Umbruchs. Diss. München 1 9 4 3 . S. 197.
36
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
gebot und Nachrichtenverwendung bestanden haben dürfte. Denn die Vermehrung des Nachrichtenstoffs, die sich infolge der Verdichtung der Postund Verkehrsverbindungen ergab, begründete zunächst weniger ein Selektionsproblem, weil und so weit das wachsende Angebot an Nachrichten durch eine Ausweitung der Kapazität des Mediums Zeitung aufgefangen werden konnte. Hierzu waren im Laufe der Pressegeschichte mehrere Mittel dienlich: 1. Änderung von Schriftgrad und Schriftschnitt Ein erstes, wenn auch in seinem Ertrag begrenztes Mittel dazu war die bereits erwähnte Veränderung des Schriftgrades, d. h. der Größe der einzelnen Buchstabenkörper, und des Schriftschnitts, d. h. durch die Wahl „eines zarten oder kräftigen, schmalen oder breiten, mageren oder fetten Schriftbildes und der damit verbundenen Breite der Buchstaben." 5 Während heute das Schriftbild der Zeitungen durch ein typographisches Einheitssystem nach Punkten (und neuerdings im Fotosatz nach Millimetern) weitgehend normiert ist, waren früher, bis weit ins 19. Jahrhundert, sehr verschiedene Systeme im Gebrauch. Dabei mußte die Wahl des Schriftgrades in einer Zeitung nicht durchweg festliegen. Konnte ein größerer Schriftgrad dazu dienen, bei mangelndem Nachrichtenstoff die Seiten zu füllen, so „bot der kleinere Petit- oder Nonpareille-Schriftgrad gegenüber der sonst üblichen Borgis- oder Garmond-Fraktur die Möglichkeit, bei Stoffülle mit gleichem Format und Umfang auszukommen."6 Hiervon wurde denn auch im 18. Jahrhundert immer wieder zur Erweiterung der Kapazität des Mediums Gebrauch gemacht. Die Verkleinerung von Zeitungskopf und Schriftgrad blieb ein Mittel zur möglichst ökonomischen Nutzung des verfügbaren Druckraumes, als man z. B. nach 1852 in Preußen die Auswirkungen der (flächenbezogenen) Stempelsteuer geringzuhalten suchte. 2. Änderung des Formats Eine zweite Möglichkeit zur Erweiterung der Medienkapazität bot die Änderung des Formats der Zeitungen. Am Anfang der Pressegeschichte stand hier, in Anlehnung an die Form von Flugblatt und Buch, das Quartformat. Im 17. Jahrhundert hatte es Ausmaße von 13,5:17,5 cm bis 2 0 , 7 : 1 6 cm. Bestimmt wurde das Format durch die Drucktechnik, und zwar durch die übliche Größe des Druckstocks einerseits und durch ein spezifisch für den Zeitungsdruck entwickeltes Verfahren, zwei Exemplare auf einem Bogen gleichzeitig zu drucken und diesen dann zu zerschnei5 6
L. Wölfle a . a . O . S. 3 7 6 f . Ebd. S. 197.
3.1 Der Wandel des Selektionsproblems objektiv gesehen
37
den. Auf diese Weise ließen sich, dem Aktualitätsbedürfnis entsprechend, in kurzer Zeit bereits vergleichsweise hohe Auflagen herstellen. 7 Ein grundlegender Wandel setzte hier erst mit Neuerungen der Drucktechnik im 19. Jahrhundert ein, mit Kniehebelpresse und Schnellpresse. 8 Nach der Jahrhundertmitte wurde daher das zuvor bereits gelegentlich auftretende Folioformat „das vorherrschende, neben dem sich andere Formate, besonders das Quartformat nur bei ganz konservativen Blättern hielten." 9 Die Beibehaltung kleinerer Formate empfahl sich schon deshalb nicht, weil sie bei entsprechender Stoffmenge einen erheblichen Umfang (Seitenzahl) zur Folge hatten. Das „Bamberger Tageblatt" z. B., das bis 1905 in einem Format von 2 3 : 1 5 cm erschien, besaß einen Umfang von täglich 40—80 Seiten. Die Entwicklung des Zeitungsformats blieb auch fortan durch technische Faktoren bestimmt, so vor allem im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durch die Einführung der Rotationsmaschine. Die Investitionen dafür verstärkten den Zwang, das einmal gewählte Format beizubehalten. Gleichwohl bestand weiterhin eine Vielzahl von Formaten nebeneinander, die erst in neuerer Zeit durch zunehmende Standardisierung in der Zeitungstechnik auf wenige Grundtypen reduziert wurden, das „Berliner Format" ( 4 7 : 3 1 , 5 cm), das „Rheinische Format" ( 5 3 : 3 7 , 5 cm) und das „Nordische Format" ( 5 7 : 4 0 cm). 1 0 3. Änderung des Umfangs Ein weiteres Mittel, die Kapazität des Mediums zu erweitern, stellte die Änderung im Umfang der Zeitungen dar. Wie sich der Umfang der (erhaltenen und nachweisbaren) Zeitungen des 17. Jahrhunderts entwickelt hat, zeigt Tabelle l . 1 1
7
8
9 10
11
Vgl. die Beschreibung dieses Verfahrens bei M. Welke: Rußland . . . a. a. O. S. 144. Eine ausführlichere Darstellung von Welke ist angekündigt für die Zeitschrift „Technikgeschichte". Vgl. Hermann Barge: Geschichte der Buchdruckerkunst von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Leipzig 1 9 4 0 . S. 351 ff. — Hans-Jürgen Wolf: Geschichte der Druckpressen. Frankfurt 1974. S. 100 ff. - Claus W . Gerhardt: Geschichte der Druckverfahren. Bd. II Stuttgart 1 9 7 5 . S. 107ff. — Ders.: Warum wurde die Gutenberg-Presse erst nach über 3 5 0 Jahren durch ein besseres System abgelöst? In: ders.: Beiträge zur Technikgeschichte des Buchwesens. Kleine Schriften 1 9 6 9 - 1 9 7 6 . Frankfurt/M. 1976. S. 7 7 - 1 0 0 . L.Wölfle a . a . O . S. 189. Emil Dovifat: Zeitungslehre. 6. neu bearb. Aufl. von Jürgen Wilke. Berlin, New York 1 9 7 6 . Bd. II S. 134. Quelle für diese Ausführung, die sich nur auf den erhaltenen Bestand der Zeitungen des 17. Jahrhunderts stützen kann, ist: Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben zusammengestellt von Else Bogel und Elger Blühm. Bd. I. Bremen 1971.
38
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
Tabelle 1: Wandel im Umfang der Zeitungen des 17. Jahrhunderts Umfang der Zeitungen
1600-1625
1626-1650
1651-1675
1676-1700
%
%
%
%
4 31 7 48 7 3
6 53 7 26 4 4
—
10 55 6 29
Summe
100
n (Anzahl der Zeitungen)
(29)
2—3 Seiten 4 Seiten 5—7 Seiten 8 Seiten Mehr als 8 Seiten Unregelmäßiger Umfang
86 6 8 -
-
-
-
100
100
100
(54)
(48)
(31)
Anzahl der Zeitungen n 7 96 11 41 4 3
(162)
Quelle: Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben zusammengestellt von Else Bogel und Elger Blühm. Bd. I. Bremen 1971.
Im 17. Jahrhundert erschien die überwiegende Zahl der Zeitungen mit vier- oder achtseitigem Umfang. Geringerer oder größerer Umfang bildeten die Ausnahme. Während im ersten Viertel, des 17. Jahrhunderts noch die achtseitigen Zeitungen dominierten, setzte sich in den folgenden Jahrzehnten ein vierseitiger Umfang durch. Dies ist jedoch nicht einem Rückgang der Berichterstattung gleichzusetzen, da es im Laufe der Zeit zugleich zu einem — im folgenden noch zu beschreibenden — Wandel in der Periodizität kam. Wenn im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts der Anteil der achtseitigen Zeitungen wieder zunimmt, so könnte dies, bei gleichbleibendem Erscheinungsintervall, für eine Erweiterung der Berichterstattung sprechen, allerdings nur dort, wo nicht gleichzeitig das Oktavformat gewählt wurde. Jedenfalls setzte das erwähnte Verfahren des Zeitungsdrucks der Vergrößerung des Umfangs zunächst technische Grenzen. So besteht auch ein gleitender Übergang zwischen der anfänglich z. T. unregelmäßigen Erweiterung des Zeitungsinhalts durch einen Appendix oder eine Beilage und ihrer Verselbständigung zu einer weiteren Zeitungsausgabe. Wegen bislang fehlender bibliographischer Erschließung läßt sich die Entwicklung des Zeitungsumfangs für später weniger gut verfolgen als für das 17. Jahrhundert.12 Im 18. Jahrhundert blieben viele Blätter 12
L.Wölfle a.a.O. S. 197ff.
3.1 Der Wandel des Selektionsproblems objektiv gesehen
39
noch beim Umfang eines halben Bogens (vier bzw. acht Seiten) und gaben Erweiterungen allenfalls bei Bedarf. So bildete es einen Sonderfall, wenn der „Hamburgische unpartheyische Correspondent" um 1800 einen durchschnittlichen Umfang von 16 Quartseiten besaß, von denen ein Teil jedoch schon durch Anzeigen und Avertissements bestritten wurde. Bedingt durch die nach 1848 einsetzende Expansion des Anzeigenwesens, kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer z. T. beträchtlichen Umfangserweiterung der Zeitungen. Diese Entwicklung wurde durch den Ersten Weltkrieg abgebrochen, der wieder zu einem Rückgang der Seitenzahlen führte. Kennzeichnend wurden ferner größere Unterschiede im Umfang zwischen verschiedenen Blättern als sie früher bestanden hatten. Sie deuten nicht zuletzt auf eine gewachsene typologische Diversifizierung des Zeitungswesens in Deutschland hin. 4. Änderung der Periodizität Das in der Entwicklungsgeschichte der Zeitung im ganzen wirksamste Mittel zur Erweiterung der Kapazität des Mediums bildete die Änderung der Periodizität, die Verkürzung des Erscheinungsintervalls: „Je dichter das Netz der Postverbindungen wurde und je öfter die einzelnen Orte ,Posttag' hatten, um so eher war den an der Zeitungsherstellung Beteiligten die Möglichkeit gegeben, ihr Blatt in kleineren zeitlichen Intervallen erscheinen zu lassen." 1 3 Dementsprechend kamen die ersten mehrmals wöchentlich erscheinenden Zeitungen in Städten heraus, welche die Post mehr als einmal in der Woche erreichte. Dazu gehörte z. B. Leipzig, wo 1650 erstmals eine Tageszeitung erschien, die von Thimotheus Ritzsch herausgegebenen „Einkommenden Zeitungen". Daß dies jedoch eine Ausnahme darstellte, zeigt die Übersicht zur Periodizität der Zeitungen des 17. Jahrhunderts in Tabelle 2 . 1 4 Die Mehrzahl der Zeitungen des 17. Jahrhunderts erschien wöchentlich. Jedoch nahm der Anteil der Wochenblätter relativ bis zum Ende des Jahrhunderts erheblich ab: Waren es im ersten Viertel des Jahrhunderts noch 9 von 10 wöchentlich erscheinende Zeitungen, so im letzten Viertel nur noch 4 von 10. Dafür stieg der Anteil der Zeitungen mit zweimaligem wöchentlichen Erscheinen von 10 Prozent im ersten auf zwei Drittel im letzten Viertel des Jahrhunderts. Jedoch bedeutete, wie bereits erwähnt, der Übergang von ein- zu zweimaligem wöchentlichen Erscheinen noch nicht unbedingt eine Erweiterung der Kapazität des Mediums, weil diese anfänglich mit einer Reduzierung des Umfangs der einzelnen Zeitungs" 14
M . Welke, Rußland . . . a. a. O. S. 142. Bogel, Blühm a. a. O.
40
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
Tabelle 2: Wandel in der Periodizität der Zeitungen des 17. Jahrhunderts Periodizität
1600-1625
1626-1650
1651-1675
1676-1700
Anzahl der
%
%
%
Zeitungen
o/ /o
n
Einmal pro Woche
90
72
46
Mehrmals pro Woche *
—
4
4
Zweimal pro Woche
10
9
27
26
95 4
-
64
41
7
14
Drei- bis fünfmal pro Woche
—
9
15
Sechs- bis siebenmal pro Woche
—
2
4
Unregelmäßiges Erscheinen
—
4
4
3
Summe
100
100
100
100
n (Anzahl der Zeitungen)
(29)
(54)
(48)
(31)
3
-
5
(162)
Quelle: Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben zusammengestellt von Else Bogel und Elger Blühm. Bd. I. Bremen 1971. Aus der Quelle ist nicht ersichtlich, ob die Erscheinungshäufigkeit dieser Zeitungen unregelmäßig war oder nur nicht mehr feststellbar ist.
1
ausgabe einherging oder von vornherein ein kleineres Format gewählt wurde. Doch dürfte das Produkt aus Seitenumfang, Erscheinungshäufigkeit und Format nur für eine gewisse Zeit konstant gewesen sein, bevor das wachsende Stoffangebot auf eine Erweiterung des vorgegebenen Rahmens drängte. Leider läßt sich wegen der bisher fehlenden bibliographischen Erschließung auch die Entwicklung der Erscheinungsweise der Zeitungen für das 18. und 19. Jahrhundert weniger gut verfolgen als für das 17. Jahrhundert. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde offenbar ein dreimaliges Erscheinen pro Woche vorherrschend, mit zunehmender Tendenz zu wöchentlich viermaligem Erscheinen bis 1848. Statistische Daten, die für die Zeit danach vorliegen, lassen sich nur schwer zuverlässig interpretieren, weil die Erhebungseinheit „Zeitung" nicht eindeutig oder uneinheitlich definiert erscheint. Einen Überblick über die Häufigkeit der Erscheinungsintervalle in der deutschen Presse von 1885 bis 1926 bietet die folgende, nach Daten bei Otto Groth angelegte Tabelle. 15 In der hier ablesbaren Vielfalt von Erscheinungsintervallen spiegelt sich abermals die typologische Diversifizierung des Zeitungswesens in 15
Otto Groth: Die Zeitung. Bd. I. Mannheim, Berlin, Leipzig 1928. S. 2 6 8 .
41
3.1 Der Wandel des Selektionsproblems objektiv gesehen Tabelle 3: Wandel in der Periodizität der Zeitungen 1885 — 1926 Periodizität
Einmal pro Woche Zweimal pro Woche Drei- bis fünfmal pro Woche Sechs- bis siebenmal pro Woche Elfmal pro Woche und mehr Unbestimmt
1885
1897
1901
1906
1910
1914
1917
1921
1925
1926
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
19 27 25
11 20 34 33
13 18 32 34
14 15 31 37
10 13 31 44
11 12 30 45
5 12 28 52
6
6
6
9 25 57
9 22
8 20 64
3
2 1
62
27 2 2
-
-
100
100
100
2 -
100
2 X
Summe
100
100
n (Anzahl der Zeitungen)
(3069) (3337) (3452) (4187) (3894) (4221)
3
3
-
-
100
100
2
2
X
X
100
100
(3201) (3448) (3152) (3257)
Quelle: Otto Groth: Die Zeitung. Bd. I. Mannheim, Berlin, Leipzig 1928. S. 268.
Deutschland. Von 1885 bis 1926 zeigt sich insbesondere ein Rückgang der Zeitungen mit weniger als sechsmaligem Erscheinen in der Woche, während der Anteil der Tageszeitungen erheblich anstieg. Nach 1848 waren überdies erstmals zweimal täglich erscheinende Zeitungen aufgekommen, deren Zahl Heinrich Wuttke für 1866 mit 30 angibt. 16 Die Zahl wuchs im folgenden noch an, schwankte aber zu verschiedenen Zeitpunkten. Auch wenn ihr Anteil am Gesamtbestand der jeweiligen Zeitungen kaum über zwei bis vier Prozent betrug, so bildeten sie doch die publizistisch besonders leistungsfähigen Organe. Mit ihnen dürfte die Erweiterung der Informationskapazität des Mediums Zeitung ihren Höhepunkt gefunden haben. Indem man beschreibt, wie sich das periodische Erscheinen der Zeitungen im Laufe der Pressegeschichte verändert hat, wird zugleich für einen der entscheidenden Wirkungsfaktoren der Massenmedien die historische Dimension aufgezeigt, und zwar für den Faktor „Kumulation", d. h. „die kumulative Wirkung als Folge der Periodizität". 17 Denn Wirkungen der Massenmedien sind in der Regel nicht als Ergebnis einzelner, sondern einer Vielzahl sich wiederholender Kommunikationsvorgänge zu verste16
17
Heinrich Wuttke: Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung. Leipzig 2 1875. S. 230. Elisabeth Noelle-Neumann: Kumulation, Konsonanz und Öffentlichkeitseffekt. In: dies.: Öffentlichkeit als Bedrohung. Beiträge zur empirischen Kommunikationsforschung. Hrsg. v. Jürgen Wilke. Freiburg, München 1977. S. 134.
42
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
hen. Die Verkürzung der Periodizität mußte diese kumulative Wirkung steigern, d. h. die Macht, durch Wiederholung in einer bestimmten Zeit eine „Anhäufung von Wirkstoffen" zu erreichen.18 Die hier beschriebenen Mittel zur Erweiterung der Kapazität des Mediums Zeitung haben sich, im einzelnen jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten, wechselseitig gesteigert, so daß aus einem „Rinnsal" an Nachrichtenberichterstattung im 17. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert gleichsam eine „Informationslawine" werden konnte. Dies wird an späterer Stelle der vorliegenden Arbeit noch zu präzisieren sein. Hier — und dazu reicht die kursorische Beschreibung der vier genannten Mittel aus — interessiert diese Entwicklung nur im Hinblick auf die Entstehung oder Verschärfung des journalistischen Selektionsproblems. Die Vermehrung des Nachrichtenstoffs erzwang, wie gesagt, zunächst deshalb weniger einen Selektionsdruck, weil und so weit das Ausmaß der Berichterstattung vergrößert werden konnte. Allerdings war eine Ausweitung der Kapazität des Mediums vor allem aus technischen Gründen nicht jederzeit und beliebig möglich. Daher wird auch das journalistische Selektionsproblem nicht erst eingesetzt haben, nachdem die Mittel zur Kapazitätserweiterung ausgeschöpft waren. Vielmehr ist anzunehmen, daß eine Selektion der Nachrichten schon eingesetzt hat, noch bevor man an die Grenzen der Kapazität des Mediums gestoßen war. Man hat es hier mit eher komplementären und teilweise synchronen als mit sich wechselseitig ausschließenden oder einander ablösenden Vorgängen zu tun. Daß sich das journalistische Selektionsproblem, wenn nicht im 17., so doch schon im 18. Jahrhundert allmählich herausgebildet hat, dafür sprechen zunächst einmal die ersten Anzeichen für eine Rollendifferenzierung zwischen journalistisch-redaktionellen Aufgaben und den technisch-organisatorischen Leistungen von Drucker und Verleger. Gerade der später in der vorliegenden Studie untersuchte „Hamburgische unpartheyische Correspondent" war hierin führend. Sein Herausgeber Heinrich Holle wollte, wie Martin Welke feststellt, „sich nicht damit begnügen, die einlaufenden Nachrichten ohne Veränderungen aneinanderzufügen, sondern unter der Verantwortung eines eigenen Redakteurs sollte aus den neuesten und zuverlässigsten Korrespondenzen das Wesentliche ausgewählt und in einer übersichtlichen Anordnung in gut lesbarem Stil publiziert wer-
18
Vgl. dazu sinngemäß die eingeführte Bedeutung von „Kumulation" in der Pharmakologie: „Man versteht darunter die Anreicherung eines Wirkstoffes im Organismus bei Zufuhr in regelmäßigen Abständen . . . " So in: Klinisches Wörterbuch. Berlin, New York 1975. S. 661.
3.1 Der Wandel des Selektionsproblems objektiv gesehen
43
den." 19 So treten in dieser Zeitung im 18. Jahrhundert nicht nur beim „gelehrten Artikel", sondern auch beim politischen Teil eine ganze Reihe namentlich bekannter, z. T. jahrzehntelang wirkender Redakteure hervor. Doch nicht nur deren Existenz spricht dafür, daß man sich im Zeitungswesen zunehmend auch mit dem Problem konfrontiert sah, aus dem (Über-) Angebot an einlaufenden Nachrichten die verwendbare Menge auszuwählen und für den Druck zuzubereiten. Dafür gibt es vielmehr noch andere Indizien. Wenn man sich beim „Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten" im Jahre 1745 entschloß, den gelehrten Teil angesichts der Beobachtung, „da sich die meisten Leser mehr um die Welthändel als Gelehrsamkeit bekümmern" (8. 9.1745), wesentlich einzuschränken, so offenbar weil dies erforderlich war, um bei der verfügbaren Stoffmenge eine umfassende Information zu gewährleisten. Immer wieder findet man im 18. Jahrhundert auch die Praxis, Korrespondenzen mit einem Umfang, der im ganzen nicht in einer Zeitungsausgabe unterzubringen war, in Fortsetzungen erscheinen zu lassen. Diese Fortsetzungen konnten bei entsprechend reichem Nachrichtenanfall beliebig gekürzt werden, beim Ausbleiben von Korrespondenzen konnten solche überlangen Berichte als willkommene Auffüllung dienen. Den Hinweis, bestimmte Briefe, etwa die neuesten englischen, holländischen und französischen Korrespondenzen, seien bei Redaktionsschluß noch nicht eingetroffen gewesen, findet man wiederholt in Zeitungen des 18. Jahrhunderts.20 Da die Seiten der Zeitungen gleichwohl ausgefüllt sind, kann man daraus folgern, daß, wären diese Briefe der Redaktion verfügbar gewesen, irgendetwas von dem gedruckten Zeitungsinhalt hätte wegbleiben müssen. Eine Bereitschaft zu rigoroser Selektion und damit gleichzeitig zur Thematisierung bestimmter zeitgenössischer Vorgänge läßt sich im Umkreis von historisch außergewöhnlich bedeutsamen Ereignissen, vor allem der Französischen Revolution feststellen. Hier sind ganze Nummern des „Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten" der Berichterstattung nur über ein Geschehen gewidmet, beispielsweise der Hinrichtung Robespierres (vgl. Ausgabe vom 15. 8.1794). Man kann ausschließen, daß an diesem Tag außer der Pariser Korrespondenz keine anderen Briefe mit Nachrichten vorlagen.
19
20
Martin Welke: Staats- und Gelehrte Zeitungen des Hollsteinischen / Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten 1721—40. In: Index 2 . 3 . 0 0 . 0 3 . Hollsteinischer unpartheyischer Correspondent 1721—30. Hamburgischer unpartheyischer Correspondent 1731—40. Erscheinungsfolge mit Microfiche-Numerierung. Hildesheim, New York 1977. S. I—XX. Hier S. IV. Vgl. z. B. Hamburgische Neue Zeitung vom 29. 1. 1 7 7 4 .
44
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
Dieses Geschehen muß demnach für so wichtig gehalten worden sein, daß der gesamte andere Stoff entfiel. Auch wenn dies ein außerordentliches Beispiel ist, besitzt es doch Zeugniswert für die Entwicklungsgeschichte der journalistischen Selektion. Nicht weniger aufschlußreich erscheint als Zeugnis ein Bericht über den beruflichen Alltag Joachim Friedrich Leisters, des Redakteurs des „Correspondenten", in dem sich der Schriftsteller Johann Hermann Stöver 1791 verwundert zeigte, „wie ein einziger Mann die Ausfertigung eines Blattes so schnell besorgen könne. Die Routine muß ihnen darin wohl hauptsächlich zu Hülfe kommen." 21 Angesichts sonst fehlender unmittelbarer Belege oder Daten, kann es sich bei diesem Versuch, die Anfänge und die Entwicklung der journalistischen Nachrichtenauswahl zu erhellen, ohnehin nur um eine Spurensuche handeln. Daß sich im 19. Jahrhundert das Problem der Nachrichtenauswahl weiter und zunehmend verschärfte, daß sich im Verhältnis von Nachrichtenangebot und Nachrichtenverwendung ein wachsendes Ungleichgewicht einstellte — dies war eine Folge der technischen Errungenschaften und der fortschreitenden Organisation des Nachrichtenverkehrs. Zu den Erfindungen, die das Nachrichtenwesen technisch revolutionierten, gehörte vor allem der elektrische Telegraph, der in Preußen ab 1849 für die Nutzung durch jedermann freigegeben war. Organisatorisch bedeutete vor allem die Gründung von Nachrichtenbüros und Nachrichtenagenturen einen entscheidenden Fortschritt. Hier ging der Franzose Charles Havas in den dreißiger Jahren voran22, in Deutschland folgten Bernhard Wolff 1849 mit dem „Wölfischen Telegraphenbüro" (WTB)23, in England Paul Julius Reuter24. Diese drei Agenturen betrieben, zusammen mit der amerikanischen Agentur „Associated Press", die nachrichtenmäßige Erschließung der Erde im 19. Jahrhundert. Wirtschafdiche Interessen und die Nachrichtenkonkurrenz wirkten stimulierend, erzwangen aber auch wegen der Kostenintensität zunehmende Absprachen und Ringverträge zwischen den Agenturen, ja führten zu einer kartellartigen Abgrenzung ihrer jeweiligen Tätigkeitszonen.25
21
22 23 24 25
Zit. nach Martin Welke: Die Legende vom „unpolitischen Deutschen". Zeitungslesen im 18. Jahrhundert als Spiegel des politischen Interesses. In: Jahrbuch der Wittheit zu Bremen XXV (1981) S. 161-188. Hier S. 165. Pierre Frédérix: Un siècle chasse aux nouvelles. De l'Agence d'information Havas à l'Agence France Presse. Paris 1959. Hansjoachim Höhne: Report über Nachrichtenagenturen. Bd. 2: Die Geschichte der Nachricht und ihrer Verbreiter. Baden-Baden 1977. S.45ff. Graham Storey: Reuters. The Story of a Century of News-Gathering. New York 1969. Ersterscheinung 1951. Vgl. H.Höhne a.a.O. S.41ff.
3.1 Der Wandel des Selektionsproblems objektiv gesehen
45
Die stürmische Entwicklung des Nachrichtenwesens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts braucht hier nicht im einzelnen beschrieben zu werden. Für unseren Zusammenhang kommt es nur auf den daraus resultierenden Zwang zur journalistischen Selektion an. Dieser potenzierte sich durch die eingetretene Vermehrung der Selektionsstufen, und er wurde um so gravierender, je mehr die Menge des durch Agenturen und Korrespondenten „fremdbeschafften", aber auch des redaktionell „eigenbeschafften" Nachrichtenmaterials wuchs und je mehr die Grenzen einer Erweiterung der Kapazität des Mediums erreicht waren. Je drängender sich aber der Zwang zur Selektion darstellte, desto notwendiger bedurften die Journalisten der Entscheidungsregeln, nach denen sie, zumal unter dem für die Massenmedien typischen Zeitdruck, ihre Auswahl richten und die Komplexität des Angebots reduzieren konnten.
3.1.2 Von der Zensur zur Pressefreiheit: Politische Bedingungen des Selektionsproblems im Nachrichtenfluß Die bisherigen Untersuchungen von Nachrichtenwerten der Massenmedien sind, wie einleitend schon festgestellt wurde, so gut wie durchgängig an Nachrichterimaterial unternommen worden, das in sozialen Systemen mit weitgehend freiem Nachrichten- und Informationsfluß verbreitet wird. Aus einer derartigen „Selbststeuerung" des Nachrichtensystems ergeben sich vergleichsweise autonome, wenn auch von der Rezeptions- und Kaufbereitschaft des Publikums am Markt abhängige journalistische Selektionsprinzipien. Historisch ist jedoch nicht von einem solch freien Informationsfluß auszugehen, weil das öffentliche Nachrichtensystem in der deutschen Geschichte lange mehr oder weniger heteronom bestimmt war. Neben der zuvor beschriebenen organisationsmäßig-technischen Herausbildung und Bedingtheit des journalistischen Selektionsproblems muß demnach auch dessen politische Bedingtheit im politischen Wandel berücksichtigt werden. Als um die Wende zum 17. Jahrhundert die Zeitung als periodisches Massenmedium aufkam, war das System der Kommunikationskontrolle, das im wesentlichen bis zum Ende des Deutschen Reiches 1806 Bestand hatte, bereits entwickelt. 26 Nur wenige Jahrzehnte nach der Erfindung des Buchdrucks mit 26
Vgl. zum folgenden Franz Schneider: Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit. Studien zur politischen Geschichte Deutschlands bis 1848. Neuwied, Berlin 1966. — Ulrich Eisenhardt: Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496—1806). Ein Beitrag zur Geschichte der Bücher- und Pressezensur. Karlsruhe 1970. - An älterer Literatur sei genannt: Friedrich Kapp/Johann
46
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg (um 1450) hatten erste Zensurmaßnahmen der Kirche eingesetzt: Berthold von Henneberg, Fürstbischof von Mainz, erließ z. B. am 4. Januar 1486 eine Verordnung zur Errichtung einer Zensurkommission für das gesamte Bistum. Ein Jahr später folgte die erste päpstliche Zensurverordnung. Die Durchsetzung der Zensur geschah danach in drei Stufen: Nach der anfänglich rein kirchlichen Aufsicht wurde diese zunehmend von weltlichen Instanzen übernommen, bis schließlich die weltliche Zensur in den Vordergrund tat. 2 7 Gefördert wurde dieser Übergang, der sich unter Kaiser KarlV. vollzog, durch die Reformation, die eine Fülle erregender Flug-, Streit- und Schmähschriften hervorbrachte. Deren Unterdrückung war daher bevorzugtes Ziel der Reichsabschiede seit dem Reichstag zu Nürnberg 1524. 2 8 Die Präventivzensur hatte bereits zuvor ein kaiserliches Edikt vom 8. Mai 1521 eingeführt. Im Nürnberger Reichsabschied von 1524 wurde der Obrigkeit zur Auflage gemacht, die auf ihrem Territorium befindlichen Druckereien zu überwachen. Diese Aufsicht wurde im Jahre 1550 auch auf andere Ausdrucks- und Kommunikationsmittel ausgedehnt. Sofern die Territorialherren in der Handhabung der Zensur säumig waren, machten sie sich selbst strafbar. Die Reichspolizeiordnung von 1577 sah für solche Fälle die Möglichkeit unmittelbaren kaiserlichen Eingreifens vor. Eine Verschärfung brachte überdies der Reichsabschied von Speyer 1570. Danach sollten alle „Winkeldruckereien" abgeschafft werden, d. h. Druckereien durften nur noch in Reichs-, Residenz- und Universitätsstädten bestehen. Schließlich entstammen jener Zeit auch Bestimmungen, die noch im heutigen Presserecht Geltung besitzen (Impressumspflicht, Ablieferung von Pflichtexemplaren). Zur Überwachung des gesamten Zensurwesens diente seit 1569 eine in Frankfurt eingerichtete Bücherkommission als Oberzensurbehörde. In dieses etablierte System der Kommunikationskontrolle, dessen Regelungen in der Folgezeit durchaus unterschiedlich streng angewendet wurden, ließ sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch die periodisch erscheinende Zeitung einbeziehen. In der Reichsstadt Nürnberg wurde z. B., um hier einen relativ gut erforschten Fall zu zitieren, am 5. März 1638 „den Buchdruckern angezeigt, daß sie die Zeitungen nicht sofort drucken sollten, wenn sie die Briefe mit den Nachrichten erhielten. Sie müßten unbedingt vorher vom Kir-
27 28
Goldfriedrich: Geschichte des deutschen Buchhandels. 4 Bde. Breslau 1886—1913. — Otto Groth: Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik). Bd. 2. Mannheim, Berlin, Leipzig 1929. S. 3 - 3 3 4 . Vgl. F.Schneider a . a . O . S.31ff. Zum folgenden vgl. Julius August Collmann: Quellen, Materialien und Commentar des gemein deutschen Preßrechts. Berlin 1844.
3.1 Der Wandel des Selektionsproblems objektiv gesehen
47
chenpfleger besichtigt werden." 2 9 Neben die zensorischen Maßnahmen trat überdies die Privilegierung als obligatorische Voraussetzung zur Herausgabe einer Zeitung. Die Erteilung eines Privilegs ließen sich die politischen Instanzen nicht nur honorieren, sondern die Drohung mit seinem Entzug konnte zugleich als ständiges kommunikationspolitisches Zuchtmittel dienen. Dennoch war die Erlangung eines Privilegs sehr begehrt und führte zu manch erbitterten Streitigkeiten, weil es seinem Inhaber ein Monopol sicherte, ihn — zumindest prinzipiell — vor Nachdruck und damit vor wirtschaftlichem Schaden schützte. Die frühesten, für das Zeitungswesen nachweisbaren Privilegien stammen aus Wien (1615) und aus Frankfurt (1619). 3 0 Künftig gehörte der Hinweis auf die Privilegierung zum festen Bestandteil der Zeitungstitel. Es ist kaum möglich, die Auswirkungen der absolutistischen Kommunikationskontrolle des 17. und 18. Jahrhunderts auf die Berichterstattung der Zeitungen konkret und doch verallgemeinerbar zu beschreiben. Schon daß die entsprechenden Vorschriften im 16. Jahrhundert mehrfach erneuert oder verschärft wurden, deutet darauf hin, daß die zur Kontrolle geschaffenen Instrumente nicht den gewünschten Erfolg hatten. Begründet war dies vor allem in der Gewaltenteilung zwischen Kaiser und Landesherren, d. h. der deutsche Partikularismus verhinderte oder milderte einen kommunikationspolitischen Zentralismus. So ist in Deutschland jedenfalls von einer regional und individuell unterschiedlichen Wirksamkeit der Zensurvorschriften und Kontrollmaßnahmen auszugehen. Zudem stellte die Zeitung durch Inhalt und Periodizität für die Ausübung der Zensur offenbar besondere Probleme: Zahlreich sind die Klagen über die Unzulänglichkeit der Zensoren, häufig mußten sie zurechtgewiesen werden, ja manche wurden bereits nach kurzer Zeit von ihrer Aufgabe suspendiert. 31 Mit dem Übergang von der kirchlichen zur weltlichen Zensur hatten sich nicht nur verwaltungsmäßige Zuständigkeiten, sondern auch deren substantielle Zielsetzungen verschoben. Neben die Religion als Schutzobjekt traten zunehmend „Staatsrücksichten", sei es innenpolitisch der Schutz der guten Sitten, des inneren Friedens, von Ruhe und Ordnung, sei es außenpolitisch die Bewahrung von Staatsgeheimnissen und der Schutz vor äußerer Bedrohung. Die Legitimität einer diesbezüglichen staatlichen Aufsicht gründete
29
Arnd Müller: Zensurpolitik der Reichsstadt Nürnberg. Von der Einführung der Buchdrukkerkunst bis zum Ende der Reichsstadtzeit. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Nürnbergs 4 9 (1959) S. 6 6 - 1 6 9 , hier S. 114.
30
Vgl. Kaspar Stieler a . a . O . S. 2 8 7 Anm. 46. Vgl. A. Müller a . a . O . S. 142ff.
31
48
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
sich — und dies lange Zeit unbestritten — auf die Vorstellung vom Gottesgnadentum des weltlichen Herrschers. Sie rechtfertigte die Abschirmung eines Exklusivbezirks politischer Erwägung und Entscheidung und ließ die Bewahrung davor, „durch Frage und Kritik in die autoritätsfeindliche Bedrängnis unerwünschter Rechenschaft gerufen zu werden"32, nicht nur als opportun, sondern als legalen Machtanspruch erscheinen. Dies gilt im wesentlichen auch für den aufgeklärten Absolutismus, der keineswegs auf die Zensur verzichtete, sondern den es „lediglich auszeichnet, seine Entscheidungen an einer ,vernünftigen' Staatsräson zu orientieren." 33 Mit den „Staatsrücksichten" treffen wir auf Prinzipien der Kommunikationskontrolle, die ihre Konsequenzen haben mußten für die Berichterstattung der Zeitungen, d. h. auch für die Ereignis- und Nachrichtenauswahl. Insbesondere diplomatische und strategische Gesichtspunkte wurden beherrschend, zumal da die Fürsten versuchten, „auf dem Weg über die Klage beim Nachbarn eine Art mittelbarer Zensur auszuüben" 34 . Dies gibt der Konkretisierung der Zensurvorschriften einen oftmals okkasionellen Charakter, wie das Nürnberger Beispiel wiederum zeigt: „Um solche Verwicklungen zu vermeiden, erließ der Rat öfter die Verordnung, daß die eine oder andere Materie nicht oder nur in vorgeschriebener Weise in der Zeitung behandelt werden dürfe." 3 5 Grundsätzlich galt zumeist, nichts für den kaiserlichen Hof oder andere „hohe Potentaten" 36 Nachteiliges zu melden, und von genereller Bedeutung ist auch die Sonderzensur, wenn nicht Unterbindung lokaler Berichterstattung. Gleichwohl mußten für die Zensoren die Verhältnisse vielfach unübersichtlich sein, auch weil die Nachrichten oft bereits anderswo gedruckt worden waren. Indem die Aufklärung des 18. Jahrhunderts die Denk- und Meinungsfreiheit als unveräußerliche, dem Menschen aufgrund seiner Existenz zustehende Naturrechte deklarierte und den sozialen Nutzen einer freien öffentlichen Kommunikation hervorkehrte, entzog sie der absolutistischen Zensurpolitik allmählich den Boden. Allerdings erwies sich Deutschland hier als eine „verspätete Nation". Denn in England war bereits 1695, durch Verzicht auf die Erneuerung des „Licensing Act", die Pressefreiheit praktisch hergestellt, und durch die amerikanische Bill of Rights (First Amendment 1791) und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 hatte sie erstmals F. Schneider a. a. O. S. 64. m Ebd. S. 60. « Ebd. S. 125. 3 5 A. Müller a. a. O. S. 142. 3 6 Ebd. S. 114. 32
3.1 Der Wandel des Selektionsproblems objektiv gesehen
49
Verfassungsrang erhalten. Demgegenüber blieb Pressefreiheit im deutschsprachigen Raum, trotz mancher sich abzeichnender Lockerungen etwa unter Joseph II., mehr noch ein Schlagwort des Kampfes um politische Beteiligung. Die Anerkennung von Pressefreiheit als Menschenrecht wurde erst am Ende eines langen, durch gelegentliche Fortschritte, aber auch viele Rückschläge markierten Weges erreicht. Wo Pressefreiheit vorher gewährt oder geduldet wurde, geschah dies noch als fürstlicher Gnadenerweis oder allenfalls aus Gründen der Zweckmäßigkeit. 37 Hatte schon die Französische Revolution dazu geführt, daß die deutschen Herrscher z. T. bereits gelockerte Zensurbestimmungen wieder erneuerten und bekräftigten, so lernte man durch Napoleon ein Überwachungssystem kennen, „das von unerhörter Gewalttätigkeit und unübertroffenem Raffinement war." 3 8 Um das Ziel größtmöglicher Zentralisierung zu erreichen, wurde nicht nur die Zahl der Zeitungen so vermindert, daß in jedem Departement nur noch ein Blatt bestehen durfte, sondern die übriggebliebenen Zeitungen hatten sich zudem am Pariser „Moniteur" als dem kaiserlichen Staatsorgan zu orientieren. Nur was dort bereits veröffentlicht war und gewissermaßen amtlichen Nachrichtenwert besaß, durfte nachgedruckt werden. Dabei unterschied sich der publizistische Einfluß Napoleons jedoch zwischen den Gebieten, die dem französischen Kaiserreich eingegliedert wurden, den assoziierten Rheinbund-Staaten und den anderen Teilen des früheren Reiches. Daß publizistisches Wohlverhalten gleichwohl auch dort opportun war, wo Napoleon selbst nicht unmittelbar eingreifen konnte, zeigt der Fall der 1810/11 von Heinrich von Kleist herausgegebenen „Berliner Abendblätter". 3 9 Das nationale Erlebnis der Niederwerfung des napoleonischen Jochs in den Befreiungskriegen, die zum erstenmal nicht als Kabinetts-, sondern als Volkskrieg erfahren wurden, schien auch der öffentlichen Kommunikation einen neuen Freiraum zu verschaffen. Der mit der Beteiligung am Freiheitskampf errungene Anspruch auf weitergehende politische Beteiligung ließ sich nicht mehr leichthin abtun, sondern zeitigte einen Wandel der Pressegesetzgebung, so daß 1818 bereits in einem Drittel der Bundesstaaten das Prinzp nachträglicher presserechtlicher Verantwortung (Justizsystem) in Kraft war, in zwei Dritteln noch das Prinzip präventiver Zensur (Polizeisystem). 40 Die37 38 39
40
F. Schneider a . a . O . S. 146ff. O. Groth a. a. O. S. 4 2 . Vgl. Helmut Sembdner: Die Berliner Abendblätter H. v. Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion. Berlin 1939. Dies war das Ergebnis der Expertise, die der Staatsrat G. H. v. Berg im Auftrag der Bundesversammlung am 12. Oktober 1818 erstattete. Vgl. Collmann a . a . O . S. 175ff.
50
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
ser Wandel, der verschiedenenorts zu publizistischer Vielfalt und Blüte (z. B. Weimar) führte und neben bisher unbekannten Möglichkeiten der Meinungsäußerung auch solche für die journalistische Berichterstattung eröffneten, war jedoch nicht von Dauer. Noch bevor die Erwartungen erfüllt wurden, die sich an das Versprechen des Art. 18 d der Wiener Bundesakte vom 8. Juni 1815 knüpften, wonach die „Bundesversammlung . . . sich bei ihrer ersten Zusammenkunft mit der Abfassung gleichförmiger Verfügungen über die Preßfreiheit und die Sicherstellung der Rechte der Schriftsteller und Verleger gegen den Nachdruck beschäftigen"41 werde, erfuhr die Entwicklung abermals einen Rückschlag. Die Karlsbader Beschlüsse vom September 1819, u. a. in Folge der Ermordung August von Kotzebues erlassen, leiteten eine neue Phase strenger Überwachung, ja Unterdrückung des Pressewesens ein. Ihr Ziel war „die Rekonstruktion der vom Hof kontrollierten politischen Öffentlichkeit mit Ausschließlichkeitsanspruch der Verlautbarung"42, d. h. sie waren darauf angelegt, „eine fundamentale geistige Entwicklung . . . durch Kommunikationsunterbindung zu sistieren und rückgängig zu machen." 43 Schriften mit einem Umfang unter 20 Bogen, und das heißt die gesamte Tagespublizistik, durften, wie es in § 1 lautete, „in keinem deutschen Bundesstaate ohne Vorwissen und vorgängige Genehmhaltung der Landesbehörden zum Druck befördert werden."44 Bei Zeitungen sollte nicht nur die jeweils inkriminierte Nummer, sondern das weitere Erscheinen des Organs überhaupt untersagt werden. Entscheidend war dabei überdies, daß die einzelnen Bundesstaaten den übrigen Mitgliedern des Deutschen Bundes gegenüber verantwortlich waren für die in ihrem Land begangenen Pressevergehen, ja daß als „ultima ratio . . . die Bundesversammlung immer über die unmittelbare Untersuchungs- und Unterdrückungsgewalt"45 verfügte. Die zunächst bis 1824 befristeten Beschlüsse wurden später verlängert und 1832 durch die Wiener „Zehn Artikel" noch verschärft. Die Zeit zwischen 1819 und 1848 wurde damit zum Feld „einer fast dreißigjährigen Polizeiaktion gegen die Presse . . ., des ausgedehntesten und wirk41
42 43
44
45
Zit. nach Franz Schneider a. a. O. S. 2 1 3 . Vgl. dazu auch Ulrich Eisenhardt: Die Garantie der Pressefreiheit in der Bundesakte von 1815. In: Der Staat 10 (1971) S. 3 3 9 - 3 5 6 . F. Schneider a. a. O. S. 2 1 5 . F. Schneider a. a. O. S. 2 4 4 . Vgl. dazu auch Eberhard Büssem: Die Karlsbader Beschlüsse von 1819. Die endgültige Stabilisierung der restaurativen Politik im Deutschen Bund nach dem Wiener Kongreß 1 8 1 4 / 1 5 . Hildesheim 1974. Zit. nach Kurt Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. { - Geschichte der deutschen Presse Teil II). Berlin 1966. S . 5 5 . F. Schneider a . a . O . S. 2 5 3 .
3.1 Der Wandel des Selektionsproblems objektiv gesehen
51
samsten Unterdrückungssystems in der deutschen Pressegeschichte überhaupt" 4 6 . Dabei ging es nicht nur darum, öffentliche Kritik, sondern auch die ungehinderte Berichterstattung zu unterbinden, zumindest soweit diese die Ordnung im Inneren betraf und insofern dadurch, wie es im § 4 der Karlsbader Beschlüsse hieß, „die Würde oder Sicherheit anderer Bundesstaaten verletzt, die Verfassung oder Verwaltung derselben angegriffen wird" 4 7 . Ergänzt und konkretisiert wurden die Rahmenbestimmungen durch die jeweiligen Zensurregelungen der einzelnen Bundesstaaten und die dort von den Ministerien selbst erlassenen Zensurinstruktionen. Zwar fehlte es nicht an vereinzelten Versuchen, zu dem Versprechen der Bundesakte zurückzukehren. Aber solche Versuche, wie z. B. der Erlaß eines liberalen, zensurfreien Pressegesetzes in Baden 1832, waren nicht von Dauer, da sie der Übermacht des Bundes weichen mußten. Doch zeigen diese Episode wie auch viele Formen publizistischer Opposition, daß der obrigkeitliche Preßzwang nicht widerstandslos hingenommen wurde. Erst die Märzrevolution von 1848 brachte in Deutschland das Ende der staatlichen Zensur und die Proklamierung der Pressefreiheit. Auch wenn kommunikationspolitisch schon bald eine neue Phase der Reaktion, ein „Rückfall in vormärzliche Methoden" 4 8 folgte, so mußte man, ohne die Kondition der Vorzensur, fortan doch andere Formen mittelbarer Einflußnahme finden. Die in den fünfziger Jahren eingeführten präventiven oder repressiven Maßnahmen vermochten daher weniger den Inhalt der Zeitungen zu tangieren als ihre wirtschaftliche Existenz (z. B. Kautionszwang, Stempelsteuer) und die Möglichkeit der Verbreitung (z. B. Postvertrieb). Gleichwohl griff man auch zu Versuchen, inhaltlich auf die Zeitungen Einfluß zu gewinnen, vor allem durch die unter Bismarck geschaffene „Provinzial-Korrespondenz" (1863 — 1884), die vorzugsweise die Kreisblätter mit gouvernemental inspirierten Beiträgen versorgen sollte. Praktisch suchte man durch solche Bemühungen die journalistische Autonomie zu unterlaufen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß das 1848 gegründete Wölfische Telegraphenbureau (W.T.B.), die erste Nachrichtenagentur in Deutschland, 1865 einen halbamtlichen Charakter annahm. Das Reichspressegesetz von 1874, das in Deutschland schließlich die Pressefreiheit herstellte, verkürzte weiter den Spielraum formeller und inhaltlicher amtlicher Pressepolitik. Es löste 2 7 Landespressegesetze ab und hob die nach Landesrecht bestehenden Beschränkungen der Pressefreiheit auf. Richterli46 47 48
Ebd. S. 247. Vgl. Anm. 19. K. Koszyk a . a . O . S. 123.
52
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
che und insbesondere polizeiliche Beschlagnahme wurden auf wenige, im Gesetz selbst festgelegte Fälle begrenzt, wie die Freiheit der Presse überhaupt nach § 1 nur denjenigen Beschränkungen unterliegen sollte, „welche durch das gegenwärtige Gesetz vorgeschrieben oder zugelassen sind." 49 Allerdings beließ § 30 für Zeiten von Kriegsgefahr, Krieg und inneren Unruhen die in Bezug auf die Presse bestehenden besonderen gesetzlichen Bestimmungen in Kraft. Auf diese stützte man sich denn auch im Jahre 1914 beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der kommunikationspolitisch wieder einen Einschnitt bedeutete: „Denn der Erste Weltkrieg machte die Entwicklung der deutschen Presse in doppelter Hinsicht rückgängig: Die durch das Reichspressegesetz vom Mai 1874 verbürgte Pressefreiheit wurde völlig beseitigt und durch eine Militärzensur ersetzt, wie sie bis dahin im Deutschen Reich niemals angewendet worden war. Ferner geriet der Inhalt der Zeitungen unter den uniformierenden Einfluß der staatlichen Pressepolitik, die sich am deutlichsten auf den Berliner Pressekonferenzen ausdrückte." 50 Das bereits im Reichspressegesetz enthaltene Verbot von Veröffentlichungen über Truppenbewegungen wurde zudem 1914 durch einen 26 Punkte umfassenden Katalog von Vorgängen erweitert, über die nicht berichtet werden durfte. Grundsätzlich durfte nur das unveränderte Material des offiziösen Wölfischen Telegraphenbureaus (W.T.B.) unbesehen verwendet werden. Dabei erstreckten sich Zensur und Presseanweisungen keineswegs nur auf die militärische Berichterstattung, sondern sie griffen auch in den übrigen redaktionellen Teil ein, was es der Presse schwer machen mußte, sich der Gleichschaltung durch amtliche Nachrichtenwerte zu entziehen. Wir brechen diesen Überblick zum Wandel der politischen Bedingungen journalistischer Nachrichtenselektion hier ab, obwohl die Weimarer Republik und das Dritte Reich noch erwähnenswert und aus naheliegenden Gründen für die Illustrierung des hier beschriebenen Zusammenhangs aufschlußreich wären. 51 Aber wir sind schon mit den Hinweisen zum Ersten Weltkrieg
49
so 51
Kurt Häntzschel: Reichspreßgesetz und die übrigen preßrechtlichen Vorschriften des Reichs und der Länder. Berlin 1927. S. XV. Kurt Koszyk: Deutsche Pressepolitik im Ersten Weltkrieg. Düsseldorf 1968. S. 13. Zur Weimarer Republik vgl. Kurt Koszyk: Deutsche Presse 1914—1945. (= Geschichte der deutschen Presse Teil III). S. 337ff.. — Zum Dritten Reich vgl. u. a. Karl Dietrich Abel: Presselenkung im NS-Staat. Eine Studie zur Geschichte der Publizistik in der nationalsozialistischen Zeit. Berlin 1968. — Im Hinblick auf Nachrichtenwerte insbesondere Fritz Sänger: Politik der Täuschungen. Mißbrauch der Presse im Dritten Reich. Weisungen, Informationen, Notizen 1933 — 1939. Wien 1975. — Helmut Sündermann: Tagesparolen. Deutsche Presseanweisungen 1 9 3 9 - 1 9 4 5 . Leoni 1973.
3.1 Der Wandel des Selektionsproblems objektiv gesehen
53
über den Zeitpunkt hinausgegangen, bis zu dem die Fragestellung der vorliegenden Arbeit verfolgt werden soll. Ohnehin können unsere Darlegungen nur umreißen, daß die Auswahl von Ereignissen und Nachrichten für die journalistische Berichterstattung durch historisch sich wandelnde rechtliche und politische Bedingungen bestimmt war, sie können aber schwerlich bis ins einzelne belegen, wie dies der Fall war. Generell wird man in der partiellen und dann grundsätzlichen Durchsetzung der Pressefreiheit die entscheidende rechtliche, in der damit zusammenhängenden Erweiterung der Sphäre gesellschaftlicher Öffentlichkeit die entscheidende politisch-soziale Voraussetzung zu sehen haben für die Entfaltung eines Informations- und Nachrichtenflusses, in dem relativ autonome journalistische Selektionskriterien und eine durch sie bestimmte Medienrealität zur Geltung kommen können, die zudem am ehesten funktional an die Selbstbestimmung der Rezipienten rückgebunden sind. Dagegen erscheinen unter Verhältnissen von Zensur und obrigkeitlicher Reglementierung amtliche, heteronome Selektionskriterien — zumindest mit — wirksam, so daß den Rezipienten mehr oder weniger eine Fremdbestimmung verordnet wird. Daß die unterschiedlichen politischen Bedingungen des journalistischen Selektionsproblems den Vergleich von Nachrichtenwerten zu verschiedenen Zeitpunkten der Pressegeschichte zwar erschweren, ihm aber keineswegs im Wege stehen, wurde in dieser Arbeit bereits zu Beginn vermerkt. Dies gilt so weit ihr Interesse mehr auf die Konsequenzen als auf die Ursachen der Nachrichtenwerte gerichtet ist, d. h. auf eine vergleichende Analyse des Bildes, welches die Massenmedien zu verschiedenen Zeiten von Welt und Wirklichkeit, welche „Medienrealität" sie entworfen haben. Außerdem läßt sich erwarten, daß es über die nahezu vier Jahrhunderte der Entwicklung der periodischen Presse hinweg auch gewisse, sich wandelnde (oder vielmehr auch konstante) Merkmale in der Berichterstattung der Zeitungen gibt, welche kurzfristigere Wellen des politischen Wandels übergreifen oder von diesen ziemlich unberührt bleiben. Gleichwohl wird man zur Erklärung bestimmter Merkmale der Berichterstattung der Massenmedien — hier der journalistischen Nachrichtenwerte — immer auch die jeweiligen rechtlich-politischen Bedingungen des Nachrichten- und Informationsflusses prüfen und mit in Rechnung stellen müssen.
54
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
3.2 Der Wandel des Selektionsproblems subjektiv gesehen Nachdem zuvor beschrieben worden ist, wie sich das journalistische Selektionsproblem „objektiv" herausgebildet und entwickelt hat, drängt sich die Frage auf, ob und inwieweit sich das Selektionsproblem auch „subjektiv" verändert hat, d. h. ob historisch ein Wandel im Bewußtsein und den Auffassungen von dem, was Nachrichtenwert besitzt, festzustellen ist. Dieser Frage nachzugehen, setzt voraus, daß die Nachrichtenauswahl und ihre Kriterien früher überhaupt schon ein Gegenstand der Reflexion waren. Da das Selektionsproblem auf der Ebene der Nachrichten in dringlicher Form, wie dargestellt wurde, erst später in der Pressegeschichte aufgetreten ist, wäre ein Fehlen solcher Reflexion nicht überraschend. Andererseits stellte sich das Problem der Selektion auf der Ebene der Ereignisse immer schon und damit notwendigerweise die Frage, welche Ereignisse zu berichten bzw. berichtenswert seien. So stammen denn auch die ersten Überlegungen zur Nachrichtenselektion schon aus dem 17. Jahrhundert, dem ersten Jahrhundert der periodischen Presse in Deutschland. Jedoch bleiben diese sehr punktuell oder sind z. T. nur indirekt erschließbar. Dies gilt für die folgende Zeit fast noch mehr, so daß der subjektive Wandel des Selektionsproblems nicht kontinuierlich und systematisch, sondern nur punktuell verfolgt werden kann. Bereits wenige Jahrzehnte, nachdem die periodische Zeitung in Deutschland aufgekommen war und sich auszubreiten begonnen hatte, fand sie erstmals fachlich-theoretische Aufmerksamkeit, und zwar seit den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts geradezu in einer Welle zeitungskundlicher Literatur. Deren Verfasser, die gewissermaßen eine erste Phase der Zeitungswissenschaft repräsentieren, hat Otto Groth „Dogmatiker" genannt, weil sie „alle von bestimmten Dogmen ausgingen, sei es dem absolutistisch-religiösen, sei es dem rationalistischen, und diesen Dogmen entsprechende praktische Ziele mit ihren Schriften verfolgten" 52 . Beherrschend waren demnach zunächst normative Fragen nach dem Nutzen und Schaden, Gebrauch und Mißbrauch der periodischen Blätter. Während Ahasver Fritsch 1676 die kritisch-negative Position formulierte („Discursus de Novellarum quas vocant Neue Zeitunge hodierno usu et absusu"), war es im selben Jahr Christian Weise, der den Bildungswert der Zeitung anerkannte und propagierte („Schediasma Curiosum de Lectione Novellarum"). 52
Otto Groth: Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. Probleme und Methoden. München 1948. S. 15. — Vgl. daiu ferner Werner Storz: Die Anfänge der Zeitungskunde. Die deutsche Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts über die gedruckten periodischen Zeitungen. Halle 1931.
3.2 Der Wandel des Selektionsproblems subjektiv gesehen
55
Die normative Sicht implizierte zwar einen Bezug zu den Inhalten der Zeitungen, insbesondere Weise erläuterte ihren Nutzen am Beispiel der in ihnen vorkommenden Materien politischer, rechtlicher, theologischer und anderer Art. „Denn", so sagt er, wobei hier die deutsche Übersetzung zitiert sei, „in jedem Zweig der Bildung, ja sogar der Künste gibt es nichts, was nicht berührt würde und wo ein eifriger Leser nicht wünschte, daß es in noch genaueren Ausführungen behandelt werde." 53 Aber daß selbst bei dieser Vielfalt von Themen der Inhalt der Zeitung auf Auswahl beruht — dieser Gedanke ist noch nicht, allenfalls rudimentär vorhanden. Unter der normativen Perspektive erscheint es zudem primär wichtig, „das Wahre vom Falschen . . . abzusondern" 54 , d. h. zuverlässige von erfundenen Nachrichten zu scheiden. Außerdem rät Weise den Zeitungsschreibern, sie sollten „doch das Papier nicht mit solchen Erzählungen vollschreiben . . ., die ohne Schaden für die Leser übergangen werden könnten" 55 , und weist auf den Historiker Junius Cordus als abschreckendes Beispiel hin, weil er in seiner Geschichtsschreibung „den geringsten Kleinigkeiten . . . nachgegangen"56 sei und selbst „häusliche Verrichtungen und die übrigen Dinge niederster Art zusammengestellt"57 habe. Wird damit der Bedeutungsgehalt des Geschehens zum Nachrichtenwert erklärt, so liest es sich wie eine Antwort darauf, wenn Daniel Hartnack 1688 in seinem Werk „Erachten von Einrichtung der alten teutschen und neuen Europäischen Historien" schreibt: „Ferner so ist auch dieses ein unbilliges Begehren / daß der Novellist allemahl mit sehr wichtigen Sachen alle vier Blätter erfüllen solte. Denn liegen soll er ja nicht / und das begehret er auch vorsetzlich nicht zu thun: wo soll er nun allemahl so viel wichtiges hernehmen / wenn nicht so viel wichtiges / als mancher gern zu wissen verlanget passiret? . . . Wer wolte wünschen das so viel wichtiges und veränderliches allemahl in der Welt vorginge als mancher zu wissen verlangte? Wer solt es verlangen / daß alle Wochen grosse Haupt-Schlachten gehalten würden / oder Bestürmungen der Städte geschehen möchten / damit mancher neugieriger von Victorien und Eroberungen satt werden könte. Gnung daß der Nouvellist dermassen vigilant / daß nichts wichtiges vorgehet / wovon er nicht dem nechsten Nachricht zu erstaten wisse / und der Correspondenten eine solche Anzahl hat / daß er alle Posttage seine bestirnte vier Blätter erfüllen 53
54 55 56 57
Zit. nach: Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung. Hrsg. v. Karl Kurth. Brünn, München, Wien 1944, S. 78. Ebd. S. 4 9 . Ebd. Ebd. Ebd.
56
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
kan. Ich will nicht mit vielen Exempeln erweisen / wie man öfters eine geringe Sache / eine kleine Umbstände so gar schlecht ansiehet / aus welcher aber nachgehends grosse Consequentien erwachsen. . . . So bald kan aus einer kleinen Funcken ein grosses Feur entstehen / so bald kan eine dem Ansehen geringe Sache eine grosse Veränderung nach sich ziehen. Das Ende muß dem Anfang den Ausschlag geben." 58 Daß die Zeitungen über wichtige Ereignisse berichten sollen, ist demnach auch für Hartnack selbstverständlich, ohne daß Wichtigkeit genauer definiert würde. Sie wird vielmehr gleichsam essentialistisch als objektive Eigenschaft von Ereignissen unterstellt. Lediglich die erwähnten militärischen Geschehnisse konkretisieren dies etwas. Doch ist sich Hartnack gleichzeitig bewußt, daß man dergleichen nicht laufend in der Berichterstattung der Zeitungen erwarten kann, vor allem weil diese periodisch erscheinen und damit, unabhängig vom tatsächlichen Verlauf des Weltgeschehens, einen Nachrichtenbedarf haben. Daraus wird geradezu ein Nachrichtenwert eigener Art formuliert: Ausschlaggebend für die Berichterstattung sollen die Folgen eines Ereignisses sein, wobei das erkenntnistheoretische Problem, wie man bereits in geringfügigen Ursachen die späteren großen Folgen bemerkt, offen gelassen wird. So objektiv die Ereignisse für Hartnack auch ihre Bedeutung besitzen, so sind ihm doch bereits die Versuchung und die Versuche der Zeitungsschreiber bekannt, „Sachen öffters von geringerer Erheblichkeit mit gewissen prächtig auffgesetzten fortnalien in ihre relationes zu setzen." 59 Auch die erste, dem Zeitungswesen gewidmete Dissertation in Deutschland, die Tobias Peucer 1690 vorlegte, geht auf die Nachrichtenselektion ein. Nachdem der Verfasser über die Zeitungsschreiber gehandelt hat, kommt er auf den Nachrichtenstoff zu sprechen: „Dieser", so heißt es in der lateinisch abgefaßten, hier in deutscher Übersetzung zitierten theologischen Dissertation, „besteht (wie bei wirklichen Geschichten) aus besonderen Ereignissen, die durch die Natur, sei es von Gott oder von den Engeln oder von den Menschen im Staate und in der Kirche gemacht oder ausgeführt worden sind. Da diese jedoch fast unendlich sind, muß aus ihnen eine gewisse Auswahl [selectus] getroffen werden, so daß Erinnerns- oder Wissenswertes [memoriae aut cognitione dignae] vorgezogen wird." 60 Dazu gibt Peucer im folgenden einen umfangreichen Katalog von berichtenswerten Ereignissen: „Zu dieser Klasse gehören erstens Wunderzeichen, Un58
Daniel Hartnack: Erachten von Einrichtung der alten teutschen und neuen Europäischen Historien. Zelle 1688. S. 82 f. 59 Ebd. S. 84. «O'Zit. nach Karl Kurth a. a. O. S. 97.
3.2 Der Wandel des Selektionsproblems subjektiv gesehen
57
geheuerlichkeiten, wunderbare und ungewöhnliche Werke oder Erzeugnisse von Natur oder Kunst, Überschwemmungen oder furchtbare Gewitter, Erdbeben, Himmelserscheinungen, neue Erfindungen oder Entdeckungen, an denen dieses Jahrhundert besonders fruchtbar war. Zweitens die verschiedenen Arten der Staaten, Änderungen, Regierungswechsel, Kriegs- und Friedensunternehmungen, Kriegsursachen und Kriegsabsichten, Schlachten, Niederlagen, Feldherrnpläne, neue Gesetze, Urteilssprüche, Beamte, Würden, Geburten und Todesfälle von Fürsten, Thronfolgern, Ernennungen und ähnliches öffentliches Zeremoniell, das entweder neu eingerichtet, abgeändert oder abgeschafft wird, der Tod berühmter Männer, das Ende Gottloser und anderes. Schließlich kirchliche und wissenschaftliche Dinge, z. B. der Ursprung dieser und jener Religion, ihre Stifter, die Fortschritte, neue Sekten, Beschlüsse der Lehre, die Riten, die Glaubensspaltungen, Verfolgung, religiöse Synoden, deren Beschlüsse, bedeutende Schriften von Gelehrten, wissenschaftliche Streitfragen, neue Werke Gebildeter, Unternehmungen, Unglücks- und Todesfälle und tausend andere Dinge, die sich auf Natur-, Bürger-, Kirchen- oder Gelehrtengeschichte beziehen . . . " 6 1 Diese additive Katalogisierung von Geschehnissen und Sachverhalten, die es verdienen, für die Berichterstattung in den Zeitungen ausgewählt zu werden, bringt zwar nichts auf den Begriff und scheint eher nur die für das Medium definitionsgemäß kennzeichnende Universalität des Inhalts zu illustrieren. Dennoch sind darin implizit auch Aussagen über Nachrichtenwerte enthalten, die aus verschiedenen Gründen interessant sind. Zunächst schon, weil an erster Stelle die „Naturgeschichte" genannt wird, d. h. jener Komplex von Nachrichten, den man herkömmlich als das „Sensationelle" bezeichnet. Auffällig ist ferner, wie insbesondere Veränderungen und Konflikte in den verschiedenen Lebensbereichen als berichtenswert erklärt werden. Schließlich hängen auch mehrere der aufgeführten Ereignistypen mit der Prominenz von Personen und Institutionen zusammen. Peucer ergänzt seinen zitierten Ereigniskatalog überdies ex negativo, d. h. mit Regeln, was von der Berichterstattung ausgeschlossen bleiben solle. Es seien, so sagt er, „bei der Auswahl des der Veröffentlichung würdigen Stoffes [in seligenda materia] einige Vorsichtsmaßnahmen nötig, die die allgemeine Klugheit rät. Die erste Vorsichtsmaßnahme lautet: gleichgültige Dinge oder das tägliche Tun der Menschen oder auch menschliche Schicksalsschläge, deren es im gewöhnlichen Leben stets eine überreiche Fülle gibt, sollen nicht veröffentlicht werden. Von dieser Art sind die nach Verschiedenheit der Jahreszeit und der Luft nicht seltenen Gewitter, das Privatleben der Fürsten, "
Ebd. S. 97 f.
58
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
z. B. eine Jagd, ein Gastmahl, ein Lustspielbesuch, ein Ausflug auf diese oder jene Burg, die Besichtigung einiger Soldatenabteilungen, die Geschäfte der Bürger untereinander, die Hinrichtung von Verbrechern, Mutmaßungen über noch unbekannte Staatsgeschäfte und anderes dieser Art, was besser in die Tagebücher von Privatpersonen als in öffentliche Akten paßt." 6 2 Keinen Nachrichtenwert besitzen demzufolge das Regelhafte und Gewohnheitsmäßige, das rein Private selbst bei bekannten hochrangigen Personen, das bürgerliche Alltagsleben. Merkwürdigerweise sollen sogar Hinrichtungen von Verbrechern, also etwas, das sehr wohl Sensationswert besitzt und das darüber hinaus als moralisches Exempel gerechtfertigt werden konnte, aus den Zeitungen herausgehalten werden. Politische Gründe dürften zum anderen dafür bestimmend sein, daß gewissen Spekulationen kein Raum gegeben werden soll. Dies wird in der zweiten Vorsichtsmaßnahme bekräftigt, in der vor der unachtsamen Weitergabe der Vorgänge an den Fürstenhöfen gewarnt wird. Schließlich, so lautet die dritte Vorsichtsmaßnahme, „solle nicht eingefügt werden, was den guten Sitten oder der wahren Religion schadet: z. B. Obscönitäten, auf scheußliche Art vollbrachte Verbrechen, gottlose Ausdrücke der Menschen, die für fromme Ohren abstoßend sind." 63 Peucers Argumentation bleibt damit ebenfalls moralisch-normativ, wobei die journalistischen Selektionskriterien und Nachrichtenwerte weitgehend mit den offiziellen Zensurprinzipien identifiziert werden. Wie Hartnack meint Peucer endlich, daß großer Bedeutungsgehalt kein absoluter Nachrichtenwert für die Zeitungen sein kann, und begründet dies aus den Sachgesetzen dieses Mediums im Unterschied zur Geschichtsschreibung: „Was übrigens unbedeutende Dinge angeht, die den größeren Teil gewisser Zeitungen ausmachen, so können diejenigen, die diese zusammentragen, eher entschuldigt werden als die Historiker, weil jene nicht so sehr für die Nachwelt als vielmehr für die Neugierde des Volkes, das nach Neuigkeiten lechzt, sozusagen in aller Hast und wahllos schreiben. Wenn es an bedeutenden Ereignissen fehlt, um diese Menge zu füttern, dann genügen unbedeutende und bisweilen unzuverlässige Nachrichten." 64 Zunächst scheint es, als ob Kaspar Stieler, dessen Buch „Zeitungs Lust und Nutz" (1695) den Höhepunkt der ersten Welle zeitungskundlicher Literatur in Deutschland darstellt, nichts von der Berichterstattung durch die Zeitungen ausnähme. Denn er stellt fest, „daß alles / was in der Welt vorgehet / es sey wahr oder scheinwahr und vermeintlich wahr / den Zeug / Stoff / oder « Ebd. S. 98. 63 Ebd. S. 99. 64 Ebd. S. 100.
3.2 Der Wandel des Selektionsproblems subjektiv gesehen
59
Materie . . . zu unserm Zeitungen darleihet. Und hierunter gehören allerley Sachen / Sie seyn Geist- oder Weltlich / Kriegerisch oder Unkriegerisch / sie handien von Glaubens-Lehre und Gottes dienst / Recht und Gewonheiten / Artzney und natürlicher Kunde / Weltweisheit / Statskunst / Sitten Lehre / Matematischer Arbeit / Heuslichkeit: oder aber von dem Zustand Hoher und Niedriger Personen / des Gewitters und der Fruchtbarkeit der Erden / samt allem was zu See und Land heimlich oder öffentlich passiret." 6 5 Obwohl hiernach selbst „niedrige" Personen und „heimliche" Ereignisse als Gegenstand der Berichterstattung in Frage kommen, besitzt doch auch Stieler die Vorstellung, daß nur Dinge von einem bestimmten Bedeutungsgehalt in die Zeitungen gehören. Zeitungsschreiber, so fordert er, müßten kluge Leute sein, „die das Wichtige und Weitaussehende von Lappalien zu unterscheiden wüsten" 6 6 , die „Narrenbossen von Zeitungswürdigen Materien abzusondern wissen." 6 7 Als entscheidend gelten hierbei wiederum die sich aus Ereignissen ergebenden Konsequenzen: „Jedennoch müsten Dinge / so von geringer Erheblichkeit seyn / zurückbleiben / und keine andere Umstände / als welche in der Folge was grosses wirken können / hinein gebracht werden." 6 8 Stieler spricht nicht nur, wie zitiert, von „zeitungswürdigen Materien", sondern auch davon, daß etwas „meldungs-werth" 69 , „berichtens wehrt" 7 0 und „lesens wehrt" 7 1 sei. Damit stößt man bereits bei ihm zuerst in deutscher Sprache terminologisch auf das Begriffsfeld des Nachrichtenwerts. Dabei besitzt der Begriff „wert" durchaus eine doppelte Bedeutung: Da ist einmal die zweckrationale Komponente, die der Zeitung ihren „Nutzen" für den Leser verleiht, von dem im Titel des Buches, wenn auch auffälligerweise erst an zweiter Stelle 72 , die Rede ist. Nutzen in diesem Sinne eignet der Zeitung, weil sie, um hier auf die ursprüngliche semantische Bedeutung des Wortes zu rekurrieren, Nachrichten bringt, nach denen man sich richten kann. So erläutert Stieler etwa, wie hilfreich und notwendig Zeitungen sein können, um Gefahren zu entgehen und Schäden zu vermeiden. 73
65 66 67 68 69 70 71 72
73
Kaspar Stieler a. a. O. S. 29. Ebd. S. 31. Ebd. Ebd. S. 161. Ebd. S. 60. Ebd. S. 74. Ebd. S. 112. Stieler nimmt im Titel seines Buches ja die alte poetologische, aus des Horaz' „Ars Poetica" stammende Formel „aut prodesse volunt aut delectare poetae" (Vers 333) auf, kehrt aber ihre Reihenfolge um. Vgl. Stieler a . a . O . S . 6 7 f .
60
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
Neben der zweckrationalen Komponente besitzt der Nachrichtenwertbegriff bei Stieler aber auch eine andere, nämlich psychologische Dimension, weshalb Zeitungen nicht nur nutzbringend sind, sondern auch — und dies steht im Buchtitel an erster Stelle — eine „ L u s t " hervorrufen, eine „Belustigung" 7 4 oder „Ergetzlichkeit" 75 , wie es an anderer Stelle heißt. Stieler geht so weit, zu behaupten, „daß die Zeitungen sehr über das Gemüt herrschen und demselben eine grössere Lust und Vergnügen bey zu bringen bastand seyn / als Saitenspiel / Gesang / Lust-Spiele / Tänze / Spaziergang / Wasserfart und allerley Kurzweil mehr . . . " 7 6 Und auf die Nachrichtenauswahl angewendet, wird einmal gesagt: „Die Welt ist je groß genug und steuret überflüßige Materie zur Neulichkeit: Wenn nun darneben auch angenehme und lustige Begebenheiten untermischet werden; So bringet es dem Lesenden eine Vergnügung / und entbäret er seinen Groschen gern / wenn er Sachen erfäret / so das Gemüt erleichtern / und / so wol ihm / als den Zuhörern eine Freude erwecken." 77 Schließlich folgt Stieler wörtlich jener oben schon zitierten Passage bei Daniel Hartnack, es sei „ein unbilliges Begeren / daß der Novellist mit sehr wichtigen Sachen alle vier Blätter erfüllen solte . . . " 7 8 , und vergleicht die Zeitung mit einem Garten, „worinnen nicht lauter Rosen und Lilien / sondern auch wol Blumen / so keinen Geruch und Anmut haben / hervor wachsen" 7 9 . Über diese prinzipielle Bemerkungen zum Problem der Nachrichtenauswahl hinaus äußert sich Kaspar Stieler in „Zeitungs Lust und Nutz" auch über einzelne Selektionskriterien und Nachrichtenwerte. Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist zunächst wiederum die Wahrheit, „daß man berichtet werde dessen / was wahr und nachzureden ist" 8 0 , weshalb verläßliche Zeitungsherausgeber „examiniren und prüfen vorhero die bey ihnen einlaufende Zettul / wo sie herkommen und ob ihnen auch zu trauen sey?" 8 1 Mehrfach kommt Stieler vor allem auf den zentralen Nachrichtenwert der Neuigkeit zu sprechen: „ Z u förderst muß dasjenige / was in die Zeitungen kommt / Neue seyn. Denn darum heißen die Zeitungen Novellen / von der Neulikeit / und würde der wol ein selzamer Heiliger seyn / der in die Zeitung bringen wolte / was Alexander Magnus / der Mahomet / oder Tafilett vor langen Jahren ge74 75 76 77 78 79 80 81
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
S. 44. S. S. S. S. S. S.
44 f. 35 f. 59. 118. 32. 31.
3.2 Der Wandel des Selektionsproblems subjektiv gesehen
61
tahn haben. Denn was gingen solche verlegene Sachen unsern itzigen Zustand an? Neue Sachen sind und bleiben angenehm: was aber bey voriger Welt vorgangen / gehöret ins alte Eisen / und ersättiget das Lüsterne Gemüt keines weges." 82 , J e neuer und unverhoffter die Zeitungen / einlangen", so wird ein andermal gesagt, „je willkommener sie auch seyn / dahingegen alte verlegene Wahren verächtlich sind." 83 Außer in der zeidichen wird auch in der räumlichen Nähe ein Nachrichtenwert gesehen. Diesbezüglich stellt Stieler fest, „Zeitungen [d. h. Nachrichten] von ganz weit entfernten und unbekannten örtern sind nichts nütze" 84 , denn „was gehet mich an / was der große Mogol / oder Priester Johann im Morenlande mache? Welche seiner Ministern er an- oder absetze? Wie viel Frauen oder Kinder er habe / und auf welchem Schlosse er sie verware? Wann aber die benachbarte Potenzen etwas anfangen / woraus eine sonderbare Folge entspringen kan / welche zu einer künftigen Betrachtung gehöret . . . So kan man wol dergleichen auswärtige Zufälle endlich denen Zeitungen einverleiben: Nicht aber / was in Utopia geschiehet / oder deren Wissenschaft sonsten keinem Menschen bey uns schadet oder nutzet." 85 Im Hinblick auf die Nachrichtenfaktoren Tragweite und auch Prominenz ist es von Bedeutung, wenn Stieler fordert, daß „die Zeitungen von Dingen handien solten / die ganz von privat-Sachen entfernet sind / und allein zu dem gemeinen Wesen gehören." 86 Ähnlich heißt es nochmals gegen Ende des Buches, „eine vernünftige Wahl [sei] in acht zu nehmen / damit nicht unwehrte und nichtige Privat-Dinge / und / woran niemanden gelegen / ausgezeichnet / und vor was Grosses gehalten werden." 87 Endlich gilt, entsprechend der moralisch-normativen Sicht der Zeit, daß „garstige Zeitungen" 88 und „stachlichte Dinge" 89 verwerflich sind, daß „nichts verfängliches oder gefährliches" 90 gedruckt werden soll. Um dergleichen zu verhindern, wird zwar die Zensur gerechtfertigt, aber zugleich bringt Stieler erstmals das Argument, die Zeitungen könnten nicht besser sein als das Leben selbst, und nennt gewissermaßen die Voraussetzungen, unter denen selbst der Nachrichtenwert des Negativismus gerechtfertigt erscheinen kann: „Nun ist nicht zu Ebd. Ebd. 8 4 Ebd. 8 5 Ebd. 8 6 Ebd. 8 7 Ebd. 8 8 Ebd. 8» Ebd. 9 0 Ebd. 82
83
S. 29f. S. 47. S. 36. S. 38. S. 163. S. 61. S. 33. S. 32.
62
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
leugnen / daß in den Zeitungen nicht allein von Ehebruch / Hurerey / Kindermord / Diebstal / Todschlag / Verräterey / und wie diß alles künstlich volbracht worden und vertuschet werden wollen / gemeldet werde: Es wird darinnen oft von einem verübten Bubenstücke berichtet und die Art und Weise / wie solches angefangen und vollendet sey / so ümständlich beschrieben / daß / wer zu Bösem geneiget / daraus völligen Unterricht haben kan / dergleichen auch vorzunehmen. . . .: Aber / was können die Zeitungen an und vor sich selbst darzu? Die Heilige Schrift ist je voll von Exempeln der Blutschande / des Ehebruchs / des Diebstals und anderer vielen Laster mehr / sie setzet aber auch darzu die Strafe / zur Warnung: Gleich wie die Zeitungen nicht ermangeln / bald die genaue aufsuchung und nachfrage / bald die aller schärfste Rache der Obrigkeit / und einen elenden Ausgang solcher Leute Verbrechen anzufügen." 91 Auch wenn es sich um unsystematische und bloß punktuelle Aussagen handelt, die wir hier zitieren können, läßt sich aus ihnen doch erkennen, daß und in welcher Weise das Problem der Auswahl von Ereignissen und Nachrichten für die Berichterstattung der Zeitungen am Ende des 17. Jahrhunderts bewußt war. Mehreres ist dabei jedoch zu bedenken, z. B. daß damals noch nicht durchgängig zwischen der Zeitung als periodischem Medium und den unperiodischen Nachrichtenblättern oder Einblattdrucken unterschieden wird. Zum anderen handelt es sich bei den hier zitierten Autoren um „Theoretiker", d. h. nicht unmittelbar um Korrespondenten oder Zeitungsschreiber, die über ihre eigenen professionellen Regeln Auskunft geben. Vor allem bleibt zunächst weitgehend offen, inwieweit die zitierten Aussagen die zu jener Zeit faktisch gegebene Struktur der Nachrichtenberichterstattung reflektieren oder inwieweit es sich um Postulate und normativ Gewünschtes handelt. So sehr zunächst Einigkeit darüber besteht, daß die Wichtigkeit, zumal die allgemeine und „öffentliche" Bedeutung von Ereignissen diese berichtenswert macht, so sieht man doch bereits, daß die Zeitungen davon allein nicht leben könnten. Und so sehr man sich im Prinzip einig ist, daß der Nutzen einer Nachricht für die Leser das entscheidende Kriterium für die Auswahl darstellt, so bestehen doch Unterschiede, je nachdem wie dieser Nutzen definiert wird. In den vorgezeichneten Bahnen bewegen sich zunächst auch die Überlegungen zum journalistischen Selektionsproblem im 18. Jahrhundert. Kritisch vermerkt z. B. Johann Peter von Ludewig 1700 in seiner Schrift „Vom Gebrauch und Mißbrauch der Zeitungen", es möchte „auch die materie zu
91
Ebd. S. 61.
3.2 Der Wandel des Selektionsproblems subjektiv gesehen
63
nützlichen avisen mit größerer selectu angenommen / und nicht eines jeden sein Nähme zum Verdruß des Lesers vor Geld eingedrucket werden. Dann was liegt mir oder einem andern daran ob hie oder da ein malificant justificiret worden; ob dieser oder jener Kauffmann zur See ein Schiff verlohren oder sich einen Vortheil gemacht hat; was etwa ein anwesender Fürst in Amsterdam vor Leute besuchet / vor Kirchen und Gebeude besehen / für Gastereyen gehalten / und was dergleichen nichts würdigen Gezeuges mehr ist / damit die avisen Schreiber das Pappier anzuschwärtzen pflegen."92 Paul Jacob Marperger gibt in seiner 1726 erschienenen Schrift zum Zeitungswesen wiederum eine detaillierte Aufzählung des Inhalts der Zeitungen „und was etwan dergleichen Berichts-würdige Dinge mehr" 93 sind, nennt aber auch Sachen, „daran dem Publico nicht viel gelegen ist" 9 4 . Er behauptet sogar, daß „zuweilen unter falscher, auch wohl wahrer neuer Zeitungen . . . eine geheime Pseudo-Politica"95 stecke, sieht jedoch ebenfalls, daß Zeitungen „nicht allezeit gleich fruchtbar an Novitäten und Realitäten seyn, sondern nur solche, nachdem ihnen die Fluth oder Erndte darvon eintrifft, wieder ausgeben können, da sie indessen diesen Abgang, und damit das Blatt voll werde, mit andern nicht viel bedeutenden Erzehlungen nothwendig füllen müssen, welches endlich noch wohl hingehet, wann nur noch etwas Frucht darunter zu finden, und nicht der gantze Text in bloßen Hülsen bestehet." 96 Auf die Bedeutung der Nähe als Nachrichtenwert kommt erneut 1746 Martin Schmeitzel in einer in den „Wöchentlichen Hallischen Anzeigen" abgedruckten Artikelserie über politische Zeitungen zu sprechen. Darin wird u. a. dem Zeitungsschreiber zur Aufgabe gemacht: „Auf seinen Ort und dessen Nachbarn, die sich seiner Blätter bedienen, fleissig reflectiren, mithin solche und solche nova vortragen, daran ihnen am meisten zu wissen gelegen; Dagegen mit solchen Dingen, welche sich in sehr weit entlegenen Orten zugetragen, sich nicht leicht occupiren, es sey denn etwa gar besonderes;. . . Kleinigkeiten, und daran niemanden zu wissen gelegen, sollen in einer guten Zeitung keinen Platz haben." 97
92 93
94 95 96 97
Johann Peter Ludwigs Gesamte Kleine Teutsche Schrifften. Halle 1705. S. 99 f. P[aul] J[acob] M[arperger]: Anleitung Zum rechten Verstand und nutzbarer Lesung Allerhand so wohl gedruckter als geschriebener . . . Ordentlicher und Außerordentlicher Zeitungen oder Avisen . . . o. O. 1 7 2 6 . S. 7. Ebd. S. 33. Ebd. S. 32. Ebd. S. 13. Schmeitzel: Gedancken von Politischen Zeitungen, nach derselben Ursprung, Beschaffenheit, Nutzen und Glaubwürdigkeit. In: Wöchentliche Hallische Anzeigen Nr. 51, 5 2 (1746), 1 (1747). Hier Nr. 5 2 vom 26. 12. 1746 S. 8 3 4 Anm. 36.
64
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
Wiederholt findet man die bis dahin entwickelten Gesichtspunkte auch noch in der 1755 erschienenen Schrift „ Wohlmeinender Unterricht, für alle diejenigen, welche Zeitungen lesen", deren Verfasser lediglich durch die Initialen J . G . H . angegeben ist. 9 8 Als Endzweck der Zeitungen wird „die Bekanntmachung und Erlernung der wichtigsten und neuesten Begebenheiten" 99 genannt, der Zeitungsschreiber „muß alle Nachrichten, die er . . . haben kann, genau prüfen, und nur das wichtigste und wahrscheinlichste darunter seinen Lesern bekannt machen." 1 0 0 Dazu wird von ihm „gute Ueberlegung" verlangt. Denn: „So großer Vorwitz es ist, wenn ein Zeitungsschreiber noch unabgefaßte Rathschläge großer Monarchen allwissend bekannt zu machen suchet: eben so geringe Ueberlegung zeiget es an, wenn er Dinge berichtet, woran niemand nichts gelegen ist. Es ist ganz was anders, ob ein gemeiner Soldat oder Unterofficier in einem Treffen bleibet; oder ob ein General umkommet. Das letzte kann wichtige Folgen haben, und große Veränderungen nach sich ziehen: das erste giebt dem Kriege keinen Ausschlag. Man wende dieses auf andere Fälle an, und sehe, ob nicht manchmal eine Jagd oder ein Gallatag weniger in den öffentlichen Blättern stehen könnten." 1 0 1 Fast wörtlich daran anknüpfend, heißt es wenig später: „Wenn eine politische Zeitung auf dem ersten Blatte lauter Jagden und Spazierfarthen aus Europa, und lauter Divans, deren Berathschlagungen niemanden bekannt sind, aus dem Oriente berichtet, das andere Blatt aber mit Holländischen Lotterien, Recensionen von neuen Büchern u.d.g. an füllet: so ist das Urtheil, welches ein jeder Leser am ersten fället, dieses: der Verfasser müsse sonsten nichts gewußt haben." 1 0 2 Der Autor verschließt sich aber nicht der anderen, uns schon bekannten Einsicht: „Nun brauchen die Zeitungen nicht lauter wichtige Dinge abzuhandeln; sie sind dennoch den Lesern, nach ihren verschiedenen Arten, angenehm und nützlich. Mordgeschichten, Wunderwerke, Brand und Feuer sind diesem angenehm, Neuigkeiten von Krieg und Frieden einem andern, Staats-
98
99
100 101 102
Otto Groth identifiziert die Initialen im Anschluß an den Bibliographen Karl Börner mit Johann Georg Hamann. Um welche Person dieses Namens es sich handelt, bleibt aber unklar, weil die zwei bekannten Träger des Namens aus chronologischen Gründen kaum als Verfasser der 1755 erschienenen Schrift in Frage kommen: Johann Georg Hamann, der zeitweilig Redakteur des „Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten" war, lebte von 1 6 9 7 bis 1733, der literarisch bekannte Johann Georg Hamann („Magus des Nordens") von 1 7 3 0 bis 1788. J. G. H.: Wohlmeinender Unterricht, für alle diejenigen, welche Zeitungen lesen . . . Leipzig 1755. S. 61. Ebd. S. 4 4 . Ebd. S. 4 f. Ebd. S. 18.
3.2 Der Wandel des Selektionsproblems subjektiv gesehen
65
Veränderungen einem dritten, und so fort a n . " 1 0 3 Der Zusammenhang zwischen Vielfalt des Zeitungsinhalts und Pluralität der Leser wird an anderer Stelle weiter ausgeführt: „Unter so vielen Dingen, welcher in Zeitungen Meldung gethan wird, muß nothwendig etwas bald diesem bald jenem zu wissen theils nöthig, theils nützlich seyn. Ist keines von beyden, so ist doch das Neue schon angenehm genug, und der Mensch ziehet einen Nutzen daraus, wenn dieser Nutzen auch in weiter nichts, als in dem bloßen Vergnügen bestehet." 1 0 4 Damit ist jene bereits von Kaspar Stieler legitimierte psychologische Funktion angesprochen, die hier ganz offen bekräftigt wird: „Der geringste Nutzen, den eine Zeitung allen Menschen überhaupt geben kann, ist wohl dieser, daß sie zu einer Gemüthsergötzung dienet: und dennoch ist dieser Nutzen schon so groß, daß er allein hinreichend seyn könnte, eine Zeitung beliebt zu machen, wenn sie nicht auch noch auf andere Art nützen könnte."105 Überraschung wird zum Nachrichtenwert deklariert, wenn es heißt, daß wir uns durch „unvermuthete Dinge . . . weit stärker, als lang erhofte, rühren lassen" 1 0 6 . Im Hinblick auf Negativismus läßt sich die Frage lesen, „ob der Zeitungsschreiber in Friedenszeiten aller Materie beraubet" 1 0 7 sei, die mit der Feststellung beantwortet wird, „daß Menschen, auch außer Morden und Rauben, etwas merkwürdiges thun könnten." 1 0 8 Ferner wird auch wieder Nähe als Voraussetzung von Nachrichtenwert gesehen. Zwar fänden z. B. Erzählungen von persischen Unruhen oder Empörungen in Tunis Leser: „sie eilen aber darüber weg, und lesen lieber, was aus Frankreich, Spanien, Wien, Ungarn und andern benachbarten Oertern gemeldet wird. Was ist die Ursache dieses Eckels an der erstem Gattung von Neuigkeiten? Ist es nicht diese, daß in denselben nichts, als unbekannte Namen, unbekannte Plätze, und lauter solche Thaten berichtet werden, von denen man nicht den geringsten Zusammenhang einsiehet." 1 0 9 „Weniger reichhaltig als die Zeitungsliteratur der ersten Hälfte des [18.] Jahrhunderts", so schreibt Otto Groth, lediglich das zitierte Buch von J . G. H. ausnehmend, „ist die aus der zweiten, insbesondere fehlt es hier . . . an jeglicher selbständiger Darstellung." 1 1 0 Angesichts dieser Quellenlage 103 104 105 106 107 108 109 110
Ebd. S. 161. Ebd. S. 75. Ebd. S. 85. Ebd. S. 193. Ebd. S. 25. Ebd. Ebd. S. 245. O. Groth a . a . O . S. 44.
66
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
fehlt es auch an ergiebigen Äußerungen zu dem uns hier interessierenden Thema der journalistischen Nachrichtenselektion. Immerhin enthält August von Schlözers Zeitungskolleg, das er 1777 ankündigte, implizit auch eine Kritik an der üblichen Nachrichtenauswahl und Nachrichtenpräsentation: „mit unter kommen in Zeitungen sehr wichtige Nachrichten vor, die der gemeine Zeitungsleser völlig übersieht, weil der Lieferant derselben sie, entweder aus Unwissenheit, oder aus Vorsicht, nur kurz abgebrochen erzält, oder sie unter einen Wust andrer ganz unerheblichen Nachrichten versteckt. Diese zu bemerken, auszuheben, und von der Seite ihrer Wichtigkeit zu zeigen, wird ebenfalls ein Hauptgeschäfte dieses Collegii sein." 1 1 1 Maßgebend für den subjektiven Wandel des journalistischen Selektionsproblems wurde im späten 18. Jahrhundert die von der Aufklärung begründete Vorstellung von der Meinungs- und Pressefreiheit als Menschenrechten. Daß diese Vorstellung auf eine Kritik der herkömmlichen Zeitungsinhalte und der sie bestimmenden Selektionsregeln hinauslaufen mußte, läßt sich an Christian Friedrich Daniel Schubart illustrieren. Aus ihm spricht zudem der praktische Journalist, ein Journalist allerdings mit einem neuartigen Selbstverständnis, der sich nicht mehr bloß als „relatorischer" Berichterstatter begriff, sondern der sich als meinungsbildender Publizist „zum Anwalt aller unter Despotenwillkür Leidenden" 1 1 2 machte. „In ganz Europa", so klagt Schubart in seiner „Deutschen Chronik" (1774 ff.), „liegen alle Zeitungsschreiber in Fesseln. Daher kömmts, daß man statt wahrer politischer Gemälde nur elende Schmierereyen vors Publikum hinstellen muß." 1 1 3 Diese Klage kehrt, auf die Möglichkeiten journalistischer Berichterstattung bezogen, immer wieder. Am 10. Oktober 1774 heißt es: „Das, was wir nicht wissen, ist, just das Wichtigste; und was wir wissen dürfen, ist so alltäglich, so langweilig, daß einem drob schläfert." 1 1 4 Wenige Wochen später schreibt Schubart: „An jedem Posttage guckt die Neugierde durchs Gitter, hungert nach Zeitungen, und schilt den Novellisten, der — nichts Neues weiß. Hätte mein Lebtag nicht geglaubt, daß es ein so langweiliges Geschreib ums Zeitungsschreiben sey, als jetzt, da ich's Handwerk noch kein Jahr treibe. Eine Zeitung sieht aus, wie die andere; da machen sie dir beständig vor den grossen Herren knix, lassen kein Geburts- Namens- oder Vermählungs-Fest vorbeygehen, ohne mit dem Hütlein unter dem Arm in der demüthigsten Stel111 112
113 114
Zit. nach W. Haacke a . a . O . S. 162f. Hubert M a x : Wesen und Gestalt der politischen Zeitschrift. Essen 1942. S. 9 1 . - Vgl. Jürgen Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts ( 1 6 8 8 - 1 7 8 9 ) . Teil II: Repertorium. Stuttgart 1978. S. 148 ff. Deutsche Chronik, 22. Stück v. 16. März 1775 S. 169. Deutsche Chronik, 56. Stück v. 10. Oktober 1 7 7 4 S. 4 4 1 .
3.2 Der Wandel des Selektionsproblems subjektiv gesehen
67
lung sich im Vorsaale der Großen einzufinden, und sie im niedrigsten Gratulanten-Tone zu complimentiren. Alles in der Welt, nur kein Complimentarius. Wäre nichts leichters, als nach Art des hundertjährigen Kalenders eine hundertjährige Zeitung zu schreiben. Was geschieht, ist schon geschehen, und wird wieder geschehen."115 Und noch ein weiteres Mal sei die „Deutsche Chronik" zitiert, in der am 10. Juli 1775 der Seufzer zu lesen ist: „Das ewige Gewäsche von den Kolonisten, von englischen Parlamentsstreitigkeiten, von pomphaften Krönungsfeyrlichkeiten, von den eingekerkerten Exjesuiten, von Brand und Mordgeschichten, von albernen Histörchen, die wieder aufgewärmt werden, um ein gähnendes Publikum im Großvatersessel zu kützeln, kriechende Verbeugungen vor den Großen der Welt, in einen Wulst von kleinstädtischen Komplimenten eingehüllt — wer kann dieß alles aushalten, ohne schläfrig das Blat aus der Hand fallen zu lassen. Jeder Tag hat seine eigene Plage, für den Zeitungsschreiber aber eine gar schwere, wenn er Neuigkeiten berichten soll, und nichts Neues weiß, wenigstens nicht, was einen denkenden Leser intereßiren kann." 1 1 6 Was hier bei Schubart als Kritik an den herrschenden, dem Journalisten durch die politischen Umstände aufgezwungenen Nachrichtenwerten erscheint, gewinnt 1784 bei Karl Philipp Moritz, wenn auch etwas anspruchsvoller formuliert, den Charakter eines journalistischen Reformprogramms. Als er im Sommer dieses Jahres als Redakteur an die Vossische Zeitung berufen wurde, formulierte er seine Ziele in einer Art Programmschrift unter dem Titel „Ideal einer vollkommnen Zeitung". Eine solche Zeitung, so heißt es darin, „müsse ganz anders beschaffen seyn, als irgend eine, die jemals noch bis jetzt ist geschrieben worden. Sie müßte aus der immerwährenden Ebbe und Fluth von Begebenheiten dasjenige herausheben, was die Menschheit interessirt, den Blick auf das wirklich Große und Bewundernswürdige, das Gefühl für alles Edle und Gute schärfen, und den Schein von der Wahrheit unterscheiden lehren." 117 Dieser Plan impliziert geradezu eine Umwertung der üblichen Nachrichtenwerte: „Auch sind das ja nicht immer die größten Begebenheiten, wobei die meisten Menschen beschäftigt sind, sondern diejenigen, wobei sich irgend eine menschliche Kraß am meisten entwickelt. Dergleichen suche man unter dem Schwall von Kriegsrüstungen, Fürstenreisen, und politischen Unterhandlungen herauszuheben, damit das Volk nicht mehr Titel und Ordensbänder, fürstlichen Stolz und fürstliche Thorheiten mit dummer Verehrung 115 116 117
Deutsche Chronik, 64. Stück v. 7. November 1 7 7 4 S. 5 0 5 . Deutsche Chronik, 5 5 . Stück v. 10. Juli 1775 S . 4 3 3 . Karl Philipp Mori[t]z: Ideal einer vollkommnen Zeitung. Berlin 1784. S. 8.
68
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
anstaune, sondern den wirklich großen Mann auch im Kittel hinter dem Pfluge schätzen lerne." 118 „Ist es also nicht wichtiger", so fährt Moritz zwei Seiten später fort, „einzelne Fakta von einzelnen Menschen zu sammlen, woraus einmal künftig große Begebenheiten entstehen können, als eine Menge von großen Begebenheiten zu erzählen, ohne zu wissen, wie sie entstanden sind? — Dieß soll auf keine Weise, die großscheinenden Begebenheiten von der öffentlichen Bekanntmachung ausschließen, nur müssen sie nicht der wichtigste Gegenstand der Aufmerksamkeit werden. Denn, ein Vergleich zwischen zwei Sackträgern, die sich auf der Straße gezankt haben, kann, in so fern er den Charakter der Nation bezeichnet, für den Menschenbeobachter wichtiger sein, als ein Vergleich zwischen Rußland und der ottomanischen Pforte, wo es größtentheils bloß auf die stärkere Macht an Soldaten, Schiffen, oder festen Plätzen ankömmt, wohin sich das Uebergewicht lenken wird; wo man die geheimen Triebfedern eben so wenig erfährt, als die erste Ursach von den Ungewitter, welches gerade heute, und nicht eher, über unsern Horizont herausgezogen ist; wo man nicht sowohl handelnde Wesen, als vielmehr bloße Ereignisse, wie in der Natur, Stürme, Erdbeben, Ueberschwemmungen sieht." 119 Daß Moritz bereits nach wenigen Monaten wieder aus der Redaktion der Vossischen Zeitung ausschied, spricht dafür, daß er mit seinem Plan, wie Otto Groth es ausgedrückt hat, „einen vollkommnen Schiffbruch" 120 erlitt. Sein Programm mochte doch zu sehr dem widersprechen, woran die Leser gewöhnt waren, ja das Beispiel zeigt, daß keineswegs immer, wenn jemand im Namen des Publikums zu sprechen meinte, er dies mit Recht in Anspruch nehmen konnte. Indessen belegen Schubart und Moritz, in welcher Weise Ende des 18. Jahrhunderts, unter dem einsetzenden Kampf um Pressefreiheit, sich neue Auffassungen zu den journalistischen Selektionskriterien ausbildeten, wenngleich diese im wesentlichen zunächst Postulat blieben. War es doch Schubart, der u. a. ausdrücklich auch eine lokalbezogene Berichterstattung und Kommentierung forderte: „Sollte man also nicht in jeder Provinz Deutschlands ein öffentliches Blatt haben, worinn alles, was im Lande vorgeht, angezeigt, beschrieben und drüber räsonnirt würde; denn es ist natürlich, daß jeder das eher sehen kann, was zu seinen Füßen liegt, als das, was entfernt ist. Aber da schlägt man die Händ' übern Kopf zusammen, und ruft: Wie? die Landesangelegenheiten zu offenbaren! — Als ob alle Landesangelegenheiten Staatsgeheimniße wären." 1 2 1 118 119 120 121
Ebd. S. 9. Ebd. S. 11. O. Groth a . a . O . S. 65. Deutsche Chronik, 88. Stück v. 2. November 1775 S. 698 f.
3.2 Der Wandel des Selektionsproblems subjektiv gesehen
69
Im Vergleich zu solch journalistisch-revolutionärem Pathos blieb die zeitungstheoretische Literatur konventionell. Dies gilt selbst für Joachim von Schwarzkopf, dessen Schriften am Ende des 18. Jahrhunderts — nach Otto Groth — „eine Wendung zu einer grundsätzlich neuen Weise der Betrachtung des Zeitungswesens"122 brachten und „weit über dem Niveau seiner Vorgänger" 123 lagen. Dieses Urteil mag gerechtfertigt sein, weil Schwarzkopf als erster „Opinionist" 1 2 4 , wie Groth ihn nennt, die „Würkung [der Zeitung] auf öffentliche Meinung" 125 erkannte und hervorhob. Zwar wußte er durchaus auch um das Problem der Nachrichtenauswahl, hielt aber generelle Vorschriften nicht für angebracht: „Den Maasstab mathematisch für Alle vorzuschreiben, ist unmöglich. Vieles hängt dabei von dem Interesse des Augenblicks, sodann auch von der geographischen Lage und dem Lesekreise der Zeitung ab." 1 2 6 So ist denn lediglich von öffentlicher Bedeutung und Betroffenheit (Nähe) als Nachrichtenwerten die Rede: „Ueberhaupt scheinen im Allgemeinen die Nachrichten von Privatpersonen nur in sofern zu dem Zeitungsgebiete zu gehören, als sie über die öffentlichen Angelegenheiten Licht verbreiten, oder auf dieselben Einfluß haben. . . . In Deutschland ist daher nur von persönlichen Verhältnissen Deutscher Mitbürger die Rede. Den Spanier, Portugiesen, Italiäner möchten wir immerhin in allen seinen Privatverhältnissen der allgemeinsten Publicität blosstellen, wenn nur ein solches Detail für unser Publicum einigen Werth haben könnte." 127 Bemerkenswert ist darüber hinaus jedoch, daß Schwarzkopf erstmals einen Zusammenhang herstellt zwischen dem Umfang einer Nachricht und ihrem Nacbrichtenwert. Zu einer „wohl eingerichteten Zeitung", so sagt er, gehöre „ein topographisches Haushalts-System . . ., nach welchem der innere Gehalt einer Nachricht mit dem Raum, den man ihr verleihet, in einem gewissen Verhältnisse stehen muß." 128 In der Folgezeit blieb das Maß der jeweiligen Pressefreiheit bestimmend für das Bewußtsein, in dem sich das journalistische Selektionsproblem subjektiv darstellte. Allerdings steht in den zahlreichen Schriften, die diesen Kampf über die Jahre nach den Befreiungskriegen bis in den Vormärz begleiteten, die rechtliche, politische und moralische Argumentation so im Vordergrund, 122 123 124 125
126 127 128
O. Groth a. a. O. S. 68. Ebd. S. 79. Ebd. Joachim von Schwarzkopf: Ueber Zeitungen. Ein Beytrag zur Staatswissenschaft. Frankfurt a. M. 1795. S. 68. Ebd. S. 84. Ebd. S. 99. Ebd. S. 82 f.
70
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
daß von da allenfalls indirekt ein Licht auf die Selektionskriterien der Berichterstattung fällt. 1 2 9 Subjektiv scheint die Frage der Nachrichtenauswahl im Journalismus überdies an Bedeutung verloren zu haben, je mehr die politischen Bedingungen in der Zeitung auch ein freies Räsonnement erlaubten. Dafür spricht etwa die Bemerkung von Joseph Görres im „Rheinischen Merkur" 1814, „daß es in jetziger Zeit mit dem bloßen Zusammenscharren von Neuigkeiten ohne Zweck, Kritik und Zusammenhang keineswegs gethan ist." 1 3 0 „Sie haben Alle mehr oder weniger eingesehen", so sagt Görres über die damaligen Zeitungen in Deutschland, im Grunde aber sein eigenes journalistisches Konzept beschreibend, „daß sie zu etwas mehr da sind, als dem leeren Nachhall gleich blos das Geschehene in trocknen, dürren Worten zu erzählen. Allgemein ist es als ein knechtischer Grundsatz verworfen, daß sie bloß Thatsachen erzählen, und jedes Urtheils sich enthalten sollen." 1 3 1 Welch ein grundlegender Wandel ist dies gegenüber der im 17. und bis weit ins 18. Jahrhundert unbestrittenen Auffassung, ein „Urteil in den Zeitungen zufallen / ist ungebürlich" 1 3 2 ! Als die Karlsbader Beschlüsse 1819 wieder ein strenges System der Zensur und Überwachung der Presse einführten, bedeutete dies den Versuch, zu den offiziellen Nachrichtenwerten des Absolutismus zurückzukehren. Allenfalls in der Kritik an ihren Folgen für die journalistische Berichterstattung mochte sich das Bewußtsein von anderen Nachrichtenwerten lebendig erhalten. Symptomatisch ist dafür das bekannte, die Hofberichterstattung und den Verlautbarungsjournalismus persiflierende Gedicht Hoffmanns von Fallersleben „Wie ist doch die Zeitung interessant!" (1841): Wie ist doch die Zeitung interessant Für unser liebes Vaterland! Was haben wir heute nicht Alles vernommen! Die Fürstin ist gestern niedergekommen Und morgen wird der Herzog kommen, Hier ist der König heimgekommen, Dort ist der Kaiser durchgekommen — Wie interessant! wie interessant! Gott segne das liebe Vaterland! 129 ygi u a Sebald Brendel: Betrachtungen über den Werth der Preßfreyheit. Bamberg 1 8 1 5 . — C. W. F. L. von Drais: Materialien zur Gesetzgebung über die Preßfreiheit der Teutschen besonders zur Grundbestimmung auf dem Bundestag. Zürich 1819. — C. Th. Welcker: Die vollkommene und ganze Preßfreiheit. Freiburg 1830. — Theodor Heinsius: Die bedingte Preßfreiheit historisch-kritisch entwickelt und beleuchtet. Berlin 1841. " o Rheinischer Merkur, Nr. 80, v. 1. Juli 1 8 1 4 S . 3 . 131 132
Ebd. S. 2. K. Stieler a. a. O. S. 2 7 .
3.2 Der Wandel des Selektionsproblems subjektiv gesehen
71
Wie ist doch die Zeitung interessant Für unser liebes Vaterland! Was ist uns nicht alles berichtet worden! Ein Portepeefähnrich ist Leutnant geworden, Ein Oberhofprediger erhielt einen Orden, Die Lakaien erhielten silberne Borten, Die höchsten Herrschaften gehen nach Norden — Und zeitig ist es Frühling geworden — Wie interessant, wie interessant! Gott segne das liebe Vaterland. 1 3 3
Mit der Märzrevolution 1848 wurde in Deutschland erstmals die Pressefreiheit proklamiert. Auch wenn im folgenden erneut restriktive Maßnahmen der Reaktion einsetzten, so nahm das deutsche Zeitungswesen doch einen erheblichen Aufschwung, und zwar in zweierlei Richtung: Einerseits zur meinungsbestimmten Parteipresse, andererseits zur kommerzialisierten Massenpresse. 134 Insbesondere die zweite, durch die Erschließung des Anzeigenwesens ausgelöste Entwicklung rief in der zweiten Hälfte des 19. Jahrunderts massive Kritik, ja eine „zum Teil leidenschaftlich-kämpferische Literatur" 1 3 5 hervor. Das Zeitungswesen, so argumentierte Heinrich Wuttke, einer der schärfsten Kritiker, sei zusehends in neue Abhängigkeit geraten, von der „Geldmacht der Reclame", von den technischen Vorleistungen des Telegraphen und der Telegrammbureaus, schließlich auch wieder staatlicherseits von den amtlich hergestellten und verbreiteten lithographierten Korrespondenzen. Nicht als Erzeugnis schriftstellerischer Autonomie stelle sich vieles in den Zeitungen dar, sondern als „bloßer Abklatsch dessen, was in einigen, dem Lichte der Oeffentlichkeit entzogenen Bereitungsstätten zusammengebraut worden ist." 1 3 6 „Die Beschaffenheit der Unterlagen, aus denen die für das Volk käuflichen Zeitungen zusammengestellt werden," so fährt Wuttke, gleichsam falsche Nachrichtenwerte konstatierend, fort, „macht ebensowol klar, warum wichtige Belange des öffentlichen Lebens und wesentliche Bezüge gar nicht oder doch bei weitem nicht in dem gebürenden Maße zur Besprechung gelangen, und warum statt dessen ein werthloser Ballast in ihren Spalten angehäuft wird . . . Muß man nicht breitspurige Betrachtungen über gleichgültige Depeschen bis zum Eckel genießen? Werden uns nicht tagtäglich eine Menge 133 134 135 136
Hoffmann von Fallersleben: Unpolitische Lieder, Zweiter Theil. Hamburg 1841. S. 19. Vgl. Kurt Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert Kap. XI, Kap. XVI. O. Groth a. a. O. S. 209. Heinrich Wuttke: Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung. Ein Beitrag zur Geschichte des Zeitungswesens. Hamburg 1866. Zit. nach 2. Aufl. Leipzig 1875 S. 181 f.
72
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
Aufsätze zum Lesen gereicht, die für das Volk nicht den mindesten Werth, nur für gewisse sich wichtig machende Kreise Bedeutung haben? Das hat seinen Grund in den Ursprüngen unserer Zeitungsnachrichten. Mücken werden geseiht, Elefanten verschluckt! Wollte jemand nach unsern Zeitungen urtheilen, so müßte er wahrhaftig glauben, das eitle und hohle diplomatische Getriebe sei die Seele des Ganzen, auf diesem ruhe alles, es gestalte die Zukunft. Die Masse der Leser wird durch solchen Dunst allerdings von demjenigen abgezogen, worauf es eigentlich ankommt . . ," 1 3 7 Was dies jedoch sei und was damit positiv anstelle des Negativen treten sollte, wird nicht weiter präzisiert. Neben solchen normativ argumentierenden kritischen Schriften und neben der primär an sozialtheoretischen und ökonomischen Problemen interessierten wissenschaftlichen Literatur zum Zeitungswesen138 findet man gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auch Beiträge, in denen Journalisten und Zeitungspraktiker ihr Arbeitsgebiet mehr oder weniger systematisch darzustellen suchen. Otto Groth führt das Entstehen dieser Praktiker-Literatur auf das Bedürfnis zurück, „gegenüber der weit verbreiteten, die Zustände der Tagespresse in den schwärzesten Farben schildernden, das Ansehen des Journalismus zerstörenden Literatur der siebziger Jahre der Öffentlichkeit ein weniger trübes Bild zu geben." 139 Wenngleich es den Verfassern dieser Literatur um die „Darstellung der organisatorisch-technischen Einrichtungen, die Mitteilung besonderer Berufserfahrungen und die Festlegung praktischer Regeln und Forderungen140 ging, lassen sie doch bezüglich der journalistischen Nachrichtenauswahl ein nur schwach entwickeltes Problembewußtsein erkennen. Man begnügt sich vielmehr weithin mit allgemeinen Auskünften. So etwa J. H. Wehle: „Der Chefredakteur wägt und vergleicht die relative Wichtigkeit der verschiedenen Aufsätze und was vor dieser Prüfung nicht als absolut unentbehrlich bestehen kann, wird unbarmherzig gestrichen und ist mit diesem Strich aus der Welt geschafft^]." 141 Immerhin weist Wehle erstmals auf den Zusammenhang hin zwischen dem Wert einer Nachricht und ihrer Präsentation und Aufmachung durch den Journalisten im Blatt: „Die Probe seiner Tüchtigkeit hat er aber noch nicht bestanden, wenn es ihm gelungen ist, alle interessanEbd. S. 183. na Ygi o . Groth a. a. O. S. 2 4 5 ff. — Neuerdings Hanno Hardt: Social Theories of the Press. Early German and American Perspectives. Beverly Hills, London 1 9 7 9 . 1 3 9 O. Groth a. a. O. S. 3 0 2 . 1 4 0 Ebd. S. 3 0 1 . 1 4 1 J. H. Wehle: Die Zeitung. Ihre Organisation und Technik. Journalistisches Handbuch. Wien, Pest, Leipzig 1878. 2. verb. Aufl. 1883. S. 25. 137
3.2 Der Wandel des Selektionsproblems subjektiv gesehen
73
ten und wichtigen Thatsachen in dem zu Gebote stehenden Räume unterzubringen. Sie müssen auch so gruppirt sein, daß das Zusammengehörige sich leicht in einander verschlingt und daß das Wichtige und Minderwichtige, das Interessante und Minderinteressante in der Anordnung und Zusammenstellung des Ganzen zu Tage tritt. Schon in dem Zeilenraume, welcher einem Ereignisse gewidmet wird, in dem ihm angewiesenen Platze muß sich die Wichtigkeit desselben ausprägen, wie denn auch als die zwei Hauptprincipien des Redigierens die Classification [d. h. die thematische Zuordnung und Gliederung] und die Gradation [d. h. die typographische Auszeichnung und Abstufung] genannt werden müssen."142 Daß die Auswahl und Kürzung von Nachrichten eine zu entwickelnde „redaktionelle Geschicklichkeit" 143sei, daß die gemeldeten Ereignisse „relevant" sein und „aus irgend einem ernsten Gesichtspunkte auf das Interesse des Lesers rechnen können" 144 müßten, daß durch die Redaktion „das Wesentliche und Wichtige vom Nebensächlichen geschieden"145, gleichwohl aber „eine erschöpfende Ueberscicht über die Zeitereignisse"146 gegeben werden soll — derartige formelhafte Wendungen sind in der Praktiker-Literatur bis ins 20. Jahrhundert immer wieder anzutreffen. Oder es wiederholt sich auch die Argumentation ex negativo: „Nur zu oft werden bedeutungslose Informationen geboten, die den Leser durch pomphafte Einleitungen anlocken, sich bei näherem Besehen als wertlos erweisen und in dem ernsten Teile des Publikums nichts hinterlassen als das Gefühl, um kostbare Zeit gebracht zu sein." 147 Konkretisierungen dessen, was als wichtig und was als unwichtig zu bewerten sei, findet man jedoch kaum, sieht man von punktuellen Hinweisen auf die Bedeutung der lokalen Berichterstattung148 auf die „ungebührlich breiten Schilderungen von Verbrechen"149, auf „das klatschsüchtige Eindringen in Privatverhältnisse, denen jedes öffentliche Interesse mangelt"1S0, usw. ab. Bemerkenswert ist vielleicht noch Emil Löbls These, die zunehmende Nutzung des Telegraphen zur Nachrichtenübermittlung ha142
Ebd. S. 29. Richard Jacobi: Der Journalist (= Das Buch der Berufe. Ein Führer und Berater bei der Berufswahl. Bd. VIII). Hannover 1902. 144 Emil Löbl: Kultur und Presse. Leipzig 1903. S. 56. 145 Handbuch der Journalistik. Hrsg. v. Richard Wrede. Berlin 1902. 2. neubearb. Aufl. 1906. S. 119. 146 Ebd. S. 135. 147 E. Löbl a. a. O. S. 56. 148 Johannes Frizenschaf: Die Praxis des Journalisten. Ein Lehr- und Handbuch für Journalisten, Redakteure und Schriftsteller. Leipzig o. J. [1901] S. 97f. 149 R.Jacobi a.a.O. S.94. 150 Ebd.
143
74
3. Die Nachrichtenselektion im historischen Wandel
be zu einer Bevorzugung von Ereignissen gegenüber „dem Zuständlichen, dem Milieuhaften"151 in der Berichterstattung der Zeitungen geführt. Verglichen mit dem grundlegenden Wandel der „objektiven" Bedingungen des journalistischen Selektionsproblems scheinen sich dessen „subjektive" Dimensionen im Laufe der Pressegeschichte weniger verändert zu haben. Wie die vorangegangene Darstellung gezeigt hat, ist die Reflexion über journalistische Selektionsregeln keineswegs neu. Wesentliche Ansätze dazu lassen sich — noch unter ganz anderen Voraussetzungen der Medienproduktion — bereits im 17. und 18. Jahrhundert ermitteln, ja die damaligen Zeugnisse erweisen sich für unsere Fragestellung sogar als ergiebiger als z. B. die journalistische Praktikerliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Jedenfalls war man sich schon früh in der Pressegeschichte des journalistischen Selektionsproblems bewußt. .Zentrale Nachrichtenwerte sind im Prinzip bereits damals formuliert und diskutiert worden, die Tragweite und öffentliche Bedeutung von Ereignissen, Neuigkeit und Überraschung, Prominenz, räumliche Nähe, auch Negativismus. Überdies wurde die anfängliche und immer wieder auftretende normative Begründung bald durch eine funktionale ergänzt, die nicht nur den praktischen, sondern auch den psychologischen „Nutzen" gelten ließ. Was sich langfristig gewandelt hat, sind offenbar weniger die zuvor genannten formalen Nachrichtenwerte, d. h. z. B. daß Ereignisse, über die berichtet wird, und Nachrichten, die ausgewählt werden, für das Publikum Bedeutung haben sollten. Gewandelt haben sich vielmehr die Auffassungen davon, was eine solche Bedeutung besitzt. Die inhaltliche Konkretisierung der Nachrichtenwerte erscheint demnach dem sozialen Wandel unterworfen, etwa der „Verbürgerlichung" der Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert. 152 Daß sich das Nachrichtenwertbewußtsein gleichwohl allmählich auch differenziert hat, dafür spricht, daß man erst später den Sinn entwickelt findet für den Zusammenhang zwischen Umfang und Aufmachung von Nachrichten und ihrem jeweiligen Nachrichtenwert. 151 152
a . a . O . S. 63. Vgl. etwa Leo Balet, E. Gerhard: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert. Hrsg. u. eingel. v. Gert Mattenklott. Frankfurt/M., Berlin-Wien 1972. Erstausgabe 1936. — G. Schulz: Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. In: ders.: Das Zeitalter der Gesellschaft. München 1969. — Manfred Riedel: Bürger, Staatsbürger, Bürgertum. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Kosellek. Bd. 1. Stuttgart 1972. S. 6 7 2 - 7 3 5 . - Hans H. Gerth: Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus. Göttingen 1976.
4. Nachrichtenvermittlung, Nachrichten werte und Strukturen der Medienrealität im historischen Wandel: Eine Zeitreihenanalyse 4.1 Anlage und Methode der Untersuchung Die bisher theoretisch entwickelte Frage nach dem Wandel von Nachrichtenselektion und Medienrealität, im weiteren Sinne nach der historischen Dimension publizistikwissenschaftlicher Grundbegriffe, läßt sich nur aufgrund einer empirischen Untersuchung mit der wünschenswerten und notwendigen Evidenz beantworten. Um aus einer empirischen Untersuchung verallgemeinerungsfähige Aussagen abzuleiten, bedürfte es zudem einer in der Anlage repräsentativen Studie. Daß angesichts von nahezu vier Jahrhunderten Geschichte der periodischen Presse in Deutschland eine solch repräsentative Untersuchung schier unüberwindliche ökonomische Probleme stellen würde, liegt auf der Hand. Will man daher die gestellte Frage nicht unbeantwortet lassen, so ist es, zumal bei einem ersten Zugang, unvermeidlich, sich zunächst auf eine begrenzte Materialbasis zu stützen. Diese Begrenzung der Materialbasis gilt in einem zweifachen Sinn: Zu den verschiedenen historischen Zeitpunkten, an denen die Berichterstattung der periodischen Presse untersucht wird, geschieht dies jeweils nur an einer Zeitung. Zum anderen soll es sich im Zeitverlauf nach Möglichkeit um die gleiche Zeitung handeln, d. h. gleichsam die Untersuchungsform eines Panels gewählt werden. Die Beibehaltung des untersuchten Falls — so weit wie möglich — erscheint für den langfristigen Vergleich zweckmäßig, weil die äußeren Faktoren bei allem historischen Wandel doch in einem gewissen Maße konstant bleiben (vor allem geographische Lage und Einheit des Ortes). Ein laufender Wechsel der Untersuchungsobjekte würde zumindest zusätzliche, schwer kontrollierbare Probleme der Vergleichbarkeit stellen. Als Untersuchungsmethode dient die Inhaltsanalyse, das in der Kommunikationsforschung üblicherweise verwendete Verfahren zur objektiven, systematischen und quantitativen Beschreibung des manifesten Inhalts von Aussagen der Massenmedien1. Bei der Inhaltsanalyse werden „nach Maßgabe der Un1
Vgl. dazu Bernard Berelson: Content Analysis in Communication Research. Glencoe (III.) 1952. - Winfried Schulz: Inhaltsanalyse. In: Publizistik. Hrsg. v. E. Noelle-Neumann u.
76
4. Nachrichtenvermittlung, Nachrichtenwerte und Strukturen der Medienrealität
tersuchungsaufgabe bestimmte Merkmale vom Kommunikationsmaterial abstrahiert und untersucht." 2 Diese Merkmale sind im vorliegenden Fall bestimmte Eigenschaften der journalistischen Berichterstattung bzw. Eigenschaften, die Ereignissen objektiv zukommen oder ihnen subjektiv zugeschrieben werden. Entscheidend für die folgende Untersuchung ist vor allem, daß „zu verschiedenen, sich aus dem Hypothesenrahmen ergebenden Zeitpunkten . . . die gleichen Variablen gemessen werden" 3 , d. h. „eine nach der Zeit geordnete Folge von Beobachtungen . . . für das gleiche Phänomen" 4 vorgenommen wird. Insofern handelt es sich um eine Zeitreihenanalyse. Soweit in den Sozialwissenschaften das Interesse an der Untersuchung von Vorgängen im Zeitablauf, von evolutorischen Prozessen und sozialem Wandel gewachsen ist, haben die Untersuchungsform und die Instrumente der Zeitreihenanalyse erheblich an Bedeutung gewonnen. Dabei sind insbesondere statistische Verfahren entwickelt oder adaptiert worden, um „Zusammenhänge zwischen sich im Zeitablauf verändernden Variablen und den sie beeinflussenden Faktoren darzustellen und zu erklären." 5 Solche Zeitreihenanalysen stellen eine ganze Reihe methodischer Probleme: Welches ist der optimale Zeitabstand, und inwieweit verändern sich Forschungsobjekt und Indikatoren im Laufe der Zeit? Inwieweit besteht zwischen den beobachteten abhängigen und den unabhängigen, erklärenden Variablen im Zeitablauf überhaupt eine konstante Beziehung? Unter welchen Bedingungen lassen sich Daten für nicht untersuchte Zeitintervalle interpolieren oder Prognosen für die künftige Entwicklung ableiten? Schließlich stellt sich das Problem der Autokorrelation der Daten, d. h. die Abhängigkeit gemessener Daten von den Werten der Vorperiode, und das Problem der Multikollinearität der Reihen, das immer dann auftritt, „wenn in einem Modell mehrere Reihen miteinander verknüpft betrachtet werden und zwischen den Reihen der erklärenden Variablen eine hohe Korrelation besteht" 6 .
2 3
4
5 6
Winfried Schulz. ( = Das Fischer-Lexikon Bd. 9). Frankfurt/M. 1 9 7 1 . S. 5 1 - 5 6 . - Ralf Lisch, Jürgen Kriz: Grundlagen und Modelle der Inhaltsanalyse. Reinbek 1 9 7 8 . W. Schulz: Inhaltsanalyse a. a. O. S. 5 3 . Meinolf Dierkes: Die Analyse von Zeitreihen und Longitudinalstudien. in: Techniken der empirischen Sozialforschung. Hrsg. v. Jürgen van Koolwijk und Maria Wieken-Mayser. Bd. 7. München, Wien 1977., S. 1 1 1 - 1 6 9 . Zitat hier S. 121 (im Anschluß an J. Galtung). B. Nullau: Verfahren zur Zeitreihenanalyse. In: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 1 (1968) S. 5 9 - 8 3 . Zitat hier S. 61. M.Dierkes a . a . O . S. 112. Ebd. S. 136.
4.1 Anlage und Methode der Untersuchung
77
Soweit diese Probleme für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung sind, werden sie an Ort und Stelle zu beachten sein. Aufs ganze gesehen, erscheinen sie hier weniger relevant. Denn durch die Inhaltsanalyse wird nur eine Sorte von beschreibenden Daten erhoben, ohne daß Erklärungspotential systematisch aus anderen Datenquellen geschöpft werden könnte. In diesem Sinne handelt es sich noch um eine Zeitreihenanalyse auf niederer Ebene. Denn man spricht schon dann von Zeitreihen, wenn es sich um Daten handelt, „die chronologisch geordnet, damit zweifach bestimmt sind, nämlich durch ihre Quantität und durch die Angabe, zu welchem Zeitraum diese Quantität vorlag." 7 Dabei sind die im Zeitablauf feststellbaren Unterschiede zunächst noch mehr durch historische Interpretation als durch statistische Korrelationsanalyse zu „erklären". Nach diesen methodologischen Vorbemerkungen läßt sich die Anlage der vorliegenden Untersuchung zum historischen Wandel von Nachrichtenwerten und Medienrealität konkretisieren. Um die zuvor beschriebene Untersuchungsform zu wahren, soll der gesamte Untersuchungszeitraum mit möglichst wenig Titeln abgedeckt werden. Dies läßt sich erreichen, weil tatsächlich einige Zeitungen vom 17. oder 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert bestanden haben. Nicht nur eines der langlebigsten, sondern auch eines dem publizistischen Ruf nach der renommiertesten Organe dieser Art war der „Hamburgische unpartheyische Correspondent". Er bestand von 1731 (mit Vorläufer sogar von 1721) bis zum Jahre 1934. Somit empfahl sich dieses Blatt für die beabsichtigte Analyse in doppelter Weise. Außerdem machte es der Erscheinungsort Hamburg leicht, auch für das erste Jahrhundert der periodischen Presse ein vergleichbares Untersuchungsobjekt zu finden. Denn Hamburg hat man nicht nur als „das bedeutendste Zentrum der deutschen Nachrichtenpresse" 8 , sondern auch als „neben Amsterdam die bedeutendste Zeitungsstadt Europas im 17. und 18. Jahrhundert" 9 bezeichnet. Für diesen Rang war die Lage und die wirtschaftliche Bedeutung der Hansestadt maßgebend, in der sich der Nachrichtenumschlag konzentrierte: 7
8
9
Norbert Ohler: Quantitative Methoden für Historiker. Eine Einführung. München 1980. S. 123. — Vgl. hierzu auch Roderick Floud: Einführung in quantitative Methoden für Historiker. Deutsche Bearbeitung aufgrund der Übersetzung von Volker Henn und Ursula Irsigler hrsg. v. Franz Irsigler. Stuttgart 1980. S. 98 ff. Elger Blühm: Zeitung und literarisches Leben im 17. Jahrhundert. In: Stadt - Schule — Universität — Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposiums der deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. Hrsg. v. Albrecht Schöne. München 1976. S. 4 9 2 - 5 0 5 . Hier S.501. M. Welke: Rußland . . . S. 158 Anm. 501.
78
4. Nachrichtenvermittlung, Nachrichtenwerte und Strukturen der Medienrealität
Zu den bereits früh entwickelten Botensystemen des Hamburger Rates und der Kaufmannschaft traten seit 1615 die kaiserliche Reichspost und später noch eine Reihe fremdherrlicher Landesposten. 10 Von den im 17. Jahrhundert in Hamburg erschienenen Zeitungen wurde die älteste für die vorliegende Untersuchung ausgewählt, die „Wöchentliche Zeitung auß mehrerley örther", die von 1618 bis 1678 nachgewiesen ist. Mit ihr gelingt es auch, den Anfängen der periodischen Presse in Deutschland ziemlich nahezukommen. Diese liegen nämlich an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Die im Jahrgang 1609 fast vollständig erhaltenen Zeitungen „Aviso" (Wolfenbüttel) und „Relation" (Straßburg) sind die ältesten nachweisbaren Wochenblätter nicht nur Deutschlands, sondern der Welt überhaupt. Die beiden gewählten Hamburger Zeitungen erfüllen für unsere Untersuchung überdies zwei weitere Voraussetzungen: Wenn die Breite der Studie nicht statistisch repräsentativ sein kann, so sollten die untersuchten Organe zumindest im typologischen Sinn charakteristisch und durch eine große Reichweite ausgezeichnet sein. Zum anderen sollten die untersuchten Organe — im Hinblick auf einen Vergleich mit der Gegenwart — innerhalb eines für die Nachrichtenübermittlung zumindest nicht ungünstigen politischen Klimas angesiedelt sein. Zwar kannte die Reichsstadt Hamburg seit dem 16. Jahrhundert Verordnungen über Bücherdruck und Zensur, die im 17. und 18. Jahrhundert mehrfach wiederholt oder erneuert wurden. Doch die erste und einzige Verordnung „die Censur der Zeitungen betreffend" wurde erst am 6. Dezember 1743 erlassen: „Es wird den sämmtlichen Verlegern der hiesigen gedruckten Zeitungen hiemit anbefohlen, daß keiner unter ihnen, bey Verlust seines Privilegii, sich unterstehe, weder dasjenige, was von dem Herrn Syndico, welcher die Zensur verrichtet hat, etwan ist durchgestrichen worden, dennoch mit abdrucken zu lassen, noch auch in die Stelle der durchgestrichenen Passage, ohne vorgängig wiederholte Censur, ichtwas anders zu inseriren, als etwan eine Notification, welche in den vorigen Zeitungen die Approbation des Herrn Censors bereits hat erhalten gehabt." 1 1
10
Vgl. Alfred Karll: Hamburger Verkehrswesen bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. In: Archiv f. Kultur-Geschichte 5 (1907) S. 311—362. — M. Teubner: Die fremden Postanstalten in Hamburg. In: Hamburgische Geschichts- und Heimatblätter 4 (1929) S. 2 5 - 3 1 , 4 9 - 5 8 . E. Maack: Die Anfänge des hamburgischen Postwesens. In: Hamburg, seine Postgeschichte, Postwertzeichen und Poststempel. Festschrift . . . Hamburg 1935. S. 1 — 14. — ders.: Die fremden Postämter in Hamburg. In: Ebd. S. 85—90. — Gerhard Ahrens: Das Botenwesen der Hamburger Kaufmannschaft. In: Archiv f. dt. Postgesch. Jg. 1962 H. 1 S. 2 8 - 4 2 .
11
J. F. Blank (Hrsg.): Sammlung der von E. Hochedlen Rathe der Stadt Hamburg . . . ausgegangenen allgemeinen Mandate. . . Teil II. Hamburg 1764. S. 1 4 4 4 f. - Vgl. auch Anm. 14.
4.1 Anlage und Methode der Untersuchung
79
„Gleichwohl scheinen für die Blüte des Hamburger Zeitungswesens außer wirtschaftlichen Ursachen auch eine vergleichsweise liberale Handhabung der Zensur in der Hansestadt ausschlaggebend gewesen zu sein. Diese Erfahrung veranlaßte den kaiserlichen Postmeister C. A. von Kurtzrock z. B. 1776 zu der Bemerkung, „daß sich die hiesige Zeitungs-Schreiber seit einiger Zeit eine gewisse Englische Freiheit anmassen, welche ihnen gar nicht zukömmt" 1 2 . Und Chr. F. D. Schubart brach in seiner „Deutschen Chronik" vom 25. Juli 1774 die Wiedergabe einer Meldung des „Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten" mit den Worten ab: „— doch schluck's hinunter, Chronickschreiber, denn du schreibst ja nicht in Hamburg." 1 3 Erst als Mitglied des Deutschen Bundes wurde Hamburg durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819 zu einer durchgreifenden Änderung seiner Zensureinrichtungen gezwungen. 14 Nach der zuvor begründeten Auswahl der zu untersuchenden Zeitungen mußten die Untersuchungszeiträume bzw. die Zeitintervalle zwischen den Untersuchungszeitpunkten festgelegt werden. Einerseits sollte die Entwicklung der Berichterstattung entsprechend der Geschichte der periodischen Presse vom 17. bis zum 20. Jahrhundert untersucht werden. Andererseits war die Entscheidung für Intervalle von 60 Jahren mehr durch äußere, ökonomische Faktoren bedingt und überdies mit Absicht willkürlich gewählt, d. h. nicht durch irgendwelche Vorannahmen über die Entwicklungsdynamik von Nachrichtenwerten und Medienrealität bestimmt. Abweichungen vom beschriebenen Untersuchungsrhythmus erklären sich im 17. Jahrhundert aus dem großenteils lückenhaften Erhaltungsbestand der Zeitungen. Daß der letzte Untersuchungszeitraum im Jahre 1906 liegt und ein Zeitintervall von nur 5 0 Jahren gewählt ist, besitzt seinen Grund in der Absicht, die Studie vor dem Ersten Weltkrieg und der ihm folgenden Ära abzuschließen.
12
13 14
— Nach Abschluß der Arbeit erschien Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. Hamburg 1982. Zit. nach: Die Zeitung. Deutsche Urteile und Dokumente von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. u. erl. v. Elger Blühm und Rolf Engelsing. Bremen 1967. S. 115. - Vgl. zum hervorragenden Ruf der Hamburger Zeitungen im 18. Jahrhundert J. P. von Lud[e]wig a. a. O. S. 102. — Wohlmeinender Unterricht, für alle diejenigen, welche Zeitungen lesen . . . S. 2 6 3 . Deutsche Chronik, 34. Stück v. 2 5 . Juli 1 7 7 4 S. 2 7 0 . Vgl. Heinrich Gerstenberg: Die Hamburgische Zensur in den Jahren 1819—1848. Hamburg 1908. ( = Beilage zum Osterprogramm der Realschule an der Bismarckstraße zu Hamburg). — K. Lübeck: Die Hamburger Zensur und der Deutsche Bund. In: Hist.-polit. Blätter f. d. kath. Deutschland 142 (1908) S. 3 5 5 - 3 6 5 . - Margarete Kramer: Die Zensur in Hamburg 1 8 1 9 bis 1 8 4 8 . Ein Beitrag zur Frage staatlicher Lenkung der öffendichkeit während des Deutschen Vormärz. Hamburg 1975.
80
4. Nachrichtenvermittlung, Nachrichtenwerte und Strukturen der Medienrealität
Innerhalb der auf diese Weise zur Untersuchung ausgewählten Jahrgänge 1 6 2 2 , 1 6 7 4 , 1 7 3 6 , 1 7 9 6 , 1 8 5 6 und 1906 sollte nach Möglichkeit jeweils der gleiche Zeitraum in die Untersuchung einbezogen werden, um auch insofern eine gewisse Vergleichbarkeit zu gewährleisten und mögliche jahreszeitbedingte Unterschiede auszuschließen. Als in diesem Sinne gleichbleibender Untersuchungszeitraum wurde der November ausgesucht. Abweichend hiervon mußten für die Jahre 1622 und 1674 auch andere Zeiträume einbezogen werden, aus Gründen der Verfügbarkeit des Materials, mehr aber noch, weil die Berichterstattung im Monat November allein keine hinreichende Untersuchungsbasis gebildet hätte. Das Schaubild I gibt eine schematische Übersicht über die Anlage der Untersuchung und verzeichnet zugleich den jeweiligen Umfang des Untersuchungsmaterials, auf das sich die später referierten Ergebnisse stützen. Da, wie die dortige Übersicht schon zeigt, der Umfang der Berichterstattung in den untersuchten Zeitungen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert ganz erheblich zugenommen hat, mußte, um eine einigermaßen angemessene Relation zwischen den unterschiedlichen Grundgesamtheiten und den untersuchten Ausgaben zu wahren, die Menge des in die Analyse einbezogenen Nachrichtenmaterials — von 1674 abgesehen — von Jahrgang zu Jahrgang der Untersuchung vergrößert werden. Andererseits ließ es sich dabei trotzdem nicht vermeiden, daß der mit diesen Ausgaben jeweils abgedeckte Zeitraum der Berichterstattung kürzer wird. Umfaßt er 1622 noch acht, so 1906 nur noch eine Woche. 1 5 (Vgl. auch Schaubild II S. 188). Nach der Festlegung des Untersuchungsmaterials bzw. der Untersuchungseinheiten erfordert die Inhaltsanalyse die Abgrenzung der Kodiereinheiten, d. h. „der jeweils einer bestimmten Kategorie zuzuordnenden Teile des Materials" 16 . Als Kodiereinheit gilt im vorliegenden Fall die Nachricht, die Einzelmeldung, der einzelne Beitrag. Sofern diese nicht — wie erst in neuerer Zeit üblich — durch medientypische Gestaltungsmerkmale eindeutig getrennt erscheinen, sollte das Kriterium für die notwendige Abgrenzung der thematische Zusammenhang sein, d. h. die Einheit von Ort, Zeit, Person(en) und Handlung (im Sinne der vier W's der Aufbauformen der Nachricht). Im Zweifelsfall sollte jedoch eine neue Nachricht angenommen werden.
15
16
Daß die Vergrößerung einer Zeitungsstichprobe über 12 Ausgaben hinaus — zumindest in neuerer Zeit — bei der Analyse des Zeitungsinhalts zu keinen größeren Veränderungen in den Ergebnissen mehr führt, hat Guido H. Stempel III in einer empirischen Studie gezeigt. Vgl. ders.: Sample Size for Classifying Subject Matters in Dailies. In: Journalism Quarterly 29 (1952) S. 3 3 3 f. W.Schulz: Inhaltsanalyse a . a . O . S . 5 3 .
4.1 Anlage und Methode der Untersuchung
Ml 3 E
ü » n v 3PN 3 c
m U Ufi I I S I i s
o ro
so o rH